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German Pages 216 [217] Year 2016
Bildniskopf des blinden Homer
Brigitte und Dietrich Mannsperger
HOMER VERSTEHEN Mit einem Geleitwort von Walter Jens Sonderausgabe
Abbildungsnachweis: S. 2: Boston, Museum of Fine Arts S. 17: Berlin, Antiquarium S. 50: New York, Metropolitan Museum of Arts S. 104: München, Antikensammlung
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Aktualisierte Sonderausgabe 2017 © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt (1. Auflage 2006) Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: schreiberVIS, Bickenbach Einbandabbildung: Odysseus und die Sirenen. Vasenmalerei, attisch, rotfigurig, 5. Jh. v. Chr. © akg-images/Erich Lessing Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26848-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74201-1 eBook (epub): 978-3-534-74202-8
INHALT Zum Geleit (von Walter Jens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Das Epos als Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherung an den Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dichter und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Versmaß, Sprachform und Wortwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raum und Zeit: Schauplätze und Zeitdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung, Komposition und Handlungsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 17 21 27 35 41
II. Dichterische Kunst- und Stilmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Episches Beiwort, Formeln und Wiederholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt der Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzählerische Einlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epische Breite und prägnante Knappheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Episches Pathos, Situationen und Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 50 62 68 77 83 96
III. Dichtung und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Umwelt: Himmel und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnung und Kleidung, Essen und Trinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische, soziale und familiäre Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helden und Heldentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sportlicher Wettkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homerische Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kampf, Tod und Unterwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Göttliche Mächte und Göttergestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 104 115 128 134 143 162 168 172 183 191
Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige behandelte Textstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geographische Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen und Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ZUM GELEIT „Was den Homer angeht, ist mir wie eine Decke von den Augen gefallen“: Ich spreche den Satz, den Goethe während seiner italienischen Reise anno 1787 in Neapel formulierte, mit Dankbarkeit und Vergnügen nach: Es gilt, ein Handbuch, Homer verstehen, anzuzeigen, das, von den Autoren mit anrührender Bescheidenheit als „Büchlein“ etikettiert, für die Leser der Voß-, Schadewaldt- und Hampe-Übersetzungen in gleicher Weise wie für jene Graezisten von Nutzen ist, denen die beiden Epen von der Sekunda-Lektüre bis zur Emeritierung in immer neuem Licht erscheinen. Zustimmung auf beiden Rängen also ist zwei Altertumswissenschaftlern, Brigitte und Dietrich Mannsperger, gewiss, die ihr opus in langen Jahren meist in Tübingen, aber, unter der Ägide des unvergessenen Manfred Korfmann, auch vor Troja konzipiert haben, um am Ende die Arbeitsweise, genauer: das Handwerk Homers in einer Summe zu veranschaulichen. Wie haben sie geschrieben, wird gefragt, der Ilias- und der Odyssee-Dichter – der eine in seiner Unvergleichlichkeit und der andere auf dessen Spuren, aber, erfindungsreich, wie er war: ein Meister der Variationen, nie im Schatten des Ersten? Wie haben sie die Idealität der Götter, verfremdend und auf Distanz bedacht, im Hier und Jetzt realisiert, das Publikum ihrer Zeit nicht aus den Augen verlierend? Wie haben sie das Märchen von gestern ins Heute übertragen? „Namen und Ereignisse der heroischen oder mythischen Tradition können“, so die Schlüsselworte des Kompendiums, „transloziert oder anachronistisch transferiert, eingeschmolzen und neu komponiert werden.“ Es geht also um die Erhellung von kühnen artistischen „Montagen“, mit denen die beiden Meister – ungefähr zwischen den Jahren 730 und 710 – eigenständige Kunstwerke in Gestalt einer Wunderwelt schufen, die den Zuhörer sowohl in einem imaginären Olymp wie auf der mit Landkarten ausmessbaren Insel Ithaka zu Hause sein ließen. Ferne und Nähe fügten sich in überzeugender Dialektik zueinander. Mir ist es wirklich wie eine Decke von den Augen gefallen, als ich unter dem Stichwort „Großraum mit unscharfer Peripherie“ die – hier frei formulierten – Sätze las: „Die Ereignisse von Ilias und Odyssee sind in einen Kosmos hineinprojiziert, der, von diffusen Rändern ausgehend, immer mehr an Präzision zunimmt, bis sich schließlich geographische und topographische Wegmarken zu durchaus realistisch anmutenden Schauplätzen zusammenfinden. Während die Komposition der Odyssee dabei mehr und mehr von der Peripherie her ins Zentrum führt, dominiert in der Ilias von Anfang an der engere Schauplatz, der von Fall zu Fall erweitert wird.“ Beobachtungen wie diese verweisen auf die Fähigkeit der Tübinger Autoren, homerische Geschichten zugleich vom Newton point of view, der „normalen“ Sichtweise, aber auch aus der Perspektive derer zu betrachten, die hinter dem Wissen des Dichters zurückbleiben.
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Zwei Altertumswissenschaftler bei dem Entwurf von Charakterogrammen: ein lehrreiches Spiel, bei dem nicht zuletzt rhetorische Aspekte im Zentrum stehen. Wer unter den Akteuren ist zunächst dem Pathos, wer dem Ethos, wer dem Logos verpflichtet? Präfigurationen der Dreistillehre im frühen Epos: ein aspektreiches Exerzitium, bei dem die Synkrisis mit ihrer Kunst der wechselseitigen Erhellung den Primpart spielt: Hektor und Achill – Brutalität und Sanftmut, alternierend aus zweierlei Sicht betrachtet. Achill contra Odysseus: Sagt der eine: „Auf, Männer, sofort in die Schlacht!“, repliziert der andere: „Erst müssen die Mannschaften essen.“ Odysseus, immer der Erdnahe, dem Alltäglichen zugewandt, und zugleich ein Meister raffinierter Kalkulationen. Die Autoren plädieren entschieden für ihn; zu keinem Akteur fällt ihnen so viel ein wie zu Ulyss: Der Mann „misstraut grundsätzlich jedem und bei jeder Gelegenheit. Er zögert gegenüber Leukothea und sieht in Kalypsos Vorschlag zum Floßbau eine hinterhältige Absicht: ‚Erst musst du mir den großen Eid schwören.‘ Im Umgang mit dämonischen Frauen ist offensichtlich besondere Vorsicht geboten, Zurückhaltung sogar bei Nausikaa, Arete und selbst Penelope. Dieser Vorsicht entspringen alle die Lügengeschichten des angeblichen Kreters mit der immer wieder abgewandelten Verschleierung der Fakten.“ Intelligenz als movens eines ambivalenten, hier gütig, dort martialisch auftretenden Akteurs: Die Handbuch-Autoren können sich bei ihrem Psychogramm auf die vielfältigen Analysen in der Literaturgeschichte stützen. Odysseus, immer wieder Odysseus! Odysseus, der von seinem alter ego Palamedes aufs Kreuz gelegte Pazifist, Odysseus, ein unentfremdeter Mensch, der – ich schlage einen weiten Bogen hin zu Horkheimer und Adorno – in der Sirenen-Szene lernt, ein freies Leben zu führen, mit mancher Entsagung, aber auch hohen Genusses (unter der Bedingung freilich, dass die Sirenen tatsächlich singen). Eben das aber taten sie in Franz Kafkas Fabelvariation nicht, sondern griffen zu ihrer schärfsten Waffe, dem Schweigen – „sei es, dass sie glaubten, diesem Gegner könne nur das Schweigen beikommen, sei es, dass der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus sie allen Gesang vergessen ließ. Odysseus aber hörte ihr Schweigen nicht. Er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen.“ Eine grandiose Version, diese Parabel von Kafka, eine poetische Analyse, die den Leser des Büchleins, dank der oft einprägsam formulierten Psychogramme in den beiden alten Epen, immer wieder zum Ausmalen, Weiterdenken und Ergänzen veranlassen: Mein Gott, diese Shakespeare-Grimassen, der Kläffer Ajas und der Hurenbock Achill, ein sex-man, der es mit Patroklos auf dem Lotterbett treibt. Die HandbuchPortraits spornen den Leser wieder und wieder zu Expeditionen durch die Literaturgeschichte an: Er denkt nicht nur nach, sondern blickt auch voraus, einerlei, ob ihm nun Joyce oder Bertolt Brecht die Feder führt. Bei der knapp skizzierten homerischen Kassandra-Szene erinnere ich mich eines Dramenentwurfs von Brecht: „Kassandra, die Troerin, die uns vorschwebt als bleiche, hagere Fanatikerin, war in Wirklichkeit eine liebreizende, lebenslustige Person. Das falsche Bild entstand wohl, weil man […] die Vertrauten der Überirdischen gemeinhin als etwas unnatürliche Wesen mit erschreckender Aufführung betrachtete.“
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In der Tat, die Phantasie des Lesers ist grenzenlos und lässt ihn das Altbekannte immer neu unter zeitgenössischen Aspekten betrachten. Ein Glück nur, dass die Pflicht, das Büchlein auch statarisch zu lesen, zunächst einmal strikte Beschränkung verlangt: Auf den Text verwiesen notiert der Rezensent Fortschritte und Rückwärtsbewegungen im homerischen Handlungsverlauf, Übereinstimmungen und Kontraste, Verschränkungen und Offenheiten. Wieder und wieder stellt er sich FragenKataloge zusammen: Lassen sich die Musen-Anrufe mit Hilfe der platonischen Formel Enthusiasmus und Logos verstehen? Wo endet, wenn überhaupt, die dichterische Freiheit in archaischer Zeit? Sind die olympischen Götter nur Freiwild für libertäre Attacken? Und weiter: Welche Passagen kennst du, Leser, um die ingeniös beschriebene „Spannung zwischen Formelhaftigkeit und Variation, die überraschende Abwandlung des Vertrauten, die Anpassung an individuelle Aussagen, die an die Kennerschaft eines bestimmten Publikums appellieren“, im homerischen Text und, weiterdenkend, in jenen Tragödien nachzuweisen, welche zu Recht „Schnitten vom Mahle Homers“ genannt worden sind? Den Interpretationen der beiden Mannspergers folgend muss sich der Leser Gedanken über die Behandlung der jeweiligen Stilebene machen – Komik bei Homer: ein noch nicht genug beackertes Feld! –, muss die Kunst des Zeitraffens, vor allem die Verwandlung der realen in die fiktive Zeit bedenken, muss die „filmischen“ Schnitte, ja, die Technik des Zooms bedenken, die den Szenenwechsel akzentuieren. Stilisierende Tendenzen überall: Im Augenblick des höchsten Liebesglücks – Odysseus und Penelope „erkennen“ einander auf dem ehelichen Lager – hält Athene die Nacht an und hindert die Morgenröte, ihre Rosse anzuschirren. An vielen Ausrufungszeichen, die für Zustimmung stehen, und einem oft wiederholten ecce! sic! und recte! mangelt es nicht, auch einige wenige, am Textrand verloren wirkende Fragezeichen finden sich gelegentlich: Warum gibt es kein Stichwort für „Schlaf“? (Beim Lesen des ,Homeriden‘ William Shakespeare notiert.) Bliebe noch die Bitte an die Leser, die wunderbaren Geographika mit besonderer Akribie zu studieren, die Milieu-Beschreibungen, vor allem in der Odyssee zu bedenken und sich an Hand des libellus mit Herrenhäusern, Prunkwagen, Schiffen, Häfen, Männerrüstungen und Frauenschmuck zu beschäftigen: Es ist wahrscheinlich, dass Penelope während Odysseus’ Abwesenheit auf Kosmetika verzichtete. Schließlich ein Aspekt, über den zu meditieren mir so wichtig ist wie den Autoren: der Kontrapunkt des Leisen und Sanften mitten in Mordszenerien. Der innehaltende Achill! Der „andere“ Hektor, so, wie ihn Helena, ausgerechnet sie, die so oft an den Pranger gestellte Frau, im Zeichen einer großen Tristesse beschreibt: „Hektor, o trautester Freund, […] nimmer entfloh dir ein böses Wort, noch ein Vorwurf, […] immer besänftigtest du und redetest immer zum Guten durch dein freundliches Herz und deine freundlichen Worte. Drum bewein ich mit dir mich Elende, herzlich bekümmert.“ Zum Schluss eine Frage, eine laudatio und ein Résumé. Zunächst die Frage: Wenn die Autoren zu Recht betonen, dass die offenen Schlüsse den Ausschnitt-Charakter der beiden Epen markieren und eine Weiterdichtung auf Kosten der poetischen Abstraktion ginge – jetzt noch Achills Tod, jetzt noch Odysseus’ Ende –, während der
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wahre Poet, Homer, es bei knappen Vorausdeutungen von Zeus und Teiresias bewenden lässt … wenn dem so ist, hätte dann Goethe nicht gute Gründe gehabt, seine Achilleis aufzugeben und es beim offenen Ende zu belassen? Kein lodernder Scheiterhaufen, kein sich hinschleppendes Untergangs-Finale. Nach Vers 651 ist Schluss. Die Bedenken, die das chronologische Forterzählen betrafen, waren groß: „Ich fange mit dem Schluss der Ilias an, der Tod Achills ist mein nächster Gegenstand, indessen werde ich wohl noch etwas weiter greifen. Diese Arbeit führt mich auf die wichtigsten Puncte der poetischen Kunst, indem ich über das Epische nachzudenken alle Ursache habe.“ Geheime Zweifel also von Anfang an. Schade, gleichwohl, dieser Abbruch, doppelt schade, weil es einen Schriftsteller gab, der Goethes Fortsetzung seinerseits hätte fortsetzen können, diesmal im Duktus des konsequenten Episierens: Thomas Mann. Ein Jammer, dass Karl Kerényi den auf unermüdliches In-Spuren-Gehen verwiesenen Dichter nicht energisch genug drängte, eine Prosa-Achilleis, bestimmt durch psychologisierendes Raffinement, zu schreiben. Das hätte sich am Ende – vielleicht – machen lassen. Ein Jammer, noch einmal, dass der schlechte Lateinschüler (und überzeugte Humanist) keine Mannsperger-coniuges in seiner Nähe hatte, die dem Romancier neue, produktiv weiter zu entwickelnde Erkenntnisse hätten vortragen können … Erkenntnisse, die unter anderem auch auf einen Odysseus verwiesen, der sich als maître grand parleur und geheimer Zauberer in arte rhetorica präsentierte. Nun, Thomas Mann hörte auf, bevor er richtig begann, und das Ilias-Ende blieb, was es immer war: unüberbietbar. Womit der erste Leser und Rezensent zum Vorletzten käme: der laudatio auf zwei Wissenschaftler, deren Buch ihn in keiner Minute langweilte. Selbst die HexameterAnalyse liest sich nahezu unterhaltsam. Mit Hilfe von verlässlich gegliederten Programm-Punkten durchschritten die gelehrten Verfasser das homerische Terrain mitsamt seinen Höhen und Tiefen (Untiefen wurden elegant umschifft) und verloren dabei ihr Hauptanliegen, die Beschreibung einer ureigenen Kunst-Welt samt ihrer technischen Prämissen, nie aus den Augen. Und schreiben können die beiden ihr Büchlein sorgfältig komponierenden Gelehrten, nehmt alles nur in allem, auch – in welchem Ausmaß, das verdeutlicht exemplarisch die Beschreibung der Leichenspiele zu Patroklos’ Ehren im 23. Gesang der Ilias: ein Text, der den Kreis der Wagenrenner, Boxer, Ringer, der Waffenkämpfer, Kugelstoßer, Bogen- und Speerwerfer beschreibt, als ginge es um ein agonales Ballett. Variatio delectat und Modernität ist erlaubt heißen die Losungen: „Favoritensturz und Sieg des Jung-Heros und Götterlieblings, Tricks und Einsicht des jugendlichen Heißsporns, gelassene Großmut des Königs, Ehrerbietung gegen das verdienstreiche Alter, leidenschaftliches Mitfiebern der Zuschauer: das sind die Elemente im Wettkampf der hervorragenden Pferde-Halter und -Lenker, die noch identisch sind: Besitz und Leistung gehören zusammen.“ Chapeau bas! Die gelehrten Homer-Kenner schreiben hier in einem federnden Rhythmus, der die Aktionen stilistisch nachzeichnet – und das wohlbegründet. Auch der Ilias-Dichter verfuhr, die Kola gleichsam vorantreibend, in parataktischer Weise – immer schneller und verwegener! Und was Goethe betrifft, den Verfasser des Auszugs
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aus der Ilias, so ist sein Tempo, dank des regierenden Präsens, beinahe noch schneller als im Mannsperger’schen Buch. („Sie fahren ab, sie kommen gegen das Ziel, Eumelos jagt vor, Diomed ihm nach; dieser verliert die Geißel, Pallas gibt sie ihm zurück und zerbricht dem Eumelos den Wagen, Diomed fährt vorbei, ihm folgt Menelaos“: das ist die Prosa eines heranreifenden Genies, das Selbstfindung in Homers Bahnen sucht.) Schließlich mein Fazit in der Form eines Epilogs: Wer sich mit Homer beschäftigt, sollte nicht nur die Werke der beiden Ur-Meister des ausgehenden 8. Jahrhunderts, eines revolutionären Saeculums, sondern auch ihre evozierende Kraft mitbedenken (Schlaf und Traum als Dichtungs-Konstanten – Shakespeare und kein Ende!), die bis zur Gegenwart reicht. In Tübingen wurde gezeigt, wie fruchtbar es sich an der Grenze von Wissenschaft und Poesie arbeiten lässt … bedeutenden Gelehrten, zumal im deutschen Sprachraum, verpflichtet (Hölscher, Latacz, Reinhardt, Schadewaldt, Snell), aber auch Schriftstellern auf der Spur, deren Visionen den apollinischen Musen zugeordnet bleiben – wie sehr, das hat, für viele sprechend, der eine James Joyce in seinem Ulysses gezeigt. So betrachtet, denke ich, wird der libellus Homericus dank seiner anspornenden Wegweisung uns Lesern künftig vielfach hilfreich sein. Dafür sei den beiden Autoren, die vor vielen Jahrzehnten einmal zum Kreis meiner Schüler gehörten, herzlich gedankt – im Sinne des solonischen Satzes, wohlgemerkt, der da lautet: gerasko d’aiei polla didaskomenos – ich bin alt geworden und lerne unermüdlich dazu. Walter Jens
VORWORT Die Dichtung Homers steht wie ein Wunder am Anfang der europäischen Literatur, ein vollkommenes, in sich differenziertes, jederzeit fesselndes Kunstwerk aus einer scheinbar so fernen, dunklen Epoche. Ob ein Dichter Homer jemals gelebt hat, wird zwar immer wieder in Frage gestellt, das Werk jedoch ist lebendig seit bald dreitausend Jahren. Ob man nun einen oder zwei verschiedene Dichter annimmt, die Texte von Ilias und Odyssee wurden gelesen und immer wieder gelesen, sie wurden zum unerreichten Vorbild für Dichtung überhaupt, und ihre Inhalte versuchte man von jeher historisch und archäologisch auszuwerten. In der Gegenwart ist dieses Sachinteresse besonders in den Vordergrund getreten, aus der Diskussion der Fachdisziplinen entwickelte sich ein neuer wissenschaftlicher „Kampf um Troja“, an dem auch die weitere Öffentlichkeit lebhaften Anteil nahm. Das Wort des Dichters selbst trat demgegenüber mehr und mehr in den Hintergrund, mochte sich auch der Film seiner Figuren immer wieder aufs Neue bemächtigen. Einige Bildungsreminiszenzen zu Namen und Fakten sind bei Quizsendungen immer noch verwertbar, ein großer Name ist Homer nach wie vor, doch wird ihn jeder lesen? Nein! Seine Lektüre an der Schule findet kaum mehr statt, und an der Universität hat sie sich in die Seminare von immer weniger Spezialisten zurückgezogen. Wer sich dennoch anschickt, ihn zu lesen, der findet zwischen philologischer Analyse, Rezeptionsästhetik und Sacherklärung nur schwer den richtigen Zugang. Über das eigentliche Wesen des Gegenstands besteht oft Unsicherheit. Zu Recht hat in diesem Zusammenhang ein Historiker die Warnung ausgesprochen „Die Ilias ist kein Geschichtsbuch.“ Diese Grundeinsicht hat sich zwar weithin durchgesetzt, aber was das Epos wirklich ist, sollte man sich immer wieder erneut vor Augen stellen: ein Großepos, das in literaturgeschichtlicher Tradition steht und in einer bestimmten historischen Situation für ein spezifisches Publikum geschaffen wurde. Seine Handlung spielt in einer Idealwelt der Götter und Heroen, in die man sich gerne hineinversetzte, ohne sich voll mit ihr identifizieren zu können. Zur heroischen Perspektive gehört eine klare historische Distanz, denn eine allzu realistische Wiedergabe der zeitgenössischen Verhältnisse würde die Illusion nur stören. Auf diese Weise entsteht eine eigenartige Kunstwelt, wo sich Erinnerung an die Vergangenheit verbindet mit mythischen Assoziationen, wo märchenhafte Züge neben historischen Reminiszenzen stehen, und gleichsam zur Beglaubigung und als Brückenschlag zur Gegenwart und Nachwelt topographische Schauplätze und sichtbare Relikte der Vergangenheit mit eingebunden werden. Gewisse zeitgenössische Fakten und Ideale mögen trotz aller archaisierenden Tendenz präsent sein, in jedem Fall aber ist grundsätzlich von einer Vielfalt der Elemente auszugehen, mit denen die dichterische Phantasie spielt. Namen und Ereignisse historischer oder mythischer Tradition können dabei transloziert oder anachronistisch transferiert, eingeschmolzen und neu komponiert werden. Deshalb sind Ilias und Odyssee weder ausschließlich auf die Eisenzeit, noch allein auf die Bronzezeit zu beziehen, so wenig wie das Nibelungenlied einschichtig die Welt der Völkerwanderungszeit oder die des Hochmittelalters wiedergibt. Diese Vielfältigkeit homerischer Dichtung ist jedoch nicht als ein
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Paket von Sedimentschichten oder ein Konglomerat zu verstehen, dessen einzelne Bestandteile sauber zu trennen oder herauszulösen wären. Sachliche Aussagen im Epos erscheinen nicht um ihrer selbst willen, sondern an der Stelle und in der Gewichtung, die die dichterische Absicht verlangt. Es ist also durchaus dem Gegenstand angemessen, wenn man sich einfach dem Gang der Handlung und der Faszination des Lesens überlassen kann. Dazu muss jedoch die Hemmschwelle überschritten werden, der man sich bei der ersten Begegnung gegenübersieht, bedingt durch den Eindruck des Fremden und Ungewohnten. Schwierigkeiten bereiten dabei die äußere literarische Form, angefangen beim Versmaß des Hexameters, dann die immer wiederkehrende Formelhaftigkeit der Darstellung, Weitschweifigkeit der Komposition und Langatmigkeit der sprachlichen Gestaltung. Die uns heute geläufigen literarischen Gattungen Roman und Drama, Lyrik und Sachprosa setzen gewisse Vergleichsmaßstäbe, und alltägliche Denkkategorien und Wertvorstellungen können zu Befangenheit führen gegenüber dem Text aus dem Altertum. Themen wie Monotheismus und Polytheismus, Staat und Gesellschaft, Aristokratie und Demokratie, Masse, Familie und Individuum, Mann und Frau, Leben und Tod, Mensch und Gott, Mensch und Natur, Krieg und Frieden, Selbstverantwortung und göttliches Verhängnis sind zwar letztlich zeitlose Kategorien. Dennoch bleibt die Frage, ob man sie an solche frühen Denkmäler einer fernen Welt herantragen darf, auch dann berechtigt, wenn sie wie Homer unsere Kultur in hohem Maße geprägt haben. Eine Antwort darauf kann nur die eigene Begegnung mit dieser Welt geben. Schon eine ausführliche Nachzeichnung der Epen wie in Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ oder eine knappe Nacherzählung wie „Ilias und Odyssee“ von Walter Jens eröffnen einen legitimen Zugang, zumal wenn sie von ausgewiesenen Sachkennern vorgelegt werden, aber das Original können sie nicht ersetzen. Zur Auseinandersetzung damit, sei es im Urtext, in zweisprachigen Ausgaben oder auch, wie wohl in den meisten Fällen, anhand einer Übersetzung, will das vorliegende Buch ermutigen und helfen. Diese Absicht soll durch eine Dreiteilung erreicht werden, die vom Allgemeinen zum Speziellen voranschreitet. Zuerst wird das Epos als Ganzes mit den den Gesamteindruck bestimmenden Elementen ins Auge gefasst. Dann erfolgt eine nähere Observation der im Text eingesetzten dichterischen Kunstmittel und schließlich eine Beurteilung der sachlichen Inhalte in ihrer dichterischen Verwandlung. Innerhalb dieser Gliederung wird durchweg dieselbe Methode verfolgt. Dazu gehört zunächst ein exemplarisches Vorgehen; es wird keine Systematik angestrebt und keine Handbuch-Vollständigkeit, deshalb gibt es keine Tabellen oder Schemata, Pläne oder Karten. Beabsichtigt ist auch kein fortlaufender Kommentar, sondern es werden Einzelaspekte herausgegriffen, die für die jeweiligen Themen wichtig sind. Daraus ergibt sich eine gewollte Mehrfachbehandlung derselben Textstellen, die dadurch in ihrer Vielschichtigkeit deutlicher werden; zur Orientierung dient ein Stellenregister. Alle Aussagen und Hinweise bemühen sich dabei um eine ständige Textnähe, die durch Paraphrasen und eigene neue Übersetzungen gewährleistet wird. Zur Erleichterung des Verständnisses wird auch eine gelegentlich raffende, erläuternde oder sogar interpretierende Modifikation nicht gescheut, und wenn es nur um die Entla-
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stung der Textaussage von der typischen Attributhäufung geht. Auch eine konstante Wiedergabe der griechischen durch immer dieselben deutschen Begriffe wird absichtlich vermieden, um ihr abweichendes Bedeutungsspektrum nicht zu verdunkeln. Wichtige Schlüsselwörter werden des Öfteren auch griechisch in lateinischer Umschrift gegeben, vor allem dann, wenn sie durch Fremdwörter im Deutschen schon etwas vertraut sind. Das Buch profitiert allenthalben von den Ergebnissen einer generationenalten Forschungsarbeit, aber es enthält keine Diskussion wissenschaftlicher Thesen, und deshalb keine modernen Autorennamen oder Literaturzitate, und auch keinen Anmerkungsapparat. Dennoch führen die Methode des reflektierenden Lesens und das Bemühen um eine Zusammenschau der Phänomene oft zu neuen Beobachtungen und Interpretationsansätzen, sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht. Gerade an besonders kritischen Punkten, wo die Forschung immer wieder eingehakt hat, kann der Blick auf Parallelstellen und Typenvariation weiterhelfen. Formeln und epische Beiwörter können in ihrem Gebrauch Tradition und Innovation durchaus vereinigen. Das Temperament des „fußschnellen Achill“ kann sich auch im raschen Wortwechsel äußern, Odysseus und Achill sind „Städteeroberer“ auf ganz unterschiedliche Weise. Verstummen und Schweigen handelnder Personen müssen nicht unbedingt Anzeichen kompositorischer oder genetischer Bruchstellen sein, scheinbare Dubletten und Wiederholungen von sprachlichen Wendungen oder ganzen Szenen dienen bei genauerem Hinsehen oft der Intensivierung oder Differenzierung, und ein stimmungsvoller Märchen- oder Romanausklang eignet sich nicht unbedingt auch als Schlusspunkt im Spannungsbogen eines frühgriechischen Epos. Bei der Einführung von Göttern und Menschen, wie auch in der Schilderung von Befestigungsanlagen und Bestattungsbräuchen, Waffen und Gerätschaften können sich mythische Vorgabe, dichterischer Zweck und reale Gegebenheiten so eng verbinden, dass die Analyse sich auf Hypothesen beschränken muss. Ein ausdrücklicher Hinweis wird dabei in der Regel vermieden, denn der Kenner wird in solchen Fällen die Neuansätze unschwer erkennen, den unbefangenen Leser könnte das Argumentieren eher stören. Seiner weiterführenden Information dient ein wie die einzelnen Kapitel selbst exemplarisch angelegtes Literaturverzeichnis, das vor allem rasch zugängliche Hilfsmittel, aber auch ältere und entlegenere Arbeiten aufführt, insoweit sie für unseren Ansatz von Wichtigkeit sind, informierende Hinweise können dazu weiteren Aufschluss geben. Im Anhang erleichtern neben dem Stellenregister ein Verzeichnis der antiken Eigennamen sowie eine Stichwortliste die Orientierung im Buch, wozu auch die Marginalien dienen sollen. Die Abbildungen fungieren als Zeugnisse der phantasiefördernden Wirkkraft Homers. Dem Vasenbild von Achill und Patroklos entspricht in der Ilias nur eine ähnliche Szene zwischen Patroklos und Eurypylos (Il. 11,844– 848), Hermes und Athene sind neben Sarpedon und Nausikaa zusätzlich eingefügt, und das Idealbildnis des blinden Homer führte bei Goethe zu einer Vision: „Dies ist der Schädel, in dem die ungeheuren Götter und Helden so viel Raum haben, als im weiten Himmel und der grenzenlosen Erde …“ Pro captu lectoris habent sua fata libelli – je nachdem, wie der Leser sie aufnimmt, haben die Büchlein so ihre Schicksale. Der Satz des Terentianus Maurus (v. 258) wird
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Vorwort
meist nur in seiner zweiten Hälfte zitiert und vor allem auf die Entstehungsgeschichte eines Buches bezogen. Ilias und Odyssee zeigen, dass gerade auch die Wirkungsgeschichte wichtig ist für das Schicksal eines Werks. Beides gehört zusammen, das Verhältnis des Autors zu seinem Publikum bestimmt von Anfang an die Gestalt des Textes, und sein Nachleben hängt ab vom Interesse der Leser. Zur Beförderung dieser Anteilnahme will vorliegendes Büchlein einen bescheidenen Beitrag leisten, und auch sein Entstehen kennt ein gewisses Auf und Ab. Am Anfang standen unzählige Gespräche mit Menschen von ganz unterschiedlichen Interessen und ungleichen Vorkenntnissen, aber immer gleicher Aufgeschlossenheit und Neugierde. Ihre Fragen und Anregungen, auch gelegentliche Erfahrungen und Enttäuschungen ermutigten zu einem Versuch, vorhandene Motivationen zu befördern. Die Zusammenarbeit zweier Autoren brachte Vorteile und Nachteile mit sich. Im beständigen Zwiegespräch wurden immer wieder neue Aspekte zur Geltung gebracht, bedingt durch die unterschiedlichen wissenschaftlichen Erfahrungen. Neben den methodischen traten auch stilistische Differenzen hervor, die zu mehrfachen Umarbeitungen der Texte führten, bis schließlich so viel Übereinstimmung erzielt war, dass sich der Anteil der Autorin oder des Autors nicht mehr herausfiltern ließ. Von Anfang an war klar, dass man in jeder Hinsicht exemplarisch vorgehen musste, doch das brachte die Problematik der Auswahl, die Qual des Zwangs zum ständigen Weglassen, und das Bedauern wegen des Übersehenen mit sich. Auch das imaginäre Zwiegespräch mit dem Publikum konnte zu Zweifeln führen: War man zu leicht oder zu schwer im Ansatz, zu seicht oder zu tief im Gedanken, zu einseitig, zu tendenziös, zu aktualistisch bei der Interpretation? Die Antworten des Lesers werden wohl unterschiedlich ausfallen, je nach seiner Herangehensweise. Die überwiegend positiven Reaktionen der Leser und Kritiker rechtfertigen nun nach zehn Jahren eine neue und korrigierte Sonderausgabe. Wenn den „Deutschen Lehrern im Ausland“ gesagt wurde, das Buch könne rundum empfohlen werden, so mag es nun auch im Inland wieder neue Leser finden. Maßgeblich konzipiert im Grabungshaus von Troja, stellte es die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit. Erste Voraussetzung dafür ist das Verständnis des Werks als solches, seiner Kunstmittel und seines Kunstwollens. Die dazu neu eingeführten Begriffe von „Hyperrealismus“ und „Hyperhistorizität“ beschreiben das artifizielle Verhältnis des Epos zur Archäologie und Geschichtswissenschaft. Sie nehmen Stellung zu den im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts im sog. „Troiastreit“ wieder aufgeworfenen Fragen, ob es überhaupt einen trojanischen Krieg gab, und ob die Befunde von Hissarlik seinen Schauplatz adäquat widerspiegeln. Inzwischen ist die Hitze der Diskussionen etwas abgekühlt, das Feuilleton und die Wissenschaft haben sich wieder dem eigentlich literaturwissenschaftlichen Interesse zugewendet. Insofern ist unser ursprüngliches „Hauptanliegen, die Beschreibung einer ureigenen Kunstwelt“, wie es Walter Jens erkannt hat, von unveränderter Relevanz: Dem modernen Leser der homerischen Texte soll der Zugang zu dieser faszinierenden Kunstwelt ein wenig erleichtert werden, sei es durch eine Übersetzung oder auch im Original.
Achilleus verbindet Patroklos
I. DAS EPOS ALS GANZES Annäherung an den Gegenstand – das 1. Buch der Ilias Die erste Begegnung des Lesers mit dem Werk ist wichtig: Hier fällt die Entscheidung, ob man weiterliest, ob der Gegenstand Spannung, der Stil Gefallen, die Form Interesse erregt. Der Eingang der Ilias bietet von allem etwas: „Me¯nin aeide thea¯ Pe¯le¯iadeo¯ Achile¯os“, „Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohnes Achilleus“. Der traditionelle Name des Gedichts lautet „Ilias“, „Gedicht über die Stadt Ilios“, doch erst in Vers 19 ist von der „Stadt des Priamos“, in Vers 71 von „Ilios“, in Vers 129 von „Troia“ die Rede. Der Dichter bittet hingegen im ersten Satz eine Göttin, den verderblichen Zorn und Groll eines Mannes zu besingen, der vielen Helden den Tod brachte. So wurde der Plan des Zeus erfüllt, infolge eines Streits zwischen dem Männergebieter Agamemnon und dem göttlichen Achill. Sieben Verszeilen in äußerst knapper Konzentration umreißen die eigentliche innere Thematik des Epos, die schicksalhaften Folgen menschlicher Leidenschaften unter Lenkung der Götter, der eigentliche Schauplatz wird als bekannt vorausgesetzt. Nach diesem Eröffnungsakkord zur Einstimmung geht es unmittelbar hinein in die Handlung. Die zwei Hauptakteure Achill und Agamemnon sowie der leitende Gott Zeus sind im Prooimion genannt, doch nun erweckt eine Frage nach den Ursachen besondere Neugierde: Wer von den Göttern trieb sie zum Streit? Der Sohn Letos und des Zeus zürnte dem König und sandte eine Seuche über das Heer, weil dieser, der Sohn des Atreus, den Priester Chryses verunehrt hatte. Der nämlich kam
Vorwort
Einstieg in die Handlung
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Szenerie
Apollon mit dem Silberbogen
Ausbruch des Zorns
Athenes strahlendes Auge
Das Epos als Ganzes
zu den Schiffen der Achäer mit reichem Lösegeld für seine Tochter, die heiligen Binden Apollons in Händen, und flehte die Achäer insgesamt, vor allem jedoch die beiden Heerführer, die Atriden, an. Knappe zusätzliche Informationen verdeutlichen damit in rückschreitender Enthüllung Szenerie und Situation; ein Heer, ein Schiffslager ist da unter dem Befehl der Atriden, heimgesucht von der göttlichen Strafe einer Epidemie. Der knappe Bericht steigert sich zur wörtlichen Rede und Gegenrede von König und Priester: Der Priester wünscht den Achäern göttlichen Segen für die Eroberung von Priamos’ Stadt und glückliche Heimkehr, fordert sie jedoch auf, die Tochter freizugeben für Lösegeld, aus Scheu vor Apollon. Alle anderen stimmen zu, doch Agamemnon schickt den Alten unter Drohungen weg: „Verschwinde und reize mich nicht, sonst passiert dir was …“ Den Oberfeldherrn verführt das Gefühl der Allmacht und Würde zur Missachtung göttlicher Satzung. Der Priester geht schweigend zum einsamen Meeresstrand und bittet seinen Gott in kultisch-zeremonieller Anrufung um Rache. Der erhört ihn und steigt herab vom Olymp, zürnend und finster wie die Nacht, klirrend von Waffen. Die erste Vision eines leibhaftig agierenden Gottes tritt uns entgegen, beschworen durch wenige optische und akustische Merkmale. Unter dem schrecklichen Klang des silbernen Bogens sterben Tiere und Menschen, neun Tage lang brennen die Totenfeuer, bis am zehnten wieder ein Gott eingreift: Hera, besorgt um die Danaer, veranlasst Achill zur Einberufung einer Volksversammlung und Seherbefragung. Kalchas, der die Flotte nach Ilios gelenkt hatte, erbittet und erhält von Achill Rückendeckung gegen Agamemnon, ehe er diesen als Schuldigen benennt und zur Rückgabe des Mädchens auffordert. Der Herrscher, ergrimmt über den Unglückspropheten, erklärt sich zwar zum Nachgeben bereit, fordert jedoch eine Entschädigung. Die äußerst gespannte Atmosphäre entlädt sich unter beständiger Steigerung in einem doppelten Wortwechsel Achill – Agamemnon, Achill – Agamemnon: „Habgierigster von allen“ – „Betrüger“ – „Schamloser Egoist“ – „Verhasster Aufrührer“. Agamemnon wird seine Ehrengabe, die Sklavin Chryseis, zurückgeben, aber dem Achill die seinige, Briseis, wegnehmen. Damit ist der Höhepunkt des ersten Buches, das Zentralmotiv der Dichtung, erreicht. Die me¯nis des Achill hat szenische Gestalt gewonnen. Der Zwiespalt im Herzen des Wütenden – Mord und Totschlag oder Selbstbeherrschung – wird durch göttliches Eingreifen entschieden. Wieder ist es Hera, um beide besorgt, die nun Athene entsendet. Achill, der schon die Waffe gegen Agamemnon zückt, erkennt die Göttin am strahlenden Auge, beugt sich ihrem besänftigenden Rat und stößt das Schwert zurück in die Scheide, in der allgemeinen Erkenntnis: „Wer den Göttern gehorcht, den erhören sie wieder.“ Stattdessen bekräftigt er seinen Entschluss beim herrschaftlichen Zepter, das er symbolisch zur Erde niederwirft. Selbst der nun erstmals auftretende weise Nestor kann in weit ausholender Rede die Streitenden nicht besänftigen; Achill zieht sich mit dem Gefährten Patroklos in sein Lager zurück, Agamemnon entsendet den klugen Odysseus mit einem Schiff, um die Tochter des Chryses zurückzubringen, und zwei Herolde, um dem Achill die Briseis wegzunehmen. Diese beiden gleichzeitig ablaufenden Handlungen werden nacheinander verfolgt: Das Schiff entschwindet auf dem Meer, das Geschehen im Lager läuft weiter; Achill gibt die Briseis heraus, die nur ungern von ihm scheidet,
Annäherung an den Gegenstand
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zieht sich unter Tränen an den einsamen Meeresstrand zurück und ruft seine Mutter, die Meergöttin Thetis, an. Die taucht auf aus der Tiefe wie ein Nebel, streichelt ihn und fragt nach seinem Kummer: „Kind, was weinst du …“ Achill referiert das Geschehen in längerer Rede, schildert seine Entehrung und bittet die Mutter darum, ihren Einfluss bei Göttervater Zeus für ihn zu verwenden: Der soll den Troern Sieg verleihen, die Achäer ans Meer zurückwerfen und Agamemnon zur Erkenntnis seiner Verblendung (ate¯) bringen. Thetis weiß um den frühen Tod ihres Sohnes und verspricht ihm wenigstens jetzt Genugtuung: Zwar sind Zeus und ihm folgend die anderen Götter für elf Tage auf Besuch zu den fernen Aithiopen gegangen, doch am zwölften will sie nach seiner Rückkehr auf dem Olymp flehend seine Knie umfassen. Damit verlässt die Göttin den einsam Grollenden, und die Erzählung nimmt nun die eingeleitete Odysseushandlung auf: Die Fahrt des Schiffes vom Achäerlager zum Hafen von Chryse, Ankerwerfen und Ausschiffung, Übergabe der Chryseis an ihren Vater und der Sühnehekatombe an Apollon, Gebet des Priesters und dessen Erhörung, Opfer, Mahl, Tanz und Festgesänge zur Freude des Gottes füllen den Lauf des Tages, bei Sonnenuntergang legt man sich am Schiffsheck zum Schlafe nieder, mit der Morgenröte geht es zurück zum Schiffslager, der günstige Wind Apollons bläht die Segel, und die Welle rauscht um den Kiel. Mit den Heimkehrern findet der Leser zurück zum unablässig grollenden Achill, der nicht an Ratsversammlung oder Kampf mehr teilnahm, so sehr er sich danach sehnte. Die detailreich und doch zügig geschilderte Sühnemission des Odysseus dauert nur gut einen Tag und eine Nacht; die reale Entfernung des Apollonheiligtums von Chryse zum Schiffslager vor Ilios wird dadurch nachvollziehbar, der geographische Handlungsraum des Epos präziser umrissen. Die zeitliche Parallelität der Handlungsstränge wird nicht pedantisch nachrechenbar gemacht, sondern stimmungsmäßig überspielt; die elftägige Handlungspause während der Abwesenheit der Götter ist nicht mit Aktion gefüllt, sondern sie dient zur Vergegenwärtigung der qualvollen Selbstzerfleischung des zürnenden Helden. Erst am Morgen des zwölften Tages setzt die Haupthandlung wieder ein, die nun ganz auf dem Olymp, im Kreise der Götter spielt: Zeus ist zurück, Thetis erinnert sich ihres Auftrags, taucht auf aus dem Meer in aller Frühe, findet den Himmelsgott einsam sitzend auf der höchsten Bergspitze und fleht ihn an: „Gib meinem Sohn, dem Todgeweihten, die Ehre zurück!“ Zeus schweigt, und Thetis beginnt ein zweites Mal: „Gib mir eine deutliche Zusage, oder verweigere sie!“ Da fährt der Wolkenversammler auf: „Soll ich mich mit Hera verfeinden? Schnell geh weg, damit sie nichts merkt, ich nicke dir Gewährung!“ – sagte es, und mit dunklen Brauen nickte der Kronide, und die göttlichen Locken wallten vom unsterblichen Haupt des Herrschers, den großen Olymp erschütternd. In der anschließenden Götterversammlung bricht dann der Ehestreit los: Hera hat alles bemerkt, Zeus droht ihr mit Gewalt. Die Götter murren, Hera erschrickt, doch der gemeinsame Sohn Hephaistos besänftigt sie, indem er Nektar ausschenkt und an eigene Erfahrungen mit dem mächtigen Vater erinnert. Was sollen sich Götter wegen Sterblicher streiten? Hera lächelt und trinkt, unauslöschliches Lachen erhebt sich unter den glückseligen Göttern beim Anblick des den Saal durchkeuchenden Hephaistos. Den ganzen Tag bis Sonnenuntergang schmausten sie im Saale, Apollon spielte und die Musen sangen, bis sie alle sich zu süßem Schlafe legten, Zeus bei der goldthronenden Hera.
Parallelhandlung
Raum und Zeit
Gewährungsnicken des Zeus
Götter unter sich
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Erste Eindrücke
Hintergründe des Geschehens
Das Epos als Ganzes
So löst sich die Düsternis menschlicher Verblendung (ate¯), die sich zum Zorngeschehen (me¯nis) steigert und mit dem Nicken des Zeus als Höhepunkt die Handlung der Dichtung einleitet, auf der göttlichen Ebene nach Überwindung interner Spannungen in überlegener, olympischer Heiterkeit. Der Stimmungsbogen des ersten Gesangs schließt versöhnlich im Einklang mit dem natürlichen Tagesablauf, die später kanonisierte Bucheinteilung folgt hier wie meist den vorgegebenen kompositorischen Einschnitten des Dichters. Wer der Entfaltung des epischen Geschehens bis hierher gefolgt ist, sei es am Urtext, in metrischer oder Prosa-Übersetzung oder im parallelen Vergleich von beiden, dem sind bereits wichtige Wesenszüge homerischer Dichtung entgegengetreten. Versform und Rhythmus, Sprache und Wortwahl sind allgegenwärtig und schon das Vorwort (Prooimion) stellt spezifische Gestaltungselemente vor. Hier bedarf es göttlichen Beistandes, denn es geht nicht um Alltägliches: Musenanruf. Hier werden keine fortlaufenden Geschichten von Helden erzählt, sondern es geht um die Problematik und Folgen ihrer Emotionen und Leidenschaften: Zorn des Achill. Die Hervorhebung eines solchen Hauptmotivs erfordert den spontanen Einstieg in die Handlung, den Sprung medias in res. Eine gewisse Kenntnis der Personen, der Schauplätze und der Vorgeschichte kann bei Zeitgenossen und Nachwelt vorausgesetzt werden. Bekannt oder nicht, ihre schrittweise Einführung, Entfaltung und Ergänzung durch Rückgriff, Nachtrag und Einblendung schaffen Spannung, Überraschung oder Wiedererkennungsfreude, jedenfalls erzählerische Abwechslung und Tiefgang. Dem gleichen Zweck dient der virtuose Wechsel der Darstellungsmittel. Bericht geht über in direkte und indirekte Rede, Wortwechsel und Schimpfkanonaden tragen bei zur Charakterisierung der Personen, gleichzeitige Handlungen überlagern sich bei wiederholtem Wechsel des Schauplatzes. Bisweilen steigert sich eine Rede zur prägnant zugespitzten Lebensregel. Die Konzentration auf psychologische Affekte als Triebkräfte und Ursachen des Geschehens führt in philosophisch-theologische Fragestellungen hinein. Die Unterworfenheit unter die Aufwallungen der Leidenschaft (thymos), die Gier nach Ehre (time¯), Überheblichkeit (hybris), Verblendung (ate¯), Groll und Zorn (me¯nis, cholos) sind Ausdruck menschlicher Unvollkommenheit, bei den Heroen der Vorzeit gewinnen auch sie übermenschliche Dimensionen. Hier im Bereich des Unbewusst-Dämonischen wirken die Götter: Die Verblendung des Agamemnon und der Zorn des Achill sind eingebaut in die Planung des Zeus (boule¯). Apollon, Hera und Athene, schließlich auch Thetis und Hephaistos, greifen ein, mahnend, strafend oder besänftigend. Den Menschen erkennbar sind sie dabei nur an markanten Zeichen, im Klang des Silberbogens, am strahlenden Blick der Augen, als Meeresnebel, selbst Zeus manifestiert sich in seiner Majestät vor allem im Wallen des Haupthaars. Das Eingreifen der Götter in menschliches Handeln wird oft auf ihre Gunst und Missgunst zurückgeführt, sie selbst werden vermenschlicht. Auch zu Hause auf dem Olymp kann es offensichtlich interne Spannungen geben, Familienzwist und Ehekrach, doch bald findet man zurück in die gelöste und heitere Sphäre eines höheren Götterlebens, im unauslöschlichen Gelächter.
Dichter und Dichtung
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Dichter und Dichtung Die homerischen Texte selbst geben die zuverlässigsten Informationen über das Selbstverständnis des Dichters und die Erwartungen seiner Zuhörer. Für den modernen Leser ist das Wissen darum der beste Schutz gegen Missverständnisse und interpretatorische Irrwege, und ein wichtiger Schlüssel für den Zugang. Solche Informationen bieten zunächst die Passagen, wo der Autor im eigenen Namen, also in der Ich-Form spricht, beim gebetsartigen Anrufen der Musen oder in der direkten Anrede beim Gegenüber mit handelnden Personen, sowie überall dort, wo er grundsätzliche Äußerungen einflicht. Diese Bemerkungen begegnen uns vor allem im Zusammenhang mit dem Auftritt stellvertretender Sängerfiguren in der Dichtung selbst, gleichsam als szenischer Vergegenwärtigung der Dichterrolle. „Sage mir (ennepe), Muse, den Mann …“, beginnt die Odyssee, und die Gebetsanrufung wird bekräftigt: „Davon, Göttin, Tochter des Zeus, sage (eipe) auch uns“ (Od. 1,1–10). Die Bitte des Dichters bezieht sich auf den sachlichen Inhalt, die Information, das Transportvehikel dafür ist das „Wort“, epos, die Bezeichnung, die dann auch zum Namen der Literaturgattung „Epos“ wurde. Ausgehend von der Ich-Form „mir“ wird dann sogleich das Publikum mit einbezogen, „auch uns“. Die Mitteilung von Fakten allein macht jedoch noch nicht das Wesen dieser Dichtung aus. „Singe (aeide) den Zorn, Göttin …“, heißt es am Anfang der Ilias, das „Singen“ bezieht sich auf eine spezielle, gehobene Art und Präsentation dieser Mitteilung, ihre musische Gestalt im weiteren Sinn, die auch das eigentlich Musikalische mit einschließt. „Singen und Sagen“ gehören also irgendwie zusammen. Die hier angerufene Muse mag die spezielle Göttin des Dichters, vielleicht auch für seine Dichtungsgattung „Epos“ zuständig sein. Jedenfalls hat sie noch mehrere Schwestern, die beim Gelage der Götter zum Saitenspiel Apollons auf der Phorminx ihren Wechselgesang mit schöner Stimme ertönen lassen (Il. 1,603f.). In der Mehrzahl werden die Musen dann auch ausdrücklich angerufen, wenn sich der Dichter zur Bewältigung einer wahrhaft übermenschlichen Aufgabe anschickt. „Jetzt sagt an mir, ihr Musen, die ihr auf dem Olymp eure Wohnungen habt – denn ihr seid Göttinnen, seid allgegenwärtig und allwissend, wir aber hören alleine das Gerede und wissen gar nichts – wer alle die Feldherrn waren und Anführer der Danaer. Deren Masse nämlich könnte ich weder aufzählen noch benennen, auch nicht wenn ich zehn Zungen hätte und zehn Münder, eine unverwüstliche Stimme und ein ehernes Herz mir innewohnte, wenn nicht die olympischen Musen, Töchter des ägishaltenden Zeus, in Erinnerung riefen, wie viele gen Ilios kamen. Also werde ich aufzählen die Führer der Schiffe, und auch alle Schiffe“ (Il. 2,484–493). Dieser ausführlichste aller Musenanrufe ist zugleich der aufschlussreichste. Die Bitte um göttlichen Beistand entspringt dem Bewusstsein menschlicher Schwäche angesichts der gewaltigen Aufgaben des Dichters. Dieser selbst, und wieder bezieht er sein Publikum ein, auch wir alle wissen ja nichts. Raum und Zeit, Zahl und Namen, die ganze Fülle der Welt und der Tradition, der unendliche Schatz der Erinnerung, wie lassen sie sich umfassend und verlässlich ausschöpfen, wenn man aufs bloße Hörensagen (kleos) angewiesen ist? Gedächtnis und Erinnerung (mne¯me¯) verwalten die an der Allmacht ihres Vaters Zeus teilhabenden Musen, deren kanonische Neunzahl
Selbstverständnis des Dichters
Göttliche Überlegenheit, menschliche Schwäche
Neunzahl der Musen
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Funktion der Musenanrufe
Musen als Verkörperung der Erinnerung
Das Epos als Ganzes
bereits in der Odyssee anlässlich der Bestattungsfeier für Achill genannt wird (Od. 24,60f.). Später, im homerischen Hermeshymnos (v. 429) und im Eingang der Theogonie des Hesiod (v. 1–115) werden sie dann Töchter der Mnemosyne genannt. Bei Hesiod erscheinen neben der Neunzahl auch die jeweiligen Namen der Musen, die mit ihrer speziellen Funktion zu tun haben. Kalliope, „die Schönsingende“, später die Muse der epischen, ja der Dichtung überhaupt, wird als die vorzüglichste bezeichnet, weil sie die ehrwürdigen Könige begleitet (Theog. v. 79f.). Ihr mag bei Homer die Anrufung in der Einzahl gelten, doch die Hilfe ihrer Schwestern ist ebenfalls im Epos erforderlich, wenn es unter anderem um Geschichte (Klio), Liebesangelegenheiten (Erato) oder den Himmel (Urania) gehen soll. Nach den über 260 Versen des Schiffskatalogs mit seinem gewaltigen geographisch-historischen Gesamtpanorama folgt zur Lösung eines Spezialproblems ein weiterer Musenanruf in der Einzahl: „Wer aber von denen der Beste war, das sage mir, Muse, von ihnen selbst und den Pferden …“ (Il. 2,761f.). Die drei weiteren Musenanrufe in der Ilias greifen jeweils den durch markanten Binnenreim wie ein Fanfarenstoß wirkenden Formelvers Espete nyn moi Mousai Olympia do¯mat’ echousai von Il. 2,484 wieder auf. Sie dienen dazu, im unübersichtlichen Schlachtgetümmel entscheidende Wendepunkte zu markieren und hervorzuheben, den Siegeszug Agamemnons bis zu seiner Verwundung, das Eingreifen des Poseidon zugunsten der Achäer, und vor allem das Verbrennen des ersten Achäerschiffes durch Hektor, das Zeus selbst als Fanal für die Wende bestimmt hatte: „Jetzt sagt an mir, ihr Musen, die ihr auf dem Olymp eure Wohnungen habt, wie denn zuerst das Feuer fiel in die Schiffe der Achäer“ (Il. 16,112f., vgl. auch 11,218–220 und 14,508–510). Das Verhältnis des Dichters zu den Musen entspricht dem des homerischen Menschen zu den Göttern überhaupt. Was auf den ersten Blick wie eine Projektion menschlichen Fühlens, Verhaltens und Schaffens auf höhere Mächte und Wesenheiten aussehen mag, das wird doch immer getragen von einer religiösen Grundüberzeugung. Mündliche und literarische Sagentradition, historische Chroniken und detaillierte Seefahrerberichte, archivalische Überlieferungen, fingiert oder echt, mit Heeres- und Flottenlisten aus Heiligtümern und Palästen, mögen dem Dichter zur Verfügung stehen. Doch selbst wenn es das ehrwürdige Original eines auf Papyrusblättern festgehaltenen Urkatalogs der Schiffe und Mannschaften des trojanischen Krieges gegeben haben sollte, vielleicht sogar aus mykenischer Zeit überkommen und im Tempel der Athena Ilias zu Troja in der Hut der Priesterschaft aufbewahrt: Ein Dichter Homer, der im 8. Jahrhundert v. Chr. dort am Hof eines Herrschers aus dem Geschlecht des Äneas – dieser und seine Kindeskinder sollten ja künftig nach der Prophezeiung des Poseidon über die Trojaner herrschen (Il. 20,307f.) – Zugang zu einer solchen Urkunde gehabt haben könnte, hätte die Schrift von Menschenhand dann zwar als göttliche Kraft der Erinnerung, als „Muse“ hypostasieren können. Aber für die Bewältigung der Traditionsmasse, für die Umwandlung der bloßen Information in literarische Kunstgestalt vor einem anspruchsvollen Publikum bedurfte es der höheren Inspiration, des Enthusiasmos. Wenn die Musen den Dichter damit erfüllen, dann gewinnt seine Dichtung eine eigene, höhere Realität, in der er gleichsam mitlebt. So kommt es dann dazu, dass außer den Musen auch noch bestimmte Lieblings-
Dichter und Dichtung
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figuren die Ehre einer direkten Anrede im Gedicht (apostrophe¯) erfahren. In der Ilias sind dies einmal Achill (Il. 20,2), vor allem aber Patroklos und Menelaos, in der Odyssee wird ausschließlich der Schweinehirt Eumaios in dieser Weise vom Dichter ausgezeichnet. Während die Zuwendungsgeste jedoch bei Eumaios nach ihrer Einführung bei der ersten Nennung seines Namens – „dem entgegnetest du und sagtest, Sauhirt Eumaios …“ (Od. 14,55) – als schematisch häufig eingesetzter Formelvers erstarrt, weil er metrisch bequem ist, erscheint sie in der Ilias durchaus individuell: Dem heimtückisch aus dem Hinterhalt angeschossenen Menelaos wendet sich dadurch die besondere Fürsorge zu: „Und die seligen Götter vergaßen dich nicht, Menelaos …“ „So befleckten sich dir, Menelaos, mit Blut die Schenkel …“ (Il. 4,127f.; 146f.). Auf den besonders tragischen Kampf des Patroklos richtet sich die Anteilnahme des Dichters, und damit auch des Lesers durch eine dreimalige Anrede vor, während und gegen Ende seines Siegeslaufs (Il. 16,20; 692f.; 787). Die zweite Stelle gewinnt dabei geradezu den Charakter eines Musenanrufs, einer Bitte um Auskunft an den Helden selbst: Der Dichter reflektiert eingehend über dessen Verblendung, den Anweisungen des Achill nicht gefolgt zu sein, und fragt ihn: „Jetzt, wen hast du als Ersten, und wen als Letzten getötet, Patroklos, als dich die Götter zum Tode riefen?“ Neben diesem Eintauchen des Autors in die selbst geschaffene Realität stehen seine Stellvertreterfiguren in der Handlung: In der Alltagswelt des Epos ist der Sänger eine wichtige Persönlichkeit, und zwar zunächst in seiner Eigenschaft als Musiker. Der Formelvers für diesen Umstand lautet: „Unter ihnen sang der göttliche Sänger und spielte dazu die Phorminx“ (Il. 18,604f.; Od. 4,17f.). Die hier gebrauchte Bezeichnung für „singen“ (melpein) erscheint dann wieder im Namen der „Melpomene“, der Muse der Tragödie, und tatsächlich sind an beiden Homerstellen Tanzvorführungen mit dem Auftritt des Sängers verbunden. In der Ilias steht dieser Auftritt als festlicher Höhepunkt am Ende der Weltschau auf dem Schild des Achill, das Publikum ist dort „eine große entzückte Menge“ auf dem öffentlichen Tanzplatz der Stadt. Am Hof des Menelaos in der Odyssee ist es hingegen die familiäre Hochzeitsgesellschaft von Nachbarn und Verwandten. Es wäre also einseitig, dem „Aoiden“ eine exklusive Stellung in der Adelsgesellschaft zuzuweisen; die Philologie ist ohnehin davon abgekommen, den Formelvers als „unpassende Wiederholung“ in der Ilias ganz zu streichen. Dieser inspirierte „göttliche Sänger“ (theios aoidos), wie er mit stehendem Beiwort charakterisiert wird, begegnet uns auch sonst mehrfach in der geordneten Alltagswelt der Odyssee. Dort gehört er allerdings mehr zum gehobenen Lebensstil der kulturtragenden Kreise an den großen und kleineren Höfen, in Sparta, Scheria oder Ithaka. In Mykene hatte ein Aoide sogar die Vertrauensstelle eines „Hofmeisters“, dem Agamemnon die Aufsicht über seine Ehefrau Klytämnestra anvertraut hatte (Od. 3,267–272). In der kriegerischen Ilias hingegen, im Baracken- und Schiffslager vor Troja, war man normalerweise auf Improvisation angewiesen. Dort spielt der zur selbst gewählten Zwangsmuße genötigte Achill selbst auf einer prunkvollen, erbeuteten Phorminx und singt dazu von Ruhmestaten der Männer, sich selbst zur Freude, mit Patroklos als einzigem, schweigendem Zuhörer (Il. 9,186–191). Als Inbegriff und Idealbild des berufsmäßigen Sängers finden wir am Hof des Phäakenkönigs Alkinoos den blinden Demodokos, den göttlichen Sänger, „göttlich“, „denn Gott ver-
Verhältnis des Dichters zu seinen Personen
Der Sänger in der Gesellschaft
Der blinde Sänger
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Autobiografische Züge?
Dichter- und Götterperspektive
Das Epos als Ganzes
lieh ihm vor anderen die Gabe, zu erfreuen mit Gesang, wie sein Gemüt ihn antreibt“, „den hochbeliebten Sänger, den die Muse vor anderen mit besonderer Liebe auszeichnete, dem sie Gutes und Übles verlieh: Zwar beraubte sie ihn des Augenlichts, doch gab sie ihm süßen Gesang …“ Und Odysseus selbst preist ihn vor allen anderen: „Entweder hat dich die Muse gelehrt, die Tochter des Zeus, oder Apollon selbst, denn in so angemessener Weise besingst du das Geschick der Achäer, alles was sie taten und litten und auf sich nahmen, als wärst du selbst dabei gewesen, oder hättest es von einem anderen Augenzeugen gehört“ (Od. 8,43–45; 62–64; 487–491). Gleichsam als ein weiteres zweites Ich des Dichters der Odyssee tritt bereits im ersten Buch der hochberühmte Sänger Phemios, Sohn des Terpios („Künder, Sohn des Erfreuers“), auf und besingt im Haus des verschollenen Odysseus die traurige Heimfahrt der Achäer, zum Leidwesen der Penelope, die ihn um ein anderes Thema bittet, während der junge Telemachos für die dichterische Freiheit und Objektivität eintritt: „Mutter, was missgönnst du dem Sänger, so zu unterhalten, wie seine Einsicht ihn treibt, denn nicht die Sänger sind schuld, sondern Zeus allein, der den Menschen zuteilt, was er will. Deshalb darf auch dieser das böse Geschick der Danaer singen, denn die Menschen preisen besonders jenes Lied, das ihnen beim Zuhören als das aktuellste entgegentritt“ (Od. 1,325–353). Auch Phemios beruft sich später in höchster Todesgefahr auf seine Immunität als göttlicher Sänger: „Odysseus, ich flehe dich an, erweise mir Ehrfurcht und Mitleid, denn dir selbst wird es später noch Leid tun, wenn du den Sänger tötest, der ich singe für Götter und Menschen; gelehrt habe ich mich selbst, doch Gott hat mir vielfache Themen eingepflanzt, drum kann ich dich jetzt auch beschwören wie einen Gott …“ (Od. 22,344–349). Das in derartigen Partien zum Ausdruck kommende Selbstverständnis des Dichters kann man zweifellos auf den Ependichter selbst übertragen. In der Antike ist man darin noch weiter gegangen und hat seine Sängergestalten mit Homer in eine direkte persönliche Verbindung gesetzt. So wurde Phemios in der Legende zu einem Lehrer in Smyrna und Adoptivvater des Homer, und die angebliche Blindheit des Dichters geht natürlich auf die des Demodokos zurück. Der Verlust des Augenlichts mag nun tatsächlich mit einer Stärkung der inneren Geisteskräfte zusammengehen und deshalb auch faktisch zu einer häufigeren Verbindung mit dem Berufsbild des Sängers geführt haben. Den „blinden Mann aus Chios, dessen Gesänge auch künftig die besten sein werden“, der im homerischen Apollonhymnus v. 169–173 erwähnt wird, hat schon der Historiker Thukydides (3,104) mit Homer selbst identifiziert. Auch in der Ilias ist von einem berühmten blinden Sänger die Rede, dem Thraker Thamyris, offensichtlich dem Verfasser eines Epos über die „Eroberung Oichalias“. Doch der wurde zur Strafe von den Musen nicht nur geblendet, sondern auch der Sangeskunst und der Fähigkeit zum Kitharaspielen beraubt, denn er hatte sich gebrüstet, selbst sie im Wettkampf besiegen zu können (Il. 2,595–600). Wie für den Menschen überhaupt, so sind vor allem auch für den Dichter Bescheidenheit und Selbstkritik vonnöten, und dadurch die Offenheit für eine höhere Inspiration. Dies betrifft sowohl den Inhalt seiner Dichtung, also Faktizität, Authentizität und Aktualität der Darstellung, wie auch ihre Form, das heißt die richtige Gliederung, Raffung und Bewältigung der Stoffmenge sowie die eingängige und ergrei-
Dichter und Dichtung
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fende sprachliche Behandlung. All dies können nur die Musen vermitteln, gleichsam die Verkörperung des schriftstellerischen Gewissens und Könnens. Die Dichterperspektive, die Sicht des „allwissenden Autors“ ist also recht eigentlich die Götterperspektive, für den „Götterapparat“ des Epos sind letztlich die Musen zuständig. Dies gilt für den Beruf des „göttlichen Sängers“ in der Verbindung von schulmäßiger Übung und göttlicher Inspiration, wobei die musikalische Darbietung mit inbegriffen ist, doch auch die im Epos erzählenden Laien sind den grundlegenden narratologischen Bedingungen unterworfen. Auch sie müssen sich um kompositorische Ökonomie bei der Anordnung der Stoffmassen, um interessante Zuspitzung und Raffung, um Glaubhaftigkeit der Erzählperspektive, um die adäquate und eingängige sprachliche Form bemühen. Wenn Achill die „Ruhmestaten der Männer“ zur Phorminx besingt, so mag er bekannte Lieder wiedergeben. Aber die fesselnden Berichte von Nestor, Menelaos, Helena, Eumaios oder gar Odysseus selbst über ihre Heldentaten, Abenteuer, Schicksale oder Erfahrungen werden als originale Leistungen des Erzählers behandelt und von ihrem Publikum auch entsprechend gewürdigt. Auch Nestor verweist den jungen Telemachos auf die Unmöglichkeit, alle Geschehnisse des trojanischen Feldzugs als Ganzes wiederzugeben: „Welcher sterbliche Mensch könnte all unsere Leiden erzählen? Auch wenn du fünf oder sechs Jahre dasäßest und jede Einzelheit erfragtest, schließlich würdest du unbefriedigt wieder heimfahren …“ (Od. 3,113–117). Er beschränkt sich daher auf die Erzählung seiner eigenen Heimkehr und die Nachrichten über die Schicksale der anderen Helden. Über Telemachos’ Vater Odysseus weiß er nichts; dass dieser noch lebt und seit Jahren auf der einsamen Insel der Kalypso sitzt, wissen bisher nur die Götter und, dank dem durch die Musen inspirierten Dichter, die Leser der Odyssee. Auch der andere prominente Heimkehrer, Menelaos, erzählt spannend über die erstaunlichen Erlebnisse seiner eigenen Fahrt (Od. 4,333–586); über das Schicksal des Odysseus ist er zwar nicht durch Autopsie informiert, doch er hat in Ägypten einen göttlichen Zeugen kennen gelernt. Der Meeresgott Proteus hatte den elenden Dulder weinend in seiner hilflosen Lage auf der Kalypsoinsel gesehen, und diese Kunde gibt er an Menelaos, dieser an Telemachos, und der wieder an Penelope weiter (Od. 4,555–560; 17,140–147). Auf diese Weise ergibt sich jenes bloße Hörensagen, dem der Mensch ausgesetzt ist, und auf Ithaka bleibt man dann auch recht skeptisch. In Sparta jedoch hatte zuvor schon eine andere prominente Zeitzeugin, die schöne Helena persönlich, sich als Erzählerin betätigt: „Jetzt aber setzt euch im Saal, lasst’s euch schmecken und freut euch an Geschichten, denn Passendes will ich berichten (katalexo¯) …“ (Od. 4,238f.). In anekdotischer Zuspitzung schildert sie ihr Zusammentreffen mit dem verkleideten Odysseus im belagerten Troja, und ihr Gatte Menelaos setzt sogleich eine nicht weniger aufregende Pointe dagegen: Er selbst mit Odysseus im Bauch des hölzernen Pferdes und Helena in zweideutiger Rolle außen davor (Od. 4,240–289). Hier wird also die dokumentarische Zuverlässigkeit der Berichterstatter unmittelbar vorgeführt, die Odysseus an den Kunstgebilden des Demodokos so gepriesen hatte, „als wärest du selbst dabei gewesen“ (Od. 8,491). Das monumentale Prunkstück eines derartigen selbst erlebten „Tatsachenberichts“ präsentiert dann der Held der Odyssee selbst, und seine bezauberten Gast-
Berichte von Zeitzeugen
Hörensagen
Anekdoten beim Gelage
Professionalität des Laien
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Quellennachweis
Mischung von Wahrheit und Lüge
Realismus und Historizität?
Das Epos als Ganzes
geber am Hof der Phäaken anerkennen die hohe Professionalität des Erzählers: „Du verfügst über die sprachliche Form, in dir wohnt ein edler Sinn, die Geschichte (mythos) hast du verständig wie ein Sänger vorgetragen (katelexas)“ (Od. 11,367f.). Der König Alkinoos betont ausdrücklich die Glaubwürdigkeit des Odysseus, der kein hergelaufener Lügner sei wie so viele, und das gerade mitten in der phantastischen Erzählung vom Besuch des Helden in der Unterwelt. Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit lässt ihn der Dichter dann auch sogleich im folgenden Buch demonstrieren, wenn er ein Göttergespräch wörtlich wiedergibt, von dem er unmöglich aus eigenem Erleben wissen konnte. „Das habe ich von Kalypso gehört, und die sagte, es selbst von Hermes gehört zu haben“ (Od. 12,389f.). Wenn auch nicht die Musen selbst, so kann er als Heros doch andere göttliche Gewährspersonen für sich ins Feld führen. Allerdings darf sich der treuherzige Leser dann nicht wundern, wenn er den Listenreichen in anderen Situationen, wo es die Opportunität nahe legt, in raffinierter Verkleidung oder beim munteren Draufloslügen ertappt. Adressaten solcher nicht ganz verlässlicher Einlassungen werden nicht nur der menschenfressende Kyklop, dem schließlich nur Recht geschieht, sondern auch der biedere Schweinehirt, die treue Gemahlin, der verzweifelte Vater und sogar die fürsorgliche Schutzgöttin Athene (Od. 9,259–370; 14,192–359; 19,165–202; 24,303–314; 13,256–286). Diese allerdings steht in olympischer Heiterkeit über den Dingen; sie lächelt und streichelt ihren Liebling, in dem sie ihren Geistesverwandten erkennt (Od. 13,287–302). Nicht immer lassen sich eben die rigorosen Maßstäbe der Moral im Alltag anwenden, auch aus Mitleid oder Vorsicht kann man bisweilen von der Wahrheit abweichen, wie bei Penelope: „So sprach er, und erfand viel Falsches dabei, dem Wahren recht ähnlich“, kommentiert der Dichter diese Lügenrede (Od. 19,203). Diesen nicht so ganz unbedenklichen Mischcharakter der Aussage beanspruchen dann bei Hesiod die olympischen Musen selbst für sich und ihre Werke: „Wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Echten vergleichbar, wir wissen jedoch, wenn wir wollen, auch das Wahre zu erzählen“ (Hesiod, Theogonie 27f.). Damit ist einerseits das Prinzip der „dichterischen Freiheit“ für alle Poesie aufgestellt, und andererseits verrät die Anwendung derselben Charakterisierung auf die Odysseusrede bei Homer, dass auch seine Personen innerhalb des Epos mit ihren Erzählungen an diesem allgemeinen Wesen der Dichtung teilhaben. Ihr ist es erlaubt, „Wahres“ und „Unwahres“ zu mischen, ihr kreativer Maßstab ist Plausibilität im jeweiligen Kontext, nicht eine positive Wahrheit der Sachinformation oder die peinlich genau durchgehaltene Perspektive des Berichts. Zwar wird jeweils eine scheinbare Objektivität suggeriert, mit allen Kunstgriffen und Farbnuancen der Zunft, denn gerade darin besteht das Handwerk des erfahrenen Sängers und Erzählers. Aber das Endergebnis bleibt doch eine Kunstwelt, ihr „Realismus“ wird zu einer Art von stilisiertem Hyper-Realismus, ihre „Historizität“ ist letztlich doch zauberhafte Fiktion im Gewand einer „dokumentarischen“ Hyper-Historizität. Wenn man also Ereignisse und Personen, soziale Verhältnisse und natürliche Umwelt des Epos keineswegs eins zu eins mit den realen Verhältnissen einer bestimmten Epoche gleichsetzen kann, so darf man auch aus der Darstellung des Sängers im Epos nicht automatisch auf die soziale Stellung und reale Arbeitsweise eines Sängers im 8. Jahrhundert v. Chr. schließen. Demodokos und Phemios bleiben wie Achill und Odysseus hyperreale dichterische Gestalten, in denen sich Reales und Ideales mischen. Informationen über Ho-
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mers literarische Intensionen lassen sich daraus also höchstens über ein zurückhaltendes „Dichtungsfilter“ gewinnen. Wie auf allen anderen Gebieten, so gilt auch hier die Warnung des alexandrinischen Geographen und Dichters Eratosthenes aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert, die Irrfahrten des Odysseus werde man erst dann lokalisieren können, wenn man den Schuster ausfindig gemacht habe, der einst den Ledersack des Aiolos, des Herrn der Winde, gefertigt hatte …
Der Sack des Aiolos
Versmaß, Sprachform und Wortwahl Eine wichtige Aufgabe für den Leser ist es von Anfang an, sich mit der spezifischen Vers- und Sprachform des Epos anzufreunden. Dies gilt für die unterschiedliche Umformung in den Übersetzungen, vor allem aber natürlich für die Sprache des Originaltextes, von der auch der des Griechischen nicht Mächtige sich wenigstens eine gewisse Vorstellung verschaffen sollte. „Ándra moi énnepe Moúsa polytropon hós mala pólla“. Der Eingangsvers der Odyssee bringt das Versmaß des Hexameters, der sechsmaligen regelmäßigen Folge von langen und kurzen Silben, in der Grundform: Fünfmal nacheinander erklingt der Daktylos (d.h. „Finger“, wohl nach dessen Proportionierung in ein längeres und zwei kürzere Glieder) in der Abfolge „lang – kurz – kurz“, das abschließende sechste Metron („Maß“) ist zweisilbig „lang – kurz“ oder „lang – lang“. Diesen gleichmäßig rollenden Rhythmus haben die deutschen Übersetzer gewöhnlich nicht genau nachgebildet; vorhanden ist er bei Anton Weiher: „Muse! Erzähl mir vom wendigen Mann, der die heilige Feste …“ Bei Johann Heinrich Voß: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …“ und Thassilo von Scheffer: „Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach …“ hingegen, um nur zwei Beispiele zu nennen, werden im vierten bzw. dritten und vierten Metron die zwei Kürzen durch eine Länge ersetzt. Dies ist – auch im Griechischen selbst – nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht, weil dadurch die klappernde Monotonie variiert und die Möglichkeit zu besonderen Akzentuierungen, aber auch zur Unterbringung sperriger Wörter eröffnet wird. Schon der Anfang der Ilias kann dies belegen: „Me¯nin aeide, Thea, Pe¯le¯iadeo¯ Achile¯os“. –– | –– |–– –– | – |– |– 1
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Die drei Langsilben im dritten und vierten Metron sind bedingt durch die zwei langen E-Laute in der Namensform „Pe¯le¯iade“, dem Vatersnamen des Achill („Sohn des Peleus“), der dadurch auch metrisch besonders hervorgehoben und als Hauptperson des Epos gekennzeichnet wird. Die Übersetzer können die eindringliche Wirkung des verlangsamten Rhythmus entsprechend durch Ersetzung von zwei unbetonten durch eine betonte Silbe erzielen: „Singe den o Göttin, des Peleïaden Achilleus“ (Voß), Zorn, – | – | –– |–– | –– ––– | ––– 1
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„Singe, o Göttin, den Groll des Peleïaden Achilleus“ (Scheffer). –––– | ––– | ––– –– | –– |––– | –––– 1
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Versmaß und Übersetzung
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Verseinschnitte
Das Epos als Ganzes
Im Deutschen, wo Silbenlänge durch Silbenakzent ersetzt wird, ist das zweite lange E in „Peleïade“ vernachlässigbar; die zwei hart aneinander gesetzten betonten Silben im zweiten (Voß, „Zorn o“) bzw. dritten Metron (Scheffer, „Groll des“) heben statt des Helden selbst das Hauptmotiv des Epos, seinen Zorn oder Groll (me¯nis) hervor. Damit ist die besondere Betonung der me¯nis – im Original dem Eingangswort des Verses mitgegeben, in den Übersetzungen jedoch auf „Singe …“ verlagert – auf andere Weise wiedergewonnen. Schadewaldts rhythmische Prosaübersetzung konnte, da nicht an das Versschema gebunden, näher an der ursprünglichen Wortstellung und Akzentuierung bleiben: „Den singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus“. Zorn –– –– ––– –– –– –––– ––– Zusätzliche rhythmische Stilmittel des Hexameters bestehen in der Gliederung des Verses durch bestimmte Einschnitte (Caesuren, Dihairesen) an charakteristischen Gelenkstellen, wobei jeweils ein Wortende das Atemholen für den Rezitator oder Sänger ermöglicht. Drei der am häufigsten vorkommenden Pausen finden wir gleich in den Eingangsversen beider Epen: „Me¯nin aeide,Thea Pe¯le¯iadeo¯ Achile¯os“; – |– |– – | – | – | –– 1
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„Andra moi ennepe Musa polytropon hos mala polla“. – | ––– | – | –– –– | –– 1
Grundform und Variation
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Im Iliasvers liegt die Pause hinter der dritten Langsilbe bzw. dem fünften HalbMetron. Der Metriker nennt diese Zäsur daher Penthemimeres. Die Odyssee zeigt den stärkeren, klingenden Einschnitt nach der ersten Kurzsilbe des dritten Metrons, die sog. Zäsur kata triton trochaion, und zugleich die besonders häufige, in nahezu zwei Dritteln aller Homerverse vorkommende Trennungspause nach dem vierten Metron, die Bukolische Dihärese, sogenannt nach ihrer Vorherrschaft in den Hirtengedichten der bukolischen Poesie. Die Atempausen ermöglichen zugleich einen markant hervorhebenden Neueinsatz, der ähnlich wie die Stellung am Versanfang bestimmte Begriffe betont. In der Ilias fällt somit me¯nis und Pe¯le¯iade, in der Odyssee andra und, zwischen Zäsur und Dihärese herausgehoben, polytropon besonders ins Ohr: „Der Zorn des Peliden“ und „Der Mann, der vielgewandte“ – also die Leitthemen beider Epen. Neben der Möglichkeit, zwei Kurzsilben durch eine Länge zu ersetzen, und der Variation durch unterschiedliche Zäsuren wirkt auch das Herüberziehen der Satzkonstruktion über das Versende (das sog. Enjambement) der Monotonie entgegen, wobei sich zugleich weitere Möglichkeiten der Hervorhebung ergeben: „Me¯nin aeide …“, „den Zorn singe“, beginnt der erste Vers der Ilias, oulomene¯n, „den Verderblichen“, nimmt der Anfang des zweiten Verses mit erneuter Betonung wieder auf, um dann in einem Relativsatz weitere Informationen anzuknüpfen: „… der den Archaiern unzählige Leiden brachte“. In der Odyssee beginnt der erläuternde Relativsatz bereits im ersten Vers „Den Mann, der vielerorts …“, der Eingang des zweiten Verses bringt dann betont das markante Verbum planchthe¯, „umherirrte“. Die Spannung zwischen fester regelhafter Form und vielfältig möglicher Variation verleiht dem Hexameter seine Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit. Die sechs
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Langsilben jeden Verses, die nicht in Kürzen aufgelöst werden dürfen, wirken als tragende Pfeiler des Grundrhythmus, um die sich die dem Inhalt angepasste Sprache rankt: Der Gesang der Musen klingt wider in drei gleichmäßig perlenden Daktylen eines Hexameters, der zusätzlich durch den vollen Klang eines Binnenreims vor Zäsur und Versende Musikalität gewinnt: „Espete nyn moi, M¯usai Olympia do¯mat(a) ech¯ –u–sai“ (Il. 2,484), ––– –– ––– –– ––– –– 1
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„Saget mir jetzt, ihr Musen olympische Häuser bewohnend“. –– –– | –– –1– | –– | ––– | –– | 2 3 4 5 6 Keine der vorliegenden Übersetzungen kann den Reim Mousai – echousai ohne Gewaltsamkeit wiedergeben, andere Freiheiten, wie die Apostrophierung von Schlussvokalen (do¯mat’), Verschmelzung zweier Vokale, unterschiedliche Messung von Diphthongen je nach Folgelaut (oi – ai), epische Kürzung oder Dehnung spielen in den modernen akzentuierenden Sprachen nicht die gleiche Rolle. Das Getümmel und Geklapper der Holzfällerbrigaden wird in einem Iliasvers gegenwärtig, überwiegend akustisch: „Polla d’ananta katanta paranta te dochmia t’e¯lthon“ (Il. 23,116). ––– –– –– ––– –– –– |
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Lautmalerei
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Der Gleichklang von Daktylenfolge, Reimanklängen und inhaltlicher Aussage ist nur im Originaltext nachvollziehbar. Auch eine metrisch getreue Übersetzung geht nicht so unmittelbar ins Ohr: „Vielfach hinauf und hinunter, hinüber, herüber sie eilten“. –––– –– –– ––– –– ––– |
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Wo es vorwiegend der Rhythmus ist, der die Lautmalerei hervorbringt, kann man dem Original schon näher kommen: Der Stein des Sisyphos poltert hörbar in einem rein daktylischen Vers, „autis epeita pedonde kylindeto laas anaide¯s“ (Od. 11,598). –– –– –– ––– –– –– – 1
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Dies lautete einst bei Voß: „Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor“ –––– ––– –– –– –– –– |
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und später bei Weiher: „Wieder dann rollteder schamlose Stein in die Felder hinunter“. –––– ––– –– ––– –– –– |
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Der griechische Hexameter ist so in der Lage, poetische Schilderungen in epischer Breite zu entfalten, wie die Entfesselung eines Seesturms durch den Meergott Poseidon (Od. 5,291–296): „Ho¯s eipo¯n synagen nephela¯s, etaraxe de ponton –– –– –– –– –– ––– –– 1
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chersi triainan ¯sa¯s d’orothynen – helo ¯–n; pa – aella – ¯–s –– | –– –1 | | | | 2 3 4 5 6 pantoio¯n anemo ¯n, syn de nepheessi kalypse –– – | –– | –– –– | –– |– | ––– 1
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gaian hom¯ ponton . oro¯rei d’¯uranothen nyx ––u kai –– –– | –– | –– –– | –– | ––– ––– | 1
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Dramatische Schilderung
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syn d’Euros te Notos t’epeson Zephyros te dysa¯e¯s –– ––– | –– | –– | –– | –– | –– 1
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kai Boree ¯s aithre¯genete ¯s, mega kyma kylindo¯n“. –– | – ––– | –– –– |–– | –– | –– –– 1
Sammel- und Merkverse
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„So sprach er, versammelte die Wolken und rührte das Meer auf, den Dreizack in Händen haltend. Alle Wirbel erregte er der vielfältigen Winde, mit Wolken verhüllte er Erde zugleich und Meer. Es erhob sich vom Himmel her Nacht, und in eins zusammen fielen Ostwind und Südwind und Westwind, der Übelwehende und der Nordwind, der Äthergeborene, eine mächtige Woge wälzend“. Das Tosen der drei widrigen Mittelmeerwinde aus Osten, Süden und Westen fällt zusammen im Wirbel der vier Daktylen von Vers 295, der stetig wehende Nordwind, der aus heiterer Himmelshöhe kommt mit großem Wogenschwall, wird in drei Langsilben damit kontrastiert. Neben seiner Fähigkeit zur Stimmungs- und Lautmalerei zeigt diese Passage zugleich die Eignung des Hexameters als mnemotechnisch eingängiger Merkvers für Namenskataloge: Die vier Winde Euros, Notos, Zephyros, Boreas sind hier in knappster Form gebündelt und charakterisiert, ähnlich wie in der Ilias die Flüsse des Idagebirges, „Rhe¯sos th’, Heptaporos te Kare¯sos te Rhodios te, –– | –– |–– –– |–– |–– – –– – | 1 2 3 4 5 6 Gre¯nikos te kai ¯pos dios te Skamandros, Aise – – – –| – | – –| – – | – | 1
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kai Simoeis …“ (Il. 12,20–22), –– | –– 1
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oder in der Odyssee die Inseln im Reich des Odysseus bei Ithaka: „Dulichion te Same¯ te kai hyle¯essa Zakynthos …“ (Od. 9,24). ––– | –– | – |– –| – | – – 1
Sentenz und Lakonismus
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Dabei werden jeweils der „göttliche Skamander“ und die „waldreiche Zakynthos“ besonders hervorgehoben. Die geschmeidige Vielfalt des Hexameters eignet sich nicht nur für behäbige, episch breite Ausmalung und schematische Wiederholung von Versen, Versgruppen und stehenden, sog. „schmückenden“ Beiwörtern, wie vielfach angenommen wird. In gleicher Weise ist er fähig zu äußerster Knappheit, sowohl für programmatisch zugespitzte Lehrsätze: „ie¯tros gar ane¯r pollo¯n antaxios allo¯n“, – – – – –– –– – – – –– 1
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„Der Arzt ist ein Mann, der viele andere wert ist“ (Il. 11,514) – wie auch für eine lakonisch knappe Mitteilung in direkter Rede: „keitai Patroklos, nekyos de de¯˘ amphimachontai –– – –– – – –– –– –– 1
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gymn¯u˘ . atar ta ge ¯r“. teuche’ echei –– korythaiolos –– Hekto – | –– | –– | | | –– –– 1
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„Gefallen ist Patroklos, um die Leiche aber kämpfen sie, die nackte.
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Doch die Waffen hat der helmschimmernde Hektor“ (Il. 18,20f.). Wer sich in den Klang der epischen Metrik eingehört hat, dem wird deutlich, dass Versform und Inhalte dieser Literaturgattung in enger Verbindung gemeinsam erwachsen und zur Vollendung geführt sind. Eine Überbetonung der Formelhaftigkeit der Sprache und der Regelhaftigkeit der Metrik verführt jedoch dazu, eine über Jahrhunderte reichende handwerklich starre Tradition zu postulieren, in der der Hexameter zum mechanischen Vehikel für vorgeformte Inhalte wird. Man hat versucht, für einzelne Iliasverse, wie etwa den mit getrennt zu sprechendem Diphthong o-u¯, „Iliou ¯¨ proparoithe pyla¯o¯n te Skaia¯o¯n“, – |– | – | – – | – – |– – 1
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Form und Inhalt
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„vor Ilion zuvorderst und dem Skäischen Tore“ (Il. 22,6), eine vorhomerische Sprachform zu rekonstruieren, die sich besser dem Hexameter einfüge als die „zu Homers Zeit gesprochene Sprache“. Gerade bei diesem Vers wäre eine so frühe Datierung von besonderer Relevanz, da er inhaltlich aufs engste verbunden ist mit dem Endkampf zwischen Hektor und Achill vor dem Skäischen Tor. Damit hätte man einen Beweis dafür, dass die zentrale Handlung der Ilias, und auch die von manchen Interpreten für eine späte Erfindung gehaltene Figur des Stadtverteidigers Hektor, schon einer „alten Troia-Geschichte“ angehört und in hexametrischer Form aus der Bronzezeit überliefert ist. Als problematisch erweist sich bei dieser Hypothese die äußerst unsichere Überlieferung; einerseits beruht unser überlieferter Homertext und seine metrische und orthographische Form auf der Fixierung und Normierung durch die hellenistischen Philologen, andererseits wissen wir über das Griechisch des 8. oder 13.Jahrhunderts nur wenig durch Schriftzeugnisse, über die gesprochene oder gesungene Sprache so gut wie überhaupt nichts. Formelhafte Wendungen und wörtliche Wiederholungen haben zur Annahme einer langen mündlichen, spontan improvisierenden Tradition geführt. Die oft zum Vergleich herangezogene südslawische Sängerdichtung zeigt jedoch bei näherer Betrachtung eine handwerkliche Schlichtheit, die der hochdifferenzierten Literatur des Epos sehr fern steht: Hier ist es gerade die Spannung zwischen Formelhaftigkeit und Variation, die überraschende Abwandlung des Vertrauten, die Anpassung an individuelle Aussagen, die an die Kennerschaft eines bestimmten Publikums appellieren. Dieses Publikum gehört dem Zeitalter der großen griechischen Kolonisationsbewegungen des 8. vorchristlichen Jahrhunderts an, als man die Enge der heimischen Polis und ihres angestammten Dialektes verließ. Man traf sich in den Hafenstädten und überregionalen Heiligtümern, man musste sich sprachlich verständigen, die Dichter griffen die Verkehrssprache auf und verfeinerten sie zu einer allgemein gültigen Literatur-Sprache. Die Hauptträger der Kolonisation waren Städte des ionischen Stammes, Chalkis und Eretria auf der Insel Euböa, später Athen im Mutterland, Milet und Phokaia im zentralen Kleinasien sowie deren Tochterstädte in Ost und West. Im Bereich des Seewegs durch die Meerengen von Dardanellen und Bosporus, nicht zuletzt auch in der Troas und Ilion, hatten sich jedoch schon seit alters Griechen des äolischen Stammes angesiedelt. Ihr Dialekt wurde daher neben dem ionischen zum zweiten Hauptelement der Dichtersprache Homers, und es ist auch kein Zufall, dass man die Heimat des Dichters immer, auch schon in der Antike selbst, im äolisch-ioni-
Vehikel der Tradition?
Verkehrs- und Literatursprache
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Rückübersetzung in frühere Sprachformen
Älteste Hexameter
Pompöses Übermaß?
Das Epos als Ganzes
schen Grenzbereich zwischen Smyrna und Kyme angenommen hat. Eine klare Trennung nach Sprachschichten sowie die Rückübersetzung Homers in eine eventuelle äolische Urfassung erweisen sich als ebenso fraglich wie die ins „Mykenische“. Selbst scheinbar eindeutige Äolismen, wie z.B. ptolis (Il. 2,130) oder ptoliethron (Od. 1,2) für polis, die „Stadt“ Troja, könnten sich als bloß altertümliche oder metrisch bedingte Formen erweisen. Eindeutig ist nur die überregionale Verbindlichkeit und Verständlichkeit dieser Einheits-Sprache, vergleichbar mit ähnlichen Erscheinungen in mittelalterlichen Literatursprachen, etwa den nordfranzösischen Elementen im südfranzösischen Epos oder der stark südwestdeutsch geprägten mittelhochdeutschen Dichtersprache bis hin zu Luthers Bibelübersetzung. Einzelne besonders altertümliche Vokabeln, wie etwa anax (der anax andro¯n, „Herrscher der Menschen“, Agamemnon, Il. 1,7), können zwar in die Bronzezeit zurückreichen, wie die Funde von Texten in „Linear B-Schrift“ zeigen. Ein sprachlich und metrisch fixierter Transport von Literaturform und Inhalt über Jahrhunderte hinweg ist damit jedoch nicht bewiesen, so wenig wie durch die Erwähnung von mykenezeitlichen Waffen, wie etwa des Eberzahnhelms (Il. 10,261–271). Vorläufig bleiben zwei Hexameter auf einem spätgeometrischen Becher (Skyphos) aus dem letzten Viertel des 8. Jahrhunderts v. Chr. die früheste literarische Überlieferung aus dem Umkreis des homerischen Epos. Der Becher stammt von der Insel Ischia, der Text ist im ionischen Dialekt und im Alphabet der euböischen Kolonien Mittelitaliens geschrieben. Er zeigt metrisch korrekt gegliederte und abgesetzte Hexameter, die sich auf den „Nestor-Becher“ und damit auf eine berühmte Stelle der Ilias (11,632–637) beziehen. Weder metrische noch sprachliche, noch auch stilistische oder literarhistorische Beobachtungen hindern uns also, Entstehung und Blütezeit dieser Heldenepik mit der Neuorganisation der griechischen Welt in Verbindung zu bringen. Das Epos liefert jedoch kein Abbild dieser Welt, sondern es folgt literarischen Gesetzen und moralischen Motivationen. Der Zugang zu seinem Verständnis eröffnet sich daher aus dem Wissen um die poetischen Kunstmittel in Komposition und Einzelausführung sowie um die sachlichen und ethischen Inhalte. Die vorgegebene äußere Gestalt wie Metrik und alteingeführte feste Wendungen beeinflussen auch den Sprachstil im engeren Sinn bis hin zur Wortwahl im Einzelnen. Eine der ersten Empfindungen bei der Begegnung mit dieser Sprache ist die von überquellender Fülle, von pompöser Wörterhäufung bis hin zum Übermaß, zu bloßem Prunk und Gestelztheit des Ausdrucks oder gar zum hohlen Bombast. Die Übersetzungen haben diesen Eindruck oft noch verstärkt, gerade auch dann, wenn sie sich besonders eng an das Original halten wollten. Der Blick auf eine Verspartie mit durchschnittlicher Sprachhöhe aus dem 1. Buch der Ilias kann das Phänomen verdeutlichen. Bei der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem Jahr 1793, die noch immer die allgemeine Vorstellung von Homer bestimmt, kommt der antiquierte deutsche Sprachstil noch dazu: „Finster schaut’ und begann der mutige Renner Achilleus: Ha, du in Unverschämtheit Gehülleter, sinnend auf Vorteil! Wie doch gehorcht dir willig noch einer im Heer der Achaier, einen Gang dir zu gehn und kühn mit dem Feinde zu kämpfen? Nicht ja wegen der Troer, der lanzenkundigen, kam ich mit hierher in den Streit; sie
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haben’s an mir nicht verschuldet. Denn nie haben sie mir die Rosse geraubt, noch die Rinder; nie auch haben in Phthia, dem scholligen Männergefilde, meine Frucht sie verletzt, indem viel Raumes uns sondert, waldbeschattete Berg’ und des Meers weitrauschende Wogen. Dir, schamlosester Mann, dir folgten wir, daß du dich freutest, nur Menelaos zu rächen, und dich, du Ehrevergeßner, an den Troern! Das achtest du nichts, noch kümmert dich solches!“ (Il. 1,148–160). Zu dem sperrigen Gesamteindruck dieser Zeilen trägt zweifellos auch der Verszwang bei. Aber ein Vergleich mit Wolfgang Schadewadts rhythmischer Prosa von 1975 und der neueren Prosaübersetzung von Joachim Latacz aus dem Jahr 2000 zeigt, dass es vor allem der Sprachstil des Originals selbst ist, der dem Übersetzer und dem modernen Leser Schwierigkeiten bereitet. Bei Schadewaldt lauten die beiden ersten Zeilen „Da sah ihn von unten herauf an und sagte zu ihm der fußschnelle Achilleus: O mir! in Unverschämtheit Gehüllter! Auf Vorteil Bedachter!“, und bei Latacz: „Den sprach darauf von unten blickend an der mit den Füßen hurtige Achilleus: Ach nein! Du ganz in Unverschämtheit Eingehüllter du! Profitverseßner!“ Dabei ist es nicht immer die Abundanz des epischen Ausdrucks, sondern bisweilen gerade die anschauliche Prägnanz der Sprache, die das Verständnis erschwert. Homer kennt nämlich eine ganze Reihe knapper Vokabeln, die sich auch durch einen ganzen Satz kaum erklären lassen. In unserem Beispiel sieht Achill den Agamemnon „hypodra“ an, „untenblickend“, das heißt unter gerunzelter Stirn und herabgezogenen Augenbrauen. Vergleichbare adverbiale Kurzwörter von höchster Konzentration sind die Einsilbler pyx (mit der Faust) und lax (mit dem Fuß), sowie Bildungen wie odax (mit den Zähnen) oder angkas (im Arm). Will man Derartiges in gleicher Knappheit wiedergeben, so bleibt meist nur die Umsetzung, also beim Blick des Achill „finster“ wie bei Voß, für das sich auch andere Übersetzer entschieden haben. Auf der anderen Seite sind es vor allem die reichlich gesetzten epischen Beiwörter, die den Text umständlich erscheinen lassen, und ganz besonders dann, wenn sie konventionell, unnötig oder gar unpassend erscheinen. Achill ist in der Streitszene eigentlich wütend, aber „schnell“ höchstens mit Worten, und „schnell im Hinblick auf die Füße“, wie das originale podas o¯kys besagt, nur im Wettlauf und Kampf. Das epische Beiwort ist hier tatsächlich mehr wesenhaft mit dem Träger verbunden, unabhängig von der spezifischen Situation, die Formel füllt den Versschluss in bequemer Weise aus. Ähnlich verhält es sich mit den Attributen von Berg und Meer, „schattig“ und „tosend“; bei Voß werden sie zu „Waldgebirge voller Schatten“ und „Meer in tosendem Gewoge“, bei Schadewaldt bleibt es bei „schattige Berge und das Meer, das brausende“, Latacz übernimmt von Voß das „Meer in tosendem Gewoge“ und erweitert noch zu „Waldgebirge voller dunkler Schatten“. Der Kontext in der Rede Achills besagt, dass er eigentlich keinen Kriegsgrund gegen die Troer hatte, die so weit von seiner Heimat entfernt wohnen, durch Berge und Meer getrennt, die dunkel und tosend, also unbequem zu überwinden sind: Die Adjektive scheinen also doch nicht ganz zufällig ausgewählt zu sein. Passend sind offensichtlich diejenigen für Achills Heimatland Phthia, das „tiefschollig“ und „menschenernährend“ genannt wird; man könnte allenfalls sagen, dass sie etwa dasselbe bedeuten, nämlich „fruchtbar“ und deshalb tautologisch zum übertriebenen Pomp beitragen. Aber gerade durch ihre leichten Nuancen leisten sie einen zu-
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Abundanz und Prägnanz des Ausdrucks
Episches Beiwort
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Synonymhäufung
Schimpfwörter
Das Epos als Ganzes
sätzlichen Beitrag zum Preis einer reichen Gegend, wo es Pferde und Rinder zu rauben und Kornfelder zu verwüsten gibt: Tiefe Ackerkrume nährt viele Männer, und diese bedeuten militärische Macht. Auf den zweiten Blick zeigt sich also auch hier die überraschende Stimmigkeit des Ausdrucks, was für viele der „Synonymhäufungen“ gilt. Genau genommen gibt es eben gar keine echten Synonyma, und das so häufige Phänomen des „eines durch zwei“ (hen dia dyoin) ist ein probates Mittel, um einen differenzierten Sachverhalt begrifflich zu umtasten. Dies gilt auch da, wo zwei inhaltlich verwandte Verba nebeneinander gesetzt werden, in unserem Text „du kehrst dich nicht daran, und du kümmerst dich nicht darum“; zumindest erhöhen sie die Emotionalität der Situation und der Rede. Denselben Effekt erzielt die Anaphernserie von fünf Negationen nacheinander, „nicht – nicht – nicht, und auch nicht, und auch nicht“, eine Spezialität, die das aufbrausende Temperament des Peliden auch in anderen seiner Redeausbrüche bezeichnet. Von der unerschöpflichen Erfindungsgabe bei der Bildung von Schimpfwörtern geben die zitierten 13 Verse ebenfalls einen guten Eindruck, von „mit Schamlosigkeit bekleideter“, „profitgesonnener“ und „großschamloser“ bis zu „hundsgesichtiger“– bei Schrott wird kerdaleophr¯on zu „hemdausziehend“. Das letztgenannte Adjektiv kyno¯pe¯s ist zusammengesetzt aus „Hund“ und ops, das Gesicht, wobei der eigentliche Ausdruck des „Blicks“ betont wird. Mit diesem Schimpfwort bedenkt gelegentlich Helena sich selbst, Hephaistos seine Mutter Hera und seine ungetreue Gattin Aphrodite (Il. 3,180; Od. 4,145; Il. 18,396; Od. 8,319). Nach demselben Muster gebildet sind die kultischen Beinamen von Hera und Athene, „kuhgesichtig“ und „eulengesichtig“ (boo¯pis, glauko¯pis), wobei auch hier die Menschengestalt der Götter den Akzent auf die Art ihres Blickes verschoben hat: Dem Schimpfwort „profitgesonnen“ für Agamemnon setzt Achill sogleich das positive „wohlgesonnen“ für die anderen Kampfgenossen entgegen, prophro¯n gegen kerdaleophro¯n, und spielt so mit der Wortbildung, wie es in anderen Fällen mit der Konjugation geschieht oder der Etymologie, z.B. „wollend die wollende“ (ethélo¯n ethélousan, Od 3,272) oder „Gäste gastlich bewirten“ (xeinous xeinizein, Od. 3,355). Zu nuancenreicher Abundanz und treffender Prägnanz der Wortwahl kommt noch die Fülle einsilbiger Partikel, über die das Griechische verfügt. Auch sie bietet dem Epiker zugleich inhaltliche wie technische Möglichkeiten, durch die er Aussagen fein modifizieren und zugleich die Daktylen des Hexameters korrekt auffüllen kann. Beispiele dafür bietet wiederum die Rede des Achill, wie „nicht etwas mir“ (ou ti moi) oder „denn noch nicht jemals“ (ou gar po¯ pot’). Schon die wenigen Hinweise mögen genügen, um den hoch entwickelten Kunstcharakter dieser Literatursprache anzudeuten. Sie ist offensichtlich geschaffen für ein Publikum, das den tönenden Prunk genoss und die Feinheiten nachvollziehen konnte, während der moderne Leser oft seine Schwierigkeiten damit hat. Aus diesem Grund werden unsere Textparaphrasen und Übersetzungen gelegentlich bewusst verschlankt und im Ausdruck entlastet oder auch leicht interpretierend modifiziert, um den besseren Durchblick zu gewährleisten. Das mag ein bedauerlicher Eingriff sein, der aber doch der Hinführung zum Werk als Ganzem dienen kann.
Raum und Zeit: Schauplätze und Zeitdimension
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Raum und Zeit: Schauplätze und Zeitdimension In literarischen Zusammenhängen sind „Raum“ und „Zeit“ keine abstrakten, vorgegebenen Begriffe. Vielmehr ist es die Dichtung selbst, die auch hier ihre eigenen Relationen und Dimensionen hervorbringt und dabei eine beträchtliche Suggestionskraft entwickelt. Die in den Epen geschilderten Ereignisse entwickeln sich so anschaulich auf bestimmten Schauplätzen und in so nachvollziehbaren Zeitabläufen, dass man schon immer versucht war, sie in einer geographischen und historischen Realität zu fixieren. Die scheinbar so präzisen Angaben provozieren geradezu den Wunsch, jedes Detail in der Wirklichkeit zu suchen und zu finden, führen dabei aber oft in die Irre, liefern sie doch weder reine Geländebeschreibungen noch Geschichtsberichte. Gerade auch an der Gestaltung von Geographie und Topographie sowie der Behandlung der Zeitangaben lassen sich gemeinsame künstlerische Tendenzen der homerischen Realitätswiedergabe erkennen. Dabei kommt es durchaus zu gattungseigenen Strukturen, hervorgerufen durch ganz bestimmte Kunstgriffe und Absichten, mit denen die scheinbar vertrauten Erscheinungen immer wieder verfremdet werden. Alle Daten und Fakten unterliegen grundsätzlich den Erfordernissen der Handlung und Darbietung, sie erfahren irreale Verwandlungen und Verbiegungen wie etwa Pauschalisierung von Zahlenangaben, Raffung oder Dehnung von Entfernungen und Zeiträumen, oder auch mythische Überhöhung und Distanzierung. In Ilias und Odyssee liegt der Beginn der Handlung erst im zehnten bzw. zwanzigsten Jahr nach der Ausfahrt der Achäer zum Kriegszug, und damit jeweils im letzten Jahr vor der Eroberung Trojas und der Heimkehr des Odysseus nach Ithaka. Das schließt von vorne herein eine lineare Erzählung der Ereignisse aus, soll sie vielmehr gerade vermeiden. In beiden Epen wird in markanter und weitgehend identischer Weise auf die zeitliche Dimension hingewiesen, nahezu an der gleichen Stelle des Textes. Kaum ist im 2. Buch die Handlung so richtig in Gang gekommen, da erfahren wir aus dem Mund eines Sehers den exakten Zeitpunkt, den vom Schicksal vorgegebenen Wendepunkt, den der Dichter zum Einstieg benützt. In der Ilias wird an das Vogelzeichen der neun Sperlinge erinnert, das von Kalchas so gedeutet worden war, dass nach neun vergeblichen Jahren im zehnten die Eroberung Trojas erfolgen müsse, und in der Odyssee beruft sich Halitherses auf seinen alten Seherspruch, dass jetzt, im zwanzigsten Jahr nach dem Aufbruch, Odysseus zurückkehren werde (Il. 2,308–332; Od. 2,170–176). Aus diesem letzten, entscheidenden Jahr werden dann rund 50 bzw. 40 Tage herausgegriffen, auf die sich die Ereignisse konzentrieren, und auch davon werden größere Zeitspannen nur referiert: neun Tage wütet die Pest im Lager der Achäer, elf Tage weilen die Götter bei den Äthiopen am Okeanos, elf Tage schleift Achill den Leichnam Hektors um den Grabhügel des Patroklos, neun Tage holen die Troer Holz für den Scheiterhaufen Hektors (Il. 1,53; 425 und 493; 24,31; 784). Odysseus baut während vier Tagen an seinem Floß, 17 Tage gleitet er mit günstigem Wind dahin, zwei Nächte und zwei Tage treibt er schiffbrüchig im Meer (Od. 5,262; 278; 388). Auch die Spannen von sechs oder neun Tagen, die er von einer Station zur anderen auf seinen Irrfahrten braucht, sind geraffte Daten. Kürzere Zeit-
Schauplätze und Abläufe
Verwandlung von Daten und Fakten
Epen-Chronologie
Geraffte Zeiten
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Tagesabläufe
Relativität der Zeitangaben
Großraum mit unscharfer Peripherie
Das Epos als Ganzes
angaben über Reisestrecken sind durchaus plausibel abgewogen, so dass man versuchen konnte, sie experimentell nachzuvollziehen: Das Schiff mit den Sühnegaben für Apollon gelangt in wenigen Stunden vom Schiffslager nach Chryse und ebenso wieder zurück, Telemachos braucht mit dem Wagen von Pylos nach Sparta, und genauso für die Rückreise, zwei Tage (Il. 1,430–435; 477–487; Od. 3,485–497; 4,2f.; 15,182–193). In beiden Fällen wird gewissenhaft auch die Übernachtung angegeben, dennoch bleibt für eine archäologisch zuverlässige Lokalisierung von Schiffslager, Chryse und Pylos immer noch allzu viel Spielraum, wenn auch die raum-zeitlichen Proportionen als solche stimmen mögen. In ihrem gesamten Verlauf vom Morgen über den Mittag bis zum Abend und in die Nacht hinein werden nur wenige Tage anschaulich und nachvollziehbar mit erzählter Handlung erfüllt. Dazu gehören der zweite und vor allem der dritte Kampftag in der Ilias sowie der Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken mit zwei Nächten und einem ganzen Tag, bei Eumaios mit zwei Tagen und einer Nacht, und schließlich wieder im eigenen Haus mit zwei Tagen und zwei Nächten, wobei die letzte von Athene künstlich verlängert wird (Il. Buch 8–10 und 11–18; Od. Buch 5–12, 13–16, 17–23). Diese vom Dichter ausdrücklich erwähnte Manipulation der Zeitdauer im Interesse der Handlung beweist die grundsätzliche Unterordnung oder auch Relativität der Zeitangaben: Das wiedervereinigte Paar Odysseus und Penelope muss genügend Gelegenheit zur Liebe und zum Erzählen erhalten, deshalb wird die Nacht verlängert. Schon bei den Phäaken hatte sich die Erzählung der Irrfahrten fast bis zum Morgen erstreckt, und jetzt muss ja auch Penelope noch ihre Leiden erzählen, da konnte eine normale Nacht unmöglich hinreichen. „Und nun wäre ihnen über all dem Klagen schon das Morgenrot erschienen, hätte die Göttin Athene nicht anderes erdacht: Fest hielt sie an ihrer Grenze die lange Nacht, die goldthronende Eos hemmte sie am Okeanos, und auch die Pferde ließ sie nicht anschirren, die den Menschen das Tageslicht bringen …“ (Od. 23,241–246, vgl. 344–348). Dieser eine Fall von übernatürlicher Zeitdehnung beweist jedoch zugleich, dass die realen Verhältnisse als der eigentliche, maßgebliche Bezugsmaßstab vorausgesetzt werden. Was für die erzählte Handlung in der Zeit zu beachten ist, das gilt auch für die Handlung im Raum. Die Ereignisse von Ilias und Odyssee sind in einen Großraum hineinprojiziert, der von unscharfen Rändern ausgehend immer mehr an Präzision zunimmt, bis sich schließlich geographische und topographische Wegmarken zu durchaus realistisch anmutenden Schauplätzen zusammenfinden. Während die Komposition der Odyssee dabei mehr von der Peripherie her ins Zentrum führt, dominiert in der Ilias von Anfang an der engere Schauplatz, der von Fall zu Fall geographisch und kosmisch erweitert wird. Das Zentrum ist die Skamanderebene, die nach dem dominierenden Fluss benannt wird und sich von der auf steiler Anhöhe gelegenen Stadt Ilios bis zum Schiffslager am Meeresstrand, oder genauer am flachen Hellespont, hinstreckt. In dieses Heerlager der Achäer führt uns sogleich das erste Buch der Ilias mit dem Auftritt des Apollonpriesters Chryses, dem Ausbruch der Pest und dem Streit der Anführer, während der zweite Fixpunkt, die Stadt der Trojaner, erst im dritten Buch mit der Mauerschau am Skäischen Tor voll ins Bild rückt.
Raum und Zeit: Schauplätze und Zeitdimension
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Um diesen Kernbereich herum erstreckt sich ein weiterer Kreis. Das Idagebirge, der Berg auf der Insel Samothrake, der Athos und das Massiv des Olymp, wo sich die Götter aufhalten, sowie die übrigen Inseln wie Tenedos, Imbros, Lesbos und Lemnos oder weitere Städte der Troas wie Theben im Süden, Zeleia im Osten, Abydos im Norden. Hinzukommen noch die übrigen Flüsse der Landschaft, Simoeis, Rhodios, Granikos, Aisepos und andere, deren Namen bekannt, deren Lokalisierung für Zeitgenossen und Nachwelt leicht nachvollziehbar war. Diese Landkarte der nördlichen Ägäis entfaltet sich wie eine Luftaufnahme anlässlich der Flugreisen der Götter: Poseidon erblickt im 13. Buch von Samothrake aus den Ida, Ilios und das Schiffslager, geht nach Aigai und fährt von dort im Wagen übers Meer bis zu einer Unterwasserhöhle zwischen den Inseln Tenedos und Imbros, wo er die Pferde abstellt und zum Achäerlager aufsteigt. Hera schwingt sich im 14. Buch herab vom Horn des Olymp, über Pierien, Emathia und die beschneiten Gipfel der thrakischen Berge, beim Athos erreicht sie das Meer und kommt nach Lemnos. Dort trifft sie Hypnos, den Schlaf, beide lassen Lemnos und Imbros hinter sich und erreichen die quellenreiche Ida, die Mutter der Tiere, beim Kap Lekton, wo sie das Meer verlassen und über die Waldeswipfel dahinschreiten, der Schlaf versteckt sich auf der Spitze der höchsten Kiefer des Gebirges, und Hera trifft Zeus auf dem Gargaron, dem Idagipfel (Il. 13,10–38; 14,225–232 und 280–293). Unter den Schritten der Götter schrumpfen die Entfernungen, und die Reisegeschwindigkeit erreicht Gedankenschnelle, so bei Hera auf ihrem Rückweg vom Ida zum Olymp (Il. 15,78–83). Auch der Götterblick reicht weiter und ist schärfer als Menschensicht, wenn auch noch immer im Rahmen einer vorstellbaren Realität. Von Troja aus kann man tatsächlich den Berg von Samothrake und den Ida erblicken, gelegentlich sogar den Athos, aber das Erkennen von Einzelheiten auf solche Entfernung ist dem Götterauge vorbehalten, vor allem des Zeus, der sich auf den Gipfelhöhen des Gargaron hinsetzt, im freudigen Bewusstsein seiner Überlegenheit, und niederblickt auf die Stadt der Troer und die Schiffe der Achäer (Il. 8,51f.). Wie der natürliche Ablauf der Zeit, so kann jedoch auch die geographische Wirklichkeit gelegentlich im Interesse einer dichterischen Wirkung gewaltsam verändert werden. Das Schiffslager gewinnt in der Ilias zentrale Bedeutung als der eigentlich belagerte und erstürmte Ort. Die Errichtung seines Befestigungssystems hat offensichtlich erst der Dichter dem Mythos eingefügt, und deshalb kann oder muss er es auch wieder beseitigen. Zu diesem Zweck erregen Poseidon und Apollon eine Flut, und der Landesgott Apollon zwingt alle Flüsse des Idagebirges mit Skamander und Simoeis zusammen zum Hellespont, auch wenn sie in ganz andere Meere münden, und lässt sie – wiederum runde neun Tage – zerstörend gegen die Mauer stürmen, bis er sie wieder in ihr natürliches Bett zurückführt (Il. 12,9–33). Bei dieser Gelegenheit manifestiert sich erneut das mythische Zeit- und Geschichtsdenken des Epos, wenn die Jahrhundertflut in die Epoche nach der zehnjährigen Belagerung und Zerstörung Trojas verlegt und damit die Brücke geschlagen wird zu dem Zustand, in dem sich die Gegend den Zeitgenossen des Dichters darbot. Überhaupt gilt für den Kernbereich der Iliastopographie, dass er so realistisch in die Handlung eingebaut ist, dass für die Nachwelt der Eindruck entstanden ist, man könne jederzeit die zurückgelegten Wege nachgehen
Luftaufnahme der nördlichen Ägäis
Götterschritt und Götterblick
Manipulation der Geographie
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Ausweitung der Raumperspektive
Homerische Geographie
Randzonen der Oikumene in der Odyssee
Das Epos als Ganzes
oder sogar nachrechnen. So sah Schliemann bei seinem ersten Besuch in der Troas 1868 „die Märsche und Gegenmärsche und die Kämpfe der Truppen in der Ebene“ vor seinem geistigen Auge, und für seine Identifikation von Troja auf dem Hügel von Hisarlik spielten die im Epos angegebenen Zeiten und Wegstrecken die wichtigste Rolle. Noch mehr ausgedehnt wird der engere Schauplatz des trojanischen Krieges dadurch, dass dieser in der Ilias zu einem panhellenischen Ereignis, ja geradezu einem europäisch-asiatischen Konflikt angewachsen ist. Achill stammt aus Nordgriechenland, und er weiß die reale Entfernung von Troja und die Reisezeit für ein Schiff zutreffend einzuschätzen: „Wenn mir der Meeresgott gute Fahrt gibt, könnte ich am dritten Tag in Phthia ankommen“ (Il. 9,362f.). Ein Vergleich mit der modernen Deutschlandkarte zeigt, dass die Strecke von Troja nach Thessalien etwa der von Berlin nach Kassel entspricht (ca. 300 km Luftlinie), dass auch hier also durchaus menschliches Entfernungs- und Zeitmaß angewendet wird. Die Nennung der Heimatorte zahlreicher anderer Helden auf beiden Seiten, vor allem in den Katalogen des 2. Buchs, aber auch anlässlich der einzelnen Kämpfe, erweitert den mit einbezogenen Raum nach Westen um das ganze griechische Festland, die Peloponnes und die umliegenden Inseln, im Osten weit nach Kleinasien hinein, im Süden bis Kreta und Lykien, die Herkunft kostbarer Importstücke und Geschenke lässt auch Zypern, Phönikien und Ägypten am Horizont auftauchen. In der Anordnung des Katalogs der Bundesgenossen der Troer hat man sogar vier auf Troja konzentrierte Handelsachsen erkennen wollen, mit entfernten Außenposten im Nordwesten, Nordosten, Südosten und Süden (Il. 2,844–877). Dieser ganze, für Homer und sein Jahrhundert offensichtlich sehr vertraute Lebensraum des östlichen Mittelmeers wurde schon für die Geographen der späteren Antike zum Gegenstand unendlicher Diskussionen um Ortsnamen und Lokalisierungen, nicht zuletzt deshalb, weil das Epos einerseits noch viele ältere Traditionen konserviert, und andererseits das bewegte Zeitalter der griechischen Wanderungen und Kolonisation allenthalben neue Verhältnisse geschaffen hatte. Am äußersten Rande der bewohnten Welt werden die Kenntnisse immer ungewisser, hier scheinen sich nur die Götter noch einigermaßen auszukennen. Rundum fließt der Okeanos, der Vater aller Gewässer, an seinem Ufer im Süden und Osten wohnen die Äthiopen, wo die Unsterblichen an den reichen Opfermählern teilnehmen, und deshalb für das übrige Weltgeschehen abgemeldet sind (Il. 1,423f.; 23,205–207; Od. 1,22–26). Der Erzählraum der Odyssee ist auf den Westen des Mittelmeeres ausgeweitet, der Osten – „jenseits von Euböa“ aus der Sicht der Phäaken (Od. 7,321) – ist ferner gerückt, aber der Grundcharakter des Weltbildes ist derselbe. Anders als in der Ilias setzt die Handlung ein von jener entlegenen Peripherie aus, Poseidon ist bei den Äthiopen und Odysseus auf Ogygia, dem Nabel des Meeres, wo Kalypso wohnt, die Tochter des Atlas. Dorthin kommen selbst die Götter selten zu Besuch, und auch Hermes erst nach langem Flug über die Salzflut (Od. 1,19–26; 48–54; 5,44–58). Diese ins Mythische und Märchenhafte übergehenden Randzonen der Oikumene erhalten in dem Heimkehrer- und Irrfahrten-Epos einen sehr viel größeren Anteil; was in der Ilias nur in Andeutungen berührt wird, erscheint in der Odyssee erweitert und fortge-
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führt, sowohl im Hinblick auf die historisch-zeitlichen wie die geographisch-räumlichen Verhältnisse. Hier erhalten wir Antworten auf die Frage nach dem weiteren Schicksal der Helden, sei es im Leben oder im Tod, und das führt automatisch in die Ferne und die Unterwelt. Der ganz im diesseitigen Leben angesiedelte zentrale Schauplatz auf Ithaka wird vorbereitend eingeführt in den Büchern 1–4, und dann mit aller Eindringlichkeit in den Büchern 13–24 vorgeführt. Ähnlich wie in der troischen Ebene haben bereits die antiken Fremdenführer damit begonnen, auch auf Ithaka alle Details dingfest zu machen. Man zeigte jeden Baum und jede Bucht, die Nymphenhöhle, den Koraxfelsen, die Arethusaquelle und selbst die Schweineställe des Eumaios, und in der Neuzeit bis in die unmittelbare Gegenwart ist man ihnen vielfach gefolgt, wieder mit Schliemann als dem begeisterten Archegeten. Nicht zuletzt dieser Eindruck der intimsten Ortskenntnis des Dichters hat schon früh dazu geführt, dass auch die Insel des Odysseus Anspruch darauf erheben konnte, Geburtsort Homers zu sein, neben östlichen Städten wie Smyrna oder Chios, die dem Schauplatz der Ilias näher lagen. Allerdings bleiben auch in diesem Bereich immer noch viele Unklarheiten; unumstößliche Fakten stehen neben bloßen Wahrscheinlichkeiten und offensichtlichen Widersprüchen, die zur Vorsicht bei Identifikationen raten. Odysseus höchst persönlich entwirft bei seiner Selbstvorstellung im Phäakenland Scheria – es scheint eine Insel zu sein, aber Zweifel bleiben – geradezu die Seekarte seines Inselreichs: „Ithaka bewohne ich, das weithin sichtbare. Dort ist ein stattlicher Berg, der Neritos, mit Laubwald bewachsen, und rundum gibt es viele Inseln sehr nahe beieinander, Dulichion, Same und das waldige Zakynthos. Ithaka selbst, rau aber gesund, liegt niedrig als äußerste im Meer, nach Westen, die anderen aber daneben nach Osten und Süden“ (Od. 9,19–27). Beim Vergleich dieser Beschreibung mit der Gruppe der ionischen Inseln und ihren modernen Namen zeigen sich erhebliche Unstimmigkeiten, die Wilhelm Dörpfeld einst dazu veranlasst haben, das heutige Leukas zum wahren Ithaka zu erklären. Münzprägungen des 4. Jahrhunderts v. Chr. und ihre Fundorte bestätigen jedoch eher die jetzige Namensträgerin in ihrem Anspruch. Auch in der Odyssee gibt es zwischen der fernen Außenwelt und dem zentralen Schauplatz einen noch einigermaßen vertrauten Mittelbereich. Den erschließen die Reise des Telemachos von Ithaka nach Pylos und Sparta mit ihren genauen Zeitangaben sowie die Erzählungen von Nestor und Menelaos über ihre Heimkehr aus Troja. Nestor gibt dabei eine seemännisch exakte Routenbeschreibung: Von Ilios aus rasch nach Tenedos und Lesbos, dort Beratung über die weitere Fahrt, entweder oberhalb von Chios, dieses zur Linken lassend, bei dem Inselchen Psyria oder am windigen Vorgebirge Mimas vorbei unterhalb von Chios. Ein gottgesandter günstiger Wind bringt die Entscheidung zur direkten Fahrt über das offene Meer nach Euböa, wo man nachts an der Südspitze bei Geraistos landet, und von dort gelangt Diomedes am vierten Tag nach Argos, während Nestor selbst bei anhaltend gutem Wind nach Pylos weiterfährt. Menelaos andererseits hat eine achtjährige verzögerte Heimreise hinter sich, die ihn in entfernte exotische Gegenden geführt hat, von denen kostbare Erinnerungsstücke in seinem Palast Zeugnis ablegen. So kam er nach Zypern, Phönizien und Ägypten, ja sogar zu den Äthiopen und dem unbekannten Volk der Eremben, bis sich
Ortskenntnis des Dichters?
Nautische Routenbeschreibung
40 Tatsachenbericht und Seemannsgarn
Das Auge des Betrachters
Das Epos als Ganzes
ihm schließlich in Libyen ein fabelhaftes Schlaraffenland auftat, wo schon den Lämmern die Hörner wachsen, wo die Schafe dreimal im Jahr werfen, wo Herr und Knecht einen Überfluss an Käse, Fleisch und süßer Milch das ganze Jahr hindurch haben. Wenn sich hier schon Tatsachenbericht und Seemannnsgarn vermischen mögen, so gewinnt bei dem Abenteuer mit dem vielgestaltigen Meeresgott Proteus das Märchenhafte die Oberhand. Die Insel Pharos wird zwar korrekt als dem ägyptischen Festland vorgelagert eingeführt, aber eine ganze Tagesreise ins Meer hinaus verlegt, und der Name Aigyptos bezeichnet zugleich Fluss und Land (Od. 3,159–183; 4,81–89; 354–357). Es wird also deutlich, dass mit größerer Entfernung die Vorstellungen von Raum und Zeit immer unschärfer werden. Dieser periphere Bereich wird mit den phantastischen Abenteuern des Odysseus bis an seine Grenzen durchmessen, doch im Munde des Erzählers der Objektivität ferner gerückt und gegenüber der eigentlichen Handlung relativiert. Allerdings gewinnt auch diese erst in der allmählichen Annäherung von Ogygia über die immer noch mit märchenhaften Zügen ausgestattete Welt der Phäaken bis ins heimische Ithaka ihren suggestiven Wirklichkeitsbezug. Dieser gipfelt in förmlichen Landschaftsbeschreibungen, so wenn Athene dem verwirrten Spätheimkehrer Odysseus den Schleier von den Augen nimmt, damit er die Heimat wieder erkennt: „Hier ist die Bucht des Phorkys, und dies am Ende des Hafenbeckens der feinblättrige Ölbaum, nahe dabei die liebliche luftige Grotte, das Heiligtum der Quellnymphen, wo du so viele Opfer darzubringen pflegtest, und dort der waldbedeckte Neritos-Berg“ (Od. 13,345–352). Die allmähliche Entfaltung der Szenerie vor dem Auge eines Betrachters ist ein Kunstmittel, das der Dichter mehrfach einsetzt. Der Götterbote Hermes steht staunend und entzückt beim Anblick der idyllischen Naturlandschaft rings um die Grotte der Kalypso, und, mit demselben fast identischen Verspaar charakterisiert, bewundert Odysseus den detailreich ausgemalten Palast und Garten des Alkinoos (Od. 5,63–77; 7,84–135; zu vergleichen sind die Verse 75f. und 133f.). Derartige Schilderungen haben besonders die antike Malerei angeregt, auf dem Esquilin in Rom und in Pompeji sind uns schöne Beispiele dieser sogenannten „Odysseelandschaften“ erhalten. Wenn man darin allerdings eine von der Ilias grundsätzlich verschiedene Sichtweise erkennen will, so ist zu bedenken, dass eine Reiseerzählung die Situation des staunenden Ankömmlings in friedlicher Szenerie viel eher im Repertoire hat als ein Kriegsepos, wo die blumige Aue zum Aufmarschgebiet des Heeres, die neblige Flussniederung zum Abstellplatz des Göttergespanns, die reich bewachsenen Ufer des Skamander zum Kampfplatz werden, und die stimmungsvollen Naturbilder fast ausschließlich der Kontrastebene der Gleichniswelt vorbehalten bleiben (Il 2,459–468; 5,773–777; 21,349–355). Wie sehr das homerische Epos im griechischen Bewusstsein als die dichterische Zusammenschau aller erfahrbaren Aspekte von Raum und Zeit, von Weltkenntnis und Überlieferung empfunden wurde, zeigt die Darstellung auf einem Relief des Archelaos von Priene im Britischen Museum: Die Personifikationen der Oikumene, des bewohnten Erdkreises mit der Mauerkrone, und des Chronos, der geflügelten Zeit mit der Buchrolle, bekränzen den Dichter von Ilias und Odyssee.
Gliederung, Komposition und Handlungsführung
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Gliederung, Komposition und Handlungsführung Das Großepos als literarische Vorform des Romans verlangt eine klar erkennbare Thematik, Gliederung und Handlungsführung, wenn es Unübersichtlichkeit und Monotonie vermeiden soll. Ilias und Odyssee mit ihren rund 16 000 und 12 000 Versen haben nicht zuletzt deshalb ihre Attraktivität durch die Zeiten hindurch bewahrt, weil sie diese Voraussetzungen in vorbildlicher Weise erfüllen. Über die Voraussetzungen und Praktiken, wie und zu welcher Zeit diese Einheit entstanden ist, gab es lange Auseinandersetzungen, die auch mit der Frage nach dem Dichter, den Dichtern oder den Redaktoren zusammenhängen. Die sorgfältigen Beweisführungen der „Analytiker“ einerseits und der „Unitarier“ andererseits haben alle ihren Anteil zur Erhellung des Gegenstandes beigetragen, so dass wir uns diesem heute mit geschärftem Blick zuwenden können. Die Betrachtung der äußeren Gliederung wird dabei mehr dem analytischen, die der kompositorischen Linienführung mehr dem unitarischen Ansatz verpflichtet sein. Ein antikes Literaturwerk hat von sich aus keinen eigentlichen Titel. Als solcher dient gewöhnlich der erste Satz, bei Ilias und Odyssee ist es das sog. „Prooimion“, der „Vorspruch“, ein Wort, das auch eine Gebetsanrufung wie die homerischen Götterhymnen bezeichnen kann. Ihre Doppelfunktion als Titel und Themaangabe sowie als Bitte um göttlichen Beistand zur Bewältigung der gewaltigen Aufgabe erfüllen die Proömien beider Epen perfekt. Die Stichworte „Zorn“ und „Mann“ stehen am Anfang, sofort wird näher erläutert, wessen Zorn es war und was er bewirkte und wer der Mann war, dessen Charakter und Schicksale so denkwürdig sind. Mit dem „Zorn des Peliden“ und jenem „vielgeprüften Mann“ sind zugleich die beiden Haupthelden vorangestellt, aber ihre eigentlichen Namen Achill und Odysseus werden erst in den Versen 1 und 7, bzw. 21 eher beiläufig erwähnt. Damit ist klar zum Ausdruck gebracht, dass ein Grundwissen um den Mythos vorausgesetzt wird, und das Hauptinteresse des Dichters kein stoffliches, sondern ein psychologisch-ethisches ist: Wohin führt die ungezügelte Emotion, und mit welchen Fähigkeiten kommt einer durch die Fährnisse des Lebens, und dies jeweils an einer dem Alltag entrückten vorzeitlichen Heldengestalt exemplifiziert. Neben der eigentlichen Thematik wird im Proömium auch die methodische Vorgehensweise angesagt. Das Epos soll einen künstlerisch komponierten, gerafften Ausschnitt aus dem präexistenten Mythenkontinuum geben, wo sich ein jeder den ihn interessierenden Stoff herausgreifen kann, wie es auch viele Vorgänger wohl schon getan haben. In der Odyssee heißt es ausdrücklich: „Von dem allem, von einem bestimmten Punkt aus einsetzend, sage uns, Göttin“, und der Beginn der Erzählung bezeichnet diesen Punkt genau: „Da waren die anderen alle schon zu Hause …“ Auch die Ilias nennt den Moment des Einstiegs ausdrücklich: „Singe den Zorn, Göttin … von da an, wo die beiden zuerst im Streit sich entzweiten …“ (Od. 1,10f.; Il. 1,1; 6). Dieses Hineinspringen in den Stoff kann nicht zufällig geschehen, sondern es bedarf einer höheren künstlerischen Einsicht, die von der Muse erbeten wird. Die göttliche Hilfe muss sich jedoch auch auf die Gestaltung der durchgehenden Kompositionslinien erstrecken, denn hinter allem Geschehen steht letztlich ein göttlicher Plan: „Der Plan des Zeus wurde vollendet“, heißt es für
Analyse des Großepos
Funktion des Proömiums
Thematik und Methode
Musenanruf eröffnet Zugang zu höherer Einsicht
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Offener Epenschluss und Ausschnittcharakter
Abschluss des Themas, nicht Ende der Geschichte
Das Epos als Ganzes
die Ilias, und in der Odyssee entwerfen Zeus und Athene in der Götterversammlung ihre Pläne, die anschließend für die kunstvolle Handlungsführung des Epos maßgeblich werden (Il. 1,5; Od. 1,81–95). Um diesen höheren Willen können nur göttliche Wesen wissen, deshalb steht am Anfang der Proömien der Musenanruf, auf den der Dichter auch in anderen kritischen Situationen des Geschehens zurückgreifen wird. Der Eingang der Gedichte dient also zugleich der Schürzung des Knotens, aus dem die einzelnen Handlungsstränge entspringen sollen. Der Ausgang andererseits lässt durch ein fast abruptes Abbrechen im Text den Ausschnittcharakter der behandelten Ereignisfolge erkennen. „So begingen sie die Bestattung des Pferdebändigers Hektor …“, schließt unsere Ilias, „Friedensschluss zwischen beiden bewirkte Pallas Athene, dem Mentor gleichend an Gestalt und Stimme …“ die Odyssee. In einigen Handschriften endet der Vers von Hektors Bestattung mit dem Zusatz „dann kam die Amazone“, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Geschichte weiterging, dass prinzipiell eine Fortsetzung möglich war. Das Eingreifen der Amazonenkönigin Penthesilea auf Seiten der Trojaner war ebenso wie das des Äthiopen Memnon im Mythos – vielleicht auch schon in dichterischer Form – vorgegeben, und die Epen des sog. „Kyklos“ haben alles in chronologischer Reihenfolge erzählt. Erhalten geblieben sind diese zyklischen Fortsetzungen jedoch nur in trockenen Nacherzählungen der Spätantike, ein deutliches ästhetisches Werturteil. Auch Goethe hat sich durch das „offene Ende“ zur Fortführung der Ilias animieren lassen und gleichsam den heraushängenden Handlungsfaden aufgegriffen. Der Anfang seiner „Achilleis“ beginnt mit dem Brand von Hektors Scheiterhaufen: „Hoch zu Flammen entbrannte die mächtige Lohe noch einmal …“, aber das geplante Epos kam über 651 Verse nicht hinaus. Ein möglicher Fortsetzungsfaden für die Odyssee wird schon früher im Gedicht angedeutet, wenn der Seher Teiresias in die weitere Zukunft des Helden blickt (Od. 11,121–137). Der Überraschungseffekt des knappen unprätentiösen Epenschlusses darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Thema in der Handlung abgeschlossen und zur Ruhe gekommen ist, der Zorn des Achill und die Heimkehr des Odysseus. Dass diese Heimkehr erst mit der Beilegung des politischen Konflikts auf Ithaka ein harmonisches Ende findet, haben alle diejenigen übersehen, die ein märchen- oder romanhafteres Ende vorgezogen haben und die ursprüngliche Odyssee mit den Versen 23,342f. enden lassen wollten: „Dies war das letzte Wort, das er erzählte, als ihn der gliederlösende Schlaf überfiel und ihm die Kümmernisse vom Herzen löste“. Die knappen vielsagenden Dramenschlüsse Schillers, „Dem Manne kann geholfen werden …“, „Dem Fürsten Piccolomini …“, „Er ist zu Schiff nach Frankreich …“, verraten in ihrer aperçuhaften Zuspitzung das homerische Vorbild. Auch sie wollen keine wirkliche Fortsetzung einleiten. Die in den Proömien umrissenen eigentlichen Themen beider Epen finden sich in den uns geläufigen Titeln nur bedingt wieder. Bei der Odyssee mag dies noch zutreffen, doch die Ilias verdankt ihren eher irreführenden Namen der Tendenz des Großepos, den aus einem Zusammenhang herausgenommenen überschaubaren Ausschnitt so auszuweiten, dass er doch wieder das Ganze in sich aufnimmt. Genau genommen handelt es sich um ein Gedicht vom Zorn des Achill, nicht um eine „Achilleis“, und schon gar nicht um die Darstellung des Krieges um Ilios.
Gliederung, Komposition und Handlungsführung
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Dennoch ist das gesamte Schicksal des Helden wie der Stadt im Hintergrund präsent und verleiht so den vordergründig geschilderten epischen Ereignissen Tiefgang und Sinn. Auf den zweiten Blick ist also die Bezeichnung „Ilias“ als griffige Wiedergabe dieses weiteren Horizonts dann doch verständlich, eine Parallelbildung der antiken Philologie neben Namen wie „Thebais“ oder „Aithiopis“ für Epen mit Bezug auf die Stadt Theben oder den Aithiopen Memnon. Auch für in sich geschlossene Passagen und Episoden innerhalb der Epen hat die spätere Tradition solche kennzeichnenden Kurztitel gebraucht. So sprach man von „Boiotia“ für den Schiffskatalog des zweiten Buchs der Ilias, weil dieser in Böotien beginnt, von der „Teichoskopie“ (der „Mauerschau“) im dritten, der „Aristie des Diomedes“ im fünften, der „Homilie“ („Begegnung“) von Hektor und Andromache im sechsten oder auch der „Dolonie“ im zehnten Buch, obwohl der feige Dolon kaum als Hauptfigur der Episode gelten kann. Entsprechend werden in der Odyssee u.a. die Polyphemgeschichte als „Kyklopeia“, der Gang in die Unterwelt als „Nekyia“ und die Fußwaschungsszene als „Niptra“ bezeichnet. Auf diese Weise lassen sich besonders spannende und beliebte Partien aus dem Zusammenhang herausgreifen, die sich für einen kürzeren Vortrag eignen und vielleicht auch von besonderer Aktualität sind. So wünscht sich Odysseus bei den Phäaken ein Lied über das hölzerne Pferd, und der Sänger Demodokos beginnt nach einer Gottesanrufung „von da an, wo die Argeier abfuhren und das Pferd mit Odysseus und seinen Gefährten im Innern schon auf der Akropolis der Trojaner stand“, also nicht ganz von vorne mit seinem Bau, sondern im kritischen Moment der Entscheidung (Od. 8,500–503). Dieses „von da an beginnend“ entspricht dem „von irgendwo aus“ am Anfang der Odyssee und verdeutlicht nochmals das Kunstmittel des Einstiegs medias in res und der effektvollen Schürzung einer Episode. Die Reihenfolge solcher Abschnittstitel konnte zugleich als vorläufiges Inhaltsverzeichnis und Hilfsmittel einer äußerlichen Gliederung des Großepos dienen, ehe die antiken Philologen die heute noch gültige Bucheinteilung vornahmen. Diese Einteilung folgt nicht immer den inhaltlichen Themen, da sie auch auf das Einheitsmaß der Buchrollen Rücksicht nehmen musste. Aus diesem Grunde blieben die eingängigen Bezeichnungen thematischer Einheiten auch weiterhin in den Handschriften im Gebrauch, und gerade sie waren es, die der „Liedertheorie“ und anderen Ansätzen der Analytiker entgegenkommen mussten. Immerhin schien es doch plausibel, dass der Schiffskatalog, die Gesandtschaft (presbeia) oder gar die Dolonie der Ilias ursprünglich selbstständige Einheiten oder spätere Einschübe waren, die von einem Redaktor oder auch Dichter zusammengefügt wurden, oder dass die Odyssee aus einem Irrfahrtenbericht, einem Heimkehrergedicht und als jüngstem Bestandteil der „Telemachie“ zusammenwuchs. Sobald man erst mit der Herauslösung einzelner Teile begonnen hatte, kam man durch die Beobachtung von festen Formeln, Wiederholungen, Dubletten, Handlungsfugen, inhaltlichen, stilistischen und kulturellen Widersprüchen zu immer kleineren Einheiten. Der Dichter Homer, von dem man schon in der Antike so gut wie nichts, kaum den richtigen Namen wusste, löste sich damit gleichermaßen auf wie das Werk. An seine Stelle traten der dichtende Volksgeist, die Tradition der Liederdichter und Rhapsoden oder die improvisierenden Formelsänger
Kurztitel zur Verständigung
Episode oder Einzellied?
44 Einheit von Dichter und Werk?
Leitmotive der Handlungsführung
Das Epos als Ganzes
der „mündlichen Dichtung“, im Gegenzug dann wieder eine kleinere Gruppe von zwei oder drei Dichtern, Schriftstellern oder Redaktoren. Eine wichtige Rolle spielte die Frage der Schriftlichkeit: Gab es überhaupt Schrift in so früher Zeit, und damit die Möglichkeit zur Komposition und Niederschrift umfangreicher Texte? Die Entdeckung der kretisch-mykenischen Schriftsysteme und Tontafelarchive sowie die Aufhellungen der Frühgeschichte des griechischen Alphabets brachten hier wieder mehr Zuversicht, so dass man sich einer intensiveren Beobachtung der durchgehenden Linien und Zusammenhänge zuwenden konnte. Auch dieses vereinheitlichende Element des Epos ist bereits im Proömium angedeutet, wenn jeweils ein Leitmotiv herausgestellt und das göttliche Planen erwähnt wird. Wie die Formelhaftigkeit, die inhaltliche Buntheit und der episodische Charakter dem methodischen Ansatz der Analytiker entgegenkommen, so bringt die Observation der bewusst angewandten einheitlichen Kunstmittel sowie das Nachzeichnen der Handlungsstränge und Motivketten, der Vorausdeutungen und Rückgriffe Unterstützung für den Standpunkt der Unitarier. Für ein umfangreiches Großepos, wie immer auch es entstanden sein mag, wird die Strukturbetrachtung unter genetischem Aspekt die am meisten angemessene sein. Wo unterschiedliche Bestandteile komponiert und eingebaut werden müssen, da entsteht automatisch auch die Notwendigkeit eines erkennbaren Bauplans und wegweisender Leitlinien, wenn überhaupt die bloße Addition vermieden werden soll. Das Hauptgeschehen in Ilias und Odyssee erwächst jeweils aus den in den Proömien genannten Kern- oder Leitmotiven. Dies ist zum einen der Zorn des Achill und seine Folgen, vor allem die Niederlage der Achäer, und zum anderen die zehnjährige Abwesenheit des Odysseus mit ihren Folgen, dem Chaos auf Ithaka. Diese aus sich heraus interessanten und dramatisch ergiebigen Krisensituationen produzieren die vordergründige Rahmenhandlung mit ihrem Auf und Ab, ihren gegenläufigen Bewegungen und Parallelaktionen. Das unversöhnliche Zürnen des Vorkämpfers im Schiffslager und das Freierchaos auf Ithaka sind latent im Hintergrund immer vorhanden, sie werden mit allerlei Tricks in Erinnerung gebracht und ins Vordergrundgeschehen hineingespiegelt, die Stadien ihrer Entwicklung mit den möglichen Auswirkungen auf die Haupthandlung an wichtigen Schlüsselstellen signalisiert. Auf seinen Höhepunkt kommt der Zorn des Achill bereits mit seinem Ausbruch im 1. Buch der Ilias, wo er im Gespräch mit Thetis einmündet in die Planungen des Zeus: Der soll seine Ehre wieder herstellen und die Hybris Agamemnons bestrafen. Die Göttin verlässt ihren Sohn in seiner Wut über den Verlust der Geliebten, und mit ihr der Leser, der nun über mehr als 50 Verse den Odysseus auf seiner Fahrt nach Chryse begleitet, bis er zu dem dauerhaft Zürnenden zurückkehrt (Il. 1,427–492). Danach tritt das wechselhafte Kampfgeschehen in den Vordergrund, erst mit den Siegen der Achäer, wo man den Achill fast zu vergessen scheint, dann mit den Siegen der Troer, als man sich der Zeiten erinnert, als Achill noch kämpfte und Hektor sich kaum zum Tor hinauszugehen traute (z.B. Il. 5,788–791). Auf dem ersten Höhepunkt der Niederlagenserie der Achäer im 9. Buch, als Achill anlässlich der Bittgesandtschaft vorübergehend wieder in den Vordergrund der Handlung tritt, gewinnt der Zorn erneut eindringliche Gestalt, allerdings zum Schluss ganz leicht gemildert, wenn die
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angedrohte endgültige Heimfahrt erst mit Bedenkzeit auf den Folgetag verschoben und dann sogar der Brand der Schiffe als Kriterium für eine eventuelle Wiederaufnahme des Kampfes genannt wird (Il. 9,618–655). Als dieser äußerste Fall dann eingetreten ist, stellt ein Botengang des Patroklos wieder, wie schon im 11. Buch, die Verbindung zu dem in seiner Behausung Zürnenden her, doch der kann sich nur zu einem halbherzigen Zugeständnis aufraffen, indem er den Freund in seinen Waffen entsendet (Il. 16,1–256). Nach dessen Tod wird der Zorn hastig und eher äußerlich beigelegt, verwandelt sich vielmehr in einen rasenden Rachezorn, der die Bücher 18– 22 mit wenigen zwischengeschalteten Ruhepausen erfüllt und erst nach dem Zwischenspiel der Wettkämpfe des 23. im 24. Buch zur Ruhe kommt. Diese Zorneslinie bildet zugleich den Rahmen für das Epos, mit einem ersten Akzent zu Anfang und dem breiten Ausklang in der zweiten Hälfte. Eine ähnliche Funktion und Proportion hat das Motiv der chaotischen Zustände auf Ithaka in der Odyssee. Auch sie werden bereits im 1. Buch eindringlich vorgeführt durch den mit der Zeusplanung verbundenen Besuch der Athene beim kaum erwachsenen Sohn im herrenlosen Palast und dann während der Reise des Telemachos bei den Gesprächen in Pylos und Sparta immer wieder berührt (Bücher 2–4). Danach tritt das Heimkehrgeschehen, der „Nostos“ des Odysseus, ganz in den Vordergrund, zunächst als direkte Handlung, dann im Rückgriff als Erzählung des Helden selbst (Bücher 5–12). Die wichtigste Brücke und Querverbindung zwischen beiden Handlungssträngen findet sich am entrücktesten Punkt der Irrfahrten, in der Unterwelt, wo Odysseus zum ersten Mal Näheres über die Zustände zu Hause erfährt, zuerst aus dem Munde des Sehers Teiresias und dann im Gespräch mit einer Augenzeugin, der Seele seiner inzwischen verstorbenen Mutter Antikleia (Od. 11,115–120; 170–203). Mit dem Erwachen des Odysseus am Strand von Ithaka im 13. Buch, also kurz nach der Mitte des Epos, beginnt die Dominanz des Hauptthemas, und zwar mit einer schrittweisen Annäherung: Erst einmal muss der Heimkehrer die fremdgewordene Heimat wieder erkennen, dann erfährt er im 14. Buch im Gehöft des Eumaios das Neueste über die Entwicklung in der Stadt. Im folgenden 15. Buch erfolgt die Verknüpfung der im 4. Buch verlassenen Nebenlinie, der Reise des Telemachos, mit der Haupthandlung: Telemachos kehrt glücklich zurück, nachdem er dem Mordanschlag der Freier entkommen ist. Auch deren Ausfahrt und Lauerstellung im Hinterhalt bei der Insel Asteris, die ebenfalls im 4. Buch als weitere Parallelhandlung eingeführt worden war, hat der Dichter nicht vergessen. Im anschließenden 16. Buch, nachdem sich Odysseus und sein Sohn erkannt und zusammengefunden haben, kehrt auch das Schiff der Freier unverrichteter Dinge zurück, und nun sind alle Akteure und Handlungsfäden auf Ithaka zum großen Finale vereint. Dieser abschließende Schwerpunkt der Komposition, der Sieg des Heimkehrers über die Aufrührer und ihre Angehörigen mit anschließender Friedensstiftung der Göttin Athene füllt die Bücher 17–24, also ähnlich wie in der Ilias das letzte Drittel des Epos. Die Ereignisse auf Ithaka geben den äußeren Rahmen ab für die eingelegte Irrfahrtenerzählung, die ihrerseits wieder in Rahmenhandlung und Ich-Erzählung des Odysseus gegliedert ist. Diese Kunstform der „Rahmenerzählung“ hat von der Odyssee ausgehend in der Weltliteratur begeisterte Nachfolge gefunden, aber anders als Boccaccio,
Zorneslinie als fester Rahmen
Rahmendes Hauptthema der Odyssee
Kompositionsschwerpunkt im letzten Drittel
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Der Plan des Zeus
Die ZeusVorhersage
Das Epos als Ganzes
Goethe oder Hauff weiß Homer das angemessene Gleichgewicht zwischen den Bestandteilen zu wahren. Hier ist der Rahmen nicht Vorwand für die Aneinanderreihung unterschiedlicher Geschichten, sondern er trägt das volle Gewicht der Haupthandlung, und die Einlagen behaupten sich dagegen durch ihre phantastische Buntheit. Dass dabei die Herkunft des Ganzen aus verschiedenen ursprünglichen Bestandteilen ein entschiedenes Mitverdienst hat, steht außer Zweifel. Die erkennbare Virtuosität, mit der alles zusammengefügt ist, macht es jedoch unwahrscheinlich, dass Zufall oder bloße Kompilation bei der Genese beteiligt waren. Wie die Proömien andeuten, wird der Gang der Handlung gesteuert durch ein göttliches Planen und das Walten des Schicksals, und auch hier kann man durchgehende Linien verfolgen. Schon in der Antike hat man erkannt, dass dabei tiefer gehende Fragen nach dem Sinn der Geschichte und dem Gewicht moralischer Maßstäbe bei der Bewertung von menschlichen Handlungen und Haltungen angesprochen sind, dass der „Götterapparat“ auch in dieser Hinsicht nicht nur anmutiges Spiel ist. Der „Plan des Zeus“, der sich in der Ilias vollendete und so unzählige Todesopfer gefordert hat, scheint sich zunächst nur auf den Zorn und seine Folgen zu beziehen, aber im Hinblick auf die Gesamtkatastrophe des trojanischen Krieges, die in Rückblick und Vorausschau stets gegenwärtig ist, wurde er ausgeweitet auf eine allgemeine göttliche Absicht. Durch das allgemeine Sterben sollte die Erde erleichtert werden von der Last einer Menschheit, die durch Blindheit und Hybris mehr und mehr in Schuld geraten war: Die Stätte von Ilios wurde in allegorisierender Weise zum „Hügel der Ate“, wo Zeus die Personifikation der Verblendung auf die Erde geworfen hatte und nacheinander alle ihr verfallen waren, angefangen vom Stadtgründer Ilos über seinen Sohn Laomedon bis zum Enkel Paris nebst Helena, aber auch Agamemnon als Veranlasser des Streits mit Achill. Die Motive der Erbschuld und der folgenreichen Verblendung, verbunden mit mehr oder weniger missachteten Prophezeiungen, Vorzeichen und Warnungen, ziehen sich als weitere Orientierungslinien neben dem Zeusplan durch das Handlungsgefüge der Ilias. Ausgehend von dem Gewährungsnicken des Göttervaters im 1. Buch zeigt sich sein Planen vor allem an vier markanten Punkten, zu Beginn des 2. Buchs, wo er dem Agamemnon den trügerischen Traum sendet, dann am Anfang des 8. Buchs, wenn er den anderen Göttern jegliches Eingreifen ins Geschehen verbietet, im 11. Buch durch die Botschaft der Iris an Hektor mit der Verheißung seines Sieges nach dem Ausscheiden der drei wichtigsten Gegner und dann vor allem im 15. Buch in der weit ausholenden Vorhersage des bevorstehenden Geschehens lange über das Ende der Ilias hinaus: „Hektor soll die Achäer wieder in die Flucht schlagen, zurück zu den Schiffen des Achill. Der wird seinen Freund Patroklos in den Kampf schicken, der viele verderben wird, darunter meinen eigenen Sohn Sarpedon, bis ihn wieder Hektor tötet vor den Toren von Ilios. Im Zorn darüber wird dann der göttliche Achill den Hektor töten, und von da an könnte ich wohl einen Gegenangriff von den Schiffen mit unaufhörlicher Offensive einleiten, bis die Achäer Ilios erobern, mit Hilfe und Rat der Athene. Vorher werde ich dem Zorn kein Ende setzen und auch keinen anderen der Unsterblichen den Danaern helfen lassen, bis der Wunsch der Peliden erfüllt ist, wie ich ihm damals mit dem Nicken meines Hauptes zugesagt habe“ (Il. 15,59–75). Mit dieser Prophezeiung beschreibt
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Zeus exakt den Gang der Handlung bis zum Ende der Ilias und der Beilegung des Zorns. Für die Entwicklung des Krieges danach wird die Aussage des planenden Gottes eigenartig vage: Fest steht nur, dass Ilios schließlich fallen muss, aber die Gegenbewegungen durch das Eingreifen der Amazonen und der Äthiopen werden nicht erwähnt. Man könnte nun annehmen, dass der Dichter davon noch nichts wusste, aber auch vom Tod Achills ist nicht die Rede, obwohl ihm dieser in der Ilias mehrfach vorhergesagt wird, so von seinem eigenen Pferd und besonders detailliert von dem sterbenden Hektor, der ihn warnt vor „dem Tag, wenn Paris und Phoibos Apollon dich verderben werden, so stark wie du bist, am Skäischen Tor“ (Il. 19,416f.; 22,359f.). Über die Art und Weise, wie und von wem Ilios erobert werden soll, gibt Zeus ebenfalls nur eine Andeutung, aber der „Rat der Athene“ kann sich nur auf die List mit dem hölzernen Pferd beziehen, die sie dem Odysseus eingegeben hat, dem Helden, dessen Name fest mit dem Attribut „Stadteroberer“ verbunden ist. Wenn also die über das Epos zerstreuten Ausblicke auf die Zukunft ebenso wie die zahlreichen Rückgriffe auf die Vergangenheit, so zum Beispiel das erst im 24. Buch, 28–30 erwähnte Parisurteil, bewusst undeutlich gehalten sind, dann dient diese Technik der besonderen Hervorhebung und Scharfeinstellung des ausgewählten Ausschnitts vor dem weiteren Hintergrund des Mythos. Dass der schicksalhaft vorgegebene Ablauf der Geschichte jedoch auch scheinbar irrationale Brüche und Gegenbewegungen aufweisen kann, wird durch die Opposition der trojafeindlichen Götter gegen den Zeusplan motiviert. Der durchgehenden Linie der Zeusvorhersagen entspricht die Kette der Sabotageakte des Widerstands mit ihren Folgen. Sie beginnt ebenfalls im 1. Buch mit dem Aufbegehren der Hera, setzt sich fort mit dem Eingreifen von Hera und Athene im 5. Buch zugunsten des Diomedes, das auch Zeus noch billigt, einem ähnlichen Aufbruch der beiden Göttinnen im 8. Buch, der mit furchtbaren Drohungen unterbunden wird, und erreicht ihren Höhepunkt im 14. Buch mit der Verführung und Einschläferung des Zeus durch Hera, die das Eingreifen des Poseidon zugunsten der Achäer unterstützt und die vorübergehende Ausschaltung Hektors bewirkt (Il. 1,536–570; 5,711–895; 8,350–437; 14,153–441). Beide gegenläufige Linien, Zeusplan und Widerstreit, werden mit der großen Zeusvorhersage an Hera im 15. Buch zusammengeführt und zur Ruhe gebracht, und zu Beginn des 20. Buchs, vor dem großen Finale, hebt Zeus sein Verbot des Eingreifens der anderen Götter vom Anfang des 8. Buchs endgültig auf. Das Werkzeug und tragische Opfer des Zeusplans wird Achills Gegenspieler Hektor, dessen Rolle in der Ilias ebenfalls eine klar erkennbare Entwicklung durchläuft. Diese Entwicklung ist die eines durch zweideutige Verheißungen und blendende Anfangserfolge zur Hybris verführten Mannes, die sich in übersteigerten Zukunftsplänen und einer Reihe missachteter Warnungen äußert. Im 6. Buch wird bei der Begegnung mit Andromache alle Sympathie des Lesers auf Hektor gelenkt, im 7. durch den Zweikampf mit Ajas sein Mut und seine Ritterlichkeit hervorgehoben. Seine eigentliche Hybrislinie beginnt im 8. Buch; nach dem nur durch den Einbruch der Nacht aufgehaltenen Siegeslauf entwirft er in einer großen Rede zuversichtliche strategische Pläne. Unterstützt werden diese durch die Siegeszusage des Zeus im 11. Buch, die allerdings, von Hektor nicht beachtet, nur bis zum Abend des dritten Kampftags gilt, “bis du die Schiffe er-
Ausblicke und Rückgriffe
Gegenaktion der göttlichen Opposition
Die HektorHybris-Linie
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Warnungen des Polydamas
Gegenseitige Verflechtung der Leitlinien
Ansätze zur Theodizee
Das Epos als Ganzes
reichst, die Sonne sich senkt und das Dunkel heraufzieht“ (Il. 8,497–542; 11,200– 209). Hektors zunehmende Hybris wird deutlich durch seine Reaktionen auf die Abfolge der Polydamas-Warnungen. Auch diese setzen Orientierungspunkte für das tiefere Verstehen des Geschehens durch den Leser. Polydamas steht im gleichen Alter wie Hektor und hat als Sohn des Apollonpriesters Panthoos prophetische Gaben. Zu Anfang des 12. Buches rät er, die Streitwagen am Graben zurückzulassen, und Hektor lässt sich noch überzeugen, zum eigenen Vorteil, doch kaum 200 Verse später weist er die nur schüchtern vorgebrachte warnende Deutung des Vogelzeichens höhnisch zurück, unter Verweis auf jene frühere Zusage des Zeus. Mit seinem dritten Ratschlag im 13. Buch kann Polydamas Hektors Starrsinn nochmals überwinden, aber in der Beratung der Troer am Vorabend von Achills Rückkehr in den Kampf wird seine Besonnenheit endgültig abgeschmettert. Hektor setzt im Hochgefühl des Sieges alles auf eine Karte, zu seinem und des Volkes Unheil: „So redete Hektor, und die Troer jubelten ihm zu, die Toren, denn Athene raubte ihnen den Verstand. Den Hektor lobten sie, der Schlechtes plante, doch keiner den Polydamas mit seinem guten Rat“ (Il. 12,60–80; 210–250; 13,723–752; 18,249–311). Den endgültigen Schlusspunkt in dieser über acht Bücher hinweg geführten Auseinandersetzung mit dem lästigen Warner setzt dann Hektor selbst kurz vor der Katastrophe, als er nicht mehr zurück kann: „Weh mir, wenn ich mich jetzt ins Tor und hinter die Mauern zurückziehe, dann wird mir Polydamas als erster Vorwürfe machen, er, der mich hieß, die Troer in die Stadt zurückzuführen in dieser schrecklichen Nacht, als Achill sich wieder erhob, ich aber folgte ihm nicht, obwohl es viel besser gewesen wäre. Jetzt freilich, nachdem ich das Volk mit meinem Unverstand ins Unglück gestürzt habe, scheue ich mich vor Troern und Troerinnen, es könnte einer, geringer als ich, mir vorwerfen: Hektor hat mit seinem Selbstvertrauen das Volk ruiniert – so werden sie sagen“ (Il. 22,99–108). Die Hektor-Linie und die damit verbundene Folge der Polydamas-Warnungen steht in enger Verbindung mit dem Zeusplan und der Gegenbewegung dazu, und alles ist wiederum dem Zorngeschehen um Achill untergeordnet. Dieses Geflecht in sich verschränkter Leitlinien lässt einen planenden Geist erkennen, der auf diese Weise die überquellende Fülle des Ilias-Geschehens sinnvoll strukturiert hat. Der Sinngehalt der darin enthaltenen Aussagen erhebt sich dabei wieder in die zeitlose Sphäre, wo es von geringerem Interesse ist, ob sich hinter Achill und Hektor ein Kern der Erinnerung an historische Gestalten verbirgt. Für den Odysseus gilt dies in noch weit höherem Maß, und die sinndeutenden Leitlinien in der Odyssee sind, entsprechend den viel weiter ausholenden und klar überschaubaren Handlungslinien, erheblich einfacher gestaltet als die der Ilias. Hier genügen zwei Götterversammlungen im 1. und 5. Buch, um die übergeordnete Planung festzulegen, und auch die ethische Motivation des Geschehens ist eindeutiger und stärker ins Allgemeine gehoben. Bezeichnenderweise geht Zeus selbst zunächst von ganz grundsätzlichen Überlegungen aus, für die er ein aktuelles Beispiel zur Erläuterung heranzieht: „Nein, wie doch die Menschen die Götter immer beschuldigen! Von uns sollen alle Übel kommen, und doch leiden sie aus eigenem Unverstand und über ihr Schicksalslos hinaus, so wie jetzt Aigisthos, der trotz unserer Warnungen die Frau des Atriden geheiratet und ihn selbst ermordet hat …“ (Od. 1,32–39). Für „Un-
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verstand“ steht hier dieselbe Vokabel, die auch der reuige Hektor gebraucht, atasthalie¯, das mit dem Wort für Verblendung, ate¯, stammverwandt ist. Von dem ruchlosen Mörder Agamemnons hebt sich Odysseus positiv ab, und so bringt jetzt Athene die Verbesserung von dessen Schicksal ins Gespräch. Zeus stimmt zu, und neben Hermes wird sich vor allem Athene selbst mit der Einleitung der nötigen Schritte und dem Schutz des Helden befassen. Ihr erst unsichtbares, dann immer wieder leibhaftiges Eingreifen in das Geschehen bildet die Hauptlinie des göttlichen Planens bis zum Ende des Epos, bis Odysseus in die Heimat zurückgekehrt, die Schuld der Freier gesühnt und die soziale Harmonie wieder hergestellt ist. Auch die Gegenaktion auf göttlicher Ebene ist vorhanden, um die Rückschläge und Hemmnisse auf dieser Bahn zu motivieren, im Wesentlichen auf das Eingreifen des Poseidon beschränkt. Der Rechtsgrund für seine wie auch des Helios Rache an Odysseus sind dessen sehr viel verzeihlichere Vergehen, wie die Blendung Polyphems und das Massaker seiner Gefährten an den heiligen Rindern. Die Unheilslinie der Odyssee endet in dem Gespräch zwischen Zeus und Poseidon im 13. Buch, wo sich Letzterer mit dem Plan seines Bruders abfindet: „Jetzt habe ich zugelassen, dass Odysseus nach vielen Leiden heimkommt, denn ganz wollte ich ihn nicht der Rückkehr berauben, da du sie ihm lange versprochen und zugesagt hast“ (Od. 13,131–133). Hingegen kann die positive Linie der göttlichen Gerechtigkeit erst im 24. Buch zur Ruhe kommen, nachdem die Seelen der bestraften Freier in der Unterwelt angekommen sind, der im 1. Buch herangezogene Vergleich mit Agamemnon und Aigisthos wieder aufgenommen und der Friede auf Ithaka wieder hergestellt ist, mit jenem allerletzten Satz des Epos: „Vertrag zwischen beiden bewirkte Pallas Athene, die Tochter des Zeus“. In einer solchen, im Vorstehenden kurz skizzierten äußerlich und innerlich doch recht einheitlichen Gestalt sind die Epen auf uns gekommen. Doch „je nach der Aufnahme durch den Leser haben Bücher so ihre Schicksale“. Diese Schicksale im Verlauf von bald 3000 Jahren mögen unterschiedlichen Entstehungsprozess, Verluste und Brüche, aber auch Zusätze und Retouchen mit sich gebracht haben. Erkennbare Mängel, Risse und Differenzen im Gesamtwerk könnten darauf zurückgeführt werden, dass gelegentlich auch Homer in Schlaf verfallen sein mag, dass er im Lauf seines Lebens, wenn er je gelebt hat, sein eigenes Werk überarbeitete, dass er dann die Ilias in voller Schaffenskraft, die Odyssee aber in der Altersmilde der untergehenden Sonne verfasste, oder dass die Letztere erst in späterer Zeit aus seiner Schule hervorging. Alle diese Überlegungen der eher unitarischen Richtung in der antiken und modernen Wissenschaft und mehr noch die weitergehenden Einzelanalysen sowie die Fragen nach den literarischen und historischen Quellen bis zurück in die Bronzezeit sollten jedoch den Griff des Lesers nach dem Buch allenfalls anregen, aber nicht lähmen oder gar verhindern.
Wiederherstellung der göttlichen Ordnung
Das Buch und seine Schicksale
Hypnos und Thanatos tragen den Leichnam Sarpedons
II. DICHTERISCHE KUNST- UND STILMITTEL Episches Beiwort, Formeln und Wiederholungen
„Formel“?
Jedem Leser auch nur einiger Seiten der Ilias oder Odyssee fällt auf, dass die Sprache stark von mehr oder weniger wörtlich wiederkehrenden Wendungen geprägt ist. Einzelne Wörter, halbe oder ganze Verse und Versgruppen, ja sogar längere Abschnitte wiederholen sich. Man hat nachgerechnet, dass etwa ein Drittel der Epen aus Wiederholungen besteht. Diese Formelhaftigkeit hat immer schon befremdet. Wo bleibt da die Originalität, die abwechslungsreiche Frische der Erfindung? Die analytisch zergliedernde Philologie sah darin meist stümperhafte Nachahmungen, „unechte“ Einlagen späterer Dichterlinge. Es galt, die „ursprüngliche Fassung“ von den „Imitationen“ zu trennen. Einen anderen Ansatz zur Erklärung des Phänomens suchten vor allem angelsächsische Forscher im vorigen Jahrhundert durch Vergleiche mit den Dichtungen serbokroatischer Sänger, die, aus einem großen Schatz von festen Wendungen schöpfend, aus dem Stegreif heraus mündlich ihre Lieder vortrugen, was auf eine ähnliche Praxis vorhomerischer Tradition schließen ließ. Diese mit derartigen empirischen Beobachtungen untermauerte Theorie übte eine große Faszination aus. Aber über dem Interesse an einer erschlossenen Liedüberlieferung, in der die Verse aus fertigen „Formeln“ wie aus Bausteinen zusammengesetzt wurden, vergaß man das kreative Element in den vorhandenen Epen, in denen unaufhörlich die, zweifellos existierenden, älteren Formen auf vielerlei Weise variiert und umspielt werden. Das erkennen wir gerade an den Wörtern, die seit der Antike lediglich als
Episches Beiwort, Formeln und Wiederholungen
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„schmückend“ bezeichnet worden sind, an den mit Personen und Dingen fest verbundenen Beiwörtern oder Epitheta. Einige von ihnen weisen tatsächlich auf vorhomerische naturreligiöse Vorstellungen, wie die „kuhäugige“ oder „großäugige“ (boo¯pis) Hera oder die „eulen-“ oder „helläugige“ (glauko¯pis) Athene. Beide Göttinnen haben allerdings auch noch andere Zunamen, wie die „listensinnende“ (dolophroneousa) Hera und die „vielratende“ (polyboulos) Athene, die wohl eher zu den im Epos gestalteten individuellen, menschenähnlichen Gottheiten passen. Eine bewegliche wortschöpferische Kraft äußert sich aber vor allem dann, wenn ein Wesenszug durch mehrere sinnähnliche Ausdrücke bezeichnet wird: die Götterbotin Iris ist „windfüßig“ (pode¯nemos) oder „sturmgeschwind“ (aellopos); ein anderes Beiwort, „goldflügelig“ (chrysopteros) erinnert unweigerlich an den leuchtenden Regenbogen, dessen Namen sie trägt (iris). Von den über zwanzig Attributen des Kriegsgottes Ares charakterisieren ihn die meisten als schrecklich: „furchtbar“ (deinos), „verhasst“ (stygeros); „menschenwürgend“ (brotoloigos), „tränenreich“ (polydakrys), „mordbefleckt“ (miaiphonos), „völkeraufstachelnd“ (laossoos) und besonders aufschlussreich „balddahin-bald-dorthin“ (alloprosallos). Der Schmiedegott Hephaistos ist ein missgestalteter Künstler, „krummfüßig“ (kyllopodio¯n) und „kunstberühmt“ (klytotechne¯s); wohl von diesen Beiwörtern hat sich Homer zu szenischer Ausgestaltung des Namens anregen lassen: Bei der Ankunft der Thetis „erhob sich die riesige Missgestalt hinkend auf die dünnen Beine; ihn stützten zwei goldene Dienerinnen, die lebendigen Mädchen glichen mit Verstand und Stimme“ (Il. 18,410–421). Am deutlichsten zeigt sich Homers Fähigkeit, Göttergestalten zu schaffen, an Zeus, wenn er von dem alten Wettergott, dem „Blitzeschleuderer“ (keraunios), „Donnerer“ (eribremete¯s) und „Wolkensammler“ (nephele¯gereta) übergeht zu dem „ratsinnenden“ „Vater der Menschen und Götter“, und ihn zugleich durch sein Wirken in den großen Szenen der Götterversammlungen veranschaulicht. Mit dem „dunkelhaarigen“ (kyanochaite¯s) Meeresgott Poseidon ist dagegen vor allem die Vorstellung des Erzeugers von Erdbeben verbunden, die des „Erderschütterers“ (enosichtho¯n, ennosigaios, gaie¯ochos), doch auch er ist in die Götterfamilie eingefügt, ebenso wie die „holdlächelnde“ (philommeide¯s) Liebesgöttin Aphrodite und Artemis, deren meiste Attribute sie mit der Jagd verbinden, die „bogentragende“ (toxophoros), „goldpfeilführende“ (chryse¯lakatos), „gutzielende“ (euskopos) „Jagdgöttin“ (agrotere¯). Auch die „frühgeborene“ (e¯rigeneia), „rosenfingrige“ (rhododaktylos), „krokosgewandige“ (krokopeplos) Eos ist aus dem Erleben des Naturphänomens Morgenröte, aufgefächert in seine drei Erscheinungsstadien, entstanden. Die Charakterisierung ist so anschaulich, dass sie in unserer Vorstellungswelt fest verwurzelt ist. Die gleiche Vielfalt feststehender Attribute und ihre szenische Gestaltung finden wir bei den Helden. Die Beinamen Achills und Hektors, der Protagonisten in der Ilias, sind in besonderem Maße szenisch ausgestaltet. Achill ist vor allem „schnellfüßig“. Obwohl er noch mit über fünfundzwanzig anderen Beiwörtern aus den Bereichen „Götternähe“, „Kampfkraft“ und „Ruhmesglanz“ ausgezeichnet wird, ruft keines so unweigerlich die Assoziation „Achill“ hervor wie „schnellfüßig“. Hinter der einen stereotypen Übersetzung verbergen sich allerdings zwei metrisch gleichwertige griechische Attribute, die nicht so sehr als „Synony-
Götterbeinamen
Heldenattribute
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Dichterische Kunst- und Stilmittel
me“ der metrischen Bequemlichkeit dienen, als vor allem sprachlich differenzierende Ausdrücke ermöglichen: podarke¯s ist vor allem der „schnelle Kämpfer“, podo¯ke¯s („fußschnell“) ist auch der feige Dolon. Möglicherweise gehört die Überlegenheit Achills im Lauf, von der auch sonst immer wieder geredet wird, in der Verbindung mit dem Wettrennen um die Stadt, zum ältesten Kern des trojanischen Sagenkreises. In der Ilias finden wir sie in der entscheidenden Schlussphase allerdings zu Ehren des gleichwertigen Gegners so relativiert, dass der verfolgende Achill den verfolgten Hektor nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch die Hilfe der Gottheit einholt (Il. 22,136–246). Die Szene hat später zu einem berühmten sophistischen Trugschluss geführt: Der schnelle Achill kann die langsame Schildkröte nicht einholen, weil sie ihm stets, wenn auch in immer kleiner werdenden Abständen, voraus ist. Mit Hektor scheint in der Sage von jeher ein besonders prunkvoller Helm verbunden zu sein, dreifach, mit Aufsatz, ein Geschenk Apollons (Il. 11,353). Der Held wurde also geradezu mit seiner Waffe identifiziert, ähnlich wie Ajas mit seinem gewaltigen Schild. Hektor erscheint daher als der „erzbehelmte“ (chalkokoryste¯s) und besonders der „helmbuschumwallte“ (korythaiolos) Hektor. Aus diesen Attributen hat Homer eine seiner eindrucksvollsten Schilderungen herausgesponnen: Beim Abschied von Andromache will Hektor seinen Sohn in die Arme nehmen, der aber versteckt sich schreiend an der Brust der Wärterin, denn „er fürchtete sich vor dem Helm und dem gewaltig wallenden Busch aus Rosshaar; da lachten Vater und Mutter, und Hektor nahm sogleich den Helm ab und setzte ihn auf den Boden, dann küsste er sein Kind“ (Il. 6,466–474). Des großen Ajas Eigenart als schützender „Wall der Achäer“ (herkos Achaio¯n) erleben wir in seinem nur widerwilligen Zurückweichen im 11. und 15. Buch bei dem zähen Kampf auf dem Deck des Schiffes, das bald darauf in Brand gesetzt wird. Auch hier wird eine Waffe zum Symbol; sein großer Turmschild („ein Schild wie ein Turm, ehern mit sieben Rindshäuten, ein Werk des besten Lederarbeiters“, Il. 7,219–221) bietet dem Stiefbruder Teukros Schutz bei dessen Pfeilschüssen: „Teukros spannte den Bogen hinter dem Schild des Ajas; der schob den Schild ein wenig zur Seite, Teukros zielte und sah um sich her; wenn er jemanden getroffen hatte, sprang er zurück, duckte sich und Ajas deckte ihn mit dem Schild“ (Il. 8,266–272). Des Odysseus herausragender Charakterzug, seine innere Wendigkeit, äußert sich nicht nur in einem, sondern in mehr als zehn Attributen, die ein geradezu sprachphilosophisches Umkreisen des psychologischen Phänomens zeigen und kaum zu übersetzen sind: poly-tropos, -me¯chanos, -me¯tis, -tlas; daí-, talasi-, dolo-phro¯n, „reich (poly-) an Gewandtheit, Hilfsmitteln, Einfällen und Geduld“; „ein Geist (-phro¯n) mit Erfahrung, Ausdauer und Schlauheit“. Die wesensgleiche Athene ist besonders erfinderisch, wenn sie ihren Liebling anredet: „gewinntüchtig, überschlau, einfallsbunt, umgänglich, scharfsinnig und geistreich“, kerdaleos, epiklopos, poikilome¯tis, epe¯te¯s, anchinoos, echephro¯n (Od. 13,291–332). Der besondere Aspekt des erfahrenen Ratgebers Nestor ist der des „Rosselenkers“ (hippote¯s, hippe¯lata), vielleicht schon von alters her, denn er beweist seine militärischen Kenntnisse vor allem in sachkundigen Ratschlägen bei der Aufstellung der Zweigespanne und ihrer Lenkung (Il. 4,297–310; 23,305–350).
Episches Beiwort, Formeln und Wiederholungen
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Nicht nur einzelne Helden, auch Stämme und Völkerschaften tragen kennzeichnende Attribute, wie die „erzgewandeten“, „gutbeschienten“ und „langhaarigen“ Achäer im Gegensatz zu den „pferdezähmenden“, „pferdeantreibenden“ Troern. Die Heroen erhalten keineswegs nur die eher spezifischen Beiwörter, sondern auch viele allgemeine, die sie in dieser oder jener Hinsicht aus der Sphäre der „heutigen“ Menschen herausheben: Sie sind „göttlich“, „göttergleich“, „zeusentstammt“ oder „zeusgeliebt“; „hochgemut“ und „hochherzig“, „mutig“ und „berühmt“, ihre Hände „unnahbar“ wie die des Zeus. Aber selbst hier scheint es eine Tendenz zu geben, einige Helden besonders auszuzeichnen und zu charakterisieren. Der verhängnisvolle Streit zu Beginn des Epos entsteht, weil Achill „kampfkräftiger“ (karteros) ist als der ihm gegenüber „mächtigere“ (pherteros) Agamemnon (Il. 1,275–281). Seine Stärke hat er zuvor in vielen, für die Betroffenen leidvollen Eroberungen bewiesen, die ihm den Beinamen „Städtezerstörer“ eingebracht haben. Im Epos erleben wir sie drastisch in seinem Wüten gegen die Troer: Der aus dem fernen Päonien in Nordgriechenland stammende Asteropaios versteht es, mit zwei Speeren zugleich zu kämpfen; er verschießt beide gleichzeitig mit der rechten und linken Hand, Achill wirft ebenfalls seine riesige Waffe vergeblich, doch mit so gewaltiger Kraft, dass sie sich bis zur Hälfte hinter dem Päonier in die Uferböschung einbohrt. Der kann sie trotz dreimaligen Bemühens nicht herausziehen, noch sie abbrechen, und wird getötet (Il. 21,139–177). Bei Hektor spielt in der epischen Handlung vor allem seine Pferdekenntnis als „Pferdebändiger“ und „mutiger Wagenlenker“ eine Rolle; und er ist, zeitweilig begünstigt von Zeus, „männermordend“ (androphonos) wie Achill. Von dem Helden kann das Wort speziell auf die Hände übertragen werden, die ja die Handlung ausüben, so dass „die männermordenden Hände“ Achill kennzeichnen; und in der ergreifenden Begegnung der „Lösungsszene“ gewinnt das epische Beiwort schneidende Prägnanz: Priamos küsst Achills furchtbare „männermordende“ Hände, die ihm viele Söhne getötet haben, und er fleht um den Leichnam des Sohnes, habe er es doch über sich gebracht, bittend die Hände des „sohnesmordenden“ Mannes zu küssen (Il. 24,479; 506). Das besondere Kennzeichen homerischen Stils sind die stehenden Beiwörter aber vor allem, weil sie nicht nur Personen charakterisieren, sondern in reichhaltiger Fülle die Erscheinungen der Natur anschaulich machen: Landschaften, Berge und Gewässer, Tiere und Pflanzen. Sie geben auffällige Eigenarten präzise wieder: Wir sehen „schleppfüßige“ Rinder, „einzehige“ Pferde, „dickwollige“ Schafe und „schlanke“ Pappeln, „hochragende“ Fichten und „glattrindige“ Kirschbäume“; wir hören am „vielhallenden“ Gestade „strudelnde“ Wogen des „tosenden“ Meeres rauschen und „schrille“ Winde ihre „reißende“ Bahn dahinsausen; an den „lilienzarten“ Stimmen der Zikaden merken wir kaum, dass uns eine Synästhesie von Ton und Bild zugemutet wird. Auch Artefakte aller Art werden auf diese Weise deutlich: Wir glauben gern, dass „gewölbte“, „gutgedeckte“, vielrudrige Schiffe „schnell-“ und „meerdurchfahrend“ sind und dass mit „neugeschliffenen“, „langstieligen“ Äxten Eichen besonders effektiv gefällt werden können. Sowohl konkrete Gegenstände wie abstrakte Begriffe können durch Beiworte, die eigentlich ihre Wirkung bezeichnen, einen eigentümlichen, fast magischen Sinn erhalten, wie der „bittere“ Pfeil, der „tränenreiche“ Krieg.
Generelle Epitheta
Lebewesen
54 Artefakte
Komposita als Kurzvergleiche
Daktylische Epitheta
Dichterische Kunst- und Stilmittel
Manche Attribute sind so charakteristisch, dass sie ihrerseits die Nomina deuten und auch differenzieren. Wir sind gewohnt, die umkämpfte Stadt in der Ilias Troja zu nennen. Sie heißt im Epos aber Ilios, Troie¯ bezeichnet meist die Landschaft der Trojaner; nur gelegentlich kann es in einer Art Metonymie auch deren Hauptort benennen. Das verdeutlicht unter anderem der Trend der spezifischen Beiwörter: Ilios ist „heilig“ als Zentrum des Kultes der Athena Ilias, „steil“, „brauenartig“ und „windig“ wegen der Lage auf einem steil abfallenden Hügel, der dem stetigen Nordwind ausgesetzt ist, „pferdegut“ als Zentrum von Pferdezucht und Pferdehandel; Troie¯ aber ist „großschollig“ und „weiträumig“. Noch deutlicher wird uns die Bedeutungsdifferenz in konkreten räumlichen Schilderungen: Thersites beschimpft Agamemnon, er giere nur nach dem Gold, das ihm ein Troer aus Ilios bringe, weshalb ihn das Heer in Troie¯ allein lassen solle – das Gold kann nur aus der Stadt geholt, Agamemnon nur in der Ebene vor der Stadt, in der sein Heer lagert, zurückgelassen werden (Il. 2,216–238). Wie exakt ein Landschaftsname von dem des Hauptortes unterschieden wird, zeigt sich am Herrschaftsbereich des Menelaos, das „hohle, schluchtenreiche“ Lakedaimon ist die geographische Umgebung des Siedlungszentrums Sparta (Il. 2,581f.), die Bewohner heißen später immer „Lakedaimonier“, wie die von Ilios „Trojaner“. Bisher haben wir sowohl die häufig wie auch die selten verwendeten Beiwörter nebeneinander betrachtet. Vor allem an den letzteren erkennen wir die Freude an der Erfindung oder ganz bewussten Verwendung von meist zusammengesetzten Adjektiven. Manchmal sind es geradezu kurz gefasste Vergleiche oder sogar Gleichnisse. Das „lilienzarte“ Zirpen der Zikaden ist solch ein Kurz-Vergleich, ein veritables Gleichnis verbirgt sich hinter der Wendung „kummerstillende“ Brust (Il. 22,83). Das Beiwort könnte sich auch zu einem der gelegentlich gestalteten Kindergleichnisse entfalten, etwa so: „wie eine Mutter dem schreienden Kind die Brust reicht, und sein Kummer ist gestillt, und ruhig schläft es in ihrem Arm“. Übrigens haben die Homerübersetzer seit Johann Heinrich Voß in ihrem intensiven Bemühen um eine adäquate Übertragung eine Fülle von Komposita geschaffen und populär gemacht, die die deutsche Sprache vorher nicht gekannt hat: Formulierungen wie die „rosenfingrige“ Eos, der „helmbuschumwallte“ Hektor, die „kuhäugige“ Hera sind uns heute ganz geläufig. Es fällt auf, dass die meisten Epitheta in ihrer drei- und mehrsilbigen Form sich gut in das daktylische Versmaß des Hexameters einfügen: polyme¯tis Odysseus, rhododaktylos E¯o¯s. Dabei ist wohl kaum zu entscheiden, ob die griechische Sprache in ihrer Vielgliedrigkeit das Metrum hervorgerufen hat, wie etwa die starke Anfangsbetonung der althochdeutschen den Stabreim ermöglichen konnte, oder das Metrum den Impetus zur Schaffung von entsprechend passenden Wörtern verstärkt hat, so wie zweifellos der Reim seit seiner Übertragung von der lateinischen auf die deutsche Sprache die Freude am Finden gleich auslautender Wörter seit dem Mittelalter. Ein enger Zusammenhang von Sprache und Metrum ist jedenfalls nicht zu verkennen. Diese Fülle der Beiwörter erschließt sich erst dem langsam Lesenden: „Wie wenn von der breiten Schaufel auf der großen Tenne schwarzhäutige Bohnen springen oder Erbsen unter dem pfeifenden Wind und dem Schwung der Worfelnden, so flog von dem Panzer des ruhmvollen Menelaos weit abspringend in die Ferne der bittere Pfeil“ (Il. 13,588–592). Die auffällige Kumulation von Attributen, die man auch als Über-
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ladung empfinden kann, macht gerade den Prunk (kompos) der epischen Sprache aus. Den meisten Lesern der homerischen Epen fällt die feierlich-zeremonielle Art und Weise auf, in der der Dichter von seinen Helden spricht und in der sie sich untereinander anreden; das trifft auch auf die Götter zu. Zum besseren Verständnis könnte man zunächst einmal an ein Land denken, in dem das Königtum im öffentlichen Leben heute noch eine Rolle spielt: Die offizielle Anrede an die britische Königin Elisabeth II. lautet „Your Majesty“, „Elizabeth“ käme einer Beleidigung gleich. Dieser Hinweis mag zwar weiterhelfen, greift aber sicherlich zu kurz. Homers Helden entstammen nicht einer bestimmten historischen Epoche, und sie spiegeln auch nicht das getreue Abbild der Adelsgesellschaft seiner Zeit wider. Sie gehören einer eigengesetzlich stilisierten heroischen Dichtung an, und die Prädikate, mit denen sie glänzen wollen, heben sie über die „jetzt lebenden Menschen“ hinaus in die höhere Sphäre nahe den Göttern. Die Helden können außer ihrem Eigennamen noch den des Vaters, Großvaters oder Stammvaters führen, also eine kleine Ahnentafel. Das äußert sich dann als „Sohn des …, Enkel des …, Nachkomme des …“, in adjektivischer Ableitung „-ide“, „-iade“, „-tiade“: der Pelide oder Peliade Achill ist der Sohn des Peleus, der Laertiade Odysseus Sohn des Laertes und die Atriden Agamemnon und Menelaos sind die Söhne des Atreus, die Priamiden die Söhne des Priamos. Des Priamos Zuname Dardanide weist auf den Urahnen des Geschlechts, Dardanos, von dem die Dardaner und die Troer abstammen; der Name seines frevlerischen Vaters Laomedon kommt vor, wird aber verständlicherweise eher vermieden. Selbst die weniger bekannten Helden werden so aufwendig vorgestellt: der Thalysiade Echepolos, der Chalkodontiade Elephenor; auch sie haben oder erhalten einen würdigen Stammbaum und damit Ansehen und eine eigene Vergangenheit. Die genealogischen Bezüge gehören ja ausdrücklich zum Wesen des Mythos. Oft wird nur der Vatersname genannt; die Hörer Homers müssen also gewusst haben, dass mit dem Menoitiaden, wie er bei der ersten Erwähnung (Il. 1,307) ganz beiläufig heißt, kein anderer als Patroklos, der Sohn des Menoitios, gemeint war. Wenn andererseits Odysseus von sich schon in der Ilias als dem Vater des Telemachos spricht, weist das darauf hin, dass die Funktion des Telemachos als Wahrer des häuslichen Erbes gegenüber den Freiern seiner Mutter im Mythos bekannt, Odysseus also auch als dessen stolzer Vater definiert war (Il. 2,260; 4,354). Die Herkunftsangabe stellt den Helden in einen bestimmten, durch die Sage vorgegebenen Familienzusammenhang, an den die Namen der Urväter die Hörer erinnerten: Bei den „Atriden“ geht es über Atreus und Pelops zurück bis zu Tantalos, eine Art Stammbaum hängt am ererbten Zepter des Agamemnon, das seine Herrschaft über Argos und Argeier begründet (Il. 2,101–109). Der „Tydide“ Diomedes erinnert durch seinen Vater Tydeus an den Zug der Sieben gegen Theben, und der „Pelide“ Achill wird als „Aiakide“ über Aiakos bis auf Zeus zurückgeführt. Adel verpflichtet: Diomedes steht mit seinem Vater ständig im Wettstreit, Machaon ist als Sohn des heilkundigen Asklepios selbst Arzt, Priamos beruft sich lieber auf Dardanos als auf Laomedon, dessen Wortbruch Trojas erste Zerstörung durch Herakles bewirkt hat (Il. 5,637–642). Auch die Gleichberechtigung der Frau ist schon auf den Weg gebracht. Besonders herausragende Heroinen tragen den Vatersnamen in der Form „Tochter des …“: Pe-
Ehrende Anredeformen
Vatersnamen der Heroen und Heroinen
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Titulaturen
Namensanrede und attributive Erweiterung
Schimpfworte
Dichterische Kunst- und Stilmittel
nelope „Tochter des Ikarios“, Klytämnestra „Tochter des Tyndareos“, Helena „Tochter des Zeus“. Übrigens erhebt Hera selbst Anspruch auf einen standesgemäßen olympischen Pedigree, wenn sie gegen den „Kroniden“ Zeus ihre gleichrangige Abstammung von Kronos betont (Il. 4,25; 58f.). Den Eigennamen werden oft charakterisierende Zunamen beigefügt, die zu formelhaften Sammeltitulaturen geworden sind: „Atride, ruhmvollster, Herr der Männer, Agamemnon!“, „Zeusentsprossener Laertiade, erfindungsreicher Odysseus!“ Dennoch ist es meist unverkennbar, dass die Art der Anrede aus der Situation erwächst und die Wahl des betreffenden Beiworts ihr dann entspricht: Agamemnon schilt bei der Heeresmusterung zwei müßig dastehende Krieger: „Sohn des Peteos, des zeusgenährten Königs, und du, in schlimmen Listen Bewanderter, Gewinnbedachter!“ Odysseus – denn der ist neben Menestheus vor allem angesprochen – fährt auf, Agamemnon lächelt und geht über zur Anrede mit rühmender Titulatur: „Zeusentsprossener Laertiade, erfindungsreicher Odysseus!“ In der namenlosen Anfuhr steckt ein Tadel, der durch die Hervorhebung der negativen Züge im Verhalten des Helden in der Tragödie zum bestimmenden Image des Odysseus führen konnte. Die ehrende volle Anrede beschwichtigt den Empörten wieder; Agamemnon hat seine Absicht, zum Kampf aufzureizen, erreicht (Il. 4,338f.; 358). Der schlichte Gebrauch des einfachen Namens drückt dagegen familiäre Vertrautheit aus, wie in der beschwörenden Rede des alten Erziehers Phönix: „Strahlender Achilleus!“, „Aber Achilleus!“, „Aber Achilleus!“ (Il. 9,434; 496; 513). Wenn im Streit überhaupt kein Name mehr fällt, liegt darin die gesteigerte Erregung: „Flieh doch, wenn du willst!“ – „Ich wäre ja feige und nichtswürdig, wenn ich …!“ (Il. 1,173; 293). Zeus verbietet machtvoll den Göttern jede Teilnahme am Kampf, alle schweigen betreten, nur Athene wagt bedachtsam eine Anrede, durch die sie die Überlegenheit des Familienoberhaupts anerkennt: „Unser Vater, Kronide, höchster der Herrschenden!“ (Il. 8,31); schmeichelnd bittet Hera Aphrodite um ihren Liebesgürtel: „Willst du mir wohl, liebes Kind, einen Gefallen tun?“, worauf diese ehrfurchtsvoll erwidert: „Here, würdige Göttin, Tochter des großen Kronos! Sag mir, wofür willst du ihn?“ (Il. 14,190; 194); Zeus erwacht und ruft wütend: „Du widerspenstige Here!“ (Il. 15,14). In der Anrede können die Namensattribute bald der Schmeichelei, bald der Anklage dienen. Das Gegenteil der beschwichtigenden Ehrentitel sind die herausfordernden Beschimpfungen. Durch sie sollen die Krieger ebenso zum Kampf aufgestachelt werden wie durch die schlicht positiven Aufrufe der achäischen Führer in den dramatischen Momenten vor dem Endkampf um die Schiffe: „Seid Männer!“ (Il. 15,661; 733). Aber die Einfälle der Schimpfwortphantasie sind viel kreativer. Achill folgt der Aufforderung Athenes, sich auf die Beschimpfung Agamemnons zu beschränken, statt ihn niederzuschlagen, nach Herzenslust: „Betrunkener! Hundsäugiger! Hirschherziger!“ „Du Volksverschlinger!“ (Il. 1,225; 231). Der Aufrührer Thersites wendet sich in seiner Schimpfkanonade von Agamemnon den Achäern zu: „Ihr Schwächlinge! Feiglinge! Achäerinnen, nicht Achäer!“, worauf ihn Odysseus „Maulfechter!“ nennt (Il. 2,235; 246). Paris tritt herausfordernd aus der Reihe der Kämpfer hervor, zieht sich aber vor Menelaos erschreckt zu ihnen zurück; darauf Hektor: „Übel-Paris! Schönling! Weibstoller Verführer!“. Dieser Ruf haftet Paris an; Hektor wiederholt ihn,
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als er auf ihn im heftigen Gefecht trifft, aber diesmal kann Paris den Vorwurf zurückweisen (Il. 3,39; 13,769). Helena nennt sich selbstanklägerisch eine „Hundsäugige“. Auch die Götter werfen sich bissige Worte zu. Athene führt den tobenden Ares vom Schlachtfeld hinweg an den Skamander: „Ares, Ares! Menschenvernichter! Blutbefleckter! Mauerzertrümmerer!“ Mit denselben vorwurfsvollen Worten holt ihn Apollon später wieder zurück (Il. 5,31; 455). „Hundsfliege!“ ist eine gängige Bezeichnung bei Auseinandersetzungen in der Götterfamilie; so nennt Ares seine Halbschwester Athene, und Hera ihre Stieftochter Aphrodite (Il. 21,394; 421). In Epen vom Ausmaß der homerischen und bei der Art ihrer Überlieferung über Jahrhunderte hinweg ist es nahe liegend, dass Formulierungen und ganze Verse sich wiederholen, wenn der einfache Sachverhalt als solcher es ermöglicht. In den Schilderungen von Einzelkämpfen des ersten Kampftages lesen wir vom Tod eines Troers Adrestos: „Er selbst aber wurde neben dem Rad aus dem Wagen geschleudert“, den gleichen Vers beim Wagenrennen zu Ehren des toten Patroklos vom Unfall des Eumelos (Il. 6,42 = 23,394). Die Fortsetzung allerdings ist schon wieder der Situation angepasst verändert: Der tote Adrestos fällt „vornüber in den Staub auf den Mund“, Eumelos „wurde zerschunden an den Armen, am Mund und der Nase und schlug sich die Stirn auf über den Brauen, und seine Augen füllten sich mit Tränen …“ Im Großen und Ganzen sind es bestimmte gleich bleibende Situationen, in denen auf feste, einmal geprägte Wendungen zurückgegriffen wird. Zu ihnen gehören in erster Linie die Ankündigung und der Abschluss von Reden, in unserem alltäglichen Prosastil „Er sagte, ….“, „Nach diesen Worten …“; „Er antwortete …“ Bekannt, und doch immer wieder überraschend, sind dabei Ausdrücke wie „die geflügelten Worte“ (epea pteroenta) und „der Zaun der Zähne“ (herkos odonto¯n). Im Grunde genommen stecken auch hinter ihnen kurz gefasste Vergleiche, die einen ähnlichen geistigen Vorgang verraten. Indem die mit dem Substantiv bezeichnete Vorstellung assoziativ zu einer anderen übergleitet, gewinnt sie Anschaulichkeit: Der Gedanke an fliegende Vögel verleiht dem einmal ausgesprochenen „Wort“ ein Eigenleben im Sinn des raschen Entschwindens, des nicht mehr Einfangbaren. Ganz parallel dazu wird die stockende Rede, das Verstummen, mit der Formel ausgedrückt: „unbeflügelt blieb ihr die Rede“ (z.B. Od. 17,57). Diesen ausgeprägten Sinn hat die Wendung in dem Vers „Und … erhob die Stimme und sagte zu … die geflügelten Worte“ allerdings nicht mehr, sondern sie ist etwas abgeblasst zu der allgemeinen Einleitung einer direkten Rede geworden, ähnlich wie „… sagte das Wort und sprach es heraus“ im zweiten Teil des Halbverses. Auch der „Zaun der Zähne“ ist ein Kurz-Vergleich aus einer ähnlichen Vorstellungswelt: Die Zähne erinnern an einen Zaun, an ein Gehege; in diesem Fall geht die Assoziation direkt über zu Tieren, die darin eingesperrt sind und ausbrechen wollen, denn der ganze Vers lautet: „Welch ein Wort ist dem Zaun deiner Zähne entflohen?“ Im tadelnden Ton dieser Worte liegt ein Vorwurf des Sprechers: „Was hast du da gesagt! Das hättest du lieber für dich behalten sollen!“ Abgeschlossen werden die meisten Reden wie in unserem Sprachgebrauch durch ein einfaches „So sprach er (sie)“, „So sprachen sie“. Allerdings liebt der hohe Ton des Epos gelegentlich eine vollmundigere Wendung: „Ihm erwiderte und sprach …“ lautet in der Regel die Überleitung zum antwortenden Sprecher.
Formelverse
Einleitung und Abschluss von direkten Reden
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Abschluss von Vorgängen
Volksmenge
Dichterische Kunst- und Stilmittel
Helden haben einen hohen Mut (thymos). Er ist ihr emotionales Ich. Wenn sie in entscheidenden Situationen noch unentschlossen sind, stellen sie Überlegungen an, die stets in der Form eingeleitet werden: „Und er sprach zu seinem großherzigen Gemüt“. Das Selbstgespräch folgt dann gewöhnlich in der Ich-Form: „Soll ich …? Oder soll ich …?“ oder auch abwägend: „Wenn ich …, dann …; wenn ich aber …, dann …“ Den Abschluss bildet meist: „So sprach“, „So erwog er“. Das „großherzige Gemüt“ (megale¯to¯r thymos) ist also gleichsam der emotionale Ansprechpartner im internen Gespräch der Seelenkräfte. Auch Vorgangsschilderungen werden oft durch typische Wendungen beschlossen und zeremoniell abgerundet. In ihnen kann die eigentlich gleichförmige Wiederholung von Handlungen zugleich sinnfällig gemacht und überhöht werden. Ein alltägliches „Sie fingen an zu essen, und als sie satt waren, …“ lautet in der gehobenen epischen Formulierung: „Sie streckten die Hände aus zu den bereitstehenden Speisen. Als sie das Verlangen nach Speise und Trank gestillt hatten, …“ Kampfduelle enden oft: „dröhnend fiel er, und um ihn rasselten die Waffen“, oder „er stürzte vom Wagen, und das verhasste Todesdunkel ergriff ihn“; dabei sind zahlreiche Variationen durch Kombination der Halbverse mit anderen möglich. Markante Wegmarken wie der Feigenbaum in der Nähe des Grabmals des Ilos oder die Eiche am Skäischen Tor werden des Öfteren als knappe Formel evoziert: „Als Hektor zum Skäischen Tor und zur Eiche gekommen war“ – Skäisches Tor und Eiche bilden in der Formulierung eine optische und funktionale Einheit. Odysseus leitet in seiner Irrfahrtenerzählung von einem Abenteuer zum anderen gewöhnlich so über: „Sie stiegen rasch ein und setzten sich an die Ruderbänke, und als sie hintereinander saßen, schlugen sie die graue Salzflut mit den Rudern“. Die Weiterfahrt wird in zwei Versen zusammengefasst, die in ihrer prägnanten und kontrastierenden Kürze kaum adäquat übersetzt werden können: „Von dort fuhren wir weiter, betrübten Herzens, (zwar) froh dem Tod entronnen (zu sein), (aber betrübt, weil wir) liebe Gefährten verloren (hatten)“. Nicht nur Vorgänge, auch die unbestimmte Menge des Heeres hinter den im Vordergrund agierenden Haupthelden kommen in zusammenfassenden Bild- und Schilderungsformeln in den Blick: Die gesamte Ebene betrachten wir vom Idagipfel aus mit den Augen des Zeus, „der sah auf der Troer Stadt und die Schiffe der Achäer herab“, am Morgen der Kampftage im 8. und 11. Buch (Il. 8,52 = 11,83). Die Masse der Kämpfenden sehen wir im kompakten Aufprall der Heere auf engem Raum: „Zusammen stießen die rindsledernen Schilde, zusammen die Speere und das Ungestüm der Männer, der erzgepanzerten, und die gebuckelten Schilde drängten einander, und viel Getöse erhob sich, da war zugleich Wehklagen der Männer und Siegesgeschrei der Tötenden und der Getöteten, und es strömte von Blut die Erde“ (Il. 4,447–451 = 8,61–65). Die wörtliche Wiederholung der Schlachtgemälde-Formel markiert jeweils die Phase des Aufmarsches nach dem Eidbruch im 4. und zu Beginn des kurzen Kampftages im 8. Buch. Die Anhänger der Theorie von der mündlichen Überlieferung der epischen Dichtung haben solche gleich lautenden Abschnitte als besonders überzeugenden Beweis für die Technik der Dichter angeführt, die darin bestanden habe, feste Formulierungen in improvisierender Verknüpfung aus der Erinnerung heraus aneinander zu rei-
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hen. Zweifellos ist im homerischen Epos eine solche Vorgehensweise nicht zu verkennen. Doch ebenso deutlich ist es, dass gerade die wiederholten längeren Partien bestimmte Situationen im Gesamtgeschehen wie Bausteine markieren, wie etwa die Formierung der Achäer unter Poseidons Ermutigung im 13. und die der Myrmidonen unter Patroklos’ Führung im 16. Buch: „Es drängte sich Rundschild an Rundschild, Helm an Helm, Mann an Mann, und es berührten sich die Rosshaarbüsche der Helme mit ihren leuchtenden Bügeln bei jeder Bewegung, so dicht standen sie beieinander“ (Il. 13,131–133 = 16,215–217). Der Eindruck willkürlich eingesetzter Formeln wird jedenfalls abgeschwächt durch die Einbettung, die den Versen eine jeweils andere Sinnrichtung geben, ein Mutschöpfen unter göttlicher Einwirkung beim Kampf um die Mauer, die undurchdringliche Dichte der Phalanx des Myrmidonenheeres beim Kampf um die Schiffe: „Um die beiden Ajas stellten sich die Reihen kraftvoll auf, die hätte auch Ares nicht getadelt, noch auch die volkserregende Athene, denn die Besten hielten nun den Troern und Hektor stand“ (Il. 13,126–129) – „Die Reihen fügten sich dichter zusammen, wie ein Mann die Mauer eines Hauses mit dichten Steinen fügt, um die Winde abzuhalten“ (Il. 16,211–213). Eine feste Formel gibt es auch für die Wiedergabe des Volksgemurmels, der „öffentlichen Meinung“: „Und so sagte wohl öfters mancher“, der Achäer und der Troer beim Eidopfer (Il. 3,297), erweitert mit verdeutlichender Geste „und blickte dabei den andern neben sich an“ vor dem Eidbruch (Il. 4,81). Beim zähen Kampf um die Leiche des Patroklos werden auf diese Weise die Empfindungen „der erzgewandeten Achäer“ denen „der hochgemuten Troer“ gegenübergestellt (Il. 17,413; 420). Fast wie später der Chor in der griechischen Tragödie begleitet die Menge das Geschehen kommentierend und untermalend mit Gebet, Vorahnung und verzweifelter Entschlossenheit, aber nicht „im Chor“ gemeinsam sprechend, sondern als anonyme Einzelstimmen. Ab und zu stoßen wir auf ganze Abschnitte, die wörtlich wiederholt werden: Eine solche Passage ist die Beschreibung der Opferhandlung zur Versöhnung Apolls, der den Achäern die Pest gesandt hat, und die vor dem großen Heeresaufmarsch der Achäer (Il. 1,458–468 = 2,421–431). Die Wiederholung gibt die bis in jede einzelne Handlung festgelegte Zeremonie in ihrem exakten Verlauf wieder: Nach einem Gebet streuen die Opfernden Gerstenkörner, biegen die Kehlen der Opfertiere zurück, schlachten sie, ziehen das Fell ab, schneiden die Schenkel heraus, verhüllen sie mit doppelt gefalteter Fettschicht und legen Fleischstücke darauf. An diesem Punkt allerdings ist der Ritus bei dem Gebet an Apoll bedeutsam erweitert: Der Apollonpriester Chryses verbrennt das Opferfleisch über aufgeschichtetem Reisig und träufelt Wein darüber, und neben ihm halten junge Opferdiener fünfzinkige Gabelspieße in den Händen. Dann vollzieht sich die Vorbereitung des Mahls wiederum auf ähnliche Weise: Die Opfernden kosten von den Eingeweiden, zerstückeln das übrige Fleisch, stecken es auf die Bratspieße, braten es sorgfältig und ziehen es alles herunter. Der gleiche Handlungsablauf erfordert identische Verse, wenn er „korrekt“ sein soll. Solche festgelegten Handlungsschilderungen haben Philologen „typische Szenen“ genannt. Darunter verstehen sie die Schilderung von Standardsituationen, von Handlungen, die in gleicher Weise bei bestimmten Anlässen durchgeführt werden.
Opferriten
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Wappnungen
Gastliche Bewirtungen
Dichterische Kunst- und Stilmittel
In der Ilias gehört das Anlegen der Waffen vor der Schlacht, in der Odyssee die Aufnahme eines Fremden zu den typischen Szenen. Vor wichtigen Entscheidungskämpfen entfaltet der Dichter detailreiche Rüstungsszenen, gleichsam als „Ouvertüre“ großer Heldenauftritte: des Paris vor seinem Zweikampf mit Menelaos, des Agamemnon vor seiner großen Aristie am Hauptkampftag, des Patroklos bei seinem Ausrücken mit den Myrmidonen und schließlich des Achill vor seinem Rachezug (Il. 3,330–338; 11,17–46; 16,131–139; 19,359–364). Der Vorgang ist stets der gleiche: Nacheinander legen die Helden Beinschienen und Panzer an, schwingen das Schwert um die Schulter, ergreifen den Schild, setzen den Helm auf und nehmen zuletzt den Speer in die Hand. Dementsprechend wiederholen sich Verse und Versgruppen; vor allem sind es die, die sich auf die Beinschienen beziehen, da sie den Helden am wenigsten auszeichnen. Individuelle Akzente setzt der Dichter jedoch besonders bei der Schilderung von Panzer und Schild: Ein kleiner, aber charakterisierender Zug ist es, dass sich Paris den Panzer seines Bruders Lykaon anlegt, einen eigenen hat er offensichtlich nicht zur Hand; ausführlich aber werden wir über Herkunft und Bildung des Panzers und das bedrohliche Aussehen des Schildes informiert, den der König Agamemnon umlegt; und der von dem Schmiedegott Hephaistos angefertigte Schild Achills übertrifft alle Maßstäbe, sein Glanz strahlt weithin auf zum Äther. Der nächtliche Spähergang in der Dolonie ruft eine improvisierte Rüstung hervor: Diomedes und Odysseus haben ihre Waffen im Zelt liegen gelassen und erhalten leihweise die von Gefährten. Diese Ausnahmesituation benutzt der Dichter, um ausgefallene Stücke zu schildern, wie den Eberzahnhelm, den der Großvater des Odysseus geraubt hat und der nun wieder das Haupt des Enkels schützt, nachdem er auf Umwegen als Erbstück zu Meriones gelangt ist (Il. 10,266–271). Auf der göttlichen Ebene schließlich erfährt die Rüstungsszene ihre absolute Transzendenz, wenn Athene sich die Waffen ihres Vaters Zeus anlegt (Il. 5,733–747). Für den Seefahrer und Heimkehrer Odysseus ist die jeweilige Aufnahme am Ankunftsort eine Standardsituation, zu der es gehört, dass der Fremde als Gast – im Griechischen das gleiche Wort, xenos – bewirtet und dann nach Name und Herkunft in der festgelegten Form „Wer und woher bist du?“ gefragt wird. Diese Formel begegnet uns bereits im 1. Buch der Odyssee, wenn der junge Telemachos den alten Mentes begrüßt: „Willkommen, Gast, komm herein und iss, und dann erzähl uns, weshalb du hier bist“; Mentes wird sorgsam bewirtet, dann erst kommen die Erkundigungen: „Wer und woher bist du? Wer sind deine Eltern? Warum bist du nach Ithaka gekommen?“ Doch hat die Szene viel atmosphärische Eigenart, die sie über die förmliche Aufnahme eines völlig fremden Gastes hinaushebt, verbirgt sich doch in der Gestalt des Gastfreundes die Göttin Athene (Od. 1,118–177). Das festliche Gegenstück zu der Szene im 1. Buch ist im 8. Odysseus’ Aufnahme bei den Phäaken: Der unbekannte bittflehende Schiffbrüchige erhält eine reiche Abendmahlzeit, nach der die Königin Arete die üblichen Fragen stellt, aber um eine höchst bedeutungsvolle erweitert: „Wer und woher bist du? Wer hat dir diese Kleider gegeben?“ Odysseus beantwortet zunächst nur den zweiten Teil der Frage, die Nacht bricht herein und der Aufenthalt zieht sich über den ganzen nächsten Tag hin; am
Episches Beiwort, Formeln und Wiederholungen
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Abend erkundigt sich der König Alkinoos nach den Motiven des immer geheimnisvolleren Gastes, die ihn anscheinend so bekümmern und persönlich berühren, dass er bei den Troja-Liedern des Sängers in Tränen ausbricht; nun endlich nennt Odysseus seinen Namen: „Ich bin Odysseus, der Laertiade“ (Od. 7,245–9,20). Wiederum eine andere Variante bringt die Schilderung der Aufnahme bei dem Kyklopen Polyphem: Da der Riese nicht in seiner Höhle ist, wollen die Gefährten sich Käse und junge Ziegen und Schafe selber nehmen, aber Odysseus möchte die Gesetze des Gastrechts einhalten; Polyphem versorgt seine Tiere, entdeckt die Angekommenen und fragt: „Fremde, wer seid ihr? Woher kommt ihr? Warum? In Geschäften oder als Räuber?“ Odysseus antwortet zunächst vorsichtig allgemein, sie seien Teilnehmer des Trojazuges, die es hierher verschlagen habe, und beruft sich als Bittflehender auf Zeus, den Beschützer der Fremden; als er den Kyklopen, der am Vorabend bereits zwei der Gefährten restlos zum Abendessen verschlungen hat, mit ungemischtem Wein trunken gemacht hat, nennt er sich mit einem Namen, der lautlich an seinen wahren anklingt, ihm aber listig eine Bedeutung unterschiebt: „Outis (Odys-seus), Niemand ist mein Name“; erst bei der Abfahrt schreit er dem Geblendeten wütend und höhnisch zu: „Wenn dich einer fragt, wer dir das Auge geblendet hat, so sag, das war Odysseus, der Städtezerstörer, der Sohn des Laertes, der auf Ithaka wohnt!“ (Od. 9,216–293; 366; 504f.). Eine andere Art von wiederholten Passagen sind die Aufträge und Botschaften, sei es von Göttern oder von Menschen. Der jeweilige Bote erhält eine Mitteilung, die er einem Empfänger überbringen soll. Der Wortlaut entscheidet über die Wirkung, da ist es selbstverständlich, dass er genau so ausgerichtet werden muss, wie der Absender ihn formuliert hat, und der Leser soll dies auch wahrnehmen, sich in der Wiederholung alles einprägen. Die wörtliche Wiedergabe ist also sinnvoll, nicht etwa pedantisch oder nur durch die Bequemlichkeit des Dichters veranlasst. Es ist vor allem Zeus, der in den zentralen Phasen des Geschehens durch solche Botschaften eingreift: Um seine Zusage an Achill zu realisieren, sendet er Agamemnon einen Traumboten, unter dem nachdrücklichen Hinweis, die Worte „ganz genau darzulegen“. Den Inhalt des Auftrags wiederholt der Traum nach einer der Sachlage angemessenen Einleitung – „Du schläfst? Das darf ein verantwortungsbewusster Herrscher nicht!“ – Wort für Wort, wobei er sich als Gesandten des Zeus ausweist. Agamemnon reagiert sofort, kleidet sich an, beruft die Fürsten ein und trägt ihnen nun die ganze Rede des Boten vor, mitsamt der Einleitung und der Schlussformel; nur so ist er als Empfänger einer authentischen göttlichen Botschaft glaubwürdig, und die hier dreifache Wiederholung identischer Versgruppen steigert das Gewicht des Befehls (Il. 2,11–15 = 28–32; 23–34 = 60–70). Es hängt allerdings ganz vom Rang des Boten ab, ob ein Auftrag wörtlich ausgerichtet oder seine Ausführung dem Überbringer überlassen wird. Iris ist wesensgemäß Botin. Sie erhält und übermittelt daher in der Regel wörtliche Botschaften. Aber gerade sie als Göttin kann ihre Aufgabe auch diplomatisch verpackt übermitteln oder vor verfehlter Botschaft warnen. „Melde alles (was ich dir sage) und sei kein falscher Bote“, mit diesen Worten gibt ihr Zeus nach seinem Erwachen auf dem Ida den Auftrag, dem Poseidon den Befehl zu übermitteln, er solle das Schlachtfeld verlassen,
Aufträge und Botschaften
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Dichterische Kunst- und Stilmittel
andernfalls möge er bedenken, dass er, Zeus, ihm an Gewalt weit überlegen sei. Diesen Auftrag richtet Iris wörtlich aus; aber als Poseidon wütend auffährt, „So mag er seine Kinder herumkommandieren, ich bin gleichberechtigt!“, meint sie: „Soll ich deine Worte so dem Zeus überbringen? Oder gibst du nicht doch lieber nach?“, woraufhin Poseidon einlenkt (Il. 15,160–167 = 176–183). Sehr viel unabhängiger agiert die Zeustochter Athene. Wenn der Vater ihr einen Auftrag erteilt – etwa die Trojaner zum Eidbruch zu verleiten – so handelt es sich nicht um die sklavische Wiedergabe eines Befehls. Wie ein verderblicher Meteor stürmt sie vom Olymp aufs Schlachtfeld, „auch selbst schon voll Eifer“, und reizt den Pandaros mit eigenen Worten auf zum verräterischen Pfeilschuss (Il. 4,69–104). Schon eine kursorische Beschäftigung mit der Formelhaftigkeit im Epos lässt erkennen, dass sie als rein mechanisch bedingtes Phänomen nicht zureichend erklärt ist, sondern dass sie, in vielfältiger Weise variiert, wirkungsvoll eingesetzt wird.
Die Welt der Gleichnisse
Ein störendes Element?
Intensivierung durch Verselbständigung
Kontrastierung
Eine besonders auffällige Eigentümlichkeit der homerischen Epen sind die zahlreichen Gleichnisse. Sie nehmen nicht nur einen breiten Raum ein, sondern scheinen als blumige Arabesken den geradlinigen Verlauf der Ereignisse geradezu zu stören. Da wird ein Vorgang, dessen weiterer Verlauf den Leser interessiert, in einem spannenden Moment aufgehalten und der Blick auf einen meist ganz andersartigen gelenkt; der wird so ausführlich und anschaulich vergegenwärtigt, dass man den Faden zu verlieren droht und sich ärgerlich fragen könnte, wozu die Ablenkung gut sein soll, wenn man sich nicht an dem Umweg als solchem ergötzt hätte. Doch haben wir wirklich einen im Grunde unnötigen Umweg gemacht? Greifen wir ein beliebiges Beispiel heraus: „Hektor stürmte vor den Troern geradeaus her wie ein rollender Felsblock, der von der Kante herunter bricht, nachdem ein reißender Strom bei lang anhaltendem Regen den Felsen von unten her ausgehöhlt hat: hoch aufspringend poltert er hinab, der Wald kracht unter ihm, er aber rollt unentwegt weiter, bis er auf flachem Boden angelangt ist; da erst bleibt er notgedrungen liegen … so drängte Hektor zu den Schiffen der Achäer“ (Il. 13,136–144). Zunächst ist klar, dass es sich nicht um einen einfachen Vergleich handelt, weder der Person mit der Sache (Hektor gleicht nicht einem Felsblock) noch nur zweier Vorgänge (Hektor stürmt nicht vorwärts, wie ein Felsblock herabrollt). Vielmehr gewinnt die Hauptaktion dadurch an Intensität, dass die scheinbare Nebenaktion sich verselbstständigt: Der Felsbrocken poltert herab, zertrümmert Bäume, was ihn aber nicht aufhält; er rollt weiter, bis er im flachen Gelände liegen bleiben muss. Wenn wir nach der Schilderung des gewaltigen Naturereignisses wieder zu Hektor zurückkehren, hat sein unaufhaltsames Vorwärtsdrängen eine viel stärkere Dynamik gewonnen. Das im Gleichnis entfaltete Eigenleben wirkt auf den auslösenden Vorgang zurück, auch wenn es aus einem ganz anderen Bereich stammt; die Assoziation verblüfft, weil beide Bereiche kaum etwas gemeinsam haben: Athene wehrt den tödli-
Die Welt der Gleichnisse
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chen Pfeil vom Körper des Menelaos ab, „wie eine Mutter die Mücke von ihrem Kind abwehrt, wenn es in süßem Schlaf liegt“ (Il. 4,129–131); Apollon tritt die Ränder des Grabens und die Mauer nieder, „wie ein Kind seine am Strand gebauten Sandburgen mit Händen und Füßen spielerisch wieder umstürzt“ (Il. 15,355–366). Göttliches Handeln ist leicht und mühelos; das wird durch das Bild deutlicher als in der direkten Schilderung; besonders unmittelbar ist im zweiten die kontrastreiche Spannung zwischen dem gewaltigen Gott und dem spielenden Kind eingefangen. Manchmal wirkt die Assoziation auf den heutigen Leser fast zu drastisch; dem Hörer Homers ist sie wohl eher in ihrer Sachlichkeit zutreffend und anschaulich vorgekommen und hat auf ihn durch den Übergang in eine andere, oft alltägliche und triviale Sphäre gerade aus dem Gegensatz heraus vertiefend und originell unterhaltend gewirkt: Die Achäer und Troer zerren von allen Seiten am Leichnam des Patroklos, wie Gerber eine vom Fett getränkte Rinderhaut nach allen Seiten dehnen (Il. 17,389–395); ein sterbender Troer lässt seinen Kopf sinken wie eine Mohnpflanze (me¯ko¯n) ihre regenschwere Blütenknospe (Il. 8,306–308), ein andermal wird der abgeschlagene Kopf, in dem noch der Speer steckt, wie ein Mohnhaupt (ko¯deia) hochgehalten (Il. 14,499). Humoristische Züge tragen Gleichnisse aus der Kleintierwelt, die das Pathos der Heroenwelt mildern: Die Myrmidonen schwärmen in den Kampf wie Wespen aus ihren Nestern am Weg – Knaben reizen sie mutwillig auf oder unabsichtlich ein vorübergehender Wanderer, und sie fliegen auf, um ihre Brut zu schützen (Il. 16,259– 267); die Alten sitzen auf dem Skäischen Torturm wie Zikaden, die im Wald auf einem Baum sitzen und ihre lilienzarten Stimmen ertönen lassen (Il. 3,149–153); die Kämpfer wimmeln immer dicht um den Leichnam des Patroklos wie Fliegen im Frühling um die milchgefüllten Eimer (Il. 16,641–644). Aber meist ist es das wilde Kampfgetümmel, das an wilde Tiere im blutigen Kampf ums Dasein erinnert; an Löwen, die hungrig Hirsche oder wilde Ziegen verschlingen, obwohl sie von den Jägern gescheucht werden; an Hirsche, die vor den Jägern in dichtes Gehölz flüchten; an Schakale, die einen von einem Pfeil getroffenen Hirsch zerfleischen. Es liegt am Thema Krieg, dass sich in der Ilias, und hier wieder in den Schilderungen der zähen Gefechte in den Büchern 15–17 die Raubtiergleichnisse häufen (über 50 Gleichnisbilder!). Gerade solche Gleichnisse entfalten ein besonders drastisches Eigenleben, das weit vom Schlachtfeld wegführt: Die Myrmidonen rüsten sich kampfbegierig „wie wehrhafte Wölfe, die einen großen Hirsch erlegt haben und ihn verschlingen; das Blut tropft ihnen an den Lefzen herunter; sie laufen im Rudel zu einer Quelle und saufen mit ihren langen Zungen aus dem dunklen Wasserspiegel und würgen dabei das Mordblut heraus; der Mut erzittert ihnen nicht, und ihr Magen knurrt“ (Il. 16,155–163). Wie weit sich der im Gleichnis entwickelte Vorgang von der verglichenen Hauptaktion entfernen kann, zeigt eine der interessantesten Verhaltensschilderungen wilder Tiere: Die Troer drängen sich um den verwundeten Odysseus „wie fahle Schakale in den Bergen um einen gehörnten Hirsch, den ein Mann mit einem Pfeil getroffen hat; dem ist er zwar auf eiligen Füßen entronnen, solange das Blut noch warm war und seine Knie sich regten; aber sobald ihn der schnelle Pfeil bezwungen hat, zerfleischen
Drastik
Kämpfe erinnern an wilde Tiere
Verschiebung des Vergleichspunkts
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Naturkatastrophen und Alltagssorgen
Abenteuer sind dramatisch genug
Dichterische Kunst- und Stilmittel
ihn die blutgierigen Schakale in einem schattigen Waldstück. Doch da führt ein Gott einen reißenden Löwen plötzlich herbei, die Schakale fliehen auseinander, und der frisst“ (Il. 11,474–481). Zunächst scheint der Vergleich klar: Die Troer umdrängen den verwundeten Odysseus wie die Schakale den verwundeten Hirsch, der eine Weile noch fliehen, so wie der Held standhalten kann. Dann aber verselbstständigt sich der Tiervorgang mit einer plötzlichen Wendung der Ereignisse: Unerwarteterweise naht ein Löwe, vor dem die Schakale fliehen, so dass er in Ruhe fressen kann. Wer mit dem Löwen gemeint ist, erfährt man erst nachher: Ajas naht mit seinem Turmschild, die Troer fliehen und der Held ist gerettet. Die Betrachtung des Tierverhaltens im Überlebenskampf ist zu einem Selbstläufer geworden, durch den die zuvor klar scheinende Identifizierung des Helden mit dem Hirsch verdrängt wird im Gedanken an Rettung aus der Bedrängnis; der Vergleichspunkt hat sich verschoben. Besonders die Gleichnisse, die das Verhalten wilder Tiere beschreiben, zeigen zugleich auch die Freude des Erzählers und die Virtuosität des Künstlers in immer neuen Variationen, je nachdem, welcher Aspekt verdeutlicht werden soll: der Einbruch in eine Herde, die Abwehr durch Hunde und Hirten, das Verschlingen der Beute oder der Kampf zweier Tiere untereinander. Frappierend aber wirkt es auch, wenn das Schlachtengetümmel oder auch sein Stillstand mit Naturkatastrophen oder Alltagsstreitereien und Bürgersorgen verglichen wird: Das Geschrei von aufeinander prallenden Kriegern kann dröhnen wie Schmelzgewässer, die von den Bergen herab in einen Kessel stürzen; eine festgefahrene Situation erweckt in ihrer Statik die Vorstellung von drohenden Gewitterwolken bei Windstille über einem Gebirge, das Ringen um die Brustwehr kann mit dem Streit zweier Bauern um die Feldergrenze verglichen werden, und sein unentschiedener Gleichstand mit einer Waage, auf der eine Spinnerin die Wolle möglichst genau abwiegt, weil sie den geringen Lohn für ihre Kinder braucht. Die Odyssee macht vom Kunstmittel des Gleichnisses insgesamt viel weniger Gebrauch als die Ilias – knapp 50 gegenüber mehr als 200! – und sie sind selten so breit ausgestaltet. Ihre Welt setzt auch hier andere Schwerpunkte. Es mag am Thema Irrfahrt und Heimkehr sowie der größeren Bedeutung des zivilen Alltagslebens liegen, dass Gleichnisse mit wilden Tieren viel seltener sind. Auf seinen Fahrten erlebt der Held so seltsame Abenteuer und gerät in so gewaltige Stürme, dass dies kaum noch durch Gleichnisse gesteigert wiederzugeben wäre. Die Assoziation verläuft hier bisweilen gerade umgekehrt: Bei der Zauberin Kirke gehen Löwen und Wölfe schwanzwedelnd auf die Gefährten zu wie Hunde auf ihren Herrn, sie sind ja auch verwandelte Menschen … (Od. 10,212–215). Und nicht die zerstörende Gewalt von Sturm und Unwetter, sondern die Rettung aus ihnen wird verdeutlicht: Schiffbrüchigen erscheint das Land so willkommen wie Penelope der Gatte (Od. 23,233–239). Dennoch überraschen den Leser auch in diesem Epos einige Gleichnisse von Löwen und Wildtieren. Ausgerechnet der kluge Odysseus kann gelegentlich einem Löwen gleichen, und zwar in seinem Kampf gegen die Freier: Vordeutend beruhigt Menelaos den Telemachos, Odysseus werde über die Freier hereinbrechen wie ein Löwe über eine Hirschkuh mit ihren Kälbern, die sich in seinem Lager gebettet haben (Od. 4,335–340); und nach der Tötung der Freier sitzt er da so blutbesudelt wie ein Löwe, der ein Rind gefressen hat (Od. 22,401–406).
Die Welt der Gleichnisse
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Im Übrigen aber ist es eher die Welt der Fischer und Bauern, die vergleichend in den Blick kommt; hier erstaunen einige besonders zutreffende Assoziationen: Odysseus schützt und vergräbt sich im Gebüsch in einem Blätterhaufen, wie jemand die Glut unter der Asche verbirgt (Od. 5,488–491); die untreuen Mägde lassen im Tod am Strang die Köpfe hängen wie Drosseln oder Tauben, die sich im Netz verfangen haben (Od. 22,468–471). Auch hier wird jeweils der Vorgang im Gleichnis mit einem Bild vergegenwärtigt, das in sich sachlich stimmt und eben dadurch das Verglichene treffend charakterisiert. Die Vorstellung „bewahrendes Verhüllen“ wird zutreffend verdeutlicht: Jemand deckt die Glut mit Asche zu, um sie am Leben zu erhalten, damit er nicht später von weither Feuer holen muss. Das einfache Bild „den Kopf in der Schlinge hängen lassen“ erweitert sich hier zu einem Vorgang, der sich vom Verglichenen wieder entfernt: Die Vögel verfangen sich auf dem Flug in ihre Nester in einem Netz, das in einem Gebüsch ausgespannt ist, die Mägde aber werden gehenkt. Die Gleichnisse in der Odyssee überraschen durch exakte und das erzählte Ereignis verstärkende Beobachtung: Wie der Polyp mit den Saugnäpfen sich so fest am Felsen anklammert, dass Steinchen an ihnen hängen bleiben, wenn man ihn aus seiner Höhle zieht, klammert sich Odysseus an das Riff, so dass Hautfetzen am Felsen hängen bleiben, wenn ihn die Wellen herunterzerren (Od. 5,432–435); oder wie Fledermäuse in einer Höhle aufgescheucht werden, wenn eine aus der Traube, in der sie aneinander hängen, herabgefallen ist, schwirren die Seelen der Freier in die Unterwelt (Od. 24,6–8). Die schier unerschöpfliche Phantasie des Dichters im Finden vielfältiger Gleichnisbilder zeigt sich, wenn im Zuge zunehmender Dramatik der Situation sich Vergleiche zu ganzen Ketten zusammendrängen, wie etwa beim Aufmarsch des Achäerheeres im zweiten Buch der Ilias: Die Krieger schwärmen aus zur Heeresversammlung wie Bienenschwärme aus einem hohlen Felsen; die Aufforderung Agamemnons zur Heimkehr versetzt die Menge in Aufruhr wie von Winden gepeitschte Meereswogen und wie unter dem Wind wogende Getreidefelder; dann aber kehrt sie tosend zurück wie Wellen, die sich an einem Felsvorsprung brechen; als man sich rüstet, glänzen die Waffen wie Feuer in einem hochgelegenen Bergwald. Der Truppenaufmarsch bringt eine weitere Steigerung: Von den Schiffen ergießt sich das Heer in die Ebene wie kreischende Vogelschwärme, die Massen füllen die Wiesen am Skamander wie Frühlingsblätter und -blumen und wimmeln dort herum wie Fliegen um die überquellenden Milchkübel, die Führer ordnen sie wie Ziegenhirten, die ihre Herden auseinander treiben, und Agamemnon, wie Zeus, Ares und Poseidon in einer Person, ragt unter ihnen hervor wie der Stier in der Rinderherde (Il. 2,86–90; 144–146; 207–210; 394– 397; 455–483). In der Fülle dieser Gleichnisse fängt der Dichter das Getümmel der Masse von Kämpfern ein. Das einzelne Gleichnis wird jeweils durch einen ganz speziellen visuellen oder akustischen Eindruck angeregt: Das Gleißen auf den Waffen erinnert an den Glanz eines Waldbrands, das Geschrei der Krieger an das Dröhnen von Brandungswellen; besonders das Hin- und Herlaufen der Massen ruft Assoziationen mit Wellen und Winden und mit schwärmenden Insekten und schreienden Vögeln her-
Die Welt der Fischer und Bauern
Besondere Pointen
Gleichnishäufung schafft Dynamik
Reiz der Synästhesien
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Ein langatmiger Wettlauf?
Dichterische Kunst- und Stilmittel
vor, die sich freilich in Nuancen voneinander unterscheiden: Die Bienen kommen unaufhörlich in immer neuen Scharen aus ihrer Felsenhöhlung hervor, die Gänse, Kraniche oder Schwäne schweben auf ihren ausgebreiteten Schwingen in Gruppen auf und nieder, die Fliegen schwirren lästig um den Milcheimer. Zuweilen geht der eine Sinneseindruck in einen anderen über: Die gleitenden Vogelschwärme lassen sich kreischend nieder. Auch hier entwickeln die Aktionen in den einzelnen Gleichnissen ein eigentlich überschüssiges Eigenleben, das zwar in sich stimmig ist, aber nicht mehr Zug um Zug mit dem verglichenen Vorgang übereinstimmt: Die Bienen fliegen aus dem hohlen Felsen hier- und dorthin zu den Blumen; das Feuer flammt vernichtend über den Wald hin auf; die Fliegen summen im Kuhstall um die von Milch triefenden Eimer. Dabei verstärken genaue Angaben die Vorstellung von realen und in der Realität lokalisierbaren Vorgängen: Auf dem Ikarischen Meer prallen Ost- und Südwind aufeinander; die Vogelschwärme treiben ihr Wesen auf den Wiesen am Kaystros. Die große Häufung der Gleichnisse bringt das äußere Getümmel und den inneren Aufruhr der Kriegerscharen eindringlicher zum Bewusstsein als eine einfache Schilderung, selbst mit Hilfe charakterisierender Beiwörter, es vermöchte, etwa wenn man sagen würde: Die Kämpfer stürmten scharenweise zur Versammlung, liefen aufgeregt zurück zu den Schiffen, stimmten dann aber laut schreiend dem Angriffsplan zu, legten ihre glänzenden Waffen an, rückten kampfbegierig in die Skamanderebene vor, ihre Führer stellten sie geordnet auf. Die Dynamik von Vorgängen wird durch Ketten von Gleichnissen in ihrer Wucht sinnenhaft verdeutlicht. Ein eindringliches Beispiel für die Wirkung von dicht aufeinander folgenden oder sogar unmittelbar aneinander gereihten Gleichnissen findet sich in der Schilderung vom Lauf Achills und Hektors um Troja. Hier vergegenwärtigen sie das lange, zähe und angespannte Rennen, und darüber hinaus nicht nur den Lauf als solchen, sondern auch dessen einzelne Phasen: In der ersten Phase wird die Flucht Hektors vor Achill deutlich: Zunächst erwartet er ihn zwar am Skäischen Tor kampfgierig, „wie eine von Giftkräutern vollgefressene Schlange in den Bergen einen Mann vor ihrem Loch erwartet“. Aber als Achill auf ihn zustürmt, „wie ein Falke in den Bergen sich leicht der Taube nachschwingt, die ängstlich vor ihm flieht“, flieht er, er wandelt sich im Gleichnis von der Giftschlange zur Taube (Il. 22,93–97; 139–143). In der zweiten Phase schwebt der Wettlauf eine Weile im Gleichstand: Beide Helden laufen um die Stadt, „wie sieggewohnte Pferde leichtfüßig die Arena umlaufen, weil ein bedeutender Preis ausgesetzt ist, ein Dreifuß oder eine Frau“; ab und zu versucht Hektor, zum rettenden Hintertor zu gelangen, aber vergeblich, „wie wenn ein Hirschkalb von einem Hund aus seinem Lager aufgescheucht, durch die Täler und Schluchten gejagt und jedes Mal, wenn es sich unter einen Strauch duckt, aufgespürt wird“; dennoch kann Achill ihn nicht einholen, „wie man im Traum einen Fliehenden nicht einholen kann“ (Il. 22,162–166; 189–193; 299–301). Die Gleichnisse beschwören das Phänomen Flucht und Verfolgung; in ihrer Reihung steigern sie sich in der Wirkung von der Angst um den Verfolgten zur Bewunderung für seine Leistung und lassen den Leser gespannt das Ende des Laufs erwarten.
Die Welt der Gleichnisse
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Tiere kämpfen mutig, gehen erbärmlich zugrunde, Naturkatastrophen vollziehen sich unerbittlich: Der Leser bewundert oder bemitleidet das Verhalten und das Schikksal der Lebewesen, und er betrachtet voll Grauen die Ereignisse. Wenn eine junge schlanke Pappel gefällt wird und nun vertrocknet am Flussufer liegt, bemitleidet er sie und mit ihr zugleich den jungen Krieger, der, an einem Fluss geboren, nach ihm benannt und nun wie sie gefallen ist (Il. 4,482–489). In seiner anrührenden Intensität löst das Gleichnis ein Empfinden aus, das sich auf den Hauptvorgang überträgt. Es ist also doppelt verankert im Geschehen: am Anfang durch die vom erzählten Ereignis evozierte Assoziation, in seiner Entfaltung durch seine Rückwirkung wieder auf das Ereignis der Haupthandlung. Das Mitempfinden des Lesers verstärkt sich, wenn ein Betrachter mit in das Geschehen einbezogen ist, mit dem er sich identifiziert, dessen Gefühle er auf das Geschick der Heroen überträgt. Ein Ziegenhirt sieht eine pechschwarze Sturmwolke über das Meer heranziehen; ihn packt ein Schauder, und mit ihm den Leser vor den heranrückenden Kämpfern (Il. 4,275–279). Die lebendige Vielfalt der Gleichnisse verlockt dazu, sie aus ihrem jeweiligen Kontext zu lösen und sie insgesamt als eine eigene, immer verfügbare Bezugsebene zu betrachten, denn dann zeigt sich, dass sie eine ganze Welt umfassen: den gestirnten Himmel, Wetter und Unwetter, zahme und wilde, große und kleine Tiere, Bäume und Sträucher, Felder und Wälder, Flüsse, Gebirge und Ebenen und die Menschen in ihrer Tätigkeit als Hirten, Bauern, Jäger und Künstler, Männer, Frauen und Kinder. Es ist die alltägliche natürliche Lebenswelt, und sie steht dem Leser dabei gleichsam wie ein Gegenbild zur überhöhten Welt der Heroen vor Augen. Wer würde schon erwarten, dass in einem pompösen Heldenepos mit seinen Göttern und Heroen, Leidenschaften und Abenteuern Heuschrecken, Grillen, Wespen, Bienen und Mücken sich tummeln? Dennoch bleibt ein jedes Gleichnis im epischen Stil voll integriert. Nur dort entfaltet es sein individuelles Eigenleben vor dem realen Hintergrund. Würde man andererseits die gesamte Welt der Gleichnisse eliminieren, so bliebe eine trockene Folge vordergründiger Ereignisse übrig. Ihre eigentliche Aussagekraft entfalten die Gleichnisse jedoch erst dann, wenn man sie in aller Ruhe sachlich und präzise nachvollzieht. Das mag das Beispiel des Bildes vom Mond und den Sternen zeigen, das später besonders in der Lyrik eine große Bedeutung bekommen hat. Dort pflegt der Mond gewöhnlich die Sterne zu überstrahlen als Symbol überragender Schönheit. Diesen Sinn wollte man auch einem berühmten homerischen Gleichnis unterschieben und hat den Dichter deshalb der Naturwidrigkeit bezichtigt, wenn er beide gleichermaßen leuchten lässt: „Wie wenn am Himmel die Sterne um den glänzenden Mond sich prächtig zeigen, wenn windstille Klarheit herrscht: es zeigen sich alle Warten und vorragenden Gipfel und Schluchten; denn vom Himmel ergießt sich unermessliche Klarheit, und alle Sterne sind zu sehen, und es freut sich der Hirte“ (Il. 8,555–561). Die Troer kampieren außerhalb der Stadt im freien Feld. Es ist Abend, und sie haben unzählige Wachfeuer angezündet. Dem Dichter kommt ein Nachthimmel in den Sinn, an dem die Sterne um den hellen Mond funkeln, wenn die Gegend bei Windstille von durchsichtiger Klarheit erfüllt ist. Sein geistiges Auge schweift umher:
Wirkung auf den Leser
Die Eigenwelt der Gleichnisse
Eine sternklare Nacht
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Dichterische Kunst- und Stilmittel
Alle Berge und Täler sind deutlich zu erkennen. Noch einmal wiederholt er nachdrücklich die seltene Erscheinung: Vom Himmel strömt Klarheit. Und er fügt dem Bild einen höher stehenden Betrachter ein, der den Eindruck bestätigt: Der Hirte auf seiner hochgelegenen Warte freut sich. Der zentrale Begriff des homerischen Textes ist aithe¯r. „Äther“ bezeichnet die durchsichtige Klarheit der oberen Luftschicht; unter ihm herrscht ae¯r, die dunstige, oft dunkle Luft. In manchen Mondnächten aber liegen alle Dinge im aithe¯r, und dann sind sogar trotz des glänzenden Mondes alle Sterne und unter ihnen die ganze Landschaft bis in die Ferne hinein klar zu sehen. Der auslösende Vergleichspunkt ist das Funkeln der unzähligen Wachfeuer in der Ebene, nicht der alles überstrahlende Glanz des Mondes, der bei konventionellem Bildgebrauch an die Schönheit der Geliebten erinnert, die alle anderen Mädchen übertrifft. Hier erreicht der Dichter einen Höhepunkt seiner Fähigkeit, traditionelle Metaphern mit höchster Präzision individuell umzudeuten und neu zu gestalten. Normalerweise überstrahlt der Mond tatsächlich, bei dunstiger Luft, die Sterne in seiner Umgebung. In einer überaus klaren Nacht aber kann man sogar neben dem hellen Licht des Mondes alle Sterne und jede Einzelheit der weit ausgebreiteten Landschaft erkennen, so wie die Lagerfeuer der Trojaner. Homer hat also mehr Naturerfahrung als seine pedantischen Kritiker, die allzu rasch mit dem Begriff „schmückendes Beiwort“ arbeiten. Auch bei Matthias Claudius ist es ein reales Naturbild, nicht konventionelle Formel: „Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen am Himmel hell und klar“, denn auch hier tritt die Landschaft ergänzend hinzu, „der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“ – das Gedicht ist 1779 entstanden, als man sich in Göttingen und Wandsbek intensiv mit Homerübersetzungen beschäftigte.
Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen
Hochschätzung der Redegabe
Der Epiker lässt seine Personen nicht nur handeln, sondern auch sprechen; die Wiedergabe wörtlicher Äußerungen gehört seit Homer genau so zum epischen Stil wie die Beschreibung von Aktionen. Nimmt man die Erzählungen der Sprecher hinzu, so machen die direkten Reden in der Odyssee über zwei Drittel, ca. 8000 von insgesamt ca. 12000 Versen, in der Ilias immerhin knapp die Hälfte, ca. 7000 von ca. 16000 Versen, des ganzen Epos aus. Freilich steht der Dichter als spiritus rector auch hinter den Worten seiner Protagonisten; er ist es, der sie sprechen lässt. Aber seine Vermittlung ist verdeckt, er versteckt sie hinter den unmittelbar wirkenden Reden. Wenn etwa der Aufrührer Thersites ausruft, „Atreus-Sohn, worüber beklagst du dich nun wieder? Wonach steht dir dein gieriger Sinn?“, dann ist zugleich der Hörer mit angesprochen und mittelbar einbezogen in die Gesprächsrunde, er hört mit zu. Homer nun schöpft dieses Stilmittel voll aus, und zwar zunächst einmal infolge einer hohen Einschätzung der Redegabe und des Redners. Es mag erstaunen, dass er dies ausgerechnet im Kriegs- und Kampfepos Ilias so häufig zum Ausdruck bringt. Einen jungen Menschen so heranzubilden, dass er nicht nur tapfer kämpfen, sondern
Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen
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auch gut reden kann, ist gerade in der Ilias ein pointiertes Erziehungsideal: Peleus hat seinem Sohn Achill den Phönix zum Begleiter nach Troja mitgegeben, damit er ihn lehren könne, „in Worten ein Redner und ein Täter in Taten“ zu sein, wie es Phönix prägnant formuliert (Il. 9,443). Wegen seiner Redegabe ist der alte Nestor, „der süß redende, tönende Redner“, hochberühmt (Il. 1,248). Ein guter Redner ist der, der in entscheidenden Situationen einen guten Rat geben kann, an Peleus preist Nestor, er sei „ein tüchtiger Ratgeber und Redner“ (Il. 7,126). Nestor muss das ja beurteilen können, denn er gilt als der Ratgeber schlechthin; er ist sich dessen auch bewusst und kritisiert andere Redner: „Du bist im Rat von deinen Altersgenossen der beste, aber du hast nicht alles bis zu Ende durchdacht“, weist er den Diomedes zurecht, denn den besten Rat kann nur derjenige geben, der eine Sachlage, besonders eine Zwangslage, am besten beurteilt. Jeder, auch der Oberfeldherr Agamemnon, muss auf den hören, „der den besten Rat zu erteilen weiß, denn den brauchen die Achäer dringend, da die Feinde schon so nahe bei den Schiffen sind“, sagt Nestor eindringlich (Il. 9,74–77), „Ratschläge beraten“ (boulas bouleuein) ist ein feststehender Ausdruck. Wegen dieser hohen Einschätzung des Ratens und Redens führt der Dichter in angespannten Situationen die Kämpfer zu breit angelegten Versammlungs- und Beratungsszenen zusammen. Sie bilden Eckpfeiler im Kampfgeschehen, zwischen denen der Leitfaden der inneren Entwicklung gespannt ist: Als die Pest wütet, ruft Achill die Krieger zusammen und fordert, man müsse einen Seher, Priester oder Traumdeuter befragen, der den Zorn Apollons deuten könne (1. Buch). Die Troer kampieren bereits am Graben; da rät Nestor, Gesandte zu Achill zu schicken, die ihn zu erneuter Teilnahme am Kampf umstimmen sollen (9. Buch). Als die Troer die Achäer, denen es gelungen war, den Leichnam des Patroklos ins Lager zu retten, doch wieder bis an den Graben verfolgen, ist es wiederum Achill, der zur Versammlung aufruft, mit dem Vorsatz, er wolle den Zwist beenden (19. Buch). Und schließlich findet nach dem Tod Hektors die Aussöhnung auch zwischen den Gegnern Achill und Priamos im Gespräch statt (24. Buch). In diesen großen Rede- und Gesprächspartien sind zwei charakteristische Richtungen keimartig angelegt, die sich in nachhomerischer Zeit zu getrennten Gattungen entwickelt haben: die Rede auf der Bühne und die Rede im öffentlichen Leben. Beide haben in späterer Zeit ihre theoretische Fundierung gefunden, das Drama in der Poetik, die öffentliche Rede in der Rhetorik. Wie in einem Drama aus vier Akten ist die innere Auseinandersetzung der Ilias in drei großen Versammlungen (Bücher 1, 9, 19) und einem abschließenden Gespräch (Buch 24) gestaltet: Im 1. Akt explodiert sogleich der Streit, der alle weitere Handlung der Bücher 2–8 auslöst; im 2. Akt hat der vergebliche Versuch einer Schlichtung im 9. Buch die Katastrophe der Bücher 11–18 zur Folge; im 3. Akt wird der Zorn zwar in Buch 19 äußerlich und offiziell, nicht aber persönlich beigelegt, und das ruft die Aktionen der Bücher 20–23 hervor; erst der 4. Akt bringt im 24. Buch den tatsächlichen Schluss: die einstigen Gegner ruhen im gleichen Haus – das Stück ist aus, der Vorhang fällt. Ein weiteres Bühnenelement ist die überschaubare Zahl der „Darsteller“. Meist reden zwei, drei, höchstens vier Personen mit- und gegeneinander, Achill, Agamemnon, Nestor und Kalchas, der allerdings nach einem kurzen Rede-
Redewechsel als Eckpfeiler der Handlung
Ein Drama aus vier Akten
Schauspieler und Statisten
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Regieanweisungen
Dichterische Kunst- und Stilmittel
wechsel hinter die anderen zurücktritt (Buch 1) – Achill und die drei Gesandten (Buch 9) – Achill, Agamemnon und Odysseus (Buch 19) – Achill und Priamos (Buch 24). Dazu kommt im 1. und 3. Akt eine beträchtliche Menge an „Statisten“, die stumm den Hintergrund beleben, nämlich die Krieger und später auch noch das technische Hilfspersonal; im 2. Akt ist Patroklos ein „stummer Zuhörer“, im Schlussakt verschwinden die anwesenden Gefährten ganz im Hintergrund, und die zwei Gesprächspartner befinden sich allein im Rampenlicht der Szene. Und schließlich verstärkt sich die Assoziation mit einem Bühnenstück dadurch, dass der Dichter ganz hinter die Äußerungen seiner Personen zurücktritt und sich nur auf Bemerkungen über Mienen und Gesten oder formelhaftes „so sprach er“, „er aber antwortete“ beschränkt; ja, er nimmt sich sogar so weit zurück, dass die Wendung des Sprechenden von einem Gesprächspartner zum anderen nur durch den Wechsel der Anrede zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise wirken seine sparsamen Bemerkungen wie Regieanweisungen in einem Schauspiel. In ihnen ist der dramatische Verlauf des Gesprächs eingefangen, so dass sich die Szenen mit geringer Mühe zum Text eines bühnenreifen Schauspiels umschreiben ließen. Die Anweisungen beginnen mit der Kulisse, Zeit und Ort des Bühnengeschehens sind klar angegeben. Sehen wir uns eine solche Darstellung des Streits im 1. Buch daraufhin an: Zehnter Tag der Pest; Versammlungsplatz im Schiffslager. Achill beruft eine Vollversammlung ein; die Krieger versammeln sich und stehen dicht gedrängt in Erwartung des Kommenden. Achill steht auf und tritt vor: „Atride, …“ Er setzt sich. Kalchas erhebt sich; er spricht vorsichtig: „Achilleus, …“ Achill: „Kalchas, …“ Kalchas spricht ermutigt: „…“ Er setzt sich. Agamemnon erhebt sich grimmig, er sieht Kalchas mit drohendem Blick an: „Unglücksseher! …“ Achill: „Ruhmvoller Atride, …“ Agamemnon: „Gottgleicher Achilleus, …“ Achill sieht ihn mit gerunzelter Stirn an: „Du Unverschämter! …“ Agamemnon: „…“ Achill überlegt, ob er Agamemnon mit dem Schwert erschlagen solle, zieht es aus der Scheide; Athene tritt von hinten an ihn heran und packt seinen Haarschopf; Achill erstarrt, wendet sich um und erkennt die Göttin, niemand sonst sieht sie: Achill: „Tochter des Zeus, …“ Athene: „…“ Achill: „Göttin, …“ Er steckt sein Schwert in die Scheide; Athene geht ab zum Olymp. Achill fährt Agamemnon mit harten Worten an: „Du feiger Trunkenbold! …“ (hält das Zepter hoch ) „…“ Er wirft das Zepter auf den Boden und setzt sich. Nestor springt auf und redet beschwichtigend: Nestor erhebt sich: „Ihr, …; du, Agamemnon, …; und du, Pelide, …; du, Atride, …“ Agamemnon: „Alter, …“ Achill fällt ihm ins Wort: „…“ Sie erheben sich streitend und lösen die Versammlung auf. Achill geht ab zu seinen Schiffen und Häusern, Agamemnon lässt ein Schiff in die Flut ziehen (Il.1, 54– 308).
Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen
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Auf dieser Bühne spielen die Akteure ihre vorgegebenen Rollen, die des jähzornigen jungen Helden, des herrschsüchtigen Königs, des weisen Alten, des ergebenen, ängstlichen Sehers. Reden und Gegenreden der einzelnen Akte erhalten nun ihre innere Dynamik durch zwei konträre seelisch-geistige Verhaltensweisen, nämlich leidenschaftliche Erregtheit im Gefühlsüberschwang und Wechsel oder Kontrast zu vernünftiger Selbstbeherrschung und Mäßigung. In der Versammlungsszene im ersten Buch bringt Achill in durchaus ruhigem Ton den von der Sachlage her gebotenen Vorschlag zur Befragung eines Sehers vor und beschwichtigt dessen Furcht vor dem zu erwartenden Zorn des Agamemnon. Der bricht tatsächlich aus, und nun steigern sich die beiden Kontrahenten in immer stärkere Aufregung hinein: „Chryseis gebe ich nur gegen eine andere her!“ – „Wo sollen wir die hernehmen?“ – „Von dir oder Ajas oder Odysseus!“ – „Dann fahre ich nach Phthia heim!“ – „Das ist mir egal! Ich gebe zwar Chryseis her, aber ich hole mir deine Briseis!“ Das treibt den Achill in eine solche Wut, dass er zum Schwert greift, um Agamemnon niederzuschlagen, der Gipfel leidenschaftlicher Aufgewühltheit ist erreicht, der zugleich aber auch ein Wendepunkt ist, denn Achill beherrscht sich und steckt das Schwert wieder in die Scheide. Der Dichter hat diesen äußerst dramatischen Moment mit dem Eingreifen der Göttin Athene motiviert, die ihn zur Besinnung ruft; gleichzeitig hat er mit der kurzen Szene die traditionsreiche Form der „abseits“ gespielten Szene geschaffen, denn „ihm allein war sie sichtbar, von den anderen sah sie niemand“. Immerhin setzt Achill den Streit in wüsten Beschimpfungen, „Trunkenbold! Hundsäugiger! Hirschherziger! Ausbeuter!“ und der folgenschweren Prophezeiung fort, „einst werden die Achäer sich nach mir sehnen und du wirst ihnen nichts nützen, wenn viele werden unter Hektors Händen fallen!“ Vergeblich mahnt der weise Nestor zum Einlenken, beide gehen im Streit auseinander. Im 19. Buch übernimmt Odysseus die Rolle des zur Vernunft Mahnenden: Achill gibt zwar bekannt, er werde die Ehrenkränkung hintanstellen und wieder am Kampf teilnehmen, aber in seinem aus dem Schmerz über den Tod des Patroklos geborenen Gefühlsüberschwang ist er keineswegs zur Mäßigung bereit und ruft Agamemnon zu, „Auf! Treibe die Achäer sofort in den Kampf!“ „Nein“, entgegnet ihm Odysseus, „erst müssen sie essen! Und währenddessen nimm du die Versöhnungsgaben des Herrschers an!“ Erst in der Gesprächsszene des 24. Buchs klingt die Erregung in einer elegischen Stimmung aus, die auch vom Wissen um den baldigen Tod der Redenden getragen ist. Ebenso offenkundig wie die Ansätze zu einer Bühnenkunst sind die zur kunstgemäßen öffentlichen Rede. Jeder Sprecher übt durch die Art und Weise seines Sprechens eine Wirkung auf seine Zuhörer aus, und das ist auch seine Absicht: Er will „überreden“, „überzeugen“ – im homerischen Wort peithein sind beide Bedeutungsnuancen noch nicht klar unterschieden –; das kann er durch emotional aufgeladenes, moralisch eindrucksvolles und vernünftig einlenkendes Sprechen erreichen. Die „Affekte“ (pathos), den „Charakter“ (e¯thos) und die Überlegung (logos) haben die Rhetoriker seit Aristoteles als die drei Wirkungsweisen des Redners definiert, durch die er seine Zuhörer für sich gewinnen kann. Nun sind die Helden Homers keine öffentlichen Redner; sie sprechen individuell ihrem Wesen und der Sachlage gemäß; in
Leidenschaft und Vernunft
Rhetorische Mittel: Pathos, Ethos, Logos
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Achill: Pathos im Sprachstil
Nestor: Pathos durch Ethos und Logos
Dichterische Kunst- und Stilmittel
jeder ihrer Reden mischen sich die drei Elemente. Dennoch überwiegt bei einzelnen Heroen und in einzelnen Situationen das eine oder andere, so dass die späteren Theoretiker hier durchaus greifbare Ansätze zu ihrer Anschauung haben erkennen können: Achill spricht meist in leidenschaftlichem Ton, Nestor überzeugt durch seine Persönlichkeit, und in der Beratung suchen die Teilnehmer eine Lösung durch einleuchtende Argumente. Die Helden im Epos sind auch keine autonomen Redner, sie sind vielmehr Sprecher ihres Dichters; und das zeigt sich besonders im Gebrauch stilistischer Kunstmittel, die auch ein noch so erregter Heros zu beherrschen scheint. Aber sie wirken nicht wie gezielt eingesetzte Glanzlichter, die den Effekt der Rede erhöhen sollen; vielmehr drücken sie die persönlichen Emotionen des Sprechenden seinem Gesprächspartner gegenüber aus, so wie sie in der speziellen Situation glaubhaft sind. Wie sie sich im Sprechen scheinbar ganz natürlich ergeben, zeigt sich etwa in Achills Antwort auf das Angebot Agamemnons zur Versöhnung (Il. 9,308–429), das Odysseus ihm soeben unterbreitet hat. Ohne dass er den Ausdruck verwendet, ist seine Rede ein geschickter Versuch, Achill zu überreden. Doch der will sich gerade nicht überreden lassen, und das will er auch offen heraus sagen (309f.). Spiralförmig schraubt er sich immer wieder zu dieser Aussage hoch, „nicht wird mich Agamemnon überreden“ (315), „nicht wird er mich überreden“ (345), „auch dann nicht wird Agamemnon mich überreden“ (386). In seiner Ablehnung steigert er sich erst zu immer stärker zugespitzten rhetorischen Fragen, die höhnischer als die vorherigen Aussagen wirken: „Warum müssen die Achäer gegen die Troer Krieg führen? Warum hat der Atreus-Sohn das Volk gesammelt und hierher geführt? Etwa nicht nur der Helena wegen? Lieben etwa nur die Atriden ihre Gattinnen?“ (337–341), bis er endlich in einem Schlussausbruch alle Angebote fundamental zurückweist, dessen Emphase durch vier phantastische Hyperbeln, die mit nicht weniger als acht Anaphern der Negationen oude und ou verbunden sind: „Nicht, wenn er mir zehn- oder zwanzigmal mehr böte als er selbst besitzt, und nicht, wenn es so viel wäre wie in Orchomenos und auch nicht, was im hunderttorigen Theben liegt, dessen Häuser mit Schätzen angefüllt sind; und auch nicht, wenn er mir so viele Gaben böte, wie es Sand- und Staubkörner gibt – auch so wird er mich nicht überreden, und seine Tochter werde ich nicht heiraten, sogar dann nicht, wenn sie so schön wie Aphrodite und so tüchtig wie Athene wäre, ich nehme sie nicht“ (379–391). Nestor dagegen setzt sich meist kraft seiner Persönlichkeit ohne langes Argumentieren durch: Seine Zustimmung zu dem Wahrheitsgehalt von Agamemnons Traum begründet er, „ihn hat der berühmteste Achäer gesehen“, und der Dichter meint lakonisch, „und alle gehorchten ihm“, oder „und ihnen gefielen seine Worte“, als Nestor die Gesandten bestimmt: „Deine Gaben, Atreus-Sohn, sind beträchtlich! Lasst uns Männer zu Achill senden; ich will sie aussuchen, und sie sollen gehorchen, Phönix, Ajas und Odysseus“. Doch er kann seinen Rat auch mit einer langatmigen Erzählung untermauern, wie die, mit der er den eiligen Patroklos doch nur aufzuhalten scheint, und er setzt sich durch und erreicht seine Zustimmung. Doch ist seiner Rede nicht selten die bewegte und bewegende Klage über sein Alter und die damit verbundene Schwäche beigemischt: „Wäre ich doch noch so jung und kräftig wie damals, als …“, und der Hinweis auf seine frühere Tapferkeit überzeugt die zögernden Helden ebenso
Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen
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wie die Klage: „Sie standen auf, neun im ganzen, Agamemnon, Diomedes …“ und melden sich zum Zweikampf mit Hektor (Il. 2,76–86; 9,162–174; 11,655–804; 7,123– 169). Den Gesprächspartner zu überreden ist in den Streitgesprächen der Fürsten die erklärte Absicht. Doch in akuten Gefahrensituationen kommen sie zusammen, um zu erörtern, was zu tun sei, wie etwa in der Begegnung der verwundeten Fürsten im Lager, die sich eher zufällig treffen, weil sie sich über die aktuelle Kriegslage informieren wollen; es entwickelt sich eine Beratung über die beste Möglichkeit, die Gefahr zu meistern. Man überlegt, macht Vorschläge, verwirft sie oder nimmt sie an. Die Argumentation ist das tragende Element der Szene, wobei wiederum die vorgebrachten Argumente dem Charakter des sie darlegenden Redners angepasst sind (Il. 14,1–134): Auf die Selbstbezichtigung des Oberkommandeurs Agamemnon, „jetzt werden sicher auch die anderen Achäer mir grollen“, rät Nestor, „lasst uns überlegen, was nun geschehen soll“. Agamemnon schlägt vor, zu fliehen, der in Sachen Kampfmoral erfahrene Odysseus weist den Vorschlag als unvernünftig und gefährlich zurück: „Du hast ja wohl den Verstand verloren, wenn du rätst, man solle mitten im Krieg die Schiffe ins Meer ziehen, damit die Troer noch mehr triumphieren, denn die Achäer werden dann vollends aufhören zu kämpfen“. Agamemnon gibt ihm Recht und fordert einen besseren Rat, gleichgültig, ob er von einem Jungen oder Alten vorgebracht werde. Sofort fühlt sich Diomedes angesprochen, er schlägt vor: „Kommt! Lasst uns wieder an der Schlacht teilnehmen, auch wenn wir verwundet sind; aber wir wollen nicht selber kämpfen, sondern die andern anfeuern“. Diesem Kompromiss stimmen alle zu. Diomedes überzeugt die Fürsten durch den mitreißenden Schwung seiner Rede. Doch es gibt auch eine ganz entgegengesetzte Art des Überredens: Der Redner geht auf die Gemütslage seines Gegenübers ein und gewinnt dessen Zustimmung, indem er die noch unausgesprochenen Gedanken hervorlockt. Diese Art der „Seelenführung“ (Psychagogie) wendet meist der alte Nestor an und beweist darin seine Menschenkenntnis, besonders erfolgreich, als er den Agamemnon, der eben noch hat fliehen wollen, dazu bringt, Achill seine eigene Schuld an ihrem Streit einzugestehen und ihm die Versöhnung anzubieten (Il. 9,96–113): „Ruhmreicher Atride, Herr der Männer Agamemnon“, beginnt er im Stil eines Zeushymnus, lobpreisend, „mit dir will ich enden, mit dir beginnen, denn du herrschst über viele Völker“, und begründet es, „denn dir hat Zeus das Zepter und die Gesetze gegeben, damit du Ratschläge erteilst“; von der einen Verpflichtung des Herrschers, Rat zu geben, kommt Nestor auf die zweite, Rat auch von anderen anzunehmen, und zwar von demjenigen, der immer schon den besten erteilt hat, nämlich von ihm selbst, Nestor; nun kann er den wunden Punkt berühren, „schon damals, als du dem zürnenden Achill die Briseis fortgenommen hast, was gar nicht nach meinem Sinn geschehen ist, denn ich habe dir vielfach abgeraten“ – damit erinnert er an seinen Beschwichtigungsversuch im ersten Buch –, in scharfen Worten tadelt er das Verhalten des Herrschers, „du aber hast den besten Mann, den selbst die Unsterblichen ehren, in seiner Ehre gekränkt“. Nun erst ist er so weit, sein eigentliches Anliegen vorzubringen: „Wir wollen überlegen, wie wir
Pathos der Argumentation
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Troerberatungen vernachlässigt?
Monolog: Leidenschaftliches Überlegen
Dichterische Kunst- und Stilmittel
Achill versöhnen und bereden können mit reichen Gaben und milden Worten“. Mit diesem diplomatischen Herantasten hat er Agamemnon umgestimmt, „weil ich verblendet meinem Eigensinn vertraut habe, will ich die Gaben nennen …“ Übrigens muss es jedem Leser auffallen, dass der Dichter den Troern keine so eingehend entwickelten Versammlungen und Beratungen zuteilt wie den Achäern, was ihm doch wohl möglich gewesen wäre. Zwar finden auch auf trojanischer Seite Versammlungen statt, aber sie bilden in ihrer gerafften Wiedergabe eher ein Anhängsel an die zuvor in lebhaften Redewechseln dargestellten Zusammenkünfte der Achäer, ähnlich wie die der Troer nach dem Schiffskatalog (Il. 1,786–808; 7,345–380; 414– 417). Auch Beratungen im kleinen Kreis der Fürsten gibt es nicht, abgesehen von der nächtlichen am Grabmal des Ilos, auf die der Späher Dolon nur in wenigen Worten hinweist (Il. 10,299–331). So sehr sich der Dichter um Objektivität bemüht, hier zeigt sich doch seine Sicht aus der Perspektive der Achäer. Bei den Troern tritt der eine Ratgeber Polydamas an die Stelle eines Beraterstabes; er legt in gefährlichen Situationen dem Kommandeur Hektor seine Beurteilung vor, die der billigt oder ablehnt, so dass die Unterredung jeweils nur aus einer einzigen Rede oder einer zusätzlichen Gegenrede besteht (Il. 12,60–80; 13,722–754; 18,243–310). Doch selbst in diesen kurzen Redewechseln geht es gar nicht so sehr um den Plan und seine Verwirklichung; es geht erst recht nicht um ein argumentierendes Hin und Her im Überlegen, sondern um die Rivalität zwischen Berater und Feldherr: „Immer fährst du mich an, wenn ich einen vernünftigen Rat in der Versammlung gebe“, kann sich Polydamas beschweren; „jetzt haben dich die Unsterblichen wohl um den Verstand gebracht, wenn du die Verheißung des Zeus vergessen hast! Was schert mich der Vogelflug!“ erwidert Hektor (Il. 12,199–251). Später bringt es Polydamas auf den Punkt: „Weil dir ein Gott in hohem Maße die Gabe zu Kriegstaten verliehen hat, willst du auch im Rat mehr wissen als andere“ (Il. 18,727f.). Letztlich verrät sich also doch im Zurücktreten argumentativer Beratungsszenen bei den Troern die leicht abschätzige Haltung des Dichters, die auch in der Schilderung ihres undisziplinierten lärmenden Ausmarsches zu Beginn des 3. Buches zum Ausdruck kommt. Abwägendes Argumentieren finden wir in besonders konzentrierter Form im Gespräch des Helden mit sich selbst, und gerade dies ist gewöhnlich von höchster Erregung geprägt. In äußerster Lebensgefahr überlegt der Held, was er tun soll; er denkt mehrere Möglichkeiten durch, erwägt ihre Nachteile und entscheidet sich dann. Trotz seiner rational klaren Beweisführung spricht er in leidenschaftlichem Ton, „o weh, was wird nun aus mir werden?“ beginnen fast alle Selbstgespräche. Odysseus ist von Feinden umringt, er überlegt kurz und knapp: „Ein großes Übel ist es, wenn ich fliehe, aber noch schlimmer, wenn die Troer mich fangen“, und er bricht mit den Worten „doch was rede ich da“ jedes weitere Nachdenken ab, indem er sich das allgemein und somit auch für ihn gültige Ideal ins Gedächtnis ruft, „nur der Feigling flieht, der Tapfere muss standhalten, gleich, ob er getroffen wird oder trifft“ (Il. 11,404–410). Hier zeigt sich der poetische Sinn eines solchen Selbstgesprächs: In der Entscheidung offenbart der Held seine Wertvorstellungen. Die Fähigkeit zu einer derartigen Selbsteinschätzung verleiht der Dichter besonders nachdrücklich Hektor vor seinem Tod: Bei der ersten Möglichkeit, „wenn ich mich hinter die Mauer zurückziehe“, erinnert
Reden, Redewechsel und Gesprächsszenen
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der Held sich an den selbst verschuldeten Vorwurf, der ihn treffen wird, „wird Polydamas mich als erster mit Schimpf beladen, er, der mir geraten hat, die Troer in die Stadt zu führen“, er erkennt bitter „das wäre doch wohl viel besser gewesen“, und fährt fort, „jetzt aber schäme ich mich vor den Troern und Troerinnen, die ich ins Verderben geführt habe“; fast zwangsläufig folgt die zweite Möglichkeit: „dann wäre es besser, im Kampf Achill zu töten oder von ihm ruhmvoll für mich im Angesicht aller getötet zu werden“. Eine dritte Variante wäre: „Wenn ich aber den Schild und den Helm ablege und den Speer an die Mauer lehne und zu Achill gehe und ihm Helena und die Schätze und obendrein noch die Hälfte des Besitzes der Stadt anbiete, und die Troer schwören lasse, nichts zu verstecken“ – hier bricht er ab: „doch was schwatze ich da!“, jedoch nicht ohne sich qualvoll ausgemalt zu haben, waffenlos werde er dann von Achill wie ein Weib getötet, eine Vorstellung, die ihn geradezu zur Kampfentscheidung zwingt, indem er alle bisherigen Überlegungen als bloßes Liebesgeplauder abtut: „besser ist es, so schnell wie möglich zu kämpfen!“ (Il. 22,99–130). Eine besonders dramatische Wirkung geht in der Odyssee davon aus, dass mehrere Selbstgespräche des gleichen Helden in ein und derselben Situation aufeinander folgen: Während seines Schiffbruchs erwägt Odysseus bei jeder neuen Wendung die Möglichkeiten richtigen Verhaltens, beim Ausbrechen des Sturms, bei der Zertrümmerung des Floßes, beim Anblick der Felsbrandung und nach der Rettung aus dem Fluss (Od. 5,299–312; 356–364; 408–423; 465–473). So erleben wir unmittelbar aus dem Blickwinkel des Helden den Verlauf des Geschehens. Aber mehr noch: Die vielerlei Kombinationen von Alternativen entsprechen dem Denkvermögen des wendigen Odysseus und zeigen zugleich die Kunst des Dichters in der Variation des Argumentierens. Die Odyssee bietet auch sonst eine breit gefächerte Vielfalt von Redewechseln. Sie reicht vom intimen Zwiegespräch bis zur erregten Vollversammlung, deren Kontrast uns gleich in den beiden ersten Büchern begegnet. In der Gestalt des alten Gastfreundes Mentes erscheint Athene am äußeren Tor des Odysseus-Hauses. Telemachos führt den Gast in die Halle zu einem Sessel und lässt ihm Speisen und Getränke vorsetzen. Zum Gesamtbild der Szene gehören zwar auch in diesem Fall „Statisten“, aber sie sind keine stummen Zuhörer, sondern lebhaft agierende Personen, die Freier: Zu Beginn würfeln sie im Hof, dann kommen sie in die Halle, tafeln und tanzen und hören einem die Leier spielenden Sänger zu. Vor diesem lauten Hintergrund entwickelt sich eine Unterhaltung, die „abseits“ in leisem Ton geführt wird. Unter der pädagogisch klugen Führung der Göttin erwacht der junge Telemachos gleichsam vom mutlosen Knaben zum entschlossenen jungen Mann: Auf seine deprimierte Klage über die lärmenden schmausenden Freier und den Tod des Vaters, „seine Gebeine sind wohl schon verfault“, deutet sie immer konkreter an, sie habe im Gegenteil gehört, er lebe, „er wird wohl noch auf einer fernen Insel zurückgehalten und, das prophezeie ich dir, er wird nicht mehr lange fern bleiben!“ und um seinen Mut zu wecken, lobt sie seine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Vater. Ihre Frage nach dem Anlass des üppigen Mahles treibt ihn zu einer genauen Begründung, die Freier seiner Mutter verzehrten sein Hab und Gut, und sie selbst sei noch unentschlossen. Mit dem Gedanken „Stell dir vor, dein Vater käme herein, das
Dramatische Wirkung einer Monologkette
Ein intimes Zwiegespräch
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Eine lebhafte Debatte
Dichterische Kunst- und Stilmittel
wäre der sichere Tod der Freier“ appelliert sie an seine Tatkraft, indem sie ihm genaue Handlungsvorschriften gibt, um die Bewerber los zu werden: „Ruf die Achäer zur Versammlung, befiehl den Freiern, auf ihre eigenen Güter zu gehen, und der Mutter, ins Haus ihres Vaters zurückzukehren, damit ihr dort Hochzeit und Mitgift vorbereitet werde; du fahre zuerst zu Nestor nach Pylos und dann zu Menelaos nach Sparta, um dich nach deinem Vater zu erkundigen; erfährst du, er sei tot, so richte ihm ein Grabmal und verheirate deine Mutter“, und sie geht sogar noch weiter: „Überlege, wie du die Freier töten kannst“. Mit der Feststellung, „du bist wahrhaftig nicht mehr in dem Alter zu spielen“, schließt sie, indem sie ihn an ein leuchtendes Vorbild erinnert, den gleichaltrigen Orest, der den Mörder seines Vaters getötet habe. Der Erfolg dieses Erziehungsgesprächs bleibt nicht aus, Telemachos tritt den Freiern mit energischen Worten entgegen (Od. 1,113–319). Die Vollversammlung am nächsten Tag bildet in fast jeder Hinsicht das Gegenstück zu dem intimen abendlichen Zwiegespräch und auch zu den in der Ilias stattfindenden Versammlungen (Od. 2,1–257). In ihr kommen nicht nur mehr Personen zu Wort, insgesamt sind es sieben, sondern es entwickelt sich eine lebhafte Debatte, die von Anfang an Züge einer Gerichtssitzung trägt, in der ein Fall verhandelt wird, nämlich die unrechtmäßige Brautwerbung der Freier. Zunächst eröffnet der Vorsitzende, der alte Aigyptios, die Verhandlung mit der Frage nach dem Grund der Einberufung; seine alternativ vorgebrachten Vermutungen treffen nicht zu, es geht weder um eine militärische noch um eine sonstige öffentliche, sondern um eine private Angelegenheit, wie Telemachos erklärt. Er tritt gleichsam als Kläger auf, indem er die Freier wegen ihres frevelhaften Benehmens anklagt. Der prominenteste Sprecher der solchermaßen Angeklagten, der Freier Antinoos, verteidigt sich selbstbewusst mit der Schilderung des listigen Hinhaltemanövers Penelopes und folgert daraus die Berechtigung zu weiterem Aufenthalt in ihrem Haus; er fordert Telemachos auf, die Mutter in ihr Vaterhaus zurückzuschicken, damit sie von dort aus den Mann ihrer Wahl heirate; er spricht so, wie Athene/Mentes es Telemachos angeraten hatte, und vertritt den herkömmlichen Brauch. Telemachos lehnt das jedoch ab, er, der Sohn, könne seine Mutter nicht gegen ihren Willen aus ihrem eigenen Haus treiben. In dieser Pattsituation tritt eine unerwartete Wendung ein mit einem Vogelzeichen, das der Seher Halitherses auf die baldige Rückkehr des Odysseus deutet und aufgrund dessen er ein Eintreten zugunsten des Telemachos verlangt; ein zweiter Sprecher der Angeklagten, Eurymachos, weist in schmähenden Worten Deuter und Deutung zurück und schließt sich im Übrigen der Forderung des Antinoos an. Nun bricht Telemachos die Diskussion ab und bringt, jetzt erst, seine Bitte um ein Schiff vor, „damit ich mich nach meinem Vater erkundigen kann; höre ich, er sei tot, so verheirate ich die Mutter“. Nun erhebt sich der verlässliche Freund Mentor und unterstützt den jungen Hausherrn; doch ein dritter Sprecher der Freier, Leokritos, den Telemachos später töten wird, beschimpft den Mentor, ironisiert die geplante Fahrt, wohl nicht ohne böse Hintergedanken, und gibt das Zeichen zur Auflösung der Versammlung. Es kann in diesem Streitfall der weiteren Handlung wegen natürlich nicht zu einem förmlichen Urteilsspruch kommen, denn es handelt sich ja nicht tatsächlich um eine ordnungsgemäße Gerichtsverhandlung, wie Hephaistos sie auf dem Schild
Erzählerische Einlagen
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für Achill darstellt (Il. 18,497–508). Vielmehr sollen die Freier ihren blinden Hochmut, ihre hybris, und ihre Verachtung jeglicher Warnung, ihre ate¯, in ihren Reden demonstrieren, und das ganz ihren unterschiedlichen Veranlagungen gemäß, selbstherrlich höhnisch Antinoos, „Superredner Telemachos!“ (Od. 2,85), hämisch Eurymachos, „Scher dich heim, Alter, und prophezeie deinen Kindern! Vögel gibt es viele unter dem Himmel!“ (Od. 2,177–182), und völlig verblendet Leokritos, „Käme Odysseus und wollte die Freier aus der Halle vertreiben, würde seine Frau sich nicht an ihm erfreuen, denn er fände sogleich den Tod im Kampf gegen die Vielen!“ (Od. 2,246–251). Ihnen gegenüber tritt Telemachos zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit mutig und entschieden auf. Es ist also ein Bild aller Möglichkeiten seelisch-geistigen Verhaltens, das der Dichter bei dieser öffentlichen Rechtsverhandlung bietet. Man muss sich also vor Augen halten, dass die Helden Homers keineswegs nur agieren; vielmehr reden sie auch viel und bei fast jeder Gelegenheit: Vor dem Kampf lobt und tadelt der Feldherr seine Krieger, vor einem schweren Gefecht appellieren die Anführer an den Mut ihrer Truppe, mitten im Gewühl verhöhnen und beschimpfen sich einzelne Kämpfer; in Versammlungen und Beratungen debattieren und argumentieren sie; sie beklagen ihr Geschick und das von Angehörigen; sie halten mit tönender Stimme Reden und führen in gedämpftem Ton Zwiegespräche. Aus manchen dieser Reden haben spätere Theoretiker drei Gattungen herauspräpariert, die Volks- und Beratungsrede, die Gerichtsrede und die Festrede, die freilich nur die Lobrede betrifft, „denn wer hält schon eine öffentliche Tadelrede auf einen berühmten Mann?“, wie ein Redelehrer dies begründet. Doch die Wirkung der epischen, genauer gesagt, der homerischen Reden beruht eben darauf, dass der Dichter scheinbar hinter seinen Personen verschwindet und sie ohne seine Vermittlung sich aus- und den Hörer ansprechen lässt. Virtuos setzt er das Wesen der direkten Rede zur Charakterisierung ein, deren Aussagen lebendiger und in mancher Hinsicht moderner sind als die distanzierende Aktionsschilderung.
Helden reden viel
Erzählerische Einlagen Epen sind erzählte Handlung, angefüllt mit Personen, Ereignissen, Abenteuern und ganzen Geschichten. Ihre erzählerische Fülle, alle die sich drängenden und überschlagenden, oft übersprudelnden Begebnisse haben maßgeblichen Anteil an dem allgemeinen Eindruck einer ungeheuren Lebendigkeit und Buntheit dieser Literatur. Neben und innerhalb der Haupthandlung gibt es Parallelhandlungen und Exkurse sowie vielfältige Einlagen in der Form von Memoiren, Anekdoten und Novellen oder Reiseberichten, die sich auswachsen können zu einem spannenden Abenteuerroman voller „Phantasy-Visionen“ – kurzum, so gut wie alle Formen einer gepflegten Unterhaltungsliteratur sind vertreten. In der Art, wie er diese Zutaten dem Ganzen einfügt, muss sich die Virtuosität des Dichters ganz besonders bewähren: Er kann sie direkt selbst erzählen, als dokumentarische Erweiterung oder Exkurs, anknüpfend an Ereignisse der Haupthandlung, etwa bei der Einführung eines neuen Helden oder beim Tod eines Helden, oder auch nur im Vorbeigehen als rasche Beifügung und Ergänzung. Häufig sind vor allem „erzählte Erzählungen“, wenn Personen der Haupthand-
Erzählerische Buntheit des Epos
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Kurzgeschichten im Schiffskatalog und Kampf
Selbstcharakteristik der Erzähler
Dichterische Kunst- und Stilmittel
lung sie in ihren Reden vorbringen, wobei sie durch die Person des Sprechers und die äußeren Umstände noch eine zusätzliche Färbung erhalten. So kommt es zu ausführlichen Plaudereien alter Männer wie Nestor und Phönix in der Ilias oder phantastischen Abenteuergeschichten von Kriegsheimkehrern in der Odyssee. Als lehrhafte Exempla zur Ermunterung, Abschreckung oder Überredung fungieren die Einlagen in Beratungs-, Mahn- oder Anfeuerungsreden, und bei Begegnungen auf dem Schlachtfeld pflegt man sich zu Selbstvorstellung und Eigenlob, aber auch bei der Beschimpfung des Gegners gerne einprägsamer Beispiele zu bedienen. In knappster Form, gleichsam als Konzentrat einer Kurzgeschichte, streut der Dichter gelegentlich Zusatzinformationen zwischen die monotonen Aufzählungen des Schiffskatalogs im 2. Buch der Ilias. Das dient einerseits der stilistischen Auflockerung, andererseits strahlen diese Angaben auch aus in den späteren Gang der Ereignisse. Die Kurzbiographie des Heraklessohnes Tlepolemos erzählt dem Leser ein Stück rhodischer Lokaltradition und bereitet zugleich den Endkampf des Helden gegen Sarpedon im 5. Buch vor. Der traurigen Geschichte vom frühen Tod des Protesilaos und dem Schmerz seiner jungen Frau soll man sich erinnern beim dramatischen Kampf um sein Schiff, und die Nachrichten über das Siechtum des Philoktet auf Lemnos weisen über die Ilias hinaus auf die Endphase des Kampfes, wo man seinen Bogen benötigt zum Sieg über Paris (Il. 2,653–670; 698–702; 718–725). Schon größeren Raum erhält der biographische Hintergrund mancher Nebenfiguren, die nicht nur durch die Schilderung ihres Todes, sondern auch durch spezifische Einzelzüge ihres Schicksals näher vorgestellt werden. Dadurch tritt mehr die Unbarmherzigkeit des Krieges überhaupt, wie bei dem jungen Simoeisios, oder die ihrer Überwinder Agamemnon und Achill in den Vordergrund, wie bei den zwei Halbbrüdern Isos und Antiphos, beides sonst unbekannte Söhne des Priamos wie der bedauernswerte Lykaon (Il. 4,473–487; 11,101–121; 21,34–48). Das Wesen des narrativen Elements im Rahmen des Epos wird besonders deutlich, wenn die handelnden Personen selbst ins Erzählen kommen. Innerhalb der ohnehin schon umfangreichen Partien direkter Rede nehmen die eingebauten Erzählungen ihrerseits wieder einen bedeutenden Raum ein, und sie charakterisieren nicht nur den Sprecher selbst, sondern der Dichter kommentiert sie auch noch dadurch, dass er die Reaktionen des Publikums mitliefert. Der Prototyp eines Erzählers ist der alte Nestor, begabt mit weit zurückreichendem Erinnerungsvermögen, mit der Tendenz, die früheren Zeiten und vor allem die eigenen Taten stets für besser und größer zu halten als alles Gegenwärtige. Dieser Neigung überlässt er sich sogar in äußerst kritischer Situation. Im 11. Buch zeichnet sich schon die beginnende Niederlage der Achäer ab, Nestor hat den verwundeten Arzt Machaon vom Schlachtfeld in seine Unterkunft geführt und dort mit einem Mischtrank gestärkt und erfrischt. Gerade erfreut man sich am Gespräch, da platzt Patroklos herein, fragt nach der Person des Verwundeten, erkennt ihn aber selbst und will sogleich mit der Nachricht zu Achill zurückeilen, doch da kennt er den Alten schlecht: Der nötigt ihn zum Sitzen und kommt in einer Folge weit ausholender Assoziationen über 150 Verse hinweg von einem zum anderen, weit in seine früheste Jugend zurück, bis er schließlich mit einem folgenreichen Ratschlag in die Gegenwart zurückkehrt.
Erzählerische Einlagen
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Die Kritik an Achill, der die Achäer in ihrer Not im Stich lässt, bringt ihn auf den Gedanken, wenn er selbst noch in voller Jugendkraft wäre, wie damals als …, und schon ist man mitten in der legendären Fehde zwischen Pyliern und Eleiern wegen eines Rinderraubs. Da hat er, Nestor, den Itymoneus getötet und reiche Beute gemacht, je fünfzig Rinder-, Schafs-, Schweine- und Ziegenherden, dazu einhundertfünfzig Stuten, viele mit Fohlen, brachte er nach Pylos, und sein Vater Neleus freute sich über das Glück des Jungen, durch das alte Schuld von Elis getilgt wird. Noch feiert man Dankesfeste für die Götter, da rücken die Feinde heran, um Rache zu nehmen, und jetzt erst kommt es zu seiner eigentlichen Großtat: Der besorgte Vater hat ihm die Kriegsausrüstung verweigert, aber auch als schlichter Fußkämpfer zeichnet er sich aus, und nun wächst sich die Erzählung zu einer Art Kleinepos aus (Il. 11,720– 760): Nächtliche Heeresversammlung am Minyeios-Fluss bei der Stadt Arene, Marsch zum Fluss Alpheios, Ankunft um die Mittagszeit, Opfer für Zeus, Alpheios, Poseidon und Athene, Abendessen und Biwak am Flussufer – die Exaktheit der Angaben entspricht denen eines Kriegstagebuchs, und die Schilderung der Schlacht am anderen Morgen bringt die eigentliche Aristie des jungen Nestor. Er tötet den gegnerischen Anführer, den Schwiegersohn des Königs Augeias, erbeutet sein Gespann, schwingt sich auf den Wagen und stürmt los wie ein finsterer Orkan. Fünfzig Streitwagen erobert er jetzt, indem er ihre Besatzungen tötet, zwei Haupthelden muss Poseidon in Nebel gehüllt vor ihm erretten, Flucht, Verfolgung, Beute und endliche Heimkunft nach Pylos: „Und alle priesen, wie unter den Göttern Zeus, so Nestor unter den Menschen“ (Il. 11,761). Man hat förmlich vor Augen, wie sich der Veteran an seinen Erinnerungen berauscht, mit allen Details, die teils der Altersklarsicht, teils vielleicht auch, was die phantastischen Zahlenangaben betrifft, einem verzeihlichen Hang zur Übertreibung zuzuschreiben sind. „So einer war ich, wenn ich’s denn war, im Kreise der Männer, aber Achilleus will seine Überlegenheit für sich alleine genießen …“ (Il. 11,762f.). Damit führt der Dichter seinen Erzähler wieder zum Ausgangspunkt zurück, und der gehetzte Besucher Patroklos darf endlich zum Auftraggeber zurückkehren, mit einem leuchtenden Vorbild vor Augen und der Idee im Sinn, eventuell an der Stelle Achills und mit dessen Waffen in den Kampf zu ziehen. Wenn man diese ganzen alten Geschichten, die mit dem Krieg um Troja so wenig zu tun haben, als einen Einschub betrachtet, der dem Ruhm von Pylos und seines Herrschergeschlechts dienen soll, so muss man doch anerkennen, dass er psychologisch und kompositorisch mit äußerster Raffinesse motiviert ist und zugleich die Dramatik der Situation durch Hinauszögerung erhöht. Andere Motivation und andere Funktion haben die noch weiter ausgreifenden Erinnerungen und Beispiele des alten Phönix im Rahmen der Bittgesandtschaft zu Achill im 9. Buch, bei einer grundsätzlich identischen Technik der Gedankenführung (Il. 9,434–605). Nach der wohlgesetzten Rede des Odysseus und der leidenschaftlichen Ablehnung durch den Peliden spielt der ehemalige Hausfreund und Erzieher die ganz persönliche Karte aus. Weinend spricht er von seiner Anteilnahme, begründet sie mit der ausführlichen Erzählung der Schicksale, die ihn einst ins Haus des Peleus geführt hatten, und appelliert an die Zuneigung des Zöglings: „Ich habe dich zu dem
Nostalgie des Alters
Kleinepos: Nestors Jugend-Aristie
Übersteigertes Vorbild
Lehrstück und mythologisches Exempel
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Psychologische Kriegführung
Odysseus, der Meistererzähler
Abbruch im spannendsten Moment
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gemacht, der du bist, du göttergleicher Achilleus, in tiefer Liebe. Mit keinem anderen wolltest du damals zum Essen gehen, nur auf meinen Knien sitzen, wo ich dir die Speisen klein schnitt und den Wein einflößte, wo du oft mir die Brust bekleckert hast mit ausgesprudeltem Wein, in kindlichem Anfall …“ (Il. 9,485–491). Davon ausgehend kann Phönix das Lehrstück von der Verblendung und den nachhinkenden Reuebitten bemühen und sogleich noch das mythologische Exempel eines anderen zürnenden und später von Reue ergriffenen Helden nachschieben. Die ausführliche Geschichte von Meleager, der Eberjagd und dem Kampf gegen die Kureten liefert tatsächlich eine gewisse Parallele zur Situation des Achill, aber so wenig wie die anderen pädagogischen Kunstgriffe bewirkt sie seine Umkehr, allenfalls einen Anflug von Nachdenklichkeit. Auch in die berühmten Redewechsel, durch die sich Homers Helden gewöhnlich aufwärmen, ehe sie sich mit Waffen bekämpfen, sind des Öfteren pointierte Kurzgeschichten eingebaut, mit unterschiedlicher Tendenz. In der Begegnung von Glaukos und Diomedes führt der Bericht über die Bellerophon-Intrige zur Wiederbelebung altererbter Gastfreundschaft, zwischen Achill und Äneas führen Sticheleien über peinliche Ereignisse der Vergangenheit und ein Wettstreit um die vornehmere Herkunft, die Frage nach dem höheren Rang der göttlichen Mütter Thetis oder Aphrodite, zum ausführlichen Referat über die Familiengeschichte des Äneas, die über beide Elternteile bis auf Zeus zurückreicht, was letztlich dann auch seine göttliche Errettung motiviert (Il. 6,119–236; 20,178–258). Der absolute Gipfel der innerepischen Erzählfreude wird schließlich erreicht in der Odyssee. Das Thema der zehnjährigen Irrfahrt des Odysseus steht im Vordergrund, aufgeteilt in direkten epischen Bericht und Ich-Erzählung des Helden, ergänzt durch seine behände ausgemalten Notlügen und die Erzählungen anderer TrojaHeimkehrer wie Nestor und Menelaos. Anerkannter Meister auf diesem Gebiet ist Odysseus selbst. Das zeigt sich schon in der Gliederung des gewaltigen Stoffes der Apologe: Auf jeweils zwei kürzer abgehandelte Abenteuer folgt ein breiter ausgeführtes, nach Kikonen und Lotophagen kommt Polyphem, nach Aiolos und Lästrygonen Kirke, nach den Sirenen und der Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis wird der fatale Aufenthalt auf Thrinakia geschildert, in einem dreifachen daktylischen KurzKurz-Lang-Rhythmus, dem auch die Bucheinteilung der antiken Editoren gefolgt ist, in den Büchern 9, 10 und 12. Das ganze 11. Buch dazwischen gilt dem Aufenthalt in der Unterwelt, und hier arbeitet der Erzähler mit einem weiteren raffinierten Kunstgriff, er bricht im spannendsten Moment nach der Aufzählung der mythischen Frauengestalten ab, obwohl seine Zuhörer sicherlich erst recht etwas von den Männern erfahren wollen: „Alle könnte ich doch nicht benennen, vorher ginge die Nacht zu Ende, es ist Zeit zum Schlafengehen …“ Damit sind die so abrupt aus ihrem gebannten Zuhören gerissenen Phäaken denn auch keineswegs einverstanden, sie versprechen ihm weitere Geschenke und die Heimfahrt für den folgenden Tag, und König Alkinoos ermuntert ihn: „Diese Nacht ist unendlich lang, und noch ist es nicht Zeit fürs Schlafgemach! Bis zum Morgengrauen könnte ich dir zuhören …“, und Odysseus gibt nach (Od. 11,328–384). Durch dieses eingeschobene Zwischengespräch von über 50 Versen wird nicht nur das Spannungsmoment erhöht, sondern Alkinoos er-
Erzählerische Einlagen
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hält auch die Gelegenheit, unter dem unmittelbaren Eindruck des Gehörten die dichtergleiche Erzählkunst des Odysseus zu preisen. Diese Erzählkunst beweist der Held allenthalben. Sie entspringt in durchaus organischer Weise aus dem vorgegebenen Grundcharakter des Helden als des gewandten und einfallsreichen Listenersinners. Die Zauberin Kirke zählt dem Odysseus vor der Abfahrt die drohenden Gefahren auf und nennt die Möglichkeiten, sie zu überwinden (Od. 12,37–141). Man könnte nun meinen, alles Folgende sei langweilig, da man die Abfolge der einzelnen Abenteuer faktisch kennt, Sirenen, Plankten, Skylla und Charybdis, Rinder des Helios auf Thrinakia. Doch das Gegenteil tritt ein, gerade durch den Vergleich der bloßen Aufzählung mit der detaillierten Ausführung: Die Plankten werden offensichtlich vermieden, aber sonst vergegenwärtigt Odysseus die gefährlichen Ungeheuer und seinen Kampf mit ihnen immer dramatischer, vom wörtlich zitierten Gesang der Sirenen, „Komm, berühmter Odysseus, wir wissen alles, was Achäer und Troer im weiten Troja erlitten haben, wir wissen alles, was auf der nahrungsreichen Erde geschieht“, über die Momentaufnahme der verzweifelt schreienden und zappelnden Gefährten im Schlund der Skylla, den glücklich beginnenden, dann umso schlimmer endenden Aufenthalt auf Thrinakia bis hin zu Odysseus’ heroischem Überlebenskampf über dem Abgrund der Charybdis: Auf dem Mastbaum und Kielbalken des zertrümmerten Schiffes reitend, wird er zu ihr nochmals zurückgetrieben; er schwingt sich auf den überhängenden Feigenbaum, klammert sich wie eine Fledermaus an die Äste; ohne Halt für die Füße hängt er dort und wartet, bis der Strudel die Balken wieder ausspeit, damit er sich auf sie hinunterfallen lassen kann (Od. 12,184–191; 245–259; 260–419; 432–445). Nach diesem Schlussakkord lässt Odysseus die dramatische Abenteuerfolge wieder in die Gegenwart einmünden. In ihr hat er seine Zuhörer in weite mythische Fernen bis hin zur Unterwelt geführt. Doch zugleich hat er dabei selbst etwas von den Zuständen in seiner Heimat erfahren: Der Seher Teiresias informiert ihn über das frevlerische Schalten und Walten der Freier in seinem Haus und ihre aufdringliche Werbung um seine Frau. Der Kern dieser Nachricht aus der Unterwelt verbirgt sich wie in einer russischen Puppe hinter drei Berichterstattern, dem Dichter, der Person seines Erzählers und dem Seher. Dadurch wird sie auch erzählerisch in geheimnisvolle Tiefe gerückt: Die Worte des Teiresias gibt Odysseus wieder in seiner vom Dichter geformten Erzählung (Od. 11,116–120). Es ist die gleiche Weise, in der schon vorher in der Ich-Erzählung des Menelaos für Telemachos der Meergreis Proteus den Aufenthaltsort des Odysseus andeutet, wie überhaupt dieser Heimkehrbericht in einigen Motiven dem des Odysseus ähnelt (Od. 4,555–560). Die Phäaken sind nicht nur bezaubert, weil ihnen irgendein Sänger eine Abenteuergeschichte vorträgt, sondern weil es einer der berühmtesten Helden des Trojanischen Krieges ist, der von seinen eigenen Erlebnissen berichtet, die sie unbedingt für wahr halten müssen. Nach der Enthüllung seiner Identität hätte Odysseus hier auch keinen Grund mehr, von der Wahrheit abzuweichen. Anders wird es im Fortgang des Epos, wo das Motiv des unerkannt heimkehrenden Hausherrn zu den Erzählungen inspiriert, die seit der Antike unter dem Namen „Lügengeschichten“ berühmt gewor-
Vorwegnahme von Fakten erhöht die Spannung
Eine russische Puppe
Lügengeschichten
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Kretergeschichten
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den sind. Nicht nur aus Vorsicht, auch um die Gesinnung seiner Angehörigen, der Freier und der Dienerschaft zu prüfen und zugleich seine bevorstehende Heimkehr anzudeuten, kann und will Odysseus seine Identität nicht ganz preisgeben und wird darin von Athene durch die Verwandlung in einen altersschwachen Bettler unterstützt. Auf die Frage nach seinem Namen und seiner Herkunft, der er bei den Phäaken zunächst ausgewichen war, erfindet er nun allerlei Geschichten. In ihnen brilliert der „erfindungsreiche“ Odysseus im Spiel mit Wahrheit und Lüge: Anders als in den weithin unkontrollierbaren Irrfahrtenerzählungen kennt der Leser nun die Fakten, und für die jeweiligen Zuhörer des erzählenden Bettlers müssen die raffinierten Abweichungen davon glaubhaft sein; sie müssen Ereignisse wiedergeben, die jedem von ihnen tatsächlich passieren können. Zugleich werden in diese Geschichten Anspielungen und Nachrichten über den verschollenen Odysseus und den Trojanischen Krieg auf eine Weise eingeschleust, wie sie dem Augenblick angemessen und seinen „wahren“ Erlebnissen immer ähnlicher sind. Das jedoch kann nur derjenige Hörer beurteilen, der die Irrfahrten und die verschiedenen Lügengeschichten kennt und vergleichen kann, vor allem die Versionen für Athene, Eumaios und Penelope (Od. 13,256–287; 14,192–359; 19,172–307). In ihnen gibt sich der Erzählende durchwegs als Kreter aus, der in irgendeiner Beziehung zu Idomeneus, dem Fürsten der Insel und Teilnehmer am Troja-Feldzug, gestanden habe. Der Göttin erzählt er, er sei mit eigenen Gefährten nach Troja gezogen und habe nach der Rückkehr einen Sohn des Idomeneus erschlagen, der ihn um seine reiche Beute habe betrügen wollen; bei dem Hirten ist er der Sohn des reichen Kastor und einer Nebenfrau und in der Gefolgschaft des Idomeneus nach Troja gezogen; seiner Gattin gegenüber ist er gar ein jüngerer Bruder des Idomeneus, und nennt sich Aithion. Wie er nach Ithaka gekommen sei, erklärt er in weiterem Sinn korrekt mit Seesturm und Irrfahrt, allerdings ersetzt er das Schiff der Phäaken durch ein phönizisches Handelsschiff: Wegen der Mordtat habe er sich gegen Bezahlung nach Pylos oder Elis bringen lassen wollen, doch die Phönikier hätten ihn beim Landgang, während er erschöpft geschlafen habe, zurückgelassen, freilich seine Kostbarkeiten vollständig an Land gebracht. Damit könnte er vielleicht den jungen Schafhirten überzeugen, als der ihm Athene begegnet. Aber die Göttin weiß natürlich genau Bescheid, sie lächelt anerkennend über seine Schlauheit und gibt sich ihm zu erkennen. Dem Eumaios muss er, der inzwischen in einen zittrigen Greis verwandelt ist, glaubhaft machen, dass er am Trojazug hat teilnehmen können; er sei in seiner Jugend ein kräftiger unternehmungslustiger Mann gewesen, aber leider auf dem Rückweg von Ilios durch einen ungünstigen Nordwind nach Ägypten abgetrieben worden. Dort sei er aber nach sieben glücklichen Jahren einem betrügerischen Phönikier aufgesessen, der ihn mit sich nach Hause und nach einem weiteren Jahr auf eine Handelsreise nach Libyen mitnahm, um ihn als Sklaven zu verkaufen – das muss dem Eumaios, der ganz Ähnliches erlebt hat, sehr wahrscheinlich vorkommen. Und nun folgen verdeckte Anspielungen auf die wirklichen Irrfahrten des Odysseus, Seesturm, Landung bei den Thesproten, Bekleidung des nackt Gestrandeten durch einen Sohn des Königs, Heimgeleit auf einem Schiff der betrügerischen Thesproten, die ihn in Lumpen in
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Ithaka zurückgelassen hätten. Der Penelope gegenüber deckt der Bettler mehr auf: Er entfaltet viel reales Wissen über die Verhältnisse auf Kreta. Dort will er Odysseus getroffen haben, und auch von dessen späteren Schicksalen hat er sichere Kunde, dem Frevel an den Rindern des Helios auf Thrinakia, dem Verlust der Gefährten im Seesturm und dem Stranden auf dem Schiffskiel im Land der Phäaken. Nur fabelt er dann noch von einer Reise zu den Thesproten und nach Dodona – „Er fingierte viel Falsches dabei, dem Wahren vergleichbar“, kommentiert der Dichter diese Ausführungen. Auch die Hinweise auf die baldige Ankunft des Odysseus verdichten sich zunehmend in den Berichten des Bettlers. Will er Eumaios gegenüber von ihm bei dem Thesprotenkönig nur gehört und nur seine Schätze gesehen haben, so gibt er bei Penelope vor, er sei mit ihm persönlich zusammengetroffen, und zwar habe er ihn bereits auf dem Weg nach Troja bewirtet und Gastgeschenke mit ihm ausgetauscht. Zu dieser Fiktion zwingt ihn Penelopes misstrauische Frage nach den Gewändern des Odysseus, die er natürlich detailgenau und überzeugend beschreiben kann. Erst nach der glücklichen Wiedererkennung kommt dann die volle Wahrheit zu ihrem Recht: „Als sie sich nun der ersehnten Liebe erfreut hatten, erzählten sie einander, sie, wie viel sie in der Halle beim Treiben der Freier ertragen hatte, er, wie viel Leiden er selbst sowohl bereitet wie auch ausgestanden habe; das alles erzählte er und sie ergötzte sich daran, sie anzuhören, und kein Schlaf fiel auf ihre Augenlider, bis er alles erzählt hatte“. Dieses Referat der gesamten Irrfahrten fasst der Dichter geradezu dokumentarisch genau in indirekter Rede zusammen, als sachliches Fazit nach all den erzählerischen Eskapaden zur Erinnerung und Beruhigung der Leser, die noch die originale Irrfahrtengeschichte jener Nacht bei den Phäaken vor Augen haben (Od. 23,310– 341). Bei diesem Jonglieren mit Fiktion und Faktizität, das die gesamte Odyssee durchzieht, kommt ein Kernproblem des Erzählens schlechthin in den Blick: Was darf ein Zuhörer glauben? Was ist erfunden, was hat tatsächlich stattgefunden? Der Erzähler soll spannend unterhalten und zugleich sachlich informieren, darf er eigentlich flunkern? Besonders knifflig ist die Sache dann, wenn, wie bei Odysseus, die „wahren“ Ereignisse phantastischer sind als die „erfundenen“: Sollen wir Riesen und Menschenfresser, Nymphen und Windgötter, Sirenen und Zauberinnen für wirklicher halten als phönikische Handelsschiffe und Sklavenhandel, Kreta und Dulichion? Ein gewisses Zwielicht bleibt immer, ob es nun der Abenteurer selbst oder ein fiktiver Kreter erzählt: Nicht umsonst ging ja in der Antike das Wort um, dass alle Kreter lügen …
Fiktion und Faktizität
Epische Breite und prägnante Knappheit Eines der besonders auffälligen Elemente des homerischen Epos, die zu dem gelegentlichen Verdikt der „Langeweile“ geführt haben, sind die immer wieder vorkommenden breiten, detailreichen Ausmalungen von eher nebensächlichen Vorgängen oder die Einschaltung von offensichtlich weithergeholten, eher abschweifenden Geschichten. Sie scheinen den zielgerichteten Gang der Handlung aufzuhalten und ver-
Langeweile?
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Der Schuss des Pandaros
Zeitlupe
Gleichnisse
Überhöhung des Ereignisses
Dichterische Kunst- und Stilmittel
führen den vielleicht gelangweilten Leser dazu, diese Passagen zu überschlagen, während ein Hörer allenfalls innerlich abschalten oder in der Aufmerksamkeit nachlassen kann. Die sorgfältige Betrachtung einiger Beispiele kann zum tieferen Verständnis des Phänomens beitragen. Im 4. Buch der Ilias verführen die Götter den Pandaros dazu, eidbrüchig und aus dem Hinterhalt einen Pfeil auf Menelaos abzuschießen. Der Bogenschütze entschließt sich ohne viel Skrupel sogleich zur Tat, doch diese selbst wird höchst umständlich entfaltet und in der Ausführung kunstvoll retardiert. Entstehungsgeschichte und genaue Konstruktion des Bogens werden erst in sieben Versen referiert, dann wird er gespannt und im Hinterhalt in Stellung gebracht. Der Schuss selbst jedoch lässt immer noch auf sich warten. Der Deckel des Köchers wird abgenommen, ein Pfeil herausgenommen, ein nagelneuer, gefiederter, Schmerzen bereitender, und sorgfältig auf die Sehne gelegt. Dann gelobt der Schütze dem Apollon ein Lämmeropfer nach der Rückkehr in seine Heimatstadt, das heilige Zeleia, und nun erst kommt die eigentliche Aktion, wenn auch wiederum retardierend, in Bewegung: Mit einem Griff fasst er Pfeilkerbe und Bogensehne und spannt sie, bis die Sehne die Brust, die eiserne Spitze den Bogen berührt, und dieser kreisförmig gekrümmt ist; dann klirrt der Bogen, laut schreit die Sehne, und der spitzige Pfeil schnellt los, begierig, ins Gedränge zu fliegen. Das eigentliche Ziel ist Menelaos, und er wird auch getroffen, aber wie, wo und mit welchem Erfolg, das verdeutlichen und verfremden zugleich zwei Gleichnisse aus einer völlig anderen Sphäre: Athene lenkt das Geschoss ab, wie eine Mutter die Fliege verscheucht vom süß schlummernden Baby. Dem Helden wird nur am Gürtel die Haut geritzt, aber das Blut strömt aus der Wunde und befleckt ihm die wohlgeformten Schenkel, Unterschenkel und Knöchel, so wie wenn eine Frau mit Purpur das Elfenbein färbt für ein königlich prunkvolles Pferdegeschirr. Das plötzliche, dramatische Ereignis des heimtückischen Schusses wird über mehr als vierzig Verse hin aufgefaltet. Historisch-biographischer Hintergrund, technisch exakte Sachbeschreibung, zeitlupenartige Nachzeichnung der Bewegungsvorgänge, und schließlich zusätzliche imaginatorische Vergegenwärtigung und Beleuchtung durch Vergleiche aus einer friedlichen Alltagswelt verleihen der bloßen faktischen Aktion eine weiterreichende Bedeutsamkeit (Il. 4,105–147): Der Bogen des Pandaros ist nicht irgendein Bogen, er hat Geschichte, und er stammt von Apollon selbst (Il. 2,827); der Pfeilschuss ist nicht irgendein Schuss, er wird spannend zelebriert; die Wunde des Menelaos ist zwar harmlos, aber sie wird als Delikt des Eidbruches zur Mitursache für Trojas Untergang. Deshalb werden die Umstände ihrer Entstehung und der optische Eindruck des Bluts auf heller Haut durch die zwei Gleichnisse eindringlich illustriert. Der aufreizende Kontrast zwischen kriegerischer Situation und friedlichem Alltag der Vergleichsbeispiele erhöht noch die Aufmerksamkeit, das Bild von Mutter und Kind verdeutlicht nicht nur die schützende Bewegung, sondern auch die Situation von mütterlicher Göttin und ahnungslosem Helden. Durch diesen gewaltigen poetischen Aufwand wird erreicht, dass mit einem derartig flagranten Eidbruch der Trojaner ihre Schuld gegenüber Göttern und Menschen nun auch innerhalb des Epos selbst demonstrativ vorgeführt ist. Die vorausliegenden
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schuldhaften Anlässe und Voraussetzungen zum Hass der Götter, Krieg und Untergang Trojas werden ja nur eher beiläufig referiert: Die Vergehen von Priamos’ Vater Laomedon, das Parisurteil und der Raub der Helena belasten zwar immer schon das Schuldkonto der Stadt, aber nun ist vor aller Augen die letzte Möglichkeit zum friedlichen Ausgleich durch die Perfidie der Trojaner zerstört. Dieser Demonstration dient der mit allen Mitteln epischer Technik überhöhte „Schuss des Pandaros“. Es handelt sich also nicht um behagliche Beschreibung von Sachverhalten und Vorgängen um ihrer selbst willen, um bloße Umsetzung optischer Eindrücke in zeitliche Abläufe. Nicht nur „die Grenzen der Malerei und Poesie“ lassen sich hier abstecken, wie es Lessing im „Laokoon“ nach der Fragestellung seiner Zeit versucht. Die unterschiedlichen technischen Mittel der Kunstgattungen liefern nur Voraussetzungen, entscheidend ist die Frage nach der weitergehenden Absicht und Wirkung des Kunstwerks. Leitbegriff muss auch in diesem Zusammenhang derjenige einer „Verwandlung von Realität“ sein. Die hier vereinigten Mittel der epischen Intensivierung, historische Hinterfütterung, detailreiche Sachschilderung, gleichnishafte Überhöhung, schaffen eine neue, poetische Realität, die mehr ist als erzählte oder ausmalend referierte Wirklichkeit. Von noch größerer Bedeutung als der Bogen des Pandaros ist der Bogen des Odysseus, nicht in der Ilias, um so mehr aber in der Odyssee. „Der große Bogen des göttlichen Odysseus“ wird von Penelope den Freiern zum Wettkampf präsentiert (Od. 21,74), mit ihm wird der Held dann auch den Sieg erringen. Zuvor jedoch muss er mit allen Mitteln der „epischen Breite“ in den ihm gebührenden mythischen Rang hinaufgehoben werden, die traditionelle Waffe muss auch jene unmittelbare dichterische Präsenz gewinnen, die ihrer Bedeutung in der Handlung des Epos entspricht. Dies geschieht in nicht weniger als sechzig Versen (Od. 21,1–60), in denen pedantisch geschildert wird, wie die Königin in die Rüst- und Schatzkammer hinaufsteigt und erst einmal den schönen ehernen Schlüssel – mit Elfenbeingriff! – ergreift, um den Bogen zu holen. Während sie jedoch mit ihren Dienerinnen die hohe Treppe ihres Hauses erklimmt, benützt der Dichter die Gelegenheit, ausführlich die Provenienz des Bogens zu erzählen, wie ihn Odysseus als junger Mann bei einer diplomatischen Mission in Lakedaimon erhalten hatte, als Gastgeschenk von Iphitos, dem Sohn des berühmten Bogenschützen Eurytos. So sehr schätzte er diese Ehrengabe, dass er sie nur zu Hause, nicht aber auf auswärtigen Kriegszügen benützte – deshalb spielt sie in der Ilias keine Rolle, konnte auf See nicht verloren gehen und hängt daher noch wohlverwahrt in der Schatzkammer auf Ithaka. Dort ist Penelope inzwischen angekommen; die Konstruktion der Türe wird mitgeteilt, der Riemenverschluss gelöst, der Schlüssel eingesteckt, die Riegel werden weggedrückt, und die Türflügel brüllen auf wie ein Stier auf der Weide, öffnen sich unter dem Druck des Schlüssels. Bis die Königin dann den Bogen geholt, unter Tränen aus dem Futteral gezogen und schließlich zu den Freiern gebracht hat, sind nochmals 17 Verse vergangen, und nun kann es zur Bogenprobe kommen, die zum Bogenkampf überleitet, dem dramatischen Höhepunkt des gesamten Epos. Wiederum ist es so, dass eine umständliche Erzählung den Hörer und Leser erst einmal hinhält; dies dient nicht so sehr der Erzeugung einer echten Spannung, denn
Malerei und Dichtung
Der Bogen des Odysseus
Die Schatzkammer
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Die Fußwaschung
Weit ausgesponnene Episode
Dichterische Kunst- und Stilmittel
das antike Publikum kannte ja die Geschichte, Überraschung war gar nicht mehr möglich. Vielmehr wird das Interesse auf das Wie des Vorgangs konzentriert, der Hörer wird hineingezogen, wird gleichsam zum direkt beteiligten Mitakteur auf der Szene. Jeden Schritt, jeden Handgriff, sogar die begleitenden Empfindungen der Penelope vollzieht er fast in Realzeit nach, und zugleich erhält er noch Hintergrundinformationen zur Geschichte des Bogens, die diesem sein episches Gewicht, seine spezifische Bedeutung verschaffen. Ein besonders anstößiges Beispiel „epischer Breite“ war lange Zeit für die Forschung die Szene der „Fußwaschung“ in der Odyssee. Die Rolle des „Unbekannten“, bis hin zu dem „Niemand“ im Kyklopenabenteuer, ist der Person des Listenreichen auf den Leib geschrieben, ihr weiß der Dichter immer neue Effekte abzugewinnen. Auf die Identifikation des misshandelten, fremden Bettlers mit dem Hausherrn und König von Ithaka strebt die ganze Serie der Erkennungen und Selbstoffenbarungen hin. Besonders breit und spektakulär ist die Wiedererkennung durch die alte Amme und Schaffnerin Eurykleia inszeniert, und gerade dies wirkte auf manche Beurteiler anstößig. „Die lang ausgesponnene Episode unterbricht in gefühlloser Weise die einfache Erzählung des ergreifenden Hergangs“. Die ganze Szene erstreckt sich über rund 200 Verse (Od. 19,317–507). Penelope fordert die Dienerinnen auf, dem Fremden die Füße zu waschen. Dieser will nur eine alte, erfahrene Frau an sich heranlassen, und dafür kommt niemand als die treue Eurykleia in Frage, der schon vorher die Ähnlichkeit des Bettlers mit ihrem Herrn aufgefallen war. Sie holt die glänzende Fußbadewanne, gießt viel kaltes Wasser hinein und mischt es mit heißem. Odysseus setzt sich zum Herd und dreht sich in den Schatten, denn plötzlich fällt ihm ein, die Alte könnte bei der Berührung die Narbe erkennen – und ebenso plötzlich passiert es auch. „Sofort erkannte sie die Narbe, die ihm einst der Eber schlug“ (Od. 19,391). Diese knappe Dramatik des Geschehens erstarrt nun mitten in der Aktion. Der Dichter lässt Eurykleia mit dem Fuß in der Hand zurück, ihre und des Odysseus Reaktion auf diese Sensation interessieren ihn jetzt weniger als jener weißzahnige Eber im Kithairon und alles Drum und Dran. Wenn die Herkunftsgeschichte der Bogen von Pandaros und Odysseus noch ein knapper eingeschobener Bericht war, so wächst sich die Geschichte der Narbe zu einer weit ausholenden Episode aus, die vom Leser viel Geduld verlangt (Od. 19,396–466). Wenn er bereit ist, sein Interesse umzustellen, so erfährt er Wissenswertes über den kongenialen, schlauen Großvater des Helden, Autolykos, der ihm einst den redenden Namen „Odysseus“ („Der vom Hass Verfolgte, odys-samenos“) gegeben hatte (Odysseus ist der Held mit besonderer Beziehung zum Hass, so wie Achill vielleicht der mit besonderem Verhältnis zum Leid, achos). Er begleitet dann den jungen Odysseus beim Besuch im großväterlichen Haus, geht mit ihm auf die Jagd ins wilde Gebirge, sieht ihn im Kampf mit dem fürchterlichen Eber, erlebt seine Verwundung am Schenkel über dem Knie, Sieg, Versorgung und Heilung der Wunde, und schließlich Heimkehr mit der Narbe – „und diese Narbe erkannte die Alte“ (Od. 19,467). Jetzt lässt sie den Fuß los, das Bein fällt ins erzene Becken, das klirrt und kippt zur Seite, das Wasser schwappt auf den Boden, Freude zugleich und Schmerz durchzuckt
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ihr Gemüt, die Augen füllen sich mit Tränen, es erstickt ihr die Stimme, doch dann greift sie dem Odysseus ans Kinn: „Wahrlich, du bist Odysseus, mein liebes Kind …“ (Od. 19,474). Damit kehrt die Erzählung wieder zu dem normalen Rhythmus zurück, mit dem Wechsel von Handlungsschilderung und Gesprächspartien. Das Merkmal der Schenkelnarbe hat jedoch durch die überdehnte Dramatik der Szene eine solche Prominenz erlangt, dass es später nur noch zitiert werden muss: Sowohl den beiden treuen Hirten, wie auch dem Vater Laertes kann Odysseus die Narbe als sichtbaren, unmittelbar überzeugenden Beweis vorzeigen (Od. 21,217–221; 24,331–335). Das Kunstmittel, einen besonders bedeutsamen Vorgang durch einen ablenkenden Einschub in der Schwebe zu halten und dadurch zu überhöhen, findet sich immer wieder, nur ein Beispiel sei noch angeführt: Auch die letzte große Erkennungsszene, die zwischen den Ehegatten selbst, wird so zerschnitten (Od. 23,85–240): Penelope sträubt sich noch, sie ist verstört und ungläubig, doch sie verweist auf gemeinsame geheime Erkennungszeichen; Odysseus lächelt verständnisinnig, doch dann mahnt er den Sohn (und zugleich auch Hörer und Leser) zur Geduld und wendet sich für nahezu 50 Verse (Od. 23,117–163) den akuten Erfordernissen zu. Erst danach setzt er sich wieder auf den Stuhl, von dem er sich erhoben hatte, und nun kann es zur Enthüllung des intimsten Erkennungszeichens kommen: Von der Narbe mögen viele wissen, aber die Geheimnisse des Ehebetts dürfen nur die beiden kennen. Die Retardation, die Hinauszögerung des Höhepunkts erhöht nicht so sehr die vordergründige Spannung – auch hier ist ja die Lösung bekannt –, sondern den Genuss des Kenners. Wenn sich in solchen Fällen vermeintliche Langatmigkeiten und Abschweifungen als bedeutungsssteigende Kunstmittel erweisen, so gibt es doch Partien innerhalb des Epos, wo ein rein sachliches Interesse an den Erscheinungen vorzuwalten scheint, wo eine Realität vielleicht doch um ihrer selbst willen nachgebildet wird. Gerade hieran hat sich später so oft die Begeisterung entzündet, etwa bei Goethes „Werther“, wenn er liest, „wie Ulyß von dem trefflichen Schweinehirten bewirthet wird“. Die ländliche Idylle auf Ithaka im 14. Buch der Odyssee gewinnt tatsächlich eine suggestive Realität, aber auch diese bleibt eingebunden in das Ganze des Epos, gibt Farbe und angemessenen Hintergrund für den ersten Auftritt des vermeintlichen Bettlers und Kontrast zu dem lärmenden Treiben am Hofe. Von der Ankunft im Gehöft mit den zwölf Schweineställen, für nicht weniger als 600 Sauen, die 360 Eber nicht gerechnet, dem Überfall durch die bellenden Wachhunde, der Errettung und freundlichen Aufnahme durch Eumaios angefangen, erlebt Odysseus, und mit ihm der Leser, den ganzen Haushalt des wackeren Bediensteten, der selbstständig den Besitz des verschollenen Herrn zu bewahren sucht. Gerade ist er dabei, sich ein Paar Sandalen zu schustern, da hört er das Gebell, lässt das Leder fallen und rennt dem Fremden durchs Hoftor entgegen. Nach einem ersten Imbiss und unter nicht so ganz wahren Erzählungen des Gastes wird dieser mit einem festlichen, in allen technischen Einzelheiten beschriebenen Opfermahl geehrt und schließlich warm zur Ruhe gebettet. Der suggestive Realismus dieser Szenen hat immer wieder dazu verlockt, alles auf Ithaka wieder zu entdecken, die zwölf Ställe und sämtli-
Das Erkennungszeichen
Odysseus und Penelope
Realität um ihrer selbst willen?
Odysseus bei Eumaios
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Achilleus bei sich zu Haus
Bewirtung wie es sich gebührt
Ergänzung des Charakterbildes
Dichterische Kunst- und Stilmittel
che Einzelzüge der Topographie, ähnlich wie die Ebene von Troja und die 50 Gemächer im Palast des Priamos in der Ilias. Dabei ist festzuhalten, dass das Leben dort, im ausdrücklich nach der Auskunft des Dichters selbst spurlos weggeschwemmten Schiffslager der Achäer, mit derselben Ausführlichkeit und Akkuratesse vorgeführt wird. Als die Gesandten des Agamemnon in militärisch verzweifelter Situation hilfeflehend den Achill in seinem Lagergebäude aufsuchen, finden sie ihn im idyllischen Zivilleben (Il. 9,185–221). Noch bevor der Redekampf beginnt, überraschen sie den gewaltigen Kriegshelden beim Spiel mit der hell tönenden Phorminx, der schönen und kunstvollen, mit silbernem Steg, einem Beutestück, das er bei der Zerstörung Thebens, der Stadt des Eetion (des Vaters von Hektors Gattin Andromache, im 6. Buch hatte diese davon berichtet) gewonnen hatte (Il. 9,188). Damit erfreut er sein Gemüt, und besingt dazu die Ruhmestaten der Männer, als einziger Gefährte sitzt ihm Patroklos schweigend gegenüber und wartet, bis der Aiakide seinen Gesang beendet hat. Beim Eintreffen der Gesandten bricht Achill den Gesang ab, so wie Eumaios sein Leder fallen lässt, und auch hier erfolgt die gebührende Bewirtung der Gäste. Ein größerer Mischkrug und besserer Wein muss herbeigebracht werden, und der Hausherr selbst legt mit Hand an bei der Zubereitung der Fleischmahlzeit. Er rückt die Fleischbank ins Licht des Feuers und legt Rückenstücke von Schaf, Ziege und Schwein darauf zurecht, ein Helfer hält sie fest, und Achill tranchiert, zerlegt und steckt alles fachgerecht auf Spieße. Patroklos entfacht ein großes Feuer, breitet dann die glühenden Kohlen aus, bestreut die Spieße mit Salz und legt sie auf Feuerböcke über der Glut, brät das Fleisch und streift es ab auf Anrichteplatten. Dann holt er Brot und verteilt es in schönen Körben auf dem Tisch, die Fleischportionen aber verteilt Achill selbst, Odysseus erhält den Ehrensitz an der Wand ihm gegenüber. Schließlich wird Patroklos aufgefordert, den Göttern zu opfern, der wirft die Opferanteile ins Feuer, „und sie alle streckten die Hände aus nach den so zubereiteten, vor ihnen liegenden Speisen“ (Il. 9,221). Mit diesem altvertrauten Formelvers schließt eine Beschreibung, die in mancher Hinsicht anmutet wie eine Anleitung zum gehobenen Grillfest – ein zweiter Formelvers, „Aber als sie das Verlangen nach Trinken und Essen verdrängt hatten …“, leitet dann zu den eigentlichen Verhandlungen über. Was auf den ersten Blick wie umständlich nachgezeichnete Staffage, wie ein detailverliebtes Aufgehen in bloßer Biotik erscheint, das hier in einem kriegerischen Ambiente vor Troja weniger angebracht wäre als im ländlich-zivilen Milieu auf Ithaka, entfaltet doch für den unverkrampften Leser eine wichtige Funktion: Hier ist es weniger die Absicht, einen spannenden Aufschub zu gewinnen in der Frage: „Wie wird Achill reagieren?“. Vielmehr werden mit dieser Schilderung dem Erscheinungsbild des wütenden, empörten, grollenden Kriegshelden, wie er bisher aufgetreten war, und des unbarmherzig mordenden Wüterichs der späteren Bücher ergänzende Züge hinzugefügt. Achill erscheint hier im Licht eines alternativen, eher zivilen, häuslichen, fast bürgerlichen oder sogar musischen Lebens, wie er es anschließend in seiner Absichtserklärung dann auch vorübergehend in Erwägung zieht (Il. 9,393–416). Zugleich tauchen dabei jene menschlichen Qualitäten im Persönlichkeitsbild des Helden auf, die den versöhnlichen Abschluss des Epos im 24. Buch bestimmen. Dass ein
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homerischer Heros und König durchaus auch im praktischen Alltagsleben seine Tüchtigkeit (arete¯) beweisen muss, gehört zum überindividuellen Sinn dieser Szene. Darüber hinaus konnte man hier in späterer Zeit, wo man den Homer als Quelle allen Wissens und Lehrmeister in allen Künsten heranzog, ein Musterbeispiel für die richtige Bewirtung von Ehrengästen finden. Ein noch eindringlicheres Stück technischer Spezialbelehrung in Verbindung mit dem Charakter des Helden und der Gesamthandlung des Epos findet sich in der Odyssee: Der Floßbau des Odysseus im 5. Buch hat schon immer die Seefahrtspezialisten veranlasst, eine genaue Rekonstruktion zu versuchen. Das griechische Wort für Floß (schedie¯) bedeutet ein improvisiertes Behelfsfahrzeug. Die Göttin Kalypso auf ihrer menschenfernen Insel mitten im Meer verfügt weder über Schiffe noch Besatzung für reguläre Seefahrt. Da jedoch weder ihre göttliche Schönheit noch das Versprechen der Unsterblichkeit den Odysseus von der Sehnsucht nach Penelope und Ithaka abbringen können, schlägt sie ihm einen Floßbau vor. Der vorsichtige Held erschrickt vor einem solchen waghalsigen Unternehmen und argwöhnt eine Heimtücke der Geliebten, doch ihr heiliger Schwur beruhigt ihn. Nach einer letzten Nacht des Abschieds geht er ans Werk: Kalypso reicht ihm eine große eherne, doppelschneidige Axt, die griffig in der Hand liegt, mit einem wunderschönen, gut geschäfteten Stiel aus Olivenholz, sowie ein wohlgeschliffenes Beil, und führt ihn zu einem Bestand von großen Erlen, Pappeln und Fichten, abgestorben, trocken und daher besonders schwimmfähig. Davon fällt der Held zwanzig Stämme, behaut und glättet sie, Kalypso bringt einen Bohrer, er bohrt, verdübelt und verklammert alles fachmännisch, kurzum er konstruiert ein Fahrzeug, groß wie das Lastschiff eines professionellen Schiffsbauers. Nachdem es noch eine erhöhte Plattform, Mast und Rahe, Steuerruder, Brüstung aus Weidengeflecht, eine Laubschüttung und schließlich ein Segel mit vollständiger Takelage erhalten hat, kann es nach vier Tagen Arbeit endlich ins Wasser gehebelt werden. Während nahezu dreißig langen Hexametern, vollgepackt mit den speziellsten Fachausdrücken, muss der Leser dem Helden und seiner Helferin über die Schulter sehen, bis er das stolze Werk vollendet vor Augen hat, bis der letzte dramatische Abschnitt der abenteuerlichen Heimkehr des Odysseus direkt und gleichsam „live“ über die Bühne gehen kann. Die bunte Reihe der früheren Abenteuer wird ja erst in einer späteren Rückblende nachgetragen, in der nächtlichen IchErzählung des Gastes am Hof des Phäakenkönigs (Od. 9,39–12,450). Was dort in einer gewissen Distanz und möglicherweise subjektiv überhöht, verformt oder verfälscht sein könnte – „gekonnt wie ein Sänger hast du die Geschichte erzählt“, sagt Alkinoos mitten in dem phantastischen Bericht aus der Unterwelt (Od. 11,368) – kann der Leser hier im Ausschnitt als Augenzeuge miterleben. Gleichsam in Großaufnahme und in Zeitlupe vollziehen sich ruhige Seefahrt, Sturm, Schiffbruch und Rettung in höchster Not, und der minutiöse Floßbau in seiner sachlichen Prägnanz bereitet darauf vor. Der fast überdeutliche Realismus der Schilderung unterstützt den Eindruck der allgemeinen Glaubwürdigkeit des Geschehens, die Sorgfalt und Umsicht der Ausrüstung für das gefährliche Unternehmen unterstreicht den unerschütterlichen Heimkehrwillen, die fachmännische Perfektion in der Handwerkskunst vervoll-
Der Floßbau
Der Leser als Augenzeuge
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Funktion im Ganzen des Epos
Kontrastwirkungen
Eingebung des Augenblicks
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ständigt wiederum, wie bei Achill, das Bild des vollkommenen Heros, hier desjenigen, der nicht nur in Kampf und Sport, in Rat und Rede, in Listen und Ränken, sondern auch im praktischen Tun überlegen ist. Bei näherem Zusehen erweisen also gerade die Musterbeispiele epischer Breite, sowohl die scheinbar geschwätzigen, „erzählerischen“ Abschweifungen und Episoden wie auch die „detailreichen“ kleinlichen Ausmalungen von eher belanglosen Alltagsdingen ihre vielfältige Funktion im Ganzen des Epos. Je gemächlicher der Atem dieser Versabläufe geht, desto effektvoller zucken dann die telegrammartig knappen Lakonismen auf, und je alltäglicher immer wieder ein realistisches Ambiente vorgeführt wird, um so eindrucksvoller heben sich Dramatik, Pathetik und Phantastik davon ab. Die behagliche bis weitschweifige Breite wird in der Regel als das eigentliche Wesen des „Epischen“ wahrgenommen. Nach Goethe/Schiller, „Über epische und dramatische Dichtung“, hat der Rhapsode die Absicht, „die Zuhörer zu beruhigen, damit sie ihm gern und lange zuhören“. Die Antike sah bei Homer jedoch eher Vielfalt und Abwechslung in der Darstellungsweise, so etwa Aristoteles in seiner „Poetik“ (1459 f.). Tatsächlich zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass das vorherrschende Klima der Gelassenheit, der gleichmäßige Gang in Erzählung, Schilderung und Ausmalung immer wieder blitzartig durchbrochen, dramatisiert und übersteigert wird, dass der Epiker gerade mit Kontrasten Effekte erzielt, die nur vor einem ruhigen Hintergrund wirksam werden. Auch in den oben herangezogenen Beispielen epischer Breite lauert in der Regel ein Element des Plötzlichen, eine Schockreaktion, ein Ereignis, eine Erkenntnis, eine Nachricht, die in höchster Knappheit aufzuckt. In der Pandaros-Episode ist es nicht der so eindringlich zelebrierte eigentliche Schuss, sondern die erschreckte Reaktion der Betroffenen, in der das punktuelle Ereignis in knappster Form Gestalt gewinnt: „Da erstarrte Agamemnon, als er das Blut aus der Wunde fließen sah, da erstarrte auch er selbst, Menelaos“ (Il. 4,148–150). Die Schrecksekunde blitzt in drei Versen auf, zugespitzt und dramatisiert durch die Anapher des zweimaligen „erstarrte“, dann kehrt die Gelassenheit zurück. Als auslösendes Element des Geschehens bei der breiten Einführung des Odysseusbogens steht gleich zu Anfang die Eingebung der Athene an Penelope, den Freiern den Bogen vorzulegen, für den Wettkampf und Anfang des Mordens: „Der aber gab in den Sinn …“ (Od. 21,1–4). Diese knappe Formel für eine spontane Handlung bedeutet nicht, dass der Plan dazu ebenfalls im Augenblick konzipiert wird. Tatsächlich hat ihn Penelope schon am Vorabend mit dem Fremden besprochen (Od. 19,572–587), die Homerkritik hat dies immer als anstößig empfunden. Dass die formelhafte Wendung jedoch mehr den Impetus zu einer vorbedachten Handlung, als ihren Inhalt und Zweck andeutet, zeigen die Fälle, wo ein Anstoß von außen auf eigene Intensionen trifft: „Mit diesen Worten trieb er Athene, die schon von sich aus darauf aus war“ (Il. 4,73). Neben der momentanen Eingebung stehen augenblickliche Einsicht und Entdeckung, wie auf dem Höhepunkt der Fußwaschungsszene bei Odysseus und Eurykleia, wieder auf drei Verse konzentriert und durch Wiederholung des „Plötzlich“ (autika) hervorgehoben: „Plötzlich überkam ihn die Angst … und plötzlich erkannte sie die Narbe“ (Od. 19,390–393).
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So wie Reaktionen in Schreck und Freude, plötzliche Eingebungen und Einsichten in sprachlich besonders prägnanter Form und auf knappe Versgruppen von zwei oder drei Hexametern konzentriert erscheinen, so gibt es auch alarmierende Kurzmitteilungen im Telegrammstil: Berühmt ist die Hiobsbotschaft des Antilochos für Achill: „Patroklos ist gefallen, sie kämpfen um seine nackte Leiche, die Waffen hat Hektor!“ (Il. 18,20f.). Auf zwei Verse zusammengedrängt wird dabei zugleich ein Fazit der vorausgegangenen dramatischen Kampfschilderung gegeben, die den Schluss des 16. und das ganze 17. Buch mit rund 900 Versen ausfüllt. In ähnlicher Weise beschließt die effektvolle Selbstvorstellung des Schiffbrüchigen bei den Phäaken das lange Rätselraten über seine Identität: „Odysseus bin ich, Laertes’ Sohn, durch Listenreichtum allen bekannt, dessen Ruhm bis zum Himmel reicht“ (Od. 9,19f.). Auch der freudige Weckruf der Eurykleia für Penelope hat diesen Charakter eines Fanfarenstoßes: „Gekommen ist Odysseus, heim ins Haus, spät freilich kam er, und die Freier hat er getötet, die gewalttätigen …“ (Od. 23,7f.). Es ist sicher kein Zufall, dass die spätere editorische Gliederung des Epos diese Botschaften jeweils für die Eingangspartie eines neuen Buches benützt hat; sie mag dabei Einschnitte tradieren, die auch für den ursprünglichen Vortragsrhythmus des Rhapsoden maßgeblich waren. Neben dieser Fähigkeit zur knappen Geschehensraffung steht das sachlich zusammenfassende Kurzreferat: Auf nur 30 Verse komprimiert wird der abenteuerliche Inhalt der zehnjährigen Heimreise des Odysseus, sowohl die Ich-Erzählung der Bücher 9–12, wie auch der Bericht über den Aufenthalt bei Kalypso und den Phäaken, also Tausende von Hexametern, referiert in der Passage Od. 23,310–341. Diese präzise Inhaltsangabe wurde den Literaturbeflissenen später, wie so vieles im Homer, als stilistisches Musterstück angepriesen. Doch auch das äußerst knappe Referat von Odysseus’ nächtlicher Schlafzimmererzählung für die Gattin wird schließlich noch mit einem lakonischen Zweizeiler besiegelt: „Dieses war sein letztes Wort, dann überfiel ihn der süße entspannende Schlaf und erlöste ihn von allen Sorgen“ (Od. 23,342f.). Die mit intimer Kenntnis des Tierverhaltens erzählte heimliche Erkennung des Odysseus durch den uralten treuen Jagdhund wird ebenso rasch wie eindringlich abgeschlossen: „Den Argos aber erfasste das schwarze Todeslos, gleich als er Odysseus wieder gesehen im zwanzigsten Jahr“ (Od. 17,326f.). Die knappe Abschlussformel kann also noch mit einer speziellen Pointe angereichert werden, sei es wie hier der Beruhigung oder der dramatischen Zuspitzung. Die leidenschaftliche Schimpfrede des Achill gegen Agamemnon gipfelt in einem Schwur anhand seines Zepters, und in einem Verspaar gibt der Dichter die abschließende szenische Vision: „So sprach der Pelide. Zur Erde warf er das Zepter, das mit Goldnieten gezierte, er selbst aber setzte sich wieder“ (Il. 1,245f.). Eine in dieser Weise besonders konzentrierte Sprachform wird öfter noch intensiviert durch den gezielten Einsatz von stilistischen und rhetorischen Kunstmitteln. Außer der Anapher und Epiphora, also Wortwiederholungen an Satzanfang und Satzende, erscheinen dabei der in sich widersprüchliche Kontrast (Oxymoron), Paradoxie, Ironie und Sarkasmus.
Kurzbotschaft
Enthüllung
Kurzreferat
Besiegelnder Abschluss
Rhetorische Formeln
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Ironie und Sarkasmus
Sentenzen im Kontext
Politische Schlagworte
Dichterische Kunst- und Stilmittel
Hera steht auf einer Bergnase des Olymp und sieht ihren Schwager Poseidon, wie er kampfschnaubend die Achäer unterstützt, „und sie freute sich im Gemüte“. Gleichzeitig sieht sie ihren Gatten Zeus auf dem höchsten Gipfel des quellenreichen Ida, „und verhasst wurde er ihr im Gemüte“ (Il. 14,156–158). Der Schweinehirt Eumaios geleitet unwissend den Herrscher als elenden alten Bettler: „Der führte in die Stadt seinen Herrscher einem Bettler vergleichbar“ (Od. 17,201f.). Der stolze Freier Antinoos hofft insgeheim, die Bogenprobe zu gewinnen, doch der Dichter schiebt in Parenthese die Warnung ein: „Aber gerade er sollte als erster den Pfeil verkosten aus den Händen des Odysseus“ (Od. 21,98f.). Die äußerste Konzentration der Aussage in einem oder zwei Versen führt schließlich auch zu den zahlreichen Weisheitssprüchen und Sprichwörtern (Gnomen und Proverbien), die sich aus dem Homertext immer griffig zitieren lassen. Da finden sich Kernsprüche über Götter und Menschen: „Götter sind mächtiger als Menschen“ muss selbst der Göttersohn Achill im Kampf mit dem Flussgott erkennen (Il. 21,264). „Der Götter herrliche Gabe soll man nicht verachten“ ist der Wahlspruch des sinnenfrohen Paris, und er meint dabei die Gaben der Aphrodite (Il. 3,65). „Nichts ist jammervoller als der Mensch, von allem was auf Erden atmet und kriecht“, ruft der Göttervater Zeus voll Mitleid – für die unsterblichen Pferde des Achill, die über den Tod ihres Lenkers Patroklos trauern (Il. 17,446f.). Das Werden und Vergehen der Menschengeschlechter im Vergleich mit dem Sprossen und Abfallen des Laubs im Frühling und Herbst sehen Menschen wie Götter: „So wie das Werden der Blätter, so ist auch das der Menschen“ (Il. 6,146; 21,464). „Keineswegs alles zugleich verliehen die Götter den Menschen“, erkennt der alte Nestor und meint damit Jugendkraft und weisen Rat (Il. 4,320), während der andere Geistesheros des Epos, Odysseus, einen überheblichen Phäakenjüngling ermahnt: „Nicht allen Menschen geben die Götter die Vorzüge gleichmäßig, Schönheit, Einsicht und Redegabe“ (Od. 8,167f.). Wie bereits diese Beispiele zeigen, stehen die homerischen Sentenzen stets in einem individuellen Zusammenhang. Bei aller normativen Prägnanz sollte man sie nicht wie Bibelsprüche oder dogmatische Gebote behandeln, auch nicht in Politik und Krieg. „Nicht gut ist die Herrschaft vieler, einer soll Herrscher sein“, diese an sich höchst undemokratische Maxime wird von Odysseus dem Stammtischgeschrei des Pöbels entgegengehalten (Il. 2,204). Was dabei wie das Hohelied aristokratischer Herrschaft klingt, ist nicht zu trennen von jenem Erziehungsappell, der sowohl dem Lykier Glaukos wie dem Achill selbst von ihren Vätern mitgegeben wird, „immer der Beste zu sein, und die anderen zu übertreffen“ (Il. 6,208; 11,784); und die Herrscher Achill wie auch Agamemnon müssen sich diesen Anspruch auf arete¯ nach schwerer Verblendung erst wieder erringen. Auch der tönende Ausspruch Hektors, „ein Zeichen ist das beste, zu kämpfen fürs Vaterland“ (Il. 12,243), kann nicht mehr unbesehen für Hurrapatriotismus herangezogen werden, wenn man ihn im Kontext und in seinen Folgen betrachtet, wo eher Blasphemie und verderbliche Hybris angedeutet werden. Überhaupt werden Kampf und Krieg, so blutig es auch oft zugeht, so selbstverständlich sie als Realität wahrgenommen werden, doch keineswegs überhöht oder verherrlicht. „Allgemein ist der Krieg, auch den Tötenden schon hat er getötet“, weist Hektor den warnenden Polydamas zurück (Il. 18,309), und Odysseus lässt die Waffen aus
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dem Saal entfernen mit der Begründung: „Denn automatisch zieht an sich das Eisen den Mann“ (Od. 19,13). Neben der prägnanten Zuspitzung zeigt sich „epische Kürze“ jedoch auch in den Erscheinungsformen von Abbreviatur, Andeutung, Anspielung bis hin zur bewussten Verhüllung oder einem absichtlichen Ignorieren oder Verschweigen, das den Leser zum Entdecken und Erraten provoziert. Die besonders breite und detailreiche Schilderung von immer wiederkehrenden typischen Szenen bleibt den besonders hervorzuhebenden Schlüsselpartien des Epos vorbehalten. Ihre exemplarische Ausstrahlung ist so groß, dass an anderen Stellen eine Abbreviatur, gleichsam ein Kurzzitat genügen kann. Dies gilt für Bewirtung, Ankleidung, Rüstung, aber auch für Kampf- und Sterbeschilderungen, die bisweilen nach wenigen summarischen Angaben in einem der geläufigen Formelverse abgehandelt werden. Wenn dabei die Erinnerung und kreative Phantasie des Lesers angesprochen wird, so gilt dies auch für die sporadischen inhaltlichen Andeutungen und Anspielungen, seien sie nun mythologischer, genealogischer oder geographischer Art. Auch hier dient die Knappheit sowohl der poetischen Ökonomie, der Vermeidung von ermüdender Gleichförmigkeit, wie auch der Erregung von Kombinationseifer und Entdeckerfreude. Dies gilt ganz besonders für die Vorgeschichte des trojanischen Krieges, deren Details an den verschiedensten Stellen eher zufällig eingestreut werden. Das berühmte „Ei der Leda“, aus dem die eigentliche Ursache des Krieges einst gekrochen war, steht nicht nur nicht am Anfang der Ilias, wie schon Horaz in seiner „Ars poetica“ (v. 147) lobend hervorgehoben hat. Die ganze delikate Geschichte von Zeus, der sich mit Leda, der Gattin des Tyndareos, als Schwan vereinigt hatte, und von dem Ei, das die so Geschwängerte geboren hatte (das man noch im zweiten Jahrhundert nach Christus in einem Tempel in Sparta besichtigen konnte!), aus dem dann die allerschönste Helena und ihre Brüder Kastor und Polydeukes hervorgegangen waren, bleibt dezent im Hintergrund. Leda selbst wird in der Ilias nur ohne Namensnennung als die „gemeinsame Mutter“ Helenas und ihrer Brüder erwähnt (Il. 3,248), doch Odysseus trifft sie dann unter den Heroenmüttern im Hades (Od. 11,298–304). Helena wird ganz selbstverständlich, aber eher beiläufig, als „Tochter des Zeus“ bezeichnet (Il. 3,199; 426), doch diese göttliche Abstammung wird nicht näher ausgeführt, und nur in der Odyssee blitzen neben ihrer überwältigenden Schönheit und Kunstfertigkeit auch noch andere geheimnisvolle Züge an ihr auf: Als Tochter des Zeus mischt sie den bekümmerten Männern eine ägyptische Droge in den Wein, die sie alle Trauer vergessen lässt, und ihrem Gatten Menelaos wird „als Schwiegersohn des Zeus“ das ewige Leben im Elysion prophezeit (Od. 4,219–232; 561–569). Aus diesen eher eklektischen Einzelangaben lässt sich nicht ableiten, ob der ganze Zusammenhang der Geschichte dem Dichter schon bekannt war. Vielmehr wird auch hier die grundsätzliche Offenheit des Mythos deutlich, die zum Weiterspinnen und zu neuen Kombinationen verlockte. So wie das Ei der Leda ganz unerwähnt bleibt und das menschliche Wesen der Helena ihren göttlichen Charakter in den Hintergrund drängt, so bleibt auch das andere wichtige Detail aus der Vorgeschichte ganz im Medium der beiläufigen Andeutung, und zwar erscheint es wie ein Nachtrag gegen Ende der Ilias: Der Hass der Göttinnen Hera und Athene auf Troja, Priamos und das ganze Volk war immer schon deutlich geworden,
Abbreviatur von typischen Szenen
Vorgeschichte des Krieges
Göttlicher Charakter der Helena
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Parisurteil
Schuld des Laomedon
Vorgeschichte der Iliashandlung
Dichterische Kunst- und Stilmittel
aber jetzt, wo die anderen Götter von Mitleid mit Hektors Leiche erfüllt werden, muss der Grund für ihre Unerbittlichkeit erwähnt werden. So wie Poseidon haben sie einen ganz persönlichen Anlass für bohrenden Groll: die Verblendung (ate¯) des Paris, der diese beiden (hochrangigen) Göttinnen desavouierte, als sie in sein Gehöft kamen, und dafür jene bevorzugte, die ihm verderbliche Wollust versprach (nämlich Aphrodite, die ihm Helena in Aussicht stellte, Il. 24,25–30). Hinter der Unversöhnlichkeit des Meeresgottes verbergen sich weitere Fakten aus der früheren Geschichte Trojas, die wie beiläufig eingestreut werden. Sie gehören in die Zeit von Priamos’ Vater Laomedon, der sich durch seine Untreue und Heimtücke mehrfach bei den Göttern verhasst gemacht und Unheil über die Stadt gebracht hatte. Poseidon hatte ihm die unzerstörbare Mauer gebaut, wozu er als Erdbebenspezialist besonders prädestiniert war, doch Laomedon hatte ihn um den Lohn betrogen und mit Gewalt bedroht (Il. 21,441–457). So ganz nebenbei war schon im 5. Buch von einer weiteren Schandtat des habgierigen Königs die Rede gewesen, als sich ein Sohn des Herakles der Taten seines Vaters rühmt. Auch dem hatte Laomedon den Lohn vorenthalten für eine Wohltat (die Tötung des von Poseidon zur Strafe gesandten Seeungeheuers, doch dies und die näheren Umstände spart der Text hier aus), und Herakles bestrafte ihn mit der ersten Zerstörung der Stadt (Il. 5,640–642). Wenn in diesen Fällen nur äußerst knappe Anspielungen und Andeutungen gegeben und die eigentlichen Zusammenhänge ausgespart werden, so bedeutet dieser Verzicht auf einen ausführlichen epischen Exkurs die Konzentration auf das Wesentliche: Immer wieder muss, scheinbar ganz nebenbei, eingeschärft werden, dass das traurige Schicksal der ebenso reichen wie arroganten Trojaner letztlich selbst verschuldet ist. So wie die Vorgeschichte des Krieges werden auch Ereignisse der ersten Kriegsjahre vor dem Beginn der Iliashandlung in knappen Andeutungen eingeblendet. Die Ausfahrt der Flotte in Aulis und das auf zehn Jahre Kriegsdauer hinweisende Vogelzeichen ist in die Rede des Odysseus eingebaut, als es darum geht, die Flucht des entmutigten Heeres zu verhindern (Il. 2,303–332). Die allererste Landung der Schiffe am Strand von Troja ist mit dem Namen des Protesilaos verbunden. Dieser wird im Schiffskatalog als Anführer der Thessaler aufgeführt, „als er noch lebte. Doch lange schon lag er in finsterer Erde, zurück blieb die trauernde Gattin im halbvollendeten Haus, ihn tötete ein Dardaner, als er allen Achäern weit voraus als erster vom Schiff an Land sprang“ (Il. 2,699–702). In vier Versen wird hier der Kern einer tragischen Geschichte skizziert, die in nachhomerischer Literatur breit ausgemalt wurde. Die Ilias verzichtet auf Details wie die Namen der jungen Frau und des Dardanerkriegers; wichtig als Klammer für die weitere Handlung des Epos wird der frühe Tod und das Schiff des Protesilaos; wegen der frühen Landung ruht es in exponierter Lage in der vordersten Reihe des Schiffslagers und wird daher als erstes und einziges von Hektor erobert. Sein Brand wird zum Fanal, das den Achill zur Aussendung des Patroklos veranlasst, und damit zu einem Wendepunkt, der durch einen speziellen Musenanruf markiert wird (Il. 13,681–684; 15,704–708; 16,112–129; 204–296). Auch die Kämpfe und Kriegszüge des Achill vor dem Ausbruch seines Zorns werden in dieser Weise episodisch an zahlreichen Stellen eingestreut, als knappe Erwähnungen zur Information, denn sie sollen die Haupthandlung nicht überwuchern.
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Das Extrem an epischer Knappheit schließlich wird in den Fällen erreicht, wo der Dichter seine Hinweise und Anspielungen mit dem Verstummen der Personen verbindet, wo das völlige Schweigen vielsagende Gestalt gewinnt, wie die grollende oder nachdenkliche Sprachlosigkeit von Athene (Il. 4,22) oder Arete (Od. 7,154–236) und die Stummheit des Ajas (Od. 11,543–564). Auch an den Stellen, wo die Kombinationsgabe des Lesers das Ungesagte erschließen soll, unterbleibt die pedantische Aussage und umständliche Erklärung ganz. So enthält zum Beispiel das Geschehen im 20. Buch der Odyssee stumme Pointen, die sich nur dem aufmerksamen Leser enthüllen, für die Homerkritik aber oft anstößig sind. Warum bedienen hier die Hirten als Aushilfskellner bei Tisch, ein Amt, das sonst den Herolden zukommt (Od. 20,254f.)? Weil diese damit beschäftigt sind, die Hekatomben zum Apollonhain zu führen und das Fest des Gottes vorzubereiten (Od. 20,276f.). Warum versammeln sich die Achäer im schattigen Hain ohne den jungen Herrn Telemachos und die adligen Freier (Od. 20,277f.)? Sie strömen dahin aus Neugier und Interesse an den Vorbereitungen, obwohl das eigentliche Fest erst am Abend stattfinden wird (Od. 21,258). Die Herolde sind bald wieder zurück und ordnungsgemäß im Dienst (Od. 21,270), aber die Bürger von Ithaka, und unter ihnen die Verwandten der todgeweihten Freier, sind erst einmal als eventuelle Zeugen des blutigen Geschehens aus dem Weg geräumt. Kein Leser kann mehr die Frage stellen, „ja merkt denn keiner etwas von dem Getümmel im Saal?“ – alle sind ja weit weg im Apollonhain! Die jungen Herren jedoch wollen sich nach ihren vergeblichen Bemühungen, den Bogen zu spannen, erst noch beim Gelage stärken und die Entscheidung auf den Morgen nach dem Fest vertagen. Aber der verkleidete Odysseus, dem Telemachos schon frühzeitig, „den Vorteil erwägend“, doch nur vom aufmerksamen Leser wahrgenommen, die bescheidene, aber strategisch wichtige Sperrposition beim Ausgang an der steinernen Schwelle des Megarons zugewiesen hatte, mit schäbigem Stuhl und Katzentisch (Od. 20,257–259), kommt ihnen zuvor: Nachdem alle sonstigen Vorkehrungen und Absprachen getroffen sind, setzt er sich in den Besitz des Bogens, die Freier sind isoliert und in der Falle, und das Morden kann beginnen: Einer auch noch so knappen Selbstvorstellung – „Ich bin Odysseus …“ wie bei den Phäaken, oder wenigstens „Dein Vater bin ich …“ wie bei Telemachos (Od. 16,188), bzw. „Ich selbst bin es …“ wie bei den Hirten (Od. 21,207) bedarf es nicht mehr, er manifestiert sich im Handeln unmittelbar, und die Freier ergreift mit dem Erkennen zugleich das kalte Grausen, die „gelbgrüne Angst“ (Od. 22,42). Diese Kurzformel für panisches Erschrecken, zitternde Angst bezeichnet immer wieder die emotionale Reaktion auf die Einwirkung übermächtiger, meist numinoser Kräfte, der selbst die größten Helden verfallen. Zeus donnert und schleudert seinen Blitz ins Heer der Achäer, „und alle ergriff das gelbgrüne Entsetzen“, den Idomeneus und den Agamemnon, die beiden Ajas und auch den Odysseus, den Diomedes vergeblich von der Flucht abzuhalten versucht (Il. 8,75–98). Gleiches Entsetzen befällt Odysseus in der Unterwelt beim Andrang der Totenseelen (Od. 11,43), aber auch die Ithakesier, denen beim Friedensruf der Göttin Athene die Waffen aus den Händen fallen (Od. 24,533–535). Das homerische Epos verfügt also durchaus über die Mittel, den Handlungsrhythmus zu variieren, gleichsam die Aktionsart zu wechseln. Dem entspricht die Fä-
Vielsagendes Schweigen
Stumme Pointen und Hinweise
Knappe Selbstvorstellung
Aktionsart und Tonlage
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Dichterische Kunst- und Stilmittel
higkeit zum Wechsel der Tonlagen, also unterschiedliche Stimmungen wiederzugeben und entsprechende Reaktionen hervorzurufen. Damit wenden wir uns bereits dem Stilmittel der pathetischen Affektschilderung zu.
Episches Pathos, Situationen und Stimmungen Unterschiedliche Stilhöhen
Götterkräfte
Gleichnishäufung
Angesichts des auf den ersten Blick so gleichmäßigen, behäbigen Flusses der homerischen Hexameter ist es doch wichtig, den Wechsel der Töne und Stimmlagen wahrzunehmen. Neben der dominierenden epischen Breite in Schilderung, Erzählung und Redewechsel und der damit kontrastierenden, pointierten Knappheit an Gelenkstellen steht das Stilmittel der pathetischen Überhöhung und Aufgipfelung, wobei alle Register der Imagination gezogen werden. In der Ilias folgt dem szenischen Vorspiel im 1. Buch die große, voll orchestrierte Ouvertüre des Aufmarschs der Heere im 2. Buch, und schließlich wird dann das große Finale der Bücher 20–22 im Aufeinandertreffen der Vorkämpfer Achill und Hektor mit einer weiteren Übersteigerung vorbereitet: Jetzt lässt sich der eigentliche Heeresaufmarsch in drei knappen Versen abhaken, wenn auch durch die direkte Anrede des Achill pathetisch akzentuiert: „So rüsteten sich die Achäer bei den Schiffen, um dich, du kampfbegieriger Sohn des Peleus, und andererseits die Troer auf der Bodenwelle der Ebene“ (Il. 20,1–3) – doch dann weiten sich Panorama und Kräfteentfaltung ins Elementare und Kosmische. In einer Vollversammlung aller Gottheiten erweckt der Kronide ein unerbittliches Kämpfen, die Verkörperungen von Streit und Krieg, Eris, Athene und Ares stürzen sich ins Getümmel, ihr Kampfruf erschallt laut um Graben und Mauer, am tosenden Strand, dröhnend wie ein finsterer Gewittersturm vom Gipfel der Burg oder vom Ufer des Flusses, Zeus donnert furchtbar von der Höhe des Olymp herab, von unten her jedoch lässt Poseidon die grenzenlose Erde erbeben und die steilen Häupter der Berge, alle Hänge und Gipfel des quellenreichen Ida werden erschüttert, auch die Stadt der Trojaner und die Schiffe der Achäer, und ganz zuunterst wird der Herr der Unterwelt, der unsichtbare Hades, von Furcht ergriffen; voll Entsetzen springt er auf von seinem Thron und erhebt ein gellendes Geschrei: „Nicht möge über ihm die Erde aufreißen der Bodenerschütterer Poseidon, dass seine Behausung, grässlich und moderig-dumpf, vor der es selbst Göttern graust, für Sterbliche wie Unsterbliche ans Licht käme – solch ein Getöse erhob sich, als die Götter im Streit aufeinander trafen“ (Il. 20,62–66). In dieser gewaltigen Vision, vor allem mit akustischer Untermalung, wird jene Götterschlacht beschworen, die sich dann erst allmählich und eher episodisch in Einzelszenen entwickelt und schließlich versöhnlich in olympischer Heiterkeit ausklingt, während auf Erden der Todeskampf wütet. Auch der erste pathetische Gipfel des Epos beim Heeresaufmarsch im 2. Buch hatte akustische, mehr jedoch noch optische Effekte zum Zweck der emotionalen Überhöhung gehäuft, allerdings in größerer Nähe zum realen irdischen Schauplatz und dem Phänomen menschlicher Massenheere. Bevorzugtes Kunstmittel dafür ist, wie bereits gesehen, die phantasiebeflügelnde Gleichniskette mit loderndem Waldbrand, kreischend flatternden Vogelvölkern,
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vielfältig sprossender und blühender Talaue und wimmelnden Fliegenschwärmen; göttliche Überhöhung beschränkt sich dabei auf die Hervorhebung des ermunternden Glanzes der hundertquastigen goldenen Ägis, mit der Athene das Heer durchstürmt (Il. 2,446–473). Ein weiterer Anlauf zum pathetischen Aufschwung schließt sich unmittelbar an mit dem besonders ausführlichen Musenanruf des Dichters, der Bitte um göttliche Inspiration für die gewaltige Heerschau in Katalogform, deren Bewältigung weit über Menschenkraft hinausgeht. „Die Menge ist so groß, dass ich sie weder in Worten beschreiben noch namentlich aufzählen könnte, selbst wenn ich zehn Zungen und zehn Münder hätte, eine unzerreißbare Stimme und eine eherne Brust …“ (Il. 2,488–490). Mit dieser rhetorischen Formel der Übersteigerung (Hyperbel), der bewussten Verfremdung von Realität zur Erweckung bestimmter Affekte wird ganz klar gesagt, dass die anschließenden 384 Verse (Il. 2,494–877) mit ihrer endlosen Folge von Namen und Zahlen nicht etwa ein dürres Dokument bürokratischer Buchführung sind, das sich irgendwann in die Dichtung verirrt hat. Vielmehr wird deutlich, dass die geballte Ansammlung von Mythologie, Genealogie und Geographie im Schiffskatalog des Achäeraufgebots wie im anschließenden Katalog der Troer und ihrer Bundesgenossen nichts anderes ist als eine ganz spezifische Form des Pathos, die sich der Klangfolge und Gruppierung von Namen bedient wie ein Symphoniker der Töne und Instrumente: „Boio¯to¯n men Pe¯neleo¯s kai Le¯itos e¯rchon, Arkesilaos te Protoe¯no¯r te Klonios te …“ Mit der „ehernen Brust“ des Musenanrufs ist eng verwandt die Hyperbel vom „eisernen Gemüt (Brust, Herz)“, sozusagen dem „Stein in der Brust“, die sowohl in Ilias wie Odyssee in besonders emotionalen Szenen gebraucht wird und auch dort der pathetischen Akzentuierung dient, sei es beim Tod Hektors (Il. 22,357), beim nächtlichen Gang des Priamos zum Mörder seines Sohnes (Il. 24, 205; 521), im Bauch des hölzernen Pferdes (Od. 4,293) oder angesichts der unerbittlichen Kälte Penelopes (Od. 23,172). In der griechischen Tragödie wirkt diese katalogartige Aneinanderreihung oft fremdartig klingender Namen als stimmungserzeugendes Kunstmittel unmittelbar weiter, besonders in den „Persern“ des Aischylos (v. 21–58; 302–330), sei es im Eingangslied des Chores wie auch in der Schlachtschilderung des Boten. In den eigentlichen Massenszenen des Schlachtgewühls in der Ilias spielt die additive, gleichsam atemlose katalogartige Häufung von Details eine ähnliche Rolle. Immer wieder wird die dramatische Einzelschilderung von Kampfszenen abgelöst und gesteigert durch das Stakkato einer summarischen Aneinanderreihung von Namen getöteter Gegner. Ähnlich wie der Fanfarenstoß einer Musenanrufung kann auch jene Pathos-Formel der direkten Anrede einer handelnden Person (die sog. „Apostrophe“, die uns schon bei Achill begegnet ist) den Effekt eines solchen Kataloges steigern: „Wen erschlugst Du danach als Ersten, und wen als Letzten, Patroklos, als Dich die Götter zum Tode riefen? – Adrestos zuerst, und Autonoos und Echeklos, auch den Megaden Perimos, und Epistor und Melanippos, dann aber Elasos und Mulios und auch Pylartes – die erschlug er, die anderen suchten zu fliehen“ (Il. 16,692–697). Mit diesem gedrängten Resümee ist der Gipfel von Patroklos’ Siegeslauf erreicht, ehe der Gott Apollon ihm entgegentritt. So wie die katalogartige Aufzählung der Namen überwundener Gegner
Musenanruf zur Einstimmung
Pathos der NamenKataloge
Atemlose Aufzählung erlegter Gegner
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Optische Fülle als Vision höchster Wehrkraft
Pathos des Grässlichen
Pathos der Verzweiflung
Effektvolle Abenteuerstimmung
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ein Höchstmaß der Sieghaftigkeit suggeriert, so evoziert die geballte Konzentration von Waffenbezeichnungen die Vorstellung eines unerschütterlichen, unwiderstehlichen Heeres: „Um die beiden Ajas stellten sich auf die starken Reihen der besten Kämpfer und bildeten einen Zaun von Speer an Speer und Turmschild an Turmschild darunter, es drängten sich Rundschild an Rundschild, Helm an Helm, und Mann an Mann, und es berührten sich die Rosshaarbüsche der Helme mit ihren leuchtenden Bügeln bei jeder Bewegung, so dicht standen sie beieinander, und ihre Speere verschränkten sich, von mutigen Händen geführt …“ (Il. 13,126–135). Diese Schlachtreihen (phalanges), „an denen selbst Ares und Athene nichts hätten tadeln können“, bilden eine geordnete Abwehrfront, eine entwickelte Phalanxtaktik muss mit dieser Schilderung noch nicht unbedingt verbunden sein. Der Sturmangriff der Trojaner an dieser Stelle, vor allem aber der fünf abgestiegenen Wagenabteilungen im 12. Buch zeigt eine lockere Gruppierung (kosmos) um die jeweiligen Anführer, die in einem gegliederten Katalog namentlich aufgezählt werden, insgesamt fünfmal drei der hervorragenden Helden bei Trojanern, Dardanern und Lykiern (Il. 12,86–107). Der gewaltigste aller Sturmläufe in der Ilias, der Rachekampf Achills, verlangt dann zur Einstimmung nach einer weiteren Steigerung des emotionalen Elements. Der Dichter greift dabei zum Kunstmittel des Stimmungs-Pathos: Eine Serie der grässlichsten, blutrünstig ausgemalten Tötungsszenen – Polydoros hatte sich, sein Gedärm in Händen haltend, auf der Erde gewälzt, dem Tros wird die Leber aus dem Leib gehauen, dem Mulios der Speer von Ohr zu Ohr durch den Schädel getrieben, dem Deukalion der Kopf samt Helm abgeschlagen, dass das Mark aus den Nackenwirbeln spritzt – geht über in eine generelle Szenerie des Schlachtfeldes. „Die dunkle Erde floss in Blut, die von Achill getriebenen Pferde zerstampften zugleich Leichen und Schilde; mit Blut war die ganze Wagenachse von unten beschmiert und die Brüstung des Wagens, getroffen durch die Blutspritzer von Hufen und Rädern; so stürmte der Pelide ruhmbegierig daher und beschmutzte sich die unbesiegbaren Hände mit Blut und Staub“ (Il. 20,414–503). So wie hier die offenen Mordgräuel im Triumph der Schlacht beschworen werden, so kann das Stimmungspathos auch Beklemmung, Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit des Kampfes abbilden: Beim verzweifelten Kampf um die Leiche des Patroklos senkt sich dichter Nebel über das Geschehen, dass man weder Sonne noch Mond hätte sehen können (Il. 17,366–369), bis schließlich der große Ajas in den Hilferuf ausbricht: „Vom Nebel verhüllt sind Menschen und Pferde, drum, Vater Zeus, erlöse du vom Nebel die Achäer, schaff ’ uns Himmelshelle, gib den Augen zu sehen, nur im Licht wenigstens lass uns auch sterben, falls es dir so gefällt – so sprach er, Tränen vergießend, und der Vater erbarmte sich seiner. Sogleich zerstreute er den Nebel und vertrieb den Dunst, die Sonne leuchtete auf, und das ganze Schlachtfeld zeigte sich im Lichte“ (Il. 17,644–650). Von einer durchgehenden intensiven Stimmungsmalerei getragen ist das abenteuerliche „Nachtstück“ des 10. Buchs der Ilias, die „Dolonie“. Man findet hier ein ganz spezifisches Pathos, das einen Dichter (Euripides?) später dazu veranlasst hat, die Tragödie „Rhesos“ daraus zu machen, und in der wissenschaftlichen Homeranalyse zur Annahme eines späteren, besonders effekthaschenden „Dolonie-Dichters“
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geführt hat. Es beginnt mit Schlaflosigkeit und Angst, man sucht sich in der finsteren Nacht, versammelt sich auf einem freien Fleck zwischen den Leichen auf dem Schlachtfeld, sendet Diomedes und Odysseus als nächtliche Späher zum Lager der Feinde aus, und diese gehen durch Mord und Leichen, Waffen und schwarzes Blut, wie zwei Löwen durch die finstere Nacht. Nichts ist zu sehen, nur der Flügelschlag eines Reihers oder die Schritte der Entgegenkommenden sind zu hören, und im gegnerischen Lager liegt alles in tiefem Schlaf, ideal für den Überfall. So konzentriert dieses Stilmittel hier auch angewendet wird, es gibt durchaus Vergleichbares auch sonst in den Epen. So wie hier, oder bei der nächtlichen Fahrt des Priamos zum feindlichen Lager im 24. Buch der Ilias, Angst und Schrecken der Finsternis Gestalt gewinnen, so werden in der „Odyssee“ besondere Paniksituationen vorgeführt. In der Abwesenheit des Odysseus haben seine hungrigen Gefährten den Frevel begangen, die heiligen Rinder des Sonnengottes Helios zu schlachten. Schon bei der Rückkehr umfängt ihn der verhängnisvolle Bratenduft, und die Götter senden schreckliche Wunderzeichen. Die abgezogenen Rindshäute kriechen am Boden umher, das Fleisch muht auf den Spießen, gebratenes und rohes, es hört sich an wie das Gebrüll von Kühen (Od. 12,368–396). Ähnliche Visionen erleben die Freier in ihrer höchsten Verblendung, als letzte Warnung vor ihrem endgültigen Untergang. Die Göttin Athene selbst erregt unter ihnen jenes unbändige Gelächter, verwirrt ihnen den Verstand, dass sie mit verzerrten Kinnbacken irre lachen und blutigrohes Fleisch verschlingen. Ihre Augen schwimmen in Tränen, ihr Gemüt ahnt Jammervolles, und darüber hinaus verwandelt der anwesende Seher Theoklymenos, „der Götterhörende“, die Vorzeichen in eine grässliche Prophezeiung: „Mit Nacht verhüllt sind euch Häupter, Gesichter und Knie, Wehklage erfasst euch, die Wangen sind nass von Tränen, mit Blut bespritzt sind Wände und das schöne Gebälk, und draußen füllen sich Vorhalle und Hof mit Totenseelen, die ins Dunkel der Unterwelt streben, die Sonne ist vom Himmel verschwunden, und über allem liegt ein ekelhafter Nebel“ (Od. 20,345–357). Hier ist ein Höhepunkt jenes „Affektpathos“ erreicht, das die äußerste Erschütterung des Hörers erregen soll und von den Stilkritikern vornehmlich dem „erhabenen Ton“ (genus sublime) zugeschrieben wird. Tatsächlich erreicht der Dichter hier die stimmungsmäßige Vorwegnahme des nachfolgenden Gemetzels im Saal und der Unterweltreise der Freierseelen. Aktionspathos und Stimmungspathos ergänzen sich also in der Funktion, das monotone Gleichmaß des Alltäglichen im Gedicht zu überhöhen. Neben den Passagen pathetischer Steigerung und den dramatischen Szenen, die vor allem durch die Wechselreden der beteiligten Personen strukturiert werden, stehen diejenigen Partien des homerischen Epos, in denen mehr die spezifische Grundstimmung dominiert. Auch hier gibt es bestimmte Beziehungskonstellationen individueller Personen, die sich jedoch nicht vornehmlich in Rede und Gegenrede artikulieren, sondern in besonderer Weise durch die grundsätzliche und individuelle Situation getragen und geprägt sind. Dabei gewinnen bloße Gesten und das Mienenspiel, Gefühlsregungen und Verhaltensweisen bis hin zum einfachen Schweigen,
Gräuelvision und Untergangsprophetie
Aktionspathos und Stimmungspathos
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Der einsame Held
Begegnungen
Das Liebespaar
Die ungleichen Brüder
Mann und Frau
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Nichtreden, Verstummen erhöhte Bedeutung. Die einfachste Form einer solchen epischen Situation liegt vor, wenn der Held nach großer Emotion weinend allein zum Strand des schäumenden Meeres geht und über die grenzenlose Flut hinblickt, wie Achill nach dem Ausbruch des Zorns (Il. 1,348–350), oder dann in der Emotion und Erschöpfung des Rachezorns mit tiefem Stöhnen am offenen Strand des laut rauschenden Meeres liegt, wo die Wellen gegen das Ufer klatschen, und schließlich vom gliederlösenden Schlaf ergriffen wird (Il. 23,59–63). Auch Odysseus entflieht der Nähe der liebenden Nymphe Kalypso und sitzt tagelang heimwehkrank an der Küste, auf Felsen und Klippen, weinend und seufzend, unter Schmerzen sich aufreibend, und blickt dahin über das wogende Meer, Tränen vergießend (Od. 5,151–158). Aus der Situation des einsamen Menschen am Meeresstrand mit seinen Emotionen ergeben sich oft weiterführende Begegnungen mit ebenfalls stark emotionalem Charakter: Zu dem weinenden Achill tritt seine göttliche Mutter Thetis, aus dem Meer auftauchend, dem schlafenden Achill erscheint der tote Patroklos im Traum, den heimwehkranken Odysseus sucht die Nymphe Kalypso auf, um ihm die von den Göttern verfügte Heimkehr zu verkünden. Andere Szenen sind von Anfang an als Begegnungen zweier Personen im Bann einer besonderen Grundsituation konzipiert. Aus dem für Paris nicht sehr rühmlichen Ausgang des Zweikampfes mit Menelaos entwickelt sich eine kontrastreiche Folge solcher Begegnungen, die trotz vorübergehender Dominanz der vordergründigen Handlung doch in einem inneren Zusammenhang stehen und neben ihrer Bedeutung als einer ethischen Grundlinie auch eine kompositorische Klammerfunktion im Rahmen des Ganzen erhalten. Die Liebesgöttin hat den unterlegenen Paris dem Menelaos entrückt und ihm die widerstrebende Helena im Schlafgemach zugeführt. Die beiden sitzen einander gegenüber; die schuldbewusste Ehebrecherin, von der dämonischen Göttin schon eingeschüchtert, der prahlerische Frauenheld und Lebenskünstler, der die Dinge nicht so tragisch ernst nimmt – „Diesmal hat Menelaos mich besiegt mit Athenes Hilfe, ein andermal wieder besiege ich ihn, denn auch bei uns gibt es helfende Götter! Jetzt aber wollen wir uns der Liebe zuwenden …“, und Helena gehorcht (Il. 3,426–447). In innerer Beziehung dazu stehen dann, nach dem verräterischen Schuss des Pandaros und dem Sturmlauf des Diomedes im 4. und 5. Buch, die Begegnungen des 6. Buchs: Die beiden ungleichen Brüder, Paris und Hektor, treffen sich zweimal in Troja, zuerst nach dem Schäferstündchen im luxuriösen Haus des Paris und in Gegenwart der Helena (Il. 6,314–368), dann auf dem Weg in die Schlacht (Il. 6,503–529). Der Tenor wandelt sich dabei vom Tadel durch Hektor, Zerknirschung bei Paris und Helena zu Versöhnlichkeit und Zuversicht. Auch die Verblendung der beiden ist von Zeus verhängt, damit sie für die Nachwelt im Lied berühmt werden, und Hektor gesteht dem Bruder trotz aller Lässigkeit und Willensschwäche eine unbestreitbare Kampfestüchtigkeit zu. Diese beiden Szenen umrahmen und kontrastieren die sorgfältig durchgeformte Begegnung, die seit der Antike berühmt und viel behandelt ist und dem 6. Buch in der Tradition auch seinen Titel gegeben hat, „das Zusammensein von Hektor und Andromache“, Hektoros kai Andromache¯s homilia. Auch hier gewinnt die Beziehung
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von Mann und Frau Gestalt, in Rede und Gegenrede, aber mehr noch durch Gesten und Verhaltensweisen. Einer Rasenden gleich war Andromache mit Kind und Amme auf den Turm geeilt, in raschem Lauf findet Hektor sie beim Skäischen Tor. Still lächelt er beim Anblick seines Kindes, Andromache tritt auf ihn zu unter Tränen und ergreift seine Hand. Beide sprechen in längerer Rede von ihren Sorgen und Kümmernissen. Von Mitleid mit Frau und Kind bewegt, greift Hektor nach dem Söhnchen, doch dieses wendet sich schreiend zurück zur Amme, erschreckt durch den Anblick seines Vaters, den erzglänzenden, flatternden Busch seines Helmes. Da müssen Vater und Mutter auflachen, Hektor setzt den Helm ab, nimmt den Sohn auf den Arm, küsst ihn und betet für ihn, und gibt ihn zurück an die Mutter. Die drückt ihn an die Brust, unter Tränen lachend, ihr Gatte bemerkt es und streichelt sie voll Mitleid mit der Hand, „Du Unbegreifliche, gräme dich nicht so sehr, keiner kann seinem Schicksal entgehen, drum geh nach Hause und widme dich wieder deinen Alltagsgeschäften“ (Il. 6,486–493). Hektor ergreift wieder den Helm, und Andromache entfernt sich weinend unter häufigem Zurückblicken. Die viel diskutierte eigentümliche Anrede daimonie, „von unbestimmten dämonischen Kräften getrieben“, findet sich vor allem in derartigen emotional aufgeladenen Situationen. Sie beschließt diese Szene, und sie steht auch an ihrem Anfang. „Du Unbegreiflicher, dein Kampfesdrang wird dich verderben“, hatte Andromache den Gatten begrüßt (Il. 6,407). Mit derselben Charakteristik hatte jedoch auch Hektor bei jenen beiden Begegnungen (Il. 6,326; 521) den Bruder angeredet, offensichtlich in dem Bestreben, dessen Verhalten irgendwie zu verstehen. In der entscheidenden Wiedererkennungsszene der Odyssee findet sich das gleiche Phänomen; „Du Unbegreifliche, so hartherzig wie du ist keine andere“, sagt Odysseus zu Penelope, und diese entgegnet: „Du Unbegreiflicher, versteh’ mich doch erst …“ (Od. 23,166; 174). Das beiderseitige Befremden löst sich erst nach dem untrüglichen Beweis durch das Erkennungszeichen, das Wissen um das unverrückbare Bett: Jetzt geht Penelope weinend auf Odysseus zu, umarmt und küsst ihn und redet ihn mit Namen an: „Zürne mir nicht, Odysseus …“ (Od. 23,207–209). Vorangegangen war eine erste Begegnung nach dem Freiermord. Alles ist überzeugt von der Identität des Zurückgekehrten, die Schaffnerin Eurykleia weist auf das Echtheitszeichen der Narbe hin, doch Penelope bleibt skeptisch, allenfalls will sie sich ansehen jenen Unbekannten, „den, der die Freier getötet hat“ (Od. 23,84). Beide sitzen sich dann an den Wänden des Saales gegenüber, Odysseus noch im Bettlergewand im Schein des Feuers, den Blick gesenkt und darauf wartend, ob seine Frau ihm etwas sagen wird, jetzt, da sie ihn vor Augen sieht. Sie aber sitzt lange schweigend und staunend, sieht ihn immer wieder an von Angesicht zu Angesicht, und dann wird sie wieder irre an seinem schlechten Erscheinungsbild. Das lange Schweigen dauert an, bis es von dem Sohn Telemachos gebrochen wird und in ein eigenartiges Stellvertretergespräch, erst von Mutter und Sohn, dann von Vater und Sohn übergeht, jeweils in stummer Gegenwart der Hauptperson. „Mutter, du Unmutter, wie kannst du den Vater so befremden, dein Herz ist härter als Stein!“ – „Mein Kind, ich bin wie betäubt; doch wenn es wirklich Odysseus ist, der da nach Hause kam – wir haben da so unsere Zeichen …“ Da lächelt der viel duldende Odysseus: „Telemachos, lass deine
Lachen unter Tränen
Unbegreifliche Seelenhaltung
Wiedererkennung
Dreiecksgespräch
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Humanität zwischen Feinden
Spannungsreiches Gegenüber
Schweigen im Saal
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Mutter mich ruhig auf die Probe stellen – wir wollen inzwischen das Nötige tun!“ (Od. 23,96–122). Als eine menschliche Grundsituation von besonderer Bedeutung im Geschehen der Ilias, aber auch in der Wirkungsgeschichte der homerischen Dichtung, hat man zu allen Zeiten die nächtliche Begegnung von Achill und Priamos im 24. Buch angesehen, Höhepunkt und Ziel der ganzen ethischen Thematik des Epos. Auch hier kommt der Stimmung, den Gesten, den leisen Tönen eine wichtige Bedeutung zu. Ungesehen von allen betritt die hohe Gestalt des Priamos den Raum, wo Achill noch am Esstisch sitzt, tritt zu ihm, berührt mit den Händen seine Knie und küsst ihm die Hände, die schrecklichen, männermordenden, die ihm so viele Söhne getötet haben, und Achill staunt beim Anblick des göttergleichen Priamos, und auch die anderen Anwesenden staunen und sehen sich fragend an. Der ehrwürdige Alte unterstützt seine flehende Rede durch eine Erinnerung an Achills eigenen Vater und erregt in ihm sehnsüchtige Klage, so dass er ihn bei der Hand ergreift und sachte von sich weg schiebt. Beide überlassen sich der Erinnerung und weinen um ihre Toten, um Hektor und Patroklos, Priamos zusammengekrümmt zu Füßen des Achill, bis dieser schließlich sich vom Sessel erhebt und den Greis am Arm ergreifend vom Boden in die Höhe zieht, voll Mitleid für sein graues Haupt und seinen grauen Bart. Er fordert ihn zum Niedersitzen in einem Sessel auf, unterstützt von Reflexionen über den Wechsel des Schicksals. Der bekümmerte Priamos lehnt ab, Achill ergrimmt, und der Bittflehende muss sich fügen, bis Hektors misshandelter Leichnam gebührend hergerichtet ist. Dann kehrt Achill zurück und setzt sich wieder auf den Stuhl, von dem er sich erhoben hatte, dem Gast gegenüber an der anderen Wand. Diese Situation des Gegenübersitzens zweier Hauptpersonen – hier Achill und Priamos, früher in der Ilias Paris und Helena, in der Odyssee Odysseus und Penelope – ist die Bildformel des Epos für spannungsvolle zwischenmenschliche Beziehung, in der geredet wird, in der aber auch Gesten wirksam werden, oder in der überhaupt geschwiegen wird. Die Szene zwischen Achill und Priamos gipfelt im gegenseitigen staunenden Betrachten und Bewundern der früheren Todfeinde (Il. 24,629–634). Eine weitere Szene der Odyssee zeigt auch in anderer Hinsicht vergleichbare Strukturen und Stimmungselemente: Im 7. Buch kommt der schiffbrüchige Odysseus ebenfalls ungesehen – durch göttliche Hilfe wie Priamos – in eine abendliche Situation im Palast des Phäakenkönigs Alkinoos und legt die Arme bittflehend um die Knie der Königin Arete, wie ihm Athene zuvor geraten hatte. Im ganzen Saal verbreitet sich staunendes Verstummen bei dieser plötzlichen Erscheinung eines Fremden, Odysseus bringt seine Bitte um Geleit in die Heimat vor und setzt sich am Herd in die Asche, beim Feuer. Alle versinken wieder in Schweigen, auch das Königspaar, sogar die direkt angesprochene Königin. Nach längerer Zeit erst ergreift der Älteste unter den Phäaken das Wort und weist den König auf seine Gastgeberpflichten hin; der reagiert, ergreift den Odysseus bei der Hand, hebt ihn auf vom Herd, setzt ihn auf den Ehrensitz neben sich, wo sein Lieblingssohn Platz machen muss, und dann erfolgt die gebührende Bewirtung des Fremden. Dieser wird immer noch nicht direkt angeredet, man redet nur über ihn. „Freilich wollen wir ihn geleiten, aber vielleicht ist er ja ein Gott.“ Da wendet sich Odysseus direkt an Alkinoos: „Das bin ich nicht, im
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Gegenteil, der unglücklichste der sterblichen Menschen!“ Man spricht sich für die Heimgeleitung am folgenden Tag aus, und alles geht nach Hause zur Nachtruhe; zurück im Saal des Megarons bleiben nur Odysseus, Arete und Alkinoos. Erst jetzt ist die Intimität hergestellt, in der sich zwischen diesen dreien ein Gespräch entwickelt, und nun ergreift auch Arete sogleich das Wort: „Fremder, als erstes möchte ich selbst dich Folgendes fragen: Wer bist du, woher kommst du? Wer hat dir diese Kleider gegeben? Sagst du nicht, du seiest übers Meer verschlagen hierher gekommen?“ (Od. 7,237–239). Die Situation ist äußerst delikat und spannend. Die Königin hat die Kleider erkannt, die sie selbst verfertigt hatte, wie kommt der Gast in ihren Besitz? Hörer und Leser der Erzählung wissen, dass die Königstochter Nausikaa sie ihm am Flussufer gegeben hat, nicht so aber die Königin. Diese leicht argwöhnische Frage gibt jedoch dem Odysseus den Anstoß, erst einmal die unmittelbar vorangehende Schlussphase seiner Abenteuer und eben damit die Begegnung mit Nausikaa zu erzählen. Die kunstvolle, überraschende Szenenführung und Stimmungsschilderung dieser Episode hat manche Beurteiler befremdet, die vom Dichter eine klare einzeilige Handlungslinie verlangen. „Das Schweigen der Arete“ hat viel Diskussionsstoff gegeben – doch es ist sehr viel mehr Schweigen im Raum, wie wir gesehen haben, und auch sonst spielt das Verstummen und Nichts-Sagen im Epos eine viel größere Rolle, als man gemeinhin glaubt. Darüber hinaus darf auch der Einfluss einer höfischen Etikette nicht gering geachtet werden. Den „Kleiderdingen“ hat man in dieser Szene eine Bedeutung von tiefster Symbolik zugeschrieben, aber selbst gearbeitete, kostbare Kleidung, in den Truhen der Schatzkammer aufbewahrt, erfährt in Ilias und Odyssee eine ganz allgemeine, mit späteren Zeiten unvergleichbare Hochschätzung und Aufmerksamkeit. Hier dient sie ganz einfach als Erkennungsmerkmal, wie später Kleid und Schmuck, die Penelope ihrem Gatten nach Troja mitgegeben hatte (Od. 19,218– 240). Ein Gutteil des Zaubers, der zu allen Zeiten von Homer ausgegangen ist, dürfte auf die leisen Töne derartiger Situationsschilderungen zurückzuführen sein.
Gespräch unter sechs Augen
Symbolik oder Etikette?
Odysseus und Nausikaa im Beisein Athenes
III. DICHTUNG UND WIRKLICHKEIT Natürliche Umwelt: Himmel und Erde Kosmisches Weltbild
Orientierung am Sternenhimmel
Die Schilderung des umfassenden Weltbilds auf dem „Schild des Achilleus“ beginnt kosmisch. Sie entwirft gleichsam ein astronomisches System aus authentischer göttlicher Sicht, denn es ist der Schmiedegott Hephaistos persönlich, der das Wunderwerk im Olymp gestaltet: „Viele Bildwerke machte er dort mit klugem Verstande. Dort erschuf er die Erde, den Himmel auch, dort auch die Meerflut, auch die unermüdliche Sonne, dazu noch den Vollmond, dort auch alle Gestirne, mit denen der Himmel umkränzt ist, die Plejaden nebst den Hyaden, sowie den Orion, und die Bärin dazu, die manche auch Wagen benennen, die sich immer am gleichen Ort dreht, den Orion belauernd, und als einzige nicht am Bade im Ozean teilhat“ (Il. 18,483–489). Da die Schildbeschreibung mit der Erwähnung des allumfassenden Weltstromes Okeanos „am äußersten Schildrand“ endet (Il. 18,607f.), könnte man sich die Gruppe von Sonne, Mond und Sternbildern in der oberen Schildmitte vorstellen, in einer ähnlichen Anordnung wie auf der bronzezeitlichen „Himmelsscheibe von Nebra“. Dass es sich hier um den Niederschlag sehr realer astronomischer Beobachtung handelt, zeigen die Angaben über die gegenseitige Position der Sternbilder, das Wissen um ihre unterschiedlichen Benennungen sowie die Kenntnis des Phänomens der Zirkumpolarsterne. Die praktische Anwendung dieser Kenntnisse für die Seefahrt illustriert die zum Teil wortgleiche Passage der Odyssee, wo der Held bei der Reise von Ogygia nach Scheria sich am Himmel orientiert: „Er aber saß am Steuer des Floßes
Natürliche Umwelt: Himmel und Erde
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und richtete sorgsam dessen Kurs. Kein Schlaf überfiel seine Augenlider; die Plejaden hielt er im Blick, und Bootes, der spät erst untergeht, und die Bärin dazu, die auch Wagen genannt wird, die sich immer am gleichen Ort dreht, den Orion belauernd, und als einzige nicht am Bade im Ozean teilhat. Die nämlich hatte Kalypso, die göttliche Frau, ihn geheißen, während der Fahrt übers Meer stets zur linken Hand sich zu halten“ (Od. 5,270–277). Auch hier wird das astronomische Wissen auf einen göttlichen Rat zurückgeführt, realistisch ist jedoch die Nutzanwendung: Wer wie Odysseus den großen Bären oder Wagen, und damit auch den Polarstern, stets zur Linken behält, der fährt eindeutig von Westen nach Osten. Die eher im Märchenhaft-Ungewissen lokalisierten Inseln von Kalypso und den Phäaken gewinnen dadurch eine Andeutung von geographischer Fixierung. Als „Tochter des Atlas“ gehört die Nymphe ohnehin mehr in den Westen des Mittelmeeres (Od. 1,52), und auch für die Phäaken liegt dann die östliche Insel Euböa fast schon am Rande der Welt (Od. 7,321). Alles in allem werden die astronomischen wie die meteorologischen Erscheinungen am Himmel durchaus empirisch wahrgenommen: Der Sonnengott Helios wird zwar als personaler Gott immer wieder erwähnt, er ist es, der alles sieht und hört, auch den Ehebruch von Ares und Aphrodite, und deshalb als Eideszeuge gerufen wird (Od. 8,270f.; Il. 3,277). Dennoch behält die Sonne als dominierendes Himmelslicht ihren phänomenologischen Charakter, ihr Einfluss auf die Menschen ist ganz natürlich: „In den Ozean tauchte das strahlende Licht der Sonne, nach sich ziehend die dunkle Nacht auf die Leben spendende Erde. Zwar die Troer sahen nur ungern das Scheiden des Lichts, doch den Achäern willkommen und dreifach erfleht kam herauf die finstere Nacht“ (Il. 8,485–488). Den Siegern scheidet die Sonne zu früh, die Bedrängten sehnen die Nacht herbei – diese Verse sind gleichsam die homerische Variante zu Wellingtons Stoßseufzer am Abend der Schlacht bei Waterloo: „Ich wollte, es würde Nacht, oder die Preußen kämen!“ Der Selene oder Mene, dem Mond, ist bei Homer keine Göttin zugeordnet. Das Nachtgestirn wird optisch wahrgenommen als abnehmend und zunehmend, Neumond und Vollmond, strahlend in ätherklarer Nacht, umgeben von allen Sternen, wie wir es bei den Gleichnissen bereits gesehen haben. Unter den Fixsternen werden vor allem die großen, eindrucksvollen Sternbilder und Sterngruppen wie Orion und Himmelswagen, Plejaden und Hyaden hervorgehoben, die besonders auffällig sind und der Orientierung dienen können, oder auch durch ihren Auf- und Untergang die Jahreszeiten bezeichnen: Hinter den Namen der Sternbilder stehen letztlich wiederum Sagengestalten, wie etwa der Jäger Orion, dem Odysseus in der Unterwelt begegnet (Od. 11,572–575). Dessen Hund wird am Himmel durch den „Hundsstern“, den Sirius, markiert, den hellsten aller Fixsterne, mit dem die Ilias in einem gewaltigen Gleichnis den Achill vergleicht, der durch die Ebene stürmt, „strahlend wie der Stern, der zur Herbstzeit aufsteigt, dessen weit überglänzende Strahlen hervorleuchten unter den unzähligen Sternen im Dunkel der Nacht, den sie ‘Hund Orions’ mit Namen benennen. Er ist der am hellsten strahlende, und doch als übles Vorzeichen an den Himmel gesetzt, denn er bringt viel Fieberglut den elenden Menschen – so strahlte das Erz von der Brust des Daherstürmenden“ (Il. 22,26–32).
Sonne und Mond
Sirius, der Hundsstern
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Athene als Meteor
Planeten
Witterungserscheinungen
Dichtung und Wirklichkeit
In kürzerer Fassung war der Vergleich schon auf Diomedes angewendet worden, und auch Hektor wurde mit dem Unheilsstern verglichen (Il. 5,5–7; 11,62f.). Hier anlässlich des Endkampfes des größten aller Helden erfährt auch das Gleichnis seine höchste Steigerung. In einem anderen Bild werden Himmelserscheinung, göttliches Vorzeichen und persönliches Eingreifen einer Gottheit als Einheit gesehen: Zeus sendet Athene vom Olymp herab wie einen strahlenden Stern als Wunderzeichen für die Seeleute oder das Heerlager, unzählige Funken versprühend, mitten zwischen die aufgeschreckten Troer und Achäer (Il. 4,73–80). Während hier die eingreifende Kriegsgöttin wie ein Meteor erlebt wird, unterbleibt die sonst weit verbreitete unmittelbare Identifikation der Götter mit den Planeten. Diese verträgt sich schlecht mit der Personalisierung und Menschennähe der homerischen Götterwelt. Der auffälligste und hellste Planet, die Venus, wird nicht mit Aphrodite in Beziehung gebracht, sondern als Naturerscheinung erwähnt, als Morgenstern und Abendstern: Einmal zur Angabe der frühen Morgenstunde, „als der hellste Stern aufging, dessen Erscheinen vor allem das Licht der Morgenröte ankündigt“ (Od. 13,93f.), oder im Gleichnis zur Charakterisierung des Glanzes, der von Achills Lanze ausgeht, „so wie der Stern, der unter den Sternen wandelt im Dunkel der Nacht, der abendliche, der als schönster Stern am Himmel steht“ (Il. 22,317f.). Auch Zeus ist nicht der Planet Jupiter; als Enkel des Himmels (Uranos) ist er der Himmelsgott schlechthin und zuständig für die Himmels- und Wettererscheinungen wie Donner und Blitz, Regenbogen, Regen, Tau und Reif, Schnee und Hagel, und diese sind zugleich Naturereignisse und Mahnzeichen des Zeus. Sein Blitz kann den plötzlichen Wetterumschlag mit Regen, Hagel und Schneesturm oder den gleich unheilvollen Kriegsausbruch ankündigen (Il. 10,5–8). Blutiger Regen verkündet vielfachen Tod, oder des Gottes Trauer um seinen Sohn Sarpedon (Il. 11,53–55; 16,459f.), den purpurnen Regenbogen sendet er als Vorzeichen des Krieges oder Unwetters, und die Zeustochter Athene kann auch in dieser Gestalt erscheinen, so wie zuvor als Meteor (Il. 17,547–552). Als reines Naturphänomen haben die Wetterbeobachtungen ihren angemessenen Ort im objektiven Kosmos der Gleichnisse, verständlicher Weise vor allem die Extremerscheinungen wie Schneesturm und Hagelschlag, Orkan und Wolkenbruch mit Überschwemmung und Steinschlag, die sich zur Imagination und und pathetischen Steigerung dramatischer Handlung anbieten. Bei aller realistischen Ausmalung bleibt jedoch auch hier der metaphysische Bezug erhalten; in der Natur wirken letztlich doch göttliche Kräfte, und alles kann als Vorzeichen oder Strafe verstanden werden. „Wie ein Wirbelsturm mit aller Wucht sich wirft auf die dunkle Erde, an einem Herbsttag, wenn Zeus unermessliche Wassermassen herabschüttet, und seinen Zorn auslässt, aus Groll über Menschen, die gewaltsam vor Gericht verdrehte Urteile fällen und das Recht vertreiben, ohne Beachtung der göttlichen Aufsicht: Deren Flüsse alle schwellen an in den strömenden Fluten, dann verschütten Sturzbäche viele Abhänge und ergießen sich mit lautem Getöse kopfüber ins Meer, und die Werke der Menschen werden zunichte, – so liefen die troischen Pferde dahin mit lautem Getöse …“ (Il. 16,384–393). Bemerkenswerter Weise bezieht sich der Vergleich nicht auf das Ge-
Natürliche Umwelt: Himmel und Erde
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spann des siegreich verfolgenden Patroklos, sondern das des fliehenden Hektor; er ist also nicht so sehr verherrlichend als eher negativ besetzt. Die Wahrnehmung der Naturkatastrophe als eine Art selbstverschuldeter göttlicher Strafe mag ursächlich damit verbunden sein. Auch die nicht der Gleichnissphäre angehörigen, sondern durch direkte Schilderung in das Geschehen einbezogenen Witterungskatastrophen werden nicht nur als physikalisch-meteorologische Erscheinungen gesehen, sondern zugleich als Teil der Handlung moralisch motiviert. Die aus Überschwemmung und Seebeben kombinierte Sintflut, der die Lagerbefestigung der Achäer künftig zum Opfer fallen soll, wird von den drei Göttern Apollon, Zeus und Poseidon ausgelöst, um auch das Andenken an die Hybris ihrer Erbauer zu tilgen. Selbst das Rasen der Elemente Wasser und Feuer beim Flusskampf des Achilleus ist letztlich vom Menschen verursacht: Was sich wie die realistische, detailreiche Reportage eines Augenzeugen über die Auswirkung von Hochwasser und Steppenbrand liest, versteht der Dichter als den Kampf zweier Götter gegen und für den maßlosen Peliden (Il. 12,3–35; 21,233–384). Ungeachtet der moralischen Nutzanwendungen dominiert die natürliche Erfahrungswelt in diesen Schilderungen, und es bedeutet schon einen Exzess an scharfsinniger Kombinationsakrobatik, wenn man sie einerseits auf vorderasiatische Sintflutmythen zurückführen und andererseits noch die assyrische Zerstörung Babylons im Jahr 689 v.Chr. als Parallele zur Fortschwemmung des Schiffslagers und terminus post quem für die Entstehung der Ilias heranziehen möchte. Nach diesem Schema ließen sich die sowohl im Gleichnis wie auch anlässlich der Götterschlacht erscheinenden Erdbeben gleichermaßen mit historischen Ereignissen in Verbindung bringen (Il. 2,780–785; 20,57–66). Doch es sind ja gerade nicht nur die katastrophalen Wetterkapriolen, die im Epos ihren Niederschlag finden, sondern auch die alltäglichen, sanften Erscheinungen sind stets präsent, Wind und Windstille, Dunst, Nebel, Wolken und Himmelsklarheit, Regenbogen und Morgenröte als atmosphärischer Teil der umgebenden Natur. Manche Gleichnisse entwickeln sich geradezu wie der Wetterbericht eines Meteorologen: „So wie ein Ziegenhirt von der Höhe aus eine Wolke aufsteigen sieht übers Meer, vom Westwind getrieben; aus der Ferne erscheint sie ihm schwärzer als Pech, wie sie daherzieht über das Meer, einen mächtigen Wirbelsturm mit sich führend, und schaudernd bei dem Anblick treibt er die Tiere unters Höhlendach …“. Die Wetterphänomene spiegeln dabei den Eindruck des aufmarschierenden Heeres wider, ebenso wie in einer anderen Situation den der unerschütterlichen Schlachtreihe: „Sie verharrten ruhig, den Wolken vergleichbar, die der Kronide bei Windstille unbeweglich stehen lässt auf den Gipfeln der Berge, so lange die Gewalt des Nordwindes und der anderen ungestümen Winde noch schläft, die alsbald dann das schattende Gewölk zerstreuen mit ihrem pfeifenden Hauch …“ (Il. 4,275–279; 5,522–525). Zu diesem Erfahrungsbereich gehören auch die sporadischen Angaben über unterschiedliche Klimazonen, wie sie sich vor allem im weiter ausgedehnten Weltbild der Odyssee finden. Anlässlich der Erwähnung der fernen Aithiopen, die zweifach geteilt im Westen und Osten am Okeanos wohnen, erscheinen auch Erinnerungen an ein subtropisches Schlaraffenland in Libyen, wo das Nutzvieh dreimal jährlich Junge wirft und Überfluss an Milch, Käse und Fleisch herrscht ohne menschliche Mühe des
Naturkatastrophe als selbstverschuldete Strafe
Epische Meteorologie
Kontraste zwischen Süden und Norden
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Natur und Religion
Umwelt und Topographie
Dichtung und Wirklichkeit
Hirten (Od. 1,22–25; 4,82–89). Während hier die Vorteile eines warmen Klimas hervorgehoben werden, scheinen wir bei der Schilderung des Landes der Lästrygonen den Niederschlag nordeuropäischer Erfahrungen zu finden: Dort leben hochgewachsene Gestalten, die Odysseus als menschenfressende Riesen erlebt, der Ablauf von Tag und Nacht liegt so nahe beieinander, dass sich der eintreibende und der austreibende Hirte begegnen, so dass ein Mann doppelten Lohn verdienen könnte, der ohne Schlafbedürfnis sowohl den Dienst des Rinder- wie des Schafhirten versehen würde. Zu dem Phänomen der kurzen sommerlichen Nächte passt auch die Beobachtung von Ebbe und Flut, wenn von dem geschützten Hafen gesagt wird: „Dort schwoll die Woge weder stark noch schwach, es herrschte Meeresstille“ (Od. 10,81–94). Wie bei anderen geographischen Angaben sind hier reale Kolonisatoren- und Seefahrernachrichten eingeflossen. Charakteristisch dafür ist, dass in beiden genannten Fällen die klimatischen Bedingungen im Hinblick auf einen praktischen Nutzen für die Viehzucht analysiert werden. Dennoch gilt auch hier, dass alle Informationen der epischen Handlung untergeordnet und mit deren mythischen Zügen untrennbar verschmolzen sind. An den Himmelserscheinungen wird die Eigenart homerischer Weltsicht besonders deutlich. Die Phänomene werden durchaus real sinnenhaft wahrgenommen oder sogar praktisch genutzt, und doch bleibt ein Freiraum für gleichsam metaphysische Interpretation. Dabei wird nicht definiert oder gleichgesetzt, es gibt keine von den Erscheinungen losgelösten Allegorien oder Personifikationen, aber auch keinen durchgehenden Pantheismus. Stattdessen finden wir ständig variierte Deutungen, Andeutungen, Bildphantasien, Rückschlüsse und Anwendungen. Der Kontrast in Schillers „Götter Griechenlands“ zwischen der Sonne als seelenlos sich drehendem Feuerball und der stillen Majestät des Helios in seinem goldenen Wagen ist modern. Homer gestaltet in dichterischer Form und Vielfalt, was Heraklit von Apollon aussagt: „Der Herr des delphischen Orakels lehrt nicht und verbirgt nicht, er deutet an“ (frg. 93 D.). Die Gesamtheit der natürlichen Umwelt des Menschen ist im Epos allgegenwärtig. Himmel und Erde, Land und Meer, Pflanzen und Tiere umgeben die handelnden Personen in selbstverständlichem Kontakt, eingebunden in den jeweiligen Lebenszusammenhang. Die große Sachlichkeit der Darstellung hat immer besonders überzeugend gewirkt, gemessen an allen Ästhetisierungen, Idealisierungen oder Dämonisierungen der Natur und des Umgangs mit ihr. Dabei zeigen sich unterschiedliche Grade der Annäherung im Detail: Die weiteren Dimensionen des Weltbildes in Raum und Zeit und auch die Himmelserscheinungen eröffnen sich in der Sicht und Erfahrung der Götter und der Seefahrer. Gebirge und Ebene, Wald und Wiese, Garten und Weide mit ihren Bewohnern werden zu individuellen Schauplätzen der Betrachtung und Aktion in der Nahsicht der Ereignisse. Der allgemein verbindliche Horizont des alltäglichen Lebens in seiner vollen Breite, aber auch bis ins kleinste Detail hinein, ist als objektive Bezugsebene und unerschöpfliche Stofffülle für Gleichnisse aller Art präsent. Im Gebiet der troischen Ebene bis zum Fuß des Idagebirges vollziehen sich die zentralen Vorgänge der Ilias. Die Strandzone beim Schiffslager ist der Ort, wohin sich Achill zurückzieht, um weinend aufs Meer hinauszusehen, wo seine Mutter ihm be-
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gegnet, hier finden die Sportwettkämpfe statt, die sich beim Wagenrennen weit ins Landinnere erstrecken, wo durch ausgewaschene Wegfurchen Gefahr drohen und ein anonymes verwittertes Grabzeichen zur Zielmarke werden kann. Der Grabhügel des alten Aisyetes ist der Lauerposten des Spähers und Meldeläufers Polites, und auf halber Strecke zur Stadt dient das Grabmal des Stadtgründers Ilos mit seiner Stele und dem Feigenbaum den Troern als Beratungsstätte und auf der Flucht als Wegemaß, dem Paris als Hinterhalt, und schließlich dem Priamos bei seiner nächtlichen Fahrt zum Schiffslager als Merkmal für den Übergang vom sicheren Stadtbereich zur gefährlichen Feindzone. Dort befindet sich auch die Furt durch den Hauptfluss der Ebene, den Skamander, wo bequemer Zugang zum Wasser ist, um Wunden zu kühlen und Tiere zu tränken, unweit davon und etwas abseits die Einmündung des Nebenflusses Simoeis, offensichtlich eine feuchte Niederung, wo Hera und Athene ihr Gespann abstellen und im Nebel verbergen, sich selbst aber in Wildtauben verwandeln und so unerkannt das nahe Schlachtfeld aufsuchen können. Den unsterblichen Götterpferden lässt der Flussgott Simoeis hier unsterbliches Futter (ambrosia) sprießen, während die Pferde der untätigen Myrmidonen am Strand den feuchtigkeitsgenährten Lotos und Eppich rupfen. Zu diesem Biotop der Flussniederung passen in der Dolonie Tamariske, Schilf und der Reiher, den Athene als Warnzeichen sendet, und beim Kampf im Fluss selbst kann sich Achill nur über eine entwurzelte Ulme aus wirbelnden Wellen und Treibsand retten. Anlässlich der Schilderung von Überschwemmung und Steppenbrand wird die ganze Flora und Fauna des Skamander erfasst: „Es brannten die Ulmen, Weiden und Tamarisken, es brannten Lotos, Binsen und Zypergras, die in Massen wuchsen um das schöne Gewässer des Flusses, und die Aale und Fische in seinen Wirbeln schnellten allenthalben kopfüber heraus, vom Hauch des Feuers gequält“ (Il. 21,350–355). Mit der Annäherung an die Stadt ändert sich auch die Flur. Athene findet einen großen schwarzen, zackigen Steinblock, der da in der Ebene liegt, wo ihn Menschen der Vorzeit als Grenzzeichen des Ackerlandes gesetzt hatten. Sie schleudert ihn als Waffe gegen Ares, der im Fallen sieben Morgen bedeckt, auch dies eine Andeutung kultivierten Bodens (Il. 21,403–408). Den trockeneren Standort in Stadtnähe bezeichnet auch die hohe Eiche des Zeus, wo sich Athene und Apollon treffen, vom Olymp bzw. von der Burg herabkommend, wo sie der Seher Helenos belauschen kann, und wo sich beide in der Gestalt von Lämmergeiern niederlassen, um dem Zweikampf zwischen Hektor und Ajas zuzusehen (Il. 7,22; 60; 8,497–542; 11,200–209). Ob dieser Baum mit der mehrfach genannten Eiche am Skäischen Tor identisch ist, bleibt offen, doch dafür, dass es sich bei phe¯gos um eine Eiche handelt, trotz der etymologischen Verwandtschaft mit lateinisch fagus und deutsch „Buche“, gibt es mehrere Argumente. Der heilige Baum des Zeus ist immer die Eiche, die trockenheitsresistente Valonia-Eiche ist noch heute ein Charakterbaum der Hügel um Hisarlik, und sprachgeschichtlich können indogermanische Bezeichnungen für Getreide- und Baumarten je nach der örtlichen Häufigkeit ihren Gegenstand vertauschen. Im eigentlichen Stadtgebiet finden sich im Text noch weitere, mit den heutigen Gegebenheiten gut vereinbare Merkmale wie der wilde Feigenbaum an der schwächsten Stelle der Stadtmauer, auf luftiger Warte, in der Nähe des Fahrwegs an der Hinterseite der Stadt und unweit der beiden zum Skamander abfallenden Quellen mit
Vom Strand zur Stadt
Biotop der Flussniederung
Eiche oder Buche?
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Von der Stadt zum Ida
Pferdezucht und Weidewirtschaft
Dichtung und Wirklichkeit
den steinernen Waschbecken (Il. 6,433; 22,143–157). Ein weiteres Stück Landschaft entfaltet sich in der Agenor-Episode des 21. Buchs. Neben der Eiche am Skäischen Tor stehend erwägt Agenor, ob er vor Achill über das ilische Feld bis zum Fuß des Ida fliehen und sich dort im Unterholz verbergen soll, um abends nach einem Bad im Fluss in die Stadt zurückzukehren, und Apollon, der seine Gestalt annimmt, flieht dann tatsächlich über die weizentragende Ebene bis zum Skamander, um Achill vom Tor wegzulocken (Il. 21,544–561; 599–605). Begrenzt wird das Schlachtfeld der unteren Skamanderebene beiderseits von zwei Erhebungen, die den Hilfsgöttern beider Parteien als Zuschauerrampe dienen: die alte Heraklesmauer an der Küste und gegenüber auf der Stadtseite beim Simoeis der „Schönhügel“ Kallikolo¯ne¯. Parallel zum Schiffslager zwischen den beiden Vorgebirgen gibt es noch eine Bodenschwelle (thro¯smos), auf der die Troer am Abend des zweiten Kampftags kampieren (Il. 8,489– 491; 10,160 f.; 11,56; 20,3; 144–152). Zusätzliche Hilfsmittel zur Orientierung geben gelegentlich der Vogelflug, wenn ein Adler links fliegt oder rechts, zur Linken oder zur Rechten der Angriffslinie des Heeres, oder die immer wieder genannten Windrichtungen, so Nord- und Westwind, die von Thrakien her einfallen, oder der Sturm, der vom Ida her den Staub gegen die Schiffe treibt. In die Region des eigentlichen Idagebirges führt uns das Streitgespräch zwischen Achill und Äneas im 20. Buch. Der Pelide erinnert seinen Gegner daran, wie er ihn einst von der Rinderweide auf dem Ida hinuntergejagt habe, und Äneas gibt in der Antwort einen Überblick über die siedlungsgeographische Entwicklung seiner engeren Heimat, der später von dem Philosophen Platon (Nomoi 3,681e) aufgegriffen wurde: „Dardanos, der Sohn des Zeus, gründete Dardanie, als die heilige Ilios in der Ebene noch nicht als Stadt existierte, denn damals wohnte man noch an den Hängen der quellenreichen Ida. Dardanos’ Sohn Erichthonios wurde zum reichsten der Menschen, seine dreitausend Stuten mit ihren munteren Füllen weideten dort im Wiesengrund. Zu denen entbrannte der Nordwind in Liebe, schwängerte sie in Gestalt eines schwarzmähnigen Hengstes, und zwölf Fohlen wurden geboren. Wenn die über die nahrungsspendende Flur dahintänzelten, dann konnten sie über die Grannen des Getreides laufen, ohne die Ähren zu knicken …“ (Il. 20,187–190; 215–227). Mit wenigen Strichen wird hier eine frühe Kulturstufe gezeigt, die vor allem durch Viehzucht in gesunder Höhenlage reich wurde, ehe es zu städtischen Gründungen im Unterland und damit in Meeresnähe kam. Die Erwähnung des Nordwindes in diesem mythischen Zusammenhang verarbeitet zugleich eine höchst reale Erscheinung: Der unablässige Nordostwind des Sommerhalbjahrs ist auch heute noch charakteristisch für die Gegend, wo einst die „windige Ilios“ gelegen haben muss. Auch die hoch entwickelte Pferdezucht der Dardaner und Troer wird allenthalben im Epos erwähnt, mit Anspielungen durch stehende Beiwörter und vor allem bei der Schilderung der Gespanne von Äneas und Hektor. Die Weidewirtschaft auf den hochgelegenen Almen wird beaufsichtigt von den Herren des Landes selbst, von Äneas, seinem Vater Anchises, der sich beim Rinderhüten auf dem Ida mit der Liebesgöttin Aphrodite vereinigt, und auch von Paris, der dort seine Begegnung mit den drei Göttinnen hatte (Il. 2,820f.; 5,311–313; 24,29). Sogar der Schutzgott Trojas, Apollon, kam während seiner Dienstverpflichtung bei Laomedon dieser Aufgabe nach, woran ihn sein Onkel Posei-
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don gelegentlich erinnern muss: „Du, Phoibos, pflegtest die schleppfüßigen, krummhörnigen Rinder zu hüten auf den Hängen der schluchtenreichen, waldbedeckten Ida“ (Il. 21,488f.). Wie sehr Apollon, der auch für Tierseuchen und Mäuseplagen zuständig ist, sich dort zu Hause fühlt, zeigt der Umstand, dass gerade er es ist, der zu Anfang des 12. Buchs alle acht Flüsse des Gebirges zusammenführt, und wenn er sich einmal vom Gipfel aufs Schlachtfeld begeben muss, so tut er dies in der standortgerechten Gestalt eines Bergfalken, „eines schnellen, holztaubenjagenden, des schnellsten aller Vögel“ (Il. 15,236–238). Die unmittelbar vorhergehende Begegnung des eigentlichen Herrn des Berges, des wolkenversammelnden Zeus Idaios, der dort oben auf dem Gargaron einen heiligen Hain mit Brandaltar und Pferdeabstellplatz hat, mit seiner Gemahlin Hera bringt weitere Züge ins Bild. Die quellenreiche Ida, Mutter der wilden Tiere, ist dicht bewaldet, denn die Baumwipfel erbeben unter den Schritten der Hera und des Hypnos. Hier wird nun auch ein Nadelbaum erwähnt, eine gewaltige elate¯, die höchste des Gebirges, die durch die Nebelzone des ae¯r bis in den wolkenlosen aithe¯r hinaufreicht. In ihren dichten Zweigen versteckt sich der Gott des Schlafes in der Gestalt eines helltönenden Vogels, den die Götter in den Bergen Chalkis, also vielleicht nach seinen Lockrufen „Kupferschmied“, die Menschen aber Kymindis nennen. Die naturwissenschaftliche Bestimmung von Baum und Vogel hat immer viel Kopfzerbrechen verursacht; spätere mythologische und numismatische Zeugnisse sprechen eher für Kiefer als für Fichte oder Tanne, den Vogel hat man neuerdings mit guten Gründen „Häherkuckuck“ genannt. Jedenfalls scheint auch hier der Biotop in sich stimmig zu sein, und dieselbe Exaktheit der Beobachtung möchte man auch für den Pflanzenteppich der Hochmatte über der Baumgrenze annehmen, wo sich das Götterpaar niederlässt: „Unter ihnen erzeugte die göttliche Erde einen frisch sprossenden Rasen mit tauigem Lotos, Krokos und Hyakinthos, dicht und weich, der sich hoch über den Boden hob. Darin lagerten sie sich und deckten sich zu mit einer schönen goldenen Wolke, aus der glänzende Tautropfen herabfielen“ (Il. 14,347–351). Der Gesamteindruck ist durchaus der realen Örtlichkeit angemessen, es wird die Vorstellung der erwachenden Vegetation nach der Schneeschmelze erzeugt, in einer Gipfelregion mit rosigen Wolken im Morgenlicht. Der Botaniker kann dazu passend für die genannten Pflanzennamen auch aussichtsreiche Bewerber aus der aktuellen Mittelmeerflora ins Feld führen, die Frühlingsblüher Scharbockskraut, Krokus und Sternhyazinthe (Skylla). Dennoch bleibt ein Rest von Unsicherheit, ob nicht doch dem so überaus eingängigen Realismus der Blumen, Wolken und Tautropfen ein Element der Überhöhung, des göttlichen Hyperrealismus, beigemischt sein mag. Zumindest ist auch hier eine gewisse Zwiespältigkeit zu beobachten: Lotos zum Beispiel fressen auch die Pferde im Tal, und die Lotosesser in der Odyssee verzehren die süßen Früchte oder Samen der Pflanze, außerdem gewinnt das von der Seerose abgeleitete Ornament der „Lotosblüte“ einen mehr und mehr abstrakten Charakter als „festlicher Schmuck“ schlechthin. Der Leser hat also die Wahl, ob er eine Überlagerung mehrerer realer Pflanzenarten, wie bei den Baumnamen, oder doch ein Gutteil Stilisierung und künstliches Arrangement zur Ausstattung einer „mythischen Hochzeit“ annehmen möchte.
Der Gipfel des Ida-Gebirges
Blühende Hochmatte
Göttlicher Hyperrealismus
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Miniaturbilder
Der Salzgeruch des Meeres in der Odyssee
Vogelgestalt der Götter
Dichtung und Wirklichkeit
Auch in der Schildbeschreibung des 18. Buchs der Ilias erhebt sich der homerische Realismus in eine höhere, göttliche Sphäre. Wie die dort gezeigten Szenen aus Krieg und Frieden erwachsen die Schaf- und Rinderhirten, die pflügenden und mähenden Bauern, die Weingärtner bei der Lese und schließlich auch die stiertötenden Löwen nicht aus der epischen Handlung, sondern der Schmiedegott Hephaistos fügt sie zusammen zu einem durchaus vorstellbaren, aber doch überirdisch schönen Kunstwerk (Il. 18,483–608). Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen Naturminiaturen der Gleichnisse. Gerade in der Universalität, ja Vollständigkeit ihrer Sachthemen gehören sie ins allzeit verfügbare Arsenal des Künstlers, der sie nach Geschmack und Belieben einsetzen kann. Auf diese Weise können sie im Kontrast nicht nur rühmend oder rührend, sondern auch drastisch oder komisch wirken, wenn die umkämpfte Leiche mit einer gegerbten Rindshaut oder der schlaflos sich wälzende Held mit der Bratwurst auf dem Grill verglichen wird. Neben dem Effekt e contrario gibt es jedoch auch eine zusätzlich steigernde Wirkung, wenn die Gleichnisse aus der gleichen oder einer ähnlichen Sphäre mit dem Verglichenen genommen werden: Die Troische Ebene als Aufmarschszenerie der Heere gewinnt gerade dadurch noch weitere Anschaulichkeit, wenn die „blumenreiche Skamanderwiese“ noch zusätzlich belebt wird, „so wie die zahlreichen Völker flatternder Vögel, von Gänsen, Kranichen oder langhalsigen Schwänen, auf der asiatischen Wiese an den Gewässern des Kaystros, hin- und herfliegen mit ihren prächtigen Schwingen, und mit Gekreisch sich wieder niederlassen, dass die Wiese voll Lärm ist“ (Il. 2,459–468). Auch in der Odyssee, wo die Vielfalt der Vorgänge und Schauplätze die Zahl der Gleichnisse insgesamt einschränkt, gibt es dieses enge Ineinander von Handlung und Natur mit der Steigerung durch Gleichnisse aus entlegener oder identischer Lebenswelt. Ein Musterbeispiel ist der Seesturm mit der Landung auf Scheria im 5. und 6. Buch der Odyssee, mit Wind aus allen Himmelsrichtungen, mit doppeltem Wogenschwall, Untertauchen, Auftauchen, Salzwasser Ausspucken, und einer hilfreichen Göttin in Gestalt eines Meerestauchvogels – der Leukothea als aithyie¯, meist mit „Sturmtaucher“ übersetzt –, schließlich Kampf mit der Brandung und verzweifeltes Ankrallen an den Uferfelsen, was durch das Polypengleichnis passend illustriert wird, während anschließend der Vergleich des „Menschen unter Laub“ mit „Glut unter der Asche“ wieder durch die Übertragung in einen ganz anderen Sachzusammenhang seine Wirkung bezieht. Als besonders charakteristisch für das Irrfahrtenepos waren uns aber die Fälle entgegengetreten, wo der Neuankömmling die Szenerie staunend mit dem Auge erkundet, und auch ihnen lassen sich Einsichten in ökologische Zusammenhänge entnehmen. Hermes erreicht die Insel Ogygia nach einem Langstreckenflug übers Meer „einer Möwe vergleichbar, die in den gewaltigen Weiten des wogenden Meeres nach Fischen taucht und ihre starken Schwingen mit Salzwasser netzt“ (Od. 5,51–54). Stellen wie diese schienen in der Diskussion über die Vogelgestalt homerischer Götter denjenigen Recht zu geben, die darin nur verkürzte Gleichnisse sahen. Aber gerade auf der Kalypsoinsel taucht der als Vogel erlebte Gott ein in einen intakten natürlichen Kontext: Erlen, Pappeln und duftende Zypressen wachsen da, belebt durch eine dort nistende Vogelwelt von Zwergohreulen, Falken und langzüngigen Wasser-
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krähen, die dem Leben im Meere sich widmen. In diesen koro¯nai könnte man nach neuesten Untersuchungen eine bestimmte Kormoranart, die sog. „Krähenscharbe“, erkennen, auch dies ein Hinweis auf mögliche Realitätskerne in der homerischen Naturkunde. Wenn sich hier die Idylle eines ungestörten Reservats entfaltet, so zeigen andere Stellen der Odyssee durchaus zivilisatorische Tendenzen und Einsichten. Im Land der Kyklopen findet Odysseus eine vorgelagerte flache Insel „waldbedeckt, dort gibt es unzählige Wildziegen, die kein menschlicher Schritt verscheucht, keine Jäger kommen dorthin, um mühsam die Berge zu durchstreifen, auch kein Weidebetrieb schändet sie oder Beackerung, sondern unbesät und ungepflügt ist sie leer von Menschen und nährt nur meckernde Ziegen“ (Od. 9,116–124). Im Zeitalter der beginnenden griechischen Kolonisation des Mittelmeers stellt sich bei diesem Anblick jedoch kein Gedanke an den Schutz der unberührten Natur ein, wie er später in der Zivilisationskritik des berühmtesten Chorlieds von Sophokles’ „Antigone“ (v. 332–375) anklingt, sondern eine optimistische Vision der unbegrenzten Möglichkeiten. Vor dem geistigen Auge des Odysseus erscheinen tüchtige Siedler, die ein so vielversprechendes Entwicklungsland erschließen könnten, wo reicher Ertrag winkt: Da gibt es fette, gut bewässerte Wiesen am Meeresstrand, üppige Weinstöcke müssten da gedeihen, und gut pflügbarer Ackerboden ist vorhanden, dicke Erträge ließen sich einbringen zur geeigneten Saison, denn tief und fett ist die Scholle. Auch ein Hafen bietet sich an als Liegeplatz, wo man keine Taue braucht und weder Anker werfen noch Heckseile befestigen muss, sondern einfach hineinfahren kann und so lange bleiben, bis der Seemann wieder Lust hat zum Aufbruch, weil günstige Winde wehen. Sogar ein vorzügliches Trinkwasser fließt dort aus einer Quellhöhle direkt am Ende des Hafens. Diesen paradiesischen Ort finden die Schiffe des Odysseus bei Nacht und Nebel, doch die primitiven Eingeborenen sind unfähig dazu, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen: Sie pflanzen nicht und pflügen nicht, denn Weizen, Gerste und Wein wachsen wild, sie kennen weder soziale Einrichtungen noch Religion und leben unsolidarisch im engen Familienverband, jeder für sich in einer Höhle. Auch Schiffsbauer haben sie nicht, die ihnen Hilfsmittel schüfen, um übers Meer die Städte der Menschen zu erreichen … (Od. 9,105–151). Von der Skepsis im Lied des Sophokles über die zwiespältigen Fähigkeiten des Menschen ist auch hier nichts zu spüren, vielmehr schwingt ein Unterton von Arroganz des überlegenen Kulturmenschen zweifellos mit, und die märchenhaften Züge von riesenhaften, aber einfältigen Menschenfressern, die den einäugigen Kyklopen von alters her anhaften, entschuldigen noch zusätzlich die brutalen Selbsthilfemaßnahmen der Ankömmlinge. Dennoch können diese nicht umhin, die vorbildliche Milch- und Käsewirtschaft Polyphems anerkennend zu würdigen, und in der Schilderung seiner artgerechten Schafhaltung und Tierliebe klingt sogar ein Stück Sympathie mit: „Mein lieber Widder, was gehst du mir heute als Letzter so hinter der Herde, der du sonst weit ausschreitend den Schafen vorausgingst zur Weide. Bekümmert dich etwa das geblendete Auge deines Herrn? Hättest du doch Verstand und Sprache, um mir zu helfen!“ In dieser Zwiesprache des Riesen mit seinem Leithammel liegt ein Stück jenes Zusammengehörigkeitsgefühls von Herrn und Haustier, das auch Odysseus selbst nach seiner Heimkehr beim letzten Schwanzwedeln seines treuen Jagdhundes Argos erkennen lässt (Od. 9,446–457; 17,291–327).
Unberührte Natur, verlockendes Kolonialland
Primitive Eingeborene, selbstbewusste Kulturmenschen
Herr und Haustier
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Obstplantagen und Kleintierzucht
Einfühlsame Hundepsychologie
Standesunterschiede beim Schweinebraten
Authentizität der Lebenswelt
Dichtung und Wirklichkeit
Ein vorbildliches Mustergut hatte er schon in den Gärten des Alkinoos bewundern können, und beim Gang auf das Altenteil seines Vaters Laertes entfaltet sich ein Bild des normalen Landbaus unter den speziellen Bedingungen von Ithaka, mit Apfel-, Birn- und Feigenbäumen und Reben im Dorngehege. Dass die felsige Insel im Gegensatz zu Lakonien nur Ziegenzucht, aber keine Pferdehaltung erlaubt, musste bereits Telemachos dem Menelaos auseinander setzen (Od. 24,220–344; 4,601–608). Neben der Ziegenhaltung gibt es jedoch auch eine bedeutende Schweinemast, während die fetten Rinder für die Freier vom Festland importiert werden müssen (Od. 14,100; 20,185–188). Die Pflege seiner Schweine betreibt der Sauhirt Eumaios mit gleicher, ausführlich geschilderter Sorgfalt wie Polyphem seine Schafhaltung, und nebenbei erhält der Leser weitere Einblicke in die Hundepsychologie und in klassenspezifische Ernähungsvorschriften. Bei der Ankunft des fremden Bettlers im Gehöft stürzen die Hütehunde kläffend auf ihn los, doch der weiß sie richtig zu nehmen, indem er sich demütig auf die Erde setzt und den Stab fallen lässt, bis der Hirt sie mit Steinwürfen vertreibt. Ganz anders verhält sich die Meute gegenüber dem jungen Herrn Telemachos, den sie schwanzwedelnd begrüßen, womit sie dem Odysseus andeuten, dass ein Bekannter angekommen ist, und ihr Instinkt lässt sie auch die Gegenwart der Göttin Athene erkennen: „An Gestalt glich sie einer schönen, großen und kunstfertigen Frau, so erschien sie dem Odysseus an der Tür des Gehöfts. Telemachos sah und bemerkte nichts, denn nicht allen zeigen sich Götter leibhaftig. Nur Odysseus und die Hunde sahen sie, die bellten nicht und verzogen sich winselnd vor Angst ins Abseits des Stalles“ (Od. 14,29–36; 16,4–10; 157–163). Was den Schweinebraten betrifft – Kesselfleisch scheint es im heroischen Leben nicht zu geben –, so werden Jungtiere nicht so sehr als Delikatesse geschätzt, sondern eher als billig und schnell zu erzeugende Ware betrachtet: Der sozialen Pflicht, den Fremden und selbst den Bettler zu bewirten, folgt auch der Schweinehirt. Er geht zum Ferkelkoben, holt zwei davon heraus, schlachtet, sengt, zerlegt und brät sie und setzt sie dem Odysseus mit Mehl bestreut vor mit den Worten: „Iss nun, Fremder, was der Dienerschaft zukommt, Ferkelfleisch. Denn die fetten Schweine verzehren die Freier allein ohne Rücksicht auf ihren Ruf und soziales Bewusstsein“. Nachdem Odysseus durch seine Erzählungen an Zutrauen und Ansehen gewonnen hat, kann Eumaios ihm immerhin kräftigere Kost zukommen lassen. Jetzt lässt er seine Gehilfen den besten Eber herbeiholen für alle, einen fetten, fünfjährigen, zur Ehre des Gastes und auch zur eigenen Belohnung für die Mühe der Aufzucht (Od. 14,73–82; 414–420). Hier scheint es sich jedoch um die Ausnahme von der Regel, vielleicht auch um eine Eigenmächtigkeit des gehobenen Angestellten zu handeln, denn wo auch immer sonst im Epos Schweine gejagt oder verzehrt werden, handelt es sich um stattliche Eber, und nur diese scheinen der heroischen Würde angemessen zu sein. Zu den natürlichen Aspekten der Lebenswelt, in der sich Ilias und Odyssee abspielen, gesellen sich also immer auch die zivilisatorischen Erscheinungen. Nicht nur die überzeugend und stimmig eingeführten Bäume und Vögel, Wald, Feld und Garten, wilde und zahme Tiere unterstreichen den Anspruch auf eine höhere Authentizität der Dichtung, auch die in die Handlung untrennbar eingebundenen Bauwerke
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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und Artefakte, die Sitten und Gebräuche des menschlichen Lebens bis hin zu Kleidung, Essen und Trinken tragen ihr Teil bei zur überzeugenden und zeitlosen Wirkung.
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen Die Umwelt, in der die homerischen Menschen und auch die Götter sich bewegen, ist ein Kosmos von natürlichen und kulturellen Gegebenheiten. Im Gesamtbild der Szenerie sind die einen nur theoretisch von den anderen zu trennen. Himmel und Erde, Meere, Berge und Flüsse, Tiere und Pflanzen bilden mit Stadtanlagen und Gebäuden, Mobiliar und Kleidung, Viehhaltung und Ackerbau und ihrer Bewirtschaftung durch eine politisch-sozial gegliederte Gesellschaft ein realitätsnah wirkendes Ganzes. Diesen Eindruck der Realitätsnähe erwecken in ganz besonderem Maße die von Menschenhand hergestellten Gegenstände, denn sie sind meist mit so exakten Details anschaulich gemacht, dass man meint, sie buchstäblich mit Händen greifen zu können. Das hat die Archäologen oft zu weitgreifenden Deutungen und Identifikationen ihrer Funde und Befunde beflügelt. Und doch: Bei genauer Lektüre sieht man sich gezwungen, die unbedingte Realitätsnähe einzelner Artefakte in Zweifel zu ziehen, denn der Übergang von alltäglichen zu prunkvollen, eventuell auffindbaren, und weiter zu phantastischen, rein fiktiven Produkten ist fließend. Gerade auch im Bereich der materiellen Kultur geht die Suggestionskraft von der Mischung aus, in der Faktizität und Fiktion zu einem poetisch stimmigen Ganzen gestaltet sind. Auf der Fahrt vom Flussufer durch die Felder zum Palast ihres Vaters Alkinoos gibt Nausikaa dem Odysseus eine Vorstellung von ihrer Heimatstadt: „Sie ist von einer hohen Mauer umschlossen; beiderseits erstreckt sich ein schöner Hafen, und schmal ist der Zugang; am Weg entlang sind die Schiffe aufgereiht, jedes auf seinem eigenen Liegeplatz; im Innern befindet sich ein Versammlungsplatz mit Steinsetzung, rings um ein schönes Poseidonheiligtum herum“. Odysseus folgt dieser Route und sieht alles bestätigt, „und er staunte über die Häfen und die Schiffe und die Plätze und die langen und hohen Mauern, mit Palisadenpfählen gefügt“ (Od. 6,262–267; 7,43–45). Für ein Volk von Seefahrern ist ein guter Hafen äußerst wichtig; geradezu ideal ist ein solcher Doppelhafen auf beiden Seiten einer Insel oder Halbinsel mit schmalem Zugang, wie ihn das im 8. Jahrhundert v. Chr. gegründete Syrakus auf Sizilien besaß, denn hier kann man bei jeder Windlage einlaufen. Alle Reisenden suchen zuerst nach einem solchen Landeplatz und entdecken zuweilen einen besonders günstigen, wie Odysseus im Lande der Lästrygonen, deren Hafen mit enger Zufahrt von schroffen Felsen so geschützt ist, dass Flut und Ebbe nicht ins Hafenbecken dringen; die Siedlung selbst liegt dort auf einer Anhöhe, von der aus die Riesen mit Steinen werfen (Od. 10,81–125). Mag die Hafenanlage der Phäaken schon staunenswert sein, noch mehr ist es der Palast ihres Königs. Als Odysseus vor ihm angelangt ist, bleibt er betroffen stehen und versucht den Glanz zu ertragen, der von ihm ausstrahlt „wie von Sonne und Mond“, vom Erz der Türschwelle und der Wände mit ihrem Gesims aus Blaustein, dem Gold der Türen, dem Silber der Türbalken und den goldenen und silbernen Wachhunden zu beiden Seiten, von Hephaistos für das Haus des
Ganzheitliche Umwelt
Eine hochzivilisierte Stadt
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Ein Herrenhaus
Ein fürstlicher Gutshof
Dichtung und Wirklichkeit
Alkinoos geschaffen, unsterblich und alterslos. Abgerundet wird das Bild jedoch durch den vom Dichter liebevoll ausgemalten Garten mit seinen Birn-, Apfel- und Granatapfelbäumen, seinen Oliven, Feigen und Reben, mit Früchten, die das ganze Jahr über reifen, mit herrlichem Klima und von zwei Quellen bewässert – eine Musteranlage, die uns heutige Leser wie ein wahrer Paradiesgarten anmutet. „Da stand und staunte der vielduldende göttliche Odysseus“, denn er, der elende Schiffbrüchige, erblickt hier das prächtigste Anwesen, das ihm auf seinen Irrfahrten überhaupt je begegnet ist, einen Wohnsitz, wie er seinen glückseligen Bewohnern, den Phäaken, angemessen ist, aber nicht gewöhnlichen Sterblichen (Od. 7,81–135). Auch der Palast des Menelaos in Sparta ist über alle Maßen prunkvoll ausgestattet: „Sieh nur, wie die Halle von Erz, Gold und Bernstein, Silber und Elfenbein schimmert“, flüstert Telemachos seinem Reisebegleiter Peisistratos zu, als er nach dem Begrüßungsmahl die Halle betrachtet, und er fügt hinzu, „so muss es im Haus des Zeus aussehen“ (Od. 4,70–75). Darüber hinaus werden im Lauf ihres Besuchs dort einige weitere Details hinsichtlich der allgemeinen Struktur des Gebäudekomplexes deutlich. Draußen vor dem Haus befinden sich die Pferdeställe, in denen auch die Wagen untergebracht sind. Von der geräumigen und „hochüberdachten“ Halle gelangt man in ein oben gelegenes Frauengemach, im hinteren Bereich liegt eine Schlafkammer für die Eheleute: Helena steigt zur Begrüßung der Gäste aus dem „hochüberdachten Gemach“ hinab, die Gatten schlafen „im Innersten“ des Hauses, aber sie steigen noch weiter hinab aus der Halle zu den Schätzen und der Gewandtruhe; aus dem Haus (domos) tritt man hinaus in ein „Vorhaus“ (prodomos), in dem die Gäste übernachten (Od. 4,121; 304f.; 15,99f.; 302f.). Das ganze Gebäude scheint also aus einer gegliederten Halle mit einem großen (Männer-)Saal (megaron), einem Frauengemach und einer Schlafkammer im Inneren und einem überdachten Vorbau zu bestehen; dahinter könnte prinzipiell die Bauform des archäologisch belegten bronzezeitlichen „Megaron“ stehen. Dessen Grundriss tritt am Haus des Odysseus noch wesentlich klarer hervor: „Eumaios, das sind doch wohl die schönen Häuser des Odysseus“, staunt der Hausherr in Gestalt des Bettlers scheinbar verwundert, „eines reiht sich an das andere, davor der Hof mit Mauer und Gesimsen und dem gut verschließbaren zweiflügeligen Tor“ (Od. 17,264–268). Das Zentrum der Halle ist der Herd, an ihm wird das Fleisch gebraten und das Badewasser gewärmt. Im Obergeschoss liegt das Frauengemach, aus dem die Hausherrin mit ihren Mägden auf einer Treppe in die Halle hinunterund wieder hinaufsteigt, wie überaus exakt betont wird; der Sohn des Hauses hat ein eigenes Gemach im Hof (Od. 1,330f.; 362f.; 425f.). In der Halle ragt ein großer Pfeiler auf, an dem die Waffen des Hausherrn hängen; das Dach mit seinen „fichtenen Sparren“ wird getragen von Stützpfosten, besonders einem, der als wesentliches Konstruktionselement und dominierendes Motiv in einem Formelvers immer wieder erscheint, wenn ein Besucher neben ihm sich hinstellt. Möglicherweise ist er identisch mit jenem Waffenpfeiler. Der ganze Raum, Hauptschauplatz der Ereignisse, erscheint im 19. Buch in ein zauberhaftes Licht getaucht und demonstrativ ausgeleuchtet, als die hilfreiche Göttin Athene, ungesehen von Telemachos, ihn mit dem Glanz ihrer goldenen Lampe erfüllt (Od. 1,126–129; 19,31–39; 1,333 = 18,209 = 21,64). In die-
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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sem Haus befindet sich die Schatzkammer (thalamos) oben hinter dem Frauengemach; sie ist fest verschlossen und sehr solide gebaut, birgt sie doch nicht nur wertvolle Gerätschaften aus Gold, Erz und Eisen, sondern auch den berühmten Bogen des Odysseus (Od. 21,1–14; 42–50). Sie ist vielleicht identisch mit der Waffenkammer, in der Odysseus und Telemachos die Waffen vor den Freiern verstecken; aus ihr holt Telemachos dann wieder von den „berühmten Waffen des Vaters“ Schilde, Speere und Helme für sich und die Seinen, und der ungetreue Hirt Melantheus für die Freier; in dieser Kammer liegen auch noch Waffen des Laertes, ein altertümlicher Helm und ein schon vergammelter Schild (Od. 19,31–33; 22,109–112; 142–146; 179–186). Schließlich gibt es zur Halle noch einen merkwürdigen Seitengang (laure¯): In die Wand ist eine Seitentür eingebaut, die über die Höhe der Fundamentmauer zum Gang nach draußen führt. Durch ihn, so überlegen die Freier, könnte man entkommen, wenn die Tür zum Hof nicht so schmal wäre, dass ein einziger Mann sie alle abwehren könnte (22,126–138). Zu guter Letzt wird noch ein Rundbau (tholos) im Hof erwähnt, offensichtlich ein Nutzbau, der aber zu einem brutalen Zweck missbraucht wird, nämlich zur Bestrafung der untreuen Mägde (Od. 22,441f.; 458–472). Insgesamt tritt uns das Anwesen des Odysseus als ein vielräumiges Gebäude entgegen. Äußerer Prunk fehlt ihm, es ist ein zweckmäßiger, auf Steinfundamenten errichteter Bau mit hölzernen Konstruktionsteilen und eher großbäuerlichem Charakter – im Hof liegt ein Misthaufen, Schweine werden dort geschlachtet –, alles in allem eher ein Gutshof als der Palast eines Königs. In scharfem Kontrast zu diesen zivilisierten Anwesen stehen die Höhlen der barbarischen Kyklopen: In ihnen hausen die Bewohner mit den Tieren zusammen, als Türe dient ein Felsklotz, „zweiundzwanzig vierrädrige Wagen hätten ihn nicht bewegen können“, den wälzt der riesenhafte Polyphem allein jeden Abend vor die Höhlenöffnung und schiebt ihn morgens wieder beiseite (Od. 9,216–243). Der Geschehensverlauf bringt es mit sich, dass in der Ilias die Siedlungsbereiche Stadt und Heerlager zu zwei getrennten Schauplätzen von Ereignissen werden, bei denen beide die Funktion einer Stadt erfüllen, das Schiffslager sogar noch deutlicher wird als die Stadt der Trojaner. Wir sehen also faktisch zwei städtische Komplexe vor uns. Von ihnen ist Ilios eine Stadt im Hinterland ohne Hafen – zumindest wird ein Hafen an keiner Stelle erwähnt –, die Schiffe der Achäer liegen an Land gezogen in einer Bucht am Strand des Hellespont. Wenn ein echtes Hafenbecken mit Ankerplatz vorhanden ist, erwähnt der Dichter dies, als verstehe es sich von selbst, wie im Fall von Chryse, der Stadt des Apollonpriesters Chryses: Odysseus lässt das Schiff mit der Sühnehekatombe „in den tiefen Hafen“ einlaufen und dort verankern (Il. 1,430– 436); die Achäerschiffe dagegen werden mit Stützsteinen, Felsbrocken, die am Strand herumliegen, trocken aufgebockt und vor dem Abgleiten bewahrt. Die Stadtanlage von Ilios selbst lässt der Dichter beinahe wie in einem Film vor unseren Augen vorüberziehen mit Hektors Gang im 6. Buch: Der Held schreitet durch das Skäische Tor und geht von dort aus zu dem Haus des Priamos; während sich Hekabe mit adeligen Troerinnen zum Tempel der Athene begibt, der in der oberen Stadt liegt, geht Hektor zum Haus des Paris, das sich wie alle Wohnbauten der Herr-
Höhlensiedlungen
Ilios, eine Stadt ohne Hafen
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Ein Palastkomplex
Ein typisches Megaron
Stadtmauer und Tore
Dichtung und Wirklichkeit
scherfamilie ebenfalls auf der Akropolis befindet, und von dort zu seinem eigenen Haus; dort erfährt er, dass seine Frau zur Stadtmauer gelaufen sei; er eilt auf den gut gebauten Straßen durch die Stadt hinunter zum Skäischen Tor, durch das er mit Paris später wieder auf das Feld hinauseilt (Il. 6,237–7,1). Während des Rundgangs durch die Stadt haben wir kurze Blicke auf die Gebäude werfen können: Der Wohnbereich des Königs Priamos ist der umfangreichste von allen: Hinter offenen Vorhallen liegen auf der einen Seite des Innenhofs 50 Gemächer für die Söhne und ihre Gattinnen, auf der anderen Seite 12 überdachte Schlafräume für die Töchter und ihre Gatten, alle aus glatt behauenen Steinen eng aneinander errichtet; das eigentliche Haus des Königs schließt wohl nach hinten die beiden Reihen ab – erwähnenswert ist das nicht, denn Königin Hekabe kommt Hektor vor seinem Eintritt schon entgegen. Dieser stark gegliederte Wohnkomplex mutet an wie der eines orientalischen Herrschers und seiner Großfamilie, so dass die oft gewählte Übersetzung „Palast“ für das schlichte und wenig differenzierende griechische Wort domos „Haus“ hier zutrifft, weniger schon auf den ebenso benannten Wohnbereich des Paris: An ihm wird auf die außerordentlich kunstfertige Zimmermannsarbeit hingewiesen, „Paris hatte sich sein „Gehäuse“ (domata) nach eigenen Angaben von den damals besten Baumeistern in der breitscholligen Troja bauen lassen – dem schönsten Helden gebührt das schönste Haus. Mit Vorhof, Halle und Gemach hat es offenbar die dreiteilige Form eines klassischen Megarons. Vom Tempel der Athene erfahren wir nur, dass er mit einer Tür verschlossen ist und dass sich im Innenraum eine Sitzstatue der Göttin befindet, denn die Priesterin legt ihr die Opfergabe der Königin, ein Prachtgewand, auf die Knie. Im Übrigen erfahren wir nur beiläufig, dass sich oben auf der Pergamos noch ein Heiligtum des Apollon befindet, wo man Beutewaffen aufhängt und Äneas im Adyton geheilt wird, sowie im Hof des PriamosPalastes ein Bezirk des Zeus Idaios mit Altar unter freiem Himmel, und vor den Türen des Palastes ein Versammlungsplatz (Il. 5,445–448; 512f.; 7,81–83; 24,306–314; 2,788f.). Von allen Bauwerken der Stadt wird die Befestigungsmauer weitaus am deutlichsten vorgeführt. Sie ist so mächtig, dass sie den mythischen Ruf einer „Göttermauer“ genießt: Poseidon hat sie gebaut, „breit und schön, eine unbrechbare Schutzwehr der Stadt“ (Il. 21,447f.). Allerdings hat sie eine schwache Stelle, an der die Feinde leicht in die Stadt gelangen können (Il. 6,433–439). Die Erwähnung dieser Schwachstelle hat die Ausgräber ebenso beschäftigt wie die der „Schräge“ oder des „Vorsprungs“ (anko¯n), an dem Patroklos dreimal hochklettert: Anhaltspunkte in den Befunden von Hisarlik sind vorhanden, aber unterschiedlich interpretierbar, auch in ihrer Beziehung zum Text (Il. 16,698–704). Im Mauerring ist das Skäische Tor mit seinem im Winkel vorspringenden hohen Turm am markantesten hervorgehoben. Der Turm fungiert als Ausguck zur Ebene hin, das Tor erweist sich als Hauptdurchlass. Beide gewinnen im Epos zunehmend an Bedeutung und werden dadurch in der Phantasie immer höher und breiter: Müssen sich auf dem Turm während der Mauerschau im 3. Buch etwa elf Personen befinden, so scheint sich bei der Schleifung Hektors fast die gesamte Bürgerschaft auf der Plattform eingefunden zu haben, die Mutter schreit auf, der Vater klagt, „und ringsum
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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erhob das Volk Geschrei und Klagen über die ganze Stadt hin“; die Männer können den Greis kaum davon abhalten, hinaus auf die Ebene zu stürzen, und Hekabe beginnt sogleich mit den Troerinnen eine Wehklage. In der Katastrophe des Geschehens gewinnt auch das Tor offensichtlich eine imaginäre Bedeutungsgröße, wenn sich die Masse eines ganzen flüchtenden Heeres hindurchdrängt (Il. 21,526–538; 22,1–91; 405–437). Neben diesem Haupttor hat die Stadt offensichtlich noch ein anderes, das durch seinen Namen und seine Lage ausdrücklich als hinteres Nebentor bezeichnet ist, das nach Dardania im Idagebirge hin sich öffnende Dardanische Tor. Durch dieses Tor versucht der vor Achill fliehende Hektor in die Stadt zu entkommen, und auch Priamos will hier ungesehen die Stadt verlassen (Il. 22,194–198). Ein vor der Mauer ausgehobener Graben wird übrigens nicht erwähnt, er spielt in keinem Moment des Geschehens eine Rolle; die Angreifer Patroklos und Achill dringen aus der Ebene direkt zur Mauer vor. Darin könnte sich der Eindruck hochgelegener Ruinenmauern widerspiegeln, die als Zeugnisse der Vorzeit im Text integriert werden. Wohl aber gibt es im Umkreis der Stadt Grabhügel von Vorfahren, die, wie die Ereignisse nahe legen, entlang der Wege oder doch in ihrer Nähe liegen. Der bedeutendste von ihnen ist das Grabmal des Ilos, des mythischen Stadtgründers von Ilios. In der Ilias dient es jedoch nur noch als Wegmarkierung oder als erhöhter Hinterhalt: Die vor Agamemnon fliehenden Troer „stürzten am Mal des Ilos vorbei mitten durch die Ebene und vorbei am Feigenbaum zur Stadt hin“, und Priamos fährt an ihm vorbei und gelangt zur Furt des Skamander; von ihm aus schießt Paris, hinter der oben errichteten Stele versteckt, seinen Pfeil auf Diomedes ab (Il. 11,166–168; 414–417; 24,349–351). Nur nebenbei erfahren wir von einem Grabhügel des Aisyetes, von dem aus ein Späher heranrückende Truppen der Achäer beobachten kann, und von einem anderen im geschützten Abseits bei der Stadt, hoch und zur Heeresversammlung geeignet; der ist so alt, dass man nicht einmal mehr weiß, ob es sich überhaupt um eine Grabstätte oder nur eine natürliche Erhebung handelt, der „Hügel Batieia“ oder das „Mal der Myrine“ (Il. 2,811–814). Die oft gestellte Frage nach den Unterkünften der zahlreichen Bundesgenossen muss offen bleiben. Ihr Unterhalt hat Troja arm gemacht, zum Biwak im Feld lässt Hektor Proviant aus der Stadt herbeischaffen (Il. 8,545–548). Dort lagern die eben erst eingetroffenen Thraker in der Richtung, aus der sie angerückt sind, also zum Meer hin, wie die Karer und andere, während Lykier, Myser und Phryger, also die mehr aus dem Landesinnern stammenden Völkerschaften, die Plätze gegen Thymbra hin einnehmen, wo in späterer Zeit ein Apollonheiligtum erwähnt wird (Il. 10,428– 431). Es mag sein, dass sich in dieser Lagerordnung ein Hinweis auf die ständige Unterbringung in einer möglichen grabengeschützten Unterstadt erhalten hat. Da in der Ilias vor allem der Sturm auf das Schiffslager und seine Eroberung geschildert wird, bleibt die eigentliche Stadt ihm gegenüber im Hintergrund. Sei es nun als reine Fiktion für dieses zentrale Geschehen oder auf Grund einer nicht erhaltenen Überlieferung oder Anweisung zur Lagerbefestigung, jedenfalls bekommt es im Epos das Aussehen einer speziell gegen den Angriff von Streitwagen mit allen Mitteln abgesicherten Anlage. Auf diese Weise erhält sie eine Befestigung, die handlungsbedingt erst in der Krise
Grabhügel von Vorfahren
Das Schiffslager – vergleichbar einer Stadt
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Der Graben
Die Mauer
Schiffe und Unterkünfte
Dichtung und Wirklichkeit
des neunten Kriegsjahres vor dem durch Achills Kampfenthaltung bewirkten Sturm der Troer auf das Lager angelegt wird: Nach Nestors Angaben „bauten sie die Mauer mit hohen Türmen als Schutzwehr für die Schiffe und sich selbst und mit gut eingepassten Toren als Fahrweg für die Gespanne. Außen zogen sie einen tiefen und breiten Graben und rammten Pfähle in ihn ein“ (Il. 7,336–343; 436–441). Die Tiefe und Breite des Grabens ist relativ zu verstehen; wir sollten dabei nicht an die Größe und Funktion mittelalterlicher Burggräben denken. Für Streitwagen ist er jedenfalls ein erstes gefährliches Hindernis, denn auf deren Maße ist er als Falle abgestimmt. Das zeigt sich schon beim ersten Angriff auf die Befestigung, der mit den Gespannen durchgeführt werden soll: Die Pferde scheuen davor zurück, den Graben zu überspringen oder zu durchqueren, denn er hat steil abfallende, mit spitz zulaufenden Pfählen versehene Ränder. Seine Effektivität beweist er aber erst bei der überstürzten Flucht der zurückgeschlagenen Gespanne der Troer: Nur Hektors Pferde können den Graben überspringen, die anderen „ließen die Wagen ihrer Herren mit zerbrochener Deichsel zurück; die Männer fielen kopfüber unter die Achsen und die Wagenkörbe stürzten krachend um“ (Il. 12,51–59; 16,370f.; 378f.). Ein zweites Hindernis ist die Mauer, die in einem beträchtlichen Abstand hinter dem Graben liegt, eine Speerwurfweite, wie es situationsgemäß heißt (Il. 15,355– 357). Auch ihr Aussehen wird beim Sturm auf sie in ihren wesentlichen Strukturelementen deutlich: Sie hat einen Steinsockel und eine hölzerne Brustwehr und ist durch vorspringende Pfeiler fest im Boden verankert (Il. 12,257–262). Höhe und Breite auch der Mauer sind relativ zu sehen: Die Verteidiger können von oben ihre Wurfgeschosse schleudern, die Angreifer sie erklimmen und die Wehr in ziemlicher Länge herunterreißen (Il. 12,278–289; 307–435). In der Mauer befinden sich ein großes „mittleres“ Tor mit einem Turm und ein „linkes“ Tor. Auf das breite und fest verschließbare Mitteltor richtet sich der Hauptangriff unter Hektor; mit seinem Durchbruch liegt der Zugang zum Strand und den Schiffen frei (Il. 12,331–471). Das „linke“ Tor dient vor allem als Einlass für die Gespanne der Achäer, die aus der Ebene ins Lager zurück fliehen; es liegt „links“ von den Schiffen aus gesehen, und ist von außen nur in Linkskurve anzufahren; das macht auch seine Lage verständlich, denn geängstigte Pferde gehorchen ihrem natürlichen Hang, nach links (gegen den Uhrzeigersinn) zu rennen (Il. 12, 118f.; 13,306–327). Graben und Mauer können mit Streitwagen nicht genommen werden, es sei denn, der Graben würde eingeebnet und die Mauer eingerissen. Das aber kann nach der Vorstellung des Dichters nur mit göttlicher Hilfe geschehen: „Phoibos Apollon aber trat mit den Füssen leicht die Hänge des tiefen Grabens nieder und warf sie mitten hinein und überbrückte ihn so; und auch die Mauer riss er sehr leicht ein, wie ein Kind seine Sandburgen am Meer …“ (Il. 15,355–366). Weit hinter der Mauer sind die Schiffe aufgereiht. Der Abstand ist so groß gedacht, dass sich hier die erbitterten Schlachten vor der Eroberung des ersten Schiffes abspielen können (13. Buch; 14,1–152; 354–522; 15,222–591). In der Mitte des Geländes neben dem Schiff des Odysseus gibt es wie auf der Akropolis von Troja einen Versammlungsplatz und einen Zeusaltar (Il. 8,222–226; 249; 11,806–808). In der Nähe, wohl hinter den Schiffen, die als letzter Wall dienen, befinden sich
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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die Behausungen (klisiai) der Heroen. Es sind wohl keine „Zelte“, auch keine „Hütten“, wie manche Übersetzer nahe legen, eher eine Art „Baracken“, Behelfsbauten, die, sobald die Bedeutung der Szenerie es erfordert, regelrechte Megarakomplexe sein können, Gehöfte mit Palisaden um den Vorhof und einem Hauptgebäude, wie das Achills, dessen Haus die Myrmidonen aus Fichtenbalken gezimmert und mit struppigem Schilf von der Aue gedeckt haben (Il. 24,449–456). Auch wenn wir uns die Häuser der Mannschaften einfacher denken, so bleibt doch die Vorstellung eines riesigen bebauten Geländes, das die gesamte Breite der Bucht mit mehreren Schiffsreihen hintereinander füllt und das zudem von zahlreichen Straßen erschlossen ist, also eher eine Stadt als ein Schiffslager (Il. 14,28–36; 10,66). Das Bewundernswerteste an ihm aber ist die Befestigungsanlage mit ihrer Mauer und ihrem Graben. Über sie staunen sogar die Götter, Poseidon befürchtet, sie könne den Ruhm der Mauer von Ilios vergessen lassen, die doch er selber (mit Apolls Unterstützung) errichtet hat; aber Zeus tröstet ihn: Er dürfe sie einreißen, wann immer er wolle (Il. 7,443–464; 21,446f.). Und so geschieht es denn auch: Überschwemmung, Regengüsse und Erdbeben vernichten die Mauer, Sand bedeckt sie, nichts ist mehr von ihr zu sehen (Il. 12,1–33). Wir sollen also nicht meinen, wir könnten Spuren von ihr am Strand des Hellespont entdecken, und Aristoteles (frg. 162 R, bei Strabon 13,598) hat wohl den richtigen Schluss gezogen, wenn er meint, was der Dichter erschaffen habe, könne er auch wieder vernichten. Die Beschreibung der Grabstätten für die gefallenen Achäer hebt sie von den zusammengesunkenen Malen der Vorfahren der einheimischen Troer in vielfacher Hinsicht ab, besonders natürlich, was ihre Zeitstellung betrifft. Sie sind zu Beginn des erzählten Geschehens noch nicht vorhanden, gehören also der epischen Gegenwart an, und der Dichter kann erzählen, wie sie angelegt werden. Außerdem handelt es sich um große und hohe Hügel (tymboi), neu aufgerichtet, wie sie sind. Der erste dieser Grabhügel ist der für die Gefallenen des ersten Kampftages, ein Sammelgrab. Die Asche der verbrannten Leichen soll später in die Heimat gebracht werden, über der Brandstätte wird ein Hügel aufgeschüttet, „etwas von den Schiffen entfernt, und daneben“, wie Nestor vorschlägt (Il. 7,328–338; 433–437). Der zweite ist der für Patroklos, dessen Errichtung sich beinahe wie eine Bauanweisung für spätere Grabhügel liest: Die Gefährten Achills „legten die Gebeine in eine goldene Urne, umhüllten sie mit Leinen und stellten sie in die Kammer (klisie¯), zogen einen Kreis für das Mal, legten die Sockelsteine um die Brandstätte und schütteten Erde darüber“ (Il. 23,250– 257). Die Abfolge der Vorgänge legt nahe, dass es sich bei der klisie¯ um eine Grabkammer oder ein Grabhaus, nicht um das Wohnhaus des Achill handelt. Der Hügel erhält zunächst noch nicht seine endgültigen Ausmaße, weil Achill zusammen mit dem Freund bestattet werden will. Von der Ausführung dieses Vermächtnisses berichtet die Seele Agamemnons der des Achill in der Unterwelt: „Wir schütteten einen großen Grabhügel auf um euch auf der hochragenden Küste am breiten Hellespont“, und erläutert den Zweck der prominenten Lage, „damit er weithin vom Meer aus den Männern sichtbar sei, den jetzt und den künftig lebenden“ (Od. 24,82–84). Die Grabhügel für die Achäer sind also von Anfang an als Denkmäler des Ruhmes gedacht. Ihr Zweck, Künder des Ruhmes auch für die Zukunft, also für alle Zeiten, zu
Zerstörung des Lagers
Grabhügel der Achäer
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Fahrzeuge zu Wasser und zu Land
Kombination von Ruderund Segelschiff
Dichtung und Wirklichkeit
sein, ist so selbstverständlich und umfassend, dass sie sogar den Nachruhm nicht nur des gefallenen Achäers, sondern auch seines Besiegers verkünden können: Hektor bringt dies zum Ausdruck mit der Aussage, falls er den Ajas im Zweikampf töte, sollten die Achäer diesem ein Mal am breiten Hellespont aufschütten. „Dann wird einst einer der später geborenen Menschen, wenn er auf dem Schiff vorüberfährt, sagen: Das ist das Mal eines Mannes, der vor langer Zeit gestorben ist, den bei seiner Aristie der strahlende Hektor tötete, und dieser mein Ruhm wird unvergänglich sein“ (Il. 7,86–90). Auf Grabhügeln können Steinmale, Stelen, aufgestellt werden. „Grabhügel und Stele“ können geradezu in einem einzigen Begriff zusammenfallen: Die Verwandten bestatten Sarpedon unter einem Hügel mit Stele, „denn das ist die Ehre der Gestorbenen“; eine solche „Stele auf dem Hügel“ eines unbekannten Toten kann ohne weiteres ein allgemeines Bild für Standhaftigkeit sein (Il. 16,457; 675; 17,434f.). Über derartige Stelen auf den Hügeln der Achäer finden wir keine Hinweise im Text, nur auf dem Hügel des Elpenor soll Odysseus mit seinem Ruder ein Zeichen errichten (Od. 11,74–78). Die homerischen Helden kommen übers Meer, um einen Landkrieg zu führen. Dazu benötigen sie Schiffe und Wagen, vor allem Streitwagen, denn geritten sind sie offensichtlich nur im Notfall, wie Odysseus beim Raub der Rosse des Rhesos in der Dolonie. Die Schiffe sind kombinierte Ruder- und Segelschiffe. Mit einem solchen Schiff, bemannt mit 20 Ruderern, fährt Odysseus nach Chryse. Dort gibt es ein tiefes Hafenbecken; bei der Landung werden die funktionalen Schiffsbestandteile deutlich: Man zieht die Segel ein und legt sie im Innern nieder, löst den Mast aus den Seilverspannungen und bringt ihn in seine Halterung, dann wird das Schiff zum Ankerplatz gerudert, man wirft die Ankersteine aus und bindet die Hecktaue am Ufer fest (Il. 1,432–436). Den strukturellen Aufbau dieser Schiffe erhellen die dramatischen Kampfszenen im 15. und 16. Buch. Ajas steigt auf die Verdecke und springt von einem Schiff zum anderen mit einer 22 Ellen langen Seekampfstange, Hektor ergreift das Heck des vordersten, weil zuerst gelandeten Schiffes des Protesilaos, hält es fest am Zierrat (aphlaston) und feuert die Troer an. Der Verteidiger weicht von den Geschossen ein wenig zurück vom Verdeck auf die sieben Fuß hohe Schiffsempore. Dort bleibt er stehen und wehrt mit der Enterstange die Feinde und ihre Feuerbrände ab, bis ihm Hektor mit dem Schwert die eherne Spitze kappt, dann weicht er und die Flamme ergreift das Hinterdeck des Schiffes (Il. 15,676–746; 16,102–124). Wie sinnvoll die Verbindung von Arm- und Windkraft ist, zeigt sich bei langen Seereisen wie den Irrfahrten des Odysseus. Günstiger Wind schont die Kraft der Ruderer und beschleunigt die Fahrt, ungünstiger führt von der Route ab und schlimmstenfalls zum Schiffbruch; immer wieder weist daher der Erzähler auf die Windrichtung hin (Od. 9,39; 67; 82; 12,313–316; 326; 399–419). Bei einer Flaute aber sind die Ruderer gefragt; ohne sie wäre Odysseus kaum an den Sirenen vorbeigekommen: „Da hörte mit einem Mal der Wind auf, und das Meer war glatt und still vom Wind, als schläferte es ein Dämon ein. Da standen die Gefährten auf und rollten die Segel ein und warfen sie in den Bauch des Schiffes; sie aber setzten sich an die Riemen und
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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peitschten das Wasser mit den geglätteten Fichtenrudern. … Mich aber banden sie aufrecht an Händen und Füßen mit Tauen an den Mast, …“; und der gefährlichen Brandung an der Enge zwischen Skylla und Charybdis wären sie kaum entronnen, denn „sie fürchteten sich, die Ruder entglitten ihren Händen und platschten in die Strömung hinunter, das Schiff blieb liegen, weil sie nicht mehr die Ruder mit den Händen bewegten“, wenn Odysseus nicht mit Engelszungen einen jeden einzeln aufgefordert hätte, zu rudern und Kurs zu halten. (Od. 12,168–180; 201–221). In der Überwindung von Windstille, Brandung und Gegenströmung bewährt sich die unentbehrliche Kraft und Ausdauer der Ruderer. In keinem Abschnitt ist der Unterschied zwischen der zweirädrigen Pferdebiga und dem vierrädrigen Maultierwagen so konsequent betont und durchgeführt wie bei der Fahrt des Priamos zu Achill im 24. Buch der Ilias. Nun gewinnt das schwere Maultiergespann größere Bedeutung als das leichte Reisegefährt des Priamos, soll es doch nicht nur das Lösegeld, sondern auf dem Rückweg auch Hektors Leichnam in die Stadt befördern. Priamos’ Söhne bereiten den Wagenkorb zur Fahrt vor, legen die Lösegaben hinein und spannen die Maultiere an; Priamos lenkt das Pferdegespann durch das Palasttor, der Herold Idaios fährt mit dem Maultiergespann durch die Stadt voraus. In der Ebene lassen sie dann Rosse und Maultiere an der Skamanderfurt trinken; dort schwingt sich Hermes in Gestalt eines jungen Myrmidonen zum sicheren Geleit auf den Wagen des Priamos und lenkt ihn unbemerkt durchs Tor am Haus Achills; Idaios bleibt bei den Pferden und Maultieren im Hof zurück und wartet; nach dem Versöhnungsgespräch holen ihn zwei Gefährten in Achills Haus, spannen die Tiere aus und nehmen die Gaben aus dem Wagen; Achill legt persönlich den Leichnam auf eine Tragbahre, die von Gehilfen auf den Wagen gehoben wird. Am Morgen spannt wiederum Hermes die Tiere an und lenkt sie bis zur Furt; von der Akropolis aus sieht Kassandra den Vater in seiner Biga heranfahren und den Toten auf dem Maultierwagen liegen; Gattin, Mutter und alle Troer stürzen zum Tor und beginnen mit der Klage, doch Priamos ruft von seinem Wagen aus zur Ordnung: „Lasst uns erst mit den Maultieren durchkommen und mich den Toten ins Haus tragen, dann ist noch Zeit genug zum Weinen!“ (Il. 24,716 f.) – und so geschieht es, der Leichnam wird vom Wagen gehoben und auf ein Lager gebettet. Der traurige Anlass führt dazu, dass ein schlichtes Maultiergespann so ins Zentrum des Geschehens rückt: In aller Ausführlichkeit werden beim Anschirren viele Details des Wagens und der Abstammung der Tiere erwähnt – wie sonst nur bei kostbaren Reise- oder Streitwagen wie etwa dem Streitwagen Achills (Il. 19,392–394). Im Übrigen treten solche Details nuancenreich in den Gefechten ans Licht: Räder krachen, Wagenkörbe stürzen um, Deichseln zerbrechen, Zügel werden zerhauen. Die genaueste Anschauung von einem Reise- und Streitwagen gibt uns der Dichter ausgerechnet an einem Götterwagen, obwohl die Götter eines Wagens im Grunde nicht bedürfen, da sie große Strecken mit Flügelschuhen zurücklegen oder mit wenigen großen Schritten überwinden können. Doch die Beschreibung des Wagens, den Hebe für die Fahrt Heras und Athenes zum Schlachtfeld herrichtet, hat Archäologen und Philologen mit so akribischen Einzelheiten versorgt wie kaum eine andere. Allerdings strahlt alles an ihm vom Glanz der Edelmetalle, aus denen die einzelnen Teile gefer-
Ein wichtiger Lastwagen
Ein kostbarer Reisewagen
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Lenker und Fahrer
Gebrauchsund Prunkwaffen
Dichtung und Wirklichkeit
tigt sind: die achtspeichigen Räder aus Erz mit goldenem Radkranz und silbernen Naben an eiserner Achse, der Wagenkorb, mit goldenen und silbernen Riemen durchflochten, mit silberner Deichsel und goldenem Joch und dies mit ebenfalls goldenen Gurten, „ein Wunder anzusehen“, wie der Dichter allzu realitätsgläubige Hörer und Leser warnt (Il. 5,721–731). Es versteht sich von selbst, dass in der Ilias der Zweiradwagen hauptsächlich als Streitwagen im Kampf, in der Odyssee als Reisewagen über Land fungiert, wie bei den Fahrten des Telemachos von Pylos nach Sparta und zurück (Od. 3,478–496; 15,182–193). Die Wäsche dagegen transportiert Nausikaa auf einem „hohen, gutberäderten“ Lastwagen, vor den Maultiere gespannt werden; Nausikaa steigt auf „und sie ergriff die Geißel und trieb die Tiere an; da trabten sie ausdauernd dahin und trugen die Gewänder und das Mädchen, die anderen Mädchen gingen daneben her“ (Od. 6,58–84). Auch und gerade im zivilen Leben braucht man beide Arten von Gespannfahrzeugen. Die Maultiere zu lenken, bedarf es nur einer Person, sogar ein junges Mädchen kann die geduldigen Tiere leiten, die ohnehin noch die Lasten ziehen müssen. Die temperamentvollen und schnellen Pferde dagegen kann nur ein Kenner beherrschen, der in der Regel ihr Besitzer ist. Daher fährt der junge Nestorsohn Peisistratos als Lenker den Telemachos nach Sparta. Ein Reisewagen mit Lenker und Reisendem ist der Vorläufer der Postkutsche, denn natürlich übermitteln die Fahrer auch Nachrichten von Haus zu Haus. Dass den Streitwagen nicht der Kämpfer, sondern ein spezieller Lenker im Gefecht leitet, ist eine Notwendigkeit: Der Kämpfer springt in der Regel zum Gefecht aus dem Wagenkorb, so dass die Pferde führerlos scheuen würden; der Lenker allerdings braucht im Notfall den Kämpfer auch zu seinem eigenen Schutz, wie sich ab und zu gerade in den heftigsten Kämpfen zeigt: Die Pferde Achills kann der junge Krieger Automedon nicht bändigen, „er erlegte keine Männer, wie er so dahinjagte und sie verfolgte, denn es war ihm unmöglich, allein auf dem Wagen mit der Lanze anzustürmen und die schnellen Pferde zu lenken“; erst ein zweiter Kämpfer löst die Schwierigkeit, indem er die Lenkung übernimmt (Il. 17,459–483). Doch vor allem die schweren Waffen machen dem Kämpfer eine Gespannführung nahezu unmöglich. Bei der ersten Wappnung in der Ilias stellt der Dichter die einzelnen Waffen sozusagen wie in einem Musterkatalog in nüchternen Worten vor: Beinschienen, Panzer, Schwert, Schild, Helm und Speer (Il. 3,330–338). Einige Details dieser Waffen wiederholen sich so stereotyp, dass sie am ehesten den Eindruck normaler Gebrauchsstücke machen: Die Beinschienen aus Erz haben silberne Knöchelspangen, das Schwert, ebenfalls aus Erz, hat einen Griff mit silbernen Nägeln, der Helm einen Busch aus Rosshaar. Panzer und Schild jedoch kennzeichnen den Helden in ganz individueller Weise und können daher außergewöhnliche Prunkstücke sein: Auf dem Panzer Agamemnons umgeben 10 Streifen aus Kyanos (Blaustahl), 12 aus Gold und 20 aus Silber drei regenbogenfarbige Drachen aus Kyanos; der Schild ist ebenso prachtvoll wie der Panzer, auf 10 Ränder aus Erz folgen nach innen 20 Buckel aus leuchtendem Zinn und in der Mitte blickt das Antlitz der Gorgo schrecklich zwischen dem von Furcht (Deimos) und Schrecken (Phobos), aus dunklem Kyanos gebildet, hervor. Aber auch Einzelteile der weiteren Ausrüstung dienen dazu, den prunk-
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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vollen Anblick zu erhöhen: Das Schwert steckt in einer silbernen Scheide und hängt an einem goldenen Wehrgehänge; der Schild hat einen silbernen Traggurt, auf ihm ringelt sich eine dunkelschimmernde Schlange, ebenfalls aus Kyanos; der Helm hat vier Wangenstücke – die Vision dieser alle Maßstäbe übertreffenden Waffen wird noch gesteigert durch ein göttliches Zeichen: „Und es donnerten dazu Athene und Hera und ehrten so den König des goldreichen Mykene“ (Il. 11,17–47). Der Gebrauch der einzelnen Waffen erhellt schlaglichtartig aus den zahlreichen Einzelgefechten, wohl kaum aber anschaulicher als in dem ersten Waffengang des Epos: Paris wirft die Lanze und trifft zwar den Schild des Menelaos, aber die Spitze verbiegt sich darin; Menelaos durchbohrt mit seiner Lanze nicht nur den Schild, sondern auch den Panzer und Leibrock des Gegners bis auf die Haut; nun zieht Menelaos das Schwert und schlägt auf Paris’ Helm, jedoch es zersplittert auf dem Bügel (Il. 3,346–363). Anschaulich wird dabei einerseits die aus der Waffengattung sich ergebende Abfolge von Fern- und Nahkampf, andererseits aber auch die Tatsache, dass Erfolg und Misserfolg vom Zufall begleitet sind: Schild, Panzer und Helm können schützen oder auch nicht, Speer und Schwert können verwunden oder untauglich werden. Wenn Militärhistoriker und Philologen das Waffenvokabular Cäsars in „Schutzwaffen“ (arma) und „Angriffswaffen“ (tela) begrifflich zusammengefasst haben, so gilt diese begriffliche Unterscheidung für Homer nicht, alles ist „Kriegsgerät“ (teuchea). Der Bogenschütze muss sich, ungeschützt durch Helm und Schild, überhaupt nur auf seine Angriffswaffe verlassen, ebenso wie der Schleuderer. Im Kontingent werden beide Waffengattungen nur sporadisch beim Kampf um die Mauer wirksam, denn sie sind nicht unbedingt zuverlässig: Die Lokrer verteidigen ihren Anführer Ajas nicht länger, „denn sie hatten keine ehernen bebuschten Helme, keine runden Schilde und keine Eschenlanzen, sondern allein den Bogen und den Schleudern vertrauend waren sie nach Ilios gekommen“ (Il. 13,712–716). Einzelnen Bogenschützen werden jedoch im epischen Geschehen weitreichende Erfolge zugewiesen, wobei zugleich deutlich wird, dass sie auf die Deckung durch ihre Mitstreiter oder sonst eine topografische Gegebenheit angewiesen sind: Teukros benutzt den Turmschild seines Halbbruders Ajas zu seinem Schutz; aus ihm tritt er zu tödlichen Schüssen hervor, sogar auf Hektor hat er es abgesehen, trifft aber stattdessen nur seinen Wagenlenker (Il. 8,273–277; 312–315). Paris benutzt die Stele auf dem Grabmal des Ilos als Hinterhalt, seine Pfeile treffen die Gegner an Körperteilen, die der mit der linken Hand gehaltene Schild nicht bedeckt, Diomedes am rechten Fuß, Machaon an der rechten Schulter und Eurypylos am rechten Schenkel (Il. 11,377 f.; 505–507; 581–583); Pandaros versendet seinen scheinbar lebensgefährlich verwundenden Schuss auf Menelaos aus dem Kreis seiner Schildträger heraus (Il. 4,89–148). Die Waffen hervorragender Helden entsprechen ihren Trägern, sie haben ihre Geschichte und sind kunstvoll verarbeitet: Ajas’ ehernen Turmschild hat der beste Lederarbeiter von Böotien mit sieben Rindshäuten und zuletzt einer Lage von Erz beschichtet; Nestors Schild ist ein hochberühmtes Stück, denn er besteht aus purem Gold und ist deshalb von Hektor heiß begehrt; Achills Speer kann nur der Held selbst schwingen, er ist ein Erbstück, das der Kentaur und Waffenmeister Achills aus einer
Funktion der Waffen
Pfeil und Bogen
Heroische Waffen
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Archaisierende Missverständnisse?
Taktik des Wagenkampfs
Dichtung und Wirklichkeit
Esche des Peliongebirges für Peleus gearbeitet hat (Il. 7,219–224; 8,191–193; 16,140– 144). Ein außergewöhnliches Gastgeschenk ist der Bogen des Odysseus, den er als junger Mann von dem Sohn des Meisterschützen Eurytos, der sogar Apollon zum Wettschießen herausgefordert hatte, erhalten hat; „den wählte Odysseus niemals, wenn er in den Krieg zog, sondern als Andenken an den lieben Gastfreund blieb er immer im Haus liegen“. Auch ihn kann niemand außer Odysseus spannen (Od. 21,11–41; 8,223–228). Mit diesen Waffen vollbringen die Helden ihre heroischen Taten, deren Ruhm auf sie übergeht und sie mit ihnen fest verbindet. Sie alle aber übertrifft der Schild, den Hephaistos für Achill anfertigt, ein Werk, das unter den Händen des Gottes zum Bild einer lebendig wirkenden, spannungsgeladenen Welt gerät mit Hochzeiten und Gerichtsszenen, kriegerischen Angriffen und Kämpfen, Mähen und Traubenlese, Einbrüchen wilder Tiere in Rinder- und Schafställe und Jagden auf sie und mit Tänzen und Gesängen, dies alles überstrahlt vom Himmel mit Sonne, Mond und Sternen und umrahmt vom weiten Okeanos (Il. 18,478–608). Wenngleich die Edelmetalle, aus denen der Gott den Schild schmiedet, immer wieder hervorschimmern, ist dieser Schild nicht eine der üblichen Prunkwaffen berühmter Helden, sondern nur in der Phantasie vorstellbar, bemerkenswerterweise trägt ihn Achill auch nicht auf seinem Rachefeldzug. Besonders an den Artefakten muss sich immer wieder das Verständnis der Beziehung zwischen dichterischer Verwandlung und archäologisch erfassbaren Sachverhalten bewähren. Wehranlagen und Kampfmittel waren es vor allem, die dabei schon frühzeitig den Verdacht der Interpreten herausgefordert haben. Der Streitwagen homerischer Helden etwa wurde als eine fabulöse Kriegsmaschine der Vorzeit betrachtet, deren praktischen Gebrauch man vergessen habe. So sei es zu erklären, dass er in der Ilias quasi nur noch als eine Art Taxi zur Fahrt an die Front benützt werde, während man den eigentlichen Kampf zu Fuß ausfechte. Nun trifft es zwar zu, dass die bildlichen und schriftlichen Informationen über Streitwagentaktik und Streitwagenkämpfe eher in die Bronzezeit und zu kriegerischen Begegnungen auf offenem Blachfeld gehören, während die späteren Schlachten der Griechen zwischen den Phalangen der Hopliten, den Leichtbewaffneten und der Reiterei ausgefochten wurden. Dennoch zeigt sich bei eingehender Lektüre, dass sich für die Schilderung der Kämpfe vor Ilios durchaus in sich stimmige Zusammenhänge ergeben. Hier handelt es sich nicht um die förmliche Belagerung und völlige Einschließung einer Stadt, sondern um Flottenlandung und Errichtung eines Stützpunktes im Feindesland, zur Verheerung des weiteren Umlandes und mit überfallartigen Angriffen aus sicherer Entfernung. Zu dieser Strategie gehören schnelle bewegliche Wagengeschwader mit der Möglichkeit zur überraschenden Offensive und zum raschen Rückzug, zum Transport der Kämpfer mit ihren schweren Angriffs- und Verteidigungswaffen, zur Bergung der Verwundeten und Toten, aber auch der Beutestücke. Die Einheimischen sind auf diese Art der Kriegführung vorbereitet. Ihre Stadt liegt auf einer steilen Anhöhe über der Ebene, mit stets offenem Zugang zur Versorgungsbasis im gebirgigen Hinterland, mit gebührendem Sicherheitsabstand zur gefahrdrohenden Küste, und mit einem Frühwarnsystem durch vorgeschobene Beobachtungsposten auf halbem Wege. Für die Trojaner erfüllt diese Aufgabe der Späher Polites als schneller Meldeläufer, ein
Stadt- und Wehranlagen, Verkehrsmittel und Waffen
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Sohn des Priamos, der auf der Spitze eines Grabhügels Wache hält (Il. 2,791–794). Die Achäer geraten nach dem Ausfall ihres Vorkämpfers Achilleus in die Defensive und errichten ein Sperrsystem um ihr Schiffs- und Heerlager, das sie gegen Überfälle schützen soll. Initiator und Planer für diese Maßnahmen ist der alterfahrene Nestor, der eine Tradition von drei Generationen überblickt, und schon durch seine Beinamen „Gespannkämpfer“ und „Gespannlenker“ (hippota und hippelata) als einschlägiger Experte ausgewiesen ist. Das nach seinen Anweisungen errichtete Bollwerk offenbart seine Beschaffenheit und Funktion im Ablauf des Geschehens. Der in beträchtlichem Abstand vorgelagerte Graben zwingt die Angreifer dazu, ihre Wagen zurückzulassen und zu Fuß gegen die Mauer vorzugehen, nicht etwa deshalb, weil er unüberwindlich, oder nicht im Einzelfall sogar zu überspringen wäre, sondern deshalb, weil er bei Niederlage und überhasteter Flucht für die zurückflutenden Gespanne zur tödlichen Falle werden kann. „Den Hektor retteten die schnellen Pferde mitsamt den Waffen, doch die Masse der Troer ließ er zurück, wider Willen hemmte sie der ausgehobene Graben. Viele der Gespannpferde ließen die Wagen ihrer Herren im Graben zurück, mit zerbrochener Deichselspitze …“, „kopfüber fielen die Männer vom Gefährt unter die Achsen, mit Getöse stürzten die Wagen um. Doch geradeswegs übersprangen den Graben die schnellen unsterblichen Pferde des Peleus, denn Patroklos suchte den Hektor zu treffen …“ (Il. 16,367–371; 378–383). Wenn von der Tiefe und Breite des Grabens die Rede ist, so sind die Ausmaße relativ zu verstehen, sorgsam abgestimmt auf die Sprungkraft des Durchschnittspferdes und die Maße der Wagenräder und der Deichseln. Auch die Wächter der Achäer sind in weitem Abstand vom Lager am Graben postiert, eine spezielle Durchfahrt „zur Linken“ bietet im Notfall eines Rückzugs sichere Zuflucht. Dieser „Pferdetreibweg“ (hippelasie hodos) trägt offensichtlich der natürlichen, auch sonst weit verbreiteten Tendenz der Pferde zur Linkskurve Rechnung, die der pferdekundige Nestor auch dann berücksichtigt, wenn er seinem Sohn beim Wagenrennen empfiehlt, sich an der Wendesäule nach links in die Kurve zu hängen, das rechte Außenpferd anzutreiben und das linke so nah wie möglich gegen die Säule zu drängen (Il. 23,334–340). Das Durchmessen der Rennbahn im Gegen-Uhrzeigersinn wurde auch später in allen Pferdewettbewerben beibehalten sowohl in Olympia wie auch im römischen Circus. Zumindest hier lebte das Wissen um die Technik des Gespannfahrens weiter, zunächst in direkter Traditionslinie, verbunden mit der Welt der Heroen, zu deren Ehre die Wettkämpfe stattfanden, mit dem großen Vorbild der Leichenspiele für Patroklos. Die vermittelnde Funktion der artifiziellen Welt des Epos zwischen realer Erinnerung an die Vorzeit, plausibler Einbindung in die Gegenwart und exemplarischer Ausstrahlung auf die Nachwelt ist also immer mit zu berücksichtigen, wenn man versucht, sie auf historische und archäologische Sachverhalte hin zu befragen. Vor allem die Abgleichung imaginärer und nachprüfbarer Größendimensionen hat von jeher Schwierigkeiten bereitet. Die Großartigkeit der dichterischen Imagination verlangt offenbar auch große Abmessungen in der Realität, und zwar erstaunlicherweise bei Optimisten und Skeptikern gleichermaßen. So neigen Ausgräber zu einer Überinterpretation der Befunde, ihre Kritiker zu einer Minimalisierung aller vorliegenden Fakten, beide unter Berufung auf die angeblichen Größenangaben bei Homer, die man
Graben als Hindernis für Streitwagen
Archäologische Dimensionen und historische Größe
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Dichtung und Wirklichkeit
unwillkürlich als objektive Daten zugrundelegt, selbst dann, wenn man immer wieder den imaginären Charakter der Dichtung betont. Besondere Probleme haben dabei stets die eher symbolischen fünfzig Gemächer im Palast des Priamos bereitet, aber auch scheinbar empirische Vergleiche aus anderen Epochen und Regionen können in die Irre führen, wenn man für die Ilias eine klassische Städtebelagerung mit Festungsgraben, Zwinger und Stadtmauer annimmt, oder grundsätzlich davon ausgeht, dass eine mächtige Stadt auch die entsprechenden Spuren hinterlassen müsse. Hier gilt immer noch die Feststellung des Thukydides (1,10), dass die prachtvollen Ruinen von Athen und die dürftigen Überbleibsel von Sparta der Nachwelt eine falsche Vorstellung von der jeweiligen Macht und historischen Bedeutung vermitteln würden, der Peloponnesische Krieg also völlig unverständlich bliebe.
Wohnung und Kleidung, Essen und Trinken Artefakte im Gebrauch
Wenige praktische Möbel
Von der Lebensweise der homerischen Menschen, Inneneinrichtung der Räume, Kleidung und Schmuck, Handwerkszeug und Geschirr, erfahren wir hauptsächlich durch Erwähnungen bei Aktionen, in denen sie benutzt werden; ausführliche Beschreibungen ihres Aussehens sind die Ausnahme und beziehen sich auf nicht alltägliche Prunkstücke. Da die Aktionen in sich glaubwürdig und stimmig sind, neigt man dazu, diesen Eindruck auch auf das Aussehen der Gegenstände zu beziehen, zumal man manche Details an ihnen erfährt. Daher sind Archäologen verführt, sie mit bildlichen Darstellungen ähnlicher Szenen und mit entsprechenden Fundstücken zu identifizieren, zumal sich viele Bezeichnungen durch die gesamte Antike hindurch erhalten haben. Dennoch gilt auch hier das Gleiche wie für die politischen Verhältnisse: Der Gesamtvorgang wirkt plausibel, die einzelnen Dinge bleiben vage, da sich ihre Vergegenwärtigung auf die Angabe der bloßen Funktionen beschränkt. Gemeinsam ist den Gegenständen des täglichen Lebens auch der Heroen der Umstand, dass sie einfach und praktisch sind. Das Inventar der Innenräume besteht überhaupt nur aus wenigen Möbelarten, Sitzen, Tischen, Betten, und die sind in der Regel beweglich: Telemachos rückt einen Sitz für sich neben den für den Gast, eine Magd stellt einen Tisch vor sie hin, einem Gast wird gewöhnlich eine Schlafstätte in der Halle oder im Vorraum bereitet (Od. 1,132–138; 4,296–303; 3,396–399). Wie die einzelnen Möbelstücke aber aussehen, bleibt verhältnismäßig unklar. Allein für die Sitzgelegenheiten gibt es fünf Begriffe; ihre Übersetzung ist schwierig, da jede deutsche Bezeichnung die Assoziation mit einem Gegenstand späterer Zeit hervorruft, wie „Stuhl“, „Sessel“, „Thron“; hinzu kommt, dass besonders bei einer Übertragung in Hexametern das entsprechende Äquivalent aus metrischem Zwang willkürlich gewählt ist. Nur so viel scheint sicher, dass sie meist eine Rückenlehne gehabt haben, denn drei Bezeichnungen, klismos, klinte¯r und klisie¯, deuten auf den Sinn von „ausruhen“, „lagern“; „Bänke“ sind es wohl nicht. Der Bequemlichkeit halber haben manche Sitze fest mit ihnen verbundene Fußschemel, wie der, zu dem Telemachos den Gast Mentes hinführt. Auch sie sind nicht so schwer, dass sie nicht hin- und hergeschoben werden können: Mägde rücken das massive, kostbare Prunkstück der Pene-
Wohnung und Kleidung, Essen und Trinken
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lope in der Halle ans Feuer. Möglicherweise hat ein solcher Sessel auch Armlehnen, jedenfalls kann Penelope in ihm „zurückgelehnt mit gelösten Gliedern“ schlafen. Im Normalfall sind die Schemel aber wohl nicht am Sitz befestigt, sonst könnte der Freier Antinoos nicht einen ergreifen und dem Bettler gegen den Rücken schleudern (Od. 19,55–58; 18,189f.; 17,462f.). Die Tische haben, wie ihr Name trapeza, „vierfüßig“, besagt, vier Beine und eine leicht zu reinigende Platte; vielleicht ist sie abnehmbar, wenn sie im Notfall als Schild benutzt werden kann: „Zieht die Schwerter und haltet den Pfeilen die Tische entgegen!“ ruft Eurymachos im Saalkampf den anderen Freiern zu (Od. 22,74). Zum Schlafen genügt gelegentlich ein Lager aus Fellen, Kissen und Tüchern, wie es Achill für den alten Phönix fürsorglich herrichten lässt, oder nur aus Rinds- und Schaffellen und einem Mantel, den sich der Bettler Odysseus selbst auf dem Boden ausbreitet; ein Bettgestell braucht dazu nicht immer vorhanden zu sein (Il. 9,660f.; Od. 20,2f.). Wohl aber bildet es das eigentliche Schlafmöbel der Hausbesitzer, die alte Eurykleia hängt Telemachs Leibrock an einen Pflock „neben der Bettstatt“, Penelope befiehlt den Mägden, für Odysseus das „feste Bett, das er selbst hergestellt hat“, in die Halle zu tragen, woraufhin wir von dem einzigen nicht verrückbaren Bett der Epen erfahren: Es ist nicht nur ein von Odysseus selbst prachtvoll mit Gold, Silber und Elfenbein verkleidetes Prunkstück, sondern stabil mit dem am Ort gewachsenen Stamm eines Ölbaums verbunden, und gerade am Wissen um dieses Geheimnis kann Penelope ihren Mann endgültig wiedererkennen (Od. 1,440; 23,117–180; 184–225). Ein sehr wichtiges Möbelstück ist die Truhe, in der die Gewänder und Wertgegenstände aufbewahrt werden – Schränke gibt es nicht. Ihres kostbaren Inhalts wegen steht sie im thalamos, einer Art Schatzkammer im Unter- oder auch, wie im Haus des Odysseus, im Obergeschoss hinter den Frauengemächern. Hekabe entnimmt ihrer Truhe eines der von Frauen aus Sidon bunt gewebten Gewänder, die Paris aus Phönizien mitgebracht hat; im Palast des Priamos enthalten die Truhen außer zahlreichen Kleidungsstücken auch noch viele prächtige Gefäße (Il. 6,289–292; 24,228–236). Die Kostbarkeiten können in der Schatzkammer auch auf Regalen stehen, wie im Haus des Menelaos oder des Odysseus, wo der Bogen über den Gewandtruhen an einem Pflock hängt (Od. 15,99–108; 21,9–55). Eine Truhe kann aber auch als eine Art „Koffer“ dienen: „Bring eine stattliche Truhe her, die beste, die wir haben“, sagt Alkinoos zu seiner Gattin; in diese Truhe legt Arete dann die stattlichen Gastgeschenke, Gewänder und Kleinodien, und Odysseus entnimmt sie ihr wieder am Strand von Ithaka (Od. 8,424–441). Für Männer und Frauen wird jeweils ein Kleidungsstück erwähnt: Männer tragen den chito¯n, Frauen den peplos. Sie sind beide aus Schafswolle gewebt. Der Chiton ist ein Leibrock oder Kittel mit einer Öffnung für den Kopf, man „zieht ihn sich über den Körper“, „taucht in ihn hinein“. Er hängt gewöhnlich lose herunter, bei der Arbeit allerdings wird er mit dem Gürtel zusammengehalten: Der Schweinehirt Eumaios rafft zum Ferkelschlachten und -braten seinen Chiton mit dem Gürtel (Od. 14,72). Er reicht gewöhnlich nur bis an die Knie; ein fußlanges Gewand wäre bei der Arbeit äußerst hinderlich; auch das Lumpengewand des Bettlers Odysseus dürfte kaum bis zu den Knöcheln reichen: Die Amme Eurykleia erkennt sofort beim Waschen des Beins
Schatztruhen
Bekleidung der Männer
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Bekleidung der Frauen
Dichtung und Wirklichkeit
die Narbe; sie befindet sich am Oberschenkel, denn sie rührt von einer Wunde her, die ein Eber dem jungen Odysseus „über dem Knie“ zugefügt hat (Od. 19,388–392; 452). Von der Kunst der Weberin hängt es ab, wie fein das Gewand gewebt ist; Penelope hat ihrem Gatten eines zum Kriegszug nach Troja mitgegeben, „glänzend wie die Schale einer Zwiebel, so zart war es“ (Od. 19,232f.). Auch im Kampf tragen die Krieger den kurzen Chiton und darüber den Brustpanzer, die Achäer sind „erzgewandet“ (chalkochito¯nes), wie es in übertragenem Sinn heißen kann. Zum Schutz gegen die kühle Witterung steht dem Mann noch ein Umhang zur Verfügung, die chlaina; Eumaios wirft sich einen um, „der sehr dick war und vor dem Wind schützte“, bevor er zu seiner Schlafstätte bei den Schweinen unter einem überhängenden Felsen geht (Od. 14,529f.). Der Mantel des Hirten ist schlichtweg dick, der des angesehenen Nestor aber aus weicher Wolle, doppelt gewebt und purpurfarben, und er wird mit einer Spange zusammengehalten (Il. 10,131–134). Über ihre zweckmäßige Verwendung als „Sicherheitsnadel“ hinaus kann eine solche Spange ein ganz besonders kostbar gearbeitetes Schmuckstück sein, das an kretisch-mykenische Goldschmiedearbeiten erinnert, wie die am Mantel des Odysseus: „Auf ihr war ein Bild: In seinen Vorderläufen hielt ein Hund ein bunt geflecktes zappelndes Rehkitz. Das sahen alle mit Staunen, wie sich der Hund in das Kitz verbissen hatte und es würgte, und das Kitz zu entkommen versuchte und zappelte, obwohl beide von Gold waren“ (Od. 19,227–231). Es gehört zu den die improvisierte Situation scharf andeutenden Zügen der „Dolonie“, dass die Helden, als sie in der Nacht vom Lager aufspringen, nicht zum Mantel, sondern zu Fellen greifen, mit denen sie sich wohl noch soeben zugedeckt hatten, Agamemnon und Diomedes zu einem Löwen-, Menelaos zu einem Pantherfell; nur Nestor wirft sich seinen weichen Wollmantel um (Il. 10,23f.; 29f.; 177f.). Der Peplos ist ein langes Gewand, die Troerinnen tragen daher das Beiwort „die mit schleppendem Peplos“ (helkesi-peploi). Es besteht aus einem rechteckigen Stück Tuch, das Pferdehalter auch über die Wagenkörbe breiten können (Il. 5,194); zu einem Gewand wird es mittels einer Spange auf der Schulter zusammengeheftet und mit einem Gürtel unter der Brust zu einem Bausch hochgezogen. Dieser Bausch ist ein praktischer Tragebehälter, in ihm trägt die Amme und später die Mutter den kleinen Astyanax (Il. 6,400; 483). Ein Schleier oder eine Kopfbinde vervollständigen die Kleidung, zumindest sobald sich die Frau in der Öffentlichkeit zeigt; von Aphrodite hat Andromache einen besonders geschmückten Kopfputz zur Hochzeit geschenkt bekommen, „weit vom Kopf fielen ihr die Bänder, Stirnband und Netz und das geflochtene Band“ (Il. 22,469–471). Der Peplos ist das eigentliche Gewand der Frau, so wie der Chiton das der Männer: Die kriegerische Athene lässt ihren Peplos heruntersinken und wappnet sich über dem Chiton ihres Vaters Zeus (Il. 6,385f.). Beide Kleidungsstücke entsprechen den jeweiligen Tätigkeitsbereichen, das lange verhüllende Gewand kann bei den häuslichen Arbeiten, das kurze praktische muss bei den Arbeiten im Freien getragen werden. Natürlicherweise werden die Gewänder nachts abgelegt: Am Morgen nach der gemeinsam verbrachten Nacht, so erwähnt der Dichter, legen Odysseus und Kalypso ihre Kleidung an (Od. 5,229–231).
Wohnung und Kleidung, Essen und Trinken
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Die Kleidungsstücke bestehen meist aus Wolle; der strapazierfähige Faden des Flachses wird zu Leintüchern, Angelschnüren und Fischnetzen verwendet, wie wir beiläufig aus Gleichnissen erfahren (Il. 16,408; 5,487), woraus sich die Vorstellung entwickelt hat, dass auch das Schicksal der Menschen an einem Leinenfaden hängt (Il. 20,128). „Nicht viele Mäntel und Leibröcke sind hier zum Wechseln vorhanden, nur einer für jeden Mann“, klärt Eumaios den Bettler auf. Das scheint glaubwürdig, einfache Hirten haben nicht viele Kleidungsstücke. Dennoch wirft es ein Licht darauf, wie sachlich der Eindruck mit der poetischen Absicht verbunden, ja fast identisch ist: Eumaios darf nur einen Mantel haben, denn Odysseus will prüfen, ob er wirklich so gastfreundlich ist, wie er sagt, „ob er wohl seinen Mantel ausziehen und ihn ihm geben oder es einem anderen Hirten befehlen würde“ (Od. 14,459–461; 514f.). Ähnlich ist es, wenn andererseits Helena aus ihrer Kleidertruhe, „in der ihre bunt gestickten Gewänder lagen, die sie selbst angefertigt hatte, das an bunter Stickerei schönste und größte, das ganz zuunterst lag, und das leuchtete wie die Sonne“, als künftiges Brautgeschenk für Telemachos herausnimmt: Eine jede selbstbewusste Weberin birgt ihre besten Produkte unten in der Truhe und rückt wohl eines davon einmal als eine Gabe heraus, die vom Beschenkten geschätzt wird; dieses prächtige Gewand aber kann nur aus der Hand einer Meisterweberin stammen, die in ein Tuch ganze Bilderfolgen einarbeitet (Od. 15,104–129; Il. 3,125–128). Auch im Palast des Alkinoos werden kunstvolle Gewebe hergestellt; die Königin „sitzt in der Halle im Schein des Herdfeuers und wickelt auf der Spindel meerpurpurne Wolle, hinter ihr sitzen die Mägde“, teilt Nausikaa dem Odysseus mit, und von der Schwelle aus erblickt er „fünfzig Dienerinnen, die sitzen da und weben Gewänder und drehen die Spindeln, und von dem hochfeinen Leinen tropft feuchtes Öl; denn so wie die Phäaken vor allen anderen Männern geschickt darin sind, Schiffe über das Meer zu lenken, so überragen ihre Frauen alle anderen in kunstreichen Geweben; denn Athene hat ihnen die Gabe überaus schöner Werke und kluger Gedanken geschenkt“ (Od. 6,304–307; 7,105–111). Obwohl wir mit Odysseus einen Blick auf diese fast über menschliches Maß hinaus begabten Frauen werfen, wirkt das Bild der webenden und spinnenden Frauen so alltäglich auf uns, als handle es sich um Wirkerinnen in einem wohlhabenden Haus. In einem solchen Haus sind Webstuhl und Spindel die wichtigsten Arbeitsgeräte der Frauen, die auch die Hausherrin zu bedienen weiß. Der Begriff für das Webgerät ist übrigens der gleiche wie für den Mastbaum (histos) und verrät, dass es sich um einen – allerdings waagerechten – Webebaum handelt, an dem das Gewebe wie ein Segel herabhängt und die Weberin beim Weben hin- und hergeht, wie Kirke (Od. 10,222). Helena besitzt eine goldene, schlanke Spindel (e¯lakatos) mit luxuriösem Handarbeitskorb, ein Geschenk der Gattin des Ägypters Polybos von Theben, „wo die meisten Schätze liegen“, also ein sonst wohl kaum zur Arbeit verwendetes Prunkstück; dennoch erscheint sie hier wie eine im täglichen Leben benutzte Spindel, wie sie übrigens auch auf Münzen mit der Darstellung der Athena Ilias als Göttin der Textilmanufaktur aus Ilion zu sehen ist (Od. 4,123–135). Die Arbeitsgeräte der einfachen Handwerker und Bauern spielen im Leben der Helden kaum eine Rolle; sie werden daher hauptsächlich in Gleichnissen erwähnt,
Realer und poetischer Aspekt
Arbeitsgeräte
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Heroisches Leben
Gebrauch der Gefäße bei der Bewirtung
Essen und Trinken
Dichtung und Wirklichkeit
die einen entsprechenden Arbeitsvorgang illustrieren, wie die Axt, der Pflug, die Angel, das Netz zum Fisch- und Vogelfang, die Worfelschaufel, die Töpferscheibe und auch die zweischalige Waage und das Wiegegewicht (Il. 3,60; 10,353; 16,408f.; Od. 22,383f.; 13,588; 468f.; 18,600; 12,434f.). Dagegen erfahren wir von zahlreichen Geräten und Gefäßen, die den gehobenen Lebensstil der Helden verdeutlichen, der sich in erster Linie bei den Mahlzeiten zeigt, da sie das gesellschaftliche Zentrum des heroischen Daseins darstellen. In der zivilisierten Umwelt der Odyssee verlaufen sie stets in ähnlicher Weise, und es werden auch die gleichen Gefäßarten verwendet, die sich nur durch ihre Qualität unterscheiden. Im Haus der Kirke sind sie von Silber und Gold; wenn man davon absieht, so sind es die, die in allen Häusern der Heroen bei einer Bewirtung benutzt werden (Od. 10,354–370): ein Dreifuß (tripous), ein Erzkessel (chalkos), eine Wanne (asaminthos, Wort und Sache wohl minoischer Herkunft), eine Kanne (prochoos), ein Becken (lebe¯s), ein Mischkrug (krate¯r), Becher (kypellon) und Körbe (kanea). Bei dieser Bewirtung fehlt zunächst das Fleisch, das sonst die Hauptnahrung bildet – vielleicht weil Kirkes Schlachttiere verwandelte Menschen sein könnten? Welche Geräte bei der Zubereitung von Fleisch gebraucht werden, zeigt sich beim Empfang der Gesandten im Haus des Achill (Il. 9,206–214; Od. 1,141): eine Fleischbank (kreion), ein vierzinkiger Bratspieß (obelos); dazu kommen noch Platten (pinakes). Der Gebrauch all dieser Geräte verrät die hoch entwickelte Kultur, die sich vor allem im Ablauf der Bewirtung eines Gastes ausdrückt: Vor der Mahlzeit nimmt der Ankömmling gewöhnlich ein Bad, eine Wanne ist in beinahe jedem anständigen Haus vorhanden, bei Nestor, Menelaos, Penelope und auch in dem kleinen Gehöft des Laertes; sie fehlt sogar im Schiffslager nicht (Od. 3,468; 4,48; 23,163; 24,370; Il. 10,576). Das Badewasser wird in einem Kessel gewärmt, der zu einem über dem Herdfeuer stehenden Dreifuß gehört. Einem hergelaufenen Bettler werden immerhin die Füße in einem Becken gewaschen; einem plötzlich eintretenden Besucher reinigt eine Magd wenigstens die Hände, indem sie „Handwasser“ aus einer Kanne über seine Hände in ein Becken fließen lässt (Od. 19,386; 469; 1,136f.). Die Mahlzeit besteht hauptsächlich aus Fleisch, das in Gegenwart der Gäste frisch zubereitet wird: Die großen Stücke werden auf eine ans Feuer gerückte Fleischbank gelegt, zerkleinert auf Bratgabeln gesteckt und über der heißen Asche gebraten, mit Salz bestreut und auf Platten serviert; Essbestecke gibt es nicht, man isst mit den Fingern. Das besagt auch der Formelvers „sie erhoben die Hände zu den bereitliegenden Speisen“. Zum Fleisch gibt es Brot in Körben (Il. 9,206–217). Fürsorgliche Wirte lassen dem Gast noch Beilagen reichen, „viele Speisen von dem, was vorhanden war“; den Abreisenden kann man in Körben dazu noch „vielerlei Speisen und Zukost“ mitgeben, „kraftstärkende Zukost“ (Od. 1,140; 3,479f.; 6,75f.; 5,267). Über die Art der Beilagen erfahren wir nichts Näheres, da sie eher als nebensächlich gelten bei der Mahlzeit; vermuten dürfen wir, dass sie aus Gemüse und Obst, Fisch und Vögeln bestehen, deren Anbau und Fang in Gleichnissen und auch im Garten des Alkinoos angedeutet werden. Getrunken wird zum Essen Wein, der in großen Mischkrügen mit Wasser verdünnt wird – den Süßwein von der Insel Ismaros mischt Maron im Verhältnis 1:20,
Wohnung und Kleidung, Essen und Trinken
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pur trinken ihn nur Barbaren wie der Kyklop – und in Trinkbecher gegossen wird. Ein Trinkbecher (depas) besonderer Art ist der, den Nestor aus der Heimat mitgenommen hat: Er ist „mit goldenen Nieten versehen, hat vier Griffe, auf jedem zwei pickende Tauben aus Gold, und darunter zwei Standflächen“. Ihn kann, wenn er gefüllt ist, nur der alte Nestor vom Tisch heben. In ihm mischt seine Edelsklavin Hekamede einen Erfrischungs- und Stärkungstrank nach gleichem Rezept wie Kirke in der Odyssee aus Wein, Honig, Gerstenschrot und Ziegenkäse (Il. 11,631–641; Od. 10,234–236). Es ist also nicht ein einfacher „Becher“, sondern ein prunkvoller Tischpokal, ein Zwischending zwischen Mischkrug und Trinkgefäß. In ihm mögen sich unterschiedliche mythische Tendenzen niedergeschlagen haben. Die frühe hexametrische Inschrift auf einem Skyphos der Zeit um 700 v. Chr. von der Insel Pithekussa (heute Ischia) in Unteritalien rühmt schon ein „Trinkgefäß Nestors, aus dem sich gut trinken lässt“. Schliemanns berühmter goldener „Nestorbecher“ aus Mykene verdankt seinen Namen einer vorschnellen Assoziation seines Finders. Übrigens werden Mischkrug und Becher auch bei feierlichen Opfern verwendet. Zum Eidopfer zwischen Troern und Achäern bringen die Herolde außer den Opferlämmern edlen Wein, „die Frucht des Feldes“, in einem Ziegenschlauch, einen „schimmernden“ Mischkrug und „goldene“ Becher zum Wagen des Königs. An der Opferstelle mischen sie den Wein im Mischkrug und gießen ihn in die Becher zum Weihguss. Von seiner Mutter Thetis hat Achill einen Becher bekommen, der ihm so heilig ist, dass er ihn weder zum Trinken noch zum Weihguss an die Götter je benutzt hat; erst vor dem Auszug des Freundes mit den Myrmidonen holt er ihn hervor, reinigt ihn mit Wasser, schöpft Wein und spendet ihn dem Zeus (Il. 3,245–296; 16,225– 231). Die beiden Wörter für „Becher“, depas und kypellon, sind in depas amphikypellon kombiniert, dessen Deutung zwischen einem „zweihenkligen“ und „doppeltgebuchteten“ Becher schwankt. Die Gefäße, die Heroen benutzen, bestehen meist aus Edelmetall, besonders wenn es sich um Gastgeschenke handelt; so hat der Apollonpriester Maron dem Odysseus außer zwölf Weinamphoren einen Mischkrug „ganz aus Silber“ mitgegeben (Od. 9,202). Im Gegensatz dazu sind die Gefäße der Hirten schlicht, wenn auch nicht weniger vielfältig, und ganz den Bedürfnissen eines Milchproduzenten entsprechend: In der Höhle des Kyklopen dienen die Gefäße dem Melken und der Käsezubereitung, alle Behälter sind mit Molke gefüllt, „Kübel und Eimer, selbst angefertigt“; auf einem Viehhof braucht man die Gefäße und Eimer vor allem für die Milch, die in frischem Zustand auch getrunken wird: Eumaios mischt für seinen Gast den Wein in einem „Holznapf“, kissybion (Od. 9,222f.; Il. 2,470f.; 16,643; Od. 14,78). Alles in allem erfahren wir viel von Gegenständen des gehobenen und des einfachen Lebens. Dennoch bleiben sie trotz mancher Detailangaben in mythischer Allgemeinheit und lassen sich nicht eindeutig mit bestimmten archäologischen Funden identifizieren. Das rührt letztlich daher, dass sie nicht eine real fassbare, sondern eine überhöhte ideale Welt widerspiegeln, in die lediglich gewisse Züge der Realität mit eingegangen sind.
Ein Spezialrezept
Opfergeräte
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Dichtung und Wirklichkeit
Politische, soziale und familiäre Verhältnisse
Reale Verhältnisse?
Eine fiktionale und ideale Welt
Versammlungswesen im Krieg
In den homerischen Epen sind auch die politisch-sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen leben, so anschaulich vergegenwärtigt, dass sie konkrete Verhältnisse zu spiegeln scheinen. Bei den Versuchen zu ihrer Deutung hat man sie aus ihrer dichterischen Umgebung herauspräpariert und in zeitlicher und geographischer Hinsicht unterschiedlich erklärt, indem man sie entweder der mykenischen Zeit des 16.–12. oder der Epoche der frühen Poleis des 8.–7. Jahrhunderts zuwies. Heute erkennt man indessen mehr und mehr, dass es nicht das primäre Ziel der Texte ist, reale Gegebenheiten einer früheren oder der zeitgenössischen Epoche wiederzugeben, sondern die Welt eines panhellenischen Nationalepos glaubwürdig zu gestalten, eine Welt, die überall und für jeden akzeptabel war. In ihren weiten Rahmen nahm sie die verschiedensten Reminiszenzen mythischer, historischer und lokaler Herkunft auf. Daher vermitteln die Epen gelegentlich auch den Eindruck unscharfer und widersprüchlicher Verhältnisse. Dennoch entfalten sie eine einheitlich wirkende Welt, die sowohl die mythische Vorzeit wie die historische Gegenwart umschließt und zugleich ein einflussreiches Vorbild für die Zukunft geworden ist. Aber es bleibt doch eine fiktionale und zugleich ideale Welt. Die sozialen und politischen Gegebenheiten gewinnen ihre Eigengestalt aus besonderen Situationen heraus und werden maßgeblich gestaltet von den handelnden Personen der Dichtung; sie geben keine real funktionierenden Institutionen wieder. Dies beginnt schon mit dem Versammlungswesen. Es sind ausgesprochene Krisensituationen des epischen Geschehens, in denen sich die Krieger im Heerlager der Achäer oder die Bürger von Ithaka versammeln, um nach einem Ausweg zu suchen: Das Wüten der Pest veranlasst den Achill, die Kämpfer zu einer Versammlung zusammenzurufen. In dieser Versammlung entwickelt sich ein Streit, der zwar mit dem Abklingen der Pest, aber auch mit einem neuen Konflikt endet. Die Kampfenthaltung Achills führt zu der schweren Niederlage und zum Tod des Patroklos; in dieser letzten und größten Krise ruft wiederum Achill zu einer Versammlung, in der er seine erneute Teilnahme am Kampf verkündet, so dass der drohende Untergang abgewendet wird (Il. 1,53–305; 19,41–276). Der Held ist nicht kraft eines offiziellen Amtes dazu befugt, die Versammlung einzuberufen, sondern durch seine persönliche Autorität und den maßgeblichen Einfluss auf Erfolg und Misserfolg des Heeres. An der ersten Versammlung nehmen die verantwortlichen Krieger teil, zur zweiten laufen alle im Lager Befindlichen herbei, „auch die früher immer bei den Schiffen zurückgebliebenen, die Steuerleute und Ruderer, die Haushälter und Köche, auch die kamen jetzt zur Versammlung, weil Achilleus wieder erschienen war, der sich so lange des Kampfes enthalten hatte“ (Il. 19,42–46). Die Menge des Volkes tritt zwar hier nicht weiter in Erscheinung, wohl aber im 2. Buch als eine haltlose Masse in der von Odysseus aufgehaltenen Flucht zu den Schiffen: Der weist sie allerdings in ihre Schranken zurück, und sie akzeptiert dies auch nach dem Motto „Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen“: „Nicht gut ist die Herrschaft vieler, einer soll Herr sein“. Den Thersites verprügelt Odysseus mit dem Zepter des Oberfeldherrn wegen seiner aufrührerischen Beschimpfungen, „da lachten sie vergnügt und sagten zuei-
Politische, soziale und familiäre Verhältnisse
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nander: Da hat doch Odysseus wahrhaftig schon unzählig viel Gutes getan, jetzt aber bei weitem das Beste! – so sprach die Menge“ (Il. 2,212–278). Auch in der Stadt Troja herrschen während des Krieges keine normalen Verhältnisse. Wie diese aussehen könnten, zeigt eine Szene ganz kurz vor dem Auszug der jungen Krieger aufs Feld: Iris eilt in der Gestalt des Wächters Polites mit der Nachricht vom Aufmarsch der Achäer zu den Troern. „Die redeten gerade in der Versammlung vor dem Palast des Priamos, alle vollzählig, Junge und Alte“. Iris tadelt sie: „Was für weitläufige Reden haltet ihr hier wie im Frieden, und ein furchtbarer Kampf kommt auf uns zu!“ Eilig löst Hektor die Versammlung auf, lässt die Tore öffnen, und das Volk stürmt hinaus (Il. 2,785–810). Von nun an erleben wir Troja als eine Stadt im Krieg: Die jungen Krieger befinden sich draußen, zurück bleiben die Greise, Frauen und Kinder. Wenn noch Versammlungen abgehalten werden, so notgedrungen nur von den „Ältesten des Volks“ (de¯mogerontes), wie nach dem ersten Kampftag (Il. 7,345–379); ein institutioneller „Ältestenrat“ ist dies nicht, trotz dem „Eid der Alten“ (Il. 22,119). In der Polis auf Ithaka sind es ebenfalls Krisensituationen, die zu Versammlungen führen. Das Freierunwesen nimmt überhand, die Heirat der Königin Penelope mit einem der Bewerber kann nicht mehr verzögert werden. Ihr Sohn Telemachos, von Athene inspiriert, ruft die Bewohner auf die Agora, um einen Aufschub zu erlangen, bis er durch eine Erkundungsreise Gewissheit vom Tod seines Vaters bekommen hat (Od. 2,1–257). Durch die zwanzigjährige Abwesenheit des Odysseus ist nicht nur in seinem Haus ein Chaos eingetreten, auch im Herrschaftsbereich des Königs hat sich Lässigkeit verbreitet, weder Versammlungen noch Ratssitzungen haben die ganze Zeit über stattgefunden, so dass der alte Aigyptios erstaunt fragen kann: „Wer hat jetzt das Volk zusammengerufen? Ein Junger oder Alter? Und warum? Hat er etwa vom Einfall eines Heeres gehört und will uns genaues darüber berichten? Oder will er eine andere gemeinnützige Angelegenheit vorbringen?“ (Od. 2,25–32). Diese erste Versammlung der Ithakesier korrespondiert mit einer zweiten im 24. Buch: Der heimgekehrte König hat zwar diese Notsituation gewaltsam bereinigt, beschwört aber eine neue herauf, einen Krieg der Verwandten der getöteten jungen Leute gegen ihn und seinen Herrschaftsanspruch. Wieder versammeln sich die Bewohner Ithakas und auch der Nachbarinseln, diesmal jedoch nicht durch Einberufung, sondern, durch das Gerücht (ossa) alarmiert, begeben sie sich von sich aus nach der Bestattung ihrer Söhne bestürzt zur Agora, um über den Krieg zu beraten; die Hälfte der Teilnehmer stimmt für ihn (Od. 24,420–466). Erst ein eidlich beschworener Friedensschluss schafft endlich Ruhe und Ordnung. Auch in Friedenszeiten entstehen in einer Polis Streitigkeiten, aber sie werden in Gerichtsverhandlungen verhandelt und rechtmäßig ohne gewalttätige Auseinandersetzungen beigelegt. Eine solche Situation setzt Hephaistos auf dem Schild für Achill ins Bild: Das Volk ist auf der Agora versammelt, wo sich zwei Männer um Bußgeld für einen Erschlagenen streiten; „die Ältesten saßen auf ihren sorgfältig geglätteten Sitzsteinen und legten abwechselnd ihr Urteil dar; in der Mitte lagen zwei Talente (d.h. Wägeeinheiten) Goldes, die erhielt derjenige von ihnen, der seinen Spruch am gerechtesten vorbrachte“ (Il. 18,497–508). Alle diese Versammlungen finden auf einem dafür vorgesehenen Platz statt; er ist
Krisensitzungen in Ithaka
Rechtsprechung und Beschlussfindung
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Aristoi – nicht Aristokraten
Dichtung und Wirklichkeit
so groß, dass er zahlreiche Teilnehmer aus dem Volk und dem Heer und manchmal auch das gesamte Volk oder Heer aufnehmen kann; der Platz und die darauf stattfindende Versammlung heißen „Agora“. Daneben aber erfahren wir immer wieder auch noch von „Beratungen“ eines kleineren Kreises von Teilnehmern, und zwar vor allem im Lager der Achäer (Il. 2,53–84; 9,89–178; 10,198–273; 14,7–134). Sie sind ebenfalls keine regelmäßig angesagten, institutionellen Einrichtungen, die nach Einberufung, Ort und Zahl sowie Alter der Teilnehmer einem festen Modus folgen. Vielmehr entstehen sie im Epos immer spontan und anscheinend zwingend aus einer Notsituation heraus, am Morgen des ersten Kampftags nach dem von Zeus gesandten Traum des Heerführers, am Abend des zweiten Kampftags angesichts der in Grabennähe kampierenden Feinde oder sogar am hellen Tag im Anblick des Kampfgetümmels bei den Schiffen im 14. Buch. Der Versammlungsort entspricht jeweils der Situation, beim Schiff Nestors, denn der Traum ist Agamemnon in dessen Gestalt erschienen; im Haus des Heerführers selbst, da er die Anwesenden am reichlichsten bewirten kann, so dass sie, solchermaßen gestärkt, besser beraten können; außerhalb des Grabens an irgendeinem von Leichen freien Fleck Erde; oder auch auf einem höher gelegenen Platz, der freien Ausblick gewährt. Und schließlich kommen die Teilnehmer unabhängig von ihrem Alter zusammen, der greise Nestor, der junge Diomedes und der an Jahren zwischen beiden stehende Odysseus und andere mehr, die trotz ihres Ansehens im Heer eher im Hintergrund bleiben, wie etwa Ajas oder Phönix, da es in diesem Fall auf die Qualität der Debatte ankommt, aus der sich der beste Rat ergeben muss, und dieser wiederum hängt von Redegewandtheit, Geistesschärfe und Erfahrung ab. Diese Zusammenkünfte werden mit dem gleichen Begriff wie die in ihr zum Ausdruck kommende Tätigkeit bezeichnet, boule¯, „Beratung“ und „Ratgeben“; er ist also noch nicht zur festen staatlichen Institution geworden. Übrigens erfahren wir von derartigen Beratungen im Heer der Troer wenig; stattdessen geben dem Hauptanführer Hektor einzelne Kämpfer aus dem Moment heraus direkt ihre Ratschläge, sein Bruder, der Seher Helenos, und vor allem der Altersgenosse Polydamas (Il. 7,44– 54; 12,60–80; 199–252). An den Beratungen teilzunehmen sind demnach alle befugt, die in irgendeiner Weise aus der Menge des Volks (ple¯thos oder de¯mos) herausragen. Deren eigentliche Funktionen sind durch die ihnen zugewiesenen Bezeichnungen nur vage angedeutet: Viele von ihnen sind von Haus aus „Könige“, deren Ansehen auf Zeus selbst zurückgeführt wird, „von Zeus genährte“, „zeptertragende“ Könige sind formelhafte Begriffe, eine Urform des „Gottesgnadentums“. Nach Troja sind sie als „Anführer“ von Truppenkontingenten gekommen, die von sehr unterschiedlicher Größe sind, Agamemnon mit 100, Odysseus nur mit 12 Schiffen (Il. 2,576; 637). Die Machtposition des Agamemnon beruht auf seinem legendären Reichtum, herrscht er doch über das „goldreiche Mykene“; er vor anderen trägt auch den althergebrachten Titel „Herr der Männer“. Als Truppenführer sind sie „Anführer und Schirmer“ ihrer Kämpfer. Zu ihrer Gefolgschaft gehören „Gefährten“, Freunde oder Verwandte, die ihre Wagen lenken, wie Sthenelos, der Gefährte des Diomedes; oder sie treten als Paare auf, die im Kampf beständig nebeneinander stehen, wie „die beiden Ajas“ oder der Telamonier Ajas und sein Stiefbruder Teukros. Neben den „Gefährten“ werden meist „Hel-
Politische, soziale und familiäre Verhältnisse
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fer“ für die verschiedensten Aufgaben genannt. Die meisten dieser Bezeichnungen haben sich später begrifflich verfestigt. Im homerischen Epos sind sie noch nicht klar und eindeutig voneinander unterschieden. Hier finden wir eine in sich durchaus differenzierte, aber doch offene Gesellschaft der jeweils „Besten“ (aristoi) auf ihrem Gebiet, nicht eine fest abgegrenzte Klasse der „Adligen“ oder gar „Aristokraten“ hoch über den Abhängigen und Sklaven. Dass auch diese Unterschicht der oft sogenannten „Kleinen Leute“ keineswegs in sich homogen und von der Oberschicht scharf abgegrenzt ist, wird uns gleich zu Beginn der Odyssee am Haushalt des Odysseus deutlich gemacht. Als Athene in Gestalt des Gastfreunds Mentes die Halle betritt, sind dort viele unterschiedlich gekennzeichnete Diener und Dienerinnen um die vornehmen jungen Freier herum beschäftigt, „Herolde“ und „Bediente“ mischen den Wein, andere waschen die Tische ab, und wieder andere schneiden das Fleisch vor; dem Gast bringt eine „Magd“ Wasser zum Händewaschen, die „Wirtschafterin“ bringt Brot und Beilagen, der „Speisemeister“ Fleisch, einer der „Herolde“ schenkt Wein ein. Später spielt ein Sänger zum Tanz auf und trägt Lieder vor; im Unterschied zu den eigentlichen Bediensteten wird er mit Namen genannt, Phemios, „der Künder“, und er betont, dass er nur gezwungenermaßen für die Freier singt. Die Hausherrin Penelope hat zwei „Kammerfrauen“ zu ihrer persönlichen Bedienung. Eine besondere Stellung nimmt die Haushälterin Eurykleia ein, die dem jungen Sohn des Hauses so sorgsam das Lager richtet (Od. 1,107–143; 154f.; 331; 428–442). Könnten wir bei dem übrigen summarisch erwähnten Personal den Eindruck gewinnen, als herrsche hier eine präzise und ein für alle mal festgelegte Verteilung der Aufgaben auf einzelne Bedienstete, so sehen wir uns bei der Vorstellung des Lebenslaufs der Eurykleia darin getäuscht: Sie ist „von Familie“, eine Tochter des Ops und Enkelin des Peisenor; der Vater des Odysseus hat sie als junges Mädchen teuer erworben und geehrt wie seine eigene Gemahlin, sie dann zur Amme – wie wir später erfahren – seines Sohnes und dann auch seines Enkels erhoben. So steigt sie zur selbstständig schaltenden und waltenden Haushälterin auf: Mit einem großen Schlüsselbund versehen, führt sie die Aufsicht über den Vorratskeller; sie weiß über alles Bescheid, was im Haus vor sich geht; und ihr, nicht seiner Mutter, vertraut sich Telemachos mit seinem Vorhaben an. Als sie in dem Bettler Odysseus erkennt und ihn nicht verrät, wird sie zu einer Schlüsselfigur der Handlung: Sie ist wahrhaftig die Seele des Hauses, mit einem Kinderausdruck wie „Mama“ (maia) redet sie Odysseus an (Od. 2,345–381; 19,468–504). Wie durchlässig die Grenzen zwischen Unter- und Oberschicht sind, wird an dem Schweinehirten Eumaios noch deutlicher. Von Geburt ein Königssohn, ist er durch Entführung und Verkauf als Sklave in das Haus des Laertes geraten. Dort zog ihn Antikleia, die Frau des Laertes, zusammen mit ihrer Tochter auf und sandte ihn erst nach deren Verheiratung aufs Land. Laertes übertrug ihm die Aufgabe eines Schweinehirten; diese Aufgabe führte er so erfolgreich aus, dass er nach zwanzig Jahren eine große Zucht vorweisen kann, vier Hirten sind ihm unterstellt, und er konnte sich sogar einen eigenen Diener kaufen, ohne Zuschuss von Penelope oder Laertes (Od. 15,403–464; 361–370; 14,1–29; 449–452). Zum Dank hatte ihm Odysseus eigenen Besitz versprochen, „Haus und Land und dazu eine vielumworbene Frau, wie es ein
Diener und Dienerinnen
Aufstiegsmöglichkeiten
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Bettler: Arbeiter oder Schmarotzer?
Dichtung und Wirklichkeit
wohlwollender Herr seinem Diener gibt, der sich viel für ihn abgemüht hat und dessen Arbeit ein Gott ihm gedeihen lässt“ (Od. 14,62–65). Der Schweinehirt hätte also unter normalen Umständen zum quasi gleichgestellten Gutsbesitzer aufsteigen können. Das Verhältnis zwischen Untergebenem und Herrn basiert auf gegenseitiger Loyalität: Wenn der Untergebene die Einkommenssteigerung des Herrn im Blick hat, gibt der ihm dafür einen Teil ab, je nach dem, wie es der Vergrößerung seines Besitzes entspricht. Doch auch die Folgen illoyalen Verhaltens der Dienerschaft werden mit realistischen Zügen gezeichnet. Über das ganze Epos zerstreute Einzelheiten ergeben einen wahren Roman: Penelope hat von ihrem Vater einen Diener namens Dolios zur Pflege ihres Gartens mit in die Ehe bekommen. Dieser ist mit einer sizilischen Gemahlin verheiratet, mit ihr und mehreren Söhnen versorgt er treu bis zum Ende den alten Laertes. Zwei seiner Kinder wachsen in Penelopes Haus auf: Ein Mädchen, Melantho, erzog sie wie eine eigene Tochter und verwöhnte sie regelrecht, indem sie ihr viele Spielsachen schenkte; ein Junge, Melantheus, wurde als Ziegenhirt aufs Land geschickt. Diese beiden Kinder dankten ihren Pflegeeltern die Fürsorge nicht: Melantho ließ sich mit dem hinterhältigen Freier Eurymachos ein, Melantheus zog die Ziegen nur dazu auf, um die besten den Freiern zuzuführen. Beide tragen beträchtlich dazu bei, den Besitz ihres Herrn zu vergeuden, und beschimpfen den unerkannten Bettler in der niederträchtigsten Weise. Daher bestraft er sie wie die Freier mit dem Tod, allerdings mit einem schändlichen (Od. 4,735–738; 18,322f.; 211–214; 22,461–478; 24,386–390). Auch für die Abhängigen gibt es demnach so etwas wie einen heroischen Wettbewerb um die beste Leistung, durch ihn können sie sich zu Freien hocharbeiten. Das gilt sogar für die niedrigste Gruppe in der Gesellschaft, die Bettler. „Durch die Gunst des Hermes, der die Arbeiten aller Menschen gedeihen lässt, kann kein Sterblicher mit mir um Dienstleistungen in Wettstreit treten: trockenes Holz spalten und Zweige gut aufschichten für das Feuer, Fleisch braten und vorschneiden und Wein einschenken, Dienste, wie sie die geringen Leute den Edlen verrichten“, preist der Bettler Odysseus dem Eumaios gegenüber seine Fähigkeiten an (Od. 15,318–324). Dagegen ist Iros ein Schmarotzer, der anderen zur Last fällt: „Er zog durch die Stadt Ithaka und übertraf andere durch seine Gier nach dauerndem Essen und Trinken. Er hatte weder Spannkraft noch Stärke, und doch war er groß gewachsen“. Allerdings richtet sogar er noch allerlei Botengänge aus, und deshalb rufen ihn die Jungen „Iros“ nach der Botengöttin Iris, obwohl er eigentlich Arneios heißt (Od. 18,1–7). In der Gesellschaft gibt es für jeden Arbeit, Arbeitsunwillige sind verpönt: „Gäbst du ihn mir, so sollte er mein Gehöft bewachen, den Stall ausfegen und Laub für die Ziegen sammeln, dann bekäme er Molke zu trinken und könnte sich einen dicken Hintern anschaffen! Aber der da wird nicht arbeiten wollen, sondern hockt lieber im Volk herum und füllt mit Betteln seinen nimmersatten Bauch!“ verhöhnt der Ziegenhirt Melantheus den Bettler, nicht ahnend, dass er seinen Herrn vor sich hat; und Antinoos spottet: „Haben wir nicht schon genug Landstreicher, lästige Bettler, Tischablecker bei unseren Mahlzeiten?“ (Od. 17,223–228; 376f.). Die im Haushalt und in der Landwirtschaft anfallenden Arbeiten werden von den Leuten ausgeführt, die sich darin besonders auskennen und dazu befähigt sind. Eine
Politische, soziale und familiäre Verhältnisse
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berufsmäßige Ausbildung und überhaupt eine Trennung gewerbsmäßiger Tätigkeiten in spezielle Berufe deutet sich erst an, und selbst in diesen Fällen handelt es sich um ein Weitergeben von Kenntnissen vom Vater auf den Sohn: Der Arzt Machaon hat sein pharmazeutisches Wissen von seinem Vater Asklepios erhalten, der Baumeister Tekton sein architektonisches von seinem Vater Harmon (Il. 4,194; 5,59). Sie sind hoch geachtete Spezialisten, die man auch von weither holt: „Wer geht wohl selbst hin und ruft einen Fremden von anderswoher herbei, außer solche, die Meister im Volk sind (de¯mioergoi), einen Seher oder einen Arzt, der Krankheiten heilt, oder einen Zimmermann, der Balken behaut, oder auch einen göttlichen Sänger, der mit seinem Gesang die Leute ergötzt?“ verteidigt sich Eumaios dagegen, dass er den Bettler absichtlich ins Land und zur Mahlzeit der Freier geholt habe (Od. 17,382–385). Auch andere Praktiker und Amateure werden nicht erst gerufen; sie haben ihre Fähigkeiten im selbstverständlichen Umgang mit der alltäglichen Arbeit erworben, die Bauern das Pflügen, Mähen, Dreschen und Gerben, die Frauen das Spinnen, Weben und Färben und das Kornmahlen – alle die Tätigkeiten, die in den Gleichnissen so konkret werden, als sähe man den Arbeitenden über die Schulter, wie etwa den Gerbern, die eine von Fett getränkte Rindshaut spannen und nach allen Seiten zerren, oder der Frau, die den Webstab ganz fest an ihre Brust zieht, wenn sie den Einschlag an der Kette vorbeischießt (Il. 17,389–393; 23,760–763). Diese handwerklichen Tätigkeiten üben jedoch keineswegs nur einfache Leute aus; auch die Heroen und Heroinen, und von ihnen gerade die größten, verstehen etwas davon: Odysseus kann ein Floß bauen und ein Ehebett zimmern; Äneas versteht etwas von Rinderzucht, er beaufsichtigt seine Herden im Idagebirge; Pandaros ist wie Odysseus ein kühner Jäger; Achill singt zur Leier; Helena und Penelope verstehen kunstvoll zu weben (Od. 5,243–261; 23,184–201; Il. 20,188–190; 4,105– 111; 3,125–128; Od. 2,94–109). Allerdings vollbringen sie auch auf diesem Gebiet Höchstleistungen: Odysseus hat sich ein unvergleichlich festes, unverrückbares Ehebett auf dem Stamm eines Olivenbaumes mit eigener Hand gezimmert; Achill singt „die ruhmvollen Taten der Männer“ und Helena webt in das Tuch „viele Kämpfe der pferdebändigenden Troer und der erzgewandeten Achäer, die sie ihretwegen erlitten unter den Händen des Ares“. Im Übrigen aber ist es eine Selbstverständlichkeit in dieser alteingewurzelten Kultur, dass Männern und Frauen nicht die gleichen Aufgaben in den gleichen Bereichen zufallen. Über die unterschiedliche Rolle der Geschlechter in der homerischen Gesellschaft besteht kein Zweifel: „Geh du ins Haus und begib dich an deine Werke, am Webstuhl und mit der Spindel, und treib die Mägde an, ihre Arbeiten zu erledigen; der Krieg ist Sache der Männer, aller, aber besonders die meine“; mit diesen Worten verabschiedet sich Hektor von seiner Gattin (Il. 6,490–493). Dort finden wir sie dann auch bei der Vorbereitung des Bades für den vom Schlachtfeld heimkehrenden Gatten, in Gedanken ganz auf ihn ausgerichtet und ohne Ahnung von dem, was inzwischen draußen passiert ist (Il. 22,437–446). Der Krieg vor allem ist also Sache der Männer, die kriegerischen Überfälle der „männergleichen Amazonen“ gehören für Homer in die barbarische Vorzeit (Il. 3,189; 6,186). Aber auch sonst treten Frauen in öffentlichen Versammlungen nicht auf. In einer Gesellschaft, in der die äußere
Spezialisten
Arbeitswelt
Stellung der Frau
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Elternhaus und Ehe
Auch Beutefrauen haben Chancen
Treue allein schützt nicht
Dichtung und Wirklichkeit
Sicherheit von der Körperkraft des Mannes abhängt, ist der Schutz des Hauses für Frauen und Kinder lebensnotwendig. Die dadurch herbeigeführte Trennung von öffentlichem und privatem Leben wirkt deshalb so selbstverständlich, weil sie als ein durch die Geschlechtertrennung von Natur aus vorgegebenes Faktum vorausgesetzt wird. Sie bedeutet also keineswegs eine Diffamierung der Frauen. Obwohl sie mehr oder weniger im Hintergrund der von Männern bestimmten Kampf- und Abenteuerwelt bleiben, bestimmen und lenken sie doch in vielfältiger und oft entscheidender Weise das Geschehen, und zwar gerade auch dann, wenn ihr Leben nicht in den ruhigen Bahnen von Sitte und Brauch verläuft. Dieser Sitte gemäß geht das junge Mädchen aus der Obhut des elterlichen Hauses in die des Ehemanns über, sobald es erwachsen ist. Im Traum erscheint Athene in Gestalt einer Spielgefährtin der jungen Nausikaa und rät ihr, am Morgen zum Waschen ihrer Gewänder an den Fluss zu fahren: „Nausikaa, da liegen dir die Kleider noch ungewaschen herum, und die Hochzeit steht doch nahe bevor, wo du sie anziehen musst. Schon freuen sich Vater und Mutter. Nicht lange mehr bist du Jungfrau, und die besten der Phäaken freien bereits um dich!“ Dem Vater gegenüber spricht das Mädchen allerdings nicht mehr vom Brautkleid, sondern züchtig von ihrer Wäsche und der der Brüder und Schwäger (Od. 6,26–35; 57–65). Die Familie bleibt ein fester Halt auch nach der Hochzeit, dorthin kann sich die Frau im Notfall zurückziehen; wenn sie diesen Kreis verliert, bleibt der Ehemann ihr einziger Hort. Andromache erinnert Hektor daran, dass Achill ihren Vater und ihre sieben Brüder erschlagen habe und die Mutter aus Gram gestorben sei: „Doch, Hektor, du bist mir Vater und Mutter und auch Bruder; wenn dich die Achäer töten, wäre auch mir besser, zu sterben!“ (Il. 6,429f.; 410f.). Das Schicksal, das Andromache befürchtet, hat Briseis erlitten. Ihr hat Achill den Gatten getötet und bringt sie als Beute ins Achäerlager, wo sie bei der Verteilung Achill zugesprochen wird. Das Los der Beutesklavinnen ist allerdings nicht nur und ein für alle mal erbärmlich. Herkunft, Aussehen und Fähigkeiten erheben sie zum Status ehelicher Hausfrauen: Dass sie das Lager ihres Herrn teilen, ist in der unprüden Welt Homers selbstverständlich; aber sie versorgen auch den Haushalt – die Beutefrau Nestors versteht sich sogar auf die Zubereitung des besonders erfrischenden und nahrhaften Käsemischtranks kykeion; sie können echte Zuneigung wecken, „lieben etwa nur die Atreus-Söhne ihre Gattinnen? Wo doch jeder gute und vernünftige Mann die Seine lieb hat und für sie sorgt, wie ich die Briseis von Herzen lieb hatte, auch wenn sie meine Speergefangene war“, beschwert sich Achill vor dem Gesandten Odysseus; und sie kann schließlich sogar die Hoffnung auf eine neue Ehe hegen, durch die sie wieder zu ihrem früheren Rang aufsteigen würde: „Patroklos, du sagtest immer wieder, du wolltest mich zur Gemahlin des Achilleus machen und mir in Phthia die Hochzeit richten“, klagt Briseis an der Bahre des toten Helden (Il. 9,340–343; 19,297–299). Wenn der Gatte zu lange abwesend und verschollen oder gar gestorben ist, muss die Frau zum Schutz ihrer selbst und des Besitzes eine neue Ehe eingehen. Unverbrüchliche Treue schadet ihr besonders dann, wenn sie wegen ihrer Klugheit, Schönheit und Tüchtigkeit viel umworben ist, wie Penelope. „Schicke deine Mutter fort und befiehl ihr, sich dem Mann zu vermählen, zu dem ihr Vater ihr rät“, formuliert
Politische, soziale und familiäre Verhältnisse
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der Freier Antinoos das ungeschriebene Gesetz und fügt immerhin hinzu, „und an dem sie selber Gefallen findet“; Eurymachos unterstützt diese Forderung und beweist damit ihre Rechtmäßigkeit (Od. 2,113f.; 195–197). Penelopes beharrliche Weigerung lockt erst recht die Bewerber ins Haus und führt fast zum Ruin des Besitzes. Den Zwiespalt zwischen ehelicher Treue und Liebesverlangen verkörpert Helena. Ihre Schönheit hat den Paris zur Verführung verlockt, und sie hat freiwillig ihren Gatten Menelaos verlassen; nun verflucht sie sich wegen ihres Verhaltens und erliegt doch immer wieder dem Zauber des schönen Liebhabers. Im Haus des Priamos wird sie von allen, außer von Priamos selbst und von Hektor, verachtet und beschimpft (Il. 3,389–447; 24,760–775). Der allgemeine Tadel gründet nicht nur auf dem Vorwurf der Treulosigkeit: Eigentlich hat das Verhalten Helenas die unendlichen Leiden des Krieges verursacht. Briseis andererseits wird ohne eigene Schuld zum Anlass des Zorns, der die Achäer bis an den Rand des Untergangs treibt. Penelopes unerschütterliche Treue schließlich steht beinahe im Zentrum des Geschehens in der Odyssee – die Frauen sind es letztlich, die das Handeln der Männer bestimmen. Diese herausragende Rolle homerischer Frauengestalten verrät uns zugleich, dass der Dichter durchaus bestrebt war, auch ein weibliches Publikum anzusprechen, wie es die Königin Arete bei den Phäaken vertritt. Auch Sexualität ist im homerischen Epos kein Tabu; das gegenseitige Verlangen ist selbstverständlich. Die einsam lebende Nymphe Kalypso liebt Odysseus so sehr, dass sie ihn bei sich behalten und alterslos unsterblich machen möchte, und er schläft trotz seiner Sehnsucht nach Penelope acht Jahre lang jede Nacht bei ihr. Die spröde Kirke dagegen wehrt sich gegen jede männliche Berührung, indem sie alle, die sich ihr nähern, in wilde Tiere und Schweine verwandelt – erst der berühmte Odysseus, durch ein Gegenmittel gegen ihr Zauberkraut geschützt, kann ihr sexuell imponieren und sie zum Beischlaf bekehren (Od. 5,118–134; 10,211–347). Obwohl Achill so sehr Briseis vermisst, treffen wir ihn und Patroklos selbstverständlich dabei, wie sie bei anderen Beutefrauen schlafen. Weniger ein Verstoß gegen die Moral, als eine Verletzung der Treuepflicht gegen die Herrschaft ist es auch, wenn die Mägde des Odysseus sich mit jungen hübschen Männern einlassen (Il. 9,663–668; Od. 18,324f.). Im öffentlichen Bereich der Halle zeigen sich Frauen nur in Ausnahmefällen. Vor allem ist es Penelope, die ab und zu ihre Frauengemächer, züchtig begleitet von zwei Kammerzofen, verlässt; hier hat sie ihren großen Auftritt, als sie den Freiern (und unbewusst dem Gatten) ihre Schlauheit beweist, indem sie ihnen reiche Brautgeschenke zu geben entlockt; hierhin trägt sie den Bogen zur Probe und hier finden die ausgedehnten Gespräche mit dem Bettler statt, die dann zur Wiedererkennung führen (18., 19., 21. und 23. Buch). Alles in allem hält sich Penelope faktisch sehr viel in der Halle auf, spontan und vielleicht ohne offizielle Befugnis von Sitte und Brauch, abhängig allerdings vom Willen des Dichters, der die Halle zum äußeren Rahmen des Spiels mit der Wiedererkennung der Gatten macht. Dagegen hat die Königin der Phäaken offensichtlich ihren festen Sitz im Megaron, und ihr Einfluss übertrifft sogar noch den ihres Gatten: „Geh rasch durch die Halle, bis du zu meiner Mutter gelangst; geh an meinem Vater vorüber und lege deine Arme um die Knie der Mutter: Wenn sie dir freundlich gesonnen ist, kannst du hoffen, die Deinen wiederzusehen“, rät Nausikaa
Leidenschaft und Katastrophe
Sex ist kein Tabu
Frauen in der Männerhalle
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Familienbewusstsein
Kinderpsychologie
Dichtung und Wirklichkeit
dem Odysseus. Es ist ein Bild glücklichen Zusammenlebens: Arete sitzt vor ihren Mägden im Schein des Feuers an der Säule und spinnt, eben dort sitzt auch Alkinoos auf seinem Thron und trinkt Wein „wie ein Unsterblicher“. Die Hausherrin ist auch während der langen Irrfahrtenerzählung des Odysseus als Zuhörerin anwesend, „er ist mein Gast“, betont sie ausdrücklich (Od. 6,303–315; 11,338). Eine herausragende kultische Funktion hat Hekabe, die Königin von Troja: Sie führt die Prozession angesehener Troerinnen zum Tempel der Stadtgöttin an und übergibt der Priesterin ein Opfergewand aus ihrem Besitz; das Gebet spricht die Priesterin. Doch der Gang ist vergeblich, „die Göttin versagte die Bitte“, sagt der Dichter lakonisch (Il. 6,286–310). Diese eher orientalisch anmutende Königin scheint kaum einen Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse zu haben, ihr ist vom Dichter vor allem die Rolle der verzweifelten Mutter zugewiesen. Der häusliche Bereich umfasst die Frauen, Kinder und alten Eltern. Dem Wohl der Familie gilt der Kampf der Männer auch in der Ferne: „Jeder denke an die Kinder und die Frauen und an die Habe und die Eltern! An ihrer Stelle flehe ich euch an, da sie fern sind!“ treibt Nestor die Achäer zum Widerstand an (Il. 15,662–666). Das Familienbewusstsein ist stark entwickelt, gleichgültig ob es sich um eine orientalisch wirkende Großfamilie wie die des Priamos oder um eine Generation von aufeinander folgenden Einzelkindern wie die des Telemachos handelt: Zur Familie des Priamos gehören außer den legendären 50 Söhnen und 12 Töchtern mit ihren Gattinnen und Gatten noch zahlreiche Bastarde, mindestens 20 können wir bei exakter Lektüre erfassen. Telemachos ist der einzige Sohn des Odysseus, der der einzige des Laertes, und der wieder der einzige des Arkesios; der Schwäche einer so schmalen Familienbasis ist sich der letzte Abkömmling wohl bewusst: „Brüder habe ich nicht, auf die sich ein Mann im Kampf verlassen könnte“ (Od. 16,117–120). Wenn in diesem Fall die Einzelkinder immer Söhne sind, so gilt auch das nicht ausnahmslos, vielmehr entscheidet darüber der Kontext: Es versteht sich fast von selbst, dass die schöne Helena, Tochter des Zeus und der Leda, nur eine einzige Tochter hat, die liebliche Hermione, was der Dichter allerdings mit der bedauernden Bemerkung präsentiert, „die Götter gewährten ihr keine zweite Geburt“; den Sohn, dessen Hochzeit er gerade feiert, hat Menelaos von einer Magd (Od. 4,4–14). Wenn immer wieder bei Homer der Blick auf die Kinder fällt, sehen wir nicht kleine Erwachsene vor uns wie in vielen Kulturepochen, denken wir nur an Gemälde des Barock mit Kindern in ihren steifen Gewändern. Es sind echte Kinder mit kindgemäßem Verhalten. Ihre offensichtlich der Realität entnommenen Gesten verraten eine zutreffende und deswegen zeitlos wirkende Einsicht in die kindliche Seele. Ein Baby schläft ruhig und entspannt in seinem Bettchen, aber Fliegen surren herum und wollen sich auf sein Gesichtchen setzen, die Mutter wehrt sie sorglich ab. Ein Kind im ersten Laufalter hängt sich an den Rockzipfel seiner Mutter und trippelt immer hinter ihr her. Schon etwas nichtsnutzige Buben stochern in einem Wespennest herum und scheuchen die Tiere auf. Aber auch die Heroen sind einmal Kinder gewesen: Den kleinen Achill hat Phönix immer zum Füttern auf seine Knie gesetzt, ihm klein geschnittene Fleischstücke in den Mund gesteckt und Wein einschlürfen lassen, den hat das Kind dann oft wieder ausgespuckt auf das Gewand seines Ziehvaters (Il. 9,485–
Helden und Heldentum
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491). Viele Kinder verlieren in Kriegszeiten ihren Vater. Als Andromache sieht, wie der Leichnam ihres Mannes zu den Schiffen geschleift wird, malt sie sich entsetzt das künftige Schicksal ihres Kindes aus, das bei Freunden des Vaters betteln muss und von den Altersgenossen weggeboxt wird: „Fort mit dir! Dein Vater ist bei uns nicht zu Gast!“ (Il. 22,484–501). Die allgemeine Zuneigung zwischen den Generationen wird besonders anschaulich in einigen Gleichnissen; wie Söhnen das wiedergeschenkte Leben des von schlimmer Krankheit genesenen Vaters erscheint dem schiffbrüchigen Odysseus das Land; wie ein Vater den einzigen spätgeborenen Sohn, der nach neunjähriger Reise aus fernen Landen in die Heimat zurückkommt, so umarmt Eumaios den heimgekehrten Telemachos (Od. 5,394–398; 16,17–22). Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die im Epos geschilderten sozialen ebenso wie die politischen Verhältnisse weniger an unverrückbar vorgegebenen Standes- und Klassenunterschieden ausgerichtet, als von den handlungsbedingten menschlichen Beziehungen getragen sind und damit eine zeitlose Gültigkeit erlangen.
Zusammenhalt der Generationen
Helden und Heldentum Die homerischen Epen gelten gemeinhin als „Heldenepen“, die Hauptakteure müssen also irgendwie geartete „Helden“ sein. Der Begriff „Held“ hat die Tendenz, geradezu inflationär gebraucht und damit zu einer fast inhaltsleeren Floskel zu werden: Bis vor kurzem gab es „Helden der Arbeit“, in der Boulevardpresse sorgen „Frauenhelden“ für Umsatz. Helden haben gewöhnlich auch Vorbildcharakter; Helden und Heldenverehrung können vor allem für junge Menschen eine wichtige Rolle spielen. Was aber zeichnet die „Helden“ Homers aus? Zunächst einmal sind es Menschen der Vorzeit, die zu den Göttern in engem Kontakt stehen und an ihrem Wesen Anteil haben, teils durch direkte Abstammung, Achill als Sohn der Meeresgöttin Thetis, Äneas der Aphrodite, Sarpedon des Zeus, und die schöne Helena gar als Tochter von Zeus und Leda, teils auch durch beinahe selbstverständlichen Umgang mit ihnen: Die Götter erscheinen in der Gestalt von leibhaftigen Göttern oder doch als Götter erahnt; manchmal verkehren sie mit den Menschen auf nahezu gleicher Ebene, in ihrer göttlichen Wesenheit erkennbar oder auch in verwandelter Gestalt, wie bei den Begegnungen des Odysseus mit Athene. Das griechische Wort he¯ro¯s kann auf die Menge der Krieger allgemein angewandt werden: „Freunde! Danaer-Helden! Diener des Ares!“ beginnt der Heerführer Agamemnon seine entscheidende Muterprobungsrede (Il. 2,110); Athene betritt die Halle im Haus des Odysseus, den wuchtigen Speer in der Hand, „mit dem sie die Helden-Männer“ bezwingt“ (Od. 1,101). Sonst aber sind es herausragende Gestalten, wie Laomedon, der Vater des Königs Priamos, der Phäakenkönig Alkinoos, aber auch der an seinem Hof hochgeehrte Sänger Demodokos, die so genannt werden können, oder der Herold Mulios (Il. 7,453; Od. 6,303; 8,483; 18,423). Selbstverständlich werden die Frauen in dieser vorzeitlichen Welt den Männern gleichgeachtet, auch wenn Homer ihnen noch nicht ausdrücklich den Titel „Heldinnen“ zuweist; aber „die Gattinnen und Töchter der Heroen“, denen Odysseus in der Unterwelt begegnet, sind den Män-
„Heldenepos“ und „Helden“
Distanz: Gestalten einer grauen Vorzeit
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Nähe: Menschen wie du und ich
Was unterscheidet Helden von Göttern?
Dichtung und Wirklichkeit
nern ebenbürtige urtümliche Gestalten, Leda, Ariadne und viele andere (Od. 11,225– 329). Homers Dichtung sieht sich geradezu als Abgesang auf diese Heldenwelt: „Solange Hektor und Achilleus noch lebten und die Stadt des Priamos noch stand, blieb auch die Mauer der Achäer bestehen; aber als die Stadt zerstört und die Achäer abgefahren waren, rissen die Götter das Bollwerk nieder und „das Geschlecht der halbgöttlichen (he¯mitheo¯n) Menschen sank in den Staub“ (Il. 12,23). Diese götternahe Größe zeichnet alle Protagonisten aus. Sie distanziert sie von Homers eigener Gegenwart und hat bewirkt, dass nachfolgende Generationen von einem „heroischen Zeitalter“ sprechen konnten, das dem goldenen, silbernen und ehernen gefolgt und dem augenblicklich herrschenden eisernen vorangegangen sei. Paradoxerweise erweckt nun aber derselbe Homer diese Heroen aus den Gräbern der Tradition, indem er sie als Menschen mit Vorzügen und Schwächen gestaltet, die in dieser oder jener Weise überall und einem jeden anhaften können und ihn deshalb auch berühren sollten. Von Haus aus sind es allerdings eher typische Gestalten, in der Sage durch feste Attribute vorgeprägt, der schnellfüßige Achill, der helmbuschumwallte Hektor, der listige Odysseus, die umsichtige Penelope erinnern schon durch die Beinamen an ihre mythische Vergangenheit: Der schnelle Achill ist mit dem Lauf um Ilios verbunden, Odysseus übersteht raffiniert alle Risiken der Heimfahrt, seine Gattin bewahrt ihm zwanzig Jahre lang sein Haus, zuletzt gegen hartnäckige Bewerber. Aber bei Homer begegnen wir nicht abstrakten Typen, sondern lebendigen Charakteren, die sich in Aktionen und Reden psychologisch glaubwürdig entfalten und bei allgemein menschlicher Prägung sich doch in bestimmten Situationen im Verhalten voneinander unterscheiden. Eben dadurch treten sie einem jeden Leser unmittelbar nahe, auch heute noch. Der wesentliche Zug, der die Menschen Homers trotz ihrer engen Verbundenheit mit den Göttern von ihnen unterscheidet, ist ihre Sterblichkeit und das Wissen um sie: „Wie Blätter sind die Menschen: die einen fallen im Wind zu Boden und vergehen, die anderen treibt der Wald im Frühling hervor; so auch die Geschlechter der Menschen: die einen wachsen auf, die anderen verschwinden“, beginnt der Lykier Glaukos die Geschichte seines eigenen Geschlechts (Il. 6,146–149). Vom Wissen um ihre mühsalbeladene Sterblichkeit sind die Helden nicht nur zutiefst durchdrungen, sondern zuweilen ist sogar ein ruhiges Altern und sanftes Sterben gar nicht erwünscht: Achill zieht nach reiflichen Überlegungen einen frühen Tod vor, durch den er ewigen Nachruhm erlangen kann statt in Ruhmlosigkeit zu verdämmern (Il. 9,412–416); oder das ruhige Altern kann erst nach langem Umherirren mühsam errungen werden, wie von Odysseus, und auch der wird nach allen Mühen noch einmal zu einer beschwerlichen Reise aufbrechen müssen (Od. 9,121–137; 23,267–284). Nur Nestor erleben wir in hohem Alter im Kreise seiner Lieben, und Menelaos, der Gatte der schönen Zeustochter Helena, kann schon früher seinen Reichtum in Ruhe genießen, ehe er als Einziger sogar ins Elysium kommen wird (Od. 4,561–565). Im harten Kampf ums Dasein gilt es jedoch nicht nur zu überleben, sondern auch, sich auszuzeichnen vor den anderen: Vor dem Auszug in den Krieg haben Väter ihren Söhnen die Maxime mit auf den Weg gegeben, „immer der Beste zu sein und
Helden und Heldentum
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den anderen überlegen“, im thessalischen Phthia Peleus dem Achill und in Lykien Hippolochos dem Glaukos (Il. 6,208; 11,784). Bei all ihrem mutigen Einsatz erleiden die meisten Helden auch schwere Verwundungen, wie Diomedes, dem aus dem Hinterhalt Paris einen Pfeil durch den Fuß bis in den Boden schießt, oder der von Feinden umringte Odysseus, dem einer mit dem Speer durch den Panzer hindurch die Haut von den Rippen schält (Il. 11,375–378; 445f.). Das Schicksal gerade der Protagonisten ist es, nach Aristien, in denen sie ihre besten Eigenschaften als Krieger bewähren, einem ihnen überlegenen Gegner zu erliegen, der Lykierfürst Sarpedon dem Patroklos, der wiederum dem Hektor, der schließlich dem Achill, wobei allerdings die Niederlage dadurch relativiert wird, dass jeweils Götter dem Gegner beistehen (Il. 16,462–503; 784–857; 22, 208–366). Achills ähnlich strukturierter Tod wird nachgetragen durch ein Unterweltgespräch, das zehn Jahre danach stattfindet (Il. 22,359f.; Od. 24,36–94). Homerische Helden sind eher extrovertiert; sie äußern ihre Empfindungen unmittelbar und laut in sprechenden Gebärden, in freudevollem Jubel, in schmerzerfülltem Weinen, in haltlosem Klagen, oder sie verstummen auch einmal in sprachlosem Schrecken: Nach seinem gelungenen Pfeilschuss auf Diomedes springt der meist gar nicht so mutige Paris hinter der Stele auf dem Grabmal des Stadtgründers Ilos hervor und lacht hell auf in vorschneller Freude (Il. 11,378f.); der sonst so selbstbewusste Achill weint und weint nächtelang um seinen toten Freund und bringt sich um den Schlaf, indem er sich sehnsuchtsvoll hin- und herwälzt (Il. 24,3–13); beim Anblick der schmählichen Schleifung ihres Sohnes schreit die Heldenmutter Hekabe schrill auf, schleudert ihren Schleier vom Kopf und rauft sich die Haare (Il. 22,405– 407); als Antilochos vom Tod des Patroklos erfährt, erstarrt er in sprachlosem Entsetzen (Il. 17,694f.). Infolge all dieser spontanen Gefühlsäußerungen begegnen uns die „Heroen“ auf einer menschlich verwandten Ebene; sie sind uns in gewisser Weise ähnlich, und doch können selbst die Götter davon erfasst werden. Wenn es jedoch bei typischen Reaktionen bliebe, die allen Handelnden gleichermaßen in vergleichbaren Situationen gemeinsam sind, ließen sie uns wahrscheinlich verhältnismäßig kalt. Nun aber treten uns Menschen von höchst individuell gestalteter Prägung entgegen, so individuell, dass unter den Hauptakteuren trotz gewisser typischer Züge keiner dem anderen gleicht. Eben diese unterschiedlichen Charaktere ergreifen durch ihre differenzierten Gefühls- und Gedankenäußerungen von uns Besitz und reißen uns in jenes spannungsvolle Mit- und Gegeneinander der Aktionen, die das homerische Epos kennzeichnen und von anderen Epen unterscheiden. Andererseits werden wir auch nicht durch eine willkürliche Vielzahl von gänzlich verschiedenen Charakteren verwirrt; vielmehr erscheinen die Unterschiede unverkennbar als spezifische Varianten eines Typs, und dadurch entsteht trotz der Menge der Personen eine gewisse Homogenität und Überschaubarkeit in der Heldenwelt. Zweifellos ragen einige Gestalten als Hauptträger der Handlung und des Interesses heraus. Achill und Odysseus werden im Eingang der Geschichte hervorgehoben; an sie schließen sich andere in Streit und Freundschaft, Kampf und Liebe an, wie Agamemnon und Patroklos, Hektor und Penelope. Wieder andere treten durch den Gang der Ereignisse, durch Reise und Abenteuer hinzu, in ihren Funktionen, aber immer auch als
Verwundbarkeit, Jubel und Klage
Individuelle Charaktere – keine Schemen
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Achill: ungestüm und jähzornig
Dichtung und Wirklichkeit
menschliche Begegnungen. Vom König bis zum Sklaven, ja bis zum Pferd und Hund gewinnen sie alle individuelles Leben, wenn sie auch in unterschiedlicher Intensität behandelt werden, als ausführliches Charakterbild oder mit wenigen knappen Strichen skizziert. Auch äußerliche Gegebenheiten spielen bei der Gewichtung der Akteure natürlich eine Rolle. Zum Teil sind sie im Kern der mythischen Handlung vorgegeben, zum Teil werden sie infolge lokalpolitischer Interessen aus anderen Mythenkreisen übernommen und eingefügt, angegliedert oder auch nur kurz berührt. Auf diese Weise findet sich der vielfach abgestufte Personenkreis des homerischen Welttheaters zusammen, in dem letztlich alle Handelnden irgendwie am gehobenen Wesen des „Heldischen“ partizipieren. In der Regel beweisen sie dies in einer „Aristie“, einer herausgehobenen Tat der Bewährung ihrer spezifischen Qualität (arete¯). Im Einzelnen lassen sich gewisse Grundmuster, Modelle und Konstellationen der Schilderung beobachten: Da ist zum einen der Grundtypus des jugendlichen Helden, verkörpert in Achill und Diomedes. Beide setzen sich im Vertrauen auf ihre Kraft ungestüm ein und erringen ungeheure Erfolge. Achill ist von strahlender Schönheit, jung, kraftvoll und vor allem schnellfüßig, ebenso siegesbewusst wie erfolgreich. Ihm verdanken die Achäer fast alle Beute, die sie auf den Kriegszügen während der neunjährigen Belagerung Trojas gemacht haben, und das weiß er auch und pocht darauf: „Zwölf Städte habe ich zu Schiff geplündert, elf zu Lande in der breitscholligen Troie¯, aus allen viele kostbare Beute davongeführt und dem Agamemnon abgeliefert!“ schmettert er dessen reiche Versöhnungsangebote ab, und er betont den Gesandten gegenüber, solange er mitgekämpft habe, habe sich Hektor im Kampf nicht weiter von der Stadtmauer zu entfernen gewagt als höchstens bis zum Skäischen Tor (Il. 9,328–331; 352–354). Daher verlangt er auch entsprechende Anerkennung für seine Leistungen, und zwar gerade vom Oberfeldherrn: Jäh flammt sein Zorn auf, als ihm durch die Wegnahme seiner Beutefrau Briseis die Ehre beschnitten wird, und er holt sogar schon aus zum Königsmord. In der Wut bittet er seine Mutter Thetis, bei Zeus die Niederlage des Achäerheeres zu erlangen. Unerbittlich auch gegenüber den Freunden hält er sich vom Kampf fern, droht sogar mit der Heimfahrt, denn „verhasst ist mir der Mann wie die Pforten des Hades!“ (Il. 9,312). Sogar als die Troer bereits zu den Schiffen vorgedrungen sind, kann er selbst sich noch immer nicht bezwingen und sendet nur stellvertretend seinen Freund Patroklos zu Hilfe. Dieses rasende Ehrgefühl aber führt zu neuem Gefühlsüberschwang: Auf die Nachricht vom Tod des Freundes bricht der Starke in ebenso rasenden Schmerz aus: „Er griff mit den Händen in den dunklen Staub und streute ihn sich über Kopf und Kleidung, warf sich auf die Erde und raufte sich das Haar“ (Il. 18,22–27). Der Schmerz treibt ihn zu den ungeheuerlichen Rachetaten im 20. und 21. Buch. Nicht einmal nach der Tötung des Freundesmörders Hektor beruhigt sich sein Schmerz: In maßlosem Hass schleift er den Leichnam am Wagen zu den Schiffen und dann jeden Morgen um das Grabmal des Freundes (Il. 22,325–404; 24,12–18). Sogar im Augenblick der Umkehr zu Einsicht und Milde kann er noch aufbrausen: Der alte Priamos in seiner Trauer drängt zur Eile, aber Achill droht ihm mit finsterem Blick: „Reize mich nicht, Alter! Ich will dir ja den Sohn zurückgeben, aber wenn du meinen
Helden und Heldentum
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Schmerz wieder aufrührst, könnte ich mich doch noch an dir vergreifen!“ (Il. 24,560–570). Das Wissen um seinen frühen Tod gehört als dämpfender Hintergrund untrennbar zum Charakterbild dieses emotionalen jungen Helden. Der Altersgenosse Diomedes – genau genommen ist er sogar der jüngste der Helden – kann Achill in seinem jugendlichen kämpferischen Drang bisweilen ersetzen. Während der ersten Offensive der Achäer beherrscht er die Szenerie vollständig: „Den Sohn des Tydeus konnte man kaum erkennen, bald war er unter den Troern, bald unter den Achäern, wie ein vom Winterregen angeschwollener Strom die Ebene überschwemmt und die Brücken zertrümmert“ (Il. 5,85–92). Nach der Verwundung durch Pandaros stürmt er mit verdreifachtem Mut gegen den Feind, von Athene gestärkt: „Rede mir nichts von Flucht! Das war nie meine Sache!“ (Il. 5,251–254), und er tötet den Eidbrecher Pandaros mit dem Speer, er vermag sogar die Götter Aphrodite und Ares zu verwunden. Auch in der Phase der sich steigernden Niederlage ist es Diomedes, der Ausdauer bewahrt: Er rettet Nestor, während alle anderen sich Hals über Kopf davonmachen (Il. 8,130–160); er lenkt als erster sein Gespann wieder durch den Graben zurück (Il. 8,253–255). Stets hat er es auf den Hauptgegner Hektor abgesehen, den er tatsächlich durch einen gewaltigen Speerwurf gegen den Helm vorübergehend außer Gefecht setzt, bevor er schließlich selbst, durch Paris hinterhältig verwundet, sich zu den Schiffen zurückziehen muss (Il. 11,350–356; 368–400). Aber nicht nur im Kampf zeichnet der junge Held sich durch Kraft und Mut aus; auch im Rat der Fürsten drängt er die Defätisten zum Aushalten. Beredt erhebt er seine Stimme sogar gegen den fluchtbereiten Heerführer: „Dir hat Zeus Macht gegeben, aber keinen Mut! Geh doch! Niemand wird dich daran hindern, deine Schiffe liegen ja sowieso nahe am Wasser! Wir anderen bleiben, bis wir Ilios erobert haben, und wenn nicht die andern, so doch mein Freund Sthenelos und ich!“ (Il. 9,37–99). Als Nestor ihn wegen dieser kecken Worte vorsichtig zurechtweist, „du bist ja sicher hervorragend im Kampf und unter deinen Altersgenossen auch der beste Redner; du magst ja recht haben, aber jung wie du bist, hast du es nicht zu Ende durchdacht“ (Il. 9,52–59), begehrt er nicht dagegen auf. Anders als Achill kann Diomedes die Berechtigung einer Rüge einsehen, auch und vor allem die des Heerführers: Auf seinem Inspektionsgang findet Agamemnon Diomedes und Sthenelos abwartend bei ihrem Gespann stehen; so hätte sich sein Vater Tydeus nie verhalten, tadelt er; Diomedes hört sich das voller Ehrfurcht vor dem König schweigend an, und als sein Freund aufbegehrt, blickt er ihn unwillig an: „Sei still! Ich nehme es dem König nicht übel, wenn er zum Kampf treibt! Er muss so handeln, er erntet den Ruhm beim Sieg und das Leid bei der Niederlage!“ (Il. 4,401– 418). Zwar trifft ihn der Tadel der Feigheit durchaus, auch er fühlt seine Ehre verletzt und hat Agamemnons Worte keineswegs vergessen (Il. 9,34–36); aber er kann einen Vorwurf, wenn er zutrifft, akzeptieren und schweigen. Das Vorbild seines Vaters spornt ihn an und hindert ihn zugleich daran, über die Stränge zu schlagen. Ein anderes fein nuanciertes Kontrastpaar sind die ungleichen Brüder Hektor und Paris. Auch sie sind im homerischen Epos keineswegs undifferenzierte, holzschnittartig einander gegenübergestellte Typen, etwa „der starke und mutige Krieger“ und „der schöne und feige Schwächling“.
Diomedes: ungestüm, aber einsichtig
148 Hektor – Stadtverteidiger und Stadtverderber
Dichtung und Wirklichkeit
Zunächst könnte man meinen, Hektor sei ganz und gar verantwortungsbewusster Verteidiger seiner Vaterstadt, wenn man Aussagen herausgreift wie etwa „Nur ein Zeichen ist das beste, nämlich das Vaterland zu schützen“, Worte, in denen er die blinde Vorzeichengläubigkeit zurückweist (Il. 12,243). Aber auch Hektor ist ein durch und durch homerischer Held. Er ist sich von Anfang an über die Vernichtung Trojas im Klaren; berühmt ist die Aussage geworden, mit der er freilich seine um die Stadt besorgte Gattin wohl kaum trösten kann: „Einst wird der Tag kommen, an dem die heilige Ilios untergeht und mit ihr Priamos und sein lanzenkundiges Volk!“; trösten kann er sie auch nicht mit dem Bekenntnis: „Man hat mich gelehrt, stets tapfer unter den Ersten zu kämpfen und den Ruhm des Vaters und meinen eigenen zu wahren!“. Deshalb muss er unter dem Druck der öffentlichen Meinung Andromaches verständigen Rat ablehnen, sich zum Schutz der schwächsten Mauerpartie mit dem Heer in die Stadt zurückzuziehen. „Ich schäme mich vor Troern und Troerinnen, wie ein Feigling den Kampf zu vermeiden“ (Il. 6,441–449). Und so kämpft er weiter, todesbereit und auch mit optimistischem Blick auf den Nachruhm. Es klingt wie ein imaginäres Heldenlied, wenn er eine Vision vom Grabhügel seines erst noch zu besiegenden Gegners Ajas beschwört: „Noch die späte Nachwelt wird sagen: Das ist das Grabmal eines längst Gestorbenen, den im ehrenvollen Kampf einst der strahlende Hektor erlegt hat!“ (Il. 7,89f.). Es fällt ihm daher überaus schwer, einen noch so vernünftigen Rat zu befolgen. Mehrfach macht ihm sein Altersgenosse Polydamas einen Vorschlag, der sich später, ob er ihn nun annimmt oder nicht, als ganz und gar zutreffend erweist. Glänzend bewährt sich die vorsichtige Taktik, die Gespanne am Graben zurückzulassen und ihn zu Fuß zu überwinden, denn bei der panischen Flucht vor Patroklos wird er zur tödlichen Falle (Il. 12,61–80; 16,367–371). Diesem einen Rat folgt Hektor noch, einen anderen, noch wichtigeren jedoch schlägt er in den Wind. Weitblickend empfiehlt Polydamas den Rückzug in die Stadt, denn angesichts der Übermacht Achills geht es jetzt nicht mehr um Sieg oder Niederlage, sondern um die nackte Existenz: „Um die Polis selbst und die Frauen wird Achilleus kämpfen. Bleiben wir im Feld, so werden viele von uns von den Hunden und Vögeln gefressen“ (Il. 18,255–283). Auch in diesem Fall behält Polydamas Recht, wie das 21. Buch beweist. Nicht nur den eigenen Tod nimmt Hektor schließlich in Kauf, als er darauf beharrt, sich vor dem Skäischen Tor Achill zu stellen. Letztlich gibt der unersetzbare Vorkämpfer durch seine fast tragische Befangenheit in der Konvention damit auch seine Stadt preis. Die grausame und frevelhafte Behandlung seines Leichnams durch den Sieger lässt dann gleichsam rückwirkend den Irrenden in einem versöhnlichen und menschlich anrührenden Licht erscheinen. Sie erregt sogar das Mitleid der Götter (Il. 24,23–140). Verstärkt wird dies noch durch die Worte der eher unparteiischen Achäerin Helena in ihrer Totenklage, die dem Charakter des Verstorbenen einen weiteren Zug hinzufügen: „Nie habe ich ein böses Wort von dir gehört; wenn einer der Schwäger oder Schwägerinnen mich tadelte, oder auch die Schwiegermutter – der Schwiegervater war immer so milde wie ein Vater –, dann hast du ihn zurückgehalten und besänftigt aus deiner angeborenen Freundlichkeit heraus mit freundlichen Worten“ (Il. 24,767–772).
Helden und Heldentum
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Paris ist schon durch die Sage von seinem berühmten Urteil als das krasse Gegenbild seines Bruders Hektor angelegt. Indem er der gebieterischen Hera und der kämpferischen Athene die goldene Aphrodite vorzog, wählte er sich zugleich die schönste Frau, die schönwangige, weißarmige Helena. Unkriegerisch, jederzeit dem Liebesgenuss aufgeschlossen, erscheint er daher bei seinen ersten Auftritten in der Ilias. Mit einem Pantherfell um die Schultern, mit Bogen und Schwert und zwei Speeren ausgerüstet, ruft er gleich bei der ersten Begegnung der Heere „alle die besten“ zum Kampf auf – ein Prahlhans, der sofort erschreckt „wie ein Mann vor einer Schlange“ in die Reihen der Troer zurückweicht, als sein Hauptfeind Menelaos mit gewaltig ausholenden Schritten vor die Menge ihm entgegentritt. „UnglücksParis!“ fährt ihn deshalb Hektor an, in einer ganzen Kaskade von weiteren unnachahmlichen Schimpfwörtern, wie etwa „Schönling, weibertoller Mädchenbetörer!“ (Il. 3,15–39). In dem eidlich beschworenen Zweikampf, dem er sich notgedrungen stellen muss, wäre er zweifellos erwürgt worden: Menelaos schleift ihn bereits am Helmgurt, da sprengt seine Gönnerin Aphrodite den Riemen und entrückt ihn im Nebel in sein duftendes Schlafgemach (Il. 3,373–382). In strahlender Schönheit und schimmerndem Gewand, „als gehe er zum Tanz oder ruhe, eben vom Tanz gekommen, sich ein wenig aus“, fällt es ihm nicht schwer, seine von Gewissensbissen geplagte widerstrebende Gattin zu sich aufs Lager zu ziehen (Il. 3,390–448). In den folgenden Kämpfen agiert er zwar tüchtig auf dem Schlachtfeld und fügt den Achäern auch erheblichen Schaden zu: Am Morgen des Hauptkampftages verwundet er nacheinander den Vorkämpfer des Vortages, Diomedes, den Arzt Machaon und den nordgriechischen Fürsten Eurypylos (Il. 11,377; 506; 583). Aber das gelingt ihm nur aus dem Hinterhalt heraus mit Pfeilschüssen, nicht im offenen Gefecht. Fast verwundert nimmt der Leser daher zur Kenntnis, dass er auch ein tapferer Fußkämpfer ist. Nach seiner Rückkehr auf das Schlachtfeld steht er Schulter an Schulter mit Hektor unter den Speerkämpfern (Il. 7,8). Beim Kampf um die Mauer führt er mit zwei anderen Troern die dritte Schwadron an, kämpft auf dem linken Flügel gegen die Kreter, jetzt wieder mit dem Bogen, und kann dem Hektor Auskunft über die herben Verluste geben. Der hat, als er den Bruder sieht, seine übliche Schimpfrede parat, die Paris jetzt abwehren kann: „Diesmal beschuldigst du einen Unschuldigen! Mag sein, dass ich auch mal wieder nachlasse im Kampf; aber seit du die Schlacht bei den Schiffen entfacht hast, stehen wir hier unablässig gegen die Achäer, denn auch mich hat unsere Mutter nicht als einen Schwächling geboren!“ (Il. 12,93; 13,490; 765–783). Der Paris der Ilias ist also nicht nur ein windiger Verführer, sondern durchaus noch dazu ein Kämpfer – später wird er ja auch den Achill erlegen, so dass man sogar die Theorie aufstellen konnte, in einer Ursage sei er der Vorkämpfer Trojas gewesen. In der jüngeren griechischen Komödie bilden gewöhnlich der junge und der alte Mann ein typisches Kontrastpaar. Auch dies ist in den Epen angelegt. Die Alten spielen eine wesentliche Rolle, wie in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, so gerade auch im Kriegsepos Ilias, aber auch sie agieren und reagieren trotz des gemeinsamen Zuges altersbedingter Schwäche höchst unterschiedlich. Nestor ist wohl der älteste aktive Kriegsteilnehmer. Jedenfalls stellt Homer ihn, und zwar nur ihn, bei seiner ersten Aktion so vor: „Zwei Generationen hatte er be-
Paris: Verführer und Kämpfer
Nestor – Kämpe und Diplomat
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Gleichwertigkeit der Generationen
Dichtung und Wirklichkeit
reits überlebt und jetzt herrschte er in der dritten“ (Il. 1,250–252). Er ist sich bewusst, dass er nicht mehr die jugendliche Kraft früherer Jahre besitzt; ständig begleitet seine Erinnerungen der Wunsch, ach, wenn er doch noch so jung und stark wie einst wäre (Il. 11,670; 7,123; 4,321). Dabei handelt es sich um äußerst detailreiche Erinnerungen, die er manchmal so weitschweifig erzählt, dass man ihn beinahe für einen geschwätzigen und schon etwas kindischen Alten halten könnte, vor allem, wenn er den doch so eiligen Patroklos hinhält (Il. 11,670–762). Ein Anflug von Skurrilität in der Schilderung ist nicht von der Hand zu weisen. Aber der Leser sieht sich spätestens in dem Moment korrigiert, in dem er ihn seine Truppen mit erprobtem strategischem Sachverstand ordnen (Il. 4,293–309) und später sogar im Kampfgewühl selbst mitmischen sieht (Il. 8,80–158). Freilich gerät er dabei in Schwierigkeiten, aus denen er sich nicht hätte befreien können, wenn nicht der junge Diomedes unerschrocken eingegriffen hätte: Nestors Beipferd wälzt sich, von einem Pfeil des Paris tödlich getroffen, am Boden und bringt die beiden Gespannpferde in Verwirrung; Diomedes rettet ihn auf seinem eigenen Wagen, und nun ziehen Alt und Jung gemeinsam in die Schlacht. Dabei fungiert der alte Kämpe als Wagenlenker, damit Diomedes zum Speerwurf bereit sein kann (Il. 8,103– 158). Auch sonst ist er immer irgendwie hilfreich auf dem Feld zu finden, so dass er bei Gelegenheit auch den verwundeten Arzt Machaon zu den Schiffen fahren kann; nicht umsonst trägt er den Beinamen Hippote¯s, „der Pferdeerfahrene“: „Sofort stieg er auf den Wagen, neben ihn stieg Machaon hinauf, er peitschte die Pferde, und die trabten nicht unwillig zu den Schiffen“ (Il. 11,510–520). Und schließlich kümmert er sich mit den verwundeten Fürsten wieder um die kritische Situation in der Schlacht, die bereits um die Schiffe tobt, wobei sich der junge Diomedes auch im Rat hervortut (Il. 14,1–134). Das wohlabgewogene Nebeneinander von Jüngling und Greis zeigt den perfekten Ausgleich zwischen den Generationen, wo ein jeder noch seine Stelle findet. Nestor selbst formuliert das Prinzip: „Nicht alles zugleich geben die Götter den Menschen; früher war ich ein kräftiger Jüngling, jetzt plagt mich das Alter, aber auch so kann ich noch die Gespanne begleiten und sie anleiten mit Ratschlägen und Worten, denn das ist das Privileg des Alters“ (Il. 4,320–323). Das hohe Alter birgt einen reichen Schatz an Erfahrungen, die die Jugend nicht besitzen kann; junge Leute müssen handeln und Taten (erga) vollbringen, alte müssen reden und Ratschläge (boulai) erteilen, um der Gemeinschaft zu nützen. Nestor ist der Ratgeber schlechthin; seine klugen Vorschläge werden meist sogleich befolgt: die Gefallenen werden bestattet und Mauer und Graben gebaut (Il. 7,326–344; 433–441), Wachen am Graben aufgestellt und eine Gesandtschaft zu Achill geschickt (Il. 9,65–88; 162–181). Allerdings gelingt es auch der Altersweisheit nicht immer, im Konflikt der Mächtigen einen Ausgleich zu finden. „Nimm du, auch wenn du noch so mächtig bist, dem hier nicht das Mädchen, und du, Pelide, widersetze dich nicht so gewalttätig dem König; du bist stärker und eine Göttin hat dich geboren, er aber ist mächtiger; Atride, bezähme deine Wut, und ich will Achilleus anflehen, seinen Zorn zu bezähmen“ – aber keiner von beiden folgt ihm (Il. 1,277–304). Ein Meisterwerk diplomatischen Geschicks ist andererseits die wohlabgewogene Rüge, die er dem vorlauten Diomedes erteilt, und die zarte Rück-
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sichtnahme, mit der er später den mächtigen Herrscher überredet, dem Achill seine Verblendung einzugestehen und dem Zürnenden freiwillig reiche Versöhnungsgaben anzubieten (Il. 9,53–59; 96–116). Zu Recht wird daher Nestor schon zu Beginn eingeführt als „lieblichredend, ein helltönender Redner, dem süßer als Honig die Worte von der Zunge flossen“ (Il. 1,248f.). Auch Priamos auf der Gegenseite ist ein altehrwürdiger Herrscher. Aber von Machtausübung ist bei ihm in der Ilias nicht viel zu merken. Vielmehr findet der Leser ihn zuerst als primus inter pares mit sechs anderen Volksältesten auf dem Torturm sitzen, wo sie als reine Beobachter sich mit brüchiger Stimme unterhalten. Als Helena in voller Schönheit zu den alten Männern tritt, können sogar sie sich dem Eindruck nicht entziehen. Priamos ruft die Schwiegertochter liebevoll zu sich her und bittet sie um Auskunft über die vor der Stadt aufmarschierten Achäer (Il. 3,146– 170). Diese „Mauerschau“ (Teichoskopie) ist das klassische Beispiel für die Exposition von Personen der Handlung, wobei die erzähltechnische Absicht auch Unwahrscheinlichkeiten in Kauf nimmt. Eigentlich müsste Priamos die Gegner längst kennen, vor allem die Gesandten Menelaos und Odysseus, aber so wird zugleich der besonnene Gastgeber Antenor eingeführt, der auch sonst als ausgleichender Berater neben dem König steht (Il. 3,203–224; 7,347–378). Anders als der „Frischgreis“ (o¯mogero¯n) Nestor vertritt Priamos eine noch höhere Altersstufe. Er hat die meisten Regierungsgeschäfte an Hektor abgegeben und lebt gewissermaßen im Altenteil, wenn ihm auch die oberste Autorität verblieben ist. Das gilt vor allem für das Sakralwesen: Die einzige offizielle Funktion übt er daher bei dem Eidopfer aus, durch seine bloße Anwesenheit. Nach der Kulthandlung fährt er so schnell wie möglich wieder in die Stadt zurück, denn „ich könnte wohl nicht mit eigenen Augen ansehen, wie mein Sohn gegen den aresgeliebten Menelaos kämpft!“, meint er (Il. 3,245–313). Hier spricht er in der Rolle des besorgten und unglücklichen alten Vaters, die ihm das Epos vornehmlich zugeteilt hat, mit der Schlüsselszene im 24. Buch. Hier gibt der Dichter auch diesem vom Schicksal gequälten König eine Aristie, und sie ist zugleich der menschlich anrührendste Höhepunkt des Gedichts. Es gibt auch in der Odyssee einen alten Herrscher, Laertes, den Vater des Odysseus und somit Ex-König von Ithaka, der eine weitere Variante des Altersschicksals verkörpert. Er genießt kein friedliches Rentnerdasein, sondern ihn hat eine aufsässige junge Generation in die Isolation getrieben. Einsam lebt er draußen auf dem Land in einem Gütchen, versorgt von einer alten ihm ergebenen Sklavenfamilie. Seine Frau ist schon vor Jahren gestorben aus Kummer über den verschollenen Sohn; ihre Totenseele schildert dem Odysseus in der Unterwelt das dürftige Leben des Vaters: „Bett und Bettzeug hat er nicht, er schläft im Winter auf dem Boden bei den Knechten nah am Herdfeuer in stinkenden Lumpen, im Sommer aber draußen im Garten auf Laub; da liegt er und steigert sich in seine Trauer hinein aus Sehnsucht zu dir“ (Od. 11,187– 203). Und so findet Odysseus ihn denn auch in einem schmutzigen, zerrissenen Chiton beim Umgraben in dornigem Gebiet, „um die Waden geflickte Leder wickel, an den Händen Handschuhe und auf dem Kopf eine Haube aus Ziegenleder“ (Od. 24,226–234). Doch auch alte Menschen können sich aus Depressionen wieder aufraffen. Während Nestor gewohnheitsmäßig noch in den Kampf zieht, oder Priamos in
Priamos – ein alter und schmerzgeplagter Vater
Laertes – ein einsamer Witwer
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Odysseus – Meister in jeder Lebenslage
Redner
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äußerster Selbstüberwindung sich dem Mörder seines Sohnes zu nahen wagt, so erwächst dem Laertes aus plötzlicher Freude neue Energie. Gemeinsam ziehen die drei Generationen, Großvater, Vater und Enkel, nochmals in den Kampf, und auch der alte Laertes erlebt noch seine Aristie, wenn er im Bürgerkrieg den gegnerischen Anführer besiegt (Od. 24,513–525). Es sind also gerade die Alten und Uralten, auf die am Schluss beider Epen noch ein besonderes Licht fällt. Bei den meisten Helden Homers steht ein bestimmter Charakterzug im Vordergrund, der andere überdeckt und sie nur in speziellen Situationen deutlich werden lässt. Anders verhält es sich bei Odysseus, der die Odyssee als Hauptfigur dominiert, aber auch in der Ilias wichtige Funktionen ausübt. Odysseus ist vielseitig, in ihm sind scheinbar gegensätzliche Verhaltensweisen vereinigt, die ihn aber gerade deswegen befähigen, alle Gefahren letztlich unbeschadet zu überstehen. Wenn in der Ilias mehr die kämpferische, in der Odyssee mehr die listige Seite seines Wesens erscheint, so entspricht das den unterschiedlichen Themen beider Epen, Kampf und Abenteuer. Der aufmerksame Leser wird die Identität und innere Stimmigkeit dieses Heldencharakters, in dem man auch schon den Idealtyp des Griechen schlechthin verkörpert sehen wollte, unschwer erkennen. Scheinbar widersprüchliche Züge vereinigen sich in ihm zu einer stets glaubwürdigen poetischen Gestalt. Odysseus gehört zu den wenigen, die von handelnden Personen innerhalb des Epos ausdrücklich vorgestellt werden: Der alte Antenor entfaltet die scharf beobachtete Physiognomie seiner Erscheinung, wie er ihn als Gesandten in Troja erlebt hat: „Da stand er und sah die ganze Zeit auf den Boden und bewegte seinen Stab überhaupt nicht, als wäre er blöde; aber sobald er anfing zu reden, tönte seine Stimme gewaltig, und die Worte wirbelten ihm wie Schneeflocken aus dem Mund“ (Il. 3,216– 224). Über diesen Widerspruch zwischen unbeweglicher Mimik und Gestik und beweglichem Redefluss staunt nicht nur Antenor, auch der antike Hörer wird es getan haben, gehörte es doch schon früh zur rhetorischen Ausbildung eines Redners, die Glaubwürdigkeit seiner Worte durch entsprechenden Gesichtsausdruck und Gebärden zu unterstreichen. In diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, wie der Dichter durch Vermeidung gängiger Klischees lebendige Menschen schafft. Zweifellos wurde Odysseus wegen seiner urwüchsigen Redebegabung zusammen mit Menelaos nach Troja gesandt, da es hier um sehr delikate Verhandlungen wegen des Raubs der Helena ging. Entsprechend erscheint der Held dann auch sonst in entscheidenden Situationen. In kluger Anpassung seiner Worte an das jeweilige Gegenüber verhindert er die übereilte Heimkehr der Achäer: Den Königen gibt er zu bedenken, dass sie vielleicht zu weit weg gestanden und Agamemnon nicht richtig verstanden hätten; die einfachen Leute fährt er an, sie sollten gefälligst still sitzen und den Anführern nicht dreinreden; mehr durch Brachialrhetorik bringt er den Aufrührer Thersites zum Schweigen mit einer Tracht Prügel auf Rücken und Schultern, sehr zum Wohlgefallen der inzwischen überzeugten Menge (Il. 2,188–277). Wohl auch wegen seiner Funktion als Sprachrohr des Feldherrn hat Odysseus sein Schiff in der Mitte des Schiffslagers beim Versammlungsplatz aufgebockt, denn von hier kann man sowohl nach links wie auch nach rechts rufen; bezeichnenderweise ist es aber auch der sicherste Ort im Lager, den der Schlaue sich ausgesucht hat.
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Die gefährdeten Flanken hingegen schützen die Vorkämpfer Achill und Ajas, ihrem Mut vertrauend und der Kraft ihrer Arme (Il. 8,222–226). Selbstverständlich muss daher auch in der Bittgesandtschaft Odysseus als erster Redner dem Achill die Versöhnungsangebote Agamemnons vortragen, um den zornigen jungen Mann vielleicht zum Nachgeben zu bewegen; das erste Wort erhält er aber nur dadurch, dass er den alten Phönix austrickst: „Ajas gab dem Phönix ein Zeichen, das merkte Odysseus; schnell füllte er den Becher mit Wein und prostete dem Achilleus zu: Heil dir …!“ (Il. 9,222–306). Den ungeheuren Groll des Peliden vermag in diesem Fall nicht einmal die Kunst des Odysseus zu beschwichtigen. Sonst jedoch vollbringt sie wahre Wunder, wenn sie das ganze Heer umstimmt, wie im 2. Buch, oder später den fluchtbereiten Agamemnon mit recht harschen Worten zur Besinnung bringt: „Schweig still! Damit das nur ja niemand von den Achäern hört! Ich glaube, du bist nicht ganz bei Verstand!“; die unverblümte Kritik am obersten Chef untermauert er mit dem schlagenden Argument, dass Krieger auf der Flucht nicht mehr an Gegenwehr denken und sie von den Feinden erst recht niedergemetzelt werden (Il. 14,82–102). Hier spricht der pragmatische Realist und illusionslose Menschenkenner. Das zeigt sich noch deutlicher in der großen morgendlichen Versöhnungsszene des 19. Buchs. Achill will sich ohne alle Formalitäten blindlings sofort in den Rachekampf stürzen; Odysseus hält ihn zurück: „Die Männer können doch nicht nüchtern kämpfen, lass sie erst essen und trinken, damit nicht Hunger und Durst sie quälen, denn niemand kann den ganzen Tag lang gegen den Feind durchhalten, auch wenn er es noch so sehr wollte: Sein Mut mag stark sein, aber die Glieder ermatten“. Schließlich setzt er sich auch gegen den eigensinnigen Choleriker durch: „Achilleus, du bist zwar stärker als ich, ich aber klüger, denn ich bin älter als du und habe mehr Dinge gesehen und weiß mehr; drum hör auf mich und bezwing dich, und außerdem: ein leerer Magen ist nicht das richtige Zeichen der Trauer“ (Il. 19,145–237). Doch bei all seiner mäßigenden Vernunft kann dieser Mann auch kämpfen, das Beiwort „speerberühmt“ gebührt auch ihm. Den Ansturm Hektors und der Troer hält er mit Diomedes eine Weile auf; als Diomedes verwundet wird, stellt er sich schützend vor ihn hin, so dass der ins Schiffslager entkommen kann. Auch er gehorcht dem verbindlichen Ehrenkodex: Kurz überlegt er, ob er nicht doch lieber fliehen soll, aber „nur Feiglinge meiden den Kampf, der Tapfere muss durchhalten“. Den Beweis dafür erbringt er in seiner anschließenden Aristie, „erfahren und erfindungsreich“ (daiphro¯n poikilome¯tis), wie er ist (Il. 11,310–488). Die ganze Fülle seines Wesens entfaltet Odysseus in der Odyssee, wo die markanten Züge der ursprünglichen Sagengestalt im Kontext der persönlichen Schicksale klarer hervortreten als in der Ilias. Äußerlich deutlich wird dies dadurch, dass er hier als Bogenschütze fungiert, im Charakterbild treten die Eigenschaften des „Vielduldenden“ und „Vielverschlagenen“ (polytlas, polytropos), „Einfalls- und Listenreichen“ (polyme¯tis, dolo¯n aatos), des „Vorteilsbedachten“ und „scharfsinnigen Skeptikers“ (kerdaleophro¯n, anchinoos) in den Vordergrund. Als Kämpfer bricht er von Troja auf, die Niederlage gegen die thrakischen Kikonen entspricht noch ganz einer Episode der Ilias (Od. 9,39–61). Dann jedoch wird er in
Realist
Kämpfer
154 Kampf mit Fabelwesen
Kampf mit den Elementen
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Auseinandersetzungen mit den Elementen und dämonischen Fabelwesen verwickelt, die ihn mit andersartigen Herausforderungen konfrontieren. Zunächst sind vor allem seine Dulderfähigkeiten gefragt, wenn ihn ein zehntägiger Nordsturm zu den Lotosessern verschlägt, wo seine Gefährten dem Drogenkonsum verfallen, bei Menschenfressern wie den Kyklopen und den Lästrygonen, zwischen den Meeresstrudeln und Felsklippen von Skylla und Charybdis, und in immer neuen Seestürmen, Schiffskatastrophen, Flauten und Hungersnöten. Doch ebenso bedarf es eines unerschöpflichen Einfallsreichtums, schon in der Höhle des Kyklopen, und dann auch, nach bestrafter Neugier und schlechten Erfahrungen, der äußersten Vorsicht und eines immerwachen Misstrauens, um den Zauberkünsten der Kirke oder den Gefahren der Unterwelt zu entkommen und die Dummheiten seiner Gefährten auszubügeln. Dass der Schlaumeier dabei gelegentlich auch des Guten zu viel tun kann, zumal gegenüber Göttern oder der eigenen Gemahlin, hält ihm Athene in einer liebevollen Standpauke vor: „Da lächelte die Göttin Athene und streichelte ihn mit der Hand: Auf Vorteil aus und verschlagen müsste einer sein, der dich in allen Listen übertreffen wollte, selbst wenn es ein Gott wäre, du Schrecklicher, Einfallsreicher, in Listen Unersättlicher, nicht einmal zu Hause im eigenen Land wolltest du ablassen von Täuschung und betrügerischen Worten, die dir lieb sind aus Herzensgrund …“ (Od. 13,287–295). Zunächst ist es freilich vor allem das Meer, mit dem Odysseus zu kämpfen hat, das Element seines Erzfeindes Poseidon. Es sind ganz besonders diese Szenen, die der Odyssee ihren „Salzwassergeruch“ verschafft haben: Über 200 Verse hinweg wird dem einsamen Floßfahrer alles abverlangt, bis er sich ans Ufer der Phäaken retten kann (Od. 5,292–493). Das Unwetter erfasst ihn, die Wogen spülen ihn vom Floß weit ins Meer, lange kommt er, von den Kleidern beschwert, nicht an die Oberfläche, endlich taucht er, das salzige Meerwasser ausspuckend, wieder auf, „aber er vergaß sein Floß nicht, sondern schwamm durch die Wellen hin, kroch hinauf und setzte sich in die Mitte, dem Tod war er zunächst entkommen“ (Od. 5,313–326). Eine der niederen Meeresgottheiten, die Nymphe Leukothea, erbarmt sich seiner im Tosen der Elemente, gibt ihm ihren Schleier und gute Ratschläge zur Rettung, doch der Vorsichtige zögert noch, weil er Land zu sehen glaubt. Da zerschmettert Poseidon mit einer noch gewaltigeren Woge sein Fahrzeug, auf einem Balken reitend treibt er zwei Tage und zwei Nächte umher. Schließlich ist wieder Land in Sicht, aber die Wellen werfen ihn an felsige Klippen, und er wäre zerschunden und zerfetzt worden ohne seine Besonnenheit, oder, in der Sicht Homers, wenn ihm nicht Athene immer wieder Ratschläge eingegeben hätte. Er klammert sich an das Riff, bis die Welle zurückgewichen ist, aber die nächste reißt ihn zurück ins offene Meer, und nun wäre er doch ertrunken, doch er schwimmt um die Felsen herum und entdeckt tatsächlich eine rettende Flussmündung. Der Flussgott erhört sein Gebet und lässt ihn an Land kommen, wo er erst einmal zusammenbricht. Endlich scheint er dem Tod durch Ertrinken entronnen, da droht ihm der durch Erfrieren, wenn er in seiner Erschöpfung am offenen Ufer schläft, oder der durch wilde Tiere, wenn er Schutz vor den Winden im nahen Wald sucht. Er wühlt sich ein Lager im Laub unter zwei wilden Ölbäumen, dort wird sein Lebenslicht bis zum Morgen bewahrt wie Glut unter der Asche, und Athene gießt ihm sofortigen Schlaf auf die Augen, zur Rekreation aus totaler Entkräftung.
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Der Held Odysseus bewährt sich hier als Mensch im Kampf mit der Natur, in der freundliche und feindliche Kräfte wirksam sind, verkörpert in der Nymphe, dem Flussgott und dem Herrn des Meeres. Seine geistigen Fähigkeiten und Einfälle sind Geschenke der Schutzgöttin Athene, mit der er fast zur Wesenseinheit verschmilzt, in größerer Götternähe als alle anderen homerischen Gestalten. In der Auseinandersetzung mit Personen sind dann besonders die intellektuellen Kräfte gefordert. Odysseus misstraut grundsätzlich jedem und bei jeder Gelegenheit, hinter allem argwöhnt er irgendeine Hinterlist. Er zögert gegenüber der Leukothea, und dem Vorschlag der Kalypso zum Floßbau unterstellt er eine hinterhältige Absicht: „Du hast doch sicher etwas anderes vor, als meine Heimfahrt zu ermöglichen? Erst musst du mir den großen Eid schwören, nichts Böses zu planen!“ Denselben Eid verlangt er dann auch, mit mehr Berechtigung und zusätzlich durch Hermes beraten, von der Zauberin Kirke (Od. 5,173–179; 10,342–344). Im Umgang mit dämonischen Frauen ist offensichtlich besondere Vorsicht geboten, Zurückhaltung sogar bei Nausikaa, Arete und Penelope. Dieser Vorsicht entspringen alle die Lügengeschichten des angeblichen Kreters mit der immer wieder abgewandelten Verschleierung der Fakten, seinen Gipfel erreicht der Erfindungsreichtum des Listigen jedoch, wenn er sich bei Polyphem als der „Niemand“ vorstellt: „Niemand ist mein Name, Niemand, so nennen mich alle, Mutter und Vater und alle Gefährten!“ (Od. 9,366f.), später auch Kyklop. Vorsicht und List dienen der Lebensrettung, aber auch die Sorge um Erhaltung des Besitzes ist keine Schande: Kaum haben ihn die Phäaken schlafend in Ithaka abgesetzt, da erwacht das Misstrauen: „Auf denn, ich will meine Wertsachen zählen und nachsehen, ob sie mir nichts davon entführt haben im Schiff, so sprach er, und zählte die Dreifußbecken, das Gold und die schönen Gewänder“ (Od. 13,215–218). Neben diesen hervorstechenden geistigen Eigenschaften versteht sich der Nachweis körperlichen Heldentums auch in der Odyssee fast von selbst. Bei den Phäaken glänzt Odysseus auch durch äußere Schönheit, er zeichnet sich aus im Sport, und der König hätte ihn gern als Schwiegersohn. Zu Hause in Ithaka demütigt er den großmäuligen Iros, vollbringt den Kraftakt des Bogenschusses und überwältigt die gewaltige Überzahl der Freier, nicht ohne den Beistand der Athene, denn es handelt sich ja um gerechte Bestrafung. In ganz besonderer Weise jedoch wird das Wesen dieses Helden definiert durch die Frauengestalten, mit denen ihn der Dichter zusammenbringt. Im Umgang mit ihnen kann er nicht nur seine Vorsicht, Zurückhaltung, Ehrerbietung und unerschütterliche Treue beweisen, die unterschiedlichen weiblichen Reaktionen reflektieren zugleich seine männliche Attraktivität. Die einsame Kalypso auf ihrer entlegenen Insel, die kein Mann je besucht, möchte ihn unbedingt für sich zurückhalten, sogar die Unsterblichkeit bietet sie ihm dafür an. Sehr viel aggressiver tritt die dämonische Kirke auf im Geschlechterkampf; sie pflegt die Männer in wilde Tiere und Schweine zu verwandeln, nur an Odysseus wird ihre Kunst zuschanden, seine Überlegenheit erst erregt ihre Begierde. Wie bei Kalypso, so erweist sich der Held auch ihr gegenüber nicht als Kostverächter, nach Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen besteigt er das Bett der Zauberin, und schließlich kann sie ihm ja anschließend auch von Nutzen sein. Kalypso und Kirke vertreten durchaus unterschiedliche Frauentypen, wer hier von „Du-
Vorsicht und Skepsis
Listigkeit und Erwerbstüchtigkeit
Schönheit und Kraft
Frauen um Odysseus
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Hekabe, Andromache und Helena
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bletten“ spricht, verfehlt das Phänomen. Beide Begegnungen dienen allerdings dazu, die körperliche Liebe zu relativieren, denn erst die zarte Zurückhaltung gegenüber der verliebten jungfräulichen Nausikaa und die unerschütterliche Sehnsucht nach der Gattin Penelope vervollständigen das Bild der Hauptfigur. Dennoch werden diese homerischen Frauengestalten nicht zu blassen Nebenfiguren. Durch ihr ganzes Verhalten, ihre Gesten und Reden gewinnen sie ein eigenständiges und individuelles Leben, das sich dem Leser unauslöschlich einprägt. „Nausikaa in göttlicher Schönheit trat an den Pfeiler der Halle, bewunderte den Odysseus mit den Blicken ihrer Augen und sagte: Alles Gute, Gastfreund und gedenke meiner auch zu Hause im Vaterland, denn zu allererst mir verdankst du die Rettung!“, und Odysseus kann das nur bestätigen (Od. 8,457–468). Diese wie zufällig eingeschobene knappe Abschiedsszene resümiert die ausführliche Begegnung der beiden im 6. und 7. Buch und klingt nach während der nachfolgenden Begebenheiten. Die Königin Penelope schließlich erscheint als gleichrangige Heldin, dem Partner durchaus gewachsen, umsichtig, misstrauisch, listig und treu, auch sie wird inspiriert durch Athene. Ihre raffinierten Einfälle im Umgang mit den Freiern, der Trick mit dem Webstuhl, das Entlocken der Geschenke, die Bogenprobe erregen die Empörung der Geprellten und die Bewunderung des Gatten gleichermaßen. Auch die Frauengestalten der Ilias sind von gleicher Würde und ebenbürtigem Rang, wenngleich durch den Krieg zu eher passiver Rolle gezwungen und mehr in den Hintergrund gedrängt. Im Schiffslager der Achäer fungieren sie notgedrungen als Kriegsgefangene, Edelsklavinnen wie die Priestertochter Chryseis und die Königsgattin Briseis, derentwegen die Pest bzw. der Streit der Könige ausbrechen. Zumindest Briseis erhält durch ihre Anhänglichkeit an Achill, der ihr Mann und Brüder getötet hat, und ihre Trauer um Patroklos durchaus auch individuelle Züge (Il. 1,348; 19,282–300; 24,676). Auf trojanischer Seite jedoch steigen aus der Zahl der Mütter, Gattinnen, Schwestern und Schwägerinnen drei Frauengestalten Homers zu solcher Bedeutung auf, dass sie später zu Heldinnen und Titelfiguren dreier Tragödien des Euripides wurden, Hekabe, Andromache und Helena. Hekabe hat als Gemahlin des Königs ihre Aufgaben im Kult. Sie führt die Bittprozession zum Tempel der Athena an und reicht dem zu Achill aufbrechenden Priamos den Becher zur Trankspende (Il. 6,286–311; 24,283–316). Vor allem aber ist sie die Heldenmutter schlechthin; sie beschwört den Hektor unter Entblößung der mütterlichen Brust, den Kampf mit Achill zu vermeiden, und sie ist auch die erste, die den toten Sohn betrauert und beweint (Il. 22,79–89; 405–407; 24,747–760). Die beiden Ehefrauen Andromache und Helena werden vom Dichter wie ihre Männer Hektor und Paris deutlich zueinander in Kontrast gesetzt. Die Begegnung von Hektor und Andromache am Skäischen Tor im 6. Buch ist eine der eindringlichsten „homerischen Szenen“, und auch Andromaches Reaktion auf Hektors Tod ist besonders lebensnah in Handlung umgesetzt. Ahnungslos bereitet sie ihm noch das Bad für die Rückkehr aus der Schlacht, erst das Geschrei vom Turm treibt sie aus dem Haus wie eine Rasende, sie erblickt die Schändung des Leichnams und stürzt ohnmächtig zu Boden, ihr glänzender Kopfputz, das Hochzeitsgeschenk der Liebesgöttin, wird weggeschleudert. Danach, und auch in der Totenklage des 24. Buchs bejammert sie mehr als ihr eigenes das künftige Schicksal des
Helden und Heldentum
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verwaisten Söhnchens (Il. 22,437–515; 24,723–760). Während Andromache also ganz liebende Frau und Mutter ist, erscheint ihre Schwägerin Helena eher als emanzipierte, schöne, reuige Sünderin, eine faszinierende Person, die alle in ihren Bann zieht und auch in der Odyssee noch mit zusätzlichen Details ausgestattet wird. Ihr wichtigster Auftritt in der Ilias ist der im 3. Buch, wo sie als die eigentliche Ursache des Krieges im Rahmen der Handlungsexposition in der Teichoskopie eingeführt und dann in den Auseinandersetzungen mit Aphrodite und Paris psychologisch interessant wird (Il. 3,121–448). Im 4. Buch der Odyssee, im Palast des rechtmäßigen Gatten, trägt sie durch ihr Auftreten und ihre Erzählungen weitere Einzelheiten bei zu dem Bild einer geheimnisvollen, zauberkundigen Göttertochter, einer Heroine, die später bei Sparta mit Menelaos ihr eigenes Heiligtum erhielt. Auch unter den weiblichen Hauptpersonen liefern also die von Homer weiter entwickelten Zentralfiguren des Mythos keine verbindlichen Heldengestalten, sondern facetten- und kontrastreiche Individuen. Dies gilt gleichermaßen für die übrigen Akteure. Auf den prominentesten unter ihnen, den Oberfeldherrn Agamemnon, ist aller äußere Glanz konzentriert. Er ist der Herr des goldreichen Mykene, besitzt das größte Gebiet um Argos und die meisten Schiffe, und das Symbol dafür, sein Herrscherzepter, stammt von Zeus persönlich. Im 11. Buch hat er eine eindrucksvolle Aristie als Speerkämpfer, eingeleitet von einer Rüstungsszene mit Waffen, die von schrecklichem Prunk nur so starren, „von seinen Speeren strahlte das Erz bis zum Himmel, und es donnerten dazu Athene und Hera, um den König des goldreichen Mykene zu ehren“ (Il. 11,15–46). Doch die Macht hat auch ihre Schattenseiten. Die Opposition im Heer, personalisiert in dem durch und durch negativen Thersites, hat dem Chef allerlei vorzuwerfen, Bereicherungsdrang und sexuelle Gier, Arroganz und Ehrgeiz, die das Volk ins Unglück stürzen. Der Aufruf zu Boykott und Meuterei wird zwar durch Odysseus abgeschmettert, aber es bleibt doch ein Zwielicht über Agamemnon, rein sachlich werden die Argumente des Aufrührers immer wieder bestätigt. Wegen zweier Sklavinnen hat er die Pest verursacht und den Achill beleidigt, immer wieder verfällt er in Depression und scheint zum Abzug zu raten, die Einsicht in seine Verblendung kommt rasch, bleibt aber halbherzig. Irgendwie scheint auch das klägliche und irgendwie unwürdige Ende des Völkerfürsten, die Ermordung durch Ägisthos, den Liebhaber seiner Frau, wie sie in der Odyssee immer wieder erwähnt wird, zu diesem Charakter zu passen. Dennoch weiß der Dichter auch hier die menschlichen Schwächen letztlich doch in ein stimmiges Gesamtbild zu integrieren. Spätestens bei den Wettspielen ist in der Ilias die Welt zwischen Achill und Agamemnon wieder im Gleichgewicht, der grundsätzliche Vorrang des Letzteren wird auch von Achill anerkannt: „Atride, wir wissen doch, wie sehr du allen voranstehst, an Macht sowohl wie beim Speerwurf“ (Il. 23,890). Als dritter hervorragender Heldentypus neben diesen beiden ist die unverwechselbare Gestalt des großen Ajas gezeichnet, „des weitaus Besten nach Achilleus“ (Il. 2,768). Anders als Agamemnon scheint er nicht so genuin mit dem ursprünglichen Personal der Trojasage verbunden zu sein; man hat sogar angenommen, er verdanke die Aufnahme in diesen erlauchten Kreis der Einflussnahme der Athener, die den Heros aus Salamis als einen der ihrigen betrachteten und gebührend gewürdigt sehen
Agamemnon – Glanz und Schwäche
158 Ajas – unerschütterlicher Hort der Achäer
Die beiden Ajas
Patroklos – Erfindung des Dichters?
Äneas – Zugeständnis an historischen Hintergrund?
Dichtung und Wirklichkeit
wollten. Als Kämpfer verkörpert Ajas durchweg den defensiven Typ, was schon in seinem Beinamen „Hort der Achäer“ und in seinem spezifischen Attribut, dem gewaltigen Turmschild, mythisch präformiert zu sein scheint. Diese vorgegebenen Grundelemente verwandelt der Dichter in Handlung und Charakter. Ajas ist es, der nach der Verwundung der übrigen Vorkämpfer im 11. Buch den achäischen Widerstand gegen Hektors Offensive organisiert. Nur zögernd weicht er zurück, wie ein Löwe vom Rindergehege, den Hunde und Bauern zu verjagen suchen, wie ein störrischer Esel im Saatfeld, den die Hütebuben mit vielen Prügeln kaum vertreiben können (Il. 11,485– 574). Den Fall der Mauer kann er noch eine Weile aufhalten, und beim Kampf um die Schiffe zeigt er seine eigentliche Aristie. Mit einer gewaltigen, zweiundzwanzig Ellen langen Schiffslanze springt er von Deck zu Deck wie ein Kunstreiter von Pferd zu Pferd, zwölf Gegner schlägt er nieder und kämpft weiter, bis ihm Hektor die Lanze kappt und das erste Schiff in Flammen steht (Il. 15,674–746; 16,101–123). Im Verzweiflungskampf um die Leiche des Patroklos vermag erst sein Stoßgebet zu Zeus den düsteren Nebel zu lichten, und schließlich ist er es auch, der den Toten aus dem Geschosshagel wegzutragen vermag (Il. 17,120–137; 628–650; 715–736). Wie auch sonst gelegentlich hilft ihm dabei sein „gleichgesinnter“ Namensvetter (homonymos), der „kleine“ Ajas aus Lokroi. Diese Heldenzweiheit, auch grammatisch durch Duale verbunden, mag aus der Aufspaltung einer alten Sagengestalt herrühren, doch im Epos wird das Paar scharf differenziert, bis hin zur Art ihres Todes: Der kleine ist auch der schnelle Ajas, aber sein Verhältnis zur Gottheit lässt zu wünschen übrig. Beim Wettlauf mit Odysseus lässt ihn Athene im Mist ausgleiten, und auf der Heimfahrt macht er sich bei Poseidon und Athene verhasst und ertrinkt jämmerlich (Il. 23,754–784; Od. 4,499–511). Der große Ajas unterliegt beim Streit um die Waffen des Achill und begeht Selbstmord, selbst in der Unterwelt grollt er noch in verletztem Ehrgefühl (Od. 11,543–564). Sein Grab an der troischen Küste (Od. 3,109f.) wurde wie das des Achill die ganze Antike hindurch als Heroon verehrt. Auch hier gehört die Art ihres Todes untrennbar zum Wesen der Helden, der Kult an ihren Gräbern mag in vielfältiger, teils ursächlicher, teils abgeleiteter Beziehung zu der Darstellung im Epos stehen. Die Rolle des Patroklos ist untrennbar mit dem Zorngeschehen der Ilias verbunden, der Dichter hat den älteren Freund des Achill mit deutlicher Zuwendung liebevoll verherrlicht. Dennoch ist es nicht zwingend, ihn als freie Erfindung ohne Verankerung im Mythos zu betrachten. Bei seiner ersten Erwähnung mit dem bloßen Vatersnamen „Menoitiade“ wird er als bekannt vorausgesetzt, und die Geschichte seiner Blutschuld, Aufnahme und Erziehung im Hause des Peleus dürft wohl kaum nur ad hoc fingiert sein (Il. 1,307; 23,83–90). Auf trojanischer Seite ist Äneas mit einem besonders aufwändigen mythischen Hintergrund ausgestattet. Er ist genealogisch fest in den Stammbaum des dardanisch-troischen Königshauses eingebaut, er ist ein Sohn der Liebesgöttin Aphrodite, deren Affäre mit Anchises im homerischen Hymnus ausführlich erzählt wird, und sein Geschlecht wird künftig über Troja herrschen (Il. 20,213–241; 307f.; Aphroditehymnus v. 45–201). Aus diesem Grunde kämpft er ruhmvoll gegen die stärksten Gegner, Diomedes und sogar Achill, muss aber immer durch göttliches Wirken gerettet
Helden und Heldentum
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werden. Das erste Mal scheitert zwar seine göttliche Mutter bei dem Versuch, doch der Heilgott Apollon entführt ihn in einer Wolke, und aus der drohenden Niederlage gegen Achill reißt ihn kein Geringerer als Poseidon, obwohl er doch eigentlich auf Seiten der Achäer steht (Il. 5,297–346; 20,318–340). So wie im Fall des Äneas Rücksichtnahme auf lokalpolitische Verhältnisse aus der Zeit des Dichters die Behandlung des Heros bestimmt, so mag auch die Aufnahme des Lykierfürsten Sarpedon in die vorderste Reihe der Trojakämpfer einen mythen- und zeitgeschichtlichen Hintergrund haben. Die Lykier sind die wichtigsten unabhängigen Bundesgenossen der Trojaner, ihre Anführer erfahren eine besondere Hervorhebung. Der ausführliche Mythenstammbaum im 6. Buch führt sie auf argivische Helden wie Sisyphos und Bellerophontes zurück und schlägt eine biographische Brücke zwischen Griechenland und Südkleinasien (Il. 6,145–211). Sarpedon und Glaukos sind Vettern, aber als Sohn des Zeus genießt Sarpedon den Vorrang. Er hat seine eindrucksvolle Aristie beim Sturm auf die Lagermauer (Il. 12,290–399) und wird zusätzlich episch ausgezeichnet durch einen ruhmvollen Tod im Kampf mit Patroklos, einen langen erbitterten Kampf um seine Leiche, sowie deren Einbalsamierung durch Apollon und Überführung ins Heimatland durch Schlaf und Tod (Hypnos und Thanatos). Dort soll er dann einen gebührenden Grabhügel mit Stele erhalten, auch dies wohl ein vorwegnehmender Hinweis auf einen real existierenden lykischen Kult (Il. 16,419–603). Zu den besonders herausragenden Vorkämpfern Trojas gesellen sich weitere scharf konturierte Akteure, die zwar nur episodisch in Erscheinung treten, aber dennoch für das Geschehen und die Hauptpersonen bedeutsam sind oder mit ihrem Einzelschicksal das düstere Ende der Stadt vorwegnehmen. Hektors Bruder Helenos, selbst auch ein tüchtiger Kämpfer, vermittelt als „bester der Vogelzeichendeuter“ und Seher den Kontakt zu den Göttern. So wie er im 6. Buch die Bittprozession zu Athene veranlasst, so belauscht er auch das Gespräch von Athene und Apollon, die in der Gestalt von Lämmergeiern auf der Eiche des Zeus sitzen, und teilt ihren Beschluss dem Bruder mit (Il. 6,76–101; 7,17–53). Während Helenos also für das Sakralwesen steht, fungiert Hektors Altersgenosse Polydamas als sein strategischer Berater und als Kontrastfigur. Die Abfolge der meist missachteten Polydamas-Warnungen durchzieht das Epos wie eine Schicksalslinie (Il 12,210–229; 13,725–747; 18,249–289): Gerade derjenige, der „als einziger Zukunft und Vergangenheit sieht“, wird von den Verantwortlichen nicht ernst genommen. Scheitern und Untergang im überschaubaren Kleinformat demonstrieren beispielhaft die Ereignisse um Asios und Lykaon. Asios, ein stolzer Bundesgenosse aus dem nahen Arisbe, gehört zu den Verächtern des Polydamas. Er will aus Ruhmsucht sein Gespann nicht am Graben zurücklassen, sondern er lenkt es im Galopp gegen das stark verteidigte Lagertor, ohne Erfolg. Im Nahkampf gegen den Kreterkönig Idomeneus, der gerade seine Aristie erlebt, ist ihm das Gefährt nur hinderlich, er verliert nicht nur Lenker und Pferde, sondern auch sein Leben: „Idomeneus kam ihm zuvor, er warf ihm den Speer in die Gurgel, unter dem Kinn, durch und durch, und er kippte um wie Eiche, Pappel oder Fichte, von Zimmerleuten gefällt im Gebirge, und lag da ausgestreckt vor Pferden und Wagen, brüllend, und krallte die Hand in den blutigen Staub“ (Il. 12,110–173; 13,384–401).
Sarpedon – politische Beziehungen?
Helenos und Polydamas
160 Asios und Lykaon
Eumaios, der göttliche Sauhirt
Eurykleia, die alte Schaffnerin
Dichtung und Wirklichkeit
Im Schicksal des Prinzen Lykaon, eines Priamossohnes, verfolgen wir die wechselhaften Verstrickungen eines Einzelnen in das Elend des Krieges, und dies in tragischer Verbindung mit Achill und seinem Zorn. In einer früheren Phase der Belagerung hatte ihn der Pelide als Knaben bei der Arbeit auf dem Felde überrascht, nach Lemnos gebracht und dort als Sklaven verkauft. Aus der Hand des Käufers befreit ihn ein Freund des Hauses von der Nachbarinsel Imbros mit schwerem Lösegeld und sendet ihn nach Arisbe am Hellespont, von wo aus er auf dem Landweg unbemerkt in den Palast des Vaters zurückkehren kann. Nur elf Tage kann er dort bei den Seinigen genießen, am zwölften gibt ihn ein Gott erneut in die Hand des Achill, und jetzt nützt alles Flehen nichts mehr, er hört eine unbarmherzige Stimme: „Stirb, mein Lieber, auch du. Gestorben ist auch Patroklos, der dir doch weit überlegen war, und mir selbst ist der Tod schon nahe!“ (Il. 21,34–135). In diesen hundert Versen steckt eine präzis dokumentierte Kurzgeschichte mit detaillierten Namens-, Orts- und Zeitangaben, sozusagen ein Lykaon-Epos in nuce. Für das Achilleus-Epos leistet die Episode zweierlei: Kompositorisch gesehen löst der grauenvoll geschilderte Tod des Lykaon in den Fluten die Empörung des Flussgottes und damit letztlich den Götterkampf aus, stimmungsmäßig trägt er bei zur Charakterstudie des seinerseits todgeweihten Achill selbst. Auch in der Odyssee treffen wir das Phänomen der Aufwertung von Nebenfiguren. Der „göttliche Sauhirt“ Eumaios als besonders auffälliges Beispiel hat die Leser immer ganz besonders interessiert. Wie Patroklos in der Ilias genießt er die besondere Zuneigung des Dichters. Er wird schließlich zum wichtigsten Handlungspartner des Odysseus, mehr noch als der Sohn Telemachos, der allerdings als Hauptfigur eines förmlichen Erziehungsromans mehr Raum im Epos einnimmt. Eumaios erwirbt diesen Anspruch einerseits durch eine achtunggebietende und spannende Biographie, andererseits durch seine Zuverlässigkeit und unerschütterliche Treue zum abwesenden Herrn. Auf die zusammenfabulierten Erzählungen, mit denen sich der Fremde im 14. Buch eingeführt hatte, antwortet der Sklave im 15. Buch mit einem detaillierten Tatsachenbericht über seine eigenen Schicksale. Als Sohn eines reichen Königs hatte er eine eigene Kinderfrau, die von einem phönikischen Kaufmann verführt wurde. Daraus entwickelt sich eine förmliche Kriminalgeschichte, die darauf hinausläuft, dass das Weib mit drei kostbaren Trinkbechern und ihrem Schutzbefohlenen als Beute heimlich davonläuft, aber auf dem Schiff schon nach einer Woche verstirbt. Auf Ithaka wird der Kleine dann von Laertes käuflich erworben, von dessen Frau mit der eigenen Tochter erzogen und bis zu ihrem Tod gut gehalten, leidet dann jedoch als pflichtbewusster Verwalter unter den eingerissenen Missständen (Od. 15,359–484). Das weibliche Gegenstück zu Eumaios ist die „Schaffnerin“ Eurykleia. Auch sie hat eine Vorgeschichte und eine kleine Aristie, eine dramatische Szene der Bewährung, ganz wie eine Hauptperson. Als Person eingeführt wird sie mit einigen Hintergrundinformationen schon im 1. Buch. Mit zwei Fackeln in der Hand leuchtet sie dem Telemachos in sein Schlafgemach, „Eurykleia, die Tochter des Peisenoriden Ops, die einst Laertes gekauft hatte für sein Geld, im zarten Jungfrauenalter, Wert von zwanzig Rindern gab er für sie, und ehrte sie gleichermaßen im Haus wie seine liebe
Helden und Heldentum
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Gemahlin, doch im Bett vereinigte er sich nicht mit ihr, um den Zorn seiner Frau zu vermeiden, die also trug ihm die leuchtenden Fackeln, denn sie liebte ihn am meisten von allen Dienerinnen, und hatte ihn aufgepäppelt von Kindesbeinen an“ (Od. 1,428–435). Mit wenigen Strichen ist Eurykleia damit umrissen als hochgeschätzte Person mit weit zurückreichender Erfahrung im Hause. Diese ist Voraussetzung für die große Entdeckungsszene im 19. Buch, denn höchstens eine alte, sorgsame Greisin, die so viel schon mitgemacht hat, wie er selbst, soll dem unerkannten Odysseus die Füße waschen dürfen – und gerade sie wird dann ihren Herrn an der Ebernarbe erkennen. Die in fast 200 Versen effektvoll zelebrierte „Fußwaschung“ erhebt dann das „liebe Mütterchen“ zur weiblichen Hauptfigur neben Penelope (Od. 19,317–507). Von dieser Tendenz des Epos zur Erhöhung aller seiner Gestalten auf heroisches Niveau können sogar Tiere erfasst werden, wobei dieselben Kunstmittel eingesetzt werden. Die Pferde des Achill erstarren wie eine Bildsäule bei der Nachricht vom Tod ihres Lenkers Patroklos, mit gesenkten Köpfen vergießen sie heiße Tränen, und selbst Zeus erbarmt sich ihrer Teilhabe am menschlichen Leid. Als Achill sie später heftig beschimpft, dass sie den Freund im Stich gelassen hätten, verleiht Hera Xanthos, dem „Falben“, menschliche Stimme, so dass er die Beschuldigung zurückweisen und dem Helden den baldigen Tod vorhersagen kann, bis die Erinyen die fatale Rede unterbinden (Il. 17,426–445; 19,399–424). Wenn hier szenische Schilderung, Wechselrede und göttliches Eingreifen die entsprechende Wirkung erzielen, so wird in einem anderen Fall zurückhaltender mit dem Mittel der Stimmungsmalerei und Zeugenreaktion gearbeitet. Zum kleinsten stummen Helden der Odyssee wird unversehens der uralte Jagdhund Argos, der „Flinke“. Dazu genügt eine einzige eindringliche Szene: Odysseus und Eumaios nähern sich im Gespräch dem Eingang des Palastkomplexes, „da hob ein Hund den Kopf und spitzte die Ohren, der lag da auf einem Haufen Rinder- und Eselsmist, voll mit Läusen. Jetzt aber, als er merkte, dass Odysseus nahe war, da versuchte er mit dem Schwanz zu wedeln und ließ beide Ohren wieder sinken, doch zu seinem Herrn hinzugehen vermochte er nicht mehr. Der aber sah zur Seite und wischte sich eine Träne ab, doch so, dass Eumaios nichts merkte …“ Auf Nachfrage erfährt der angeblich Fremde vom Schweinehirten Einzelheiten über des Hundes trauriges Schicksal während seiner langen Abwesenheit, dann betritt man das Haus und das Megaron, „den Argos aber ergriff das Los des finsteren Todes, kaum dass Odysseus er wieder sah im zwanzigsten Jahr“ – mit diesem lakonischen Schlusswort bricht die Szene abrupt ab, und die lärmenden Freier beherrschen das Feld (Od. 17,290–327). Angesichts eines solchen weitgespannten Panoramas „homerischer Heldengestalten“ mit all ihrer Differenziertheit und inneren Problematik, ja Widersprüchlichkeit, lassen sich viele gängige Vorurteile nicht aufrechterhalten. Auch mythisch überhöhte Wesen beziehen wie historische Persönlichkeiten ihre Glaubhaftigkeit aus der Vieldeutigkeit ihrer Erscheinung. „Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“, sagt Schiller von Wallenstein, den er mit seiner Kunst dem Publikum menschlich näher bringen möchte. Auch die Rezeptionsgeschichte von Achill und Odysseus, von Penelope und Helena zeigt ein Auf und Ab. Aus menschlich nachvollziehbaren Charakteren werden oft bloße Klischees: Helden
Die weinenden Pferde
Der sterbende Hund
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Dichtung und Wirklichkeit
sollen Vorbilder sein, zu denen man aufsieht, oder sie gehen in ihrer Penetranz so auf die Nerven, dass man sie zu entlarven sucht. So kommt es zu tendenziöser Vereinfachung bis hin zu völliger Entstellung, zur Heroisierung, Trivialisierung, Karikierung der Heroen, zur Reduktion auf griffige Schlagworte und Chiffren. Odysseus wurde schon in der griechischen Tragödie zum gewissenlosen Intriganten, der alte Nestor erhielt neuerdings ein weibliches Pendant in der „Nestorin der sowjetischen Frauenliteratur“, und ein Politiker, der 1945 durch Selbstmord endete, stellte schon 1923 das Ideal auf, „Lieber ein toter Achill, als ein lebender Hund“.
Sportlicher Wettkampf Heldische Bewährung im Sport
Sportliche Disziplinen
Gesellschaftlicher Ort des Sports
Die durchgehende Realitäts- und Lebensnähe der epischen Dichtung bezieht auch den sportlichen Agon mit ein: „Immer der Beste zu sein und die anderen zu übertreffen“. Mit diesem Auftrag hatte der Lyderkönig Hippolochos seinen Sohn Glaukos nach Troja entsandt, wie auch Peleus seinen Sohn Achilleus (Il. 6,208; 11,784). „Der Beste sein“, aristeuein, ist das Ideal einer Leistungsaristokratie. Sie erweist sich nicht nur im kriegerischen Kampf, sondern auch in sportlichen Leistungen. Das Heer benützt die Freizeit zu sportlichen Übungen (Il. 2,773–775); ein überragender Held übertrifft die anderen auch im friedlichen Wettkampf, und zwar gewöhnlich in den Disziplinen und mit den Mitteln, die seinem Charakter besonders angemessen sind. Dabei zählt nur der direkte Vergleich, nicht der messbare Rekord. Das 23. Buch der Ilias, in dem die Wettkämpfe anlässlich der Bestattungszeremonien des Patroklos geschildert werden, zeigt die wichtigsten griechischen Helden auch von dieser Seite. Die dramatischen Reportagen von den acht Wettbewerben dieser Spiele, vom Wagenrennen (262–652, 490 Verse), Boxkampf (653–699, 47 Verse), Ringkampf (700– 739, 40 Verse), Wettlauf (740–797, 58 Verse), Waffenkampf (798–825, 28 Verse), Diskuswurf (826–849, 24 Verse), Bogenschießen (850–883, 34 Verse) und Speerwurf (884–896, 13 Verse), wurden den Griechen für über tausend Jahre zum Urbild und Lehrbuch für alle derartigen Veranstaltungen in Olympia, Delphi und an den anderen sakralen Wettkampfstätten. Während also in der Ilias der Sport vor allem im Rahmen eines Totenrituals seinen Platz hat, findet er sich in der Odyssee im mehr gesellschaftlichen Zusammenhang. Odysseus erweist seine heldische Vollkommenheit (arete¯) anlässlich des musisch-sportlichen Rahmenprogramms von Gastmählern (Od. 8,100–253; 4,625–627; 18,25–123) in Scheria und Ithaka. Die Phäaken rühmen sich besonderer Leistungen in Faustkampf, Ringen, Sprung und Wettlauf; nach dem Lauf (Od. 8,120–125), Ringen (8,126f.), Sprung (8,128), Diskuswurf (8,129) und Faustkampf (8,130) beweist auch der unerkannte Odysseus seine Fähigkeiten durch einen überragenden Diskuswurf (8,186–200), verweigert sich nicht zum Wettkampf in Boxen, Ringen und Wettlauf (8,206) und rühmt sich seiner Überlegenheit im Bogenschießen (8,215–228) und Speerwurf (8,229). Das burleske Gegenstück zu diesen Sportspielen der adligen phäakischen Jugend findet sich im 18. Buch: Wiederum zeigt sich die heldische Natur des unerkannten
Sportlicher Wettkampf
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Odysseus im Wettkampf, diesmal im Faustkampf mit dem prahlerischen Bettler Iros. Wie bei den offiziellen Wettkämpfen zu Ehren des toten Patroklos wird dabei ein Kampfpreis ausgesetzt, während die Wettspiele bei den Phäaken nur um die bloße Ehre gehen: Achill setzt „Schalen und Dreifüße, Pferde, Maultiere und Rinder, sowie Sklavinnen und Roheisen“ für die Sieger aus (Il. 23,259–261), die übermütigen Freier im Haus des Odysseus versprechen dem siegreichen Bettler eine fette Magenwurst als Preis und erhoffen für sich selbst ein possierliches Schauspiel (Od. 18,46f.). Weniger amüsant endet dann freilich der Bogenwettkampf der Freier im 21. und 22. Buch … Vom Wettkampf der Könige über den sportlichen Zeitvertreib der adligen Jugend bis zur Schlägerei des Bettlerpacks beobachtet das Epos das Phänomen des Sports auf den verschiedenen Stufen der Gesellschaft. Wir werden dabei sachlich über das Teilnehmerfeld, die unterschiedlichen Disziplinen, die jeweils gültigen Regeln, die Stufung und Wertschätzung der Kampfpreise informiert. Die Reaktionen des Publikums vermitteln zugleich einen Eindruck von der gesellschaftlichen Würdigung und Verankerung des Sports in der Öffentlichkeit. Außerdem erfüllen diese Reportagen ihre ganz spezifischen erzählerischen Funktionen im Gesamtkosmos der Dichtung: Sie vermitteln Dramatik und Spannung, Leidenschaft und Heiterkeit, entfalten die Charaktere der Protagonisten im Umgang miteinander und mit den Göttern, und sie liefern Elemente zur Imagination der Handlungsszenerie. Das Wagenrennen war und blieb stets der vornehmste Wettkampf der Griechen. Seine Schilderung nimmt daher mehr als dreifachen Raum ein gegenüber den sieben anderen Wettbewerben. Die bereits in der Heerschau des zweiten Buches vorgestellten hervorragenden Pferde und der beste Kämpfer (Il. 2,761–779) sind natürlich Favoriten, auch im Sport: Die Stuten des Thessaliers Eumelos, von Apollon selbst gezüchtet, waren dort als die besten Pferde, der Telamonier Ajas als der größte Held genannt – jeweils nach dem zürnenden Achill und seinem Gespann. Dessen unsterbliche, vom Pferdegott Poseidon selbst dem Vater Peleus geschenkten Pferde waren bereits während der „Patroklie“ in Aktion gezeigt worden (Il. 16,148–154; 380–382; 467–475; 866f.; 17,426–490; 19,392–420); Achill selbst betont jetzt nochmals ihre konkurrenzlose Überlegenheit (Il. 23,274–284), als Veranstalter enthält er sich der Teilnahme. Dann aber können auch neue Fakten aus den vorausgehenden Ereignissen aufgegriffen und in das Renngeschehen eingebaut werden: Diomedes war durch seine Aristie im 5. Buch in die erste Reihe der Helden vorgerückt und hatte durch den Sieg über Äneas dessen Gespann aus der von Zeus selbst stammenden Zucht der trojanischen Könige Tros und Laomedon erbeutet (Il. 5,263–273; 323–327). Mit diesem zählt er jetzt zum engsten Favoritenkreis; von dem Schimmelgespann des Thrakerkönigs Rhesos, das Diomedes mit Odysseus zusammen danach noch entführt hatte (Il. 10,435–438; 545; 551), ist bezeichnenderweise nicht die Rede: Die Episode des 10. Buches, die sog. „Dolonie“, erweist sich auch hier als nur locker in das Erzählganze eingebunden. Neben die zwei Protagonisten, Eumelos und Diomedes, stellt der Dichter in seiner Startvorschau die zweitrangigen Bewerber und die Außenseiter. Menelaos tritt an mit einem ungleichen Gespann, einer Stute seines Bruders Agamemnon aus trojanischer Zucht, mit der sich Echepolos („der Pferdehalter“), ein im griechischen Sikyon
Wagenrennen
Startvorschau
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Auslosung
Rennverlauf
Siegerehrung
Dichtung und Wirklichkeit
ansässiger Bruder des Äneas, vom Kriegszug nach Troja losgekauft hatte (Il. 23,295– 300), und seinem eigenen Hengst Podargos („Schnellfuß“, gleichnamig, aber wohl nicht identisch mit einem Pferd Hektors, Il. 8,185). Die Pferde des Nestorsohnes Antilochos werden von dem rossekundigen Vater als die langsamsten eingestuft (Il. 23,309f.), die des Kreters Meriones sind nur als „ferner liefen“ genannt und haben dann auch mit dem Ausgang des Rennens nichts zu tun (Il. 23,351; 614f.). Achill als Organisator bestimmt auch die Spielregeln, als Gewinne für die fünf Starter sind ausgesetzt: eine hochqualifizierte Sklavin und ein gewaltiger Dreifußkessel als erster, eine trächtige Stute als zweiter Preis, dann ein Bronzebecken, zwei Goldtalente und eine doppelhenklige Schale für die Plätze drei bis fünf; keiner soll leer ausgehen. Das Los bestimmt die jeweilige Startposition, wobei das langsamste Gespann den ersten Platz, der beste Lenker, Diomedes, den letzten erhält; das weit entfernte Ziel wird angezeigt, der ehrwürdige Phönix als unparteiischer Kampfrichter daneben gesetzt. Peitschenklang, anfeuernde Rufe, wehende Mähnen und wirbelnder Staub beschreiben die Stimmung – doch spannend wird das Rennen angesichts der Wendemarke: Die Favoriten gehen an die Spitze, es führt Eumelos, dicht gefolgt von Diomedes; der hätte überholen können, doch Apollon schlägt ihm den Treibstachel aus der Hand. Athene jedoch gibt ihn ihrem Schützling Diomedes zurück und zerbricht dem Eumelos das Joch, so dass er vom Wagen stürzt – Rennunfälle erscheinen also als Gunst und Ungunst einzelner Gottheiten. Während Diomedes dem Sieg entgegenstürmt, versucht der junge Antilochos, eingedenk der Ratschläge seines Vaters, seine langsamen Pferde durch Anfeuerung zu motivieren und den an zweiter Stelle liegenden Menelaos auszutricksen. An einer Engstelle drängt er ihn durch ein gefährliches Überholmanöver zur Seite und bremst ihn aus, nur mühsam kann der Erboste wieder aufholen. Am Ziel jedoch geraten inzwischen die fachmännischen Zuschauer auf ihren Rängen in Streit über den Stand des Rennens. Der Kreter Idomeneus glaubt von seinem hohen Sitz aus das Gespann des neuen Spitzenreiters Diomedes zu erkennen, doch der lokrische Ajas widerspricht und beschimpft ihn, Idomeneus bietet eine Wette an, Achill selbst muss schlichten, bis der Einlauf beweist: Diomedes ist Sieger! Weib und Dreifuß gehören ihm. Als zweiter vor Menelaos geht der listige Antilochos ins Ziel, um Haaresbreite seinen Vorsprung wahrend, der ursprünglich die Weite eines Diskuswurfs betrug. Weit abgeschlagen, um eine Speerwurfweite, kommt schließlich Meriones als Vierter, der schwächste Lenker mit dem langsamsten Gespann, und als Allerletzter der gestürzte Favorit, Eumelos, den Wagen schleppend und die Pferde treibend, ein mitleiderregender Anblick. Achill handelt ganz im Sinne der Zuschauer, als er ihm den zweiten Preis zuteilen will, doch der temperamentvolle Antilochos protestiert. Eumelos erhält also einen prachtvollen Beutepanzer als Trostpreis, der Anspruch des Antilochos jedoch wird zuschanden, als ihn Menelaos erbost zum Offenbarungseid und Eingeständnis seines unfairen Betrugsmanövers zwingt. Antilochos sieht seinen jugendlichen Übermut ein, Menelaos wird dadurch besänftigt, überlässt ihm die Stute und begnügt sich mit dem Becken. Meriones erhält den regulären vierten Preis, die zwei
Sportlicher Wettkampf
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Goldtalente, und den übrigen fünften, die Henkelschale, überreicht Achill als Ehrengabe zum Gedenken an die Patroklos-Spiele dem alten Nestor, der sich mit einer Rede der Erinnerung an die sportlichen Glanztaten seiner Jugend bedankt. Favoritensturz und Sieg des Jungheros und Götterlieblings, Tricks und Einsicht des jugendlichen Heißsporns, gelassene Großmut des Königs, Ehrerbietung gegen das verdienstreiche Alter, leidenschaftliches Mitfiebern der Zuschauer: Das sind die Elemente im Wettkampf der hervorragenden Pferdehalter und Lenker, die noch identisch sind – Besitz und Leistung gehören zusammen, während später der Fahrer zum Angestellten des Rennstallbesitzers wird. Ganz anders der anschließende Boxkampf: Selbstbewusst greift der anerkannte Champion, Epeios, Sohn des Panopeus, nach dem Siegespreis, einer Maultierstute. „Zwar bin ich kein hervorragender Krieger, aber im Faustkampf bin ich der Größte, jedem Gegner zerschlage ich alle Knochen, die Leichenbestatter können gleich dableiben …“ (Il. 23,669–675). Ausdrücklich betont er, dass einer nicht alle Werke verstehen kann; er ist kräftig und geübt als Zimmermann, der mit Athenas Hilfe später das Holzbalkenpferd zur Eroberung Trojas bauen wird (Od. 8,493). Nach längerem betretenem Schweigen findet sich schließlich doch noch ein Gegner, der auch umgehend bewusstlos geschlagen wird und sich mit einem Doppelbecher als Trostpreis begnügen muss. Grundsätzlich erhält jeder Starter einen Preis, ob es fünf sind, wie beim Wagenrennen, drei beim Wettlauf, oder je ein Kämpferpaar im Boxen, Ringen, Waffenkampf und Bogenschießen. Kampfpreise und Kampfregeln erscheinen je nach Disziplin wohl abgestuft: Dreifußkessel und Sklavin für den vornehmsten Sieg mit dem Wagen, im Ringen nur Dreifuß für den Sieger, Sklavin für den Verlierer. Eine Ausnahme macht der Diskuswurf: Für die vier Teilnehmer ist nur ein Siegespreis ausgesetzt, und zwar ist es hier das Sportgerät selbst, die gewaltige Eisenscheibe, ein Beutestück des Achill, die zugleich als Rohmetallvorrat dienen kann (Il. 23,826–835). Während es sich hier um eine Art Gusskuchen oder Barren handeln mag, bestehen die Preise für die Bogenschützen ebenfalls aus kostbarem Eisen, allerdings wohl Halbfabrikate oder Handelsware, nämlich je zehn doppelte und zehn einfache („halbe“) Äxte. Äxte beim Bogenwettkampf – das erinnert natürlich sogleich an jene zwölf eisernen Äxte, die Penelope mit dem Bogen ihres Mannes aus der Schatzkammer holt (Od. 21,3; 61f.; 76; 120–123). Dort dienen die aufgereihten Äxte als Ziel für einen Kunstschuss, nicht eine Taube wie in der Ilias, und der Siegespreis für die Freier ist die umworbene Herrin selbst, nicht die Äxte. Aus dem eher märchenhaft anmutenden Wettbewerb um die schöne Braut, in dem die Freier schmählich versagen, wird jedoch unversehens blutiger Ernst. Kaum hat der unerkannte Fremdling den Bogen in Händen, so vollführt er nicht nur den Meisterschuss durch die Stielschlaufen der Äxte, sondern er kehrt die Waffe sogleich gegen die Freier. „Dieser harmlose Wettkampf wäre geschafft – jetzt aber wähle ich ein einzigartiges Ziel …“, und schießt dem weintrinkenden Anführer Antinoos durch die Gurgel (Od. 22,5–16). Deutlich wird auch hier der bunte Inhalt einer homerischen Schatzkammer, wo neben „Erz, Gold und Eisen“ (Od. 21,10) die früher erworbenen Prunkstücke (keime¯lia, die „Zimelien“) des Hausherrn aufbewahrt sind. Diese können dann auch im Feldlager vor Ilios als Kampfpreise hervorgeholt und weitergegeben werden, wie
Boxkampf
Diskuswurf
Bogenschießen
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Wettlauf
Ringkampf
Teilnehmerbilanz
Regelwerk
Dichtung und Wirklichkeit
der prachtvolle phönikische Silberkrug aus dem Nachlass des Patroklos, den Odysseus als Sieger im Wettlauf gewinnt (Il. 23,740–749). Odysseus triumphiert hier als „Frischgreis“ (o¯mogero¯n) über die jugendlichen Mitbewerber, Antilochos und den schnellen Ajas, nicht zuletzt durch die Gunst seiner Helferin Athene. Die stärkt ihm die Glieder und lässt den vorne liegenden Ajas im Mist der Opferrinder ausgleiten, so dass er sich, Mund und Nase voll Kuhmist, mit dem zweiten Preis, einem fetten Stier, begnügen muss. Den Mist ausspuckend seufzt er, „Da hat mir die Göttin die Füße geschädigt, die dem Odysseus stets wie eine Mutter beisteht und hilft!“ (Il. 23,782f.), unter dem heiteren Gelächter der Zuschauer. Seine Vielgewandtheit erweist Odysseus jedoch auch in der Schwerathletik, wenn er im Ringkampf gegen den großen Ajas ein ehrenvolles Unentschieden herausholt. Den kann er zwar nicht hochheben, doch durch einen Kunstgriff bringt er ihn zu Fall (Il. 23,725–728). Odysseus erringt also einen Sieg und ein Unentschieden. Er ist schnell, gewandt und hinreichend kräftig und zählt damit zu den hervorragenden Wettkampfteilnehmern. Von den insgesamt 14 Athleten treten zwei in je drei, vier in zwei und acht in nur einer Disziplin an. Der große, kräftige, bedächtige Ajas startet dreimal und erringt zwei Unentschieden sowie einen zweiten Platz, im Ringen, Waffenkampf und Diskuswurf; der Kreter Meriones bestreitet ebenfalls drei Wettkämpfe mit einem Sieg, einem vierten und einem kampflos erreichten zweiten Platz im Bogenschießen, Wagenrennen und Speerwurf. Doppelstarter sind neben Odysseus noch Diomedes, Sieger im Wagenrennen und letztlich auch im abgebrochenen Waffenkampf mit Ajas, der starke Epeios, der im Boxkampf siegt, doch mit dem Diskus sich blamiert, und der junge Nestorsohn Antilochos, der sich den zweiten Platz im Wagenrennen erschwindelt, mit dem zweiten Platz im Lauf hinter Odysseus jedoch zufrieden ist. Die prominentesten Teilnehmer in nur einer Disziplin sind die Atridenbrüder Agamemnon und Menelaos; die Würde des Oberfeldherrn verlangt es, dass ihm kampflos der Preis im Speerwerfen zuerkannt wird, was durchaus seiner Glanzleistung im Speerkampf des 11. Buches (Il. 11,91–283) entspricht. Menelaos wird im Wagenrennen nur knapp um den zweiten Platz geprellt. Die eigentlichen Favoriten im Wettlauf und Bogenschießen, der schnelle Ajas und der im Bogenkampf bereits hervorgetretene Teukros (Il. 8,266f.; 322–329; 12,350; 13,313f.), scheitern gegen Odysseus und Meriones wegen Nichtachtung des göttlichen Beistandes. Neben diesen Akteuren aus der ersten Reihe tauchen auch Helden zweiter Ordnung bei den Wettkämpfen auf, als überragender Sieger wie Polypoites im Diskuswurf, als verhinderter Sieger wie Eumelos beim Wagenrennen, als Verlierer wie Euryalos im Boxen oder Leonteus im Diskuswurf. Weitere Hauptpersonen der Iliashandlung werden am Rande der Wettkämpfe mit einbezogen, der allen überlegene Achill als Ausrichter, die altehrwürdigen Könige Nestor und Idomeneus sowie der greise Phönix als Berater und Ehrenpreisträger, als fachkundiger Zuschauer und als Schiedsrichter, dazu kommen Funktionsträger wie der Herold Talthybios, der Wagenlenker Sthenelos oder der Pferdeknecht Noemon. Das kriegerische Szenario der Ilias erfährt im 23. Buch also eine Ergänzung und Abrundung in der Sphäre des friedlichen Wettkampfs, die in der bisherigen Hand-
Sportlicher Wettkampf
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lung angelegte Charakterschilderung gewinnt eine Vertiefung im sportlichen Geschehen. Dieses selbst wird auch in seinen sachlichen Bedingungen und Grundregeln deutlich: Da gibt es Disziplinen mit mehreren Teilnehmern, wie das Wagenrennen mit fünf, den Diskuswurf mit vier, den Wettlauf mit drei Startern, während sonst jeweils ein Paar gegeneinander antritt. Die Qualifikation ist vorgegeben, durch Selbsteinschätzung und frühere Leistung: Man erhebt sich zum Wettkampf als Favorit oder Herausforderer und meldet damit seinen Anspruch an, in dem man Erfolg hat oder scheitert. Beim Wagenrennen und Bogenschießen ist eine Auslosung der Startpositionen, bzw. der Berechtigung zum ersten Schuss nötig, um Chancengleichheit zu gewähren. Beim Lauf stellt man sich in Startreihe auf an der nyssa, die als Start und Ziel dient, während das terma als Wendemarke das Ende der Laufbahn bezeichnet. Ein ähnliches Wendezeichen, freilich in weiter Entfernung landeinwärts, in Linkskurve zu umfahren und von den Zuschauern nicht mehr erkennbar, erfordert auch das Wagenrennen, das durch ausgewaschene Hohlstellen in der Bahn noch zusätzlich erschwert wird. Während hier ein Großteil der Ebene in den Schauplatz mit einbezogen ist, findet das Bogenschießen, für das speziell ein Schiffsmast errichtet wird, auf dem Sandstrand statt (Il. 23,852f.). Dort hatten auch im 2. Buch schon die Übungen stattgefunden, möglicherweise spielen sich hier auch die übrigen Wettkämpfe ab, für die ein Zuschauerbezirk (ago¯n) eingerichtet ist mit erhöhten Sitzplätzen für den Ausblick zum Wagenrennen (Il. 23,451–458). Sinnvollerweise liegt dieser Ort beim Grabhügel des toten Patroklos, zu dessen Ehren die Kämpfe ja stattfinden; der Hügel wird direkt an der Küste (Il. 23,125) und weithin vom Meer aus sichtbar aufgeschüttet (Od. 24,80–84). Immer wieder beleben die Reaktionen der Zuschauer die Schilderung. Das Publikum zankt und streitet fachmännisch, langweilt und ängstigt sich, lacht amüsiert oder schadenfroh, begleitet die Leistungen mit Lärm und lautem Beifall. Der Veranstalter muss Streit schlichten und den Kampf abbrechen, diplomatisch vermitteln, Trostpreise verteilen und Honoratioren beehren. Die bunte Reihe der Kampfpreise schließlich führt all das vor, was dem homerischen Menschen wertvoll war und Ansehen brachte, im Wert sorgsam abgestuft nach dem Rang der Disziplin und der sportlichen Einzelleistung. Da gibt es Prunkgefäße und Beutewaffen, Sklavinnen und Nutztiere, Goldtalente, Halbfabrikate und Rohbarren, in der Regel erhält jeder Teilnehmer einen Preis, vor allem in den Zweikämpfen: Schließlich sind es ja nur qualifizierte Bewerber, die zu einem Wettbewerb antreten, ihr Engagement wird auf jeden Fall belohnt. Alles in allem liefern die sportlichen Wettkämpfe also eine Palette zusätzlicher Farben und Schattierungen aus dem zivilen Bereich für das Gesamtbild des Epos und seiner Menschen. Zugleich tragen sie bei zu dem fesselnden, sachlich informierenden und normativ vorbildhaften Charakter der homerischen Dichtung, der stets ihre besondere Wirkung ausgemacht hat.
Schauplatz
Zuschauer
Prestige
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Dichtung und Wirklichkeit
Homerische Psychologie Seelische Kräfte
Psyche und Thymos
Psychosomatische Affinität
Seelenleben der Protagonisten
Im Bemühen um ein systematisches Verständnis der menschlichen Gefühlsäußerungen, Reaktionen und Handlungsmotive bei Homer hat man sich vor allem um die in diesem Zusammenhang genannten seelischen Kräfte oder Organe gekümmert. Dabei hatte sich immer schon gezeigt, dass mit Vokabeln wie noos, phre¯n, thymos u.a. kein fester Begriff verbunden ist, den man in der Übersetzung immer mit einem und demselben deutschen Wort wiedergeben könnte oder müsste, etwa „Verstand“, „Empfindung“, „Aufwallung“. Zwar tendiert der jeweilige Bedeutungsgehalt in eine solche Richtung, aber im konkreten Sprachgebrauch zeigen sich so viele Überschneidungen und widersprüchliche Affinitäten, dass man sich davor hüten muss, hier etwa Seelenteile im Sinne einer platonischen Dreiteilung („Verstand, Gefühl, Begierde“) erkennen zu wollen. Dass die psyche¯ erst beim Tod des Menschen in eher schattenhafte Erscheinung tritt und also nur sehr wenig mit der späteren Vorstellung von „Seele“ als eigentlichem Selbst des Menschen zusammengebracht werden kann, ist immer schon deutlich geworden. In der Teilbedeutung „Lebenshauch“ kann sich psyche¯ auch mit thymos berühren, das dann mit „Lebensdrang“ wiedergegeben werden könnte, wobei mehr eine Kraft des lebenden Menschen gemeint ist. Wie eng benachbart wiederum thymos und phre¯n in ihrer Aussage nebeneinander stehen, zeigt die häufig verwandte Formel hormainein kata phrena kai kata thymon, „hin- und herbewegen in seinem Sinn und Gemüte“ (z.B. Il. 1,193; 11,411; Od. 5,365; 424 u.a.). Wendungen wie diese zeigen, dass die Umschreibung oder besser Abtastung eines vielfältigen Sachverhalts mit zwei oder mehreren Begriffen nicht etwa nur eine stilistisch-rhetorische Kunstform (hen dia dyoin, „eines durch zwei“), sondern ein sprachliches Werkzeug der Wirklichkeitserfassung ist. Damit sehen wir uns wiederum auf die empirische Beobachtung der dichterischen Textaussage verwiesen, wie es dem Leser von Ilias und Odyssee ohnehin nahe gelegt ist. Die seelischen Kräfte und Regungen zeigen dabei gewisse Affinitäten zu körperlichen Organen, Herz (e¯tor), Zwerchfell (phrenes), Galle (cholos), ähnlich wie wir von Entscheidungen oder Äußerungen „aus Kopf, Herz oder Bauch“ sprechen können. Die Entfaltung seelischer Äußerungen ist aufs engste mit den Themen beider Epen, und damit auch mit der Person ihrer Protagonisten verbunden. Der Zorn des Achill und die Leiden des Odysseus sind die Auslöser des seelischen Geschehens, hier finden sich die entsprechenden Vokabeln in besonderer Dichte. Ein Schmerz (achos) ergreift den Achill, sein „Herz“ (e¯tor) in der Brust erwägt, ob er zuschlagen oder die Wut (cholos) unterdrücken, sein Temperament (thymos) bändigen solle, und während er so in Sinn und Gemüt (phre¯n, thymos) hin- und herschwankt, erscheint ihm die Göttin Athene, er erkennt sie, sie dämpft sein Ungestüm (menos), und er gehorcht. Es ist nicht die rationale Einsicht des Helden selbst, die hier seine Entscheidung bestimmt, sondern die Aufgeschlossenheit gegenüber göttlicher Eingebung (Il. 1,188–218). Die Göttin Athene ist dabei, nicht zuletzt als die Tochter des Zeus, die eigentliche Verkörperung von Einsicht (me¯tis), Planung (boule¯) und Verstand (noos). So offenbart sie sich ausdrücklich ihrem Liebling Odysseus (Od. 13,303–305), der selbst der
Homerische Psychologie
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hervorragendste Vertreter dieser Eigenschaften unter den Menschen ist, deren Handlungen sonst meist von irrationalen Kräften bestimmt werden. Auch diese erfahren in dichterisch geschilderten Göttergestalten ihre außermenschliche Verkörperung, wie etwa Liebe und Kriegsfurie in Aphrodite und Ares. Wie der gesamte „Götterapparat“ überhaupt, stehen auch die Gottheiten der Vernunft und Leidenschaft für denjenigen Bereich – hier der psychischen Erscheinungen –, der sich der menschlichen Autonomie entzieht. Das eigentliche Feld der Gestaltung für den Dichter ist auch hier der Bereich der Empirie, die psychologische Praxis bewährt sich in der Beobachtung und Nachzeichnung möglichst aller Nuancen der psychischen Regungen. Der Leser sollte seine Wahrnehmungsfähigkeit für diese Nuancierungen schärfen: Zwar kennt das Epos auch das Phänomen der Massenpsychologie, das sich vor allem anlässlich der Reden des Oberfeldherrn Agamemnon und der Reaktion des Heeres äußert, besonders im 2. Buch der Ilias: Der General plant eine Offensive, doch das Heer könnte durch den Streik des Achill entmutigt sein und muss neu motiviert werden. Also versucht er die Soldaten mit vorgetäuschtem Defätismus herauszufordern („auf die Probe stellen, wie man das so macht“, Il. 2,73). „Wir müssen ruhmlos abziehen, obwohl wir den Trojanern mehr als zehnfach überlegen sind …“ Wider Erwarten geht der Schuss jedoch nach hinten los: Statt zum Widerspruch aufgereizt in wilde Kampfbegeisterung auszubrechen, stürzt das Volk zu den Schiffen und beginnt die Flucht vorzubereiten, und es bedarf aller Autorität des Odysseus und seines göttlichen alter ego Athene, um die Menge wieder in den Griff zu bekommen. Die unüberschaubare Menge wird erst anonym durch „den einen oder anderen zufällig angetroffenen Mann aus dem Volk“ (Il. 2,198) und dann durch das namentlich, in Aktion und Rede vorgeführte Individuum Thersites konkretisiert. Doch die Reaktionen und Emotionen der Masse beschwört der Dichter durch den Übergang von der realen Schilderung in das Kunstmittel einer überwältigenden Folge von Vergleichen und Gleichnissen aus der Natur, Insektenschwärmen und Vogelscharen, Wind und Meereswogen und Waldbrand. Vor diesem allgemeinen Hintergrund, der auch in den Kampf- und Wettkampfschilderungen immer wieder aufscheint, stehen jedoch die handlungsbestimmenden Einzelfiguren als eigentliche Subjekte der psychischen Äußerungen. Der Mensch des homerischen Epos – und genauso seine menschengestaltigen göttlichen Personen – zeichnet sich aus durch lebhafte Gefühlsbewegungen, vor allem auch durch Lachen und Weinen. Tatsächlich wird wohl in keinem Heldenepos so viel gelacht wie bei Homer, trotz allen Kampfgetümmels. Das „homerische Gelächter“ (wörtlich „unauslöschliches Gelächter“, asbestos gelo¯s) ist sprichwörtlich geworden, ihm geben sich vornehmlich die „leicht lebenden“ Götter hin (Il. 1,599; Od. 8,326), bei Menschen kann es zum irrsinnigen Gelächter entarten, wie bei den Freiern kurz vor ihrem Untergang (Od. 20,346). Das Lachen wird in allen Nuancierungen vorgeführt, die sich aus den Situationen der Handlung ergeben. Da gibt es ein triumphierendes Lachen bei Paris (Il. 11,378), bei Zeus, dem Vater der Menschen und Götter, ein mildes Lächeln oder freundliches Lachen über das Gejammer seiner Töchter Aphrodite und Artemis (Il. 5,426; 21,508) oder ein verzeihendes Lächeln angesichts der Reue seiner
Massenpsychologie
Lachen und Heiterkeit
Gemischte Gefühle
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Weinen und Klagen
Tränen der Götter
Heldisches und unheldisches Weinen
Dichtung und Wirklichkeit
Gattin Hera (Il. 15,47). Während der Begegnung von Hektor und Andromache wechseln sich Weinen und Lächeln ab; Tränen vergießend ergreift Andromache die Hand des Gatten (Il. 6,405), hell auflachen müssen Vater und Mutter beim Erschrecken des Kindes (Il. 6,471), und die Szene mündet schließlich in das berühmte „unter Tränen lachen“ der Andromache (dakryoen gelasasa, Il. 6,484). Ein heiteres, ja schadenfrohes Gelächter erheben die Zuschauer bei den Wettkämpfen im 23. Buch der Ilias, wenn ein Gestrauchelter den Kuhmist aus dem Mund sprudelt, oder ein Angeber kläglich scheitert (Il. 23,784; 840). Dem Odysseus lacht sein Herz im Leib, als er sieht, wie seine List den plumpen Kyklopen getäuscht hat (Od. 9,413); und auch anlässlich des Boxkampfs der zwei Bettler in der Odyssee gibt es wahre Ausbrüche übermütigen Gelächters bei den zechenden Freiern, die sich schließlich gestikulierend fast zu Tode lachen, gelo¯ ekthanon (Od. 18,35; 40; 100). Es ist dann schließlich ein unterdrücktes bitteres, „sardonisches“ Lächeln des Odysseus (meide¯se thymo¯ sardanion), das jenes letzte, irre Lachen der Freier vor ihrem Untergang vorbereitet (Od. 20,301f.). So wie sich Lachen und Weinen eng berühren können, so erscheint auch Jammern, Klagen und Weinen in den vielfältigsten psychologisch denkbaren Schattierungen. Die negativen Affekte stehen ja ausdrücklich im Vordergrund des epischen Interesses, denn der Zorn des Achill hatte „den Achäern unzählige Leiden geschaffen“, Odysseus „erduldete viele Leiden“, und der Mensch, auch der größte Held, ist grundsätzlich „das jammervollste aller Erdenwesen“ (Il. 17,446f.). So schreit und stöhnt der tödlich getroffene Sarpedon (Il. 16,485–491), so jammert die Seele des Gefallenen auf dem Weg in den Hades (Patroklos Il. 16,857; Hektor 22,363). Die Götter sind zwar grundsätzlich die „leicht lebenden“, aber auch ihnen ist es nicht immer zum Lachen zumute. Zeus selbst sendet blutige Tautropfen zur Erde, Tränen über den Tod seines Sohnes Sarpedon (Il. 16,459f.), Poseidon und Ares trauern über den Tod sterblicher Nachkommen (Il. 13,206; 15,110–118), der verwundete Ares brüllt, klagt und winselt (Il. 5,859–863; 871; 889) und auch seine Schwestern Aphrodite und Artemis schreien oder weinen in ähnlicher Situation (Il. 5,343; 21,496). Selbst den unsterblichen Pferden des Achill wird nicht nur die Gabe menschlicher Sprache zuteil, auch sie können „warme Tränen“ vergießen (Il. 17,437–439). Umso weniger brauchen sich daher die großen Helden ihrer Gefühlsausbrüche zu schämen. Dem Charakter und dem Schicksal des Achill liegt das Lachen in seinen verschiedenen Spielarten eher fern, seine seelischen Regungen durchlaufen stattdessen alle Nuancen des Klagens und Weinens. Er vergießt Tränen vor Wut über Agamemnon und vor Trauer über den Verlust der Briseis, und seine göttliche Mutter Thetis weint mit ihm (Il. 1,349–413), er erhebt schreckliches Wehklagen über den Tod des Patroklos, der Unglücksbote Antilochos und seine Umgebung, vor allem wieder seine Mutter, weinen mit ihm (Il. 18,15–73), schließlich weint er zusammen mit Priamos in gegenseitigem Mitleid und gemeinsamer Trauer um ihre Toten, Hektor und Patroklos. Ein eher ordinäres, körperlich bedingtes Weinen, Wehgeschrei oder Blöken findet sich bei Kontrastgestalten, wie Thersites, Polyphem oder Iros nach ihrer gerechten Strafe (Il. 2,269; Od. 9,395; 18,98). Diese der jeweiligen epischen Situation entsprechende Mischung und Nuancierung der psychischen Affekte entspricht durchaus jener Vermeidung einer scharfen Abgrenzung der seelischen Orga-
Homerische Psychologie
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ne, von der eingangs die Rede war. Das Weinen des Odysseus, insgesamt nicht weniger existenziell als bei Achill, zeigt dem Charakter und der Handlung entsprechend gedämpftere Varianten, Weinen vor Heimweh auf Ogygia (Od. 5,151–158), verstohlenes, unterdrücktes Zerschmelzen im Weinen bei den Phäaken (Od. 8,83–95; 521– 531), eine heimliche Träne der Rührung beim Anblick des treuen alten Hundes (Od. 17,304f.) oder auch ein Weinen in der Freude des Wiedersehens mit Penelope (Od. 23,32f.; 232). In der größten Not jedoch, im Seesturm (Od. 5,297f.; 404f.), beim menschenfressenden Kyklopen, zwischen Skylla und Charybdis, können sich ihm zwar im Schock „die Knie lösen und das liebe Herz“, er kann auch mit den Gefährten weinen, doch alsbald muss er im Gespräch mit seinem „großherzigen Gemüt“ nach einem Ausweg, nach der Rettung suchen: Verstand und Einfallsreichtum (noos, me¯tis) des tätigen Menschen treten jetzt in Aktion, für die Gefühlsregungen bleibt da keine Zeit. Das rationale, richtige Handeln des Menschen erwächst dabei nicht automatisch aus einem Wissen; Ägisthos wusste Bescheid über sein Verderben, aber er und Klytämnestra begingen willentlich ihre Verbrechen (Od. 1,35–39; 3,272). Diesem irrationalen Wollen (ethelein) steht gegenüber das planende, abwägende Wollen, die boule¯. Dessen vollkommenste Form ist der göttliche Wille, vor allem des Zeus („Die boule¯ des Zeus wurde vollendet“, Il. 1,5), seiner Tochter Athene und dann auch des zeusgeliebten Odysseus oder der Ratgeber wie Nestor (Il. 9,104f.) und Polydamas. Organ dieses planenden Wollens ist der Verstand (noos), der „sichere“ (pykinos) bei Zeus (Il. 15,461), der „vorteilbringende“ (polykerde¯s) bei Odysseus (Od. 13,255). Für jegliches rationale und irrationale Verhalten des Menschen bleibt jedoch die Grundüberzeugung von seiner Unvollkommenheit, seiner Abhängigkeit von höheren Mächten, die jede Selbstüberschätzung verbietet. Die homerischen Helden dürfen nicht nur weinen und jammern, auch zeitweiliges Nachgeben, Erschrecken, Fürchten und Fliehen nimmt ihnen nichts von ihrer Größe, sondern bekräftigt sie eher: „Wer den Göttern gehorcht, den erhören sie wieder“, sagt Achill schon zu Beginn der Ilias (Il. 1,218), und als Überheblichkeit (hybris) spricht er das Verhalten des Agamemnon an (Il. 1,203), das dieser selbst schon sehr bald als Verblendung (ate¯) erkennt (Il. 9,115f.). Gleichsam als Trost und Vorbild zugleich sind die Götter zwar überlegen, aber doch denselben psychologischen Bedingungen unterworfen, sie werden damit zu einer Art Exemplum auf höherem Niveau. Als Träger eines kollektiven Versinkens in hybris und ate¯ und daraus resultierenden gottgewollten Untergangs erscheinen in der Odyssee schließlich die Gruppen der Gefährten des Odysseus, der Freier und der Mägde. Die ethisch-moralischen Normen, denen alle psychischen Reaktionen unterworfen sind, stammen jedenfalls aus einer übermenschlichen Ebene. Schon die Heroen werden in eine höhere Sphäre erhoben, die Götter agieren auf noch höherer Stufe, und auch sie sind ihrerseits wieder letzten und schwer fassbaren Instanzen unterworfen.
Wissen, wollen und planen
Handlungsfreiheit durch Selbstbeschränkung
Hybris und Ate bei Individuen und Gruppen
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Dichtung und Wirklichkeit
Krieg und Frieden
Ursachen
Anlass und Kriegsschuld
In der Ilias nehmen Kämpfe und Schlachtgetümmel einen breiten Erzählraum ein. In den Büchern 5, 8,11–13, 15–17 und 19–22 werden fast ausschließlich kriegerische Zusammenstöße in oft blutrünstiger Weise geschildert. Der heutige Leser neigt dazu, diese Partien zu überschlagen und sich den versöhnlicheren, friedlichen Begegnungen zuzuwenden, in denen uns das homerische Menschenbild in zeitlos anrührender Art und Weise entgegentritt, etwa in dem Gespräch zwischen Hektor und Andromache im 6. oder dem zwischen Priamos und Achill im 24. Buch. Frühere Zeiten haben zweifellos ebenso intensiv die Kampfdarstellungen verfolgt, weil in ihnen Homer die Realität des Krieges schonungslos zum Ausdruck gebracht hat, heroisch überhöht und dramatisch arrangiert als eine Faktizität im menschlichen Dasein, aber doch mit ständigem Blick auf möglichen Ausgleich und friedliche Lösungen. In dieser Hinsicht hängen das Kriegsepos Ilias und das Heimkehrerepos Odyssee eng zusammen, denn ein Krieg ist erst nach der Heimkehr der Krieger zu Ende. Schon zu Beginn der Ilias wünscht daher der Priester Chryses dem Feldherrn des Achäerheeres: „Mögen euch die Götter verleihen, die Stadt des Priamos zu zerstören und gut nach Hause zu kommen!“ (Il. 1,18f.). Wenn auch der Dichter in der Ilias nur rund 50 Tage aus dem letzten, zehnten Kriegsjahr episodenhaft herausgreift, so ist doch der gesamte Krieg mehr oder weniger darin gegenwärtig, und vor allem deutet er auch zurückliegende Ursachen und konkrete Anlässe des Kriegsunternehmens an. In mythischer Sicht sind es letztlich Streitereien zwischen Göttern und Menschen, aus denen heraus der Krieg entstanden ist: An der Hochzeit des Peleus mit der Göttin Thetis nahmen alle Götter teil und beschenkten Peleus zwar reich, bescherten ihm aber nur einen einzigen und noch dazu nur kurze Zeit lebenden Sohn, Achill (Il. 24,534–547), und das Urteil des Paris, das den Hass Heras und Athenes auf ihn und Troja zur Folge hatte (Il. 24,25–30). Beide Ereignisse deutet der Dichter nur kurz an und in einer die jeweilige Situation charakterisierenden Weise: Um Priamos zu trösten, weist Achill auf die Hochzeit des Peleus als Beispiel dafür hin, dass die Götter den Menschen nicht nur gute, sondern auch böse Gaben „gemischt“ schenken. Hera (und Poseidon) sind erzürnt über den Plan der Götter, Hektors Leichnam durch Hermes stehlen zu lassen und so vor weiterer Misshandlung zu retten, denn sie hassten Priamos’ Stadt und „die Verblendung“ des Paris, weil … In dieser andeutenden und zugleich umformenden Art gibt Homer stets Vorgeschichte wieder. Seinen Hörern scheint der Sagenkontext bekannt gewesen zu sein; wir wissen nur aus späteren Überlieferungen, dass die nicht eingeladene Göttin des Streits, Eris, auf der Hochzeit erschienen sei und einen goldenen Apfel unter die Gäste geworfen habe, den Paris später der Aphrodite gab. Direkt veranlasst wurde der Krieg natürlich mit der Entführung der Helena durch Paris, verbunden mit dem Raub von Schätzen (Il. 3,174) – um die Herausgabe beider geht es in den Verhandlungen des 3. Buchs, wenigstens der Schätze im 7. Buch (Il. 7, 348–364). Besonders verstärkt wurde die Kriegsschuld des Paris jedoch durch den mit dem Raub verbundenen Bruch der Gastfreundschaft: Darauf beruft sich ausdrücklich Me-
Krieg und Frieden
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nelaos mitten in furchtbarem Gefecht, wenn er den Trojanern zuruft, Zeus, der Schützer des Gastrechts, werde ihre Stadt zerstören, da sie nach freundlicher Bewirtung beim Besuch in seinem Haus in Sparta die Hausherrin und die Schätze mitgenommen hätten (Il. 13,623–627). Hinter diesen mythologisch motivierten Gründen für einen Zug der Achäer gegen Troja mögen wirtschaftliche und machtpolitische Ursachen gestanden haben, wie wir ebenfalls gelegentlichen Andeutungen entnehmen können: „Dein Reich hat sich einst von Lesbos bis nach Phrygien und zum Hellespont erstreckt“, weist Achill auf das frühere Glück des Priamos hin (Il. 24,543–546). Dessen umfassender Herrschaftsbereich, die Landschaft Troja im weiteren Sinne, war für seine Pferdezucht berühmt: „Pferdebändiger“ (hippodamoi) ist ein festes Beiwort der Troer, und der Urvater Erichthonios war nicht zuletzt durch seine 3000 Zuchtstuten zum „reichsten der Menschen“ geworden (Il. 20,220). Daher auch war die Stadt des Priamos vor dem Krieg „reich an Gold, Silber und Erz“ gewesen (Il. 18,288–292). Ihre bundesgenossenschaftlichen Beziehungen erstreckten sich nach Süden bis zu den Lykiern, die sich ihrer fruchtbaren Gebiete am Xanthos rühmten (Il. 12,313f.), und weit nach Norden und Osten hin zu Völkerschaften, die über Silber verfügten. Sie war offensichtlich eine ausgesprochene Landmacht: Für seinen Besuch in Sparta musste sich Paris Schiffe bauen lassen, womit er den berühmten Meister mit dem sprechenden Namen „Tekton, den Harmoniden“ („Zimmermann, Sohn des Zusammenfügers“) beauftragte (Il. 5,59–64). Dieses reiche Ilios war auch schon lange vor dem Krieg bedroht gewesen; darauf deuten die Nachrichten über den Bau der Stadtmauer durch Poseidon und Apollon (Il. 7,452f.; 21,441–460) und die Fahrten des Herakles hin: Für diesen hatten Athene und die Trojaner ebenfalls eine Schutzmauer errichtet (Il. 20,144–147), als er die Stadt von einem Seeungeheuer befreite, und sein Sohn Tlepolemos kann sich später im Kampf gegenüber dem Lykierfürsten Sarpedon rühmen, sein Vater sei einst gekommen, um den Lohn für diese Tat, die Pferde des Laomedon, zu fordern. Mit nur sechs Schiffen und wenigen Mann habe er Ilios zerstört (Il. 5,638–651; 14,250f.). Aber offensichtlich gab es auch seit Generationen freundschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen dies- und jenseits der Ägäis, zwischen Griechenland und Kleinasien. Mitten auf dem Schlachtfeld trifft Diomedes den Lykier Glaukos, dessen Großvater Bellerophontes ursprünglich aus der Argolis stammte, aber durch üble Intrigen nach Lykien verschlagen, dort ansässig und zum Stammvater eines der berühmten lykischen Geschlechter geworden war (Il. 6,119–211). Und sogar ein Bruder des Dardanerfürsten Äneas, Echepolos („der Pferdebesitzer“), lebt vielleicht als Pferdehändler in Sikyon im Norden der Peloponnes, wo er sich von der Teilnahme am Kriegszug nach Troja freikaufen musste (Il. 23,296). Auf die umfangreichen Kriegsvorbereitungen, die durch den Raub der Frau des Königs von Sparta durch einen trojanischen Prinzen ausgelöst wurden, weist das Epos nur beiläufig in ganz bestimmten Situationen hin. Auf beiden Seiten sammelte man Bundesgenossen: Nestor und Odysseus reisten zu Achills Vater Peleus nach Phthia, wo sich auch der Vater des Patroklos, Menoitios, aufhielt – Nestor erinnert Patroklos an die mahnenden Worte seines Vaters beim Aufbruch (Il. 11,765–790).
Wirtschaftliche und politische Macht
Internationale Beziehungen
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Die Kriegsgegner: Achäer und Troer
Die Kontingente
Dichtung und Wirklichkeit
Odysseus war zuvor von Ithaka gekommen, nachdem er seiner Frau Penelope die Erziehung ihres Sohnes Telemachos aufgetragen hatte. Den damaligen Auftrag sieht die Gattin dann später in der Odyssee, sobald der Sohn erwachsen ist, als erfüllt an (Od. 18,269f.). Anführer der verbündeten Achäer konnte nur der mächtigste und reichste Fürst sein: Agamemnon war zugleich der ältere Bruder des geprellten Menelaos und Schwager der geraubten Schönheit: Helena war die Schwester seiner Gattin Klytämnestra (Il. 3,175). Die Schiffe der Bundesgenossen sammelten sich im Hafen von Aulis gegenüber der Insel Euböa. Vor der Abfahrt wurde dort Zeus ein Opfer dargebracht, wobei es dem an das Opfer erinnernden Odysseus auf das Vogelzeichen ankommt, nicht auf die in der späteren Überlieferung so wichtige Opferung der Iphigenie (Il. 2,299–332). Während die Liga der Achäer aus kollegialen und sachlichen Gründen – Verpflichtung der ehemaligen Freier der Helena und Wiedergutmachung des Unrechts – den Atriden folgt, sammelt sich um Priamos vor allem seine zahlreiche Verwandtschaft, seine ehelichen und unehelichen Söhne, seine Schwiegersöhne; es ist die Großfamilie, „die Brüder und Schwäger“, auf die sich der Verteidiger der Stadt vor allem stützt (Il. 5,474). Die Söhne der Stadtältesten, vorab des klugen Antenor, bilden die nächststehende Gruppe; ihr folgen zahlreiche Freiwillige aus trojanischen Städten; sie alle bezeichnet der Dichter als „Troer“. Neben den Troern stehen als Stammesverwandte die fast gleichberechtigten „Dardaner“ unter Führung des Äneas, Bewohner der in den Vorbergen des Ida gelegenen Vorgängersiedlung von Ilios, Dardania (Il. 20,215–218); auch sie sind also mit den Troern eng verbunden. Eine Sonderstellung nehmen die mächtigen Lykier aus dem Süden Kleinasiens ein: Sie rühmen sich, es eigentlich nicht nötig zu haben, den Troern zu Hilfe zu kommen, da sie, vom fernen Fluss Xanthos gekommen, nichts zu verteidigen hätten (Il. 5,473–484). Alle übrigen Bundesgenossen werden unter der Bezeichnung „Hilfeleistende“ (epikouroi) zusammengefasst. „Troer, Dardaner und Hilfeleistende“ ist eine feste Anredeformel. Die Kontingente der beiden Kriegsparteien werden in den Katalogen im zweiten Buch vorgestellt: der Achäer (Il. 2,494–760) und der Troer (Il. 2,816–877). Jedem Leser fällt sofort das große Übergewicht des Achäerkatalogs auf: In ihm werden nicht nur sehr viel mehr Führer zahlreicher Städte zu landsmannschaftlichen Gruppen zusammengefasst, sondern auch die Zahl ihrer Schiffe und zuweilen deren Mannschaften genannt; der Katalog der Achäer beginnt in eindrucksvoll monotoner Aufzählung: „Die Böoter führten Peneleos und Leïtos an, Arkesilaos, Prothoënor und Klonios, die in Hyrie wohnten und in Aulis, Schoinos, Skolos und Eteonos, in Thespeia, Graia und Mykalessos, in Harma, Eilesion und Erythrai, in Eleion, Hyle und Peteon, in Kopai, Eutresis und Thisbe, in Koroneia und Haliartos, in Plataiai und Glisas, in Hypothebai, Onchestos, Arne, Mideia, Nisa und Anthedon – die kamen mit fünfzig Schiffen, und jedes brachte einhundertzwanzig Männer“ (Il. 2,494–517); demgegenüber bleibt der Troerkatalog schlicht: „Die Troer führte Hektor, der Sohn des Priamos, dem folgten die meisten und besten Krieger“ (Il. 2,816–818). Der dadurch erweckte Eindruck eines Übergewichts der Achäer
Krieg und Frieden
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muss nicht nur auf geringere Information des Dichters zurückgehen, er kann auch beabsichtigt sein; jedenfalls lässt der Dichter den Agamemnon sagen, die Achäer seien den Troern mehr als zehnfach überlegen, allerdings ohne die Bundesgenossen (Il. 2,119–133). Die meisten Helden, die in den Katalogen aufgeführt werden, spielen in den folgenden Kämpfen eine größere oder kleinere Rolle; der Dichter versäumt nicht, die meist weniger bekannten Kämpfer schon im Katalog vorzustellen, so dass wir, wenn wir es nicht überlesen, ein lebendiges Bild von ihrer Vorgeschichte oder auch von den Motiven ihrer Teilnahme am Krieg bekommen: Von Askalaphos, dem Sohn des Ares, den sein Vater später so sehr betrauert (Il. 15,110–118), erfahren wir schon im Katalog, wie es zu dem Fehltritt seiner Mutter mit dem Gott gekommen war (Il. 2,512– 515). Bei den Troern müssen solche Hintergrundinformationen in die Handlung eingebaut werden, so etwa im Fall des jungen Othryoneus aus Kabesos (in Thrakien): Er bewarb sich um Kassandra ohne Hochzeitsgaben, dafür aber mit dem Versprechen, die Achäer zu vertreiben, und Priamos versprach ihm dafür die Tochter (Il. 13,363–367). Wiederum aus gelegentlichen rückgreifenden Erwähnungen ist zu entnehmen, welche Strategie beide Gegner in den neun Kriegsjahren anwandten. Bei der Landung scheint von der Stadt aus ein Angriff auf die Flotte gemacht worden zu sein: Protesilaos, der Anführer der Thessaler, stieg zuerst an Land und wurde von einem Dardaner getötet – sein Schicksal wird bei der Nennung des Namens angemerkt (Il. 2,698). Danach aber griffen die Achäer zur Strategie der Blockade, indem sie die in Ilios Versammelten ihrer Nachschubbasen beraubten. Wiederholt ist von der Zerstörung von Städten mit ihren damals üblichen Begleiterscheinungen die Rede. Vor allem Achill zeichnete sich darin aus. Andromache beschwört ihren Gatten Hektor, sie als Waise nicht auch noch zur Witwe zu machen, denn „meinen Vater erschlug Achilleus und zerstörte Theben, meine sieben Brüder tötete er beim Hüten der Schafe und Rinder, das Vieh und meine Mutter brachte er hierher als Beute“ (Il. 6,414–428); ähnlich verfuhr er mit Briseis, um derentwillen der Streit mit Agamemnon entstanden ist, als er Lyrnessos (in Mysien) vernichtete und ihren Gatten und ihre drei Brüder tötete (Il. 19,292–299), oder auf den Inseln Lesbos und Skyros (Il. 9,128f.; 264–267). Außer Frauen und Vieh erbeuteten die Achäer auch Wertgegenstände aus Edelmetall: „Voll von Erz sind deine Hütten vom Raub der Städte, und an Gold fehlt es dir nicht aus der Lösung gefangener Troer!“ wirft Thersites dem Agamemnon vor (Il. 2,226–230). Mit diesen Mitteln konnten sie mit den Alliierten Handel treiben: Gegen Erz, Eisen, Häute oder sogar Rinder und Sklaven tauschten sie Wein von der Insel Lemnos (Il. 7,465–475). Ausfälle aus der Stadt, selbst an ihrer Rückseite beim Dardanischen Tor, verhinderte Achill (Il. 5,788–790); vor den Gesandten rühmt er sich, solange er noch gekämpft habe, habe sich Hektor nicht ins Feld gewagt, höchstens bis ans Skäische Tor (Il. 9,352–355); und die Troerinnen getrauten sich nicht mehr zu den Brunnentrögen vor die Stadt hinauszugehen zum Wäschewaschen (Il. 22,147–156). Von einer förmlichen Belagerung und Einschließung der Stadt findet sich allerdings keine Andeutung, offensichtlich stand ihre topographische Lage dem entgegen. Das Phänomen des Krieges als solches wird in der Ilias nur exemplarisch durch die Episode vom Zorn des Achill, hier aber umso detaillierter und eindringlicher vor-
Die Strategie des Feldzuges
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Das Auf und Ab der fünfzig Kriegstage
Kampfpassagen und Ruhepausen
Dichtung und Wirklichkeit
geführt. Hinter dem Auf und Ab der Kämpfe, angesichts von Siegesjubel und Todesschmerz, erscheint immer wieder die Vision von Frieden und gütlichem Ausgleich. Die Handlung des Epos beginnt im Moment einer Krisen- und Pattsituation des zehnjährigen Krieges. Die Achäer können Ilios nicht erobern, die Trojaner die Feinde nicht vertreiben. Der Ausbruch der Pest und der Streit im Lager aber verändern die Ausgangslage, aus der sich gleichsam ein neuer Krieg, das viertägige Kampfgeschehen der Ilias, entwickelt, wie ein Detailausschnitt in Großaufnahme. Da sich der vom Heerführer gekränkte stärkste Held der Achäer nicht mehr an den Kämpfen beteiligt, wandelt sich der Kampf um die Stadt zum Sturm auf die Lagerfestung. Die Troer können zum Schiffslager vordringen; sie werden aber zur Stadt zurückgetrieben, als der Heros erneut eingreift. Diese zwei großen gegenläufigen Kampfbewegungen lösen sich ihrerseits wieder auf in ein dramatisches Hin und Her: Die gewaltige Offensive des Agamemnon rollt an, die Troer akzeptieren die Herausforderung (Buch 1 und 2). Doch als die Kampfhandlungen eigentlich beginnen sollten, tritt unerwartete Wendung ein: Die Heere marschieren aufeinander zu, da bietet Paris einen Zweikampf mit Menelaos an, dessen Ausgang über den Fortgang des Krieges entscheiden soll. Es wird ein feierlicher Vertrag geschlossen, dessen Bedingungen unter Berufung auf die Götter klar definiert werden: Siegt Paris, so behält er Helena und die Schätze und die Achäer ziehen ab; siegt Menelaos, so geben die Troer die Beute heraus (Il. 3,267–301). Eine friedliche Lösung scheint zum Greifen nah. Allerdings kommt es ganz anders. Beide Seiten, Troer und Achäer, fragen sich voll banger Hoffnung: „Soll nun wieder der üble Krieg und das schreckliche Kampfgewühl herrschen, oder schafft Freundschaft zwischen den Gegnern Zeus, der Schiedsrichter im Krieg der Menschen?“ (Il. 4,81–84). Doch die Götter müssen das bittere Schicksal, die Zerstörung Trojas, durchsetzen; die ist ja im Mythos vorgegeben. Sie veranlassen den Vertragsbruch des Pandaros: Er verwundet durch einen Pfeilschuss aus dem Hinterhalt den Menelaos, und der Krieg wird fortgesetzt. Damit wird die weit zurückliegende Kriegsschuld der Troer und die Schuld an ihrem eigenen Untergang durch den eklatanten Vertragsbruch vor dem Beginn der erneuerten Kampfhandlungen verstärkt, aktualisiert und besonders deutlich vor Augen geführt (Il. 3,449–461). Außerdem ist die Retardation des erwarteten Verlaufs ein bewährtes Kunstmittel der epischen Komposition, das auch in den folgenden Kämpfen immer wieder eingesetzt wird. Diese Kampfhandlungen nehmen in der Schilderung einen oft schwer erträglichen, breiten Raum ein (Bücher 4–5, 8, 11–17, 19–22). Trost und Erholung findet der Leser immer wieder in zwischengeschalteten Ruhepausen der Erzählung, in denen der menschlich-zivile Hintergrund Gestalt gewinnt (Bücher 6–7, 9–10, 14 und 18): Nach der ersten Kampfphase mit dem Siegeslauf des Diomedes in den Büchern 4 und 5 kehrt Beruhigung ein durch den Gang Hektors nach Troja, den ritterlichen Zweikampf zwischen ihm und Ajas, Waffenstillstand, Totenbestattung und Lagerbefestigung durch die Achäer in Buch 6 und 7. Die Errichtung von Wall und Graben gerade jetzt deutet die bedrohliche Lage an: Mit der Morgenröte des darauf folgenden dritten Tages bricht die Schlacht wieder los, die nach wechselhaftem Verlauf mit der von Zeus gewollten Niederlage der Achäer endet; nur durch das Einbrechen der Dunkel-
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heit werden die Troer aufgehalten, sie kampieren in der Nähe des Schiffslagers. Die folgende Nacht bringt nach dem kampferfüllten 8. Buch wieder zwei Bücher der Atempause: Der Leser hofft auf den Erfolg der Bittgesandtschaft zu Achill im 9. und fasst neuen Mut mit den Achäern durch den erfolgreichen nächtlichen Spähgang von Diomedes und Odysseus in der „Dolonie“ des 10. Buchs. Umso schrecklicher steigert sich dann das Abschlachten in den Büchern 11–13, und auch die idyllische Episode der Verführung des Zeus auf dem Idagipfel im 14. Buch bewirkt nur ein kurzes Aufatmen für Achäer und Leser. An der Wende vom 15. zum 16. Buch ist schließlich auch der von Zeus vorgesehene Wendepunkt des Geschehens erreicht: Das erste Schiff steht in Brand, Achill sendet in halbem Nachgeben seinen Freund Patroklos zur Hilfe. Der treibt die Troer zurück zur Stadt und fällt dort als Opfer seiner Maßlosigkeit, die Tragik seines Todes spiegelt sich in der bedrückenden Schilderung des Kampfes um seine Leiche, die das 17. Buch ausfüllt. Die Bücher 18 und 19 bringen mit dem Abflauen der Kämpfe, mit Wehklagen und Racheschwüren, mit Anfertigung einer neuen Rüstung für Achill und Beilegung des Streits der Anführer eine letzte Atempause vor dem Sturm, der dann in den Büchern 20–23 losbricht, mit dem Tod Hektors endet und in den abschließenden Büchern 23 und 24 in eine elegisch gedämpfte Windstille übergeht: Akteure und Leser können sich bei den unterhaltsamen Sportwettkämpfen und unter dem Eindruck der versöhnlichen Begegnung der Todfeinde Achill und Priamos entspannen und läutern. Schon dieser knappe Überblick über das Kampfgeschehen zeigt: Homer schildert nicht nur gloriose Siegeszüge. Jeder Sieg ist mit Verlusten, Rückschlägen und Hindernissen erkauft und meist fallen gerade die tapfersten und menschlich anrührendsten Helden, wie Patroklos, Sarpedon oder Hektor, und auch Achills baldiger Tod steht über dem Ganzen. Wie sie jedoch ihr Schicksal auf sich nehmen, wie sie vom Dichter jeweils in einer Aristie verklärt und dadurch, zum Ausgleich, mit ewigem Nachruhm beschenkt werden, das mag die Schrecken des Krieges lindern. Verschwiegen werden sie nicht, und letztlich eignen sich Homers Helden auch nicht als Vorbild. Kampf und Sieg sind und bleiben ein Übel, das beweisen die detaillierten Einzelschilderungen zur Genüge: Für das Publikum bietet die Abfolge atemberaubender Zweikämpfe und Verfolgungen zu Fuß und zu Wagen mit Triumphgeschrei und Todesröcheln, mit ständig wechselnden, hautnah und anatomisch genau beschriebenen Verletzungen und Unfällen zweifellos einen makabren Unterhaltungsreiz. Besonders interessant sind dabei wie immer die technischen Details, die Kampfmittel und Waffen. In den hin- und herwogenden Kampfeswellen spielen die Zweigespanne eine hervorragende Rolle: Die Helden beider Parteien ziehen gewöhnlich mit Streitwagen in den Krieg. Auf dem Wagen stehen vorn der Lenker und etwas hinter ihm der Kämpfer, der möglichst rasch an den Gegner herankommen will. Den Pferden gilt daher die größte Aufmerksamkeit aller Beteiligten. Hektor rühmt die sorgsame Stallpflege seiner Frau, Andromache habe seinen Lieblingen zu fressen und eher als ihm selbst sogar Wein zu trinken gegeben (Il. 8,187–190). Pandaros aus dem benachbarten Zeleia entschuldigt sich, dass er zu Fuß nach Ilios gekommen sei: Er habe zwar elf kunstvoll gearbeitete Wagen, unter Decken geschützt, im Stall, aber er habe die Pferde schonen
Kampfmittel und Waffen
178 Das Streitwagengespann
Pfeilschüsse und Steinwürfe
Speerwürfe und Schwerthiebe
Dichtung und Wirklichkeit
wollen und lieber zu Hause gelassen (Il. 5,192–205). Die edelsten Rosse gar sind halb göttlichen Ursprungs, Abkömmlinge der einst von den Windgöttern Boreas und Zephyros gezeugten Pferde des Erichthonios und Tros, der Stammväter der Trojaner (Il. 5,263–273; 16,149–151; 20,221–229); Äneas lenkt sie, Diomedes erbeutet sie und rettet mit ihnen Nestor aus der Bedrängnis (Il. 5,319–327; 8,105–117). Achills Pferde haben eigene Namen und einen eigenen Stammbaum, und sie haben ein geradezu menschliches Empfinden: Nach dem Tod des Patroklos, dem Achill das Gespann zu rascherer Vertreibung der Troer von den Schiffen übergeben hat, stehen sie starr vor Schmerz mit gesenkten Köpfen und weinen, und die Göttin Hera verleiht ihnen Sprachfähigkeit, damit sie ihrem Herrn seinen baldigen Tod prophezeien können (Il. 17,426–440; 19,405–418). Bei den Wettspielen nach der Bestattung des Patroklos ist das Wagenrennen daher auch die erste und am meisten beachtete Disziplin (Il. 23, 262–652). Im Krieg sind die Gespanne das wichtigste Transportmittel auf dem Weg zum Schlachtfeld, zu den einzelnen Gegnern, und garantieren vor allem eine rasche Flucht: „Steig auf meinen Wagen“, rät Diomedes dem Nestor, „damit du merkst, wie gut die Pferde des Tros sind, den Gegner hier- und dahin zu verfolgen und ihm zu entfliehen“ (Il. 8,105–107) – jedoch zum eigentlichen Kampf steigt man ab. Die Kämpfer auf den Gespannen sind mit Wurfspeer und Schwert bewaffnet. Vom fahrenden Wagen aus schießende Bogenschützen kennt die Ilias nicht. Zwar gibt es Kämpfer, die auf den Bogen spezialisiert sind, wie Paris, Pandaros oder Teukros, der sich darin sogar besonders auszeichnet, allerdings dazu des schützenden Langschildes seines Stiefbruders Ajas bedarf: „Er trat hinter den Schild, Ajas hob ihn ein wenig, Teukros zielte, sprang zurück und Ajas verbarg ihn wieder hinter dem Schild“ (Il. 8,265–277). Dem Bogenschützen kann etwas Hinterhältiges anhaften: Paris versteckt sich hinter der Stele auf dem Grabmal des Ilos und verwundet nacheinander Diomedes, Machaon und Eurypylos (Il. 11,369–395; 505–507; 581–584), wodurch der Vormarsch Hektors zum Schiffslager nicht unbeträchtlich begünstigt wird. Odysseus hat seinen berühmten Bogen zu Hause gelassen, und auch sonst ist der bogenschießende Held zugleich auch ein Speer- und Schwertkämpfer; das zeigt sich beim Zweikampf des Paris gegen Menelaos im 3. und beim Sturm auf die Mauer im 12. und 13. Buch immer wieder; auch Pandaros versteht sich darauf, trotz seiner Kunst im Bogenschießen (Il. 5,276–285). Als improvisierte Fernwaffe können auch Wurfsteine dienen, bisweilen besonders mächtige Felsbrocken, die die übergroße Stärke des Werfenden unterstreichen. Selbst Hektor und Ajas verschmähen sie nicht bei ihrem Zweikampf, nachdem sie die Speere verschossen haben (Il. 7,263–272), und Hektor zertrümmert das Lagertor mit einem davor liegenden Steinblock, „den hätten auch zwei der stärksten Männer im Volk nicht leicht vom Boden auf einen Wagen gewuchtet, so wie jetzt die Sterblichen sind“ (Il. 12,445–462). In Massen werden auch Feld- und Mahlsteine verwendet, die in höchster Not wie ein Schneegestöber von den Türmen auf die Angreifer geschleudert werden (Il. 12,154–161). Der Gebrauch der Schleuderwaffe findet sich allerdings nur in Andeutungen (Il. 13,600; 716). Die wichtigste und vornehmste Waffe ist und bleibt der Speer, der zum Wurf und Stich geeignet ist. Der anerkannte Meister im Speerwurf ist kein geringerer als der Oberfeldherr Agamemnon; das beweist seine Aristie im 11. Buch und wird von Achill
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anlässlich der Wettkämpfe bestätigt (Il. 23,890f.). Doch Achills Eschenlanze vom Peliongebirge vermag kein anderer Achäer zu schwingen (Il. 16,140–144). In der Regel zieht man mit zwei Speeren in die Schlacht, doch im Gefecht ist der Ersatzspeer meist nicht zur Hand. In diesem Fall reißt der Kämpfer das Schwert von der Hüfte, ist aber wegen der geringen Reichweite dem Gegner oft unterlegen, so wie Hektor in seinem Todeskampf dem Achill (Il. 22,306–327). Das eigentliche Kriegsgeschehen kommt nach der Retardation durch Vertrag und Zweikampf der Kontrahenten Paris und Menelaos im 4. und 5. Buch voll in Gang, das Phänomen „Krieg“ wird nun in aller Schonungslosigkeit vorgestellt. Zuvor wird jedoch noch ein Warnzeichen gegeben, eine grundsätzliche Überlegung eingeblendet: Die Diskussion der Götter zu Anfang des 4. Buchs macht klar, dass bei Krieg und Frieden auch außermenschliche, irrationale Einflüsse mitspielen können. Im Olymp berät man: „Sollen wir wieder den bösen Krieg und schreckliche Feldschlacht erregen oder Freundschaft zwischen beiden Parteien erzeugen?“ (Il. 4,14–16). Die Menschen mögen einen Vertrag schließen, der eigentlich zum Frieden führen muss, doch schon ein einzelner vermag ihn zu sabotieren, durch Geltungssucht und Habgier betört. Pandaros bricht den Vertrag mit seinem hinterhältigen Schuss, aber es ist eine dämonische Kraft, die ihn dazu treibt: Die Kriegsgöttin selbst gibt ihm die bösen Gedanken ein: „So sprach Athene, und überredete ihn in seiner ganzen Torheit“ (Il. 4,104). Die Kriegsgottheiten Ares und Athene sind es dann auch, die beide Völker aufeinander hetzen, begleitet von den grausigen Dämonen des Schreckens, der Furcht und der Zwietracht (Deimos, Phobos und Eris). Vor allem die letztere wird einer tiefgründigen, mythisch eingekleideten Analyse unterzogen, die wie psychologische Konflikt- und Ursachenforschung anmutet: „Eris, die maßlos wühlende, die Schwester und Gefährtin des menschenmordenden Ares, die zuerst noch ganz klein ihr behelmtes Haupt erhebt, doch dann bis zum Himmel sich reckt und gewaltig auf Erden einhergeht“ (Il. 4,440–4,445). Es wäre falsch, darin einen bequemen Fatalismus, eine Negation jeglicher menschlichen Selbstverantwortung zu erkennen. Vielmehr geht von dieser bildhaften Beschwörung der Zwietracht der Appell zur Erkenntnis und Bekämpfung ihrer Folgen aus. Erst nach diesem „Vorspiel im Himmel“ entfaltet sich der Krieg in allen Facetten. Anlässlich der Heeresmusterung durch Agamemnon erfahren wir einiges zur Taktik, wobei der erfahrene Nestor besonders vorbildlich agiert und mit Ratschlägen glänzt: „Die Pferdekämpfer stellte er ins Vorderglied, mit ihren Gespannen und Wagen, zuhinterst die Menge der besten Infanteristen als Schutzwall im Kampfe, die Schwachen und Unzuverlässigen dagegen detachierte er ins Mitteltreffen, damit auch der Unwillige zum Kampf gezwungen war“. Den Wagenlenkern gibt er noch grundsätzliche Anweisungen, die Pferde im Getümmel zurückzuhalten: „‚Dass mir ja keiner im Vertrauen auf Fahrkunst und Draufgängertum allein vorprescht zum Kampf mit den Troern, aber auch nicht sich zurückzieht, das würde euch schwächen. Wer aber vom eigenen Wagen aus auf einen anderen trifft, der empfängt ihn besser mit gefälltem Speer. So nämlich pflegten auch unsere Vorfahren Städte und Mauern zu stürmen!‘ Mit solcher Besinnung und solchem Mut in der Brust, so trieb sie der Alte an, seit langem im Krieg wohl erfahren“ (Il. 4,297–310).
Krieg oder Frieden?
Konflikt- und Ursachenforschung
Taktische Anweisungen
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Kontrast der Heere und Völker
Menschliche Hintergründe und Schicksale
Dichtung und Wirklichkeit
Solche Partien, die sich so schulmäßig geben, haben schon in der Antike dazu geführt, dass man in Homer den allwissenden Alleskönner bewunderte, den man in allen Lebenslagen um Rat fragen konnte, und die moderne Wissenschaft ernennt ihn darob zum Zeitzeugen für eine ganz bestimmte, in sich stimmige objektive Realität. Sowenig jedoch die Ilias also den ganzen trojanischen Krieg referiert, so wenig ist sie ein Lehrbuch für Strategie und Taktik. Der Dichter wählt aus und arrangiert, er bemüht sich um Zeitlosigkeit in der Verbindung von Mythos und Gegenwart, Ereignisse, Personen und Emotionen stehen für ihn im Vordergrund seines poetischen Interesses. Deshalb durchdringen und überlagern sich im Epos Streitwagentaktik und Phalanxordnung, bleibt der Massenkampf nur Hintergrundfolie für die Kämpfe der Einzelnen. Dahinter steht nicht so sehr das Vorurteil einer aristokratischen Gesellschaft, sondern eher die Anteilnahme Homers am individuellen Schicksal in Großaufnahme. Immerhin gibt es auch Ansätze zu einem Interesse an multikultureller Völkerkunde, nicht ohne einen Anflug von zivilisatorischem Überlegenheitsgefühl des griechischen Dichters. Die Achäer ziehen konzentriert und schweigend in den Kampf, als wären sie stumm, aus Respekt vor den Offizieren; das zusammengewürfelte Heer der Troer jedoch macht Lärm wie eine blökende Schafherde, „denn nicht alle hatten einheitliche Rede und Stimme, sondern die Sprache ging durcheinander, waren sie doch von weither zusammengerufene Mannschaften“ (Il. 4,429–438, vgl. 3,1–9 „Vögel“). Allerdings vermischen sich diese Unterschiede sogleich im allgemeinen Schlachtenlärm, wenn einer den anderen erschlägt, nach der homerischen Erkenntnis: „Der Krieg ist für alle gleich, auch den Tötenden hat er oft schon wieder getötet“ (Il. 18,309). Dies wird illustriert durch die erste Folge von Zweikämpfen, in die sich das Geschehen nach dem Zusammenprall der Truppen auflöst. Dabei ist es schwierig, den raschen Wechsel zu entwirren und aus dem Durcheinander oft unbekannter Sieger und Besiegter ein klares Bild zu gewinnen, zumal sich jetzt herausstellt, dass auch die multiethnischen „Troer“ meist rein griechische Namen tragen. Welche Seite also jeweils überlegen ist, kann man nur durch pedantisches Nachrechnen ermessen und kommt dann zu dem Ergebnis „vier tote Troer gegen drei Achäer, also leichte Vorteile für die Achäer“, was nach dem schändlichen Eidbruch auch nur gerecht ist. Aber dem Dichter ist die Bezugnahme auf menschliche Hintergründe und Schicksale im Kriegsgeschehen wichtiger als ein nüchterner Heeresbericht. Das demonstriert er in zum Teil drastisch skizzierten Einzelgefechten der ersten Gefechtsphase (Il. 4,457–542): Ein Troer fällt, ein Achäer will ihn am Fuß aus dem Geschosshagel ziehen, um ihn der Rüstung zu berauben, wird aber von einem Troer erschlagen, und darüber wälzt sich die Schlacht aller gegen alle. Der blühende Jüngling Simoeisios, am Fluss Simoeis von seiner Mutter geboren, als sie von einem Besuch bei den Schafherden im Idagebirge zurückkam, liegt nun da wie die welkende Pappel am Flussufer, so jung gestorben, dass er seinen fürsorglichen Eltern das Ziehgeld nicht zurückerstatten konnte. Ihn hatte der Telamonier Ajas gefällt, den verfehlt nun ein Sohn des Priamos mit dem Speer, doch trifft er den Gefährten des Odysseus, als er die Leiche wegzerrt, die fällt zu Boden und er darüber hin, Odysseus ergrimmt und durchbohrt einem Bastardsohn des Priamos den Kopf von Schläfe zu Schläfe; die Argeier jubeln und bergen die
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Toten, denn die Troer und selbst Hektor weichen zurück. Da muss der Gott Apollon von der Burg herunter sie ermuntern und daran erinnern, dass Achill nicht mehr kämpft, sondern bei den Schiffen seinen Zorn abkocht, während auf der Gegenseite Athene die Achäer anspornt. Im erneuerten Kampf betäubt ein Thraker den Gegner durch Steinwurf und durchbohrt ihn dann neben dem Bauchnabel, dass alle Gedärme auf die Erde quellen, wird aber selbst von einem Ätolier in der Lunge getroffen und mit dem Schwert getötet, nur die Rüstung behält er, da die thrakischen Freunde ihn umringen. „So waren beide beieinander dahingestreckt, der eine der Thraker, der andere der Epeier Anführer, und ringsum wurden auch viele andere noch getötet. Da hätte wohl keiner das Kriegshandwerk getadelt, der noch heil und unverletzt vom scharfen Erz da mitten drin sich hätte herumtreiben können, an der Hand geführt von Pallas Athene, die den Anprall der Geschosse ihm abwehrte“ (Il. 4,536–542). Zusammenfassend begutachtet der Dichter also nochmals das Schlachtfeld aus der Sicht eines neutralen Betrachters. Nach dieser ersten skizzenhaften Gesamtschau des Kriegsgeschehens bringt das 5. Buch die Konzentration auf einen herausragenden Heldenkampf, die Aristie des Diomedes, gleichsam in Stellvertretung des Achill, mit allen dazugehörigen Details. Athene erfüllt ihn mit Kühnheit und umkleidet ihn mit dem gefährlichen Glanz des herbstlichen Sirius, sie stärkt ihn bei einer Verwundung erneut und verleiht ihm die niemals zitternde Beständigkeit seines Vaters Tydeus, die sie mit einer ganz besonderen Gabe verbindet: „Den Schleier hab’ ich dir von den Augen genommen, der vorher darauf lag, dass du jetzt klar erkennen kannst, wer Gott ist und wer Mensch“ (Il. 5, 127f.). Diese Unerschütterlichkeit und über Menschenmaß hinausgehende Erkenntnisfähigkeit kommt ihm sogleich zustatten. Dem Ansturm zweier gewaltiger Helden, Äneas und Pandaros, im Streitwagen tritt er zu Fuß entgegen: „Es lässt mich nicht zittern Pallas Athene“ (Il. 5,256), und da er nun sogar leibhaftigen Göttern ins Auge blicken kann, vermag er auf dem Höhepunkt seines Übermenschentums erst den Kampf mit Apollon zu vermeiden, dann aber nicht nur die zimperliche Liebesgöttin Aphrodite, sondern schließlich auch mit Athenes Unterstützung, die zusätzlich noch den Wagen lenkt, den menschenmordenden Ares zu verwunden: „Sie stieg in den Wagenkasten zum göttlichen Diomedes, die kampfbegierige Göttin; laut ächzte die eichene Achse unter der Last, denn sie trug die schreckliche Göttin und den besten der Männer“ (Il. 5,837–839). Der vom Speer des Helden getroffene Kriegsgott brüllt denn auch wie neun- oder zehntausend Krieger zusammen und fährt wie eine Gewitterwolke zum Himmel auf, wo er bei seinem Vater Zeus mehr Tadel als Trost findet. Diese erste Kostprobe eines Kampfes von Mensch und Gott als dramatischer Höhepunkt wird wiederum eingebettet in eine Serie von variantenreichen, sich steigernden Einzelszenen, die dem erschütternden Bild des Krieges nochmals neue Nuancen hinzufügen: Bedingt durch die Zweizahl von Wagenlenker und Kämpfer erscheinen des öfteren Brüder- oder Freundespaare auf dem Schlachtfeld. Gleich zu Beginn seines Sturmlaufs trifft Diomedes auf zwei Söhne des reichen Hephaistospriesters Dares – ihn hat übrigens die spätere Tradition zum angeblichen Augenzeugen und Berichterstatter des trojanischen Krieges in einer fingierten Reportage unter dem Verfassernamen „Dares Phrygicus“ gemacht. Auch hier wirft Diomedes den einen der Brüder
Kampf aller gegen alle
Konzentration auf eine Aristie
Kämpfe von Mensch und Gott
Schicksale von Angehörigen
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Friedensvision im Krieg
Vergessen statt Sühne
Dauerhafter Friede
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als Fußkämpfer vom Wagen, der andere entkommt mit der Hilfe des Gottes Hephaistos, der verhindern will, dass der alte Mann durch den Verlust beider Söhne völlig im Jammer versinkt (Il. 5,9–241). Weniger Glück haben andere Väter, denen der entfesselte Held beide Söhne tötet, der Traumdeuter Eurydamas, „der ihnen beim Abschied ihre Träume nicht gedeutet hatte“, oder der altersschwache Phainops, der kein anderes Kind mehr zeugen kann, so dass wildfremde Menschen sich das Erbe teilen werden, und sogar der König Priamos verliert auf einen Schlag zwei seiner 50 Söhne, samt ihren Waffen und Pferden (Il. 5,148–165). Bei allem Siegesglanz des Helden sind also die Schrecken des Krieges immer präsent, nicht nur in der Ausmalung der grässlichen Verwundungen und der Qualen der Opfer, sondern auch durch den Blick auf die Leiden der Angehörigen. Die Segnungen des Friedens hingegen kennt die Ilias nur in gelegentlichen Visionen, so etwa, wenn mitten in der hasserfüllten Auseinandersetzung zwischen Achill und Hektor die Erwähnung der Quellbecken die Erinnerung heraufruft: „Hier pflegten die Frauen und Töchter die Wäsche zu waschen, früher zur Friedenszeit, vor der Ankunft der Achäer“ (Il. 22,154–156), oder in dem Kontrastbild der zwei Städte auf dem „Schild des Achilleus“ (Il. 18,490–541). In der Odyssee begegnet das Abenteuer immer wieder der friedlichen Normalität, am Hof des Menelaos, in der Stadt der Phäaken oder auch im Gehöft des Schweinehirten Eumaios. Nur die Zerstörung der sozialen Ordnung in der Polis von Ithaka – die gewalttätige Hausbesetzung und Mordlust der Freier – führt zu den Kampfszenen der Saalschlacht im Stil der Ilias, und die Tötung der adeligen Jugend der Kephallenen durch Odysseus birgt die Gefahr eines erbitterten Rachekrieges. Wie im 4. Buch der Ilias berät man auf dem Olymp über Krieg und Frieden, unter Verwendung der fast wortgleichen Verse, doch Zeus verfügt diesmal nach Billigkeit: „Nach der Bestrafung der Freier durch Odysseus sollen sie verlässliche Verträge abschließen, und dieser König sein für immer. Wir aber wollen Vergessen schaffen für die Ermordung der Söhne und Brüder, sie sollen einander lieben wie zuvor, und Reichtum und Friede soll herrschen in Fülle“ (Od. 24,473–486). Vergessen statt ewiger Aufrechnung der Schuld fordert hier der vorchristliche Gott als unabdingbare Voraussetzung für Frieden und Glück. Noch aber ist es nicht so weit, noch droht das Schlimmste: Schon stehen sich die Angehörigen der Freier und die Anhänger des Odysseus bewaffnet gegenüber, sein alter Vater Laertes zieht mit Sohn und Enkel gemeinsam in den Kampf, und er darf auch noch mit Hilfe der Athene den gegnerischen Anführer besiegen. Dann jedoch macht die Göttin der Auseinandersetzung ein Ende. „Haltet inne im Krieg, Ithakesier, und trennt euch ohne Blutvergießen so rasch wie möglich!“ (Od. 24,531f.), und Zeus selbst veranlasst sie durch einen warnenden Blitzschlag, auch den Odysseus zurückzuhalten. Der gehorcht ihr freudigen Gemütes, so dass sie den Friedensschluss besiegeln kann, mit einem feierlich bekräftigten Vertrag: „Eidschwüre veranlasste sie dann zwischen beiden, Pallas Athene, die Tochter des ägishaltenden Zeus, dem Mentor gleichend an Gestalt sowohl wie an Stimme“ (Od. 24,531–548). Mit diesem knappen, versöhnlichen Schlusswort klingt nicht nur die Heimkehr-Odyssee aus, sondern auch der ganze verderbliche Krieg um Ilios. Anders als nach dem Zweikampf des Menelaos und Paris verhindern die Götter hier
Kampf, Tod und Unterwelt
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nicht den Friedensschluss, weil das Schicksal es so will, sondern sie bekräftigen ihn auf Dauer.
Kampf, Tod und Unterwelt Die homerischen Epen beziehen sich auf den bisher schlimmsten und größten aller Kriege. Bis zur Unerträglichkeit wird daher der Alltag des Kampfgeschehens dargestellt, mit schrecklicher Präzision und in enervierenden Variationen. Die dabei entfesselten Emotionen gehören aufs engste zu dem blutigen Handwerk selbst, das drastisch ausgemalte Detail erregt Schauder und Jammer, wie man die aristotelischen Begriffe phobos und eleos interpretiert hat, die gewöhnlich mit „Furcht“ und „Mitleid“ übersetzt werden. Die in der Tragödie angestrebte Reinigung – Sublimation oder auch Ausscheidung (katharsis) dieser Leidenschaften (pathe¯) – verlegt das Epos in die Ruhepausen des dramatischen Geschehens, vor allem auch am versöhnlichen Ende des Gedichts. Auf dem Schlachtfeld selbst dominieren Hass, Rachsucht und Brutalität, leise Regungen von Mäßigung oder gar Mitleid werden meist im Keim erstickt. Nach einer Serie von sieben in aller Nüchternheit aufgezählten, von Achäern getöteten Troern schickt sich Menelaos an, einen Gegner lebend gefangen zu nehmen. Adrestos war durch einen Unfall aus dem Wagen geschleudert worden und liegt hilflos auf dem Mund im Staub. Unter Verweis auf die gefüllte Schatzkammer seines reichen Vaters überzeugt er den hinzukommenden Atriden, ihn in der Hoffnung auf ein üppiges Lösegeld am Leben zu lassen, und der ist schon im Begriff, ihn als Beute zu den Schiffen zu schicken. Da kommt sein Bruder Agamemnon angerannt und ruft: „‘Du Weichling, was bist du so menschenfreundlich? Haben dir die Troer nicht übel mitgespielt in deinem Hause? Von denen soll keiner aus unseren Händen entkommen, auch nicht der Knabe im Mutterleib, alle aus Ilios müssen rücksichtslos für immer vertilgt werden!’ Mit diesen Worten stimmte er seinen Bruder um, da er Unvermeidliches (aisima) vortrug; der stieß den Adrestos von sich, und Agamemnon stach ihn in die Weichen, dass er stürzte, dann setze er ihm den Fuß auf die Brust und zog den Speer wieder heraus“ (Il. 6,29–65). Das Verhalten der handelnden Personen und der Stil der Schilderung sind gleichermaßen mitleidlos. Die Unerbittlichkeit des Vorgangs entspricht der nicht mehr kontrollierbaren Schicksalhaftigkeit (aisa) dieses Krieges, und irgendwie steht sie hinter allen den schockierenden Gräuelbildern des Epos. Eine entsprechende Episode findet sich im 11. Buch, wiederum verbunden mit dem unerbittlichen Agamemnon. Zwei Brüder auf einem Wagen kommen wegen scheuender Pferde in Bedrängnis, ihre mitleiderregende Bitte um Schonung gegen reiche Lösegeldzahlung ihres Vaters erfährt eine mitleidlose Antwort: Sie haben zu büßen für die Vergehen dieses Vaters, der sich einst von Paris hatte bestechen lassen und sogar die Ermordung des Menelaos angeraten hatte. Nach dem Prinzip der Kollektivschuld vertritt der Heerführer hier nun die Sippenhaftung, und er schreitet sogleich zur Exekution: Den einen stößt er mit dem Speer vom Wagen, dem anderen schlägt er am Boden mit dem Schwert beide Arme und den Kopf ab, dass der Rumpf wie eine Walze durchs Getümmel rollt (Il. 11,122–147).
Schauder und Jammer
Kollektivschuld und Sippenhaftung
184 Arroganz des Feldherrn
Anatomie des Körpers
Entfesselter Rachedrang
Dichtung und Wirklichkeit
Was hier vordergründig den unwiderstehlichen Kämpfer zu verherrlichen scheint, steht dennoch in einem gewissen Zwielicht, denn der Leser hat ja bereits zu Beginn des Epos den Agamemnon in seiner hochfahrenden Arroganz und Verblendung kennen gelernt, die sich zum Unheil der Achäer auswirkt. Den Gipfelpunkt der Brutalität in der Darstellung des Krieges erreicht die Ilias in der Aristie des Patroklos und beim Kampf um seine Leiche sowie im Rachefeldzug des Achill, wodurch die erschütternde Tragik um den Tod des Freundes und die Maßlosigkeit der daraus entspringenden Trauer und Wut Gestalt gewinnen. Die unendliche Variation der Verwundungen und Todesarten durchläuft dabei gleichsam ein ausklappbares Schaubild der menschlichen Anatomie. Es entspricht der Grundtendenz dieser Dichtung, dass sie die Präzision im Detail auch hier der begrifflichen Abstraktion vorzieht. Charakteristisch dafür ist, dass sie kein eigentliches Wort für „Körper“ hat; die meist so übersetzte Vokabel so¯ma bedeutet „Leichnam“, für den Lebenden steht gewöhnlich demas („Gestalt“), gelegentlich auch autos, er selbst. Umso genauer kennt und benennt man die Einzelheiten, vom Scheitel bis zur Sohle, alles ist irgendwie verletzbar, vor allem natürlich der Kopf – Haar und Bart, Stirn und Schläfen, Augen mit Augäpfeln, Brauen und Wimpern, Nase mit Nasenwurzel und Nasenlöchern, Mund mit Lippen, Zähnen und Zunge, dazu Kinn, Kinnbacken und Kinnlade, Ohr und Ohrläppchen bis zu Hals und Kehle samt Luftröhre. Am Rumpf werden Schultern und Schlüsselbein, Brust und Brustwarzen, der Bauch und der Nabel, der Rücken, die Seite, das Gesäß und die Geschlechtsteile in Mitleidenschaft gezogen, und vor allem auch die Extremitäten: Arm, Ellbogen und Hand, die Beine mit Knie, Kniekehle, Schienbein, Fuß und Fußsohle, Ferse, Knöchel, Nägeln und Sehnen. Anlässlich der tiefergehenden Verletzungen zeigt sich schließlich, dass auch die Eingeweide insgesamt und ganz speziell wohlbekannt sind, Gehirn, Herz, Lunge und Leber, Zwerchfell und Magen, Gedärm und Blase, die Muskeln und Knochen werden zerfetzt und zerbrochen, und mit dem reichlich fließenden Blut entweicht bisweilen auch die Seele direkt aus der Wunde. Im Einzelfall wird dann immer wieder der Realismus der Beschreibung auf die Spitze getrieben, indem auch noch der zerstörerische Weg der Waffe durch den Körper nachvollzogen wird: „Er schlug gegen den Mund, der Speer drang geradeaus durch unter dem Gehirn und zersplitterte die Knochen, die Zähne wurden ausgeschlagen, beide Augen füllten sich mit Blut, das drang aus dem offenen Mund und den Nasenlöchern …“ „Er traf die Stirn mit dem spitzigen Stein, der zermalmte beide Brauen, und der Schädelknochen hielt nicht mehr stand, so dass die Augen auf die Erde fielen in den Staub vor die Füße …“ (Il. 16,345–350; 737–742). Der Kampfeszorn des Achill motiviert ausdrücklich das schrecklichste Morden. Ein Altersgenosse fleht um Verschonung, „der Törichte, wusste er doch nicht, dass es vergeblich war, denn er hatte keinen mildgesinnten oder freundlichen Mann vor sich, sondern einen Rasenden. Der hieb ihm mit dem Schwert in die Leber, die glitschte heraus, und schwarzes Blut überströmte ihm die Brust, Dunkelheit verhüllte die Augen, der Atem setzte aus“. Den nächsten Gegner durchbohrt Achill mit dem Speer von einem Ohr zum andern, dann treibt er einem anderen das Schwert bis zum Heft mitten in den Schädel, dass es sich erwärmt vom Blut. Schließlich lähmt er einem
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Troer den Arm an den Sehnen des Ellbogengelenks, schlägt ihm den Hals durch und wirft den Kopf samt Helm weit weg, während das Mark aus den Wirbeln spritzt (Il. 20,463–483). Außer den emotionalen Ursachen der Gräuel werden auch die natürlichen Reaktionen darauf vorgeführt, stellvertretend für die des Lesers, durch das Verhalten beteiligter Personen im Gedicht selbst. Polydoros, der jüngste Sohn und verwöhnte Liebling des Priamos, wagt sich voll Eitelkeit in den Kampf, stolz auf die Schnelligkeit seiner Füße. Im Vorbeirennen trifft ihn Achill in den Rücken mit dem Speer, der beim Nabel wieder herauskommt. Schreiend bricht der Durchbohrte ins Knie, zusammengekrümmt versucht er die Gedärme mit den Händen zurückzuhalten. „Als nun Hektor seinen Bruder Polydoros sah, wie er sein Gedärm in Händen haltend sich auf der Erde wälzte, da wurde es ihm schwarz vor den Augen, und er konnte sich nicht länger abseits halten, sondern ging dem Achilleus entgegen …“ (Il. 20,407– 422). Trotz der immer wieder auch vom Dichter angedeuteten Problematik dieser blutigen Szenen darf man nicht verkennen, dass sich frühere Epochen angesichts von Kriegsgräueln und grausamen öffentlichen Hinrichtungen, von Verstümmelungen und Zurschaustellung von Leichen sehr viel unempfindlicher gezeigt haben als die Moderne seit dem neunzehnten Jahrhundert. Bei Homer jedenfalls wird die schreckliche Realität des Krieges in diesen oft schwer erträglichen Passagen hinaufgesteigert zu einem hyperrealen Pathos des Schreckens und Schauders. Dieses Element gehört wesensmäßig zum Epos dazu, und so reicht es auch hinüber in die auf weite Strecken so viel friedlichere Welt der Odyssee, wo sich nach dem „Weltkrieg“ der Ilias ein nicht weniger blutiger interner Bürgerkrieg entwickelt. Die Konzentration auf den begrenzten Schauplatz einer Saalschlacht beim Freiermord hat den Dichter offensichtlich veranlasst, seine Brillanz in der Schilderung detail- und abwechslungsreicher Situationen auch in diesem Genre unter Beweis zu stellen. Odysseus tötet die Anführer Antinoos und Eurymachos durch Überrumpelung beim Versuch einer Gegenwehr, Telemachos trifft den anstürmenden Amphinomos von hinten durch die Brust. Entsprechend zur Prominenz und Arroganz der Opfer wird ihr Tod auch besonders aufwendig und abschreckend ausgemalt: Der ahnungslose Antinoos hebt gerade den Becher zum Mund, da trifft ihn der unerkannte Rächer mit dem Pfeil in die weiche Gurgel, er kippt zur Seite, der Becher entfällt seiner Hand, ein dicker Blutstrahl schießt ihm aus der Nase, wild stampfend stößt er den Tisch mit dem Fuß von sich und fegt die Speisen zu Boden, Brot und gebratenes Fleisch durcheinander. Die Freier empören sich über den vermeintlichen Fehlschuss, Odysseus offenbart sich, Eurymachos sucht die Schuld abzuschieben, findet aber kein Gehör und wird im Ansturm abgefangen. Odysseus schießt ihm den Pfeil in die Brust bei der Warze bis in die Leber, das Schwert entfällt seiner Hand, er taumelt sich zusammenkrümmend über einen Tisch, schüttet Speisen und Becher zu Boden, fällt schmerzverzerrt auf die Stirn und erschüttert mit beiden Beinen trommelnd den Sessel, bis ihn die Todesformel erlöst: „Über seine Augen ergoss sich der dunkle Schleier“ (Od. 22,8–88). Die pathologisch fast übergenaue Studie der Reaktionen bei Sterbenden zeugt wiederum von der „furchtbaren Realität“ antiker Dichtung, wie Goethe sie bei Horaz zu spüren
Pathos des Schreckens
Pathologische Studien
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Das Schicksal der Protagonisten
Der Krieg tötet den Tötenden
Hybris im Sieg
Dichtung und Wirklichkeit
glaubte, die jedoch auch in Grimmelshausens „Simplizissimus“ gegenwärtig ist, von moderner Literatur ganz zu schweigen. Von dem allgemeinen Kampfesszenario der Ilias hebt sich das Schicksal der Protagonisten in besonderer Weise ab. Dieses ist einerseits vom verbindlichen Mythos festgelegt und vorgeprägt. Die einen werden vor Ilios fallen oder anderweitig umkommen, wie Achill, Patroklos, Ajas, Hektor und selbst Paris, ihre Grabhügel konnte man ja in der Troas zumeist besuchen. Die anderen Achäerhelden, vor allem der „Städteeroberer“ Odysseus, Diomedes und die Atriden, werden zwar die Stadt erobern, aber nicht alle eine glückliche Heimkehr erleben, und auf trojanischer Seite muss als einziger namhafter Repräsentant Äneas entkommen, denn seine Nachfahren sollen ja später Troja regieren (Il. 20,302–308). Der unumstößlichen Verpflichtung, diesen Bedingungen gerecht zu werden, entledigt sich der Dichter mit Gewissenhaftigkeit und Geschick. Überlebenskandidaten wie Agamemnon, Diomedes und Odysseus müssen zwar verwundet werden, wenn Hektor zunächst siegen soll, aber doch nur so, dass sie bald wieder – teilweise mit göttlicher Hilfe – einsatzfähig sind. Im 11. Buch erleiden die drei daher nach heroischem Kampf ihre Blessuren, Agamemnon am Unterarm beim Ellenbogen, Diomedes am rechten Fuß, Odysseus an der Brust über den Rippen, so dass sie vorerst kampfunfähig sind und uns dann auch im 14. Buch in depressiver Stimmung begegnen, auf ihre Lanzen gestützt durchs Lager hinkend (Il. 11,252f.; 377f.; 437f.; 14,27–39). Dies geschieht noch am gleichen Tag, doch schon drei Tage später, im 23. Buch, können sie wieder an den Wettkämpfen teilnehmen. Die letzten Kämpfe der von vornherein dem Untergang geweihten Helden hingegen werden ihrem Rang gemäß aufwendig ausgestaltet und jeweils aufeinander bezogen. Jeder von ihnen darf noch einen strahlenden Sieg über einen großen Gegner genießen, doch der Tod des anderen trägt schon den Tod auch des Siegers in sich, der Sterbende kann ihm diesen baldigen Tod voraussagen. Damit wird die allgemeine Maxime bestätigt: „Der Krieg trifft alle, auch den Tötenden pflegt er zu töten“ (Il. 18,309). Patroklos besiegt den Lykierfürsten Sarpedon, den Sohn des Zeus, trotz des Widerstrebens des göttlichen Vaters, und erbeutet die prächtige Rüstung, denn so will es das Schicksal. Doch im Siegesrausch besiegelt er sein eigenes Los: Apollon betäubt und entwaffnet, Euphorbos verwundet, Hektor tötet ihn. Dessen prahlerischem Jubel antwortet die Prophezeiung seines Opfers: „Auch du wirst nicht mehr lange leben, nahe schon steht dir der Tod und das mächtige Schicksal, von Achilleus’ Händen bezwungen zu werden“ (Il. 16,852–854). Auch Hektor verfällt im Augenblick des Erfolges der Verblendung, er schlägt die Warnung des Toten in den Wind und legt auch noch selber die Waffen an, die er ihm abgezogen hat, ein Gipfel der Vermessenheit und Hybris, denn das ist ja die Rüstung des unbezwinglichen Achill. Voll Mitleid sieht dies Zeus aus der Ferne und gewährt auch ihm zum Ausgleich noch einmal Kraft und Erfolg vor dem Ende, eine letzte Frist (Il. 17,192–214). Danach aber stürmt der Siegeslauf des zurückgekehrten Achill seinem Höhepunkt und damit auch dem des Epos entgegen, der letzten Auseinandersetzung der beiden Gewaltigen. In diesem Kampf aller Kämpfe werden nun in einer äußersten Steigerung sämtliche Motive gebündelt, alle Register gezogen. Im Verfolgungslauf um die Stadtmauer messen sich
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beide Kämpfer – wie Falke und Taube, wie zwei Rennpferde, wie Hund und Hirschkalb, wie im Angsttraum rennend – in der Schnelligkeit ihrer Füße, nach einem Redewechsel folgt die Auseinandersetzung mit den Waffen. Achill wirft als Erster den Speer und verfehlt den Gegner, der sich geduckt hat und nun jubelt: „Gefehlt hast du, und nichts hast du gewusst, du göttergleicher Achilleus, von Zeus über mein Todeslos, deine Rede war nur keck und hinterhältig, um mich zu demoralisieren …“ (Il. 22,279–282). Doch Hektor selbst ist es, der nicht Bescheid weiß über die zuvor vollzogene Entscheidung der goldenen Waage des Zeus, und auch nicht ahnt, dass Athene dem anderen heimlich den verschossenen Speer zurückgegeben hat. Er wirft und trifft, doch sein Speer prallt ab, einen zweiten hat er nicht, und er erkennt den perfiden Betrug der Göttin. Mit gezogenem Schwert schießt er vor wie der Adler auf Lamm oder Hasen, doch der Speer des Achill strahlt hell wie der Abendstern, und der findet ein Ziel: Dort, wo die Schlüsselbeine Achsel und Hals verbinden, zeigt sich ungeschützt die Kehle, wo das Leben am schnellsten zerstört wird. Hier durchbohrt die Spitze den Hals, doch ohne die Luftröhre zu zerschneiden, so dass auch der sterbende Hektor dem Achill noch mit dem letzten Atem sein baldiges Ende vorhersagen kann: „Bedenke es wohl, nicht dass wegen mir dir die Götter dann zürnen an jenem Tag, wo Paris dich und Phoibos Apollon verderben werden, so stark du auch bist, am Skäischen Tor“ (Il. 22,358–360). Dieses im Mythos fixierte Ende des Achill weist über die Ilias hinaus, doch es wird hier und durch die anschließend geschilderte menschen- und götterrechtswidrige Schändung von Hektors Leichnam zusätzlich motiviert. Im Gedicht Homers hat es jedoch keinen Platz mehr, denn hier soll ein zunächst versöhnlicher Ausklang stehen, die Kampfeswut klingt aus im nächtlichen Gegenüber von Achill und Hektors altem Vater Priamos. Die Einzelelemente der epischen Darstellung, direkte Aktion, Reflexion, Wechselgespräch, reale Detailschilderung, Überhöhung durch Gleichnisketten, durchdringen und steigern sich hier im Ereignis des Zweikampfs zu besonderer Intensität, die ethischen und metaphysischen Aspekte, Schicksalswaage, Götterhilfe und Göttertrug, menschliche Ohnmacht und Verblendung gewinnen dabei im Beispiel der beiden todgeweihten Götterlieblinge unmittelbare Gestalt. Die Kampfszene endet damit, dass Hektors Lebensatem (psyche¯) wehklagend zum Hades flattert, das Ziel des Todes verhüllt ihn. Die Menschen bei Homer sind grundsätzlich definiert als „die Sterblichen“, im Kontrast zu den unsterblichen, immer seienden Göttern. Das Wissen um ihren bevorstehenden Tod bestimmt und untermalt das Handeln gerade der größten Helden wie Achill und Hektor, wenn auch mit unterschiedlichen Reaktionen. Von Anfang an weiß Achill, dass ihm nur ein kurzes Leben beschieden ist (Il. 1,352), und auch Hektor, der im 6. Buch nach der Begegnung mit Frau und Kind schon wie ein Toter beweint wird (Il. 6,500), erfährt spätestens aus dem Mund des sterbenden Patroklos seinen baldigen Tod durch Achill (Il. 16,851–854). Zwar bleibt jeweils noch eine scheinbare Alternative: Achill spricht von zwei möglichen Todeslosen, zwischen denen er wählen könne, einem frühen Tod und ewigem Ruhm oder dem Alterstod nach einem langen, ruhmlosen Leben (Il. 9,410–415), und auch Hektor, der das Wissen um sei-
Der Kampf aller Kämpfe
Wissen um Sterblichkeit und Tod
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Schicksal oder freier Wille?
Todespessimismus
Ruhm und Ehre im Tod
Dichtung und Wirklichkeit
nen Tod im Siegestaumel immer wieder verdrängt hat, schwankt noch vor seinem Todeskampf mit Achill zwischen Flucht und Ausharren (Il. 22,99–131), bis er endgültig erkennt: „Wehe, nun haben mich die Götter zum Tod gerufen“ (Il. 22,297). So wurde zuvor auch Patroklos „durch die Götter zum Tode gerufen“. Doch in seinem Falle scheint der Tod in der Schlacht weniger durch freie Entscheidung, als durch Verblendung und Überheblichkeit des Siegers herbeigeführt. „Patroklos verfolgte die Troer und Lykier und fiel damit in schlimme Verblendung, töricht wie er war. Denn, hätte er das Gebot des Peliden (zur rechtzeitigen Umkehr) beachtet, so hätte er wohl dem üblen Los des schwarzen Todes entrinnen können. Doch die Einsicht des Zeus ist der der Menschen stets überlegen. Ihm fällt es leicht, bald den Mutigen in Schrecken zu versetzen oder ihn zum Kampfe anzutreiben, so wie er diesem jetzt die Leidenschaft in der Brust entfesselte“ (Il. 16,684–691). Angesichts dieses Untergangs eines liebenswürdigen Menschen infolge emotionaler Selbstüberschätzung deutet der Dichter seine mitleidige Anteilnahme durch eine jener direkten Anreden (Apostrophen) der handelnden Person an: „Wen erschlugst du als Ersten, und wen als Letzten, Patroklos, als dich die Götter zum Tode riefen?“ (Il. 16,692f.). Der Tod als solcher ist und bleibt trotz der Verklärung durch Siege durchaus ein Übel. Im Hinblick auf den bevorstehenden Tod Hektors wird im 6. und 22. Buch der Ilias vor allem das Elend der Hinterbliebenen, von Vater und Mutter, Frau und Kind, hervorgehoben, und Achill selbst macht zunächst eine sehr nüchterne und vernünftige Rechnung auf: „Alle Schätze der Welt sind mir nicht das Leben (psyche¯) wert, diese kann man immer wieder erwerben, aber die menschliche Seele (psyche¯) kehrt nicht zurück, sobald sie einmal das Gehege der Zähne überschritten hat“ (Il. 9,401–409). In beiden Fällen zeigt sich jedoch, dass keine wirkliche Wahlfreiheit besteht. Sogar der immer wieder einmal noch zögernde Zeus muss sich dem Schicksal unterwerfen, und letztlich können auch die Helden selbst, ihrem innersten Wesen gemäß, nicht anders, als das düstere Los auf sich nehmen. Ihre heroische Existenz, im Mythos vorgeprägt und festgelegt, verlangt zwingend die Akzeptanz des ruhmvollen Todes. Ruhm und Ehre sind der Ausgleich für ein sonst durchaus negativ gesehenes Schicksal, denn ihr Los bejammernd flattert die Seele Hektors zum Hades (Il. 22,362f.), und dem Toten winkt in der Regel kein Himmel der Seligen, oder auch nur ein heiteres Elysium, wie es immerhin dem Menelaos als Gatten der Helena und dadurch Schwiegersohn des Zeus prophezeit ist (Od. 4,562–569). „Beschönige mir nicht den Tod! Lieber wäre ich Tagelöhner eines armen Mannes, als über alle Toten zu herrschen“, sagt die Seele des Achill zu Odysseus in der Unterwelt (Od. 11,488–491). Die Menschen sind durchweg auf das Dieseits orientiert, im Leben wie im Tod. Ehrerweisung bei Lebzeiten ist von höchster Wichtigkeit, daher ist der Zorn des Achill über die Verletzung seiner Ehre durch Agamemnon von so existenzieller Bedeutung. Von fast noch größerer Bedeutung jedoch sind Ehre und Ruhm bei der Nachwelt, die mit dem feierlichen Leichenbegängnis beginnen. Für den toten Achill ist die Schilderung seiner Bestattung, die er ja selbst nicht „miterlebt“ hat, von höchstem Trost: „So hast du selbst im Tod nicht deinen Namen verloren, sondern auf ewig wird unter allen Menschen dein höchster Ruhm fortdauern, Achilleus!“ (Od. 24,93f.).
Kampf, Tod und Unterwelt
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Gegenüber der klaren und realistischen Einschätzung der Lebenswelt entspringen die Aussagen über Sterben und Tod einer Sphäre der eher vagen Vorstellungen, die sich dogmatischer Fixierung entziehen. Dies zeigt schon der Umstand, dass Schlaf und Tod (Hypnos und Thanatos) als verwandte Erscheinungen, ja geradezu als Zwillingsbrüder angesprochen werden (Il. 16,82), ungewisse Gestalten, die erst in Hesiods „Theogonie“ neben den Träumen genealogisch unter die Kinder der Nacht eingereiht werden (Theog. 211f., 756–766), in der Ilias ist die Nacht (nyx) nur die Retterin des Schlafgottes (Il. 14,259). Im Schlaf und Traum vor allem können die Verstorbenen erscheinen, hier gelangen unbestimmte Ahnungen von einer Existenz nach dem Tod zu den Lebenden: Die Seele des toten Patroklos tritt ans Lager des schlafenden Achill, sich selbst an Größe, Schönheit der Augen, Stimme und Kleidung abbildhaft gleich, und bittet ihn um rasche Bestattung. Nur dann kann sie den Unterweltsfluss und die Tore zum Haus des Hades durchschreiten, zuvor halten sie dort die anderen Seelen, Abbilder der Entkräfteten, eido¯la kamonto¯n (Il. 23,65–74), zurück. Der Verstorbene befindet sich also zunächst noch in einem Übergangszustand zwischen Leben und Tod, noch kann er wie ein Traumbild dem Freund erscheinen, und beide müssen diese neue Seinsdimension erst realisieren: „Reich mir noch einmal die Hand“, bittet der Tote, „Tritt näher, wir wollen uns kurz noch umarmen“, sagt der Schlafende und streckt die Arme nach ihm aus – vergeblich. Wie ein Rauch verzieht sich die Seele unter die Erde, mit schwirrendem Geräusch, und staunend erwacht und erhebt sich Achill: „Wehe, so gibt es also auch im Hause des Hades Seele und Abbild, doch ganz ohne waches Bewusstsein!“ (Il. 23,103f.). Odysseus in ähnlicher Situation muss dann sogar selbst als Lebender in die neblig-düstere Unterwelt hinabsteigen, um die Seele seines noch unbestatteten Gefährten Elpenor zu treffen (Od. 11,51–83). Auch bei den Jenseitsvorstellungen ist die allgemeine Tendenz der Odyssee zu einer Erweiterung des Weltbildes deutlich erkennbar. Dennoch treten, wie bei den Grenzbereichen der irdischen Geographie, die Fraglichkeit und Ungewissheit aller Aussagen in der Darstellung und wechselnden Terminologie in Erscheinung. Schon in der Ilias ist zwar die Welt klar aufgeteilt zwischen den drei Söhnen des Kronos: Der Himmel gehört dem Zeus, das Meer dem Poseidon, die Unterwelt dem Hades, die Erde ist allen gemeinsam (Il. 15,187–193). Doch der unheimlichste ist eben Hades oder Aides, der „Unsichtbare“, Besitzer einer Tarnkappe, die selbst Götter vor Göttern verbirgt (Il. 5,845), Herrscher eines schrecklichen, modrigen Bezirks unter der Erde, vor dessen Offenlegung es Menschen und Göttern gleichermaßen graust (Il. 20,61–65). Man weiß vom Gang des Herakles in den Erebos und zum Wasser der Styx, um den Hund des grässlichen Hades heraufzuholen (Il. 8,362–369; Od. 11,623–626), doch für die Erlebnisse des Odysseus werden alle möglichen Traditionen zu einem pseudorealen, mythischen Szenario zusammengefügt: Im nebligen, sonnenlosen Land der Kimmerier, wo ewige Nacht herrscht, erreicht er mit dem Schiff, vom Nordostwind getrieben, den Weltstrom des Okeanos, und dann zu Fuß den Hain der Persephone mit mächtigen Weißpappeln und Weidenbäumen, die Unterweltsflüsse Acheron, Pyriphlegethon, Kokytos und Styx, mit einem Felsen beim Zusammenfluss, bringt dort den Toten ein Opfer dar und kommt schließlich wieder zurück nach
Schlaf und Tod
Seele als Traumbild
Die Unterwelt – mythisch-reale Topografie
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Konsistenz der Totenseelen
Hades-Szenerie: Panoptikum der Vorzeit
Eigentliches Selbst oder schemenhafter Doppelgänger?
Dichtung und Wirklichkeit
Aiaia, wo sich die Wohnung der Morgenröte und der Ort der Sonnenaufgänge befinden, also irgendwie von Westen nach Osten wie die Sonne selbst auf ihrer nächtlichen Reise (Od. 10,504–520; 11,13–22; 12,1–4). In dieser nächtlich-düsteren Szenerie entfaltet sich nun die eigentliche Totenschau (nekyia). Aus dem finsteren Abgrund (erebos) der Unterwelt tauchen einzelne Seelen (psychai) der Verstorbenen empor und schreiten über die Asphodeloswiese. Die Seele des bisher unbestatteten Elpenor ist noch sprachfähig, und die des Sehers Teiresias verfügt dank besonderer Gunst der Persephone, der Gattin des Unterweltherrschers, noch über festes Bewusstsein und Einsicht, während die übrigen wie huschende Schatten, skiai, sind (Od. 10,495), kraftlose Häupter, amene¯na kare¯na (Od. 10,536; 11,29), die durch das Blut der Opfertiere zwar wieder Sprache und Erkenntnisfähigkeit gewinnen wie Antikleia, die Mutter des Odysseus. Aber genauso wie jene Traumerscheinung des Patroklos entzieht sie sich dreimal dem Versuch des Sohnes, sie zu umarmen: Einem Schatten oder Traum vergleichbar flattert sie weg nicht wie ein bloßes täuschendes Trugbild (eido¯lon), sondern in dem kraftlosen Zustand, wie es der Seele des sterblichen Menschen nach Tod und Brandbestattung wesensmäßig zukommt (Od. 11,204–222). Genauso beschaffen erscheinen dem Odysseus auch die übrigen Totenseelen, die lange Reihe der anderen Heldenmütter (Od. 11,225–329) und danach die Kampfgefährten von Troja, Agamemnon, Achill mit Antilochos und Patroklos sowie der grollende Ajas, aber auch die Heroen und Büßer der älteren Generation, Minos und Orion, Tityos, Tantalos und Sisyphos. Nur Herakles hat ein besonderes Los. Zwar ist er auch hier anwesend, als starres, schreckliches Trugbild, als – immerhin der Sprache fähiges – eido¯lon, doch er allein hat außerdem noch die höhere Seinsform der unsterblichen Götter errungen (Od. 11,601–627). Als eigentliche Betreuerin dieser Unterweltsbewohner fungiert nicht der schreckliche Herrscher Hades selbst, sondern die Hausherrin Persephone. Die mehr und mehr anschwellende Schar der Seelen macht einen Lärm wie gescheuchte Vögel und verbreitet schließlich bleiches Entsetzen, das den Odysseus vertreibt. In der zweiten Unterweltsszene der Odyssee werden dann noch weitere Einzelzüge hinzugefügt. Hermes als Seelengeleiter führt die getöteten Freier an, die schwirren und flattern wie eine Schar von Fledermäusen. Der Felsen am Okeanos heißt jetzt der „Leukadische“, dort sind die „Tore der Sonne“ und das „Gebiet der Träume“ sowie die Asphodeloswiese, wo die Seelen wohnen (Od. 24,1–14). Unbestimmt und der mutmaßenden und tastenden Phantasie anheimgegeben wie diese „Topographie“ der Unterwelt bleibt dabei folgerichtig auch die „Psychologie“ der Totenseelen. Aus den dichterischen Bildern hat man immer wieder vergeblich versucht, unter Anleihen bei religiösen Vorstellungen der Naturvölker oder auch bei späteren philosophischen Lehrgebäuden, einen „homerischen Jenseitsglauben“ zu extrahieren. Weder ist die psyche¯, die man traditionell mit „Seele“ wiedergibt, das eigentliche unsterbliche Selbst des Menschen, das sich im Tod vom Körper trennt, und diesen überlebt, noch ein körperloser Doppelgänger, eine bloße Maske, ein unsichtbares Abbild, das erst im Tode frei wird und dann jenes schattenhafte, traumartige Dasein in der Unterwelt führt, während der Mensch „selbst“, sein Körper, von Hunden und Vögeln gefressen oder vom Feuer des Scheiterhaufens zerstört wird.
Göttliche Mächte und Göttergestalten
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„Die Seelen vieler kraftvoller Helden warf er dem Hades hin, sie selbst aber gab er den Hunden und Vögeln zum Fraße“, heißt es zu Beginn der Ilias vom Zorn des Achill (Il. 1,3f.), und Odysseus wird in der Unterwelt von der psyche¯ seiner Mutter belehrt: „Was du für ein bloßes eido¯lon, ein Trugbild, hältst, ist der Normalzustand der Sterblichen nach dem Tode. Des Feuers Gewalt vernichtet den Zusammenhalt von Fleisch, Knochen und Sehnen, und wenn der Lebensdrang (thymos) die weißen Knochen verlässt, fliegt die Seele (psyche¯) so wie ein Traum mit Geflatter hinweg“ (Od. 11,213–222). Das ganze Vokabular der homerischen Totenwelt, wie es uns im dichterischen Kontext entgegentritt, ist nicht terminologisch oder gar definitorisch zu verstehen, vielmehr dient es dazu, ein geheimnisvolles, ungreifbares, dunkles und schwankendes Phänomen vorsichtig zu umtasten. Je nach dem Aspekt der Lebenden erscheint der Tote bald realer, bald unwirklicher, kräftiger oder schwächer, wie ein Trugbild oder als sein anderes Selbst, bis hin zu seinen individuellen Kleidern oder Verwundungen. Die jüngst Verstorbenen haben noch die meiste Lebenskraft, denn sie sind dem Hinterbliebenen besonders gegenwärtig, und den in der Erinnerung verblassten Abgeschiedenen glaubt man durch das Blut der Opfertiere ein Stück Vitalität zurückgeben zu können. Tatsächlich ist in der Regel nicht von einer innewohnenden psyche¯ des Lebenden die Rede (bei Achill wird sie nur einmal im Zusammenhang mit seiner Sterblichkeit erwähnt, Il. 21,568f.). Sie äußert sich nur im Entschwinden, zeitweilig bereits in der Ohnmacht. Erst mit dem Tode tritt sie wirklich in Erscheinung, wenn sie den Körper verlässt, sei es durch den Mund, „das Gehege der Zähne“ (Il. 9,409), nicht selten ihr Geschick bejammernd, wie bei Patroklos und Hektor mit demselben Formelvers (Il. 16,856f.; 22,362f.), oder auch aus der offenen Wunde (Il. 14,518f.), gleichsam als das entfliehende Leben. Dennoch wird es dem homerischen Sprachgebrauch nicht gerecht, wenn man deshalb die Vokabel psyche¯ mit dem lexikalischen Äquivalent „Leben“ gleichsetzt und eine Einwirkung des etymologischen Zusammenhangs mit „hauchen, blasen, atmen“ (psychan) bestreitet. Auch „Lebenshauch“ wäre freilich noch nicht angemessen, denn psyche¯ gewinnt ja gerade mit dem „Ableben“ der Person ein gewisses „Eigenleben“. Die Psychologie der lebenden Menschen wird dann durch ganz andere Begriffe bestimmt, wie z.B. noos, phrenes und thymos, und diese entfalten sich im Tun und Leiden auf der Bühne der Oberwelt.
Umtasten des Phänomens
Psyche als Lebenshauch und Abbild des Lebens
Göttliche Mächte und Göttergestalten Die religiösen Vorstellungen und die ganze bunte Welt der Götter, ihre Gestalten, ihr Wesen und ihre Wirkungen, gehören zu den auffälligsten und schwierigsten Erscheinungen im homerischen Epos. Die griechische Philosophie hat schon früh Anstoß daran genommen. „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern aufgebürdet, was bei Menschen schimpflich ist und tadelnswert, stehlen, huren und einander betrügen“, kritisierte Xenophanes (frg. 11) um 500 v. Chr.; die monotheistischen Religionen bekämpften später diese „Dämonen“ mit Erbitterung, Renaissance und Barock
Vielzahl und Menschengestalt der Götter
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Menschliches Verhalten und Handeln
Fehlverhalten als gottgesandte Verblendung
Grenzen göttlicher Allmacht
Katharsis als Reinigung der Affekte
Dichtung und Wirklichkeit
erfreuten sich ihrer in sinnenfroher Allegorese, im modernen Film wird der „Götterapparat“ möglichst aus dem Geschehen herausamputiert oder ironisiert. Homer treibt jedoch ebenso wenig Philosophie und Theologie wie kausale Geschichtswissenschaft, er schafft dichterische Realität und hat damit, wie Herodot (2,53) später sagen wird, den Griechen ihre Götter gegeben. Der Ansatz dazu ist durchaus induktiv, ausgehend vom menschlichen Erleben: Im Heerlager vor Ilios entsteht ein verheerender Zwist zwischen den beiden wichtigsten Männern. Ehrgefühl und Würdebewusstsein, Herrschsucht und Eitelkeit, Arroganz und cholerisches Temperament schaukeln sich hoch zu einem Konflikt mit katastrophalen Folgen. Der Dichter fragt nach der Ursache dafür, und er sucht sie im außermenschlichen Bereich: „Wer von den Göttern hat sie dazu gebracht, im Streit sich zu bekämpfen? Der Sohn der Leto und des Zeus …“ (Il. 1,8f.). Apollon zürnt, weil sein Priester missachtet wurde, doch irgendwie vollzieht sich dabei eine weitergehende Planung des Göttervaters: „Der Plan des Zeus wurde vollendet“ (Il. 1,5). Agamemnons Frevel gegen den Priester und die tödliche Ehrverletzung gegen Achill bestrafen die Götter mit Pest und Niederlage. Der Not gehorchend, gibt der Feldherr nach, doch die Verantwortung weist er von sich, indem er sich auf die höheren Mächte beruft: „Ich bin nicht schuldig, sondern Zeus und das Schicksal (Moira) und die Rächerin (Erinys), die mich in rasende Verblendung (Ate¯) stürzten. Was konnte ich tun, Gott vollendet doch alles“ (Il. 19,86–90). Was hier wie die Vorstellung von einer göttlichen Allmacht und die Leugnung eines freien Willens klingt, entspricht jedoch nicht einer dogmatischen Anschauung des Dichters. Der scheinbare Fatalismus dieser Aussage ist Teil einer Schutzbehauptung des hochfahrenden zerknirschten Generalissimus, der als seinen eigenen Anteil allenfalls eine „Verblendung“ zugibt. Dieser Ate¯ kann selbst Zeus verfallen (Il. 19,95f.), doch vor allem sind ihr die schwachen Menschen ausgesetzt. Paris und Helena, die Verursacher des Krieges, waren ihre Opfer, nicht ohne das Zutun der Göttin Aphrodite (Il. 24,28; Od. 4,261f.). Unter dem Eindruck ihrer überwältigenden Schönheit möchte auch König Priamos die Helena freisprechen. „Nicht du bist schuld, sondern die Götter sind schuldig …“ (Il. 3,164). Selbst die Pferde des Achill, von Hera mit menschlicher Sprache begabt, weisen den Vorwurf zurück, sie hätten den Patroklos im Stich gelassen. „Nicht wir sind schuld, sondern ein großer Gott und das mächtige Schicksal …“ (Il. 19,409f.). Der Verweis auf die Einwirkung höherer Mächte kann also immer wieder zur Entlastung dienen. An der Gestalt des zürnenden Achill selbst, der Zentralfigur des me¯nis-Geschehens, wird jedoch der Bereich individueller Verhaltensmöglichkeiten erweitert und vertieft. Der alte Erzieher Phönix warnt ihn vor der verhängnisvollen Verstrickung: Im Bann der Leidenschaft erliegt man leicht der Ate¯, denn sie ist kräftig und kommt gewöhnlich den nachhinkenden Bitten um Mitleid (Litai) zuvor: Dem Edlen jedoch kommt es zu, wie auch den Göttern selbst, den Litai Ehre zu erweisen, denn sonst folgt der Ate¯ Schaden und Strafe (Il. 9,496–514). Noch ist Achill in seinem abgrundtiefen Zorn nicht fähig dazu; die Folge ist der Tod seines Freundes Patroklos. Die Rache für diesen, der Sieg über Hektor und die Schändung von dessen Leiche führt ihn in weitere Verstrickung. Die Götter müssen dies missbilligen, Apollon formuliert es: „Achilleus hat das Mitleidenkönnen (eleos)
Göttliche Mächte und Göttergestalten
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verloren, kein Schamgefühl (aido¯s) kommt ihm, das die Menschen belastet und befördert zugleich. Die Schicksalsgöttinnen (Moirai) haben ihnen die Fähigkeit zum Ertragen verliehen …“ (Il. 24,33–54). Dem Befehl des Zeus, durch seine Mutter Thetis übermittelt, beugt sich Achill sogleich. Er wird den Leichnam Hektors gegen Lösegeld herausgeben, aber erst die Ankunft des bittflehenden alten Priamos tief in der Nacht bringt ihn zur wirklichen Einsicht. Die menschliche Nähe erregt in ihm das Mitleid und Erbarmen, das die Götter von ihm fordern. Er hebt den Alten auf, „sich erbarmend des grauen Hauptes und grauen Kinns“ (Il. 24,516), denn: „Ich erkenne, dass dich ein Gott zu den Achäerschiffen geleitet hat“ (Il. 24, 563f.). Erst mit der innerlichen Anverwandlung des Götterwillens wird der Held aus der Verblendung des Zornes und der Raserei erlöst. Das Phänomen des Göttlichen in den homerischen Gedichten erwächst also durchaus aus der Perspektive des menschlichen Schicksals, Erlebens und Fühlens. Aus dem Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit und Anfälligkeit heraus erfolgt die Projektion in eine höhere Sphäre, die freilich nicht metaphysisch abgetrennt ist, sondern nur stufenweise darüber steht. Auf sie werden ethische Verhaltensvorschriften zurückgeführt, von ihr aus erfolgt ein ständiges, für den Menschen irrationales Eingreifen. Es ist die spezifische Situation des Epos, aus der diese detaillierten religiösen Vorstellungen erwachsen, die dann für die antike Kultur vorbildlich geblieben sind. Sie davon abzulösen, heißt sie misszuverstehen. In göttlicher Inspiration, die durch Musenanrufe hergeleitet und legitimiert wird, singt und spricht der Dichter von einer lange versunkenen Welt früherer Geschlechter, der Heroen. Diese konnten nicht nur schwerere Steine werfen als die Zeitgenossen, sie waren auch den Göttern näher. Teils stammten sie direkt von ihnen ab, teils pflegten sie Umgang mit ihnen, wenn sie leibhaftig unter ihnen weilten. Die entlegene Welt der Phäaken in der Odyssee spiegelt diesen Zustand in besonderer Weise. Ihr König Alkinoos, selbst ein Enkel des Meergottes Poseidon, formuliert ihn folgendermaßen: „Immer schon erscheinen uns die Götter leibhaftig. Wenn wir Opferfeiern begehen, sitzen sie schmausend unter uns, und wenn sie uns einzeln begegnen, verbergen sie sich nicht, denn wir sind ihnen nahe, wie die Kyklopen und Giganten“ (Od. 7,201–206). In der Regel bleibt jedoch auch dieser Kontakt zwischen Mensch und Gott meist in Zwielicht gehüllt. „Leicht erkennbar sind die Götter“ (Il. 13,72), sagt zwar der lokrische Aias über den als der Seher Kalchas auftretenden Poseidon, doch Odysseus beschwert sich bei Athene, die ihm zuerst als jugendlicher Schafhirte, dann als majestätische Frau begegnet war: „Schwer ist es, Göttin, dich zu erkennen, auch für einen sehr erfahrenen Sterblichen, denn du verwandelst dich selbst in jeden“ (Od. 13,313). Im Einzelfall kann ein Gott jedoch auch einem Heros den spezifischen Scharfblick verleihen, so dem Diomedes: „Den Schleier hab’ ich dir von den Augen genommen, der bisher davor war, dass du gut erkennen kannst sowohl Gott wie auch Mensch“ (Il. 5,127f.). Sogar Achill vermag zwar Athene am strahlenden Auge zu erkennen (Il. 1,199f.), doch in der Kampfeswut verkennt er den Apollon in der Maske des Agenor (Il. 22,9f.). Die griechischen Götterbilder und ihr Nachleben in der späteren bildenden Kunst
Ergebung in den Götterwillen
Entstehung der Götter aus dem Geist des Epos
Göttererscheinung im Zwielicht
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Einwirkung Homers auf die bildende Kunst
Erkennungsmerkmale der Götter
Dichtung und Wirklichkeit
haben die Menschengestalt der Olympier festgelegt und dogmatisiert. Deren spezifische Zuständigkeitsbereiche äußern sich in der Art ihrer Erscheinung, ihre Wirkkräfte erstarren zu Attributen. Zeus wird zum majestätischen Herrscher mit wallendem Bart, Adler und Blitz in Händen, Apollon ein schöner junger Mann mit Bogen und Kithara, Aphrodites Wesen geht schließlich ganz auf in der Schönheit ihres nackten Körpers. Diese Visionen der Maler und Bildhauer werden ausgelöst durch homerische Andeutungen, die gerade deshalb so anregend wirken, weil sie in ihrer Knappheit der Phantasie genügend Raum lassen. Phidias soll das Zeusbild in Olympia unter dem Eindruck der Erscheinung des Gottes im 1. Buch der Ilias gestaltet haben. Bei genauem Nachlesen findet man jedoch, dass dort beim verstohlenen Gewährungsnicken für Thetis nur ganz wenige Einzelzüge angegeben sind, mit sparsamer Wortwahl, und keineswegs nur optischer Art: „Sprach’s, und es winkte ihr zu mit den dunklen Brauen Kronion, so dass dabei die unvergänglichen Locken herabwallten von des Herrschers unsterblichem Haupt, den hohen Olympos erschütternd“ (Il. 1,528–530). Das Nicken des Hauptes hatte der Gott selbst das größte, unwiderrufliche, untrügliche, unbedingt zu vollendende Zeichen genannt, sein Wesen und übermenschlicher Rang werden nur durch den Ernst der dunklen Brauen, die Doppelung der Unsterblichkeitsvokabeln ambrosios und athanatos und die das Gebirge erschütternden Folgen eines leichten Winks der Götterstirn angedeutet. Die Fernwirkung des Zeusplans wird sich dann durch das Epos hindurchziehen, das hier ausgelöste Geschehen ist eine einzige Bestätigung der Majestät des obersten Gottes, und alle diese Elemente hatte der Bildhauer in Menschengestalt umzusetzen, unterstützt vom Glanz der Materialien Gold und Elfenbein. So überzeugend die Materialisierung der religiösen Vorstellungen bei Phidias auch ausgefallen sein mag, auf die Dauer erschöpfte sich doch die Suggestionskraft der bildenden Kunst. Die menschengestaltigen Bilder erstarrten in Äußerlichkeiten, doch Homers Worte blieben lebendig. Der Nacht vergleichbar schreitet der zürnende Apollon herab vom Olymp, an seiner Schulter klirren die Pfeile im Köcher, schrecklich ist der Klang seines silbernen Bogens, wenn er Tiere und Menschen tötet mit seinem Geschoss (Il. 1,44–52). Auch hier ist es der erste Auftritt Apollons im Gedicht, ergänzt durch sein Kitharaspiel zum Gesang der Musen gegen Ende des 1. Buchs, der sein Wesen grundlegend zum Ausdruck bringt: Die äußeren Attribute Bogen und Kithara sind vorhanden, aber die Grundstimmung ergibt sich aus dem finsteren Schreiten und dem Klang des Silberbogens, die auf die spätere Rolle des Gottes beim Tod des Patroklos und des Achilleus vorausdeuten. Gerade diese spezifischen Einzeleindrücke sind es auch, die dem Menschen das göttliche Gegenüber erfahrbar machen. Der lokrische Ajas erkennt den Poseidon im Weggehen von hinten an Füßen und Unterschenkeln, ehe er sich in einen Falken verwandelt. Aphrodite erscheint der Helena in der Gestalt einer alten Frau, aber diese erkennt die Liebesgöttin durch die Verhüllung hindurch an ihrem schönen Hals, dem sehnsuchterregenden Busen und den strahlenden Augen (Il. 3,386–398). Auch Achilleus erkennt Athene am Glanz der erschreckenden Augen, und Staunen ergreift ihn dabei wie Helena (thambe¯sen), dem Heer erscheint die Kriegsgöttin als funkensprühendes Meteor (Il. 1,200; 4,75–78), und in einer Szene der Odyssee offenbart
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sich ihre Gegenwart als geheimnisvolles Lichtphänomen: „Vater, ein großes Wunder sehe ich mit meinen Augen: Der ganze Raum erscheint wie von loderndem Feuer erhellt, ein Gott vom Olymp muss hier drin sein“, sagt Telemachos zu seinem Vater, und der ermahnt ihn: „Schweig still und halt an dich und frage nicht, denn so gebührt es sich gegenüber den olympischen Göttern“. Ehrfürchtiges stummes Staunen vor den göttlichen Manifestationen ist also das richtige menschliche Verhalten, wobei offenbleibt, ob Odysseus selbst wahrgenommen hat, was der Dichter berichtet: „Vor ihnen verbreitete Pallas Athene wunderschönes Licht mit einer goldenen Lampe“ (Od. 19,33–43). Wenn der Dichter hier die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auch bei den götternahen Heroen betont, so ist er selbst völlig auf höhere Inspiration angewiesen, wo er das Leben und Treiben der Götter untereinander ausmalt. Zwar hat er ihre Wohnsitze und Beratungs- oder Beobachtungsorte im irdischen Zwischenbereich angesiedelt, auf den Berggipfeln von Olymp, Samothrake und Ida oder in den Tiefen des Meeres, aber für die wörtliche Wiedergabe ihrer Unterhaltungen und Streitereien kann er sich allenfalls auf Information durch die Töchter des Zeus, die Musen, berufen. Selbst Odysseus, der sich innerhalb des Epos als vielseitiger Mythenerzähler hervortut, sieht sich gelegentlich zu einer genauen Quellenangabe veranlasst, wenn er ein Göttergespräch wiedergibt: Was Zeus persönlich zum Sonnengott Helios gesagt hatte, konnte Odysseus unmöglich wissen. „Dies hörte ich von der schönhaarigen Kalypso, und die sagte, sie habe es selbst von dem Boten Hermes gehört“ (Od. 12,389f.). Die Kommunikation zwischen Mensch und Gott wird normalerweise im Bereich des Sakralwesens hergestellt, durch Gebet und Opfer, Seher, Priester und Traumdeuter. Das Heer vor Ilios leidet unter einer Seuche, Achill drängt den Feldherrn zur Ursachenforschung: „Lass uns einen Seher, Priester oder Traumdeuter befragen, denn auch der Traum kommt von Zeus, weshalb uns Apollon zürnt und wie wir ihn versöhnen können“ (Il. 1,62–67). Zeus hat der Thetis versprochen, den zürnenden Achill zu ehren, indem er die Achäer in eine Niederlage stürzt. Zu diesem Zweck sendet er dem Agamemnon einen Traum mit der Aufforderung zum Angriff, denn jetzt könne er Ilios erobern. Der Traum nimmt die vertrauenswürdige Gestalt des Nestor an, und Agamemnon lässt sich täuschen: „Der Narr, und wusste doch nicht, was Zeus im Sinn hatte“ (Il. 2,38). In der Odyssee ist es Athene, die der Penelope ein Traumbild in der Gestalt ihrer Schwester Iphthime sendet, um sie zu trösten (Od. 4,795–841), während sie der Nausikaa selbst in der Gestalt einer Freundin im Traum erscheint (Od. 6,15–43), um sie zur Ausfahrt zu bewegen. Gerade gottgesandte Träume können also betrügerisch oder wahr sein, auch in der Maske einer Vertrauensperson; anders verhält es sich, wenn Verstorbene selbst als Traum aus dem Jenseits kommen. Traumgestalt und Seelenwesen (psyche¯, eido¯lon) fließen dabei zusammen, denn Schlaf und Tod sind Brüder (Il. 14,231; 16,672). Wenn also die Seele des toten Patroklos dem schlafenden Achill erscheint (Il. 23,65–107), so entspricht dies der Begegnung des Odysseus in der Unterwelt mit der Seele seines verunglückten Gefährten Elpenor (Od. 11,51–83): Beide Erscheinungen verlangen von den Hinterbliebenen die Ehre der Bestattung mit ganz bestimmten Anweisungen. Daneben gibt es Traumvorstel-
Bekräftigung der Glaubwürdigkeit
Traumerscheinungen
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Zweideutige Träume
Vorzeichen in der Natur
Blasphemischer Skeptizismus
Dichtung und Wirklichkeit
lungen, die wie reale Vogelzeichen in der Natur eine Deutung verlangen – Penelope träumt von ihren zwanzig Gänsen, die ein Adler tötet, und der Traumadler selbst erklärt ihr, er sei der zurückgekehrte Odysseus, der die Freier töten werde (Od. 19,535– 553). Die Zahl „zwanzig“ mag dabei zugleich für die Jahre der Abwesenheit des Odysseus stehen, so wie die neun Sperlinge des von dem Seher Kalchas gedeuteten Wunderzeichens vor der Ausfahrt der Flotte nach Troja die neun Jahre fruchtloser Belagerung bezeichnen sollen (Il. 2, 303–330). Auch die phantastische Verschränkung der Vorstellungen, wo das Vogelzeichen im Traumbild sich selbst erklärt, findet jedoch bei der vielfach enttäuschten Penelope keinen Glauben, denn sie weiß: Träume sind verworren, von zweierlei Verlässlichkeit; die einen kommen durch das Tor der täuschenden Weißmacherei aus gesägtem Elfenbein, die anderen aus dem Tor der Wahrheit und Perfektion aus poliertem Horn (Od. 19,560–569). Das Bild der zwei Traumtore oder Traumhäuser aus Horn und Elfenbein lebt von einem unübersetzbaren Wortspiel mit elephas und keras im Griechischen, seine Denkstruktur entspricht der Vorstellung von den zwei Fässern auf der Schwelle des Zeus, aus denen er gute und schlechte Gaben verteilt (Il. 24,527–535). In der Reaktion des Menschen auf göttliche Vorzeichen und Willensbekundungen erweist sich seine Unvollkommenheit in besonderer Weise, wenn er hin- und hergerissen ist zwischen Selbstbescheidung, Gläubigkeit, Aberglauben einerseits, Selbstbewusstsein, Skepsis und hybrider Auflehnung andererseits. Zufällige Worte oder Niesen im bedeutsamen Moment (Od. 17,541), Blutregen, Blitz, Donner und Regenbogen (Od. 21,415; Il. 10,8; 11,53; 17,548) können von Bedeutung sein, besonders jedoch die Vogelzeichen: Je nach der Richtung, aus der Adler, Habicht oder Reiher kommen, je nach der Art und dem Verhalten ihrer Beutetiere ist die göttliche Botschaft zu deuten. Athene sendet einen schreienden Reiher von rechts zur Warnung in der Nacht, Odysseus begrüßt das Zeichen und antwortet mit einem dankbaren Gebet an die Göttin, ihr Wink ist klar (Il. 10,274–282). Schwierig jedoch wird es, wenn sich die Zeichen widersprechen: Zeus entsendet die Götterbotin Iris zu Hektor, um ihm nach Agamemnons Ausscheiden den siegreichen Vorstoß bis zu den Schiffen zu versprechen (Il. 11,185–209). Agamemnon zieht sich verwundet zurück, und Hektor jubelt auf: „Fort ist der beste Mann, und mir hat Zeus Ruhm gegeben“ (Il. 11,288f.). Beim Sturm auf Graben und Mauer erscheint jedoch von links, also von der Unglücksseite her, ein Adler mit einer Schlange in den Fängen. Diese wehrt sich und beißt den Raubvogel in die Brust, so dass er sie fallen lässt und schreiend davonfliegt im Wehen des Windes. Mit Grausen sehen die Trojaner das Reptil in der Mitte des Heeres, ein Wunderzeichen des Zeus. Polydamas, der besonnene Altersgenosse Hektors, Sohn des Apollonpriesters Panthoos, warnt und deutet das Zeichen, „wie ein Seher das könnte“: „So wie der Vogel es nicht vermochte, die Beute heim ins Nest zu seinen Jungen zu bringen, so werden auch wir nicht heil von den Schiffen zurückkehren.“ Hektor jedoch beruft sich auf das Siegesversprechen des Zeus und beschimpft den Polydamas: „Du heißt mich den Zeichenvögeln zu gehorchen; nach denen richte ich mich nicht, um die schere ich mich nicht, ob sie rechts fliegen nach Osten und Süden, oder nach links zum dunstigen Westen: Wir vertrauen dem Rat-
Göttliche Mächte und Göttergestalten
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schluss des Zeus – ein Vogelzeichen ist das beste, zu kämpfen für das Vaterland!“ Tatsächlich bestärkt ihn der Himmelsgott in dieser hochgemuten Haltung mit einem weiteren Zeichen, indem er einen Staubsturm vom Ida her gegen die Schiffe treibt (Il. 12,200–257). Letztlich sind die Götterzeichen also widersprüchlich, zumindest zweideutig, ja irreführend. Hektors Haltung ist einerseits durchaus berechtigt und heldenhaft, aber letztlich doch blasphemisch und überheblich. Zwar kann er die Mauer durchbrechen und bis zu den Schiffen vordringen, doch nur so weit reichte das Versprechen des Zeus; der wendet seine Aufmerksamkeit ab vom Kampfgeschehen, wird von Hera auf dem Idagipfel erotisch abgelenkt und in Schlaf versenkt, und Poseidon kann den Achäern zu Hilfe kommen (Il. 13,1–38). Hektor wird von Ajas mit einem Steinwurf außer Gefecht gesetzt (Il. 14,402–420), die Trojaner fliehen unverrichteter Dinge zurück über den Graben (Il. 15,1–4), und beide Vorzeichen sind vorläufig in Erfüllung gegangen. Zeus entwickelt der Hera seinen weitergehenden Plan, der bis zur Eroberung Trojas reicht (Il. 15,54–71). Bis zu diesem schicksalhaften Endziel wird es jedoch viel wechselhaftes Kriegsgeschehen geben, mit den unterschiedlichsten Götterzeichen und wiederholtem Eingreifen der Götter auf beiden Seiten. Immer wieder tendiert das Geschehen dahin, einen Verlauf gegen das Schicksal zu nehmen: Zeus selbst überlegt, ob er seinen Sohn Sarpedon aus dem Kampf mit Patroklos erretten solle, obwohl das Schicksalslos (moira) ihm den Tod bestimmt hat, beugt sich dann jedoch dem Widerspruch der Hera, die ihn auf die Konsequenzen hinweist (Il. 16,431–461). Beinahe hätte bereits Patroklos Troja erobert, hätte nicht Apollon sich seinem dreimaligen Ansturm entgegengestellt: „Nicht unter deinem Speere zu fallen ist Trojas Schikksal (aisa), nicht einmal unter dem des Achilleus, der dir so sehr überlegen ist“ (Il. 16,698–709). Die Götter selbst sind also dem Verhängnis, einer höheren Ordnung unterworfen, die sie einhalten und durchsetzen müssen. Ein gewisser Handlungsspielraum selbst des mächtigsten unter ihnen, des „Vaters der Menschen und Götter“, Zeus, ist nur gegeben innerhalb fester Grenzen. In entscheidenden Situationen befragt er daher die objektive Instanz der „goldenen Waage“: Vor der ersten großen Niederlage der Achäer wägt er die Todeslose beider Seiten, das Los der Trojaner steigt in den Himmel und ein Blitzschlag verkündet dieses Ergebnis und verbreitet bleiche Furcht im Heer der Achäer (Il. 8,69–77). Der Tod auch des Patroklos ist vorbestimmt, Zeus erwägt nur, ob er ihn sogleich unter Hektors Händen sterben lassen oder ihm vorher noch Erfolge gönnen solle. Die Entscheidung fällt für die zweite Möglichkeit, Hektor erkennt „die heilige Waage des Zeus“ und wendet sich zur Flucht (Il. 16,644–658). Besonders markant ist die Wägung der Todeslose beim Zweikampf der Haupthelden Achill und Hektor ausgestaltet. Auch hier empfindet Zeus Mitleid mit Hektor, der ihm so viele Opfergaben dargebracht hat, und versucht ihn nochmals zu retten. Doch Athene, die Schutzgöttin des Achill, verweist ihn auf seine Pflicht dem Schicksal gegenüber, und Zeus lenkt ein. Noch stärkt Apollon dem Hektor im Todeslauf den Mut und die Knie, doch nun richtet Zeus die goldene Waage; er legt die beiden Todeslose hinein, und Hektors Geschick sinkt zum Hades hinab, Apollon verlässt ihn und Pallas Athene macht sich auf, um Hektor in der Gestalt seines Bruders Deiphobos zu betrügen (Il. 22,168–215).
Höhere Schicksalsmächte
Wägung der Todeslose
198 Fromme Werke und die Gunst der Götter
Götterneid und Göttertrug
Entfaltung einer anschaulichen Götterwelt
Dichtung und Wirklichkeit
Träume und Vorzeichen, Prophezeiungen und Götterbotschaften sind also zu beachten, aber mit Vorsicht, denn sie können zweideutig, widersprüchlich und trügerisch sein. Gebete und Opfergaben ist man den Göttern schuldig, doch sie müssen nicht erhört oder belohnt werden. Hekabe bringt der Athene kostbare Gaben und bittet sie, den Diomedes von der Stadt abzuwehren, „doch Athene schlug es ihr ab“ (Il. 6,286–311). Achill betet zu Zeus, er möge dem Patroklos Sieg und unversehrte Rückkehr schenken. Zeus hört ihn und gewährt das eine, das andere aber versagt er (Il. 16,233–250). Unterlässt man jedoch die gebührende Reverenz, so erfolgt die Strafe. Agamemnon missachtet und beschimpft den Priester des Apollon, der Gott sendet die Pest (Il. 1,24–52). Die Achäer bauen eine gewaltige Befestigung um das Schiffslager, ohne den Göttern die gebührenden Opfer darzubringen (Il. 7,436–453). Mauer und Graben werden deshalb weder Schutz gewähren noch von Dauer sein: Die Trojaner können sie mit Götterhilfe durchbrechen, und nach dem Abzug der Achäer werden Poseidon und Apollon auch noch die letzten Spuren durch eine gewaltige Flut vertilgen (Il. 12,3–33). Bei den Wettkämpfen zu Ehren des Patroklos bittet Odysseus seine Gönnerin Athene um Hilfe beim Wettlauf. Diese stärkt ihm nicht nur die Glieder, sondern sie greift auch aktiv ein und lässt den Konkurrenten Ajas im Mist ausgleiten (Il. 23,770–784). Der Bogenschütze Teukros unterlässt es, dem Apollon das gebührende Lämmeropfer zu geloben, und verfehlt das Ziel, denn der Gott des Bogens missgönnt ihm seinen Sieg, während der Mitbewerber Meriones in aller Eile das Versprechen abgibt und aus fast aussichtsloser Position noch trifft (Il. 23,862–881). Mag die Gunst und Hilfe der Götter also gelegentlich auch käuflich scheinen, so lehren doch Alltag und Lebenserfahrung, dass Frömmigkeit und gute Werke keineswegs immer belohnt werden. Offensichtlich können in Vorliebe und Neid die Götter ihre Gaben unterschiedlich verteilen, sie können retten und betrügen, doch letztlich vermögen auch sie das höhere Schicksal nicht zu beugen. Derartige Beobachtungen und Rückschlüsse führen nun zwanglos zur Entfaltung und Ausschmückung jener bunten Götterwelt, die Herodot und die Griechen überhaupt als eigentliche Schöpfung Homers empfunden haben. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der erfahrbaren Welt widersetzen sich der immer wieder angepeilten Vorstellung von einem einzigen, allmächtigen und allguten Gott. Unterschiedliche Naturbereiche und Lebenssituationen legen spezifische Zuständigkeiten höherer personaler Machthaber nahe, an die man sich wenden kann: Himmel und Erde, Land und Meer, Liebe und Krieg und viele andere Erscheinungen tendieren immer schon zur Vergöttlichung in Natur- und Volksreligionen. Auch bei den Griechen wurden solche Vorstellungen tradiert, von den Nachbarn übernommen und volkstümlich weitergepflegt. In der Phantasiewelt der Dichtung, beim Durchgang durch die menschensprachliche Gestaltung jedoch, ob diese nun im Gebetshymnus oder Erzählwerk sich entfaltete, gewannen diese Assoziationen Eigenleben und fast zwangsläufig auch menschliche Gestaltung. Eine Tendenz zu dogmatischer, gleichsam theologischer Systematisierung mag dabei im Hintergrund immer bestanden haben, und in Hesiods „Theogonie“ („Entstehung der Götter“) können wir einen solchen Ansatz beobachten. Für Homer und viele Dichter vor und nach ihm, nicht zuletzt die attischen Tragiker, bildete diese ganze weit verzweigte, allgemein verbreitete und doch
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lokal und zeitlich vielfach differenzierte Mythenwelt den Fundus, in den man hineingreifen und einzelne Gestalten, Ereignisse und Themen neu gestalten und anders deuten konnte. Die gegenseitige Durchdringung und vielfache Verbindung von Götter- und Menschenwelt entfaltet in dem vom Dichter imaginierten heroischen Zeitalter ein charakteristisches Eigenleben, das dem Alltagsleben der Durchschnittsmenschen in der Gegenwart überhöhend entgegengestellt wird. Die Heroen stehen in vielfältigem Kontakt mit den Göttern, durch Abstammung, persönliche Verbindung und Begegnung, Träume und Vorzeichen. Diese Kontakte bleiben jedoch in einer Sphäre des Unbestimmten und Undeutlichen, unterschiedlich konturiert je nach Situationen und Personen, gleichsam im nebelhaften Medium des ae¯r, der unteren irdischen Luft der Menschenwelt. Die eigentliche Sphäre der Götter jedoch ragt daraus hervor in den aithe¯r, die wolkenlose Himmelsluft. So wird ihr Berg charakterisiert als „der Olymp, wo sie sagen, dass der allzeit sichere Sitz der Götter sei; weder wird er von Winden geschüttelt, noch vom Regen durchnässt, noch kommt der Schnee dorthin, sondern die reine Himmelsluft breitet sich wolkenlos, ein strahlender Glanz läuft darüber hin. Darin erfreuen sich die seligen Götter alle Tage …“ (Od. 6,42–46). Wie die in dem überlieferten Mythenkern vorgeprägte und dann dichterisch ausgemalte und überhöhte Heroenwelt gehört also auch die Göttergesellschaft einer Sphäre der Imagination an. Diese homerischen Göttergestalten sind belebte, personalisierte, zu einer Familie zusammengeschlossene Naturkräfte, Dämonen und Lokalgottheiten. Eher abstrakte Vorstellungen werden von der Tendenz zum epischen „Hyperrealismus“ erfasst, durch Analogien zur menschlichen Alltagswelt sinnlich erfahrbar und verstehbar gemacht. Dass es sich nur um Analogiebildungen, nicht um Angleichungen handelt, zeigt schon die klare sprachliche Wesenstrennung von Göttern und Menschen. Zeus ist der „Vater der Menschen und Götter“, pate¯r andro¯n te theo¯n te, hat Gattinnen, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter, aber „Männer“ und „Frauen“ gibt es unter den Göttern nicht, nur männliches und weibliches Verhalten, z.B. schamhafte „weibliche Göttinnen“, the¯lyterai theai, (Od. 8,324). Das Bewusstsein lediglich vorstellbarer analoger Verhältnisse auf höherer, aber nicht transzendenter Seinsstufe bleibt stets erhalten. Das erkenntnistheoretische Phänomen wird also ziemlich vergröbert, wenn man von „vermenschlichten Göttern“ oder „vergöttlichten Menschen“ spricht. Die Suggestionskraft der homerischen Realvisionen kann freilich auch in dieser Hinsicht die immer wieder der Täuschung erlegene Nachwelt entschuldigen. Die analogen Stufen-Parallelen werden allenthalben und bis in realistisch ausgeführte Einzelheiten durchgezogen. Die Götter sind unsterblich, aber verwundbar. So wie die Götterluft aithe¯r sich von der Menschenluft ae¯r unterscheidet, so auch ambrosia und nektar von menschlichem Essen und Trinken, das Götterblut icho¯r von Menschenblut, Göttersprache von Menschensprache: Den Hauptfluss von Troja nennen die Götter Xanthos, die Menschen Skamander, ein Hügel vor der Stadt heißt in der Göttersprache „Grabhügel der Myrine“, in der Menschensprache Batieia, ein Waldvogel bei den einen chalkis, bei den anderen kymindis. Wohl nicht ganz zufällig bezieht sich eine solche Zweisprachigkeit vor allem auf Erscheinungen der Natur, wo sich Götter- und Menschenwelt durchdringen. Offensichtlich wird eine scharfe Tren-
Kontakt zwischen Menschen- und Götterwelt
Analoge Imagination statt Vermenschlichung
Göttersprache und Menschensprache
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Visionen des Götterlebens
Folge und Funktion der Götterszenen in der Ilias
Zeus-Vorhersagen und Schicksalslinie
Dichtung und Wirklichkeit
nung nach Seins-Ebenen, die Vorstellung einer unbedingten Transzendenz vermieden. Die um Anschaulichkeit bemühte Dichtung widerstrebt allen Tendenzen zur Abstraktion, und damit auch einem orthodoxen Monotheismus. An die Stelle von prinzipiellen treten lediglich graduelle Unterschiede, eine Stufung letztlich innerhalb der Vorstellungswelt des Dichters: Von den schwachen Alltags-Menschen – „die elenden Sterblichen, den sprossenden Blättern vergleichbar, die der Wind wieder verweht“ (Il. 6,146–149; 21,463–466) – über das Geschlecht der Heroen, der halbgöttlichen (he¯mitheo¯n) Menschen (Il. 1,4; 12,23), steigt die Rangfolge auf bis zu den „immerseienden, leicht lebenden“ Göttern (Il. 1,494; 6,138). Diese freilich, und selbst der höchste und mächtigste, Zeus, der Vater der Menschen und Götter (Il. 19,258; 1,544), sind jenen eher unpersönlichen höheren Mächten wie Rechtsordnung, Schicksal, Rachegöttin, Verblendung (Themis, Moira, Erinys, Ate) unterworfen und ausgesetzt, fungieren aber zugleich als ihre Bewahrer und Vollstrecker. Dort oben, im reinen Äther der Berggipfel von Olymp, Samothrake und Ida entfaltet der Dichter das Götterleben. Dabei verlässt er sich nicht auf die unsicheren Hinweise des menschlichen Unterbewusstseins wie Träume, Vorzeichen und zweideutige Göttererscheinungen, sondern er appelliert an die Musen, die allein ihn exakt informieren können: „Ihr seid Göttinnen, seid überall dabei und wisst alles, wir jedoch sind nur aufs Hörensagen angewiesen und wissen gar nichts …“ (Il. 2,484– 486). Mit dieser göttlichen Hilfe der Musen bildet Homer jene immer wieder ebenso vorbildhaften wie anstößigen Gestalten. Die detailliert ausgeführten Götterszenen und Göttergespräche legen sich in der Ilias wie ein Netz von Sinnbezügen über das epische Geschehen. Im 1. Buch führt der Ausbruch des Zorns zu Reaktionen im Olymp (Il. 1,493–611). Der Ausgang des Zweikampfs zwischen Menelaos und Paris führt im 4. Buch zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung der Götter über Krieg und Frieden und das Schicksal von Troja (Il. 4,1–85). Im 7. Buch diskutieren die Götter den Mauerbau der Achäer (Il. 7,443– 463), dessen restlose Zerstörung durch Apollon und Poseidon dann in Buch 12,3–35 berichtet wird. Im 8. Buch beruft Zeus eine allgemeine Versammlung auf dem Olymp, verbietet den Göttern jegliches Eingreifen in den Kampf und bezieht den Beobachtungsposten auf dem Gipfel des Ida (Il. 8,1–52). Dort befragt er die Schicksalswaage, von dort sendet er Blitz und Donner zu Warnung und Ermutigung (Il. 8,68– 171). Auf dem Olymp regt sich inzwischen Widerstand der Götter (Il. 8,198–212; 350–396), doch Zeus entsendet die Götterbotin Iris mit seinen Befehlen und fährt wieder zum Olymp zurück, um Ordnung und Klarheit zu schaffen (Il. 8,397–468). Das Göttergeschehen im 8. Buch gipfelt in einer ersten Vorhersage des Göttervaters (Il. 8,469–484), die im 11. Buch in der Botschaft an Hektor fortgeführt wird (Il. 11,181–210). Kaum jedoch wendet Zeus seine Aufmerksamkeit vom Kampfgeschehen ab, so erwacht wieder die Rebellion der achäerfreundlichen Götter. Vom Samothrakegipfel aus begibt sich Poseidon aufs Schlachtfeld, und Hera unterstützt ihn, indem sie Zeus durch Liebe und Schlaf betäubt (Il. 13,1–125; 206–239; 14,135–360). Die Aktivitäten der Hera auf dem Olymp und Idagipfel werden in eindringlichen Bildern und Redewechseln ausgemalt, bis dann Zeus erwacht und in der dritten, umfassendsten Vor-
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hersage Klarheit für die Götter (und zugleich für Hörer und Leser) schafft, während man auf der Erde nach wie vor im Ungewissen agiert (Il. 15,4–77). Wieder gibt es lebhafte Götterbewegungen zwischen Ida und Olymp, bis alle notwendigen Botschaften und Weisungen ergangen sind (Il. 15,78–261). Danach kann sich der Plan des Zeus ungehindert vollenden, bis mit der Rückkehr des Achill ins Kampfgeschehen die Handlung wieder zurückkehrt in die vom Schicksal vorgegebene Hauptlinie, die letztlich mit der Eroberung Trojas enden wird. Im 18. Buch führt die detailliert ausgeführte Schilderung der Entstehung von Achills neuer Waffenrüstung noch zu einer ganz spezifischen Götterszene auf dem Olymp (Il. 18,396–617), doch vor dem dramatischen Höhepunkt lässt dann Zeus die Rechtsgöttin Themis eine allumfassende Göttervollversammlung einberufen, an der alle Gottheiten bis hin zu den Flussgöttern und Nymphen teilnehmen. Jetzt gibt er allen die Teilnahme am irdischen Kampfgetümmel wieder frei, denn sonst wäre Achill übermächtig (Il. 20,4–30). In der Folge stehen Götterhilfe und reine Götterkampfszenen in charakteristischem Kontrast nebeneinander (Ilias, Buch 20 und 21). Erst die „Lösung Hektors“ im 24. Buch erfordert danach wieder eine Beratung und Grundsatzentscheidung der Götter im Olymp (Il. 24,23–76), auch hier mit den notwendigen Botschaften und Befehlen im Gefolge. Das vielfältige Auf und Ab des Kampfgeschehens mit seinen zahlreichen Akteuren und Episoden lenkt in der Ilias immer wieder zwangsläufig den Blick auf die Entscheidungszentren in der Göttersphäre, so kommt es zu der Abfolge der Götterversammlungen und Götterberatungen. In der Odyssee konzentriert sich die Handlung im Wesentlichen auf die Person eines Mannes, nur die Reise des Telemachos in den ersten vier Büchern bringt eine untergeordnete Nebenhandlung. Zu ihrer Auslösung bedarf es jeweils nur einer Grundsatzentscheidung im Götterrat, und diese fällt in den beiden Götterversammlungen im 1. und 5. Buch. Zunächst gibt es den Doppelbeschluss, den Götterboten Hermes nach Ogygia zu senden, während Athene sich nach Ithaka begibt (Od. 1,19–95). Unmittelbar ausgeführt wird nur diese zweite Initiative, zur Auslösung der ersten bedarf es der Wiederaufnahme des Themas im Kreis der Götter (Od. 5,1–42). In beiden Versammlungen reden nur Zeus und Athene; Zeus verweist im 1. Buch allgemein auf menschliche Schuld und Selbstverantwortung, im 5. gibt er, ähnlich wie in der Ilias mehrfach, eine Vorhersage für die künftigen Ereignisse (Od. 5,31–42). Die Initiative liegt auch hier ganz bei Athene, der Schutzgöttin und Helferin des Odysseus; der einzige Gegenspieler, der zürnende Poseidon, ist zunächst abwesend. Im weiteren Verlauf des Epos zeigt sich dann göttliches Wirken nur noch aus der menschlichen Sicht im irdischen Geschehen, in Träumen und Vorzeichen, Naturereignissen und Sehergeschichten, in verhüllten und offenen Göttererscheinungen. Die Konzentration auf Athene und Poseidon, das Zurücktreten der weiteren Götterfamilie und damit der unterhaltsamen Schilderung des Götterlebens auf dem Olymp ist nicht Zeichen einer gewandelten „Theologie“, sondern Ergebnis einer spezifisch ausgerichteten Handlung mit wenigen Protagonisten. Volle Entschädigung für die intimen Einblicke ins göttliche Privatleben, wie sie die Ilias immer wieder vorführt, bietet die Odyssee in einem von der eigentlichen Handlung isolierten Einschub: Das Kabinettstückchen des Sängers Demodokos vom Liebesabenteuer
Göttervollversammlung und Götterkampf
Götterversammlungen in der Odyssee
Göttliche Einwirkungen
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Götterleben als unterhaltsame Einlage
Diplomatie unter Göttern
Dichtung und Wirklichkeit
des Ares und der Aphrodite zeigt das olympische Personal in Aktion und Reaktion, in Reden und Gelächter munter vereint (Od. 8,266–366). Form und äußere Umstände dieser dichterischen Einlage während der gesellschaftlichen Veranstaltungen zu Ehren eines Gastes am Königshof der Phäaken liefern einen Zugang zum Verständnis der homerischen Götterszenen überhaupt. Nach Sportwettkämpfen und Schautänzen soll eine Probe von der Qualität der phäakischen Sangeskunst gegeben werden, und dafür wählt Demodokos seine pikanteste Hintergrundgeschichte aus dem Olymp. „Dies also sang der weitberühmte Sänger, und Odysseus ergötzte sich in seinem Sinn beim Zuhören, wie auch die Phäaken“, und danach geben zwei Einzeltänzer eine Solonummer (Od. 8,367–371). Hier dominiert also der Unterhaltungseffekt derartiger Szenen, während die Göttergespräche des 1. und 5. Buchs der Odyssee vorwiegend interpretatorische und funktionale Bedeutung haben. Zum einen führen sie Umschwünge des irdischen Geschehens auf Entscheidungen höherer Mächte zurück, die ihrerseits auf menschliches Verhalten reagieren. Zum anderen geben sie gleichsam aus höherer, prophetischer Sicht eine Voraussage für künftiges schicksalhaftes Geschehen, und damit eine vorweggenommene Inhaltsangabe des Epos. In den Götterszenen der Ilias durchdringen sich diese unterschiedlichen Aspekte, Beschlussfassung, Prophetie und Unterhaltungseffekt, in viel stärkerem Maße. Die einzelnen Götter sind infolge des weitgespannten Handlungsszenarios und der damit verbundenen Emotionen mehr oder weniger alle involviert. Infolgedessen verschärfen sich die Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern der Götterfamilie, je nachdem, wie ihre menschlichen Abkömmlinge, Schützlinge oder Lieblingsorte sich in die Haare kommen oder in Gefahr geraten. Im 1. Buch bringt der Zorn des Achill den vorgegebenen Lauf der Geschichte, der mit Trojas Zerstörung enden muss, in Unordnung. Die Bitte der Thetis und das Gewährungsnicken des Zeus erbosen dessen Gemahlin Hera. Diese wird zur Ordnung verwiesen, die anderen murren, doch Hephaistos mahnt zur Vernunft und bringt seine Mutter zum Lächeln, die anderen zum unbändigen Gelächter, die Szene endet mit Gelage, Musik und olympischer Harmonie. In der nächsten Versammlung zu Beginn des 4. Buchs beobachten die Götter das irdische Geschehen vor Troja. Der Sieg des Menelaos über Paris könnte eigentlich Frieden bringen und die Stadt vor der Zerstörung bewahren. Dies muss Zeus als Garant des Schicksals verhindern; deshalb reizt er die Troja-Feindinnen Hera und Athene auf gegen die Liebesgöttin Aphrodite, die ihren Schützling Paris soeben gerettet hat, und veranlasst Athene, die Trojaner zum Eidbruch zu verleiten. Dieser erfolgt durch den heimtückischen Pfeilschuss des Pandaros auf Menelaos, der die Verblendung und Schuldhaftigkeit Trojas erneuert und vertieft, und den Achäern zunächst eine moralische Überlegenheit verleiht, die dann im 5. Buch unter kräftiger Mithilfe der Athene zu den Siegen des Diomedes führt. Damit bewegt sich die Handlung auf der Hauptlinie des Schicksalsgeschehens, das zur Zerstörung Trojas führen muss. Die dramatisch vorgeführte Auseinandersetzung zwischen den Ehepartnern und gleichrangigen Geschwistern Zeus und Hera um das Schicksal ihrer Lieblingsstädte – „Opferst du mir dein Troja, dann darfst du auch einmal meine Städte Argos, Sparta und
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Mykene zerstören“ (Il. 4,51–53) – wird von der modernen Kritik immer wieder als ein der Gottheit unwürdiger Kuhhandel moralisch verurteilt. Mit sehr viel mehr Berechtigung hat man jedoch darauf hingewiesen, dass hier eher ein noch weiter reichender prophetischer Ausblick auf das Schicksal der Achäerstädte gegeben wird, die ja wie Troja für die Zeitgenossen des Dichters in Trümmern lagen. Die gegenläufigen Tendenzen im Kreis der Götter sind vordergründig sehr unterhaltsame Streit- und Intrigenspiele auf olympischer Bühne, in Wahrheit jedoch die szenische Einkleidung der Erklärungsversuche für widersprüchliche historische Erfahrungen. Offenbar kann man göttliche Gunst in höchstem Maße genießen, erfährt Belohnung und Strafe ganz nach Verdienst, aber dennoch gibt es innerhalb der Gottheit widerstrebende Kräfte, die in oft ungerecht erscheinender Weise eingreifen, sei es wegen uralter weiterwirkender Schuld oder auch im Zuge eines undeutbaren Schicksals. Als Exekutivorgane dieses Schicksals fungieren die Götter, ihre Gespräche spiegeln den Versuch einer Interpretation des Geschehens oder auch eines schlichten Faktums. Das spurlose Verschwinden der Befestigungen des Achäerlagers wird erst in einer Götterszene auf Neidgefühle von Poseidon und Apollon, der Erbauer von Trojas Mauern, zurückgeführt (Il. 7,443–463), und in einem vorgreifenden Ausblick auf die Zukunft dann gleichsam als archäologische Theorie anschaulich geschildert: Die beiden Götter begraben und beseitigen alles durch Flut und Meeresbeben (Il. 12,3–35). Im 8. Buch entfaltet sich eine rege Aktivität in der Götterwelt zwischen Olymp und Ida, mit einer dichten Folge von Götterszenen und Götterfahrten, denn Zeus muss seinen begrenzten Teilplan zur Verherrlichung des Achill durchsetzen (Il. 8,1– 52; 68–77; 198–211; 350–484). Die Rebellion der trojafreundlichen Götter gegen den von Zeus unter gewaltigen Drohungen verhängten strengen Hausarrest erreicht ihren Höhepunkt mit der dramatisch erzählten und farbig ausgemalten Verführungsszene des 14. Buches. Der „Zeusbetrug“ (Dios apate¯) der Hera (Il. 14,153–360; 15,4–77) entspricht in seiner novellenhaften Gestaltung jenem Demodokoslied von der Skandalaffäre des Ares und der Aphrodite in der Odyssee (Od. 8,266–366), allerdings ist er voll in die Handlung und geographische Szenerie eingebunden. Hera sieht vom Olymp aus voll Grimm den Zeus auf dem Gipfel des Ida sitzen; sie macht sich verführerisch zurecht und schwatzt der Aphrodite den Liebesgürtel ab, besticht Hypnos, den Gott des Schlafes, eilt mit ihm zum Ida und betört den Wolkenversammler. Der wird ergriffen von fleischlicher Begier, wie noch bei keiner seiner früheren Affären, und will sogleich zur Sache kommen. Schamvoll ziert sich die Gemahlin: „Aber doch nicht hier, wo uns jeder sehen kann – lass uns in dein Schlafzimmer gehen!“ In dieser bei höchst dezenter Wortwahl doch sehr pikanten, menschlich-allzumenschlichen Situation hebt der Dichter sein Götterpaar wiederum in eine höhere, gleichsam kosmische Sphäre: Zeus verhüllt das Geschehen in einer goldenen Wolke, aus der funkelnde Tautropfen auf die Erde fallen. Diese lässt einen üppigen Rasen mit Lotos, Krokus und Hyazinthen als Lagerstätte erwachsen, und von Schlaf und Liebe bezwungen entschlummert der väterliche Himmelsgott auf dem Gipfel des Gargaron. Nach seinem Erwachen jedoch löst sich die drohende Katastrophe auf in Harmonie: Hera lenkt ein, und der Vater der Menschen und Götter lächelt. Die Leichtigkeit göttlichen Seins, die Gelassenheit bei der Bewältigung scheinbar unlösbarer Konflikte, hebt
Götterstreit
Pikanterie mit kosmischer Überhöhung
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Wunderwerke göttlicher Kunstfertigkeit
Magischer Realismus
Die Götterschlacht
Dichtung und Wirklichkeit
diese höheren Wesenheiten wieder hinaus über die menschliche Sphäre – ganz so, wie sich jene verfängliche Ehebruchgeschichte in der Odyssee versöhnlich löst und im heiligen Hain der Aphrodite zu Paphos wieder sublimiert: Die Chariten baden und salben die Liebesgöttin mit unsterblichem Öl, wie es den immerseienden Göttern zukommt. Neben derartigen Einblicken in die Intimitäten des Götterlebens stehen Schilderungen seiner zivilisatorischen und kunsthandwerklichen Errungenschaften auf übermenschlich-olympischem Niveau, ob es sich nun um die detailreiche Inszenierung von Götterwagen und Rüstung für Hera und Athene im 5. Buch (Il. 5,729–752) oder die wundersame Kunstfertigkeit des Schmiedegottes Hephaistos handelt, den man bisher nur als kauzigen Mundschenken kennen gelernt hatte. Im 18. Buch beobachtet man ihn in der olympischen Werkstatt, umgeben von seinen futuristisch anmutenden technischen Erfindungen, automatischen Dreifußkesseln und goldenen Robotermägden, verschwitzt und rußig und doch ganz gesitteter Gastgeber für seine Besucherin Thetis. Wenn er dieser dann die neuen Waffen für ihren Sohn Achill schmiedet, so folgt die Dichtung detailgetreu jedem technischen Handgriff und bedient sich ganz realer, wenn auch besonders kostbarer, Materialien. Die Beschreibung der Bilder und Szenen auf dem Schild ist ebenfalls inspiriert von der Empirie und nimmt die Kenntnis von bestimmten Metallarbeiten in Treib- oder Tauschiertechnik auf. Die Szenen selbst übersteigen wiederum die Sphäre der irdischen Realität; das Bildwerk des Gottes gewinnt wie seine technischen Automaten ein eigenes Leben, seine Figuren agieren auf der Szene in einer Art von magischem Realismus. Hier vereinigt sich die Grundvorstellung von einer höheren göttlichen Seinsstufe mit der Freude an dichterischer Ausschmückung, ähnlich wie sich die Naturbilder der Vergleiche und Gleichnisse oft in selbstständige Handlungen ausweiten. Für die letztlich künstlerisch inspirierte Genesis der homerischen Götterwelt eröffnet die Schildbeschreibung einen aufschlussreichen Zugang, wenn hier im Bildwerk eines Gottes belebte, golden überhöhte, in Bedeutungsperspektive über Menschengröße hinausgehobene Göttergestalten agieren: „Ares und Athene schritten ihnen voran, beide aus Gold, mit goldenen Kleidern angetan, schön und groß, mit Waffen, wie eben die Götter sind, weit hervorragend, das Kriegsvolk aber war ihnen an Größe unterlegen“ (Il. 18,516–519). Vor dem Hintergrund des dergestalt in unterschiedlichen, auch „zivilen“ Szenen entfalteten Götter-Seins und Götter-Lebens erreicht dann das seinem dramatischen Höhepunkt zustrebende Epos auch in den abschließenden Götterversammlungen und Götterkämpfen den emotionalen und ethischen Gipfel: Mit dem Wiedereingreifen des Achill in den Kampf erlischt auch das Zeusverbot. Die übrigen Götter dürfen und sollen sich wieder an der Auseinandersetzung der Menschen beteiligen, das Geschehen kehrt nach der Retardation der Zorn-Episode wieder zu der vorgegebenen Schicksalslinie zurück. Hier wäre das Übergewicht des Achill allzu groß, wenn die von den Göttern verkörperten Gegenkräfte nicht einwirken könnten. Ihre Vollversammlung und die Kampfaufstellung im 20. Buch ist gleichsam das olympische Gegenstück zum irdischen Heeresaufmarsch im 2. Buch. Die Kräfteverhältnisse sind klar, fünf Götter stehen auf achäischer, sechs auf trojanischer Seite. In der Folge erweisen sich die ersteren, Hera, Athene, Poseidon, Hermes und Hephai-
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stos, klar als die mächtigeren und einflussreicheren gegenüber den Schutzgöttern der Trojaner, Ares, Apollon, Artemis, Leto, Skamander und Aprodite. Hera wird es später selbst formulieren: „Den Achilleus lieben die besten der Götter, die Helfer der Troer aber sind windig“ (Il. 20,122–124). Die Kriegsgottheiten auf beiden Seiten, Athene und Ares, rufen zum Kampf, Zeus donnert gewaltig aus der Höhe, Poseidon erschüttert die Erde, so dass selbst Hades, der Gott der Unterwelt, um sein Reich fürchten muss. In dem allgemeinen Getöse stellen sich dann auch die Götter paarweise zum Zweikampf auf, die Protagonisten Poseidon gegen Apollon, dann Athene gegen Ares, Hera gegen Artemis, Hermes gegen Leto, Hephaistos gegen den Flussgott Skamander, nur Aphrodite, die unkriegerische Liebesgöttin, bleibt zunächst ohne Gegner im Hintergrund. Die eigentliche Götterschlacht entbrennt jedoch zunächst nicht, die Aufstellung erweist sich als bloße Drohgeste; stattdessen sind die Bücher 20 und 21 erfüllt vom Siegeszug des Achill. Die Götter ziehen sich beiderseits zurück in Beobachterstellungen und greifen nur von Fall zu Fall in gewohnter Weise ein, in menschlicher Gestalt, unsichtbar im Nebel, oder auch in leibhaftiger Erscheinung, ermutigend, ratend, ermahnend oder errettend. Erst das unbarmherzige Morden des Achill in den Fluten des Skamander provoziert den Flussgott zum Eingreifen. Brüllend wie ein Stier wirft er seine Wassermassen auf ihn und hätte ihn überwunden, zusammen mit seinem Bruder Simoeis, hätte nicht Hera ihren Sohn Hephaistos zu Hilfe gesandt. Jetzt erst entwickelt sich der erste jener in Aussicht gestellten göttlichen Zweikämpfe, Hephaistos gegen Skamander, aber als Kampf der Elemente, für die beide stehen, Feuer gegen Wasser, Steppenbrand gegen Flussüberschwemmung. Anschließend entbrennt dann auch der lange erwartete, von Zeus geschürte Götterkampf in den vorgegebenen Paarungen. Unter gewaltigem Getöse geht es los, dem Göttervater auf dem Olymp lacht vergnüglich das Herz im Leib beim Zusehen, und letztlich wirkt das Ganze dann auch mehr wie ein unterhaltsames Turnier oder Schauspiel: Die Gottheiten des Krieges eröffnen die Auseinandersetzung; wie menschliche Gegner bewerfen sie sich gegenseitig mit Schmähungen, der Speer des Ares trifft auf die Ägis Athenes, doch deren kräftige Hand wirft den riesigen Gegner mit einem alten Grenzstein nieder, dass er im Fallen sieben Hufen bedeckt. Die Liebesgöttin Aphrodite, deren Nähe zum Kriegsgott in der Odyssee so deftig geschildert wird, versucht den Ares wie zuvor Paris und Äneas in den Büchern 3 und 5 zu retten, wird jedoch wiederum von Athene niedergeschlagen. Der Zweikampf von Poseidon und Apollon kommt nicht zustande, weil letzterer sich scheut, wegen der elenden Sterblichen gegen den Oheim zu kämpfen. Apollons Schwester Artemis beschimpft ihn deshalb wegen Feigheit vor dem Feind, der Bruder schweigt, doch die Stiefmutter Hera entreißt ihr das Jagdgerät und schlägt ihr Bogen und Pfeile um die Ohren, dass sie weinend entflieht. Ihre leibliche Mutter Leto sammelt die Waffen auf und trägt sie ihr nach, nachdem ihr Gegner, der schlaue Hermes, aus taktischen Gründen auf den Kampf verzichtet hat: „Ärgerlich ist’s, sich herumzuschlagen mit den Gattinnen des Zeus, des Wolkenversammlers …“ (Il. 21,498f.). Auf diese Weise löst sich die mit großem Getöse angekündigte Götterschlacht wieder mehr und mehr auf in Leichtigkeit und heiterer Ironie: Das weinende Mädchen Artemis kuschelt sich auf den Schoß des olympischen Vaters, der lächelt und fragt: „Wer hat dir etwas getan?“ „Deine eigene
Aufstellung zum Kampf
Indirektes Eingreifen
Zusammenstoß der Götter
Kriegerisches Geplänkel und heiterer Ausklang
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Selbstverantwortlichkeit des Menschen
Dichtung und Wirklichkeit
Gemahlin, die weißarmige Hera, die immer Zank entfacht und Hader bei den Unsterblichen!“ (Il. 21,512). Da enthält sich auch Zeus wohlweislich eines weiteren Kommentars, und unten auf dem Schlachtfeld begibt sich Apollon in die Stadt aus Sorge um die Mauern der heiligen Ilios, der Endkampf von Achill und Hektor steht bevor. Dieser vollzieht sich dann wieder ganz im gewohnten Stil, wobei die Götter – Apollon und Athene – sich in der unterschiedlichsten Weise einmischen, helfend und betrügend, bald mit Nebelgewölk verhüllt, in Menschengestalt verkleidet oder dann auch sich deutlich offenbarend, und letztlich doch immer gesteuert vom Willen des Zeus und dem Ausschlag der Schicksalswaage. Die letzte Götterversammlung im 24. Buch der Ilias schließlich zeigt die Olympier in ihrer Funktion als moralisch-ethische Instanz. Mitleid erfasst sie, und dieses humane Gefühl muss auch bei dem unbarmherzig rasenden Achill durchgesetzt werden, durch einen seelischen Wandel des Helden selbst. Deshalb wird die Alternative verworfen, den misshandelten Leichnam Hektors in göttlicher Machtvollkommenheit einfach zu stehlen, und stattdessen Achills Mutter Thetis eingeschaltet. Ihr fällt die Aufgabe zu, den Sohn zur Selbstüberwindung zu bringen, zu seinem eigenen Ruhm. Zeus selbst ist es, der die beteiligten Menschen zur ethischen Lösung des Konflikts aus letztlich doch eigenverantwortlichem Handeln veranlasst. Er entsendet Thetis zu Achill, und dieser unterwirft sich, wie im 1. Buch dem Geheiß der Athene, sogleich dem göttlichen Gebot: „So sei es“! ohne Wenn und Aber (Il. 24,139). Die Götterbotin Iris soll den untröstlichen Vater Priamos zu dem Wagnis der nächtlichen Fahrt ins feindliche Heerlager ermutigen, ein günstiges Vogelzeichen kommt dazu, und Hermes wird ihn dabei begleiten und beschützen. Danach jedoch überlassen es die Götter den Sterblichen, ihre Angelegenheiten in Würde selbst zu regeln, und es folgt die überaus menschliche, um nicht zu sagen humane Szene zwischen Priamos und Achill, in deren Verlauf Leidenschaft, Zorn und Raserei endgültig zur Ruhe kommen, womit dann auch das Ziel des Epos erreicht ist. Mit diesem Zurücktreten der göttlichen Figuren von der Bühne wird die letztlich doch auch allegorisierende Funktion des „Götterapparats“ angedeutet. Die dichterische Verwandlung von Wirklichkeiten erreicht den höchsten Grad der Sublimation in der Darstellung der Götterwelt. Wenn der Historiker Franz Hampl im 20. Jahrhundert gesagt hat, die Ilias sei kein Geschichtsbuch, so warnte der Homerforscher und Geograph Eratosthenes im 3. Jahrhundert v. Chr. davor, nach dem Windschlauch des Aiolos und seinem Verfertiger zu suchen, und der Philosoph Platon (Timaios 40d 6–9) hatte schon ein Jahrhundert zuvor gemeint, eine Aussage über die daimones gehe über seine Kräfte, man müsse eben denen vertrauen, die als Nachkommen der Götter davon gesprochen hätten …
LITERATURHINWEISE Auswahl deutschsprachiger, weiterführender Literatur, die dem Leser den Einstieg in die aktuellen Fragestellungen erleichtert. Griechisch-deutsche Textausgaben Homer. Ilias. Hrsg. H. Rupé, 11. Auflage, Zürich 2004. Homer. Odyssee. Hrsg. A. Weiher, 12. Auflage, Zürich 2003. Gegenüberstellung von griechischem Text und Übersetzung in deutschen Hexametern mit Einführungen zu Form und Inhalt sowie ausführlichen Indices zu Namen und Sachen. Übersetzungen J. H. Voß, Homer. Ilias. Odyssee, 1793, Nachdruck der 1. Auflage, Frankfurt am Main 2005. Der klassische „deutsche Homer“ mit kaum zu überschätzendem Einfluss auf Sprache und Literatur. W. Schadewaldt, Homer. Ilias (it.), Neuauflage 1988; Die Ilias, Zürich 2002. W. Schadewaldt, Homer. Die Odyssee, 4. Auflage, Hamburg 2004; Zürich 2001. Prosaübersetzung mit dem Bemühen um äußerste Textnähe in Wortwahl und Satzstellung. R. Hampe, Homer. Ilias, Stuttgart 1992. R. Hampe, Homer. Odyssee, Stuttgart 2004. Moderne, gut lesbare Hexameter-Übersetzung eines klassischen Archäologen. R. Schrott, Homer Ilias, kommentiert von Peter Mauritsch, München 2008. Eine eigenwillige, bisweilen flapsige moderne Prosaübertragung. K. Steinmann, Homer Odyssee. Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert. Nachwort von Walter Burkert, Zürich 2011. Hexameter-Übersetzung im Bemühen um die „adäquate Umsetzung der sprachlichen, auch der sprachschöpferischen Besonderheiten Homers“. Nacherzählungen G. Schwab, Sagen des Klassischen Altertums, 1837, Frankfurt am Main 2001. Textnahe detailreiche Wiedergabe der Epenhandlung im Kontext der antiken Sagenüberlieferung, ein Hausbuch der deutschen humanistischen Bildung. W. Jens, Ilias und Odyssee, 1956, Nachdruck der 16. Auflage, Ravensburg 2004. Illustrierte, weit verbreitete und immer wieder aufgelegte Nacherzählung für die Jugend in der klaren Sprache eines modernen Schriftstellers. D. Boyle/V. Croot, Troja. Homers Ilias neu erzählt, aus dem Englischen von B. LamperzBeckschäfer, Darmstadt 2005. Anregende Mischung von Nacherzählung und Originalzitaten aus der Voss’schen Übersetzung, angereichert durch Sachinformationen und modern nachempfundene Vasenbilder. R. Tetzner/U. Wittmeyer, Der Troianische Krieg und die Heimkehr der Helden. Nach den Quellen neu erzählt, Stuttgart 2005. Nacherzählung der Mythen aus dem trojanischen Sagenkreis, ein nicht immer geglückter Versuch der Modernisierung von Schwabs Werk, mit Nachwort und erläuterndem Namenregister. Literatur zur Textgestalt des homerischen Epos W. Schadewaldt, Von Homers Welt und Werk. Aufsätze und Auslegungen zur Homerischen Frage, 3. Auflage Stuttgart 1959.
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Literaturhinweise
Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Dichter Homer, der Einheit und Eigenart seines Werkes und seiner Stellung in der historischen Umwelt. K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Hrsg. U. Hölscher, Göttingen 1961. Einfühlsamer philologischer Nachvollzug der Ilias als einheitliche Dichtung unter internen genetischen Gesichtspunkten. B. Hellwig(-Mannsperger), Raum und Zeit im homerischen Epos, Spudasmata 2, Hildesheim 1964. Literaturwissenschaftlich orientierte Beobachtungen zum Handlungsgefüge von Ilias und Odyssee in der räumlichen und zeitlichen Vergegenwärtigung von Vorder- und Hintergrundhandlung. U. Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, 2. Auflage, München 2000. Versuch einer Erklärung des Epos als literarische Kunstform, die aus märchenhaften Motiven erwächst und zum modernen Roman überleitet; dabei steht die Anwendung von Begriffen der vergleichenden Märchenforschung neben präzisen Textinterpretationen. J. Latacz (Hrsg.), Homer. Tradition und Neuerung (WdF), Darmstadt 1979. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte der Homerforschung zwischen 1840 und 1977 unter dem Spezialaspekt der oral-poetry-Forschung. J. Latacz (Hrsg.), Homer. Die Dichtung und ihre Deutung (WdF), Darmstadt 1991. Ausgewählte Aufsätze zu typischen Bauelementen, Szenen und Gestalten, sowie Werkstrukturen und Erzähltechniken des Epos. J. Latacz, Homer. Der erste Dichter des Abendlands, 3. Auflage, Düsseldorf/Zürich 1997. Einführung in das moderne Homerbild der Wissenschaft für Lehrende, Lernende und literarisch Interessierte, unter besonderer Erläuterung des historischen Hintergrunds und der dichterischen Eigenart und Struktur der Epen, mit Literaturangaben, Indices und einer Übersichtskarte zur homerischen Geografie. H. Bannert, Homer. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (rororo-Bildmonographien), 8. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2005. Umfassend illustrierte Einführung in das Gesamtphänomen Homer und Homerforschung. H. Bannert, Homer lesen (legenda 6), Stuttgart-Bad Cannstatt 2005. Exemplarisch vorgehende Interpretationshilfe vor einem breiten wissenschaftlichen Hintergrund, mit zahlreichen Einzelbeobachtungen zu Werk und Wirkung. Th. A. Szlezák, Homer oder die Geburt der abendländischen Dichtung, München 2012. Analyse von Ilias und Odyssee als Werke zweier verschiedener Dichter, mit Kapiteln zur Homerkritik und zu Parallelen im altorientalischen Gilgameschepos, erwachsen aus „jahrelanger akademischer Lehre“. Literatur zum archäologisch-historischen Hintergrund des homerischen Epos I. Gamer-Wallert (Hrsg.), Troia. Brücke zwischen Orient und Okzident,Tübingen 1992. Vorlesungsreihe anlässlich Schliemanns 100. Todestag 1990, spiegelt den Forschungsstand zu Beginn der neuen Ausgrabungen wider. M. Siebler, Troia. Geschichte – Grabungen – Kontroversen (Antike Welt, Sondernummer), Mainz 1994. Zusammenfassung der ersten Grabungsergebnisse in Troja, veranlasst durch aktuelle Diskussionen um den in Moskau aufgetauchten „Schatz des Priamos“ und die Gleichsetzung von Atlantis mit Troja durch E. Zangger. B. Brandau, Troia. Eine Stadt und ihr Mythos. Die neuesten Entdeckungen (aktualisierte Taschenbuchausgabe), Bergisch Gladbach 1999. Gut informierender, spannend geschriebener Bericht über die ältere Forschungsgeschichte und die Ergebnisse der neuen Grabungen am „Schicksalsberg der Archäologie“. In engem Kontakt mit den Ausgräbern entsteht ein Bild des Grabungsbetriebs und der dabei aufgeworfenen Fragestellungen. M. Korfmann/D. Mannsperger, Troia. Ein historischer Überblick und Rundgang, Stuttgart 1998, Neuauflage Istanbul 2004. Anschauliche, reich illustrierte Erschließung der komplizierten Ruinenstätte auf Hisarlik
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vor dem Hintergrund der wechselhaften Vergangenheit des Platzes mit seinen neun übereinander liegenden „Städten“. M. Korfmann (Hrsg.), Troia. Archäologie eines Siedlungshügels in seiner Landschaft, Mainz 2006. Sammelband mit Beiträgen der Mitarbeiter des Tübinger Troja-Projekts zum historischen Rahmen, zu Forschungsgeschichte, Funden und Methoden der Ausgrabungen. Troia. Traum und Wirklichkeit (Hrsg. Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg), Begleitband zur Ausstellung, Stuttgart 2001. Prachtvoller Bildband zum Gesamtkomplex „Troja“: Mythos, Dichtung, Bilderwelt und ihr Weiterleben in Antike, Mittelalter und Neuzeit sowie Geschichte, Landschaft, Archäologie und die Ergebnisse der interdisziplinären Forschungen vor Ort. J. Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, München/Berlin 2001, 6. Auflage 2010. Schwungvolle Kombination aller neuen Thesen und Theorien zur Urkundlichkeit des homerischen Epos und zur Historizität und überregionalen Bedeutung der Stadt Ilios in der Region Troja, die mit der Landschaft „Wilusa“ hethitischer Schriftquellen identifiziert wird. J. Latacz, Th. Greub, P. Blome, A. Wieczorek, Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst, Ausstellungskatalog Basel / Mannheim, München 2008. Darstellung der Qualitäten und Wirkungsmacht Homers, herausgeholt aus der esoterischen Wissenschaft, unter Fixierung seines Lebensraumes auf die Ägais des 8. Jh. v. Chr. Troia – Traum und Wirklichkeit. Ein Mythos in Geschichte und Rezeption. Hrsg. H.-J. Behr, G. Biegel, H. Castritius, Braunschweig 2003. Beiträge aus einem Begleit-Symposion zur Ausstellung mit ersten kritischen Reaktionen auf einige ihrer Grundtendenzen. B. u. D. Mannsperger, Die Ilias ist ein Heldenepos – Ilosgrab und Athena Ilias, in: Mauerschau. Festschrift für M. Korfmann, Bd.3, S. 1075–1101, Remshalden-Grunbach 2002. Ansätze zum Verständnis des Epos als eines komplexen literarischen Kunstgebildes, das vielfältige vorgegebene Grundelemente und Tendenzen dichterisch einbindet und verwandelt zu einer letztlich zeitlosen neuen Realität, exemplifiziert an zwei für die Ilias wichtigen Themen des Grab- und Götterkults. C. Ulf (Hrsg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003. Methodenkritische Stellungnahme von Vertretern der Gegenposition zu den Interpretationen und Tendenzen der Troja-Ausgräber und des Buches von J. Latacz 2001 im Anschluss an mehrere akademische Diskussionsveranstaltungen. H. Schliemann, Ithaka, der Peloponnes und Troja, Leipzig 1869, Nachdruck Darmstadt 1963. Initialzündung für alle archäologisch-philologischen Lokalisierungsversuche zu Ilias und Odyssee. E. Lessing, Die Odyssee. Homers Epos in Bildern erzählt, mit Beiträgen von M. Gall, K. Kerényi, H. Sichtermann u.a., Freiburg/Basel/Wien 1965. Foto-Bildband als Illustration der Forschungsansätze zur Lokalisierung der Irrfahrten des Odysseus. J. V. Luce, Die Landschaften Homers, Stuttgart 2000. Reich illustrierte, zusammenfassende Darstellung der dokumentarischen Interpretation des Homertextes mit der Anwendung auf geografische und topografische Details. R. Schrott, Homers Heimat, München 2008. Troja und Homer sind nicht in Nordwestkleinasien, sondern aufgrund ähnlich klingender Namen im semitisch-hethitisch-griechischen Kulturraum des 7. Jh. in Südostkleinasien anzusiedeln. F. Kolb, Tatort „Troia“. Geschichte, Mythen, Politik, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2010. Erwachsen aus dem wissenschaftlichen „Trojastreit“ nach der Stuttgarter Ausstellung 2001, kritisiert das Buch Ergebnisse und Methoden der Ausgräber aus der Sicht des Althistorikers, unter radikaler Ausgrenzung Homers. Dabei wird die vorderasiatische Palast- und Stadtkultur zum verbindlichen Maßstab genommen für die nordägäische Prähistorie.
REGISTER Wichtige behandelte Textstellen (Verszahlen kursiv) Ilias 1. Buch: Streit zwischen Agamemnon und Achilleus 1: 17, 27, 41. 8f.: 192. 24–52: 198. 44–52: 194. 148–160: 33. 188–218: 168. 277–304: 150. 303–330: 196. 348–350: 100. 349–413: 170. 427–492: 44. 458–468: 59. 528–530: 194. 536– 570: 47. 786–608: 74. 2. Buch: Heeresaufmarsch und Schiffskatalog 11–15, 23–34, 28–32, 60–70: 61. 76–86: 73. 101–109: 55. 119–133: 175. 188–277: 152. 204: 92. 216–238: 54. 299–332: 174. 303–332: 35, 94, 196. 421–431: 59. 446–473: 97, 112. 484–486: 200. 485–493: 22, 29, 97. 494–760: 174. 653–725: 78, 94. 698: 175. 761f.: 22. 761– 779: 162f. 816–877: 174. 3. Buch: Mauerschau und Zweikampf Paris – Menelaos 1–9: 180. 15–39: 149. 65: 92. 146–170: 151. 146–224: 151f. 267–301: 176. 330–338: 60. 373–448: 149. 386–398: 194. 426–447: 100. 449–461–: 176. 4. Buch: Schuss des Pandaros, Vertragsbruch, Beginn des Kampfes 51–53: 202. 69–104: 62, 90, 106. 75–78: 194. 81–84: 176. 105–147: 23, 63, 84. 148–150: 90. 275–279: 67, 107. 293–310: 52, 150. 297–310: 179. 320–323: 92, 150. 401–418: 147. 447–451: 58. 429–438, 457–542: 180. 473—489: 67, 78. 5. Buch: Diomedes im Kampf gegen Menschen und Götter 9–241: 182. 59–64: 173. 85–92: 147. 127f.: 181, 193. 148–165: 182. 192–205: 178. 251– 254: 147. 263–273: 163. 297–346: 159. 323– 327: 163. 401–418: 147. 473–484: 174. 522– 526: 107. 637–642: 55, 94. 638–651: 173. 711– 895: 47. 729–752: 60, 204. 788–791: 44. 837–839: 181. 6. Buch: Begegnungen: Diomedes – Glaukos und Hektor – Andromache 29–65: 183. 119–211: 173. 119–236: 80, 92, 144f. 145–211: 159. 208: 145, 162. 237–529: 52, 100, 118. 286– 311: 198. 414–428: 175. 441–449: 148. 466–474: 52. 7. Buch: Zweikampf Hektor – Ajas, Waffenruhe und Mauerbau 89f.: 148. 123–169: 69, 73. 219–221: 52. 326– 344: 150f. 345–380: 172. 414–417 : 74. 433–441: 150. 436–453: 198. 443–463: 203. 452f.: 173.
8. Buch: Sieg der Troer und Abbruch der Schlacht 52–65: 58. 69–77: 197. 75–160: 147, 149. 130– 160: 147. 187–190: 177. 253–255: 147. 265– 277: 178. 266–272: 52. 306–308: 63. 350–437: 47. 485–488: 105. 497–542: 48. 555–561: 67. 9. Buch: Bittgesandtschaft der Achäer zu Achilleus 37–116: 69, 147, 150. 52–59: 68. 74–77: 69. 96–113: 73. 162–181: 73, 150. 185–221: 20, 88. 222–306: 153. 306– 429: 38, 72, 88, 144, 146. 328–331, 352–354: 146. 401–409, 410–415: 187f. 434–605: 69, 79. 485–491: 80. 496–514: 192. 618–655: 45. 10. Buch: Dolonie – nächtlicher Spähergang von Odysseus und Diomedes 266–271: 60. 274–282: 196. 299–331: 74. 435– 438, 545, 551: 163. 11. Buch: Erneuter Beginn der Kämpfe, Agamemnon, Diomedes und Odysseus scheiden aus 15–46: 60, 157. 101–121: 78. 122–147: 183. 200–209: 48. 288f.: 196. 310–488: 153. 350– 356: 52, 147. 368–446: 74, 145, 147. 375–378: 145. 404–410: 74. 445: 145. 474–481: 64. 485– 574: 158. 510–520: 30, 150. 657–803: 79, 92. 670–762: 150. 720–760: 79. 765–790: 173. 784: 145. 12. Buch: Mauerkampf und Einbruch der Troer ins Schiffslager 3–35: 198, 203. 9–30: 30, 37, 144. 60–80: 48, 74, 148. 86–107: 98, 149. 110–173: 159. 199–251: 48, 74, 92. 200–257: 197. 210–250: 48. 243: 148. 210–229, 290–399: 159. 445–462: 178. 13. Buch: Kampf bei den Schiffen, Poseidon greift ein 1–38: 197. 10–45: 37. 126–135: 59, 98. 136– 144: 62. 384–401: 159. 588–590: 54. 623–627: 173. 681–684: 94. 723–752: 48, 74. 725–747: 159. 765–783: 57, 149. 14. Buch: Verführung des Zeus und Flucht der Troer 1–134: 73, 150, 153. 153–360: 203. 153– 441: 47. 225–293: 37. 347–351: 111. 402–420: 197. 15. Buch: Apollon bahnt Hektor den Weg zur Verbrennung der Schiffe 1– 4: 197. 4–77: 201, 203. 54–71: 197. 59–75: 46. 78–83: 37. 160–167, 174–183: 62. 187–193: 189. 355–366: 63. 674–746: 158. 704–708: 94. 16. Buch: Sieg und Tod des Patroklos 1–256: 45, 59, 63. 101–123: 158. 112–129: 94.
Wichtige behandelte Textstellen 131–139: 60. 204–296: 59, 94. 233–250: 198. 259–267: 63. 345–350: 184. 367–371: 148. 384–393: 106. 419–603: 159. 431–461: 197. 462–503: 145. 641–644: 63. 644–658: 197. 684–691: 188. 692–697: 97, 187. 698–709: 197. 737–742: 184. 784–857: 145. 851–854: 186f. 17. Buch: Kampf um die Leiche des Patroklos 120–137: 158. 192–214: 186. 366–369: 98. 389–395: 63. 426–445: 161, 178. 446f.: 92. 628–650: 158. 644–650: 98. 694f.: 145. 715– 736: 158. 852–854: 186. 18. Buch: Reaktion des Achilleus, seine neuen Waffen 15–73: 170. 21–27: 31, 91, 146. 243–311: 48, 74, 92, 148. 249–311: 48. 249–289: 159. 255– 283: 148. 288–292: 173. 309: 180, 186. 410– 421: 51. 483–608: 104, 112. 490–541: 77, 182. 516–519: 204. 727f.: 74. 19. Buch: Beilegung des Streits, Auszug Achills zur Rache 86–90: 192. 145–237: 153. 292–299: 175. 359– 364: 60. 399–424: 161. 405–418: 178. 416f.: 47. 20. Buch: Zweikampf mit Äneas und Sieg des Achilleus 1–3, 62–66: 96. 178–258: 80. 213–241, 307: 158. 215–218: 174. 220: 173. 302–308: 186. 307f.: 22. 318–340: 159. 407–422: 185. 414– 503: 98. 463–483: 185. 21. Buch: Die Götterschlacht 34–48: 78. 34–135: 160. 139–177: 53. 264: 92. 350–355, 403–408: 109. 441–457: 94, 173. 498f.: 205. 512: 206. 22. Buch: Der Tod Hektors 6: 31. 26–32: 105. 99–130: 48, 75, 188. 93– 201: 66. 136–246: 52. 147–156: 175. 154–156: 182. 168–215: 197. 208–366: 145. 325–407: 47, 145, 146. 358–360: 47, 188. 437–515: 157. 23. Buch: Leichenspiele des Patroklos 59–63: 100. 65–74: 189. 65–107: 195. 259– 261: 163. 305–350: 52. 448–451: 167. 669– 675: 165. 740–749: 166. 754–784: 158. 770– 784: 198. 782f.: 166. 826–835: 165. 852f.: 167. 862–881: 198. 890: 157. 24. Buch: Die Lösung Hektors 12–18: 146. 23–140: 148. 25–30: 47, 94, 172. 33–54: 193. 527–535: 196. 534–547: 172. 543– 546: 173. 560–570: 147. 629–634: 102. 723– 770: 157. 767–772: 148. Odyssee 1. Buch: Athene in Ithaka, das Treiben der Freier 1–10: 21, 27, 41. 19–95 : 42, 201. 19–26: 38. 35–39: 171. 48–54: 38. 113–319: 76. 118–177: 60. 325–353: 24. 428–435: 161. 2. Buch: Volksversammlung und Aufbruch des Telemachos 1–257: 76. 85: 77. 170–176: 35. 177–182, 246– 251: 77. 3. Buch: Telemachos bei Nestor in Pylos 113–117: 25. 267– 272: 23.
211
4. Buch: Telemachos bei Menelaos in Sparta 4–14: 142. 69–75: 116. 219–232: 93. 238–289: 25. 335–340: 64. 333–586: 25. 499–511: 158. 555–560: 25, 81. 561–569: 93, 144. 626–627: 162. 795–801: 195. 5. Buch: Floßfahrt des Odysseus von Kalypso zu den Phäaken 1–42: 201. 44–58: 38. 51–54 : 112. 151–158: 100. 270–277: 105. 291–296: 29f. 292–493: 154. 299–312, 356–364, 408–423, 465–473: 75. 432–435, 488–491: 65. 6. Buch: Odysseus und Nausikaa 15–24: 195. 42–46: 199. 262–267: 115. 7. Buch: Odysseus im Palast des Alkinoos 43–45: 115. 81–135: 116. 154–236: 95. 167– 177: 61. 201–206: 193. 237–239: 61, 103. 8. Buch: Aufenthalt am Hof der Phäaken 43–45, 62–64: 24. 100–253: 162. 167f.: 92. 266–366: 202f. 324: 199. 367–371: 202. 453: 164. 457–468: 156. 487–491: 24. 500–503: 43. 9. Buch: Irrfahrten–Erzählung: Kikonen, Lotophagen, Kyklopen 19f.: 61, 91. 19–27: 39. 24: 30. 39–61: 153. 105– 151: 113. 121–137: 144. 216–293: 61. 216–243: 117. 366f.: 61, 155. 446–457: 113. 504f.: 61. 10. Buch: Aiolos, Lästrygonen, Kirke 81–125: 115. 212–215: 64. 234–263: 133. 342– 344: 155. 504–520: 190. 11. Buch: Besuch in der Unterwelt (nekyia) 13–22: 190. 115–120: 45, 81. 51–83: 189, 195. 121–137: 42. 170–203: 45. 187–203: 151. 204– 222: 190. 213–222: 191. 225–329: 144, 190. 298–304: 93. 328–384: 80. 367f.: 26. 488–491: 188. 543–564: 95, 158. 598: 29. 601–627: 189f. 12. Buch: Sirenen, Skylla und Charybdis, die Rinder des Helios 1–4: 190. 37–141, 184–191, 245–259, 260– 419: 81. 368–396: 99. 389f.: 195. 432–445: 81. 13. Buch: Ankunft des Odysseus in Ithaka 215–218: 155. 256–287: 26, 82. 287–302: 26. 287–295: 154. 291–332: 52. 303–305: 168. 345–352: 40. 14. Buch: Odysseus bei Eumaios 29–36: 114. 55: 23. 73–82: 114. 192–359: 26, 82. 414–420: 114. 15. Buch: Heimkehr des Telemachos 359–484: 160. 16. Buch: Erkennung von Vater und Sohn bei Eumaios 4–10, 157–163: 114. 188: 95. 17. Buch: Odysseus unerkannt unter den Freiern 140–147: 25. 201f., 326f.: 91f. 290–327: 161. 291–327: 113. 18. Buch: Odysseus besiegt Iros, Penelope zeigt sich den Freiern 1–7: 138. 25–123: 162. 269f.: 174. 19. Buch: Fußwaschung und Vorbereitung der Bogenprobe 13: 93. 31–33: 117. 33–43: 195. 165–202: 26, 82. 172–307: 82. 203: 26, 82. 218–240: 103.
212
Register
317–507: 86, 161. 391, 396–466, 467: 86. 390– 393: 90. 535–553, 560–569: 196. 572–587: 90. 20. Buch: Neumondfest und Verblendung der Freier 254f., 257–259, 276–278: 95. 345–357: 99. 21. Buch: Die Bogenprobe 1–4: 90. 1–60: 85. 1–4: 100. 98f.: 92. 120–123: 165. 207: 95. 217–221: 87. 258, 270: 95. 22. Buch: Der Freiermord 8–88: 185. 109–186: 117. 344–349: 24. 401– 406: 64. 441f., 458–472: 117. 468–471: 65.
23. Buch: Wiedererkennung von Odysseus und Penelope 7f.: 91. 85–240, 117–163: 87. 84–209: 101. 233–239: 64. 241–246: 36. 267–284: 144. 310– 341: 83, 91. 342f.: 42, 91. 344–348: 36. 24. Buch: Die Freier in der Unterwelt, Wiedererkennung bei Laertes, Versöhnung 1–14: 190. 6–8: 65. 60f.: 22. 93f.: 188. 226–234: 151. 303–314: 26. 331–335: 87. 473–486: 182. 513–525: 152. 531–548: 182. 533–535: 95.
Personennamen Achill 17–20, 33, 38, 41, 46f., 51f., 55f. 60, 66, 69–73, 79f., 88f., 91, 96, 98, 100, 102, 105, 146f., 163, 168, 170, 179, 184, 186f., 192f., 206 Agamemnon 17–20, 53, 55f., 60f., 65, 70–73, 124, 157, 166, 169, 178f., 183f., 186, 192, 195 Ägisthos 48, 157, 171 Aiakos 55 Aiolos 27, 80, 206 Ajas, der Lokrer 98, 125f., 158, 166, 193f. Ajas, der Telamonier 52, 64, 98, 122, 125, 158, 163, 166, 178 Alkinoos 60f., 80, 89, 102f., 143 Anchises 110, 158 Andromache 100f., 139f., 148, 156, 169f., 175, 177 Äneas 22, 80, 110, 158f., 179, 181, 186 Antenor 152, 174 Antikleia 190f. Antilochos 91, 145, 164f. Antinoos 76f., 92, 129, 138, 140f., 185 Aphrodite 51, 56, 100, 106, 110, 194, 203–205 Apollon 17–20, 63f., 110f., 120, 159, 181, 187, 192, 194, 201f., 105 Ares 51, 57, 109, 179, 181, 205 Arete 60, 95, 102f., 141f. Argos (Hund) 91, 113, 161 Artemis 51, 205f. Asios 159 Asklepios 139 Astyanax 52, 101, 130, 156f. Athene 18, 26, 42, 45, 49, 51f., 56, 62f., 70, 82, 84, 90, 95, 99, 106, 114, 116, 131, 168, 180– 182, 193, 195, 205 Autolykos 86 Bellerophontes 80, 159, 173 Briseis 18, 71f., 140f., 156, 175 Charybdis 80f., 123 Chryseis 18f., 71, 156 Chryses 17–19, 59, 172 Dardanos 55, 110 Dares 181 Demodokos 23, 25, 43, 143, 201f. Diomedes 55, 60, 73, 99, 147, 150, 163f., 181, 186 Dolios 138 Dolon 52
Elpenor 189, 195 Eos 36, 51 Epeios 165f. Eratosthenes 27, 206 Eris 172, 179 Eumaios 22, 82, 87f., 92, 114, 116, 130, 137f., 160f. Eumelos 163–165 Eurykleia 86f., 90, 129f., 137, 160f. Eurymachos 76f., 129, 141, 185 Glaukos 144f., 162, 173 Hades 96, 189f., 205 Halitherses 35 Hebe 123 Hekabe 117f., 129, 141, 145, 156, 197 Hekamede 133 Hektor 31, 46–48, 51f., 62, 66, 74f., 100f., 107, 117, 123, 148, 178, 186f., 196f. Helena 25, 56, 93, 100, 131, 139, 141, 143, 148, 151, 157, 174 Helenos 109, 136, 159 Helios 49, 80f., 99, 105, 108, 195 Hephaistos 19f., 51, 104, 112, 115f., 126, 135, 202, 204f. Hera 18–20, 37, 47, 51, 56, 61f., 92, 111, 161, 202–204 Herakles 55, 94, 110, 173, 190 Hermes 26, 38, 40, 112f., 205 Hesiod 22 Hypnos 37, 50, 110, 159, 189, 195, 203 Idomeneus 82, 159, 164 Ilos 46, 109, 119, 125, 144 Iris 51, 61f., 135, 138, 196, 205 Iros 138, 155, 170 Kalchas 18, 35, 70, 193, 195f. Kalypso 25, 38, 40, 89, 104f., 130, 141, 155 Kassandra 123, 175 Kastor 93 Kirke 64, 80f., 131f., 141, 155 Klytämnestra 171, 174 Laertes 86, 114, 116, 151f., 182 Laomedon 46, 55, 85, 94, 110, 143, 163, 173 Leda 93, 142–144
Geographische Bezeichnungen Leto 17, 205 Leukothea 112, 154 Lykaon 60, 78, 160 Machaon 55, 78, 125, 139, 149f. Menelaos 23, 25, 39f., 55, 84, 116, 125, 144, 157, 163f., 166, 176, 183, 188 Maron 132f. Melantheus 138 Melantho 138 Memnon 42 Mentes 60, 75f. Mentor 76, 182 Meriones 60, 164, 166, 198 Musen 17, 19, 21–26, 97, 193, 195, 200 Nausikaa 103f., 115, 124, 131, 140, 156, 195 Nestor 25, 39, 53, 69–73, 78f., 120, 125, 127, 133, 144, 149–151, 179 Odysseus 17f., 23–26, 40f., 49, 52, 55f., 60, 63–65, 71, 74, 80–83, 85–89, 91, 99f., 101–104, 112– 117, 126, 152–156, 162f., 166, 169, 185, 195f. Orest 76 Orion 105, 190 Pandaros 84, 90, 125, 176, 178f., 181, 202 Paris/Alexandros 47, 56, 60, 94, 100, 149, 172, 176, 178, 187 Patroklos 17f., 23, 45f., 55, 60, 70, 78f., 88, 97, 118, 121, 158, 162, 167, 184, 186f., 189 Peisistratos 124 Peleus 69, 125f., 144f., 158, 163, 172f. Penelope 24, 55f., 64, 82f., 85–87, 90, 101, 103, 128–130, 140–142, 156, 165, 195f. Penthesilea 42 Persephone 189f. Phemios 24, 137 Philoktet 78
213
Phönix 69, 79f., 129, 142, 153, 164, 166, 192 Platon 206 Polydamas 48, 74f., 136, 148, 159, 196 Polydeukes 93 Polydoros 98, 185 Polyphem 49, 61, 86, 155 Poseidon 29, 37, 49f., 59, 61f., 94, 96, 154, 158, 163, 189, 193, 201, 205 Priamos 55, 69, 102, 117f., 123, 142, 146f., 151, 206 Protesilaos 78, 94, 175 Proteus 25, 40, 81 Rhesos 98, 122, 163 Sarpedon 46, 50, 106, 122, 144, 159, 170, 173, 197 Simoeis (Flussgott) 109, 205 Simoeisios 67, 78, 180 Sirenen 80f., 83, 122f. Sisyphos 159, 190 Skamandros (Flussgott) 205 Skylla 80f., 122f. Teiresias 45, 81, 190 Telemachos 24, 45, 55, 60, 75f., 101, 116f., 124, 128, 135, 142, 174, 194f. Thamyris 24 Themis 201 Theoklymenos 99 Thersites 54, 56, 68, 134, 152, 157, 169f., 175 Thetis 18f., 51, 100, 172, 206 Teukros 125, 166, 178, 198 Tros 163, 178 Tydeus 55, 181 Uranos 106, 189 Zeus 17–20, 37, 46–48, 51, 56, 58, 61, 106, 111, 118, 169f., 182, 189, 192, 194, 197–201, 203
Geographische Bezeichnungen Abydos 37 Achäer 53, 74, 117, 121, 126f., 134f., 173–176, 180 Ägäis 37, 173f. Ägypten 25, 38f., 82 Aigyptos (Fluss) 39 Äthiopen 19, 35, 38f., 107 Alpheios 79 Amazonen 139 Argeioi 55 Argos (Stadt) 39, 55, 202 Aulis 94, 174 Böoter 97, 174 Chios 39f. Chryse 18f., 36, 117, 122 Danaer 24, 143 Dardaner 55, 94, 98, 110, 174
Dardania 110, 119, 174 Dodona 83 Dulichion 39, 83 Elis 82 Elysion 93, 144, 188 Euböa 31, 38f., 105, 173f. Hellespont 37, 117, 121, 173 Ida 37, 58, 92, 96, 110f., 180, 195, 199f., 203 Ilios 17, 37, 39, 110, 117f., 144, 173, 176, 182, 206 Imbros 37 Ithaka 23, 39, 82, 87f., 114, 135f., 162, 182 Karer 119 Kay¨stros 66, 112 Kikonen 80 Kithairon 86
214
Register Salamis 157 Same 39 Samothrake 37, 195, 200 Scheria 23, 39, 162 Simoeis (Fluss) 37, 109f., 180 Skamander (Fluss) 37, 40, 65, 109f., 199 Skyros 175 Smyrna 24 Sparta 23, 37, 76, 116, 157, 173, 202
Kreta 38, 82f. Kyklopen 113, 117, 133 Lakedaimon 54, 84 Lästrygonen 80, 108 Lemnos 37, 78, 160, 175 Lesbos 37, 39, 173, 175 Libyen 40, 82, 107 Lotophagen 80, 115 Lykien 38, 145, 173 Lykier 98, 119, 159, 173f. Mykene 23, 125, 136, 157, 202 Myrmidonen 63, 109, 121, 133 Myser 119, 175 Ogygia 38, 104f., 112f. Okeanos 37f., 104f., 107, 126, 189 Olymp 18–22, 37, 92, 96, 179, 182, 195, 199f., 203 Orchomenos 72 Phäaken 40, 82, 105, 115f., 131, 155, 162, 193, 202 Phönizien 38f., 82, 129 Phryger 119 Phrygien 173 Phthia 33, 38, 71, 145, 173 Pylos 37, 39, 76, 78f., 82
Tenedos 37, 39 Theben (Ägypten) 72, 131 Theben (Böotien) 55 Theben (Ida) 37, 88, 175 Thesproten 82f. Thraker 119, 181 Thrakien 110 Thrinakria 80, 83 Thymbra 119 Troer 53, 55, 74, 97, 110, 117, 119, 135, 148, 173f., 176, 180 Troerinnen 130, 148 Troja 17, 31, 54, 120, 146, 158, 202 Zakynthos 39 Zeleia 37, 84, 177 Zypern 38f.
Sachen und Sachverhalte
Charaktere 88, 100, 144–146, 162
Diener und Sklaven 18, 20, 86, 95, 114, 131, 134, 137f., 140, 151, 156, 160f., 163, 167, 175, 188 Dolonie 43, 60, 98f., 119, 122, 130, 177, 196 Drama 14, 23, 69f., 97f., 149, 156, 193 Ehre (time) 20, 44, 146, 158, 188, 192 Eidschwur und Eidbruch 61, 84, 91, 147, 176, 183, 202 Einsamkeit 18, 100 Eisen und Erz 116, 123f., 144, 163, 165f., 173, 175 Elfenbein 84f., 116, 194, 196 Epenanfang und Epenschluss 20, 41f., 176, 182 Epische Breite 14, 29, 83–90 Epische Knappheit 33, 77, 90–95 Episches Beiwort 15, 33, 50–54, 67f., 136, 144, 153f., 186 Episode 43, 85–88, 160, 176, 183, 197 Epos als Literaturform 13f., 21–26, 32–34, 42, 49, 67f., 77f., 81, 90, 103, 163, 176, 186f. Erinnerung 21f., 79f., 191 Ernährung 60, 78, 87f., 108, 113, 132f., 140, 154, 163, 185, 199 Erzählperspektive 25f., 40, 74, 79, 81f. Erzählformen 25f., 73, 77–82, 86, 91, 149f., 160 Erziehung 69, 75f., 80, 158, 160 Ethos und Logos 71–73, 100
Dardanisches Tor 119, 175 Darstellungsstil und Darstellungsmittel 19, 32, 34, 54, 62f., 65, 70f., 84f., 89f., 91, 95, 111
Formeln und Formelverse 13, 15, 21, 23, 30f., 33, 50–62, 88, 90, 93, 95, 97f., 173f., 185 Frauen 23, 55f., 100, 116, 139–143, 155–157
Adel und Königtum 23, 55, 88, 92, 135f., 143f., 147, 150f., 157, 160, 162, 165, 173f., 182 Ägis 97, 182, 205 Allegorie und Personifikation 40, 80, 108, 192, 196 Alltagsleben 64f., 67, 87f., 108, 132f., 137–139, 161f. Analytiker und Unitarier 13, 15, 41, 43f., 49f., 79, 90f., 95, 98, 103, 155 Anredeformen 22f., 55f., 73, 97, 101, 188 Arbeitsgeräte 54, 64, 87–89, 128, 131f., 156, 165, 204 Archäologie 13, 115, 123, 126, 128, 133, 203 Aristie 144f., 148, 151f., 156f., 159–162, 177f., 181 Armut und Reichtum 115f., 118, 123, 129–131, 151, 174 Bettler 82, 86f., 92, 114, 138, 163, 170 Biotop 40, 109, 112f., 116 Bittgesandtschaft 44, 69, 88, 140, 176 Bogen und Bogenschützen 52, 84f., 125, 141, 149, 162, 165, 167, 178, 193f., 198, 205 Bronzezeit 14, 49, 119, 126 Bucheinteilung und Titel 17, 20, 41, 43, 80, 91
Sachen und Sachverhalte
215
Freier 49, 55, 75–77, 83, 85, 95, 99, 114, 135, 137, 140f., 171, 182, 185, 190 Furcht und Mitleid 67, 99, 183
Ironie und Sarkasmus 91f., 170 Irrfahrten- und Heimkehrergeschichten 24f., 39, 45, 64, 80–82
Gartenbau 114, 116, 132, 151 Gebärden 69f., 91, 100–103, 145f., 152, 156, 161 Gebet 18, 21, 41, 142, 156, 195 Gefäße 66, 86f., 121, 129, 132f., 155f., 160, 163f., 185, 204 Gefühle und Gefühlsäußerungen 20, 23, 70–73, 95f., 98–101, 145f., 167–170, 205f. Genealogie 55f., 80, 97, 110, 137, 142, 144, 158, 173f., 186, 188, 193, 205f. Generationenverhältnis 55f., 86, 127, 142, 147, 149–151, 181f. Geographie und Topographie 37–39, 87f., 97, 105, 108–114, 119, 160, 173–175, 189f., 195, 200, 203 Geschichte 13, 22, 26, 37, 107, 127, 134, 173, 192, 206 Gesellschaftliches Leben 75f., 114, 134–143, 149, 162–167, 201f. Gestirne 67f., 104–106, 181, 194f. Gleichnis 54, 57, 62–68, 84, 105–107, 112, 142f., 147, 158f., 180, 190, 204 Gleichniskette 65–67, 96f., 169, 187 Göttererscheinung 18, 42, 71, 106, 109, 112, 143f., 154, 159, 168, 181, 193–195, 204f. Götter in Menschengestalt 34, 82, 114, 120, 123, 143, 149, 154, 170f., 180–182, 192–195, 197–200, 203, 205f. Götterszenen 19, 48, 96, 176f., 179, 182, 195, 200–206 Gold und Silber 54, 91, 115f., 121, 123–125, 129, 132f., 135, 144, 155, 157, 164f., 167, 172f., 175, 194, 197, 204 Grabhügel und Grabmal 109, 119, 121f., 125, 145, 148, 159, 167, 178, 186 Greis und Greisenalter 79, 149–152, 160, 193 Griechische Kolonisation 31, 38, 113, 173
Kinder und Jugendliche 54, 79f., 84, 100f., 137f., 142f., 146f., 160 Kleidung 60, 83, 103, 124, 128–131, 140, 155 Klimazonen 107f. Krieg und Frieden 49, 63, 92, 112, 134f., 172– 182, 185, 200, 202 Kyklische Epen 42
Hafenanlagen 19, 113, 115, 117, 122f. Handel 82f., 160, 175 Handlungsführung 41–49, 99f., 103, 176f. Handwerker und Bauern 65, 67, 87, 89, 118, 125, 131, 138f., 159, 165 Haustierhaltung 87, 108, 110f., 113, 133, 138, 175 Heldentum 79, 81, 121f., 125f., 139, 143, 161f., 170f., 177, 193 Helme 32, 52, 60, 100f., 117, 147 Heer und Heeresaufmarsch 58, 65f., 96, 98, 204f. Hexameter 14, 27–31, 34, 54, 96, 133 Hölzernes Pferd 25, 43, 47, 97, 165 Homerisches Gelächter 19, 99, 169, 202 Hyperrealismus und Hyperhistorizität 26, 85, 90, 111, 119, 185f., 199, 204
Palast 22, 88, 115f., 118, 128, 135 Pantheismus und Polytheismus 108, 191f., 198 Parallelhandlung 19, 44f., 201 Parisurteil 47, 85, 94, 149, 172 Pathos 32, 34, 71–75, 96–103, 183, 185 Pferde 53f., 109, 111–113, 120, 123f., 126f., 150, 161, 163f., 170, 173, 177f., 192 Pflanzen 53, 63, 65–67, 81, 109, 111, 114, 154, 159, 190, 203 Proömium 17, 41, 191 Purpur 84, 130f.
Lakonismus 30, 73, 90, 142, 161f. Lautmalerei 29 Leser und Hörer 34, 55, 63, 68, 82f., 85f., 88, 93, 95, 111, 152, 172, 175, 177 Linear-B-Schrift 32, 44 Lokaltradition 22, 78f., 146, 159 Lügengeschichte 26, 81f., 153–155 Mauerschau 36, 43, 151 Meeresstrand und Meeresküste 18, 36, 100, 108f., 117, 121, 154, 167 Megaron 116, 118, 121, 141, 161 Möbel 128f., 139, 142, 185 Mündliche Tradition und Schriftlichkeit 22, 31f., 43f., 50, 58f. Musenanruf 17, 20, 21–23, 41, 94, 97, 193, 200 Musikinstrumente 21, 23f., 88, 194 Mutter und Kind 54, 63, 84, 120, 130, 142, 161 Mykenische Zeit 22, 31f., 44, 130, 133f. Mythos 15, 26, 37f., 41, 55, 93, 97, 105, 111, 134, 144, 146, 154, 157–159, 172, 176, 186f., 198f. Nährtrank 133 Namenkataloge 30, 97, 174 Naturereignisse 37, 62–68, 96, 107, 121, 147, 154, 198, 203, 205 Nestorbecher 32, 133 Opferbräuche 19, 59, 118, 133, 151, 156, 166, 174, 191, 198
Raffung und Dehnung 35–37 Rahmenhandlung 44–46 Ratgeber 48, 68f., 72f., 136, 148, 150f., 159, 171 Ratsversammlung 19, 61f., 68–77, 134–136, 148, 150f., 169
216
Register
Raub der Helena 85, 141, 173 Raum und Zeit 19, 35–40 Realismus 63, 65, 67f., 79, 87, 89, 110, 153, 160, 162, 172, 184f., 204, 206 Realitätskern 24, 26, 35, 39f., 113 Realität und Fiktion 23, 35, 37–40, 81–83, 86f., 113–115, 118, 123–128, 131, 133f., 180 Rechtswesen 76f., 135 Redeformen und Redemittel 18, 20, 57, 61f., 71–77, 90f., 99 Redegabe 68–73, 147, 150, 152 Redewechsel 18, 20, 69–71, 73, 75–77, 100–103 Rhetorische Formeln 71–77, 90f., 97f., 168 Roman 14, 41, 160 Rüstung und Rüstungsszenen 60, 125, 149 Ruhm 121f., 126, 144, 148, 187f., 196 Sänger und Sängertum 21, 23–26, 43, 89, 137, 143, 174, 201f. Schatzkammer 85, 103, 116, 129, 165, 183 Schicksal 47, 102, 176, 187, 192, 197f., 200, 202f., 205 Schiff, Schiffbau und Schiffbruch 19, 64, 75, 81, 89, 94, 120f., 122f., 154, 158, 173 Schiffs- und Troerkatalog 22, 43, 74, 97, 174f. Schiffslager 17, 36, 88, 107, 119f., 127, 144, 150, 152f., 176f. Schild 23, 52, 58, 117, 124f., 158, 178 Schild des Achilleus 104, 112, 125, 135, 182, 204 Schimpfwörter 18, 34, 56, 71, 149, 205 Schlachtordnung 59, 98, 126f., 149f. Schuld 48f., 84f., 94, 99, 171f., 176, 182f., 192, 201, 203 Schweigen 57, 95, 102 Selbstgespräch 58, 74f. Seele (psyche) 111, 168–171, 187–191, 195 Seelenteile 168 Sentenzen 18, 20, 30, 92, 153, 171, 180, 186 Skäisches Tor 31, 36, 46, 58, 63, 101, 109f., 118f., 146, 148, 156, 175, 187 Speer und Speerwerfer 58, 60, 63, 147, 125, 158, 178f., 187 Sterblichkeit und Tod 144, 146, 148, 158, 161, 177, 187–189 Strategie und Taktik 126f., 148, 150, 159, 169, 175, 179 Synästhesie 53, 65f. Synonyme 34, 168, 191 Szenisches Abseits 71, 75 Telemachie 43, 45 Tempel 22, 118 Tiere 54, 65–67, 79, 81, 86f., 98f., 110–114, 123f., 127, 130, 141, 155, 158–161, 163–165, 187, 190f., 196, 199
Tierpsychologie 91, 113 Traum und Traumdeutung 46, 61, 66, 136, 189–191, 195f., 198 Troja und Ilios, Landschaft und Stadt 17, 31, 36, 38, 54, 110, 117–119, 126, 144, 173 Trojanischer Krieg 38, 42, 44, 46, 81, 172–175, 180 Totenklage 148, 156 Typische Szenen 59–62, 88, 156 Überheblichkeit (hybris) 20, 44, 46, 47f., 77, 107, 171f., 186, 188 Übersetzungsstil 15, 20, 27, 33f. Unterwelt 43, 80, 96, 99, 151, 158, 189–191 Verblendung (ate) 19f., 46, 48f., 80, 93, 98, 100, 157, 171, 184, 186, 192 Verfasser der Epen (Homer) 13, 21f., 24, 31f., 39–41, 48f., 98f., 180, 206 Verteidigungsgraben 63, 120, 127, 148, 150, 198 Verteidigungsmauer 94, 109, 115, 118, 148, 151, 173, 198, 206 Verwundungen 84, 86, 125, 144f., 147, 149, 159, 180f., 183–187, 205 Völkerkunde 119, 174f., 180, 204f. Vogelzeichen 35, 48, 74, 77, 94, 110, 159, 174, 195–197, 206 Vorder- und Hintergrundhandlung 44, 48, 67, 69 Vorgriff und Rückgriff 20, 79, 81, 84f., 89, 93f., 143f., 148, 152, 172f., 175, 186, 203 Vorzeichen und Vorhersagen 46f., 99, 105, 161, 186f., 196f., 200–203 Waffen 60, 98, 116f., 124–126, 147, 157, 177– 179, 186, 205 Wagen und Gespanne 37, 53, 120, 123f., 126f., 150, 159, 163f., 167, 178 Waschbecken 109, 175, 182 Weltbild 40, 67, 96, 104, 108, 114f., 126, 167, 189f. Wertvorstellungen 74f., 88, 92, 144f., 153 Wettererscheinungen 19, 29, 37, 54, 65, 98, 106f., 110, 122, 182, 197, 199 Wiedererkennung 86f., 90, 95, 101, 161 Zahlenangaben 19, 35–37, 79, 87f., 118, 127f., 135f., 142, 146, 160, 172, 174f., 196 Zepter 18, 91, 134, 157 Zeugenbericht 25f., 45, 81, 89, 181, 195 Zeusplan 17, 20, 41f., 44–48, 192, 197, 200f., 203f. Zorn (menis) 17–20, 28, 41, 44–48, 146, 153, 168, 175f., 184, 192, 204