Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung: Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte [1 ed.] 9783737012553, 9783847112556


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Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung: Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte [1 ed.]
 9783737012553, 9783847112556

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Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik

Band 24

Herausgegeben im Auftrag der Konferenz für Geschichtsdidaktik vom Vorstand: Michele Barricelli, Martin Lücke, Monika Fenn, Markus Bernhardt und Christine Gundermann

Franziska Rein

Historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Eine Studie zur Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte

Mit 30 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert durch die Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Hands and lamp one line, istock (https://www.istockphoto.com/de/vektor/h% C3%A4nde-lampe-eine-linie-gm1136860082-302929043) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5391 ISBN 978-3-7370-1255-3

Inhalt

Danke… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung 1.1 Zum Begriff – Geistige Behinderung . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Status quo zum historischen Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens . . . . . . 2.1 Geschichtsbewusstsein – Status quo der geschichtsdidaktischen Theoriebildung . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.1 Exkurs: Eigensinniges Lernen – ein brauchbarer Begriff der Geschichtsdidaktik? . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Sinnbildung über Zeiterfahrung . . . . . . . . . . 2.1.1.3 Typologie der Sinnbildung . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Verknüpfung der Zeitebenen . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Historische Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Historische Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Erklären und Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.6 Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.7 Alterität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.8 Grenzen des Geschichtsbewusstseins . . . . . . . . . . . 2.1.8.1 Kulturelle Orientierungsfunktion . . . . . . . . . 2.1.8.2 Der fähige Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zeitbewusstsein – die Relevanz des Individuums . . . . . . . 2.2.1 Inneres Zeitbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Vernunft des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Handlungssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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2.2.4 Sedimentierte und elaborierte Geschichte . . . . . . . . 2.3 Historische Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte . 2.3.1 Biografiearbeit mit Personen mit geistiger Behinderung 2.3.2 Zur subjektiven Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Den Übergang von der Schule zum Beruf gestalten . . . 2.3.4 Persönliche Zukunftsplanung . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Historische Sinnbildung ist mehr … . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Biografisch-historisches Bewusstsein . . . . . . . . . . . 2.4.2 Elaboriert-historisches Bewusstsein . . . . . . . . . . . IV Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen . . . . 3 Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung . 3.1 Zur Erhebung Subjektiver Theorien . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ethisch verantwortungsvolle Forschung . . . . . . . . . . . 3.3 Anforderungen an das gewählte Forschungsdesign . . . . . 3.4 Das Repertory Grid Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Theoretische Grundlagen: Die Personal Construct Psychology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.1 Die persönlichen Konstrukte . . . . . . . . . . 3.4.1.2 Zwei Grundannahmen auf dem Prüfstand . . . 3.4.2 Methodik der Erhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Methodik der Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das Repertory Grid Interview mit Personen mit geistiger Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Pretest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Durchführung der Interviews . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Vorgehen bei der Auswertung . . . . . . . . . . . . . 4 Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Forschungsteilnehmer*innen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zu den individuellen Lernvoraussetzungen . . . . . . . . . 4.3 Subjektive Sinnzuweisung durch biografische Erfahrungen: Die Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Darstellung und Interpretation . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.1 Lisa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.2 Lena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.3 Annika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.4 Philipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.5 Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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278 290 301 302 303 316 331

V Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Welche Chancen die Repertory Grid Methodik bietet… . . . . 5.2 Wie der Übergang von der Schule in den Beruf gestaltet werden kann… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wie sich die Geschichtsdidaktik verändern kann… . . . . . . . 5.4 Wie die Forschungsteilnehmer*innen historisch Sinn bilden… 5.5 Was war und was werden könnte… . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 336 339 342 346 347

VI Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.3.1.6 Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1.7 Max . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Abschlussgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die Ergebnisse im Zeichen historischen Bewusstseins 4.3.3.1 Biografisch-historisches Bewusstsein . . . . . . 4.3.3.2 Elaboriert-historisches Bewusstsein . . . . . . . 4.3.4 Der Einfluss des Praktikumskontexts . . . . . . . . . .

Der Online-Anhang steht unter folgendem Link zur Verfügung: http://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/rein_lernen (unter Downloads) Passwort: B7EE!?wC%c

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I

Danke…

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, Schüler*innen, die als geistig behindert gelten, dabei zu unterstützen, ein Stück näher an die vollständige Teilhabe an allen Bildungsinhalten zu gelangen. Sie erhofft, zu einer Veränderung der Haltung von Wissenschaftler*innen und Lehrkräften gegenüber diesem Personenkreis beitragen zu können. Historisches Lernen erscheint mir zu relevant und sinnvoll, als dass manche Menschen keine Gelegenheit dazu bekommen. Ich bin der Ansicht, dass gezielte historische Bildungs-angebote zu mehr Selbstbewusstsein, Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung aller Schüler*innen führen können. Insbesondere Schüler*innen mit geistiger Behinderung profitieren maßgeblich von Geschichtsunterricht, so meine Überzeugung. Die vergangenen Lebensjahre waren von diesen Gedanken und dem Verfassen der vorliegenden Forschungsarbeit geprägt. Ohne die tatkräftige Unterstützung vieler Personen würde sie nicht in der aktuellen Form vorliegen. Meine tiefe Dankbarkeit gilt besonders allen Schüler*innen, die sich zu diesem Forschungsprojekt bereit erklärt haben. Meine tiefe Dankbarkeit gilt Bärbel Völkel, Oliver Musenberg, Steffen Preuß und Jannis Seidemann. In unzähligen Dialogen habt Ihr meine Arbeit unterstützt. Mit Euren kritischen Impulsen, steten Fragen und fortwährenden Ermunterungen konnten sich meine Überlegungen zu neuen Erkenntnissen weiterentwickeln. Ohne Eure Unterstützung wäre die Arbeit nicht die, die sie ist. Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinen lieben Eltern Claudia und Karl-Friedrich und meiner lieben Schwester Friederike. Euer Beistand war und ist stets präsent. Ihr habt gefragt, zugehört und tatkräftig geholfen. Ohne Eure Unterstützung wäre die Arbeit nicht die, die sie ist. Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinen lieben Freundinnen und Freunden Diana, Jonathan, Clarissa, Roman, Jonas und Felix. Eure Unterstützung, Geduld und Anteilnahme war fortwährend spürbar. Ohne Eure Unterstützung wäre die Arbeit nicht die, die sie ist.

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Danke…

Meine tiefe Dankbarkeit gilt meinem lieben Wegbegleiter und besten Freund Hendrik, der die Entstehung dieser Arbeit ermöglicht hat. Ohne Deine Unterstützung wäre die Arbeit nicht die, die sie ist. Danke! Stuttgart, im Dezember 2020 Franziska Rein

II

Einleitung

»Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden und dieser Verstehensprozess bedarf sorgfältiger Analysen und verschiedener Perspektiven.«1 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind bei jedem Menschen eng miteinander verknüpft; die Auseinandersetzung mit vergangenen Erfahrungen und zukünftigen Vorstellungen nimmt eine zentrale Rolle während des gesamten Lebens ein. »Wir können das auch so ausdrücken, daß die Geschichte nicht in das Nichts hineingestellt ist, nicht aus dem Nichts hervortaucht, sondern mit tausend Wurzeln in der Welt verwurzelt ist, und zwar einer geschichtliche Welt, die unmittelbar mit der Geschichte mitgegeben ist.«2 Diese Überlegungen sind für das vorliegende Forschungsvorhaben relevant; es möchte Sinnkonstruktionen von vergangenen Erfahrungen des eigenen Lebens und damit zusammenhängende Zukunftsvorstellungen von Schüler*innen3 mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung erheben. Die eigene Lebensgeschichte und mit biografischen Erfahrungen zusammenhängende subjektive Bedeutungszuweisungen der Forschungsteilnehmer*innen stehen im Fokus. Die Teilnehmer*innen besuchen ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ)4 in Baden-Württemberg; sie gelten als geistig behindert. Der Konstruktcharakter des Phänomens ›geistige Behinderung‹ ist in Kapitel 1.1 zu diskutieren. Dort wird begründet, warum diese Arbeit den Begriff ›geistige Behinderung‹ verwendet. Spätestens seit Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist deren Anspruch auf Bildung und Teilhabe daran präsent. Die Präambel betont, dass Menschen mit Behinderung der volle Zugang u. a. zu Bildung zu ermöglichen ist.5 Diese Personengruppe soll bei ihren Mög1 Ellinger (2015), 229. 2 Schapp (2012), 91. 3 In der vorliegenden Veröffentlichung wird der Gender-Star genutzt, um alle Geschlechter zu berücksichtigen. 4 Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Institut für Bildungsanalyse Baden-Württemberg (2019). 5 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (2018), 10.

12

Einleitung

lichkeiten zur »vollen und gleichberechtigten Teilhabe an der Bildung«6 unterstützt werden. Inklusion wird aktuell als Grundhaltung diskutiert; Bildungsinstitutionen, so auch Schulen, sehen sich für alle Schüler*innen verantwortlich und wollen ihre Verantwortung einlösen.7 Barrieren und Exklusionsmechanismen sind abzubauen, sodass grundsätzliche und umfangreiche Teilhabemöglichkeit besteht.8 Der Anspruch leitet sich auch vom Normalisierungsprinzip ab, das seit den 1980er-Jahren eine handlungsleitende Konzeption für alle Menschen mit Behinderung beinhaltet.9 Durch das Prinzip werden Lebensumstände für Menschen mit Behinderung angestrebt, die mit denen von Menschen ohne Behinderung vergleichbar sind.10 So sollen auch Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderanspruch vollen Zugang zu allen Unterrichtsinhalten haben, wie beispielsweise zu Geschichtsunterricht. Die Fachdidaktiken sind in der Pflicht, theoretische Grundlagen für eine inklusive Beschulung aller Schüler*innen zu entwickeln, um Barrieren aufzulösen oder zumindest zu minimieren. Dass sowohl der Geschichtsdidaktik, als auch der Sonderpädagogik in diesem Bereich ein empirisches und theoretisches Defizit attestiert werden muss, stellt Kapitel 1.2 dar. Das Defizit gewinnt zunehmend mehr Relevanz. So gibt es mittlerweile empirische und theoretische Untersuchungen;11 eine Marginalisierung ist allerdings noch immer feststellbar. Die vorliegende Forschungsarbeit möchte einen Beitrag zur Diskussion über grundlegende Aspekte historischen Lernens und speziell im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung leisten. Damit wird auf den vielerorts beklagten Mangel an empirischen Untersuchungen zu historischen Sinnbildungsprozessen von Schüler*innen (mit Förderbedarf) eingegangen. Bisher marginalisieren geschichtsdidaktische Überlegungen Schüler*innen mit geistiger Behinderung noch. Das lässt sich auf verschiedene Begründungszusammenhänge und Haltungen gegenüber diesem Personenkreis zurückführen. Bis in die jüngste Vergangenheit dominierte ihnen gegenüber der Stereotyp der Gegenwartsverhaftetheit.12 Man unterstellte ihnen oftmals kategorisch, sie könnten ihre jeweilige Gegenwart weder im Rahmen der eigenen Vergangenheit oder Zukunft, geschweige denn über die jeweilige Lebenszeit hinaus, gedanklich überschreiten. Das führte zum Vorurteil, die eigene

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Ebd., 39. Seitz (2016), 138. Trescher (2017a), 47. Beck (2016), 155. Ebd., 155f. Z. B. von Barsch (2009b); Barsch/Hasberg (2014); Hasberg (2014); Kühberger (2016b); Musenberg (2016); Rein/Seidemann (2018); Völkel (2017a); Alavi/Lücke (2016). 12 Bader (1996), 282; Lindmeier (2001).

Einleitung

13

Biografie nicht zu überblicken und die Welt sowie sich selbst nicht im Zusammenhang von Historizität reflektieren zu können. »Vielen [geistig, Anmerkung F.R.] Behinderten fehlen zeitliche Kategorien; sie führen gleichsam ein geschichtsloses Leben. Nur wenige Behinderte orientieren sich an Jahreszahlen oder Altersangaben. Ihre zeitliche Perspektive orientiert sich eher an Kategorien, die durch die Anstaltsunterbringung gesetzt sind […]. Dadurch entstehen für die einzelnen sehr verschobene zeitliche Perspektiven: lange Zeiträume werden für kürzer angesehen; das eigene Lebensalter wird nicht ›richtig‹ eingestuft, […].«13

Historische Lernprozesse werden, so beispielsweise im Bildungsplan für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Baden-Württemberg, randständig behandelt. Hier nimmt ›Geschichte‹ insgesamt eine überschaubare Dimension im Bildungsbereich ›Mensch in der Gesellschaft‹ ein.14 Es bezieht sich dort auf verschiedene geschichtsdidaktische Überlegungen: »Schülerinnen und Schüler eignen sich ein Geschichtsbewusstsein und ein Verständnis für die Gewordenheit und Veränderbarkeit der Gesellschaft an. Historisches Lernen regt sie an, die Gegenwart als Ergebnis vergangener Entwicklungen, als durch menschliches Handeln veränderbar und somit zukunftsoffen zu sehen.«15 Ziel des Geschichtsunterrichts ist die Entwicklung oder Veränderung des Geschichtsbewusstseins. Es bezieht sich u. a. auf Sinnbildungsprozesse, um Veränderbarkeit sowie den Zusammenhang der drei Zeitdimensionen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, rational denken und narrativieren zu können. Hier lässt sich die zentrale Kategorie der geschichtsdidaktischen Theorie, »Sinnbildung über Zeiterfahrung«16, verorten und Lernprozesse vor diesem Hintergrund anbahnen. Dabei kann die eigene Biografie mit Veränderungen des eigenen Körpers oder von Lebensphasen eine herausragende Rolle spielen. Die Lebensgeschichte lässt sich in zeitlichen Zusammenhängen denken, was die Schüler*innen in die Lage versetzt, Zukunftsvisionen zu entwickeln.17 Hier zeigt sich gerade für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ein gravierendes Problem. Dem Geschichtsbewusstsein liegen rein rationale Fähigkeiten, wie Denken und Sprechen zugrunde. Es ist ohne entsprechende Kompetenzen nicht zu entwickeln.18 Ebenso ist Geschichtsbewusstsein aufgrund seiner kulturellen Orientierungsfunktion19 zu diskutieren. Einige Schüler*innen werden, wie zu zeigen ist, durch die Orientierung an Geschichtsbewusstsein in doppelter Hinsicht marginalisiert.

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Bader (1996), 282. Ministerium für Kultus/Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009a), 190–194. Ebd., 190. Rüsen (1982), 520. Ministerium für Kultus/Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009a), 190f. Völkel (2017a), 62. Rüsen (1997b), 24.

14

Einleitung

Für Schüler*innen mit diesem Förderschwerpunkt mangelt es an (konsensualen) theoretischen Überlegungen und empirischen Studien. Aktuelle geschichtsdidaktische Modelle und Denkfiguren orientieren sich vornehmlich an Lernenden ohne Förderanspruch und, wie dargestellt wird, an geschichtswissenschaftlichem Denken. Historische Sinnbildung von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, auf deren Grundlage sich Rückschlüsse für die geschichtsdidaktische Theoriebildung ziehen lassen, sind bislang recht spärlich empirisch betrachtet worden und finden kaum Eingang in fachdidaktische Denkfiguren, die Kapitel 2.1 behandelt. Völkel begreift aktuelle geschichtsdidaktische Überlegungen, die »historisch-kulturelle wie auch geistig-kommunikative Andersheit«20 nicht einschließen, als defizitär und entwickelt eine inklusive Geschichtsdidaktik21, die den Anspruch verfolgt, allen Personen historisches Lernen zu ermöglichen. Ihr inklusives Modell bespricht Kapitel 2.2. Ein gegenseitiger Austausch von Geschichtsdidaktik und Sonderpädagogik, insbesondere dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, ist darüber hinaus kaum zu beobachten.22 Der vorliegenden Arbeit liegt die These zu Grunde, dass historisches Sinnbilden auch im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung möglich ist und eine »Notwendigkeit historischer Bildungsangebote«23 besteht. Kapitel 2.3 greift Überlegungen auf, historisches Lernen über und durch die eigene Lebensgeschichte anzubahnen. Sinnbildungsprozesse anhand der eigenen Biografie werden in den Mittelpunkt gerückt. Hierfür werden die Forschungsteilnehmer*innen, wie Kapitel 3.1 diskutiert, grundsätzlich als Expert*innen angesehen und nach ihren Sichtweisen befragt. Theoretische Grundlagen zur Erhebung subjektiver Theorien mit Menschen mit geistiger Behinderung werden besprochen. Inklusion hat den Anspruch, die Sprachlosigkeit der Schüler*innen innerhalb eines solchen Diskurses zu unterbrechen;24 also gilt es unbedingt, ihre Perspektiven zu erfahren.Diese sind sowohl in den wissenschaftlichen als auch den alltäglichen Diskurs zu implementieren; welche Anforderungen das für das Forschungsdesign mit sich bringt, zeigt Kapitel 3.3. Kapitel 3.2 stellt ethische Überlegungen dazu an. Die Sinnzuweisungen der betroffenen Schüler*innen werden über ihre Äußerungen in einem Interview erhoben. Hierfür, zeigt Kapitel 3.4, bietet sich die Repertory Grid Methodik25, basierend auf der Personal Construct Psychology nach Kelly26, an. Inwiefern sich die Methode für Personen mit geistiger Behinderung einsetzen lässt, wurde – so bisher bekannt – nur 20 21 22 23 24 25 26

Völkel (2017a), 7. Völkel (2017a). Musenberg/Pech (2011), 218. Musenberg (2014), 62, kursiv im Original. Trescher (2017a), 49. Fromm (1995). Kelly (1986).

Einleitung

15

einmal diskutiert.27 Es ist ein weiteres Ziel der vorliegenden Arbeit, die Interviewmethodik so zu adaptieren, dass sie für diesen Personenkreis einsetzbar wird. Theoretische Gedanken und die Darstellung zum methodischen Vorgehen befinden sich in Kapitel 3.5. Um Aussagen zur Konstruktion eigener Erfahrungen zu treffen, interpretiert Kapitel 4.3 die persönlichen Konstrukte der Teilnehmer*innen. Die Leitfrage der gesamten Arbeit ist, ob sich die Sinnbildungsprozesse der Forschungsteilnehmer*innen als spezifisch historisch deuten lassen. Auch ist zu erörtern, ob und inwiefern eigene biografische Erfahrungen Ausgangspunkt für historische Sinnbildung (bei Schüler*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung) sein können. Dazu werden verschiedene geschichtsdidaktische Denkfiguren diskutiert, die sich auf aktuelle konsensuale Annahmen der Theorie zu Geschichtsbewusstsein beziehen. Darüber hinaus lassen sich Überlegungen zu historischen Sinnbildungsprozessen mithilfe von Völkels inklusivem Ansatz zum Zeitbewusstsein und Handlungssinn anstellen.28 Aufgrund der folgenschweren Grenzen der aktuellen Denkansätze schlägt Kapitel 2.4 Möglichkeiten zur Veränderung und Erweiterung der Theorie vor. Wie dort erörtert, ist von zwei Ebenen historischen Bewusstseins auszugehen. Beide Dimensionen lassen sich mit den zentralen Ergebnissen der Interviews und deren Interpretation verbinden. Davon ausgehend ist sich der Beantwortung der Frage anzunähern, ob sich die Sinnbildungsprozesse als historisch deuten lassen. Wie die Gruppe der befragten Schüler*innen zustande kommt und über welche Lernvoraussetzungen sie verfügt, zeigen Kapiteln 4.1 und 4.2. Alle Lernenden befinden sich am Übergang von der Schulausbildung zu ihrem nachschulischen, beruflichen Leben – eine Phase, in der sie vermutlich Verunsicherung erleben und vielseitige neue Erfahrungen beispielsweise im Rahmen verschiedener Praktika, sammeln. In diesem Lebensabschnitt werden grundlegende und wichtige Entscheidungen getroffen. Kurzum: die eigene Zukunft spielt eine zentrale Rolle und ist stets präsent. Die Erfahrungen und anstehenden Überlegungen dieser Übergangsphase lassen sich durch Biografiearbeit aufgreifen und mit historischer Sinnbildung verbinden. Zu fragen ist, welche Sinnzuweisungen die Forschungsteilnehmer*innen aus bisherigen Erfahrungen in unterschiedlichen Arbeitskontexten besitzen bzw. welche Sinnzuweisungen bedeutsam für sie sind. Dazu werden bei jeder/jedem Schüler*in zwei verschiedene Arbeitskontexte betrachtet. Zum einen werden Sinnzusammenhänge einer schulischen Arbeitssituation, bei der die Schüler*innen in verschiedenen Dienstleistungsangeboten im Rahmen ihres Unterrichts arbeiten, untersucht. Zum anderen lassen sich die Sinnkonstruktionen zu Arbeitserfah27 Barton/Walton/Rowe (1976). 28 Völkel (2017a).

16

Einleitung

rungen während eines Praktikums, das sie in unterschiedlichen Betrieben oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) absolvieren, erheben. Hierfür sind zwei Interviews jeweils zeitnah nach den Arbeitserfahrungen vorgesehen. Die erste Befragung erhebt Sinnzuweisungen zum schulischen Kontext. Im zweiten Interview stehen die Bedeutungszuweisungen beider Arbeitsumfelder im Fokus. Das zweite Gespräch behandelt sowohl die Konstruktion schulischer, als auch außerschulischer Arbeitserfahrungen, sodass anschließend mögliche Veränderungen oder stabile Bedeutungszuweisungen erörtert werden können. Davon ist abzuleiten, ob und inwiefern die Schüler*innen verschiedene Zeitpunkte in Bezug zueinander setzen und sinnvoll miteinander verbinden. Drei Schüler*innen absolvieren ihr Orientierungspraktikum im Arbeitsbereich einer WfbM, zwei Schülerinnen in einem Betrieb, der strukturell zu einer WfbM gehört und zwei weitere Schüler*innen in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts. Zu fragen ist nach der potenziellen Bedeutung des Orientierungspraktikums für ihre Sinnkonstruktion. Ebenfalls lässt sich der Einfluss der verschiedenen Praktikumssettings (WfbM, strukturell der WfbM angegliederter Arbeitsplatz oder allgemeiner Arbeitsmarkt) erörtern. Die vorliegende Untersuchung möchte ergründen, ob und in welcher Weise sich die Sinnbildung der betrachteten Schüler*innen als spezifisch historisch deuten lässt. Im Vordergrund stehen Überlegungen zum Einfluss der biografischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf ihre Lebensgeschichte. Beleuchtet wird, ob und inwiefern eigenes Erleben und Erfahren in Arbeitskontexten auf die persönliche Sinnzuweisung der Teilnehmer*innen einwirkt. Ein Fazit dazu zieht Kapitel 5.4. Der qualitative empirische Ansatz der Forschungsarbeit erlaubt, so zeigt Kapitel 5.1, relevante Erkenntnisse über die Sinnkonstruktion junger Menschen, die am wohl verunsichernden und prägenden Übergang von der schulischen Umgebung in die Arbeitswelt stehen. Abschließende Gedanken zu dieser Phase bespricht Kapitel 5.2. Kapitel 5.3 und 5.5 resümieren daraus Rückschlüsse für die geschichtsdidaktische Theoriebildung und die Planung historischer Lernangebote.

III

Theoretische Grundlagen

1

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

1.1

Zum Begriff – Geistige Behinderung

Um einordnen zu können, um welchen Personenkreis es sich bei den Betrachtungen der vorliegenden Arbeit handelt, werden knapp verschiedene Modelle von Behinderung diskutiert. Auf dieser Grundlage lässt sich ein Begriff bestimmen, der hier für das Phänomen der geistigen Behinderung zugrundegelegt wird. Einer (geistigen) Behinderung kann man sich aus unterschiedlichen Perspektiven nähern, die je nach Fragestellung und je nach Erklärungsversuch unterschiedlich ausgeprägt sind. Sie lässt sich medizinisch-biologistisch-naturalistisch oder gesellschaftlich-sozial-konstruktivistisch einordnen.29 Die erste Sichtweise erkennt etwas Naturgegebenes, so Trescher. Die zweite Perspektie rückt den sozialen Konstruktcharakter in den Vordergrund, »unter der Personen mit ähnlichen körperlichen Merkmalen subsumiert werden.«30 In der medizinisch-biologistisch-naturalistischen Annäherung steht eine »körperliche Schädigung oder funktionale Beeinträchtigung«31 im Zentrum der Betrachtungsweise, wobei Speck davon ausgeht, dass aus medizinisch-genetischer Sicht die Schädigung des Gehirns zentrale Relevanz für eine geistige Behinderung besitzt. Hier lässt sich auch der psychologische Aspekt, der von einer intellektuellen ›Retardierung‹ bei diesem Personenkreis ausgeht, anbinden.32 Oliver zeigt auf, dass 29 Trescher (2017a), 30; einen differenzierteren Überblick über die verschiedenen Modelle von Behinderung, so das Individuelle Modell, das Soziale Modell, das Minderheitenmodell, das Kulturelle Modell und das Relationale Modell gibt Koenig (Koenig (2014)). Auf die umfassende Abhandlung der verschiedenen Modelle wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit verzichtet. Der Diskurs ist an anderer Stelle nachzuverfolgen und zu führen. 30 Trescher (2017a), 31. 31 Waldschmidt (2006), 85. 32 Speck (2018), 57ff.

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Theoretische Grundlagen

zudem von einem individuellen Modell von (geistiger) Behinderung gesprochen werden kann, wobei (geistige) Behinderung ähnlich wie beim medizinischen Modell innerhalb der Person als Lebewesen und nicht als Kulturwesen zu verorten ist.33 Die medizinisch-genetische Sichtweise geht rein kausal und klassifikatorisch vor34 und stellt, so Neuhäuser und Steinhausen, eine Verengung dar.35 Die Disability Studies wenden sich vom medizinischen Modell von Behinderung ab.36 Speck geht davon aus, dass »die individuelle Form einer geistigen Behinderung nicht das direkte oder bloße Ergebnis einer bestimmten körperlichen (neuronalen) Schädigung darstellt, sondern aus einem komplexen Wirkzusammenhang ›endogener‹ und ›exogener‹, somatischer und sozialer Faktoren hervorgeht, so hart und irreversibel die zugrunde liegende organische oder genetische Schädigung auch sein mag.«37 Es sind personale und soziale Aspekte und Prozesse, die eine geistige Behinderung bedingen.38 Gesellschaftlich-sozialkonstruktivistisch lässt sich geistige Behinderung als Kategorie betrachten, die von der Person abhängt und sozial konstruiert ist. Trescher begreift sie als sozialen Prozess des Behinderns bzw. Behindert-Werdens.39 Das soziale BehindertWerden steht im Vordergrund, wobei der behinderte Körper ebenfalls mit in die Betrachtungsweise einfließt.40 Grundlage für diese Konstruktion von (geistiger) Behinderung ist das zunehmende Bewusstsein für andere, weitere Faktoren, die außerhalb der Person liegen und diese behindern.41 So lässt sich die Entstehung einer (geistigen) Behinderung soziologisch als »Ausprägungsform der Sozialisation«42 begreifen; sie entsteht durch die Umwelt43 und betont die Rolle der Gesellschaft.44 (Geistige) Behinderung gilt als relationaler Begriff, wobei von einem »mehrdimensionalen Geflecht von Beziehungen und Relationen [ausge-

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37 38 39 40 41 42 43

44

Oliver (1996), 31f. Dederich (2016), 99. Neuhäuser/Steinhausen (2013), 16ff. Goodley (2011); Im Zentrum der Disability Studies steht ebenso die Abkehr vom Moralischen Modell, nach dem eine Behinderung das Resultat von Verfehlungen der Eltern oder auch der betroffenen Person selbst, anzusehen ist. Dem Gedanken wird in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Speck (2018), 60. Ebd., 76. Trescher (2017a), 30ff. Koenig (2014), 35. Goodley (2011), 8. Speck (2018), 65. Cloerkes (2003). Im Sammelband wird Behinderung als gesellschaftlich konstruiert eingeordnet und erklärt. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen, die in der vorliegenden Arbeit kein näherer Gegenstand des Diskurses sein werden, werden aus dieser Perspektive beleuchtet. Koenig (2014), 34.

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

19

gangen wird], aus dem erst der Sachverhalt hervorgeht, der dann als ›Behinderung‹ bzw. ›disability‹ bezeichnet wird.«45 Jedem Modell kommt in seinem Kontext gewisse Plausibilität zu.46 Dederich plädiert – und damit wird der Diskurs um Behinderungsmodelle geschlossen – für ein phänomenologisch orientiertes Modell.47 »Demnach liegt eine Behinderung dann vor, wenn etwas in Hinblick auf eine vorgängige Ordnung des Wahrnehmens, Wissens und Handelns als Irritation, Störgröße oder Abweichung erfahren wird.«48 Der phänomenologische Diskurs zu Leib bzw. Leiblichkeit »setzt philosophisch an und greift zentrale Probleme wie die Subjekt/ Objekt-Relation, ungeklärte Aspekte der Erkenntnistheorie oder die Frage nach der Konstitution des Subjekts auf.«49 Dederich greift diese Gedanken auf und verbindet sie mit Behinderung als Konstruktion.50 Diese phänomenologische Orientierung überwindet den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist, dessen Erbe sich, wie später zu zeigen ist, bspw. in der Theorie zum Geschichtsbewusstsein finden lässt.51 Dederichs Überlegungen zeigen sich anschlussfähig an Völkels52 inklusive geschichtsdidaktische Gedankengänge. Beide Betrachtungen ließen sich an anderer Stelle weiter aufeinander beziehen. Die vorliegende Arbeit baut in Anlehnung an die Disability-Studies auf einem gesellschaftlich-sozial-konstruktivistischen Modell auf. Die Forschungsteilnehmer*innen werden als ›geistig behindert‹ bezeichnet.53 Da die Untersuchung im pädagogisch-didaktischen Kontext anzusiedeln ist, ist alternativ und synonym von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu sprechen.

45 46 47 48 49 50 51 52 53

Dederich (2016), 101. Ebd., 103. Dederich (2012); Dederich (2016). Dederich (2016), 103. Dederich (2012), 150. Ebd., 149–168. Ebd., 152. Völkel (2017a). Eine detaillierte, interdisziplinäre und vielseitige Auseinandersetzung mit der Begriffsbildung der sog. ›geistigen Behinderung‹ ist bspw. bei Greving/Gröschke (2000)) nachzulesen; um von einem einheitlichen Begriff auszugehen, wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff ›geistige Behinderung‹, der synonym zum Begriff ›Förderschwerpunkt geistige Entwicklung‹ aufgefasst wird, verwendet. Da es sich beim Phänomen der geistigen Behinderung um ein Konstrukt handelt, mit dem ein Merkmal einer Personengruppe hervorgehoben wird, wäre es ebenfalls legitim von sogenannter geistiger Behinderung zu sprechen, wie bspw. Speck vorschlägt (Speck (2018)). Der besseren Lesart wegen soll allerdings nicht von ›sogenannter geistiger Behinderung‹, sondern von ›geistiger Behinderung‹ gesprochen werden. Um darüber hinaus begriffliche Klarheit zu gewinnen, wird im vorliegenden Arbeit darauf verzichtet, weitere Synonyme zu nutzen, so dass sich im Text der Begriff ›geistige Behinderung‹ häuft. Hier wird der begrifflichen Klarheit einer ansprechenden Stilistik Vorgang gewährt.

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Theoretische Grundlagen

Speck fasst das Phänomen der geistigen Behinderung als eine »Komplexe Behinderung, die sich genuin auf den ganzen Menschen erstreckt.«54 Bei dem Personenkreis liegt eine kognitive Beeinträchtigung vor; die sensorischen, motorischen und kommunikativen Kompetenzen weichen von einer altersgemäßen Entwicklungserwartung ab, was zur Behinderung an Teilhabe führt.55 Bei allen Forschungsteilnehmer*innen wurde eine solche Komplexe Behinderung, eine geistige Behinderung, diagnostiziert. Sie haben rechtlichen Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung in diesem Förderschwerpunkt.56 Die Einlösung dieses Anspruchs geht meist mit dem »Eintritt in ein mehr oder weniger umfassendes System aus mehr oder weniger geschlossenen Institutionen«57 einher, so auch bei den Schüler*innen der vorliegenden Arbeit. Alle werden im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an einem sonderpädagogischen Bildungsund Beratungszentrum als geschlossener, speziell für diese Lernenden konzipierten Einrichtung, beschult. Über die Beschulung hinaus ist der Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten dadurch beeinflusst, dass die Schüler*innen als geistig behindert gelten. So absolvieren drei der insgesamt sieben Schüler*innen ihr Orientierungspraktikum an einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM)58, einer Einrichtung, die ebenso spezifisch für diesen Personenkreis und als mehr oder weniger geschlossenes System anzusehen ist. Zwei Schülerinnen arbeiten am Außenarbeitsplatz einer WfbM, der formal der WfbM angehört, durch seine räumliche Trennung und Struktur eher dem allgemeinen Arbeitsmarkt ähnelt. Ein Schüler und eine Schülerin führen ihr Praktikum in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts durch. Mit fünf Schüler*innen, die ihr Praktikum in einer WfbM oder einem der WfbM zugehörenden Arbeitsplatz absolvieren, stellt diese Gruppe die deutliche Mehrheit der Teilnehmer*innen dar. Sie gehen mit dem Praktikum in ein System über, das eigens für diesen Personenkreis geschaffen wurde.59 Die systemischen Strukturen und daraus folgenden Möglichkeiten sowie Grenzen beeinflussen maßgeblich ihre Entfaltung der Persönlichkeit.60 54 55 56 57 58

Speck (2018), 44. Fischer (2008), 210. Speck (2018), 73. Trescher (2017a), 31. WfbM steht als Abkürzung für ›Werkstatt für behinderte Menschen‹ (LAG WfbM BadenWürttemberg e.V. (2019)). Der Begriff ›behinderte Menschen‹ suggeriert an dieser Stelle allerdings, dass die Behinderung als einziges Merkmal dieser Personen zu sehen ist. Daher wird WfbM in der vorliegenden Forschungsarbeit als eine ›Werkstatt für Menschen mit Behinderung‹ bezeichnet, um hervorzuheben, dass die Behinderung nicht als das einzige oder dominierende Merkmal dieses Personenkreises anzusehen ist. 59 Diese Beobachtung bezieht sich auf die sieben Schüler*innen, die als Interviewteilnehmer*innen an der vorliegenden Forschungsarbeit teilnehmen und sind nicht verallgemeinerbar. Es lassen sich daraus keine allgemeinen Ableitungen treffen, wie viele Schüler*innen

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

1.2

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Status quo zum historischen Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Die Forschungen zum historischen Lernen sind sowohl empirisch als auch theoretisch für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, insbesondere im Bereich geistige Entwicklung, defizitär.61 Das ist zum Großteil damit zu erklären, dass sich die Geschichtsdidaktik als Disziplin eher der Sekundarstufe zuordnet. Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderanspruch werden in Theorie und Empirie erst seit einigen Jahren berücksichtigt.62 Noch 1995 klammert von Borries diese Lernenden aus seiner repräsentativen Studie zum Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen grundsätzlich aus – mit dem Verweis, »eine Befragung von Sonderschülern und Privatschülern scheidet ohnehin aus.«63 Die folgenden Darstellungen behandeln knapp den status quo der Forschungslandschaft in Bezug auf historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Musenberg und Pech verweisen nachdrücklich auf eine »fachdidaktische Leerstelle«64, wenn historisches Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung betrachtet wird. Die Leerstelle klafft noch immer sowohl in der Didaktik im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sowie in der Geschichtsdidaktik. Die Randständigkeit von Geschichtsunterricht in Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung bemängelt auch Barsch. Er stellt methodische Überlegungen zu entsprechenden Lernangeboten dieser Schüler*in-

60 61

62

63 64

mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ein Praktikum in einer WfbM, bzw. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt absolvieren. Trescher (2017a), 31. An dieser Stelle wird auf Schmetz’ Monografie von 1977 (Schmetz (1977)) verwiesen, in der er sich theoretisch mit Fragen der Geschichtsdidaktik, allgemeinen Didaktik und didaktischen Aspekten in Bezug auf Lernbehindertenpädagogik auseinandersetzt. Bereits 1977 erkennt Schmetz das Empiriedefizit von historischem Lernen im Kontext von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf hin (hier mit dem Fokus auf den Förderschwerpunkt Lernen). Dies gilt auch für den Primarbereich, was in der vorliegenden Forschungsarbeit allerdings nicht näher diskutiert werden soll (als Auswahl der bisher vorliegender Publikationen: Kühberger (2016a); Schreiber (2004a); Schreiber (2004b); Reeken (2017); Fenn (2018)). Anbei einige, ausgewählte Veröffentlichungen zu historischem Lernen mit sonderpädagogischem Bezug: Alavi/Lücke (2016); Alavi/Therfloth (2013); Barsch (2016); Barsch (2011); Barsch (2014b); Barsch/Hasberg (2014); Kühberger/Schneider (2016); Musenberg (2014); Musenberg (2016); Musenberg/Riegert (2014); Rein/Seidemann (2018); Völkel (2017a); Völkel (2016). Borries (1995), 17. Musenberg/Pech (2011), 230; vgl. dazu auch Musenberg/Riegert (2014), die darauf hinweisen, dass die geschichtsdidaktischen und sonderpädagogischen Diskurse bislang weitestgehend voneinander isoliert stattfinden; vgl. dazu auch Alavi/Therfloth (2013), die in diesem Zusammenhang u. a. auf die unterschiedlichen Traditionen beider Disziplinen hinweisen; auch Rein/Seidemann (2018) verweisen auf diesen Problemkontext.

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Theoretische Grundlagen

nen vor, indem er Entwicklungspsychologie, Geschichtsdidaktik und Sonderpädagogik aufeinander bezieht und damit einen frühen Vorstoß wagt, die Disziplinen zu verbinden.65 Zur Marginalisierung stellen Musenberg und Pech66 einige Thesen auf. Zum einen scheint sich historische Sinnbildung vor allem auf die Vermittlung bloßen Wissens zu beziehen, dem gegenüber Lernen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Regel lebensweltorientiert und praktisch stattfindet. Geschichtsunterricht ist, so ein verbreitetes Vorurteil, die »Vermittlung ›trägen‹ Wissens.«67 Lebenspraktische Alltagsorientierung mag auf den ersten Blick im Widerspruch zu historischen Kompetenzen stehen.68 Von der Vermittlung reinen Allgemeinwissens bspw. um historische Daten – was mit der Vermittlung ›trägen‹ Wissens gemeint sein könnte – wendet sich die Geschichtsdidaktik zu Gunsten von kompetenzorientiertem Lernen seit längerer Zeit ab.69 Ziele von Geschichtsunterricht sind Kompetenzen, die zur persönlichen Handlungsfähigkeit der Schüler*innen beitragen. Historisches Lernen und lebenspraktische Kompetenzen stehen also nicht im Widerspruch zueinander, sondern können den Lernprozess gleichsam positiv beeinflussen. Allerdings ist die Forderung nach Kompetenzorientierung im Hinblick auf Geschichtsdidaktik und den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung neu zu diskutieren70, was die vorliegende Forschungsarbeit nicht aufzugreifen vermag und an anderer Stelle zu überlegen ist. Historische Kompetenzmodelle wären intensiv und differenziert auf ihre Anschlussfähigkeiten für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu hinterfragen und ggfs. zu erweitern.71 Barsch72 befragt verschiedene geschichtsdidaktische Kompetenzmodelle auf deren Eignung für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Dies, so stellt er dar, ist ausdrücklich für andere Förderschwerpunkte anschlussfähig und kann eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Er schätzt die schriftsprachlichen Modelle, die bestimmte kognitiv-sprachliche Kompetenzen voraussetzen, als problematisch

65 66 67 68 69 70 71

Barsch (2001), 515. Musenberg/Pech (2011), 217f. Ebd., 217. Ebd. So bspw. Pandel (2007). Musenberg/Pech (2011), 218. So bspw. Barsch (2011) als knappe Analyse für den Förderschwerpunkt Lernen; Barricelli/ Gautschi/Körber (2012) geben einen differenzierten Überblick auf aktuelle historische Kompetenzen und Kompetenzmodelle, daraus wird ersichtlich, dass sie sich aber an kognitivsprachlich fähige Schüler*innen richten. Überlegungen zu geschichtsdidaktischen Kompetenzen werden in Kapitel 2.1.3 weitergeführt. 72 Auf Barschs weitere Bemühungen, die Geschichtsdidaktik mit der Sonderpädagogik, hier insbesondere mit dem Förderschwerpunkt Lernen zu verknüpfen, wird an dieser Stelle verwiesen (Barsch (2016); Barsch (2013)).

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

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ein.73 Aufgrund der bedingten Kompatibilität ist zu überprüfen, inwiefern Kompetenzorientierung für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung radikal neu diskutiert und andere Modelle entwickelt bzw. bestehende Modelle modifiziert werden sollten. Kapitel 2.4 zeigt eine mögliche Veränderung auf. Bei Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hält sich hartnäckig das Vorurteil, sie führten ein »geschichtsloses Leben«74, was den wissenschaftlichen Diskurs immer noch prägt. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde den meisten betroffenen Schüler*innen die Kompetenz, sich zeitlich in ihrem Leben zu orientieren, abgesprochen. Dieses Vorurteil mag für die gegenwärtige Diskussion um historische Sinnbildung noch wirksam sein – wenn auch weniger stark. Es herrscht teilweise bis jetzt die Vorstellung, dass historisches Lernen erst ab bestimmten (kognitiv-sprachlichen) Voraussetzungen unternommen werden kann bzw. sinnvoll ist. Es wird oft an ein Entwicklungs-, bzw. Lebensalter gekoppelt.75 Diese Annahme hat sich in den vergangenen Jahren verändert.76 Geschichts-, Sachunterrichtsdidaktik sowie Sonderpädagogik könnten sich noch weiter entwickeln. Jenseits davon ist nach wie vor festzustellen, dass geschichtsdidaktische Impulsen in der Sachunterrichtsdidaktik eine untergeordnete Rolle spielen – genau wie sonderpädagogische Überlegungen in der Geschichtsdidaktik. Die für ein vierjähriges Curriculum angelegten sachunterrichtlichen Themen der Primarstufe werden im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung oftmals über die gesamte Schulzeit gestreckt.77 Die zentrale Kategorie historischen Lernens, das Geschichtsbewusstsein, ist mit dem Fokus auf rationale und kognitiv-sprachliche Aspekte (vor allem für den Personenkreis mit geistiger Behinderung) zu prüfen. Musenberg und Pech verweisen darauf, dass Geschichtsunterricht grundsätzlich – so sein Ziel die Entwicklung oder Erweiterung von Geschichtsbewusstsein ist – kritisch zu beleuchten ist.78 Aktuell hinterfragen einige Geschichtsdidaktiker*innen diese didaktische Zentralkategorie.79 Völkel spricht von einem »strukturellen Defizit in […] [der] geschichtsdidaktischen Theoriebildung, das einen inklusiven, historisch-kulturelle wie auch geistig-kommunikative Andersheit einschließenden

73 74 75 76

Barsch (2011), 136ff. Bader (1996), 282. Musenberg/Pech (2011), 217. Mittlerweile lassen sich vereinzelt auch Publikationen für sonderpädagogische Aspekte historischen Lernens, die teilweise allerdings stark mit kognitiv-sprachlichen Lernvoraussetzungen verbunden sind, finden. Auch die Primarstufe wird verstärkt in den Diskurs einbezogen: z. B. Alavi (2016); Barsch (2009b); Barsch (2001); Barsch (2013), Hasberg (2014); Musenberg (2016); Reeken (2017); Rein/Seidemann (2018); Völkel (2017a). 77 Musenberg/Pech (2011), 217. 78 Ebd. 79 z. B.Völkel (2017a).

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Theoretische Grundlagen

Geschichtsunterricht derzeit nicht erlaubt.«80 Historisches Lernen kann sich, so verweisen Musenberg und Pech auf ein Unterrichtsprojekt im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, in vielfältigen Darstellungen der Schüler*innen zeigen, bspw. Bildern, Collagen und kurzen Texten.81 Dabei entwickeln die beiden Autoren methodische Vorschläge, deren theoretische Grundlage innerhalb der Geschichtsdidaktik zu diskutieren ist. Sie halten es für möglich, Narrationen alternativ zu Sprache darzustellen und verweisen auf den möglichen Einsatz unterstützter Kommunikation sowie den Verzicht auf Lautsprache. Eine tiefergehende Beschäftigung mit diesen Vorschlägen befindet sich an dieser Stelle nicht. Alavi fordert eine Erweiterung des Erzählbegriffs82, was in geschichtsdidaktische Diskussionen, wie auch Musenbergs und Pechs Vorschläge, nur randständig Eingang findet.83 Herausfordernd wird die Beantwortung der Frage nach der Erweiterung einer historischen Narration, wenn man sich mit dem Zugang dazu und Lernzielen von Schüler*innen mit Komplexen Behinderungen auseinandersetzt.84 Historisches Lernen knüpft, so Völkel, im Rahmen gegenwärtiger und vergangener geschichtsdidaktischer Theorie hauptsächlich an bestimmte menschliche Fähigkeiten an, die als Voraussetzung gelten, um Geschichte denken zu können.85 Sie geht mit Ricoeur davon aus, dass für diese Denk- und Sinnbildungsprozesse ein »fähiger Mensch«86 angenommen wird. Zur Teilhabe an Geschichte sind für Ricoeur bestimmte Fähigkeiten notwendig: sprechen können, sich erinnern können, handeln können, erzählen können und Für-sein-Handeln-einstehen-Können.87 Für (viele) Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung dürfte die Aneignung dieser Fähigkeiten unmöglich sein. Die Überlegungen werden später in der vorliegenden Arbeit wieder aufgegriffen. Die Geschichtsdidaktik befindet sich jedenfalls in einem Entwicklungsprozess und muss sich kritisch fragen, wie anschlussfähig ihre Theoriekonzepte für alle Schüler*innen sind. Als grundsätzliche kognitive Herausforderung historischen Lernens erkennt Musenberg die Fähigkeit, eine Quelle als Spur wahrzunehmen, die als Relikt der Vergangenheit in die Gegenwart ragt. Eine Quelle ist nur durch kognitive Leistungen zugänglich.88 »In der Tat ist die Schrift die sprachliche Schwelle, die die historische Erkenntnis immer schon überschritten hat, wenn sie sich vom Ge80 Ebd., 7. 81 Musenberg/Pech (2011), 235. 82 Die Überlegung bezieht sich auf die Analogie der Erweiterung des Lesebegriffs, um alle Menschen in die Theoriebildung einzubeziehen (Hublow/Wohlgehagen (1978)). 83 Alavi (2016), 99f. 84 Völkel (2017a), 55. 85 Ebd., 48. 86 Ricœur (2004), 47. 87 Ebd., 54 und 531. 88 Musenberg (2014), 78.

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

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dächtnis entfernt und sich auf das dreifache Abenteuer der Archivierung, der Erklärung und der Repräsentation einläßt.«89 Auch Barsch und Dziak-Mahler sehen in Quellen – unabhängig von sonderpädagogischen Aspekten – Barrieren für historisches Lernen. Das stellt die Geschichtsdidaktik vor die grundlegende Herausforderung, Zugangsmöglichkeiten für alle Schüler*innen zu schaffen.90 Mit einer Anbindung historischen Lernens an die eigene Biografie lassen sich Relikte der eigenen Vergangenheit als Quellen heranziehen. Derart geht auch Manning bei ihrer Studie vor, um Erinnerungen mittels gezielter audiovisueller Medieneinsätze bei Personen mit geistiger Behinderung hervorzurufen.91 Wie bei Manning ist es in der vorliegenden Arbeit allen Teilnehmer*innen möglich, sich medienunterstützt (mittels Fotografien) mit eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen und sie als Quellen zu nutzen. Musenberg und Riegert betonen, dass historische Quellen, die zunächst den Anschein erwecken, anschaulich und gegenständlich zum historischen Lernen aufzufordern, in einen historischen Kontext eingeordnet werden müssen, um historische Narrationen zu erzeugen.92 Merkmale historischer Narrationen diskutiert Kapitel 2.1.4. Musenberg und Riegert stellen in ihrer qualitativen Studie in einem inklusiven Setting fest, dass sich geschichtsdidaktische Theorie und die daraus abzuleitenden Herangehensweisen für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nur sehr bedingt umsetzen lassen.93 Der biografische erfahrungsbasierte Zugang zur historischen Sinnbildung wird im geschichtsdidaktischen Diskurs bislang spärlich verfolgt.94 Im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wird er zumeist als einziger Rahmen gewählt, was so Musenberg und Pech, sinnvoll sein kann; sie kritisieren aber, dass historisches Lernen hier oft stehen bleibt.95 Kühberger und Sedmak betonen, dass jeder Mensch eine Lebensgeschichte hat und in Strukturen lebt, die historisch gewachsen und geworden sind.96 Die eigenen Schüler*innenbiografien könnten Ausgangspunkt für historisches Lernen sein.97 Musenberg stellt fest, dass mit Menschen mit geistiger Behinderung bei der Auseinandersetzung mit der vergangenen Zeitdimension hauptsächlich Biografiearbeit betrieben wird; die eigene biografische Vergangenheit wird gedanklich selten überschritten.98 Hasberg stellt infrage, inwiefern der Rückgriff auf vorbiografisch vergangene Inhalte 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Ricœur (2004), 213. Barsch/Dziak-Mahler (2014), 127. Manning (2010). Musenberg/Riegert (2014), 4. Ebd., 7. Musenberg/Pech (2011), 217. Ebd., 227. Ebd., 194. Musenberg/Pech (2011), 229. Musenberg (2014), 63.

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Theoretische Grundlagen

überhaupt nötig ist, um zur (lebensweltlichen) Identitätsbildung durch historische Sinnbildung beizutragen.99 Kapitel 2.4.2 greift diese Gedanken wieder auf. Mit dem Verweis auf empirische Defizite insbesondere in der geschichtsdidaktischen Auseinandersetzung mit Schüler*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung fordert Hasberg deren Partizipation an historischem Lernen.100 Auf das Empiriedefizit wird in der Fachdidaktik an vielen Stellen hingewiesen. So erkennt Barsch die Notwendigkeit, den Theoriekomplex empirisch näher zu beforschen und weiter zu profilieren.101 Alavi und Therfloth beklagen, dass es bislang »kaum empirische Studien zu Zeitverständnis und Vorstellung von Geschichte im Kontext geistiger Behinderung«102 gibt. Historisches Lernen wird zum einen also im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung defizitär behandelt und findet kaum curricularen Eingang. Zum anderen fehlt es an konsensual diskutierten theoretischen Grundlagen in sonderpädagogischen Kontexten. Darüber hinaus, was sicher mit den beiden vorangegangenen Defiziten zusammenhängt, mangelt es seit Jahren an theoriegeleiteten Forschungsarbeiten mit (sonderpädagogischen) Fragestellungen zu historischer Sinnbildung. Hasberg begründet seine Forderung zur Teilhabe mit der steten Konfrontation mit historischen Aspekten: »Insofern die in geistiger Hinsicht Förderbedürftigen in einer sozialen Umwelt leben, in der sie nicht nur immer wieder von der eigenen biographischen Vergangenheit eingeholt, sondern ebenso unauskömmlich mit vorbiographischen Deutungszumutungen und Orientierungsofferten konfrontiert werden, führt kein Weg daran vorbei, ihnen eine entsprechende Förderung angedeihen zu lassen, sollen sie nicht den wechselnden historischen Persuasierungen ausgeliefert sein.«103

Hasberg bezieht sich auf die biografische und vorbiografische Vergangenheit, die im Leben der Schüler*innen (mit geistiger Behinderung) gleichsam relevant sind. So ist das, wie er es benennt, ›Einholen‹ der eigenen biografischen Vergangenheit von Interesse. Sie kann zum Ausgangspunkt für historische Sinnbildung werden, wobei auch vorbiografische Lerninhalte eine Rolle spielen können. Dabei ist vor allem bedeutsam, wie »Sinn über vergangene Geschehensund Strukturzusammenhänge«104 gebildet wird. Rein und Seidemann unternehmen den Versuch, eine Unterrichtsbeobachtung aus dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zentralen Aspekten geschichtsdidaktischer Theorie zuzuordnen, um davon ausgehend aufzuzeigen, inwiefern beim betrachteten Unter-

99 100 101 102 103 104

Hasberg (2014), 30. Ebd., 17. Barsch (2011), 141; Barsch (2014b), 58. Alavi/Therfloth (2013), 203. Hasberg (2014), 17. Ebd., 18.

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

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richtsbeispiel von historischer Sinnbildung zu sprechen ist.105 Sie stellen Überlegungen an, wie unterrichtliche (biografische) Erfahrungen der Schüler*innen Ausgangspunkte für historisches Lernen sein könnten und kommen zur begründeten Hypothese, dass sich die aktuelle didaktische Theorie grundsätzlich eignet, wenn auch mit Erweiterungen, bei der Auseinandersetzung mit biografischen Erfahrungen von historischer Sinnbildung zu sprechen.106 Bislang sind zwei empirische Studien bekannt, die sich mit historischer Sinnbildung von Menschen mit geistiger Behinderung befassen. Zum einen beschäftigt sich George damit in Bezug auf den geschichtskulturellen Ort, der Gedenkstätte Hadamar.107 Ihre Studie bezieht sich auf die vorbiografische Vergangenheit der Forschungsteilnehmer*innen und fragt danach, wie die Menschen einem Ort mit nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen begegnen. Sie möchte die kollektive Erinnerung dieser Personengruppe erheben. Kollektive Erinnerung wird der subjektiven Erinnerung vorgezogen, was nur randständig diskutiert wird. George erhebt Daten durch teilnehmende Beobachtung der Personen in Seminaren vor Ort sowie Interviews und analysiert eine Filmsequenz, die sie qualitativ auswertet.108 Die ambitionierte und insgesamt begrüßenswerte Auseinandersetzung mit der Thematik lässt leider eine grundlegende Einordnung in den aktuellen geschichtsdidaktischen Theoriekomplex vermissen, wie die folgenden Überlegungen exemplarisch zeigen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Hadamar als geschichtskultureller Ort unter geschichtsdidaktischen Gesichtspunkten konzipiert ist, wäre ein Bezug auf den didaktischen Kontext wünschenswert. Das Defizit hat zur Folge, dass sich nur marginal Rückschlüsse für historisches Lernen ziehen lassen. Aus Georges Studie geht allerdings deutlich hervor, dass sich die Personengruppe sehr interessiert mit den historisch-politischen Inhalten der Gedenkstätte auseinandersetzt.109 Eine Einordnung in Rüsens vier mentale Operationen historischen Lernens, Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Motivation,110 bleibt in Georges Veröffentlichung aus.111 Die Studienteilnehmer*innen zeigen große Empathie mit den dargestellten Opfern des Nationalsozialismus;112 das birgt einen Hinweis auf den emotionalen Aspekt historischen Lernens.113 Hinweise auf Alteritäts- und Kontingenzerfahrungen114 und Orientierungsmöglichkeiten für Gegenwart und Zu105 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Rein/Seidemann (2018). Ebd., 136ff. George (2008). Ebd., 11. Ebd., 194. Rüsen (1997b), 28. George (2008), 121ff. Ebd., 194. Reeken (2017), 14. Rüsen (2008), 17.

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Theoretische Grundlagen

kunft, sowie das Erkennen von Handlungsperspektiven115 der Forschungsteilnehmer*innen zeigen sich nicht und werden aus den vorliegenden Daten nicht interpretiert.116 Es wird kein Bezug zur Denkfigur »Sinnbildung über Zeiterfahrung«117 oder weiteren Modellen hergestellt.118 Durch die Frage nach Alteritätserfahrungen119, die als Grundlage historischer Sinnbildung gelten, ließe sich prüfen, inwiefern die Teilnehmer*innen historisch Sinn gebildet haben, indem sie Andersartigkeit erkennen. Aus der Studie geht hervor, dass die Teilnehmer*innen die historischen Inhalte insgesamt kaum vergleichend analytisch auf die eigene Lebenswelt und Gegenwart anwenden und daraus keine Rückschlüsse für die Gegenwart und Zukunft ziehen.120 An wenigen Stellen gelingen den ihnen vergleichende Unterscheidungen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart.121 Offen bleibt, inwiefern die eigene Lebenszeit tatsächlich überschritten wird und eine historische Kontextualisierung stattfindet.122 Ob sich Aspekte von Analysen, Sachurteilen und Werturteilen123 in den Daten der Teilnehmer*innen finden lassen und sie diese reflektieren können, klärt George nicht.124 Die Studie trifft keine Aussagen darüber, inwiefern die Teilnehmer*innen ihre Denkprozesse reflektieren und Ansätze eines reflektierten Geschichtsbewusstseins125 zeigen.126 Eine Einordnung der Äußerungen in den Theoriekomplex zur historischen Narration nach Rüsen127 oder Barricelli128 fehlt. Ebenso zieht George keine Rückschlüsse auf erklärende oder verstehende Äußerungen.129 Barsch130 befasst sich in zwei Veröffentlichungen damit, wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre biografische historisch-politische Vergangenheit beurteilen.131 Er geht Vergangenheitsbewertungen der eigenen Biografie nach. Das Untersuchungsinteresse bezieht sich auf eigene Lebenszeit der Teilnehmer*in115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

Rüsen (2013), 43. George (2008), 121ff. Rüsen (1982), 520. George (2008), 121ff. Barricelli (2014a), 71f. George (2008), 195. Ebd., 121ff. und 195. Ebd., 121ff. Jeismann (1997); 43 Gautschi (2016), 47. George (2008), 121ff. Jeismann (1978b). George (2008), 121ff. Rüsen (2001b). Barricelli (2015). George (2008), 121ff. An dieser Stelle wird exemplarisch auf weitere Arbeiten von Barsch verwiesen, in denen er sich mit Imagination und Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen im Förderschwerpunkt Lernen auseinandersetzt (Barsch (2013); Barsch (2014a)). 131 Barsch (2009b) und Barsch (2009a).

Historisches Lernen bei Schüler*innen mit geistiger Behinderung

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nen und ihre aktuellen Wertvorstellungen.132 Zum Forschungsgegenstand gehört auch, Vorstellungen von Menschen, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Bundesrepublik Deutschland (BRD) leben, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen. Auch möchte Barsch Erkenntnisse gewinnen, wie die Teilnehmer*innen Menschen mit einem Migrationshintergrund bewerten. Die quantitative Erhebung bezieht sich auf Daten, die mittels Fragebögen generiert wurden.133 Eine dezidierte Einordnung der Ergebnisse in die geschichtsdidaktische Theorie fehlt in dieser Betrachtung, allerdings liegen der Analyse zentrale geschichtsdidaktische Aspekte zugrunde.134 Auch in Barschs zweiter Veröffentlichung zu dieser Studie widmet er sich der subjektiven Bewertung der eigenen Biografie.135 Es lassen sich einige subjektive Urteile über die eigene Vergangenheit finden, die nicht differenzierter auf didaktische Modelle bezogen werden, wobei geschichtsdidaktische Grundsätze erkennbar sind. Die Teilnehmer*innen ziehen Vergleiche zwischen früher und heute; es lässt sich begründet annehmen, dass sie ihre Vergangenheit in Bezug zu ihrer Gegenwart setzen können und dadurch zu einem Urteil gelangen.136 An diesen Gelenkstellen und aufgezeigten Forschungsdesiderata setzt die vorliegende Studie an. Sie möchte den geschichtsdidaktischen und sonderpädagogischen Diskurs um empirische Erkenntnisse zur Konstruktion eigener biografischer Erfahrungen und Sinnbildungsergebnissen vor dem Hintergrund des eigenen Lebenshorizonts von Schüler*innen mit geistiger Behinderung bereichern. Ziel ist, beide Disziplinen stärker miteinander zu verknüpfen. Die Ergebnisse sind nur im Kontext der eigenen biografischen Auseinandersetzung zu verstehen und hypothesenbildend auf die Beschäftigung mit vorbiografischen Inhalten zu übertragen. Hier zeigt sich ein weiteres Desiderat. Die vorliegende Arbeit greift die These von Rein und Seidemann auf, dass bei der Auseinandersetzung mit biografischen Erfahrungen grundsätzlich die Möglichkeit zur historischen Sinnbildung besteht.137 Auch Hasbergs Forderung nach Erkenntnissen zur Sinnbildung »über vergangene Geschehens- und Strukturzusammenhänge«138 wird verfolgt. Die Studie geht deutlich über die dargestellten, aktuell vorliegenden empirischen Forschungsergebnisse hinaus. Sie beleuchtet historische Sinnbildung von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung und deren Anschlussfähigkeit an geschichtsdidaktische Theorie. Überlegungen, ob und inwiefern bei den Teilnehmer*innen von 132 133 134 135 136 137 138

Barsch (2009a). Ebd., 4f. Ebd., 6ff. Barsch (2009b). Ebd., 109. Rein/Seidemann (2018), 141f. Hasberg (2014), 18.

30

Theoretische Grundlagen

historischer Sinnbildung, stehen im Fokus. Die dadurch generierten Hypothesen können Gegenstand weiterer Forschungsarbeiten werden.

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Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

Das nachstehende Kapitel diskutiert zentrale Begriffe und Denkfiguren vor dem Hintergrund historischer Sinnbildungsprozesse. Trotz unterschiedlicher Kontexte der einzelnen Aspekte der Modelle gibt es weitreichende Überschneidungen. Daher lassen sich die jeweiligen Momente nicht radikal voneinander abgrenzen und erläutern. Sie müssen zum Teil im Zusammenhang mit anderen Aspekten gedacht und diskutiert werden. Dennoch erscheint es sinnvoll, die verschiedenen Überlegungen schwerpunktmäßig in einzelnen Kapiteln zu thematisieren, um Geschichtsbewusstsein und Zeitbewusstsein strukturell zu analysieren. Ziel der Erörterung ist es, aufzuzeigen, inwiefern die Aspekte relevant für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit sind. Mithilfe der Erörterungen lassen sich Grundbegriffe geschichtsdidaktischer Theorie analysieren, die Kapitel 2.4 im strukturellen Vergleich der zwei Bewusstseinsebenen, biografischhistorisch und elaboriert-historisch aufgreift.139

2.1

Geschichtsbewusstsein – Status quo der geschichtsdidaktischen Theoriebildung

Reflektiertes Geschichtsbewusstsein gilt seit den 1970er-Jahren als die unhinterfragbare Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik und gleichsam Ziel historischen Lernens.140 »Grundlegendes Ziel historischen Lernens in der Schule«, so von Reeken »ist die Förderung der Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins […] als unverzichtbaren Teils [sic!] des Identitäts- und Persönlichkeitsbildungsprozesses des Kindes. Entwicklung des Geschichtsbewusstseins heißt also nicht, einen Kanon von abfragbarem Wissen über Geschichte zu lehren – ohne die Bedeutung von Wissen für Lernprozesse damit gering zu schätzen, die gerade die Theorie des bereichsspezifischen Wissens wieder hervorhebt-, sondern meint vielmehr, die Fähigkeit zur methodisch bewussten und kontrollierten geistigen Verarbeitung historischer Sachverhalte und Deutungsmuster zu unterstützen.«141

139 Um die Begriffe hervorzuheben, sind sie an zentralen Stellen kursiv markiert. 140 Jeismann (1977). 141 Reeken (2017), 31f.

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»Geschichtsbewusstsein ist dann der textverbundene, in sich stimmige Vorrat an Geschichtsgeschichten und den daraus entstehenden inneren Bildern über die Vergangenheit, die ein Mensch aktiv besitzt.«142 Allerdings gilt die Ontogenese des Geschichtsbewusstseins seit jeher als unklar. Die beiden Auslegungen der Kategorie von Jeismann143 und Rüsen144 gelten als konsensfähig und sind näher zu betrachten. Kern von Geschichtsbewusstsein ist, so versteht Straub Überlegungen von Jeismann und auch Rüsen, das Operieren mit »temporalen Differenzen und Relationierungen«145 und »Konstruktionen von Zeitzusammenhängen.«146 Diese recht allgemeine Überlegung steht in ihrer Essenz mit der Forschungsfrage in unmittelbarem Zusammenhang. Genaue Aussagen, wie Menschen reflektiertes Geschichtsbewusstsein erlangen, lassen sich kaum treffen, so Klose. Es ist grundlegend zu fragen, wie die Geschichtsdidaktik auf den so oft angeführten Missstand der fehlenden empirischen Studien reagieren kann. Kognition, Motivation und Emotionalität hängen beim historischen Lernen zusammen, so Klose weiter.147 Das verweist auf die komplexen Strukturen von Geschichtsbewusstsein. Jeder Mensch konstruiert es wohl sehr unterschiedlich.148 Entsprechend differenziert müssten auch empirische Studien angelegt sein, was eine ernstzunehmende Herausforderung darstellt und eine mögliche Ursache sein könnte, warum Studien bislang so rar sind. Von Borries stellt heraus dass es ›nicht-nur-kognitive‹ Momente im Zusammenhang historischer Sinnbildung gibt. Er betont die emotionalen, motivationalen oder handlungsdispositionalen Aspekte.149 Die Forderung nach angemessener Berücksichtigung von Emotionen findet sich bspw. auch bei Kölbl150, Klose151 und von Reeken152. Die Ausrichtung historischen Lernens am Geschichtsbewusstsein ist in den grundlegenden Theoriekonzepten, wie zu zeigen ist, dominant mit hochkomplexen kognitiv-sprachlichen Aspekten verbunden.153 Straub fasst unter dem Begriff Geschichtsbewusstsein die kognitiven Leistungen »historisch-narrativen Denkens«154 der historischen Sinnbildung. Er bezieht es auf einen Denkprozess und verweist auf rationale Vernunftorientierung, die dem 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154

Barricelli (2011b), 27. Z. B. Jeismann (1977) (weitere Überlegungen folgen in Kapitel 2.1.2 und 2.1.3). Z. B. Rüsen (2008) (weitere Überlegungen folgen in Kapitel 2.1.1 und 2.1.4). Straub (1998), 99. Ebd., 102. Klose (1997b), 51. Völkel (2017a), 106. Borries (2012). Kölbl (2004). Klose (1997a), 56. Reeken (2017), 14. Borries (2008), 22. Straub (1998), 92.

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Theoretische Grundlagen

Geschichtsbewusstsein als elementar zugeschrieben wird.155 Darüber hinaus können unter historischer Sinnbildung »Konstruktionen und Repräsentationen, [die] auf unbewußte, vorbewußte oder bewußte Vorgänge im Subjekt zurückzuführen sind, [die] kognitiv anspruchsvoll oder weniger anspruchsvoll sind, rational oder irrational, emotional bewegt, moralisch konnotiert oder eher nüchtern gehalten«156 sind, verstanden werden, so Straub. Es geht wohl über eine rein rationale Vernunftorientierung hinaus, worauf Kapitel 2.4.1 eingeht. »Auch Individuen begreifen sich bzw. ihre eigene Lebensgeschichte häufig vor dem Horizont der Historie, in die sie sich verstrickt sehen.«157 Straub führt an, dass die eigene Lebensgeschichte durchaus in einen historischen Horizont zu betten und entsprechend zu verstehen ist. So können »autobiographische Selbstthematisierungen eng mit historischem Bewusstsein verflochten sein.«158 Erzählungen, die sich auf die eigene Biografie beziehen, hängen, so Straub, eng mit dem eigenen Geschichtsbewusstsein zusammen. Die Lebensgeschichte könnte Ausgangspunkt für Sinnbildung über Zeiterfahrungen sein.159 Historie versteht er kollektiv, sie bezieht sich auf Geschichten, in die mehrere Personen verstrickt sind und hat keine Grenzen; sie kann beliebig erweitert werden. Damit grenzt Straub Historie von der eigenen Biografie ab.160 Die Überlegungen beziehen sich nur auf die bewusste und kognitiv-sprachlich reflexive elaborierthistorische Auseinandersetzung mit Biografie, wie sich mit Verweis auf Kapitel 2.4.2 erkennen lässt. Straub hat ein anderes Verständnis von Historie und Geschichtsbewusstsein als bspw. Rüsen, auf dessen Überlegungen besonders Kapitel 2.1.1 eingeht Nach Rüsen beziehen sich diese ausgewählten Prozesse historischer Sinnbildung und Erzählens in der Regel auf die vor der eigenen Lebenszeit liegende Vergangenheit.161 Rüsen et al. führen zum Geschichtsbewusstsein an: »es überschreitet die biologischen Zeitgrenzen der Subjekte.«162 Straub unterscheidet zwischen einem zeitgeschichtlichen Bewusstsein, das sich auf die eigene Lebenszeit, und einem historischen Bewusstsein, das sich auf die Zeit außerhalb der eigenen Biografie bezieht. Zeitgeschichtliches Bewusstsein kann sich, so Straub weiter, auf eigene Erfahrungen beziehen, was beim historischen Bewusstsein nicht möglich ist.163 Hier bleibt offen, inwiefern sich die beiden Be155 156 157 158 159 160 161 162 163

Ebd., 94. Ebd., 92. Ebd., 81, kursiv im Original. Ebd., 82. Ebd., 82. Straub (1998), 85. Rüsen (2008), 238. Rüsen/Fröhlich/Horstkötter/Schmidt (1991), 232. Straub (1998), 86.

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wusstseinsebenen weiter voneinander abgrenzen lassen und möglicherweise jeweils eigene Sinnbildungsstrukturen hervorbringen. Vielleicht auch deswegen subsumiert Straub beide Dimensionen als historisches Bewusstsein und attestiert zeitgeschichtlichem Bewusstsein eine ähnliche Struktur wie dem Bewusstsein, das sich auf frühere, vorbiografische Epochen bezieht.164 Seine Überlegungen erscheinen an die Darstellung zum biografisch-historischen und elaboriert-historischen Bewusstsein in Kapitel 2.4 anschlussfähig. Straub verweist auf die Problematik von Rüsens Überlegungen zur vorbiografischen Definition historischen Bewusstseins: »So wäre auf der Grundlage ihrer Definition die Zeit des Nationalsozialismus für jemanden, der nach 1945 geboren ist, ein möglicher Gegenstand und Bestand des historischen Bewusstseins, für die vorher Geborenen (wie die Autoren selbst) jedoch nicht.«165 Weiter kritisiert Straub die kognitiven Fähigkeiten, die für historische Bewusstseinsentwicklung vonnöten sind. »Seine Definition [historischen Bewusstseins, Anmerkung F.R.] erfordert vielmehr eine Bezugnahme auf die aktiven Distanzierungs-, Reflexions- und Konstruktionsleistungen, durch die die Historie gebildet bzw. vergegenwärtigt wird.«166 Historische Bewusstseinsbildung erscheint im Rahmen der eigenen Biografie möglich und anschlussfähig. Denn Straub begreift historisches Bewusstsein zum einen als die Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; darüber hinaus erfasst es auch den Topos, Vergangenheit als jeweilige Gegenwart mit spezifischer Vergangenheit und Zukunft zu konstruieren.167 Zwei Aspekte, die sich im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte abbilden lassen. Kapitel 2.4 greift diese Gedanken wieder auf, um eigene Überlegungen zur Bewusstseinsbildung in historischen Kontexten daran anzubinden und die beiden Ebenen – die Straub als zeitgeschichtliches und historisches Bewusstsein einordnet – vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsfrage und geschichtsdidaktischen Theoriebildung zu diskutieren und konkretisieren. Für Hasberg heißt historisch Denken, »Vergangenes aus Quellen zu analysieren (Sachurteil/Wahrnehmung), das aus Quellen extrahierte (vermeintlich) Vergangene deutend in Zeitverlaufsvorstellungen zu integrieren (Sachurteil/ Deutung) und sich selbst wertend mit dem Re-Konstruierten in eine Beziehung zu setzen (Werturteil/Orientierung).«168 Damit verbindet er die Überlegungen Rüsens und Jeismanns, welche die folgenden Kapitel besprechen. Hasberg geht davon aus, dass sich durch entsprechende Denkprozesse die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden lassen, sofern die 164 Ebd., 86. 165 Ebd., 86; die gemeinten Autoren sind Rüsen und von Borries, die beide auf den vorbiografischen Aspekt historischen Lernens verweisen. 166 Ebd. 167 Ebd., 96. 168 Hasberg (2014), 34.

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Theoretische Grundlagen

Geschichten auf die »auf Zukunft gerichteten Handlungsentwürfe«169 zielen. Er verknüpft historisches Lernen mit zukünftigen Handlungen, die aus »Sinnbildung durch Zeitverschränkungen«170 entstehen. Er stellt also Handlungsentwürfe und Handlungen als zentral für historisches Denken heraus. Welche Bedeutung Handlungssinn und -fähigkeit beim historischen Lernen beigemessen werden kann, lässt sich in Kapitel 2.2.3 nachvollziehen. Grundlage der von Hasberg angeführten Handlungen beinhalten entsprechende Denkprozesse; seine Überlegungen sind an eine kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung gebunden. Kühberger sieht das Ziel aller geschichtsdidaktischer Überlegungen und Bemühungen darin, eine Person dabei zu unterstützen, die eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern.171 Diese Gedanken rund um Handlungen, Handlungsentwürfe und Handlungsfähigkeit durch historische Sinnbildung werden bei Völkels Ausführungen zum Zeitbewusstsein mit einer phänomenologischen Perspektive aufgegriffen. Sie sind dort losgelöst von kognitiv-sprachlichen Lernvoraussetzungen zu verstehen und unterscheiden sich von den bisherigen Überlegungen. Einige dieser grundlegenden Überlegungen zum Geschichtsbewusstsein sind prinzipiell, wie Kapitel 2.4.2 theoretisch zeigt, an historische Sinnbildungsprozesse, die sich auf die eigene Biografie beziehen, anschlussfähig. Allerdings ist Geschichtsbewusstsein kritisch vor dem Hintergrund seiner kulturellen Orientierungsfunktion und Ausrichtung am fähigen Menschen zu diskutieren, s. Kapitel 2.1.8. Dafür ist das aktuell konsensuale Verständnis von historischem Sinn zu beachten. 2.1.1 Sinn Seit Rüsens theoretischen Überlegungen zur Geschichtswissenschaft und -didaktik wird bei historischem Lernen nach dem Sinn oder Sinnzusammenhängen von Geschichten gefragt.172 Außerdem stellt das ebenfalls von ihm geprägte Diktum »Sinnbildung über Zeiterfahrung«173 eine der zentralen Kategorien im Zusammenhang mit dem Erwerb von Geschichtsbewusstsein dar. Die folgenden Darstellungen beziehen sich vornehmlich auf Rüsens Überlegungen und sind Grundlage für weitere Diskussionen.174

169 170 171 172 173 174

Ebd. Ebd., 34. In Anlehnung an Rüsens Diktum »Sinnbildung über Zeiterfahrung«. Kühberger (2015), 20. Rüsen (2008), 179. Rüsen (1982), 520, Hervorhebung F.R. In der Sonder- und Heilpädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts ist Sinn ebenfalls ein vielverwendeter Begriff. So wurde der Sinn meist defizitorientiert, um Abweichungen von

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Sinn zeigt sich, so Rüsen, durch Erinnerung, Kontinuität und Identität175, als »eine Kategorie des historischen Denkens, die den inneren Zusammenhang organisiert, der aus einer Ereignisfolge […] in der Vergangenheit eine Geschichte für die Gegenwart macht.«176. Der Sinn erst ist es, so Rüsen weiter, der Vergangenheit Bedeutung für die Gegenwart verleiht und »daher den grundlegenden Wertbezug des historischen Denkens«177 beeinflusst. Ihm kommt im Kontext historischen Lernens eine zentrale Rolle zu, ohne die, so der Umkehrschluss, Vergangenheit bedeutungslos und historisches Lernen sinnlos bleibt. Sinn besitzt im historischen Diskurs eine doppelschichtige Rahmung. Zum einen ergibt er sich durch die Akteur*innen der vergangenen Ereignisse selbst, zum anderen wird er durch die gegenwärtigen Erinnerungen an ebendiese vergangenen Ereignisse von Personen konstruiert (so bspw. durch Historiker*innen). Für Rüsen stellt Sinn im Zeichen der Geschichtswissenschaft die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. absichtsvollen Handlungen dar.178 In einem kognitiv-sprachlichen Akt werden die drei Zeitebenen miteinander verknüpft. Erst gegenwärtiges Erinnern bzw. Handeln versieht die vergangene Zeitdimension mit Sinn. Rüsen verweist auf Weber, der Sinnzuweisung als nachträglichen Vorgang der subjektiven Auseinandersetzung in Bezug auf »den objektiv sinnlosen Weltverlauf«179 versteht, wobei Sinn durch ebendiese Subjekte in Ereignisse, Prozesse und Veränderungen hineingelegt wird.180 Die Vergangenheit an sich zeigt sich zunächst sinnlos; die subjektive Konstruktionsleistung verleiht der Vergangenheit Sinn.181 Historischer Sinn ist demnach eine subjektive Konstruktion.182 Sinnzuweisung entsteht auf subjektiver Ebene durch Beschäftigung mit der Vergangenheit und durch den Prozess der Narration.183 Dabei lassen sich diese Aspekte rückblickend durch subjektiv deutende Leistungen zu einer Geschichte mit Sinn verbinden.184 Historischer Sinn wird immer in und mit Sprache gebildet.185 Ohne sprachliche Narration ist historische Sinnzuweisung nicht denkbar; subjektive Sinnbildung ist untrennbar mit kognitiv-sprachlichen Prozessen einer Erzählung verknüpft.186 Barricelli deutet

175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186

der Norm bezogen auf ihre individuelle Sinnbildung zu bezeichnen: Schwachsinn, Blödsinn oder Wahnsinn (Musenberg (2016)). Rüsen (1997a), 59. Rüsen (2002b), 263. Ebd. Ebd., 263f. Ebd., 265. Rüsen (1997b), 20. Rüsen (2013), 86f. Rüsen (1997b), 37. Rüsen (2002b), 265. Rüsen (1997b), 18. Rüsen (2013), 90. Rüsen (2002b), 265.

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Sinn im Zeichen der historischen Erzählung als Verständnisrichtung, mit der vergangene Ereignisse, die noch keine Verbindung haben, in Beziehung zueinander gesetzt werden.187 Sinn hat eine kognitive, ästhetische und politische Dimension.188 Für die vorliegende Forschungsarbeit erscheint die kognitive Dimension von besonderer Bedeutung; auf ihre exklusive Wirkung geht Kapitel 2.1.8.2 ein. Deutungszuweisungen, also die Bildung von Sinn, werden durch die Operationen Wahrnehmung, Deutung, Orientierung vollzogen, verbunden mit motivationalen Aspekten.189 Die vier Operationen lassen sich zwar trennen, sie liegen jedoch sehr nah beieinander und gehen ineinander über. Erfahrung und Wahrnehmung fallen als eine Operation zusammen, so Rüsen.190 Innerhalb dieser Bezüge nimmt das Subjekt sinnlich wahr, deutet durch Interpretationen, die es in orientierte Handlungen überführt. Der Prozess ist motivational geprägt von Interessen und Bedürfnissen.191 Die Erinnerungs- und Denkleistungen lösen Gefühle aus, die Prozesse historischer Sinnbildung stets begleiten.192 Sinn entsteht, wenn die Operationen in Kohärenz zueinander und miteinander stehen.193 Sie sind historisch, wenn es »um die kulturelle Bewältigung von Zeit als Wandel der menschlichen Welt geht.«194 Der kulturelle Aspekt historischer Sinnzuweisung wird später wieder aufgegriffen. »Wahrnehmung heißt dann Erschließen des zeitlichen Wandels von äußerer und innerer Welt und Deutung Interpretation von zeitlichem Wandel zu spezifischen Deutungsmustern. Dabei werden Geschäfte der Vergangenheit Geschichte für die Gegenwart (›Geschichte‹ wird hier im weitesten Sinn als übergreifender zeitlicher Zusammenhang des menschlichen Lebens verstanden). Orientierung heißt dann ›historische‹ Ausrichtung praktischer Lebensvollzüge an erfahrungsgesättigten Zeitverlaufsvorstellungen und die Entwicklung von Zukunftsperspektiven aus gedeuteter Erfahrung der Vergangenheit. […] Motivation schließlich heißt geschichtsspezifisch eine Willensbestimmung durch sinnhafte Absichten, die aus Erinnerung entspringen, eine Lenkung oder Richtungsbestimmung von Willensimpulsen im Rahmen von Zeitverlaufsvorstellungen und vor allem: die Mobilisierung von Gefühlen durch Erinnern und Gedenken.«195

187 188 189 190 191 192 193 194 195

Barricelli (2012), 257. Rüsen (1997b), 40f. Ebd., 28. Rüsen (2013), 35. Rüsen (1997b), 28. Rüsen (2001b), 23. Rüsen (1997b), 28. Ebd., 28. Ebd., 28f. kursiv im Original.

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Alle vier Operationen sind stets von Emotionen begleitet.196 Orientierung zeigt sich zum einen außen im Rahmen von Handlungsfähigkeit, aber auch innen als Identitätsbildung oder -entwicklung.197 Der Mensch ist in der Lage, sich über sich selbst oder in sich selbst zu orientieren. Rüsen fasst Identität als Rahmung für Fragen nach dem eigenen Selbst, indem ergründet wird, wer man eigentlich ist.198 Historische Orientierung vermag, sich selbst bewusst infrage zu stellen und sich seiner zu versichernn – einen, so Rüsen, »lebensermöglichenden Standpunkt«199 zu erreichen. Den Gedanken weiterführend, ist ohne eine bewusste historische Orientierung kein lebensermöglichender Standpunkt vorstellbar; sie wird zur anthropologischen Konstante. Kapitel 2.1.8.2 vertieft die Überlegung. Sinn bezieht sich grundsätzlich auf die »Integration einer realen Erfahrung in den kulturellen Orientierungsrahmen der gegenwärtigen Praxis.«200 Ferner verweist er auf eine inhaltliche, formale und funktionale Dimension, also eine Erfahrungsqualität vergegenwärtigter Vergangenheit, Plausibilität und orientierende Bedeutungszuweisung der vergegenwärtigten Vergangenheit für derzeitige Orientierungsprobleme.201 Rüsen versteht Sinn grundsätzlich kulturell gerahmt. »Man muss die Welt immer schon kulturell interpretiert haben, wenn man ihrer handelnd mächtig werden will.«202 Kultur wird als eine »Dimension des menschlichen Lebensvollzugs«203 aufgefasst. Sie lässt sich näher als Deutungsleistung des menschlichen Bewusstseins in der Auseinandersetzung mit der umgebenden Welt, Natur und sich selbst erläutern. Kultur sowie Deutung der Umgebung und des Selbst erscheinen als anthropologische Konstanten. Damit ist auch Sinn in diesem Bedeutungszusammenhang zu sehen, ohne den keine Handlungen und kein Überleben des Menschen möglich sind, so Rüsen weiter.204 Wenn Sinn und Sinnzuweisungen elementare Bestandteile des menschlichen Handelns, Lebens und Überlebens darstellen, ist Handeln, Leben und Überleben für keinen Menschen möglich, ohne Sinnzuweisungen vorzunehmen. Kapitel 2.1.8.1 behandelt die kulturelle Orientierungsfunktion von Geschichtsbewusstsein eingehend und setzt sich kritisch mit den Überlegungen dazu auseinander. Aspekte objektiven Sinns, die Rüsen unter dem Aspekt Kultur diskutiert205, werden in der vorliegenden Arbeit nicht weiter verfolgt, da objektiv

196 197 198 199 200 201 202 203 204 205

Rüsen (2013), 43. Ebd., 35. Ebd., 41f. Ebd., 42. Rüsen (1997b), 24. Ebd., 34. Ebd., 25. Ebd., 27. Ebd., 27. Rüsen (2002b), 19.

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Theoretische Grundlagen

gerahmter Sinn für die Fragestellung, die sich dezidiert auf subjektive Sinnzuweisungen innerhalb der eigenen Biografie bezieht, zu vernachlässigen ist. Historischer Sinn lässt sich auch unter Lückes und Musenbergs Überlegungen zur eigensinnigen Verarbeitung der Vergangenheit diskutieren, was das folgende Kapitel aufgreift. Es ist zu überlegen, ob historische Sinnbildung aller Schüler*innen damit theoretisch begründet werden könnte. 2.1.1.1 Exkurs: Eigensinniges Lernen – ein brauchbarer Begriff der Geschichtsdidaktik? Neutral, weder positiv noch negativ, lässt sich Eigensinn206 als Fähigkeit verstehen, durch die Individuen selbst Bedeutung zuweisen. Seit dem 18. Jahrhundert wird er oft mit dickköpfigem, aufsässigen Verhalten207 verbunden und ist als Denk- oder Handlungsweise zu vermeiden (auch in der Pädagogik). Vor allem Individuen, die im 20. Jahrhundert imbezill galten – heute wohl geistig behindert – wurde Eigensinn zugeschrieben.208 Im Rahmen neuerer geschichtsdidaktischer Überlegungen zu Heterogenität und Vielfalt schlägt Lücke vor, historisches Lernen als »produktive eigen-sinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten als selbst erzählte oder selbst imaginierte Geschichte«209 zu begreifen. Auch Brüning und Lücke setzen sich mit Eigensinn bei historischer Sinnbildung auseinander.210 Nach Lüdke bedeutet der Begriff im 18. Jahrhundert »ungesellige Widerborstigkeit im Verhalten, in Körperhaltung und Körpersprache.«211 Er gilt zu dieser Zeit eher negativ und steht mit Kritik an den damaligen (Macht-)Verhältnissen in Verbindung. Eigensinn wird, so Lüdke weiter, seit den frühen 1980er-Jahren in einer anderen Bedeutungsschärfe verwendet und bezieht sich darauf, wenn Menschen Situationen mit ihrem eigenen Sinn, ihren eigenen logischen Gedanken und Handlungen begegnen. Als Begriff in der Geschichtswissenschaft ermöglicht Eigensinn eine erweiterte Perspektive auf frühere menschliche Verhaltensweisen und kann die Kategorisierung von Verhaltensweisen in bipolare Spannungsfelder, nämlich beispielsweise ›dafür oder dagegen‹, um weitere eigenständige Denk- oder Handlungsmöglichkeiten verändern. Eigensinn bietet für menschliches Denken oder Handeln eine weitere wichtige Interpretationsebene, vor allem als ein möglicher weiterer Zugang zu Alltags-

206 Negt und Kluge widmen sich Anfang der 1990er Jahr dem Begriff Eigensinn und fassen ihn als antikapitalistisches Verhalten (Negt/Kluge (1993)). 207 Lüdke (2002), 64. 208 Dannemann (1911). zit. nach Musenberg (2016), 25. 209 Lücke (2015), 200. 210 Lücke/Brüning (2013). 211 Lüdke (2002), 64.

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geschichte.212 Diese Sichtweise erlaubt es, gegenwärtige Auseinandersetzung mit vergangenen Inhalten als eigensinnigen Aneignungsprozess zu verstehen. Musenberg versteht Eigensinn als vielschichtig aufgeladenen Begriff, der in der Literatur »im Spannungsfeld von Pathologisierung und Euphorisierung«213 verwendet wird. Eigensinn wird aktuell vor dem Hintergrund der Individualisierung und Subjektorientierung unter dem Aspekt diskutiert, »was ein Subjekt in den Bildungsprozess mitbringt«214. Die eigensinnige Denk- und Handlungsweise der Schüler*innen lässt sich irritieren,um Orientierungsbedürfnisse und Lernprozesse hervorzurufen.215 Die dadurch ausgelöste Verunsicherung lässt sich vor dem Hintergrund der Überlegungen Rüsens zum historischen Lernen weiterdenken216 und ist daran anschlussfähig. Die Geschichtsdidaktik steht vor dem Problem, dass nicht eindeutig klar ist, wie sich nun Schüler*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung vergangene Inhalte aneignen und möglicherweise eine eigensinnige Perspektive darauf entwickeln. Das heuristische Potential sieht Musenberg beispielsweise darin, dass eigensinnige Aneignung die subjektive Sinnhaftigkeit des historischen Lernprozesses betont.217 Ein eigensinniger Zugang ermöglicht lebensweltbezogenen Unterricht, »der z. B. ausgehend vom Alltag von Kindern und Jugendlichen vergangene Wirklichkeiten rekonstruiert.«218 Dabei steht in Frage, ob sich eigensinnige Aneignungsprozesse so erweitern lassen, dass hier Sinnhaftigkeiten verortet werden können, die dem Subjekt »nicht unbedingt reflexiv zugängig sind?.«219 Eigensinn ist als grundlegende Interpretationsebene für Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu sehen, um zu vermeiden, dass es eine Vorstellung üblicher Schemata gibt, von denen ›die Eigensinnigen‹ abweichen. Er könnte Aneignungsprozesse aller Schüler*innen umfassen und nicht nur einer Personengruppe, was für inklusives historisches Lernens ein brauchbarer Gedanke wäre. Die vorliegende Studie verfolgt eigensinnige Aneignung von vergangenen Inhalten nicht weiter, da es sich hierbei um erste Gedanken zu einem denkbaren Konzept handelt, vor dessen Hintergrund historische Sinnbildungsprozesse von Schüler*innen dann zu diskutieren wären. Zunächst müsste die Fachdidaktik dessen Brauchbarkeit weiter erörtern, so beispielsweise vor dem Hintergrund Rüsens Diktums »Sinnbildung über Zeiterfahrung.«220 212 213 214 215 216 217 218 219 220

Ebd., 64f. Musenberg (2017), 12. Ebd., 14. Ebd., 14ff. Rüsen (2008), 50. Musenberg (2016), 30f. Ebd., 31. Ebd. Rüsen (1982), 520.

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2.1.1.2 Sinnbildung über Zeiterfahrung Rüsen nähert sich Geschichtsbewusstsein durch die Denkfigur »Sinnbildung über Zeiterfahrung«221 als »Inbegriff der mentalen (emotionalen und kognitiven, unbewußten und bewußten) Operationen, durch die die Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung zu Orientierungen der Lebenspraxis verarbeitet werden«222 an. Vergangenheit ist im Medium der Erinnerung, im Gedächtnis in der Gegenwart, vorhanden und kann präsent werden.223 »Es geht um Vergangenheit, die in irgendeiner Weise noch gegenwärtig ist oder vergegenwärtigt werden kann.«224 Die Erinnerung nimmt eine notwendige Bedingung und zentrales Moment beim historischen Lernen ein, durch die Aspekte der Vergangenheit wieder präsent werden. Rüsen grenzt die Erinnerung, die Menschen im Laufe ihres Lebens an eigenen Erfahrungen vollziehen, von der historischen Erinnerung ab.225 »Die historische Erinnerung wird bestimmt durch eine grundsätzliche Divergenz zwischen Zeiterfahrung und Zeitabsicht, zwischen der Zeit, die als herausfordernde Erfahrung einer Veränderung des Menschen und seiner Welt objektiv wirkt, und der Zeit, die in den Absichten menschlicher Handlungen und den für sie wichtigen Deutungen der Handlungssituationen subjektiv wirkt.«226

Rüsen erkennt hier die Leistung des Geschichtsbewusstseins, »die objektive und die subjektive, die innere und äußere Zeit in eine Balance«227 zu bringen. Die Erinnerung bezieht sich in Form von Erfahrung auf Vergangenheit, angestoßen von einer deutungsbedürftigen Zeiterfahrung in der Gegenwart, so Rüsen.228 Auf den Stellenwert von Erfahrungen bei historischer Sinnbildung geht Kapitel 2.1.6 ein. Die gegenwärtige Zeiterfahrung führt zum Erinnern an die Vergangenheit, nicht auf die biografischen Erfahrungen eines Individuums, sondern auf vorbiografische Vergangenheit229, auf gesichertes historisches Wissen. Impuls für das Deutungs- oder Orientierungsbedürfnis ist, so Rüsen weiter, in der Regel eine Kontingenzerfahrung, die einen lebensweltlichen Bezug aufweist. Um die vorliegende Arbeit vor diesem Kontext zu diskutieren, müssen Rüsens Überlegungen zur historischen Bewusstseins- und Sinnbildung umfassend erweitert werden. Kapitel 2.4.1 erörtert, inwiefern eigene biografische Erfahrungen als histo-

221 222 223 224 225 226 227 228 229

Ebd., 520. Rüsen (2008), 14. Ricoeur (1997), 436. Rüsen (2008), 14. Ebd., 14f. Ebd., 15. Ebd., 15. Ebd., 16f. Rüsen/Fröhlich/Horstkötter/Schmidt (1991), 232.

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risch zu deuten sind und zu einer eigenständigen historischen Bewusstseins- und Sinnbildung beitragen. Im Rahmen der subjektiven gegenwärtigen Zeiterfahrung richtet sich der Blick auf Vergangenheit, um die Irritation, den Bruch, ja die Kontingenz der Gegenwart zu heilen und sich wieder orientieren zu können.230 Eine Kontingenzerfahrung ist in Form von »kleinen Störungen und Katastrophen«231 möglich. Bei solchen Zeitbrucherfahrungen gelangt etwas Unerwartetes, Neues in das Leben; die Gegenwart hat keine Vergangenheit mehr, mit der sich Zukunft erwarten ließe. Die Vergangenheit ist so aufzuarbeiten, dass sie mit der Gegenwart wieder zu verbinden ist. So lässt sich im Rückgriff auf Vergangenheit als Geschichte in Verbindung mit Gegenwart und Zukunft die eigene Handlungsfähigkeit wieder herstellen.232 Die Ergebnisse bzw. Erkenntnisse des historischen Denkprozesses, so das Ziel historischen Lernens, kann jeder Mensch in seiner Lebenswirklichkeit nutzen.233 Es gibt drei Formen von Krisen, bei denen historische Sinnbildung eine Rolle spielt: normale, kritische und katastrophische Krisen. Normale Krisen können durch etablierte Deutungsmuster geheilt werden, während Sinn bei kritischen Krisen verändert werden muss, um den Zeitbruch zu heilen. Katastrophische Krisen zerstören etablierte Deutungsmuster.234 »Eine solche Bewältigung ist dann geleistet, wenn angesichts der herausfordernden Gegenwartserfahrung durch die Erinnerung Zukunft in der Form einer handlungsleitenden Perspektive eröffnet und als sinnvoll erwartet werden kann.«235 Geschichtsbewusstsein wird von Gegenwartserfahrungen angeregt oder durch »Erfahrungen noch gegenwärtiger Vergangenheit«236 ausgelöst. Hier geht es, so ist Rüsen zu verstehen, um Aspekte, die von der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragen und sich bewusst wahrnehmen lassen. Bestimmend für Geschichtsbewusstsein und die Sinnbildungs- über Zeiterfahrungsleistungen ist eine »Zeitdifferenzerfahrung (Alteritätserfahrung).«237 »›Geschichte‹ meint hier das Sinngebilde eines Zeitzusammenhangs, in dem ein Vorgang der Vergangenheit als Abfolge von Geschehnissen so vergegenwärtigt wird, daß dabei Gegenwart gedeutet und Zukunft als Erwartungsperspektive entworfen wird.«238 Entscheidend sind die Faktoren der Gegenwartsdeutung und Zukunftserwartung, die bei einer Geschichte bedeutsam werden. Dabei wird »das von der 230 231 232 233 234 235 236 237 238

Rüsen (2008), 17. Rüsen (2013), 32. Ebd., 211ff. Ebd., 69f. Ebd., 50f. Rüsen (2008), 17. Ebd., 18. Ebd. Ebd.

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Theoretische Grundlagen

Vergangenheit Erinnerte […] mit Gegenwärtigem und Zukünftigem zu einer übergreifenden Zeitverlaufsvorstellung synthetisiert.«239 Rüsen fasst Geschichtsbewusstsein als wichtige Operation, um »handlungs- und lebensermöglichende Identität der Betroffenen«240 nach Kontingenzerfahrungen wieder herzustellen. Absichtsvolles, zukunftsgerichtetes Handeln spielt eine zentrale Rolle.241 Geschichtsbewusstsein und Sinnbildungsprozesse stehen nach Rüsen immer in einem kulturellen Orientierungsrahmen. Menschen gelingt es, sich zu orientieren, indem sie sich in einem kulturellen Rahmen mit Hinblick auf andere Aspekte in Bezug setzen.242 Innerhalb dieser Geschichten erzeugt der Mensch Zeitvorstellungen und »historische Identität«243; der historische Erfahrungsraum wird in Erzählungen, so zeigt sich, direkt mit der eigenen Person verbunden. »In dem Maße, in dem dieses handlungsermöglichende, daseinsorientierende Deutungsmuster zeitbezogen ist, also eine diachrone Dimension hat, kann man von historischer Identität sprechen.«244 Rüsen schließt hier ausdrücklich biografische Zeiträume ein, was bedeutet, dass historische Identität auch die eigene Lebensgeschichte betrifft. Er betont aber die übergreifende Zeitspanne, die über die eigene Lebenszeit hinausreicht.245 Historische Identität, die sich rein auf die eigene Lebenszeit und -geschichte bezieht, ist nach Rüsens Vorstellung nicht isoliert denkbar. Der Gedanke wird daher wohl nicht weiter ausgeführt. Kapitel 2.1.8 bespricht Folgen dieser Engführung und Gefahren, die mit kulturell-historischer Identitätsbildung zusammenhängen. Rüsen geht davon aus, dass der Mensch aus einem Orientierungsbedürfnis der Gegenwart in die Vergangenheit blickt. Das Bedürfnis entsteht durch eine irritierende Erfahrung in der Gegenwart und wird durch kohärente Deutung der eigenen Identität und Erkenntnis der eigenen Handlungsfähigkeit gestillt.246 »Immer und überall müssen die Menschen sich auf die Vergangenheit beziehen, um ihre Gegenwart verstehen und Zukunft erwarten und vorentwerfen zu können.«247 Dieser Prozess geschieht durch historisches Erzählen,248 wobei für Rüsen und, wie später gezeigt, auch für Jeismann der kohärente Sinnzusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von zentraler Bedeutung ist.249 Sinnbildung über Zeiterfahrung umfasst diesen Prozess. Ihr liegt die Annahme 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249

Ebd., 18, kursiv im Original. Ebd., 179. Ebd., 186. Ebd., 20. Ebd., 21. Ebd., 41. Ebd., 21. Ebd., 50. Rüsen (2013), 29. Rüsen (2008), 49. Ebd., 179.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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zugrunde, dass »Zeitsinn […] über sinnbildende Erzählungen zu Zeiterfahrungen konstruiert [wird].«250 Historische Narrativität, auf die Kapitel 2.1.4 eingeht, spielt bei diesem Modell eine entscheidende Rolle; sie gilt in der Geschichtsdidaktik als das Prinzip, durch das sich Geschichtsbewusstsein als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«251 ausdrückt. Handlungsfähig, so Barricelli, werden Schüler*innen, indem sie kompetent werden, zu narrativieren;252 die Handlung folgt erst auf die orientierende Erzählung.253 Die Narration gilt also als Grundlage und Voraussetzung für Orientierungsmöglichkeiten und die Fähigkeit, zu handeln. Ihr Kern ist es, Zukunftserwartungen an die entsprechende Vergangenheit anzuschließen, wobei »Vergangenheit als eine zeitliche Kette von Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Weltgestaltung«254 als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«255 gedacht und narrativiert werden soll. Ziel narrativer Kompetenz ist, dass Schüler*innen verschiedene vergangene Ereignisse auf ihre Gegenwart beziehen und damit Zukunft erzeugen.256 Spezifisch historisch wird die Narration, wenn man sich auf Prozesse der Vergangenheit bezieht und eine Geschichte erzeugt.257 Musenberg und Pech stellen mit Verweis auf Schreibers258 Ausführungen zur Anschlussfähigkeit Rüsens »Metatheorie historischen Denkens«259 an Lernvoraussetzungen von Grundschüler*innen dar, dass Kontinuitätsbrüche im Rüsen’schen Sinn auch bio-grafischer Art sein könnten wie bspw. ein »durch Umzug bedingter Schulwechsel.«260 Sie beziehen Rüsens Überlegungen auf die eigene biografische Vergangenheit und erkennen Kontinuitätsbrüche der eigenen Lebensgeschichte, die sich nutzen lassen. Dabei ist zu fragen, ob Orientierungs- und Handlungsfähigkeit tatsächlich erst auf eine historische Narration folgen können oder unabhängig von Narrationen vorstellbar sind. Ausgehend von Kontingenzerfahrungen nähert sich Körber Rüsens Denkfigur Sinnbildung über Zeiterfahrung. Der Mensch erfährt Kontingenz, indem er »die ›heutigen‹ Erfahrungen mit seinen ›gestrigen‹ Plänen für ›heute‹ vergleicht. Er erkennt dann zum einen, dass sich das ›Heute‹ vom ›Morgen‹ unterscheidet und zum anderen, dass sich auch die Pläne für das ›Morgen‹ vom tatsächlichen

250 251 252 253 254 255 256 257 258 259 260

Völkel (2017a), 106. Rüsen (1982), 520. Barricelli (2012), 255. Rüsen (2013), 68. Ebd., 105. Rüsen (1982), 520. Rüsen (2013), 29. Rüsen (2008), 49. Schreiber (2004a). Musenberg/Pech (2011), 224. Ebd., 225.

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Theoretische Grundlagen

›Morgen‹ unterscheiden.«261 Durch den Blick in die Vergangenheit lässt sich Kontinuität wiederherstellen, indem der Verlauf der Geschichte betrachtet und die darin liegenden Veränderungen gedeutet werden, so Körber über den Rüsen’schen Ansatz weiter.262 Sinnbildung über Zeiterfahrung als »historisches Denken […] ist die Bildung von Sinn über die Erfahrung von zeitlicher Kontingenz.«263 Bestehende Vorstellungen werden im Rahmen von Kontingenzerfahrungen in Frage gestellt und lassen sich verändern, revidieren oder bestätigen. Durch den Blick in die Vergangenheit entsteht eine neue Kontiniuitätsvorstellung. Diese Veränderung der bestehenden Vorstellungen vollzieht sich wohl in verschiedenen Deutungsmustern, die bedingt verändert und erweitert werden können, so Körber. Eine völlige Revision ist möglich, allerdings lassen sich hierüber kaum absolute Aussagen treffen.264 Historische Sinnbildung erzeugt aus den jeweiligen Vergangenheiten Konstrukte, die für Orientierungsleistungen von Subjekten (und Kollektiven) in deren jeweiliger Gegenwart relevant sind.265 Schreiber unternimmt den Versuch, Aspekte des Geschichtsbewusstseins, so auch Überlegungen von Rüsen, fern dem eigentlichen Fokus auf der Sekundarstufe, zu deuten und fragt nach der Nutzbarkeit, um bei Grundschüler*innen historisches Lernen zu fördern.266 Sie differenziert zwischen zwei Motivgruppen, um sich mit Vergangenheit zu beschäftigen. Sie bezieht sich auf die von Rüsen geprägte Figur der Kontingenzbewältigung und betont, dass Sinnbrüche individuell oder kollektiv sein können. Sie schließt gesellschaftlich kollektive als auch auf individuelle Gesichtspunkte an Rüsens Überlegungen an.267 Die individuellen Aspekte beziehen sich, wie gezeigt, allerdings immer auf kulturelle Identität und kollektive Momente. Somit wird das Phänomen der Kontingenzbewältigung mit Individuen und deren Biografien kompatibel, was auch Musenberg und Pech268 derart ausführen. Schreiber betont den Bezug zur jeweiligen Gegenwart, der durch eine plausible Zeitverlaufsvorstellung, eine plausible Geschichte, hergestellt werden muss.269 Bei biografischen Erfahrungen lässt sich wohl meist ein plausibler Zusammenhang mit der jeweiligen Gegenwart erzeugen, da die Erfahrungen immer – bewusst oder nicht-bewusst – in die Gegenwart einwirken und sie beeinflussen. Ob die Plausibilität hier nur für den/die Einzelne*n gilt, 261 262 263 264 265 266

Körber (2014), 2. Ebd., 2. Ebd. Ebd., 2f. Straub (1998), 98. Schreiber (2004a); Schreiber unternimmt dies auch für Pandels Überlegungen zum Geschichtsbewusstsein. Da Pandels Dimensionen des Geschichtsbewusstseins in der vorliegenden Arbeit keine Rolle spielen, wird auf Schreibers Ausführungen dazu verzichtet. 267 Schreiber (2004a), 23. 268 Musenberg/Pech (2011). 269 Schreiber (2004a), 23.

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der/die eine Kontingenzbewältigung vollzieht oder auch für andere Personen gelten muss, ist zu hinterfragen. Vermutlich können Dritte eine Person oder ihr Handeln verstehen, wenn die Geschichte für sie plausibel ist. Ist die Geschichte für Dritte nicht einleuchtend, verstehen sie die Person oder ihr Verhalten möglicherweise nicht. Kommunikation oder ein Dialog sind dadurch erschwert. Da bei biografischen Erfahrungen Individualität und Subjektivität im Vordergrund stehen, ist anzunehmen, dass die jeweiligen Deutungen sehr unterschiedlich ausfallen. Für den oder die Einzelne*n sind die individuellen Deutungen immer sinnvoll – auch wenn das von außen nicht nachvollziehbar ist. Daher erscheint es – möchte man eine andere Person oder ihr Handeln begreifen – wichtig, ihre subjektive Sinnbildung zu verstehen. Der Gedanke ist für Lernprozesse zentral. Quellen, so Schreiber weiter, ragen aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein und werden in der Gegenwart wahrgenommen. Sie bezieht diese Motivgruppe nur auf vorbiografische Quellen, an denen sich Differenz zwischen ›Damals‹ und ›Heute‹ erkennen lässt.270 Allerdings sind hier, so eine These dieser Arbeit, auch Quellen der eigenen Biografie denkbar. Fotografien, Gegenstände oder andere Dokumente aus der eigenen Lebensgeschichte könnten als Quellen dienen, die Differenz als Alterität erfahrbar machen. »Historische Sinnbildung ist ein Denkprozess, der die Isoliertheit von Ereignissen und die Widersprüchlichkeit von Quellen in zeitlicher Perspektive zu einer sinnvollen Einheit verbindet.«271 So versteht Pandel Sinnbildungsprozesse historischen Lernens. Ereignisse werden in einen Zusammenhang eingebettet und dadurch miteinander in Bezug gesetzt. Darüber hinaus bezieht sich der sinnbildende Denkprozess darauf, Quellen und deren Widersprüchlichkeit aufeinander zu beziehen und einzuordnen. Erzählungen versprachlichen die Sinnbildungsprozesse, so Pandel weiter, wobei Sinnbildung die Verknüpfung von Ereignissen der Vergangenheit retrospektiv mit der Gegenwart zu Erzählungen, ja Geschichten, betont. In Geschichtswissenschaft und -didaktik bezieht sich der Sinn zum einen auf diejenige Sinnzuweisung, die Personen in der Vergangenheit vorgenommen haben und der sich anhand der vorliegenden Quellen verstehen lässt.272 Zum anderen bezieht sich Sinn auf die Sinnzuweisung, die vergangenen Ereignissen in der Gegenwart zugeschrieben wird. Pandel betont den Narrationscharakter, der Sinnbildung ausdrückt; er ist eine »kreative Leistung«273 in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit. Von autobiografischen Sinnbildungsleistungen lässt sich auf die Psychologie des Geschichtsbewusstseins schließen. Rüsen erkennt eine Verbindung zwischen 270 271 272 273

Ebd., 24. Pandel (2014a), S. 176. Ebd., 176f. Ebd., 177.

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Theoretische Grundlagen

der eigenen Biografie bzw. biografisch-historischer Sinnbildung und elaborierthistorischer Sinnbildung. Die der Biografie eigenen Deutungselemente, wie auch unbewusste Prozesse spielen eine zentrale Rolle. Bei Alltagserfahrungen, so Rüsen, mischen sich bewusste und unbewusste Prozesse historischer Sinnbildung, was mit Geschichtsbewusstsein in Verbindung steht.274 Schulz-Hageleit275 verweist darauf, dass bei Lernprozessen grundsätzlich Unbewusstes eine Rolle spielt, so auch beim historischen Lernen.276 Diese Überlegungen greift Kapitel 2.4 für den strukturellen Vergleich biografisch-historischer und elaborier-historischer Sinnbildung auf. Das Unbewusste im phänomenologischen Sinn, wie es die vorliegende Arbeit versteht, ist nicht mit dem Freud’schen Unbewussten gleichzusetzen, dennoch weisen beide Begriffe teilweise ähnliche Aspekte auf, die hier nicht näher erläutert werden.277 In der vorliegenden Arbeit wird Sinnbildung, die nicht bewusst geschieht als nicht-bewusst bezeichnet, um sie vom Freud’schen Verständnis von unbewusst abzugrenzen.278 Sinnbildung über Zeiterfahrung zeigt sich auf mehreren Ebenen, die in der Didaktik als Typologie der Sinnbildung diskutiert werden, was das folgende Kapitel bespricht. 2.1.1.3 Typologie der Sinnbildung Um die verschiedenen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein bzw. Sinnbildungsprozessen über Zeiterfahrungen empirisch erheben und näher betrachten zu können, schlägt Rüsen vor, die Symbolisierung von Geschichtsbewusstsein in den Fokus der Forschung zu legen. In der Typologie historischer Sinnbildung zeigt sich, nach welchen Mustern, nach welchen Gesetzmäßigkeiten, ja nach welchen Regeln Deutungen vorgenommen werden.279 Rüsen unterscheidet vier verschiedene Typen, analog zu den verschiedenen Erzähltypen: traditionale, exemplarische, genetische und kritische Sinnbildung.280 Im Folgenden wird dieses Rüsen’sche Sinnbildungsmodell diskutiert, wobei in die Erörterung auch Anregungen und Erweiterungen einfließen. Bei den zunächst vorgelegten Ab274 Rüsen (1994/95), 15. 275 Schulz-Hageleit bezieht sich in seinen Ausführungen auf die Psychoanalyse, die in der vorliegenden Forschungsarbeit nicht näher rezipiert und diskutiert wird. 276 Schulz-Hageleit (2004), 30ff. und 43ff. 277 Ebd., 122ff. 278 Dennoch wird sich entschieden, das Wort ›unbewusst‹ zu verwenden, wenn es in einem indirekten oder direkten Beleg vorkommt, um die ursprüngliche Aussage der/des Autoren/ Autorin nicht zu verändern. Dann ist das Wort ›unbewusst‹ anschlussfähig an den phänomenologischen Begriff ›nicht-bewusst‹. 279 Rüsen (2008), 23f. 280 Ebd., 25 und Rüsen (2013), 209–215; Rüsens Sinnbildungstypen entsprechen den Erzähltypen, daher wird in Kapitel 2.1.4 nur noch auf die verschiedenen Sinnbildungstypen verwiesen. Ausführlicher dazu (Rüsen (1989b), 39–61; Rüsen (1990), 153–230).

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handlungen ging Rüsen davon aus, die kritische Sinnbildung zwischen der exemplarischen und der genetischen Sinnbildung zu verorten.281 Diese Einordnung wurde mittlerweile überarbeitet, so dass kritische Sinnbildung eine eigene und besondere Stellung innerhalb der Typologie einnimmt.282 Die Typologie wurde von verschiedenen Geschichtsdidaktiker*innen283 und vor dem Hintergrund sonderpädagogischer Überlegungen, so bspw. von Musenberg284, aufgegriffen und teilweise weiterentwickelt. Im Rahmen traditionaler Sinnbildung entsteht Sinn aus der Vorstellung, dass Kontinuitäten und Traditionen vorliegen und keine Veränderungen geschehen. Die Sinnbildung lebt von der Vorstellung, dass auch in Zukunft alles noch genau so sein wird, wie es aktuell ist und in der Vergangenheit immer war.285 Fundamentale Normen und Ursprünge als Verpflichtung für die Zukunft prägen diesen Sinnbildungstyp, wobei hier »Zeit als Sinn ›verewigt‹«286 wird. Der Sinn bleibt auch trotz eines zeitlichen Wandels der kontinuierlich Gleiche.287 Wird Sinn exemplarisch gebildet, werden Veränderungen wahrgenommen. Allerdings beziehen sie sich auf Einzelfälle, aus denen sich für vergangene und zukünftige Ereignisse eine Allgemeingültigkeit ableiten lässt.288 So lassen sich Beispiele aus der Vergangenheit heranführen, um Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Aus der Vergangenheit werden unterschiedliche Beispiele herausgegriffen, die in Gegenwart und Zukunft zu allgemeinen Handlungsregeln werden.289 Diese Gesetzmäßigkeiten werden auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens übertragen.290 Körber schränkt die von Rüsen allgemeine und über alle Zeiträume hinweg angenommene Regeln ein und vermutet, dass die aufgestellten Regeln nur für »längere Zeiträume«291 gültig sind. Pandel kritisiert die Typologie und erkennt den exemplarischen Sinnbildungstypen nicht als eigenständigen Typen an. Seiner Auffassung nach kann jeder Sinnbildungstyp zu einem Exemplarischen werden.292 Die genetische Sinnbildung erkennt Veränderungen innerhalb von gültigen Regelsystemen sowie auch Veränderungen der Regelsysteme an sich und bezieht

281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292

Rüsen (1982). Rüsen (2013), 209–215. So exemplarisch Körber (2014); Barricelli (2015); v. Borries (1988). Musenberg (2014). Körber (2014), 3. Rüsen (2008), 26. Rüsen (2013), 210. Körber (2014), 4. Rüsen (2008), 26. Rüsen (2013), 212. Körber (2014), 5. Pandel (2006), 52.

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Theoretische Grundlagen

sie in die Deutung von Ereignissen ein.293 Sie deutet bestimmte Ausrichtungen von Veränderungen und Entwicklungszusammenhänge, um Ereignissen Sinn zu verleihen und Orientierung wiederherzustellen.294 Die Vergangenheit wird als Prozess wahrgenommen, wobei dynamische Veränderungen maßgeblich für die Sinnbildung sind und zentral für die Zukunft sind, indem »Veränderung das Entscheidende, das eigentlich Sinnhafte, das Bedeutungsvolle ausmacht.«295 Der kritische Sinnbildungstyp kann in Verbindung mit allen drei anderen Typen bestehen, indem er die Sinnbildungen und Deutungsmuster jedes Typs negiert.296 Auch von Borries und Körber merken an, dass es nicht sinnvoll ist, diese Ebene der Sinnbildung zwischen die exemplarische und genetische Sinnbildung einzufügen.297 Ebenso deutet Pandel den kritischen Sinnbildungstyp ähnlich wie von Borries als nicht eigenständig. Er führt an, dass zur kritischen Sinnbildung bereits eine Sinnbildung vorhanden sein müsse, der man sich aus kritischer Distanz nähern kann, um ihr eine kritische Erzählung gegenüber zu stellen.298 Kritische Sinnbildung kann sich als alternative Gegengeschichte innerhalb des jeweiligen Sinnbildungstyps oder aber am Übergang von einem zum nächsten Typ zeigen. Bisher geltende Orientierungen lassen sich durch kritische Sinnbildung grundsätzlich infrage stellen.299 Eine Person ist dann in der Lage, andere Perspektiven zu entwickeln, Normen und Regeln zu erweitern und verändern.300 Kritische Sinnbildung stellt Regeln in Frage, lässt vielseitige Sichtweisen zu und verändert bzw. erweitert bestehende Deutungsmuster.301 Straub kritisiert Rüsens Typologie historischer Sinnbildung. Was genau unter historischem Denken zu verstehen ist, bleibt für ihn zu vage und letztlich nicht hinreichend beantwortet.302 Von Borries fügt den Rüsen’schen Sinnbildungstypen zusätzlich evolutionäre Sinnbildung hinzu, die dem telischen Sinnbildungstyp ähnelt, so Pandel.303 Der telische Sinnbildungstyp nach Pandel wird später vorgestellt. Rüsen nimmt an, dass Sinnbildungsprozesse und entsprechend die Ebenen in eine Reihenfolge zu bringen sind.304 Er geht auf die Kritik ein, indem er der kritischen Sinnbildung eine Sonderrolle zuweist und sie außerhalb der Reihen293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304

Körber (2014), 4. Rüsen (2013), 212f. Rüsen (2008), 28. Rüsen (2013), 213. Körber (2014), 4. Pandel (2006), 50. Rüsen (2013), 213. Rüsen (2008), 27. Körber (2014), 4; v. Borries (1988), 59ff. Straub (1998), 154f. Pandel (2006), 45. Rüsen (1989a).

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folge verortet.305 Es ist anzunehmen, dass die Typen nicht nahtlos ineinander aufgehen; vielmehr ist von einer Annäherung auszugehen.306 Rüsen vermutet, dass ein späterer Sinnbildungstyp den jeweils früheren voraussetzt.307 Körber weist darauf hin, dass Menschen Ereignisse grundsätzlich so wenig komplex wie möglich mit Sinn versehen. Solange man sich bspw. durch traditionale oder exemplarische Sinnbildung sinnvoll orientieren kann, ist sie bei der Deutung von Ereignissen wirksam. Erst wenn diese Sinnzuweisungen keine Orientierungen mehr bieten, findet der Sinnbildungsprozess auf einer anderen Ebene statt. Körber stellt Rüsens Hypothese in Frage, dass grundsätzlich eine charakteristische Kombination der Sinnbildungstypen erkennbar ist, wobei ein Typ dominiert. Er vermutet, dass eher Misch- und Kombinationstypen vorkommen.308 Im Kontext mit den verschiedenen Sinnbildungstypen spielen Werturteile eine entscheidende Rolle beim historischen Lernen in der Schule.309 Ziel ist es, dass Schüler*innen kompetent werden, historische Urteile zu fällen und sich historische Inhalte durch Urteile anzueignen. Werturteilen spricht Rüsen zum einen eine politische Funktion der Legitimation, allerdings auch die Ebene subjektiver Wertvorstellungen und Interessen zu, in deren Spannungsfeld historische Identität gebildet wird und die für Gegenwartsorientierungen und Zukunftserwartungen maßgeblich sind. Die Lernenden sollen sich (selbst)reflexiv mit Aspekten wie Subjektivität, Perspektivität und verschiedenen Werturteilen auseinandersetzen.310 Körber kommt auf Basis der Rüsen’schen Typologie zu einer differenzierteren Einordnung, die knapp dargestellt wird. Er arbeitet exemplarische Sinnbildung grundlegend für alle Sinnbildungstypen ein311 und unterscheidet elf bzw. zwölf Sinnbildungstypen.312 Im Rahmen der anthropologischen oder naturgesetzlichen Konstanz vollzögen sich sinnbildende Vorstellungsprozesse, die grundsätzlich und immer stattfinden, das heißt ohne Anfang, Ende oder Veränderungen. Wird innerhalb dieser Konstanz doch eine Veränderung beobachtet, muss eine kritische, die konstanz-kritische, Sinnbildungsebene eingezogen werden. Solange keine wirklichen Veränderungen bemerkt werden und Traditionen mit einem Anfang erkennbar sind, ist von traditionaler Sinnbildung zu sprechen. Sie ist nicht mehr plausibel, sobald relevante Veränderungen vorliegen. Es ist auch 305 306 307 308 309

Rüsen (2013), 209–215. Ebd., 261. Rüsen (2008), 34. Körber (2014), 5. Rüsen (1997c), 304. In Kapitel 2.1.3 werden Jeismanns Überlegungen zu historischer Urteilsbildung dargestellt. 310 Rüsen (1997c), 304ff. 311 Körber (2014). 312 Ebd., 6ff.

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Theoretische Grundlagen

möglich, die Sinnkonstruktion im Rahmen der traditionalen Sinnbildung zu kritisieren und dieser eine andere – ebenfalls traditionale – Deutung entgegen zu setzen. Die Sinnbildung ist kritisch-traditional. Innerhalb der traditions-kritischen Sinnbildung hingegen wird erkannt, dass Traditionen sich verändern, verschwinden oder ähnlich wieder entstehen können. Die exemplarische Sinnbildung wiederum erkennt grundsätzlich Veränderungen in der Zeit, allerdings auch Wiederholungen. Diese exemplarischen Einzelfälle werden als Regel formuliert, um gegenwärtige oder zukünftige Situationen zu erklären. Im Rahmen der kritisch-exemplarischen Sinnbildung wird auf gleicher Ebene eine andere Sinnbildung entgegen gesetzt. Die exempel-kritische Sinnbildung wiederum bringt einen oder mehrere Fälle nicht mehr mit der Ähnlichkeit der anderen Fälle (als Regel gesetzt) in Verbindung. »In dem Moment, wo die Erkenntnis reift, dass sich nicht nur die Anwendungsfälle, sondern auch die Logiken des Handelns ändern, ist die Kritik am exemplarischen Denken formuliert.«313 Die genetische Sinnbildung erkennt an, dass sich Veränderungen nicht nur innerhalb von gesetzten Regeln vollziehen, sondern sich die Regeln selbst verändern; Entwicklungen und Veränderungsrichtungen werden erschlossen. Auch innerhalb dieser Ebene können kritisch-genetische Sinnbildungsprozesse und -ergebnisse erkannt werden, wenn einer bestimmten Sinnkonstruktion eine andere genetische Deutung entgegen gesetzt wird. Bei der genese-kritischen Sinnbildung hingegen kann die bei der genetischen Sinnbildung vorgestellte eine Entwicklungsrichtung nicht mehr als plausibel angenommen werden. Die von Körber ferner vorgeschlagene pluri-genetische Sinnbildung als Weiterentwicklung des Denkmodells könnte die »Existenz mehrerer, unabhängiger Entwicklungen«314 sinnbildend anerkennen, wobei die Kompatibilität dieser Sinnbildung mit dem Sinnbildungskonzept grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Diesen Impulsen kann hier nicht weiter nachgegangen werden, sie wären an anderer Stelle zu diskutieren. Neben diesem ersten Vorschlag stellt Körber außerdem erweiternd einen Sinnbildungstyp vor, der differenziert einzelne Veränderungen geschichtlicher Zusammenhänge erkennt. Hier könnten »verschiedene Konstruktionen solcher Veränderungsvorstellungen nebeneinander existieren.«315 Ein weiteres Modell historischer Sinnbildungstypen legt Pandel vor, das manche Differenzen zur Rüsen’schen Typologie zeigt. Aus dem Pandel’schen Modell wird bspw. nicht ersichtlich, wie der Übergang zwischen den einzelnen Phasen strukturiert ist.316 Im Rahmen der traditionalen Sinnbildung nach Pandel werden nur Traditionen ohne Veränderungen und Abweichungen erkannt, 313 314 315 316

Ebd., 7. Ebd., 8. Ebd., 9. Pandel (2006).

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Sachverhalte verändern sich nicht grundlegend.317 Prozesse erscheinen kontinuierlich. Pandel unterscheidet nicht wie Rüsen zwischen einer Konstanz und einer Tradition, was das Rüsen’sche Modell differenzierter und plausibler erscheinen lässt, so die Ansicht der Autorin. Die Pandel’sche genetische Sinnbildung reicht bis in die Gegenwart, nicht aber in die Zukunft, was Vorstellungen für die Zukunft im Rückgriff auf die Vergangenheit unmöglich macht. Pandel geht davon aus, dass Entwicklungsprozesse dargestellt werden, wobei die Sinnbildung bzw. die Erzählung bis zu einem gegenwärtigen Sachverhalt reicht. Eine Orientierung im Hinblick auf Zukünftiges, verbunden mit Handlungen in der Zukunft lässt sich nach diesem Sinnbildungstyp nicht vollziehen, so Körber.318 Im Rahmen der telischen Sinnbildung wird ein Ziel angenommen, das außerhalb der Sinnbildungs- bzw. Erzählzeit liegt, wobei sich hier eine Veränderung zur Rüsen’schen genetischen Sinnbildung, die im Zeichen einer Veränderungsrichtung steht, erkennen lässt. Das Ziel dieser Erzählung liegt in der Zukunft, wobei hier ein Qualitätszuwachs im Sinne von »Optimierungsgeschichten«319 oder aber eine Qualitätsabnahme im Sinne von »Katastrophen-geschichten«320 denkbar ist. Körber diskutiert den Pandel’schen Sinnbildungstyp als einen Sondertyp der Rüsen’schen genetischen Sinnbildung.321 Die zyklische Sinnbildung versteht Pandel als eine Vorstellung des Sich-Wiederholens der Geschichte, ein früherer, historischer Zustand wird wieder erreicht.322 Somit lässt sich dieser Sinnbildungstyp vom Rüsen’schen exemplarischen Sinnbildungstyp abgrenzen.323 Organische Sinnbildung wiederum zeigt sich in der Annahme, dass »der historische Prozess […] ein ständiges Werden und Vergehen«324 darstellt, wobei, so Körber, sich hier durchaus Grundzüge der Rüsen’schen exemplarischen, in Verbindung mit der konstanten Sinnbildung erkennen lassen.325 Alle Sinnbildungstypen nach Pandel können ebenso wie die Rüsen’schen auch kritisch gewendet werden.326 Barricelli geht davon aus, dass der Pandel’sche zyklische und telische Sinnbildungs- bzw. Erzähltyp sich grundlegend von Rüsens Typologie unterscheiden.327 Historisches sinnbildendes Erzählen ist als ein Prozess der Sinnbildung zu sehen und mit einem Verstehensbedürfnis verbunden. Darüber hinaus treten Sinnbildungsprozesse und Erzählungen mit einem Authentizitätsanspruch und 317 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Ebd., 43. Körber (2014), 10. Pandel (2006), 44. Ebd. Körber (2014), 11. Pandel (2006), 43. Körber (2014), 11. Pandel (2006), 43. Körber (2014), 11. Pandel (2006), 45. Barricelli (2012), 265.

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Theoretische Grundlagen

Vergewisserungsbedürfnis auf.328 Quellen formieren sich durch eine sinnbildende Erzählung zu einer Geschichte und beinhalten Prozesse von Interpretation und Erzählen.329 Authentizitätsanspruch und Vergewisserungsbedürfnis zeigen sich auch im autobiografischen Erzählen. Die Erzählung wird durch Belege, die wie z. B. Fotografien, Gegenstände etc. als Quellen zu verstehen sind, im Hinblick auf ihre Triftigkeit gestützt und geprüft. Erzählungen im Rahmen historischer Sinnbildungen sind an Situationsangemessenheit und Orientierungsbedürfnisse gebunden.330 Orientierung hat, so Pandel, eine subjektive Seite, indem der Mensch sich durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit »selbstorientieren«331 möchte. Das Subjekt orientiert sich im Denken, also durch das eigene Denken. Denken und Sich-Orientieren sind individuelle Prozesse. Sinnbildungen und Erzählungen haben einen Geltungsanspruch mit bestimmter Gültigkeit und intersubjektiver Verbindlichkeit – durch die Fähigkeit, sich von der eigenen Sinnbildung und Erzählung zu distanzieren.332 Historischer Sinn lässt sich durch den deutenden Rückgriff in die Vergangenheit in der Gegenwart durch einen zu erwartenden Zukunftshorizont erzeugen. Die Verknüpfung der Zeitebenen ist auch für Jeismann eine Grundlage von Geschichtsbewusstsein. 2.1.2 Verknüpfung der Zeitebenen Jeismann versteht den »Zusammenhang von Vergangenheitsdeutungen, Gegenwarts-verständnis und Zukunftsperspektive«333 als zentrales Moment von Geschichtsbewusstsein. Die gegenwärtige Problemlage bzw. Zukunftsorientierung entscheidet, welche Geschichte als Teil der Vergangenheit auf die Gegenwart bezogen und als Deutungsangebot gewählt wird.334 Er führt an, dass sich im »Geschichtsbewusstsein Vergangenheitsdeutungen mit gegenwärtigem Selbstverständnis und mit der Zukunftserwartung verbinden.«335 Es ist sowohl für die Vergangenheit als auch Zukunft charakteristisch, dass sie nur als Vorstellungen zugänglich sind.336 »Das eigene Gegenwartsverständnis«, so Jeismann weiter, »schafft sich seinen historischen Wertungshorizont als Begründung für Entscheidungen und Handlungen.«337 Es ist wesentli328 329 330 331 332 333 334 335 336 337

Pandel (2015), 135ff. Ebd., 161. Ebd., 140f. Ebd., 145. Ebd. Jeismann (1997), 42. Ebd. Jeismann (1978a), 54. Ebd., 57. Ebd.

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cher Teil des Geschichtsbewusstseins, Vergangenheit zu deuten, um die Deutungen auf die jeweilige Gegenwart und das Selbst zu beziehen und zu verstehen. Darüber wird eine Brücke in die Zukunft geschlagen; die jeweilige Zukunft ist vorstellbar und erwartbar. Schreiber ist der Ansicht, dass sich Jeismanns Überlegungen zur Verbindung der drei Zeitebenen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auch auf historisches Lernen von Grundschüler*innen übertragen lassen.338 Diese Denkfigur ist, wie Kapitel 2.4 bespricht, nicht grundsätzlich an vergangene Ereignisse gebunden, welche die eigene Lebenszeit überschreiten bzw. muss sich nicht ausschließlich auf kollektive historische Ereignisse beziehen. Wird die Verbindung der drei Zeitebenen historischer Sinnbildung in ihrer Essenz zugrunde gelegt, so lässt sie sich auf biografische Erfahrungen übertragen. Dennoch bezieht auch sie sich konsensual auf bewusste und kognitiv-sprachliche Prozesse und wirkt damit exklusiv. Über die Verknüpfung der Zeitdimensionen hinaus prägen Jeismanns Überlegungen zur historischen Urteilsbildung bis heute die geschichtsdidaktische Theorie. 2.1.3 Historische Urteilsbildung Jeismann geht von drei Operationen aus, durch die historische Sachverhalte eingeordnet werden: Analyse, Sachurteil und Wertung.339 Sie bilden eine Grundlage für sein Verständnis von Geschichtsbewusstsein. Durch die »methodische Unterscheidung der historischen Sachanalyse, des historischen Sachurteils und der historischen Wertung«340 befähigen sich Menschen zu historischen Denkprozessen. Im Rahmen der Analyse wird der historische Sachverhalt untersucht und beschrieben bzw. geklärt,341 wobei Jeismann auf den methodischen Forschungsbezug hinweist.342 Wird das Phänomen im Zusammenhang mit dem historischen Kontext eingeordnet und seine Wirkung und Bedeutung anhand dessen abgeleitet, nimmt man ein Sachurteil vor.343 Die Urteilsebene geht über die analytische Dimension hinaus und ermöglicht vielseitige Deutungen, Bezüge, Darstellungen von Zusammenhängen, Ursachen und deren Wirkungen und weitere interpretative Einordnungen.344 In die Wertung fließen Gegenwart und Kontext als eigene Urteilsdimension ein, sodass das Subjekt Stellung zum je338 339 340 341 342 343 344

Schreiber (2004a). Jeismann (1978a), 58. Jeismann (1997), 43. Jeismann (1978a), 58. Jeismann (1978b), 81. Jeismann (1978a), 58. Jeismann (2000), 64.

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Theoretische Grundlagen

weiligen historischen Sachverhalt bezieht. Jeismann bezeichnet die Operation als »wertende Stellungnahme«345, die »deutlich oder untergründig«346 vorliegen kann. Hier zeigt sich der »unmittelbare Lebensbezug historischer Erscheinungen.«347 Ziel historischen Lernens nach Jeismann ist, die drei Dimensionen anzuwenden und miteinander zu verbinden. Es handelt sich um eine grundlegende Operation des Geschichtsbewusstseins, die sich in Äußerungen über vergangene Ereignisse zeigt; das ist institutionell zu fördern. Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist, dass die Schüler*innen die drei grundlegenden Dimensionen erkennen und unterscheiden lernen.348 Historisches Lernen muss diese drei Dimensionen umfassen, um sinnvoll und wirksam zu erscheinen.349 Zentraler Aspekt des Geschichtsbewusstseins ist die Orientierung in der Gegenwart.350 Bei den drei Operationen handelt es sich nicht um eine strenge Reihenfolge. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Wertungen die Analyse und das Sachurteil beeinflussen und nicht losgelöst sein können. Eine Wertung kann auch durch eine Analyse und ein Sachurteil verändert oder gar revidiert werden.351 Daher spricht Jeismann bei den drei Operationen von drei »Dimensionen des Geschichtsbewusstseins«352, die sich aufeinander beziehen und gegenseitig beeinflussen. Eine strikte Trennung ist zum einen wenig sinnvoll, zum andern aber wohl nicht möglich. Ihre Beziehung, insbesondere der Einfluss der Wertung auf die beiden anderen Dimensionen, muss beim historischen Lernen stets mitgedacht und problematisiert werden.353 Daher stellt sich die Frage, inwiefern bspw. eine Trennung in Sachurteil und Werturteil grundsätzlich möglich ist.354 Jeismann betont, dass die Dimensionen wissenschaftlich überprüfbar sind.355 Sie stehen nicht nur in kognitiver Verbindung miteinander, sondern auch affektiv und emotional, wobei zahlreiche weitere Faktoren auf sie einwirken.356 Sie werden relevant, wenn Individuen ihre Aufmerksamkeit auf historische Aspekte lenken, sie Fragen aufwerfen oder ihr Interesse geweckt wird.357 Eine Bewusstseinsebene, die sich als Geschichtsbewusstsein bezeichnen lässt, besteht nach Jeismann dann, wenn innerhalb der drei Dimensionen selbstre345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357

Jeismann (1978a), 58. Jeismann (1978b), 81. Jeismann (2000), 64. Jeismann (1978b), 81ff. Ebd., 83. Jeismann (1978a), 64. Ebd., 58f. Ebd., 59. Jeismann (1978b), 81. Becker (2010). Jeismann (1978a), 59. Ebd., 60. Gautschi/Bernhardt/Mayer (2012), 335.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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flexiv Wechsel-beziehungen hergestellt werden. So lassen sich eigene Dimensionen mit Anderen in Bezug bringen.358 Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist, die Prozesse der Analyse, des Sachurteils und der Wertung reflektiert durchzuführen.359 Es geht um eine reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Bewusstseinsbildung. Jeismann spricht vom selbstreflexiven Geschichtsbewusstsein, »das sich seiner selbst bewusst ist und eine Tätigkeit auf einer Skala zwischen Wahrnehmung und Bewertung selbst zum Gegenstand intentionaler Aufmerksamkeit machen kann.«360 Geschichtsbewusstsein lässt sich nur verbal ausdrücken, so Jeismann weiter. Daher hängen sowohl sein Aufbau als auch Ausdruck von kognitiv-sprachlichen Kompetenzen der historisch Lernenden ab.361 Historische Urteilsbildung muss widerspruchsfrei, intersubjektiv überprüfbar und begründet sein.362 »Urteilsbildung wird hier verstanden als deutende Erzählung, die nicht einzelne Aussagen auf ihre Richtigkeit überprüfen will und kann, sondern Urteile als narrative Konstruktionen versteht, die im Unterricht verhandelt werden müssen.«363 Analyse, Sachurteil und Werturteil sind untrennbar mit Narrationen verknüpft. Von Borries führt kritisch an, dass den Operationen beim historischen Lernen das spezifisch Historische oft fehlt.364 Schulz-Hageleit erscheinen die drei Dimensionen des Geschichtsbewusstseins als »intellektuell hochanspruchsvoll«365, er fragt »ob es, konsequent durchgeführt, jemals zu greifbaren Ergebnissen kommt.«366 Straub hebt hervor, dass nicht-kognitive und Aspekte unabhängig von rationaler Vernunft nicht einbezogen werden.367 Auf die Überlegungen wird später wieder zurückgegriffen. Jeismann bezieht seine theoretisch grundlegenden Überlegungen auch auf die Praxis des Geschichtsunterrichts: »[D]ie Praxis dieses Unterrichts kann daran anknüpfen, daß diese Denkprozesse, die in komplizierter wissenschaftstheoretischer Sprache beschrieben und im Bereich der historischen Wissenschaft sehr sublimiert werden können, sich als einfache Grundfiguren in den täglichen, biographisch-historischen Aussagen, in der sog. ›Lebenswelt‹ wiederfinden.«368

358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368

Jeismann (1988), 15. Jeismann (1978b), 104. Jeismann (1988), 10. Jeismann (1978a), 65. Axel Becker (2012), 321. Ebd., 323. Borries (1995), 426. Schulz-Hageleit (1996), 186. Ebd. Straub (1998), 155, kursiv im Original. Jeismann (1978b), 79.

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Theoretische Grundlagen

Jeismann schlägt eine Brücke zu historischen Denkprozessen, die sich sowohl anhand historischer Sinnbildung im Rahmen der Geschichtsschreibung als auch im Rahmen der eigenen Biografie finden lassen. So beeinflussen verschiedene Faktoren, wie eigene Interessen oder Deutungen, ja, die eigene Perspektive die Analyse auf zurückliegende (biografische) Ereignisse. Auch lässt sich an der genauen Analyse biografischer Ereignisse aufzeigen, dass sich die eigenen Deutungen dadurch verändern können.369 Das kann beim historischen Lernen eine wichtige Erfahrung für Schüler*innen sein und »weist prinzipiell ähnliche Bewusstseinsvorgänge auf wie die Auseinandersetzung mit der kollektiven Erinnerung, der Geschichte als Historie.«370 »Der Grundzusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive ist auf der persönlichen, biographischen Ebene am vergangenen und geplanten Lebensweg dem einzelnen Schüler einsichtig zu machen. Die Entwicklung schwieriger historischer Bewußtseinsformen aus dem mitgebrachten Vorverständnis ist nicht nur inhaltlich, sondern auch in den Denkansätzen eine grundlegende didaktische Forderung und unterrichtspraktische Chance.«371

Jeismann geht davon aus, dass sich in der eigenen Lebenswelt, also der eigenen Biografie, eine »Basis an Kenntnissen, Einsichten und Urteilsvermögen«372 schaffen lässt. Anhand der eigenen Lebensgeschichte können Grundlagen für historisches Lernen gebildet werden. Bei der Auswahl der Themen, anhand derer historisches Lernen möglich ist, berücksichtigt er biografisch-historische Aspekte nicht weiter.373 Anschlussfähig sind sie allenfalls im Rahmen der »historischen Analyse eines aktuellen Problems«374, wobei sich dieses Problem vornehmlich auf »gegenwärtige politische Probleme«375 und wohl auch biografische Probleme beziehen kann. Darüber hinaus ließen sich (individuell) biografisch relevante Fragen auch im »thematischen Längsschnitt«376 auf andere Epochen übertragen, um davon ausgehend historisches Lernen ermöglichen. Jeismanns Überlegungen sind, wie zu zeigen ist, grundsätzlich theoretisch an die vorliegende Forschungsarbeit anschlussfähig. Seine Annahmen sind ausschließlich mit kognitiv-sprachlichen und bewussten Prozessen verknüpft, worauf später eingegangen wird.

369 370 371 372 373 374 375 376

Jeismann (1978b), 79. Ebd. Ebd., 79f. Ebd., 92. Ebd., 97–103. Ebd., 100. Ebd., 100. Ebd., 100f.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Gautschi greift Jeismanns Modell auf, interpretiert und arbeitet es weiter.377 Historisches Lernen geschieht, so Gautschi, wenn Schüler*innen »geeignete Sachverhalte aus der Geschichte (Quellen, Darstellungen) wahrnehmen oder wenn sie Menschen begegnen, die Geschichte repräsentieren oder erzählen.«378 Eine, in der Jeismann’schen Begrifflichkeit, ›Sachanalyse‹ vollziehen Schüler*innen dann, wenn sie sich mit dem historischen Sachverhalt auseinandersetzen. Durch die Interpretation und ein Inbezugsetzen, nehmen sie ein, mit Jeismanns Worten, ›historisches Sachurteil‹ vor.379 Im Jeismann’schen ›historischen Werturteil‹ schließlich beziehen sie den historischen Sachverhalt auf eine individuelle Fragestellung »im Hinblick auf gegenwärtige oder künftige, individuelle oder gesellschaftliche Situationen und Problemlagen.«380 Ein Werturteil muss mit den Normen- und »Moralvorstellungen der jeweiligen Gesellschaft, in denen das Individuum lebt, vereinbar sein und muss daran überprüft werden.«381 Einem Werturteil kann dann eine individuelle Handlung folgen.382 Es ermöglicht einen Kommunikationsprozess bzw. erneute Fragen an die Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.383 Es ist möglich, dass ein »Werturteil an ein Sachurteil oder […] ein Sachurteil an eine Sachanalyse zurückgebunden wird.«384 Die Prozesse erscheinen vielfältig.385 Gautschi beschreibt den historischen Lernprozess als eine Auseinandersetzung des Individuums mit Quellen oder Darstellungen, indem man Sachanalysen vollzieht, Sachurteile und Werturteile bildet sowie Fragen und Vermutungen erzeugt.386 In diesem Kreislauf historischen Lernens werden Quellen oder Darstellungen durch eine Fragestellung oder Vermutung wahrgenommen und in Sachanalysen erschlossen. Sachurteile entstehen durch Interpretation von Sachanalysen; diese Sachurteile werden durch ein Sich-Orientieren zu einem Werturteil, was durch eine Frage oder Vermutung reflektiert wird. Kernfigur ist historisches Erzählen, als Kompetenz gewendet: narrative Kompetenz.387 Narrative Kompetenz besteht dabei, so Gautschi weiter, aus vier Teilbereichen388:

377 Gautschi (2016). Gautschi legt zum historischen Lernen verschiedene Prozess- und Strukturmodelle (Gautschi (2016), 47 und 49) sowie ein Kompetenzmodell vor (Gautschi (2016), 51), die in der vorliegenden Arbeit nur randständig diskutiert werden können. 378 Ebd., 44. 379 Ebd. 380 Ebd. 381 Ebd., 46. 382 Ebd. 383 Ebd., 51. 384 Ebd., 44. 385 Ebd. 386 Ebd., 47. 387 Ebd., 46ff. 388 Ebd., 50ff.

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Theoretische Grundlagen

1) Wahrnehmungskompetenz für Veränderungen in der Zeit (Begegnung mit Zeugnissen aus dem Universum des Historischen), 2) Erschließungskompetenz für historische Quellen und Darstellungen (Entwicklung, Überprüfung und Darstellung von historischen Sachanalysen), 3) Interpretationskompetenz für Geschichte (Analyse, Deutung, Interpretation, Herleitung, Aufbau und Darstellung von historischen Sachurteilen), 4) Orientierungskompetenz für Zeiterfahrung (Werturteilsprüfung an Zeiterfahrung, Aufbau einer Einstellung und Haltung, eigene Orientierung in der Lebenspraxis). Gautschi führt sechs verschiedene Kompetenzbereiche für historisches Lernen an, welche die vier Teilbereiche narrativer Kompetenz teilweise enthalten oder darüber hinausgehen: Wahrnehmungskompetenz erlaubt, Quellen und Darstellungen aus dem Universum des Historischen zu bemerken. Durch Erschließungskompetenz lassen sich historische Sachanalysen mithilfe von Quellen und Darstellungen entwickeln und überprüfen, wobei Interpretationskompetenz zu einem historischen Sachurteil führt. Unter Urteilskompetenz versteht Gautschi, ein historisches Werturteil entwickeln und prüfen zu können, was zu Sinnbildung über Zeiterfahrung führt.389 »Die Narrationskompetenz führt zur Produktion von sinn- und bedeutungsvollen Darstellungen von Sachanalysen, Sach- und Werturteilen sowie zur Produktion geschichtskultureller Präsentationen.«390 Reflexionskompetenz schließlich »ermöglicht einen bewussten, systematischen und fundierten Umgang mit Vergangenheit, Geschichte und Geschichtskultur.«391 Wahrnehmungskompetenz schließt ein, Phänomene, Quellen und Spuren der Vergangenheit wahrzunehmen und Interesse zu haben, dem nachzugehen, Fragen an die Vergangenheit zu formulieren, sich mit Daten der Vergangenheit zurechtzufinden und diese selbst zu suchen und zu finden.392 Erschließungskompetenz beinhaltet ein kompetentes Umgehen mit Quellen oder Darstellungen/Geschichtskarten und historischen Karten sowie deren Unterscheidung; sie beinhaltet außerdem Quellen und Darstellungen und andere historische Phänomene oder Aspekte in ihrer zeitlichen Ordnung zu erkennen, Autor*innen der Quellen zu erkennen und zu charakterisieren, Symbole in Karikaturen der Vergangenheit zuzuordnen.393 Interpretationskompetenz umfasst das Einordnen in einen größeren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und die Erkenntnis daraus, die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das Vergleichen und die Benennung von Unterschieden (z. B. zu Erzählungen zur selben Person), die zeitliche Einordnung und das Zueinander-in389 390 391 392 393

Gautschi (2009), 52. Ebd., 52. Ebd. Ebd., 54. Ebd., 54f.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Beziehung-setzen von Phänomenen, Sachverhalten oder Personen. Bei der Urteilskompetenz werden Entscheidungen getroffen, Urteile gefällt und Werte entwickelt, Bezüge zur eigenen Person lassen sich herstellen, Sinnbildungsmuster erkennen, Probleme/Chancen/Dilemmata vergangener Personen als solche wahrnehmen, verschiedene Lösungen vorschlagen und beurteilen, wobei der Einfluss auf Gegenwart und Zukunft abgeschätzt und begründet wird. Narrationskompetenz ermöglicht eine eigene Darstellung, eine Geschichte; die Erzählung kann narrativiert, dargestellt und diskutiert werden.394 Durch Reflexionskompetenz sind Werturteile vergleichbar und auf Triftigkeit überprüfbar; die Beschäftigung mit Vergangenheit erscheint nützlich. Prozessschritte/Produkte lassen sich unterscheiden und erklären, Zusammenhänge zwischen Geschichtskultur und dem Universum des Historischen erkennen, Ideen/Werte/ Theorien, die die Vergangenheit erklären, unterscheiden, vergleichen und anwenden.395 Kapitel 2.4 erörtert, ob und in welcher Weise sich Gautschis Kompetenzmodell für geschichtsdidaktische Überlegungen für alle Schüler*innen eignet. Die historische Narration wird dabei eine zentrale Rolle spielen, deren Grundlagen das folgende Kapitel bespricht. 2.1.4 Historische Narration Geschichte, Geschichtsbewusstsein und Narrativität hängen, wie den vorherigen Ausführungen zu entnehmen, untrennbar miteinander zusammen. So weist auch Barricelli darauf hin, dass »sich also Geschichte ganz und gar über die Erzählung konstituiert.«396 Ricoeur versteht unter Geschichte die narrative Repräsentation etwas Vergangenem in der Gegenwart im Rahmen von Erinnerung.397 Hasberg geht davon aus, dass geschichtsdidaktische Lernprozesse grundsätzlich »Sprachhandlungen«398 darstellen. »Unter Narrativität […] versteht man das organisierende Prinzip historischer Aussagen.«399 Vergangene Ereignisse werden durch eine Narration bedeutungsvoll so miteinander verbunden bzw. aufeinander bezogen, dass eine Geschichte entsteht.400 Der Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Ereignissen hergestellt wird, geht über die eigentlichen Ereignisse hinaus und lässt sich in seiner

394 395 396 397 398 399 400

Ebd., 55f. Ebd., 57. Barricelli (2012), 259. Ricœur (2004), 619. Hasberg (2016), 138. Barricelli (2014b), 149. Ebd., 149.

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Theoretische Grundlagen

Form nie genau so in der vergangenen Wirklichkeit wiederfinden.401 Eine historische Erzählung ist eine »subjektive Deutungsleistung«402, wobei deren Qualität sich an Zuverlässigkeit, Aussagekraft und Orientierungsleistung bemisst.403 Die Sachverhalte, die durch eine Narration miteinander verbunden werden, beziehen sich grundsätzlich auf die Zeit, die vor der Gegenwart liegt, also alles, was vergangen ist.404 Narrationen bringen die Ereignisse in eine chronologische Abfolge, wobei hier der Grundsatz gilt, dass diese Ereignisse im Zusammenhang zueinander stehen und sich spätere Ereignisse aus den vorherigen Ereignissen entwickeln. Dabei wirkt immer eine Zeitdifferenz.405 Diese Überlegungen zu Narrativität und historischen Narrationen schließen die biografische Zeit, also biografische Vergangenheit, nicht aus. Sie sind aber an komplexe kognitivsprachliche Denkprozesse gebunden. Als zentrale Ordnungsmittel für eine Narration führt Barricelli »Sequenzierung, selektive Verknüpfung, Retrospektivität, Partikularität und Konstruktivität an.«406 Sie sind perspektivisch, beleuchten Ereignisse aus einem bestimmten Blickwinkel und gehen zwangsläufig über bestimmte Aspekte hinweg.407 Auf die stete Selektivität bei Erzählungen verweist auch Ricoeur; sie besteht zwangsläufig nur aus einer begrenzten Fülle von Ereignissen und damit verbundenen Aspekten.408 Erzählungen sind räumlich und zeitlich begrenzt, zeichnen sich also durch Partialität aus.409 Ferner zeigt sich der Konstrukt- und Interpretationscharakter410 von Narrationen durch Repräsentation bzw. Imagination; sie werden nachträglich kreiert und verweisen auf eine vergangene Wirklichkeit, die imaginiert wird.411 Erzählen macht aus Ereigniszeit Erzählzeit und bildet nicht die Naturzeit ab.412 Diese Gedanken sind grundsätzlich auf die eigene Biografie übertragbar, aber aufgrund ihrer kognitiv-sprachlichen Voraussetzungen kritisch zu betrachten. Narrativität als spezifisches Strukturmerkmal von Geschichte vereint zum einen Sinn, zum anderen Erinnerung, aber auch Erzählung. Sie ist keineswegs nur auf wissenschaftliche Aspekte von Geschichtswissenschaft oder -didaktik zu verkürzen – vielmehr wird auch der Alltag durch Geschichten strukturiert. So 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412

Axel Becker (2012), 324. Barricelli (2012), 259, kursiv im Original. Ebd., 262. Ebd., 256. Pandel (2015), 78. Barricelli (2014b), 149. Pandel (2015), 82ff.; Barricelli (2011a), 66. Ricoeur (1997), 448. Pandel (2015), 89. Barricelli (2012), 261; Pandel (2015), 85ff. Pandel (2015), 75ff. Ebd., 82; Barricelli (2011a), 66.

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lassen sich beispielsweise die Ereignisse des eigenen Lebens ebenfalls zu einer Geschichte verbinden, zur Lebensgeschichte. Historisch wird eine Erzählung dann, wenn sie sich auf geschichtliches Wissen bezieht413, im engen Sinn lässt sich die eigene Lebensgeschichte nicht anschließen. »Mit Narrativität also vermag man heute das Genuine und Besondere von Geschichte als akademischer Übung zu bestimmen, mithin eine Aussage darüber zu treffen, was im Kontext von Forschung und Lehre nur die Geschichtswissenschaft […] so tut, wie sie es tut.«414 Der enge Bezug zwischen Geschichtswissenschaft und -didaktik wird hier sehr deutlich. Erst durch Erzählen formieren sich unspezifische zu spezifischen Operationen, die sich historischer Sinnbildung zuschreiben lassen.415 Im Umkehrschluss, ist ohne eine historische Erzählung, so ist Barricelli an dieser Stelle zu verstehen, kein historisches Lernen zu beobachten. Von Borries schlägt vor, für eine historische Erzählung folgende Erzählmuster zu verwenden: »damals zwar…, heute aber…, weil inzwischen…«416 oder »schon damals, und heute erst recht; denn seither…«417 Vergangenheit und Gegenwart werden so aufeinander bezogen, dass die Phänomene logisch und changierend erzählt werden.418 »Trotz der kausalen Konjunktionen ›weil‹ und ›denn‹ handelt es sich um ›narrative‹, nicht um logische ›subsumierende‹ Begründungen, d. h. die Folgerungen stützen sich auf ›Erfahrungen‹, die man in Form von ›Geschichten‹ erzählen kann und muss.«419 Eine solche Erzählweise ließe sich der Rüsen’schen genetischen Erzählung zuordnen. Straub stellt dar, dass eine Narration nicht unweigerlich und ausschließlich als Geschichte vorliegen muss. Es gibt bspw. narrative Abbreviaturen, die auf eine Geschichte verweisen.420 Diese spezifischen narrativen mentalen Operationen basieren auf »hochkomplexen Voraussetzungen menschlichen Intellekts«421 und verbinden Narrativität untrennbar mit hohen Anforderungen an kognitiv-sprachliche Leistungen, was diesem zentralen Strukturmerkmal historischen Lernens Exklusivität verleiht. Straub erkennt, dass historische Narrationen sich in spezifischem Denken als Form der Intelligenz zeigen, wobei sie nicht nur von kognitiven Leistungen geprägt werden.422 Historische Orientierung verbindet Straub mit

413 414 415 416 417 418 419 420 421 422

Barricelli (2012), 255f. Ebd., 256, kursiv im Original. Ebd., 256. Borries (2008), 175. Ebd. Borries (1995), 399. Borries (2001), 305. Straub (1998), 123. Barricelli (2012), 256. Straub (1998), 142.

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Theoretische Grundlagen

Vernunftorientierung.423 Narration und narrativer Sinn sind direkt mit Kognition verknüpft und stehen im Zusammenhang mit rationaler Vernunft. Jedoch führt Straub auch aus, dass historisches Denken und somit historische Erzählung mehr ist, als nur eine Geschichte erzählen zu können.424 Auf die verschiedenen kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten, die für historische Narrationen vorauszusetzen sind, geht Kapitel 2.1.8.2 ein. Pandel sieht eine Narration als Tiefenstruktur, die sich in unterschiedlichen sprachlichen Oberflächenstrukturen zeigt. Dabei ist nicht wesentlich, in welcher Struktur sich Narrativität zeigt, sondern »daß sie narrativen Sinn einbindet.«425 Sie erzeugt Sinn erzeugt und macht ihn erkennbar. Erzählungen gehen über bloße Beschreibungen vergangener Ereignisse hinaus.426 Den Ereignissen wird Bedeutung verliehen, sie werden derart miteinander verknüpft, dass Straub von narrativem Sinn spricht, den eine Erzählung erzeugt. In einer Erzählung wird Kontingenz zum Ausdruck gebracht, gleichermaßen reduziert und bewältigt.427 Pandel geht davon aus, dass »es [historisches Erzählen, Anmerkung F.R.] kontingente Ereignisse in einen sinnvollen sprachlichen Zusammenhang verwandelt.«428 »Durch den narrativen Umgang mit Kontingenz […] werden auf einzigartige Weise Ordnung und Einsicht konstituiert oder restituiert, stabilisiert oder wiederhergestellt. Erst dadurch bleibt oder wird orientiertes Handeln (wieder) möglich.«429 In Erzählungen zeigen sich persönliche Konstrukte, die im Zusammenhang mit entsprechenden historischen Wirklichkeiten stehen.430 Im Wirklichkeitsund Faktizitäts-anspruch fallen historisches und biografisches Erzählen zusammen. Beim biografischen Erzählen steht das Subjekt, bei historischem Erzählen das Kollektiv im Vordergrund. Straub unterscheidet zwischen beiden Erzählweisen im Hinblick auf die Reichweite des Ereignisses bzw. der Erfahrung, die aber durchaus auch Überschneidungen aufweisen.431 »Was das biographische Denken auf der Ebene der individuellen Lebensgeschichte vollbringt, versucht das historische im Hinblick auf kollektive Erfahrungen und Erwartungen, Veränderungen und Entwicklungen.«432 Straubs Überlegungen lassen eine individuelle Geschichte mit einer kollektiven Geschichte strukturell miteinander ver-

423 424 425 426 427 428 429 430 431 432

Ebd., 150. Ebd., 156. Pandel (2006), 40. Ebd., 41. Straub (1998), 143ff., kursiv im Original. Pandel (2010), 95. Straub (1998), 150. Ebd., 124. Ebd., 127f. Ebd., 166f.

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gleichen. Beide Geschichten bleiben an bestimmte kognitiv-sprachliche Voraussetzungen gebunden. Pandel fasst auch Lebensgeschichten, in denen Menschen auf ihre eigenen Erfahrungen zurückgreifen und diese weitergeben als Erzählungen.433 Er stellt fest: »Prinzipiell besteht zwischen dem alltagsweltlichen Erzählen, das sich auf Erinnerungen beruft und der professionellen Geschichtsschreibung, die sich auf Quellen stützt, kein Unterschied.«434 Allerdings ist der/die Erzähler*in beim wissenschaftlichen Erzählen nicht Teil der Erzählung, sondern distanziert sich davon; in diesem Aspekt unterscheidet er also doch die beiden Erzählungen: in der alltagsweltlichen, biografisch gerahmten Erzählung, die sich immer auf eigene Erfahrungen stützt, ist der/die Erzähler*in immer Teil der Erzählung. Eine Distanz, wie sie ein*e Historiker*in in der wissenschaftlichen Erzählung einnimmt, ist nicht erreichbar.435 Folgt man Pandels und Straubs Überlegungen, lassen sich alltagsweltliche biografische Erzählungen und Erzählungen, die sich auf das Universum des Historischen beziehen, strukturell vergleichen. Vielleicht beziehen sie sich auf die gleichen (elaboriert-historischen) Sinnbildungsprozesse, was Kapitel 2.4.2 diskutiert. Die Vergleichbarkeit ließe sich in weiteren Studien näher untersuchen, um herauszufinden, ob sich die geschichtsdidaktische Theorie erweitern könnte. Straub und Pandel gehen von einem bewussten und kognitiv-sprachlich reflexiven Sinnbildungsprozess aus. Das setzt bestimmte Fähigkeiten voraus. »Wer Wirklichkeit so oder so denkt und repräsentiert, spannt dieses oder jenes Orientierungssystem auf und schafft damit einen Zeit-Raum, in dem bestimmte Handlungen vorstellbar werden und naheliegen, etwas gelten und angestrebt werden, andere dagegen ausgeschlossen sind und abwegig erscheinen.«436

Straub betont die Handlung, die im Zusammenhang mit der historischen Erzählung steht bzw. davon geprägt wird. Historische Narrationen ragen in die Zukunft und beeinflussen sie.437 »Erzählte Geschichten können, sobald man sie als komplexe Sprachakte betrachtet, funktional als Horizont und Orientierungsrahmen, als Begründungs- oder Legitimationsfolie von (vergangenen oder aktuellen) Handlungen verstanden werden.«438 Ergänzt werden sollen diese Begründungs- und Legitimationsfolien um zukünftige Handlungen, die sich in erzählten Geschichten niederschlagen. Straub spricht von »orientiertem Ver-

433 434 435 436 437 438

Pandel (2015), 23. Ebd., 25. Ebd., 25ff. Straub (1998), 130. Ebd. Ebd., 131.

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Theoretische Grundlagen

halten«439. Orientiertes Handeln und Verhalten erscheinen als grundlegende Aspekte und Ziele historischer Narrationen. Dennoch sind sie bei Straub ausschließlich an kognitiv-sprachliche Reflexionsprozesse gebunden und ohne eine rationale Reflexionsebene nicht vorstellbar, was eine Engführung der Theorie darstellt. Rüsen bezeichnet Erzählen als »Fundamentalkategorie«440 und »Basisoperation«441 des Geschichtsbewusstseins. Die beiden Begriffe unterstreichen die herausragende Stellung der Narration. »Erzählen ist Sinnbildung über Zeiterfahrung, es macht aus Zeit Sinn.«442 Durch eine Narration werden die Ereignisse nicht einfach nur reproduziert, sondern um Bedeutung angereichert.443 Ziel und Effekt der Narration sind Orientierungs- und Handlungsfähigkeit,444 die historischen Ereignisse werden in den »Sinnhorizont der eigenen Lebenspraxis«445 integriert. Rüsen fasst Erinnerung als Medium der »Weltbemächtigung und Selbstgewinnung des Menschen.«446 Es geht darum, in der Welt handlungsfähig zu werden und gleichzeitig eigenes Bewusstsein und Identität zu bilden bzw. weiterzuentwickeln. Diese Denkstruktur und die Geschichte als Sichtbarwerdung von Geschichtsbewusstsein zeigen sich narrativ.447 »Erzählen ist eine anthropologisch universelle Kulturpraxis der Zeitdeutung, und die ganze Fülle der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die wir ›Geschichte‹ als mentale Tätigkeit nennen, läßt sich kategorial als Erzählen charakterisieren. ›Geschichte‹ als vergegenwärtigte Vergangenheit hat grundsätzlich die Form einer Erzählung, und historisches Denken folgt grundsätzlich der Logik des Erzählens.«448

Rüsen begründet seinen Erzählbegriff geschichtstheoretisch,449 er bezieht seine geschichtsdidaktischen Denkfiguren auf seine Überlegungen zur Historik. Dabei fasst er spezifisch historische Äußerungen, Denk- und Argumentationsformen als kritisierbar und begründbar, also rational.450 Der Prozess historischen Denkens ist stets auf Vernunft ausgerichtet, die »Rationalität zum Sinnkriterium des Historischen werden«451 lässt. »Und insofern läßt sich die Rationalität des historischen Denkens als ein Modus von Sinnbildung beschreiben, nämlich als 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451

Ebd., kursiv im Original. Rüsen (2008), 49. Ebd., 48. Rüsen (2008), 49. Rüsen (2013), 195. Rüsen (2008), 50. Rüsen (2013), 195. Rüsen (1994/95), 4. Rüsen (2008), 18. Rüsen (2001b), 43f. Rüsen (1983). Rüsen (2001b), 46ff. Ebd., 70.

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deren Einbindung in die Kommunikationsform argumentativen Denkens.«452 Für historische Erzählungen, analog zur historischen Sinnbildung, sind zudem grundsätzlich die Kriterien der empirischen, normativen und narrativen Triftigkeit entscheidend,453 was Barricelli als zuverlässig, funktional und verständlich umschreibt.454 Erzählen wird nach Rüsen spezifisch historisch, wenn es sich auf »reale Geschehnisse der Vergangenheit bezieht«455, eine Definition, welche die eigene biografische Vergangenheit grundsätzlich einschließt. Eine historische Erzählung bezieht sich auf eine auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gründende Zeitverlaufsvorstellung.456 Der Sinn einer historischen Erzählung zeigt sich, wenn »Vergangenheit gedeutet sowie über diese Deutung Gegenwart verstanden und Zukunft erwartet werden kann.«457 Es geht darum, die drei Zeitebenen miteinander zu verbinden.458 »Jemand erzählt einem anderen eine Geschichte, in der die Vergangenheit so vergegenwärtigt wird, daß Gegenwart verständlich wird und Zukunft entworfen und erwartet werden kann.«459 Geschichten sind zukunftsgerichtet und lebenspraktisch. »Ferner wird ihr innerer Zusammenhang als eine erfahrungsbezogene Zeitverlaufsvorstellung konzipiert, die für das Selbstverständnis und die Handlungsorientierung der erzählenden Subjekte an Bedeutung gewinnt: Mit ihr können die aktuellen Zeitverläufe in der Lebenspraxis der Erzählenden verstanden werden.«460 Durch die historische Erzählung ist das Individuum in der Lage, eine Handlungsperspektive zu entwickeln.461 Im Zentrum einer historischen Erzählung steht eine reflexive Selbstvergewisserung.462 Vor dem Hintergrund ließe sich auch biografisches Erzählen als historisches Erzählen fassen, denn auch biografisches Erzählen basiert darauf, Ereignisse miteinander zu verbinden. Kapitel 2.4 überlegt, ob und inwiefern historische Sinnbildung grundsätzlich und ausschließlich mit einer Erzählung zusammenhängen (muss). Bei einer historischen Narration hält Rüsen fünf Regulative für die Geschichtswissenschaft für maßgebend463: 1) Orientierungsbedürfnisse durch Kontingenzerfahrungen, 2) Auf Erfahrung der Vergangenheit ausgerichtete Deutung, 452 453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463

Ebd., 53. Rüsen (1979), 122ff. Barricelli (2012), 266. Rüsen (2013), 48. Rüsen (2008), 49. Rüsen (1996), 513. Rüsen (2008), 183. Rüsen (2001b), 58. Ebd., 54. Rüsen (1997a), 58. Rüsen (2001b), 70. Ebd., 63.

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Theoretische Grundlagen

3) Methoden zum Einarbeiten der gegenwärtigen Vergangenheit in die Deutung, 4) Repräsentation der in die Deutungshinsicht eingearbeiteten Erfahrung der Vergangenheit und 5) »Funktion der kulturellen Orientierung durch die repräsentierte gedeutete Erfahrung der Vergangenheit in der Form einer zeitlichen Richtung menschlichen Handelns und in der Form von Konzepten der historischen Identität.«464 Er macht drei Dimensionen der historischen Sinnbildung ausfindig, »die sich in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrem spannungsreichen Zusammenhang in allen Modi des Historischen entfalten: 1) Im Beziehungsgeflecht zwischen Orientierungsbedürfnissen und Funktionen der kulturellen Orientierung wird die historische Sinnbildung durch eine politische Strategie der kollektiven Erinnerung bestimmt, 2) im Beziehungsgeflecht zwischen Hinsichten der Deutung und Methoden der Erfahrungsverarbeitung wird die historische Sinnbildung durch eine kognitive Strategie der Erzeugung historischen Wissens bestimmt, 3) und im Beziehungsgeflecht zwischen den Formen der Repräsentation und den Funktionen der Orientierung schließlich wird die historische Sinnbildung durch eine ästhetische Strategie der Poetik und Rhetorik historischer Repräsentation bestimmt.«465

Diese Regulative (bei Rüsen: Faktoren) und Dimensionen schließlich werden durch das »Sinnkriterium des historischen Erzählens oder als Prinzip des historischen Sinns«466 verbunden und identifiziert. In dieser Verzahnung sieht Rüsen die Matrix der Geschichtswissenschaft und legt sie der Matrix der Geschichtsdidaktik zugrunde. Er definiert analog fünf Faktoren467: 1) Lernbedürfnisse, 2) didaktische Perspektiven, 3) Methoden der Erfahrungserhebung und -verarbeitung in die didaktischen Perspektiven, 4) eine Pragmatik des Lehrens, in der die maßgebenden Gesichtspunkte der Organisation von Lernprozessen erhoben und expliziert werden, 5) und schließlich die Methodik selbst, in der Schule die Methodik des Unterrichts. Analog zum Sinnkriterium führt er für die Matrix der Geschichtsdidaktik die narrative Kompetenz als »umgreifende Ausrichtung der geschichtsdidaktischen Erkenntnispraxis«468 an. Als Unterscheidung greift er auf die jeweilige Dimension zurück – so unterscheidet sich die Matrix der Geschichtswissenschaft in ihrer Theorie-Dimension von der Praxis-Dimension der Geschichtsdidaktik. Es ist deutlich erkennbar, wie ähnlich Rüsen Geschichtswissenschaft und -didaktik auffasst. Zu fragen ist, inwiefern diese Analogie für die Geschichtsdidaktik pragmatisch und realistisch ist, würde das als Konsequenz doch bedeuten, Schüler*innen (wenn auch nicht abstandslos, so den-

464 465 466 467 468

Ebd. Ebd., 64, kursiv im Original. Ebd., kursiv im Original. Ebd., 66f. Ebd., 67.

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noch weitgehend) mit Historiker*innen zu vergleichen und annäherungsweise gleichzusetzen.469 Rüsen verbindet die individuelle Selbstdeutung bzw. Orientierung mit gesellschaftlich-kollektiver Deutung und Orientierung: »So wie durch autobiographische Selbstdeutung Individuen ein handlungsermöglichendes Minimum an Konsistenz im zeitlichen Wandel ihrer selbst erreichen, hängt die Überlebenschance sozialer Gruppen (auch) von ihrer Fähigkeit ab, ihr kollektives Selbst über eine historische Orientierung in den Zeitverläufen der Gegenwart so zu organisieren, daß es auf Dauer gestellt wird und die Zukunft in dem Maße für sich hat, als es seiner Vergangenheit in zeitlicher Tiefenperspektive gewiß ist.«470

Völkel kritisiert die Entwicklung der Rüsen’schen geschichtsdidaktischen Matrix aus der geschichtswissenschaftlichen als »geschichtsdidaktisch unbefriedigend, weil sie nicht den konkreten Menschen im Blick«471 habe. Sie hält es für bedenklich, gesellschaftlich kollektive und individuelle Orientierungsbedürfnisse gleichzusetzen.472 Für gesellschaftliche wie auch für individuelle Sinnbildungen wird, Völkels Kritik weiter folgend, ein vergleichbarer Narrativitätsbegriff verwendet, wobei die daraus resultierende Handlungsperspektive »für Gesellschaft und Individuum annähernd die gleiche sein soll.«473 Rüsen stellt fest, dass eine historische Erzählung immer einer Sinnbildung folgt, Sinn vor der Narration vorhanden ist. Es gibt also auch prä-narrative und nicht-narrative Elemente im Zusammenhang mit Sinnbildungsprozessen und Narrationen: »Sinn ist immer schon da, den Erzählern und ihren Zuhörern bis in ihre Leiblichkeit hinein eingeschrieben freilich nicht als historischer, und auch nicht so, als bedürfte er keiner Anstrengung einer eigenen kulturellen Sinnbildungspraxis mehr.«474 Geschichte ist bereits vor der Erzählung vorhanden: »Das, was in der Praxis des historischen Erzählens als Sinnkonstrukt der ›Geschichte‹ erscheint, ist – freilich in anderer Form! – vor aller Erzählung immer schon da und bildet den elementaren Erfahrungshintergrund des historischen Erzählens. ›Erfahrung‹ ist hier im Sinne der Vorgängigkeit, also vor aller methodischen Erarbeitung empirischer Gehalte, gemeint. Insofern die Erzählenden und Zuhörenden selbst leibhaftige Produkte dessen sind, was als Geschichte erzählt wird, ist diese Geschichte immer schon in ihnen als sie selbst da, bevor sie erzählen und zuhören.«475

Damit führt Rüsen an, dass Sinnbildung grundsätzlich auch ohne bzw. vor einer Narration vorliegt, er erkennt ein »nicht-narratives Element historischer Sinn469 470 471 472 473 474 475

Ebd., 67ff. Ebd., 95. Völkel (2017a), 107. Ebd. Ebd. Rüsen (2001b), 77, kursiv im Original. Ebd., 77.

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bildung.«476 Allerdings spricht er dieser Sinnbildung keine historische Dimension zu; Kapitel 2.4.1 überlegt, ob ihr nicht doch eine spezifisch historische Stellung einzuräumen ist. Die historische Frage als »Initialzündung der Sinnbildungsprozedur des Geschichtsbewusstseins«477 ist prä-narrativ zu verstehen. Diese Sinnbildung reicht jedoch nicht zur »sinnhaften Orientierung der menschlichen Lebenspraxis«478 aus, sie muss noch narrativiert werden.479 Grundsätzlich lässt sich mit Rüsens Einlassungen erklären, wie Menschen Sinn bilden – nämlich zunächst nicht in Abhängigkeit von verbalsprachlichen Narrationen. Dabei ist fraglich, ob Rüsens Annahme, Sinn, der (noch) nicht narrativiert werde, trage nicht zur Orientierungsfähigkeit bei, tatsächlich zutrifft. Darauf kommt Kapitel 4.3.3 zurück. Historisches (prä-narratives) Fragen wird angestoßen von: »(a) einer Bewegung, die von der Erfahrung der Vergangenheit ausgeht und (b) einer Bewegung, die von Gegenwartserfahrungen ausgeht und zur Erfahrung der Vergangenheit hinführt.«480 Bei (a) wird der Mensch mit der Alterität zwischen damals und heute konfrontiert, wobei die Differenz dann »in ein Deutungsmuster von Zeit«481 eingefügt und narrativ aufgehoben wird. Bei (b) wird die Frage durch eine gegenwärtige Zeitbrucherfahrung ausgelöst, bei der die Vergangenheit nur relevant wird, um diese Brucherfahrung zu heilen. Rüsen fasst diese Sinnbildungsprozesse rational. Erst durch eine Thematisierung wird etwas Prä-Narratives durch eine Narration historisch.482 »Das narrative Sinngebilde der Geschichte transzendiert sich selbst in die Sinnbestimmtheit zweck- und zielgerichteter Handlungen.«483 Dieser Prozess ist post-narrativ und stellt ein wesentliches Moment historischer Sinnbildung dar.484 Rüsen schlägt vor, dass das Bewusstmachen etwas Prä-narrativen, Unbewussten erlernt werden könnte. »So ließe sich im Lernprozeß der Schritt von prä-narrativer Erfahrung zur narrativen Sinnbildung bewußt vollziehen, und entsprechend könnten die Komponenten der narrativen Kompetenz, um deren Erwerb es im historischen Lernen grundsätzlich geht, auseinandergehalten und für sich systematisch gepflegt werden, vor allem das Wahrnehmen und Deuten.«485

476 477 478 479 480 481 482 483 484 485

Ebd. Ebd., 78. Ebd., 77. Ebd. Ebd., 78. Ebd. Ebd., 87ff. Ebd., 96. Ebd., 96. Ebd., 87.

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Weiter führt er an: »Historisches Deuten macht Gebrauch von Erklärungsschemata nicht-narrativer Art, etwa eines nomologischen Erklärens bestimmter Vorgänge durch Rekurs auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, die mehr oder weniger stringent formuliert oder aber als selbstverständlich vorausgesetzt werden.«486

Somit hat auch die narrative Deutung einen nicht-narrativen Aspekt. Dabei ist die Deutung, so Rüsen, nicht mehr als historisch einzuordnen, wenn diese nichtnarrativ erfolgt. Das begründet er folgendermaßen: »Sie würde die Kontingenz zeitlichen Wandels, um deren Deutung es geht, durch Subsumtion unter eine allgemeine Gesetzmäßigkeit zum Verschwinden bringen, während sie doch gerade narrativ in ihrer kontingenten Faktizität zum Sinnträger wird.«487 Auch historische Darstellungen können nicht-narrativ vorliegen. Dieses Sinnpotential, bspw. bei Annalen, ist »auf Sinnbildung durch Erzählen hin angelegt«488, liegt prä-narrativ vor. Geschichtsschreibung, historische Darstellungen, können immer dann nicht-narrativ sein, wenn sie einen Sachverhalt synchron präsentieren.489 »Die nicht-narrative Historiographie nimmt den narrativen Charakter der historischen Sinnbildung in eine Implikation, in eine Voraussetzung und in eine Intention des historiographischen Textes zurück, ohne die er nicht so geschrieben wurde, wie er geschrieben wurde, und ohne die er auch nicht verstanden werden kann.«490

Sinn lässt sich also wiederum nur narrativ verstehen.491 Historische Deutung ist ohne Narration unmöglich; den prä-narrativen, nicht-bewussten Aspekten von Sinnbildung geht Rüsen nicht weiter nach, was zu kritisieren ist. Kapitel 2.2 erörtert, inwiefern vorsprachliche und nicht-bewusste Sinnbildung in den Kontext geschichtsdidaktischer Überlegungen zu rücken ist. Menschen, die nicht zu historischen Narrationen im Rüsen’schen Sinne in der Lage sind, werden von historischem Deuten und Lernen ausgegrenzt, was in Kapitel 2.1.8.2 ausführlicher zu diskutieren ist. Geschichtsbewusstsein zeigt sich immer sprachlich, allerdings ist die Verbindung zur Sprache nicht nur als gesprochene Sprache denkbar, sondern zeigt sich auch in Form von bspw. Denkmälern oder anderen Artefakten, die als Repräsentationen von Geschichte zu betrachten sind.492 Rüsen stellt fest, dass der Alltag überfüllt ist mit »Sinngebilden, die Geschichten ausdrücken oder indi486 487 488 489 490 491 492

Ebd., 89, kursiv im Original. Ebd., 90. Ebd., 93. Ebd., 94. Ebd. Ebd. Rüsen (2008), 19.

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zieren, ohne selbst Geschichten zu sein.«493 Diese Worte, Darstellungen, Gegenstände, ja Symbole stellen, worauf bereits Straub verweist, narrative Abbreviaturen dar. Sie verweisen auf Geschichten, die nicht erzählt werden müssen, um sie zu verstehen.494 Manche Begriffe deuten auf zeitliche Entwicklungen und eine historische Erzählung hin, die einen Zeitverlauf abbildet.495 Rüsen geht davon aus, dass es sich bei diesen nicht-narrativen Faktoren um andere Rationalitätstypen handelt.496 Mit Verweis auf Rüsens Überlegungen zur Leiblichkeit und möglichen anderen Rationalitätstypen könnten Handlungen als eine vorsprachliche Repräsentation einer Geschichte eingeordnet werden. Sie sind sprachlichen Äußerungen vorgelagert und nicht von der Erzählung abhängig. Um welche anderen Rationalitätstypen (neben kognitiv-sprachlichen) es sich dabei handeln könnte, wird in Kapitel 2.2.2 mit weiteren Überlegungen zur Vernunft des Leibes erörtert. Rüsens Theorie über historische Narrationen hängt unmittelbar mit der von ihm entwickelten Typologie der Sinnbildung zusammen. Er geht davon aus, dass die Sinnbildungsleistungen eines Individuums sich je nach Kontext seiner Kontingenzerfahrung unterscheiden und spricht von einer »Variationsbreite verschiedener Sinnbildungen«497, die sich in unterschiedlichen Erzähltypen zeigen. Es werden vier narrative Grundformen unterschieden, die sich auf die vier Typen der Sinnbildung beziehen bzw. diese ausdrücken: die traditionale, die exemplarische, die kritische und die genetische Erzählform.498 Da die verschiedenen Erzähltypen den entsprechenden Sinnbildungstypen folgen, werden sie sehr reduziert erläutert. All diese Erzählformen erfüllen unterschiedliche Funktionen.499 Ferner sind sie wie die Sinnbildungstypen nicht hierarchisch, sondern gleichberechtigt.500 Im traditionalen Erzählen wird das »Einverständnis in vorgegebene Lebensordnung«501 dargestellt. Diese Geschichten zeichnen sich durch eine gewisse »Veränderungsresistenz«502 aus. Beim exemplarischen Erzählen werden vergangene Aspekte als Regeln für gegenwärtige Umstände her493 Ebd. 494 Ebd.,19f. 495 Barricelli (2012), 262; an dieser Stelle wird beispielhaft bspw. auf historische Entwicklungen wie Romanisierung oder Reformation hingedeutet, deren Entwicklungscharakter sich an der Endung -ierung, bzw. -ation erkennen lässt; es lassen sich allerdings auch zahlreiche andere Begriffe ausmachen, die einen Endpunkt einer Entwicklung oder aber auch eine Absicht bzw. eine Zielvorstellung beinhalten und somit ebenfalls im Rahmen einer zeitlichen Entwicklung gedacht werden können. 496 Rüsen (2001b), 91. 497 Rüsen (2008), 17. 498 Ebd., 50. 499 Rüsen (1989b), 43–57. 500 Ebd., 57–61. 501 Rüsen (1997a), 60. 502 Ebd.

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vorgebracht. Durch kritisches Erzählen lassen sich Deutungsmuster negieren, wobei genetisches Erzählen historische Aspekte diskursiv und reflexiv aufeinander bezieht, wodurch Geschichten dynamisch werden.503 Historisches Erzählen markiert eine spezifisch geschichtsdidaktische »Erkenntnis- und Diskursform«504 und gilt, so vor allem von Barricelli aufgegriffen und weitergedacht, ein zentrales Paradigma. »Historisches Erzählen als konstitutives Merkmal der Geschichtswissenschaft und Inbegriff einer auf Geschichtsbewusstsein zielenden Fachdidaktik«505 verortet Barricelli in Geschichtswissenschaft und -didaktik. Hier zeigen sich der Bezug zu Rüsens Annahmen und die Wissenschaftsorientierung historischen Lernens. Historisches Wissen und Verstehen stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit Narration, wobei die Narration eine Grundvoraussetzung darstellt, um Geschichtsunterricht als solchen einzuordnen.506 Spezifisch historisch werden vergangene Inhalte erst durch die historische Erzählung, eine bloße Beschäftigung mit der Vergangenheit charakterisiert noch kein dezidiert historisches Lernen.507 Der Lernprozess ist, so Barricelli weiter, ohne Narration, ohne Erzählhandlungen, im geschichtsdidaktischen Sinn undenkbar.508 Ziel soll sein, »Erzählungen zu finden, die frischen Sinn für unsere Lebenswelt bieten.«509 Es besteht darin, subjektiv sinnvolle Deutungsangebote zu produzieren, die erst im darauf folgenden Schritt auf intersubjektive Gültigkeit geprüft werden können.510 Barricelli folgt Rüsens Überlegungen und verbindet historisches Lernen mit entsprechenden kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten. Die einzelnen Ereignisse einer Erzählung werden durch eine subjektive Deutungsleistung zueinander und zu einem »erzählerischen (sozialen) Zentrum«511 in Bezug gesetzt.512 »So erhält das Geschehene als Geschichte Struktur und Gestalt und die Gestalt Bedeutung: Es hat jetzt plötzlich einen Grund, dass jenes Vorkommnis hier erwähnt wird und dieses nicht.«513 Dieser Gedanke lässt sich mühelos auf die eigene Lebensgeschichte übertragen, allerdings ist in Kapitel 2.4 die Ebene der Sinnbildung zu erörtern. Nach Barricelli zeichnet sich die historische Erzählung, wie die literarische Erzählung, durch Anfang und Schluss, ein identifizierbares Referenzsubjekt, ein fünfteiliges Geschichtenschema, Dramatik 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513

Rüsen (1997a), 60f. Barricelli (2016), 123. Barricelli (2015), 6. Barricelli (2016), 123. Ebd., 132. Ebd., 123, kursiv im Original. Ebd., 131. Ebd., 131. Barricelli (2011a), 62. Ebd., 62f., kursiv im Original. Ebd., 62.

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und Redefiguren aus.514 Er grenzt die historische Erzählung vom Bericht, einer Schilderung und auch Beschreibung ab.515 So ist beispielsweise in einem Bericht kein »Zusammenhang zu den eigenen Erfahrungen, Erwartungen und Orientierungen [zu] erkennen.«516 Über das Erfahrene wird kein Sinn gebildet. Barricelli fragt sich, ob man überhaupt einen reinen Bericht konstruieren kann. Diese Frage muss hier offen bleiben und in weiterführenden Diskussionen aufgegriffen werden. Eine Erzählung folgt bestimmten Mustern, die sie zu einer spezifisch historischen Erzählung macht.517 Spezifisch historisch wird sie durch den Sinn, den sie erhält, indem sie thematisiert, was erzählt wird und auch anschaulich macht, wie und warum erzählt wird. Sie gilt als historisch, wenn sie eine Zeiterfahrung bzw. eine Zeitdifferenzerfahrung ausdrückt.518 »›Historisch‹ werden diese Texte dann, wenn sich die dort verarbeiteten Erfahrungen auf Zeitdifferenzen beziehen, sie zugleich jedoch idiosynkratische Willkür bei deren Deutung durch Rekurs auf Regeln eindämmen und sich so im Diskurs zur Geltung bringen [können].«519 Barricelli begreift Erzählen als kulturelle Praxis und spricht sie als anthropologische Universalie jedem Menschen zu.520 Auf die Exklusivität verbalsprachlicher Erzählungen geht Kapitel 2.1.8.2 ein. Im Zusammenhang mit der temporalen Ordnung werden in einer historischen Erzählung »mindestens zwei distinkte, zeitdifferente Einzelobjekte der Erfahrung (›Geschehensmomente‹, ›Ereignisse‹), in einer zeitlichen Verlaufsstruktur (›Zeitsukzession‹)«521 miteinander verbunden. Dabei werden alle Elemente einer Narration auf ein Referenzsubjekt bezogen; erzählt wird nur, was für den jeweiligen Inhalt relevant ist. Eine Narration wird nachträglich konstruiert. Die Erzählung besitzt außerdem Anfang, Mitte und Schluss, die Erzählachse.522 »Da Deuten auch immer Erklären ist, muss die explanatorische Kraft einer narrativen Sequenzialisierung bewusst eingesetzt werden«523, wobei »Kausalitäten, Motive und intentionale Zustände«524 sinnvoll verknüpft werden. Darüber hinaus ist eine Erzählung eine rhetorische Deutungsleistung, wobei grundsätzlich fiktionale, phantasievolle Aspekte gegenwärtig sind.525 Kognitiv-instrumentelle, ästhetischexpressive und auch normativ-evaluative Aspekte kommen bei »der historischen 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525

Ebd., 64f. Barricelli (2015), 40. Ebd., 79. Ebd, 41. Barricelli (2011a), 68ff. Barricelli (2015), 79, kursiv im Original. Barricelli (2011a), 73. Barricelli (2015), 42, kursiv im Original. Ebd., 43f., kursiv im Original. Ebd., 50. Ebd., 51. Ebd., 53.

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Sinnbildung durch Erzählen gleichzeitig (!) zur Geltung.«526 Für Barricelli ist es kein Zufall, dass Sinnlichkeit und historischer Sinn etymologisch den gleichen Wortstamm aufweisen.527 »Wenn wir ein handlungsorientiertes Problem erkannt zu haben glauben, können wir ihm in Form einer (historischen) Erzählung Gestalt geben, um es einer Lösung zuzuführen und einen Sachverhalt verstehen zu lernen. […] Deshalb darf man behaupten, dass Schülerinnen und Schüler historische Texte besser (oder überhaupt erst) verstehen, wenn sie die zu Grunde liegenden, eher sprachtheoretisch fundierten Tropen beherrschen.«528

Auch hier zeigt sich, wie bereits mehrfach angeführt, ein Fokus auf kognitivsprachlichen Voraussetzungen. Sinn ergibt sich allerdings auch, so Barricelli, unbewusst.529 Es sind die vergangenen Spuren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen, an denen Historiker*innen »sinnliche Erfahrungen«530 machen können. Bei der Geschichtsschreibung handelt es sich um »eine Form der Erfahrung des Wissens.«531 »Nach welchen Prinzipien Wahrnehmungen als solche selektiert werden und ob und nach welchen ›apriorischen‹ Erkenntnismustern sie bereits im Augenblick ihrer Wahrnehmung systematisiert werden, ist seit jeher das Feld der Transzendentalphilosophie, sowie, seit wenig mehr als einem Jahrzehnt (und damit der theoretischen Spekulation), der Psychologie.«532

Wahrnehmungen werden zu Erfahrungen konstruiert. »Ausgehend von der Annahme, dass Erfahrungsinhalte im Modus des Bildes verfügbar gemacht werden, sind Imaginationen die beim Machen oder Abrufen einer Erfahrung evozierten, allfälligen und unumgänglichen Erfahrungskontexte, die, der korrekten Bedeutung des Terminus entsprechend, Ein-Bildungen oder auch Vor-Stellungen (nämlich vor das geistige Auge) unserer mentalen Operationen sind.«533

Konstruktionsprozesse vollziehen sich nicht-bewusst, wobei Wahrnehmungsprozesse im Bewusstsein weiter konzeptionalisiert, verknüpft und organisiert werden. Beim Erinnern an Erfahrungen spielen auch Vergessen und Veränderungen zentrale Rollen, deren Stellenwert der Gedächtnisforschung in der vorliegenden Arbeit nicht in Gänze referiert werden kann. Je öfter man sich erinnert, 526 527 528 529 530 531 532 533

Ebd., 9. Ebd., 9. Ebd., 67. Ebd., 73. Ebd., 20, kursiv im Original. Ebd., 22. Ebd., 24. Ebd., 25.

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desto weiter liegen Erinnerung und Erfahrung auseinander, so Barricelli.534 Er fasst historische Erzählungen dabei grundsätzlich als Repräsentationen der Vergangenheit, um vergangene Erfahrungen mitzuteilen.535 Jede Erzählung wird in der spezifischen Gegenwart wieder zur Erfahrung für den/die jeweilige Rezipient*in.536 »Die inhaltliche Dimension des historischen Sinns erfordert nachgerade, dass die jeweils repräsentierte Vergangenheit Erfahrungsqualität aufweist.«537 Historische Erfahrung entsteht, wenn Quellen als Spuren der Vergangenheit hinzugezogen werden und bezieht sich auf eine mediale Vermittlung der Vergangenheit, also auf die Geschichtswissenschaft, aber auch auf den Unterricht: auch Schüler*innen machen historische Erfahrungen. Das Ziel historischen Erzählens der Lernenden ist nicht mit dem von Historiker*innen zu vergleichen, die professionell Wissen erzeugen. Und dennoch gibt es gewisse Ähnlichkeit.538 Die Darstellungen zeigen die Orientierung an wissenschaftlichem Erzählen, Rationalität, bewusster Verarbeitung und entsprechenden kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten, die eine historische Narrationen voraussetzt. Es ist anzunehmen, dass nicht zuletzt Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an ihre Grenzen stoßen. Der gesamte Diskurs bezieht nicht-bewusste (historische) Sinnkonstruktionen, die unabhängig von einer Narration vorliegen und zu Handlungsfähigkeit beitragen, nicht systematisch ein. »Erst zögernd wird die Bedeutung vor- und unbewußter Sinn-bildungsarbeit des Bewußtseins für den Umgang mit Zeiterfahrung und für kulturell wirksame Formen und Inhalte von Geschichtsbewußtsein eingesehen und betont. […] Daß in diesen Tiefen Operationen mit einer narrativen Sinnbildung stattfinden, also für das Leben der betroffenen Subjekte folgenreich Geschichten erzählt werden, dürfte unbestritten sein. Man braucht nur an die Träume zu denken. Aber ob und wie diese Geschichten als Historien im Sinne der Spezifik des Geschichtsbewußtseins angesehen werden können, ist bisher nicht untersucht worden.«539

Rüsen verweist auf bislang marginalisierte un- oder vorbewusste Prozesse bei historischer Bewusstseinsbildung, die zu überprüfen wären. Dem Gedanken geht Kapitel 2.4 nach. Wie Kapitel 2.1.8.2 ausführlicher zeigt, sind historische Narrationen an vielschichtige kognitiv-sprachliche Fähigkeiten gebunden. Das Begriffspaar Erklären und Verstehen bietet den Vorteil, Geschichten weniger komplex äußern zu können. 534 Ebd., 25f. 535 Ebd., 29. Diese Repräsentationen beinhalten verschiedene Charakteristika, die bei Barricelli recht differenziert nachzuvollziehen sind. 536 Ebd., 31. 537 Ebd., 36. 538 Ebd., 37ff. 539 Rüsen (2008), 30.

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2.1.5 Erklären und Verstehen Vor dem Hintergrund der vorliegenden Fragestellung erscheint es notwendig, sich mit dem Begriffspaar Erklären und Verstehen zu beschäftigen, um die Äußerungen der Schüler*innen deuten zu können. Das Potential dieses Begriffspaar für historische Sinnbildungsprozesse ist zu erörtern. Erklären und Verstehen standen in geschichtswissenschaftlichen Diskursen der vergangenen Jahrhunderte in unterschiedlichen Konstellationen zueinander, was in der vorliegenden Arbeit nicht nachgezeichnet wird. Mayer spricht bei den Begriffen von »wechselseitig aufeinander bezogene Zugangsweisen: das geisteswissenschaftlich-hermeneutische Verstehen und das sozialwissenschaftlich-analytische Erklären.«540 Von einer Erklärung historischer Phänomene und Sachverhalte lässt sich sprechen, wenn »kausale Beziehungen zwischen Ursachen und Folgen identifiziert werden.«541 Es geht darum, den zu erklärenden Aspekt auf seine Hintergründe und Konsequenzen zu befragen und Zusammenhänge deutlich zu machen. Im Vordergrund steht, Phänomene, Ursachen und Folgen in eine sinnvolle Verkettung zu bringen. Rüsen schränkt Erklären (unnötig) ein, wenn die Sinnzuweisung von historischen Sachverhalten als »Erklären durch Erzählen«542 erfolgt. Er bindet eine Erklärung damit an den Topos einer historischen Narration und erkennt ihr keinen eigenständigen Stellenwert bei historischen Sinnbildungsprozessen zu. »Das ›Verstehen‹ meint die Erkenntnisweise, historische Phänomene aus ihrer jeweiligen Besonderheit oder Individualität heraus zu begreifen sucht, statt sie aus allgemeinen Annahmen über den Lauf der Geschichte abzuleiten.«543 Verstehen zeigt sich im Erklären.544 Erklären und Verstehen sind als zusammenhängendes Begriffspaar zu deuten: um historische Aspekte, Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen erklären zu können, müssen sie verstanden werden. Innere und äußere Umstände werden berücksichtigt und so aufeinander bezogen, dass bspw. menschliches Handeln in seiner Sinnhaftigkeit zu begreifen ist. »Es geht um Sinnbezüge und Sachbedingungen in ihren Verschränkungen.«545 Die Überlegungen sind an (biografisch orientiertes) historisches Lernen anschlussfähig. Nun ist zu überlegen, welche Rolle Erfahrungen beim historischen Lernen haben. Sie bilden einen zentralen Aspekt bei historischer Sinnbildung.

540 541 542 543 544 545

Mayer (2014), 195. Welskopp (2002), 81. Rüsen (2003), 77. Muhlack (2002), 310. Ebd. Mayer (2014), 195.

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2.1.6 Erfahrung Bei historischer Sinnbildung ist oftmals von Erfahrungen die Rede: biografische Erfahrung, historische Erfahrungen, Fremderfahrungen, Zeiterfahrungen, Kontingenzerfahrungen, Alteritätserfahrungen546; sie alle spielen eine entscheidende Rolle. Es ist grundsätzlich zu fragen, was eine Erfahrung ausmacht, wann sie spezifisch historisch ist und wie sie mit einer Erzählung zusammenhängt. Überlegen lässt sich auch, ob Erfahrungen stets bewusst zu Sinn verarbeitet werden. Kapitel 2.4 greift die nachstehenden Gedanken auf, um sich der biografisch-historischen und der elaboriert-historischen Erfahrung anzunähern. Erfahrungen sind in den Kontext von Erleben und Wahrnehmen einzubetten. Sie lassen sich als leiblich reflexive Folge von Erleben547, von erlebendem Wahrnehmen betrachten. Erleben und Wahrnehmung fallen in der leiblichen Reflexivität ineinander. Diese Ebene des Leibes lässt sich mit einem Kippbild vergleichen: dort, wo Erleben in ein Wahrnehmen umschlägt, ist der Leib anzusiedeln.548 Erleben und Wahrnehmen bilden die Grundlage für eine Erfahrung549, für das spezifische »So-Sein«550, mit dem sich jeder Mensch seiner Umwelt zuwendet. Eine Erfahrung liegt zunächst nicht-bewusst vor, lässt sich aber bewusst reflektieren. Eine biografische Erfahrung ist anthropologisch in den von Pandel angeführten Dimensionen, Erfahrung, Wahrnehmung und Erwartung zu diskutieren, mit denen jeder Mensch bewusst und in kognitiv-sprachlicher Auseinandersetzung die drei Zeitebenen strukturiert. Ausgehend von der Gegenwart wird Vergangenheit als das, was vorrüber ist und Zukunft als das, was noch nicht ist, betrachtet. Beim Voranschreiten durch die Zeit lässt sich bewusst erfahren, dass Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft zu Gegenwart wird.551 Koselleck versteht eine historische Erfahrung als »gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können.«552 Der Fokus liegt darauf, dass der Mensch sich seiner Erfahrung bewusst wird und kognitiv-sprachlich mit ihr befasst. Sie bezieht sich auf eine bewusste Verarbeitung, unbewusste Verhaltensweisen und fremde (historische) Erfahrungen. Eine Erwartung ist vergegenwärtigte Zukunft und bezieht sich auf das, was noch nicht ist.553

546 Auf Alteritätserfahrungen wird gezielt in Kapitel 2.1.7 eingegangen. Sie stellen einen grundlegenden Aspekt für historische Sinnbildung dar. 547 Völkel (2017a), 61. 548 Ebd., 73f. 549 Ebd., 135. 550 Ebd., 170. 551 Pandel (2014b), 199. 552 Koselleck (2017), 354. 553 Ebd., 354f.

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Im Erfahrungsraum sind vergangene Schichten früherer Zeiten, Zeitschichten, eingelagert. »Alle diese Erfahrungen verweisen auf Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem bzw. umgekehrt auf Ungleichzeitiges zu gleicher Zeit.«554 Erwartung lässt sich durch eine bewusste Reflexion erfahrbar machen; ihr kommt kein Erfahrungsgehalt zu.555 Erfahrung hingegen verarbeitet vergangenes Geschehen »wirklichkeitsgesättigt.«556 Sie kann sie sich mit voranschreitender Zeit und anderen Erfahrungen – oder Erwartungen – verändern. Erwartung (und damit Zukunft) wird durch Erfahrung (Vergangenheit) absehbar; ein bisheriger Erfahrungsraum bestimmt einen Erwartungshorizont nie gänzlich vor. Durch beide Größen, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, wird eine zeitliche Differenz geschaffen.557 Sie gelten als metahistorische »Erkenntniskategorien, die die Möglichkeit einer Geschichte begründen helfen.«558 »Die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft wird nicht nur größer, sondern die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung muß dauernd neu, und zwar auf immer schnellere Weise überbrückt werden, um leben und handeln zu können.«559 Auch für Rüsen stehen Erfahrung und Erwartung im Spannungsfeld zueinander: »Geschichtsbewußtsein arbeitet Erwartungen und Absichten an Erfahrungen ab und holt Erfahrungen in Erwartungen und Absichten ein.«560 All diese Operationen einer Erfahrung und Erwartung sind an bewusste und kognitiv-sprachliche Prozesse gebunden. Schulz-Hageleit fragt nach dem Verhältnis von Erfahrung und (historischem) Lernen. »Erfahrungen entstehen, wie immer man sie im Einzelnen definiert, in einem Mischfeld von eigenen Aktivitäten, sinnlich-körperlichen Wahrnehmungen und reflexiver Verarbeitung, die freilich recht verschieden verlaufen kann, je nach Ich-Stärke und sozialem Umfeld.«561 Er erkennt vier mögliche Erfahrungsbezüge beim historischen Lernen: I Erfahrungen auf der Objektseite der Geschichte (z. B. autobiografische Berichte historischer Akteur*innen als Quellen, Zeitzeug*innenaussagen), II Erfahrungen der Geschichte im Allgemeinen (persönliche Erkenntnisse und Konsequenzen aus dem Unterricht, Eintreten in einen Dialog mit früheren Erfahrungen, Ermuntern zu eigenen Stellungnahmen, Nachdenken über historische Erfahrungen), III Lebensweltliche Erfahrungen der Schüler*innen (als Brücke ins Universum des Historischen, Bezug zu eigenen biografischen Er554 555 556 557 558 559 560 561

Ebd., 363. Ebd., 357. Ebd., 357. Ebd., 358f. Ebd., 351. Ebd., 369. Rüsen (2008), 16. Schulz-Hageleit (2004), 65.

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fahrungen), IV Neu induzierte Erfahrungen im Unterricht (z. B. durch entdecken, forschen, handeln etc., kommunikative Erfahrungen, Simulationsexperimente zu historischen Problemkonstellationen, Vergegenwärtigung von Tatsachen z. B. durch szenisches Darstellen).562 Erfahrungsbezogener Unterricht bietet vielfältige Möglichkeiten. Dennoch scheinen Schulz-Hageleits Überlegungen biografisch-historische Erfahrungen und deren Potenzial für historisches Lernen zu verkennen; so geht er in seiner Einteilung nicht von einer eigenständigen biografisch-historischen Erfahrung als Möglichkeit für historische Lernprozesse aus. Er führt lebensweltliche Erfahrungen zwar an, nutzt sie allerdings nur als Brücke zum Historischen, was eine kognitive-sprachliche und bewusste Auseinandersetzung voraussetzt. Die vorliegende Arbeit geht in Kapitel 2.4.1 von der Eigenständigkeit einer biografisch-historische Erfahrung aus. Historische Sinnbildung lässt sich so vielschichtig denken, was Kapitel 4.3.3 bei der Diskussion der Interviewergebnisse aufgreift. Eine historische Erfahrung beinhaltet, so Koselleck, zum einen Wissen um etwas Gewesenes, zum anderen aber auch eine Erkundung; es geht um eine bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexion dessen, was zur Vergangenheit gehört. Er vermutet, »es gibt keine Geschichte, ohne daß sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre.«563 Auch Koselleck verweist auf das Wissen um etwas Gewesenes und begreift die historische Erfahrung bewusst, rational und kognitiv-sprachlich. Dabei sind »Erfahrung und Erwartung als anthropologische Vorgegebenheit [und] Bedingung möglicher Geschichten.«564 Geschichte bezieht sich auf einen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont.565 Beide Größen, Erfahrung und Erwartung, bedingen sich gegenseitig; sie stehen im Spannungsfeld zueinander und sind ohne einander nicht denkbar, so Koselleck. Ohne Erfahrung und Erwartung ist Geschichte nicht vorstellbar; sie konstituieren Geschichte.566 Diese Gedanken müssen sich nicht ausschließlich auf die bewusste und kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung beziehen; er ist für Überlegungen zum biografisch-historischen Bewusstsein anschlussfähig, da Erfahrung und Erwartung nicht-bewusst miteinander verbunden sind. Es ist von verschiedenen Zeitschichten ausgehen, die bei einer historischen Erfahrung eine kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung veranlassen.567 Die erfahrbare zeitliche Differenz wird zum Ausgangspunkt einer Narration; jede

562 563 564 565 566 567

Ebd., 66ff. Koselleck (2017), 351. Ebd., 354. Ebd., 349. Ebd., 352f. Breyer/Creutz (2010b), 347; Koselleck/Gadamer (2003), 9.

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Zeitschicht bezieht sich auf eine Erfahrung(-sschicht).568 Eine Beschäftigung mit verschiedenen Erfahrungen bezieht sich auf mindestens zwei unterschiedliche Zeitschichten. Erfahrung entsteht, wenn man einzelne Erlebnisse sinnhaft verknüpft; Breyer und Creutz sprechen von einer reflexiven Stellungnahme. Spezifisch historisch wird eine Erfahrung, so Breyer und Creutz, wenn eine gewachsene Selbstverständlichkeit kritisch hinterfragt und in einen anderen Zeitkontext transferiert wird.569 Eine historische Erfahrung als Fremderfahrung steht, so Rüsen, im direkten Zusammenhang mit Geschichtsbewusstsein, wobei eine »Erfahrung von Zeit im Medium der Erinnerung«570 steht und zur Orientierung des Individuums beiträgt.571 Sie bezieht sich auf ein Kollektiv, geht somit über eine individuelle Erfahrung hinaus.572 Bei einer Zeiterfahrung werden ein Zeitverlauf, eine Abfolge, Kontinuitäten, Verbindungen oder Zusammenhänge in ihrem zeitlichen Kontext sindwahrgenommen. Erfahrung, Formung oder Deutung und Orientierung, von motivationalen Aspekten begleitet, hängen in der Theorie zusammen. Durch Operationen des Geschichtsbewusstseins wird eine Erfahrung von Vergangenheit, eine historische Erfahrung, als eine kontinuierliche Geschichte narrativiert.573 Werden die aktiven Aspekte einer Erfahrung als Narration hervorgehoben, geraten ihre passiven Prozesse in den Hintergrund.574 Historische Erfahrungen beziehen sich auf Erfahrungen, die man selbst nicht gemacht hat. Als Narrative verweisen sie auf kollektive Geschichte und somit auf Erleben sowie Erinnerung Dritter.575 Hier wird deutlich, dass individuelle Erfahrungen nur als Fremderfahrungen als historisch einzuordnen sind. Eine eigenständige Erfahrung eines Individuums selbst lässt sich in der aktuellen Theoriebildung wohl nur als Teil eines Kollektivs und nicht an sich als spezifisch historisch deuten. Erfahrung und Erzählung stehen im direkten Verhältnis zueinander, wobei Waldenfels von einem Paradoxon spricht, denn eine »Erzählung bezieht sich auf eine Erfahrung, die erst im Erzählen und Wiedererzählen Gestalt gewinnt.«576 Eine Erfahrung geht nie vollkommen in eine Erzählung ein; der Sinn einer Erfahrung lässt sich niemals gänzlich durch die Erzählung abbilden. Somit ist der Sinn einer Erfahrung ein etwas Anderer als der einer Narration.577 Jede Narration,

568 569 570 571 572 573 574 575 576 577

Breyer/Creutz (2010b), 353. Ebd., 348ff. Rüsen (2008), 14. Ebd., 14. Straub (1998), 166f. Rüsen (2008), 179ff. Breyer/Creutz (2010a), 4f. Flaig (2010), 74. Waldenfels (2004), 50. Breyer/Creutz (2010b), 342.

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der Hypothese folgend, liegt ein »authentische Erzählbedürfnis«578 von einer pathischen Erfahrung zu Grunde.579 Allerdings lässt sich nicht jede Erfahrung durch eine Erzählung ausdrücken;580 es sind vor allem krisenhafte Kontingenzerfahrungen, die (historische) Erzählungen benötigen, um Kontingenz aufzulösen und Zukunft erwarten zu lassen. Erzählungen transponieren Erfahrungen in einen anderen Horizont.581 In Kapitel 2.2 ist zu erörtern, ob Kontingenzerfahrungen ausschließlich durch eine Erzählung zu überwinden sind. Die historische Erfahrung vergangener Akteur*innen, kann »für den Rezipienten doch selbst zu einer originären werden, insbesondere dann, wenn das Nachempfundene in originärer Weise gerade noch nicht selbst erlebt wurde und somit nicht in den eigenen Erfahrungsschatz fällt.«582 Hier werden imaginative Räume geschaffen.583 »›Die Geschichte‹«, so Rüsen, »als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifendes Zeitganzes der menschlichen Welt erscheint als Synthese von Erfahrung und Erwartung.«584 Sinn generiert sich nach Erfahrung eines Zeitbruchs, einer Zeitbrucherfahrung.585 Eine Zeitbrucherfahrung lässt sich als Kontingenzerfahrung bezeichnen. Zeit lässt sich durch eine Geschichte als historische Narration in ›vorher‹ und ›nachher‹ aufteilen und wahrnehmen; sie ist, so Rüsen, nicht mit einer historischen Erfahrung gleichzusetzen. Die historische Erfahrung bezieht sich darauf, was von einem vergangenen Ereignis in der jeweiligen Gegenwart präsent und wahrnehmbar ist. Sie erzeugt durch die Differenz zur gegenwärtigen Zeit Sinn.586 Aber genau dann, wenn die Erfahrung gemacht wird, dass von einem vergangenen Ereignis noch etwas in die jeweilige Gegenwart ragt und dort wahrnehmbar ist, muss Zeit in einer ›vorher‹ und ›nachher‹ aufgeteilt werden, was sich sinnhaft verbinden lässt; eine Differenz muss wahrgenommen und erfahren werden, was auf Rüsens Definition einer Zeitdifferenzerfahrung hindeutet. Sie bezieht sich zunächst auf das nicht-bewusste Erleben von Differenz. Die Bedeutung von Zeitdifferenzerfahrungen und historische Erfahrungen müssten im geschichtsdidaktischen Diskurs grundsätzlich geklärt werden, um zu überlegen, ob und inwiefern hier von zwei verschiedenen Erfahrungen zu sprechen ist. Auch Sauer kritisiert die Unschärfe der Denkfigur Sinnbildung über Zeiterfahrung. Für ihn bleibt rätselhaft, um wessen 578 579 580 581 582 583 584 585 586

Ebd. Waldenfels (2002), 14ff. Breyer/Creutz (2010b), 342f. Rüsen (2001b), 76. Breyer/Creutz (2010b), 346. Ebd. Rüsen (1997b), 18. Rüsen (2013), 32. Ebd., 38f.

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Erfahrung es sich bei dieser Basiskategorie handelt. Es ist nicht hinreichend geklärt, ob bei einer Zeiterfahrung eine individuelle Erfahrung des historisch lernenden Subjekts, das einen Zeitverlauf konstruiert und somit Sinn bildet oder (zusätzlich oder davon abgrenzend) eine Erfahrung der Akteur*innen der Vergangenheit gemeint ist.587 »Das Geschichtsbewusstsein erweitert den Horizont der Zeiterfahrung«588, da es sich auf Erfahrung – als Erinnerung verarbeitet – welche die Schüler*innen »selber gar nicht gemacht, vergessen oder verdrängt haben, bezieht.«589 Rüsen spricht davon, »daß historisches Lernen von der Erfahrungsnähe gegenwärtiger Vergangenheit ausgeht und Zeitdifferenz elementar wahrnehmbar machen soll und kann, um dann über thematisierte Differenz historische Zusammenhänge narrativ zu erstellen – von diesen Überlegungen her ließen sich die Zeitkategorien des Geschichtsbewußtseins geschichtsdidaktisch explizieren.«590

Einige Hinweise deuten darauf hin, dass es sich dabei um eine gegenwärtige und individuelle Erfahrung von Zeit und Zeitabläufen handelt. Die gegenwärtige Erfahrung bezieht sich aber auf Erfahrungen von anderen Personen – als Erfahrungsbestände – der Vergangenheit.591 Historische Sinnbildung wird spezifisch historisch, wenn Ereignisse (Erfahrungen) mit anderen Ereignissen (Erfahrungen) im Zusammenhang mit einem Zeitverlauf betrachtet und gedeutet werden. Ein Ereignis an sich, losgelöst von Kontext und Sinnzusammenhang, ist nicht historisch.592 Kapitel 2.4 überlegt, wie Erfahrungen und Ereignisse vor dem Hintergrund historischer Sinnbildungsprozesse einordnen sind. »Historische Erfahrungen«, so Pandel weiter, »die weit in der Vergangenheit liegen und zur (sekundären) Erfahrung gehören, lassen sich wohl kaum als Erwartung auf unsere Zukunft beziehen.«593 Er schlägt vor, im Zusammenhang mit Zeiterfahrungen und biografischen Erfahrungen zwischen Eigen- und Fremderfahrungen zu differenzieren.594 Beim historischen Lernen setzen sich Menschen retrospektiv mit (Fremd-) Erfahrungen anderer Personen oder Generationen auseinander, die sich Quellen entnehmen lassen. »Historische Erfahrungen werden stets in der Gegenwart gemacht […] und zwar an Relikten der Vergangenheit.«595 Biografische (biografisch-historische) und historische (elaboriert587 588 589 590 591 592 593 594 595

Sauer (2014), 1f. Rüsen (2001c), 163. Ebd., 162f. Rüsen (2001b), 88. Rüsen (2008), 15ff. Rüsen (2013), 37. Pandel (2014b), 200. Ebd. Ebd.

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historischen) Erfahrungen sind teilweise vergleichbar,596 da sich beide nur in der eigenen Gegenwart machen lassen.597 Pandel setzt für beide Erfahrungen eine kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit voraus. Somit sind seine Überlegungen bedingt anschlussfähig für die Gedanken zu den verschiedenen Erfahrungseben aus Kapitel 2.4. Es könnte erkenntnisreich sein, unbewusste Strukturen und Veränderungen in didaktische Überlegungen aufzunehmen.598 Schulz-Hageleits Überlegungen sind an späterer Stelle aufzugreifen. Wie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zu zeigen ist, ist es plausibel, von zwei unterschiedlichen historischen Bewusstseinsebenen auszugehen. Die geschichtsdidaktische Theorie zeigt sich hier eindimensional; wie angeführt, beziehen sich Erfahrungen im Zeichen historischen Lernens nicht auf die Erfahrung selbst. Es erscheint wichtig, den Stellenwert biografischer Erfahrungen als eigenständig herauszuarbeiten und in den geschichtsdidaktischen Diskurs einzubringen. In den weiterführenden Gedanken wird die Rolle von Alterität beim historischen Lernen und im Kontext von Erfahrungen erörtert. 2.1.7 Alterität Im Rahmen historischer Sinnbildung können Personen »gelebte Fremdheitserfahrungen«599 mit historischen Akteur*innen machen. Alterität lässt sich auch bei der Begegnung und Auseinandersetzung mit historischen Gegenständen erkennen. Das Fremde, das Fremdartige, so Barricelli, das sich, als zeitliche Alterität zeigt, besitzt beim historischen Lernen einen zentralen Stellenwert und bezieht sich in einer pragmatischeren Wendung auf das geschichtsdidaktische Prinzip der ›Multiperspektivität und Kontroversität‹.600 Die Erinnerung an Ereignisse innerhalb der eigenen Biografie geht mit einem Alteritätsgefühl, einher – »die Dinge ereigneten sich in einem anderen Zeitraum.«601 Es ist von einer Alteritätserfahrung auszugehen, wenn man sich der eigenen Biografie zuwendet.602 Dabei geht die Erfahrungvon Alterität, so Ricoeur weiter, mit einem »zeitlichen Kontinuum und der Jemeinigkeit der Erinnerung«603 einher. Ein Mensch versetzt sich in der Lage, eine Distanz der jeweiligen 596 597 598 599 600 601 602

Zum Entstehen der beiden Begriff vgl. Kapitel 2.4. Pandel (2014b), 200. Schulz-Hageleit (1996), 190. Barricelli (2014a), 71. Ebd.; Buchsteiner/Lorenz/Must (2017), 55ff. Ricoeur (1997), 437. Ricoeur spricht an dieser Stelle von einem Alteritätsgefühl, was hier als Alteritätserfahrung verstanden werden kann (Ricoeur (1997), 437). 603 Ebd., kursiv im Original.

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Vergangenheit zur aktuellen Gegenwart zu entwickeln und Alterität zu erfahren. Dabei liegt die Vergangenheit in Form der Erinnerung in einer gewissen Abgeschlossenheit vor, die im Gedächtniss abstandslos überwunden werden kann. Ricoeur geht davon aus, dass sich Abgeschlossenheit und das Kontinuum durch eine Narration auflösen lassen. Erinnerungen und das Gedächtnis sind jeder Person individuell als Teil ihres Bewusstseins zu eigen.604 Die Erzählung verbindet Gedächtnis und Geschichte.605 Den individuellen Erinnerungen, dem individuellen autobiografischen Gedächtnis, steht das kollektive Gedächtnis gegenüber. Im kollektiven Gedächtnis werden auch Erinnerungen anderer, Erzählungen anderer, für die jeweilige Person wirksam. Individuelles und kollektives Gedächtnis sind so miteinander verbunden.606 »Im Zusammenhang mit dieser Hypothese, die die ganze Last der Konstitution kollektiver Einheiten der Intersubjektivität aufbürdet, darf man nur nie vergessen, daß das kollektive Gedächtnis nur durch Analogie und in Bezug auf das individuelle Bewußtsein und sein Gedächtnis als eine Sammlung von Spuren gilt, die von Ereignissen hinterlassen wurden, die den Lauf der Geschichte der betreffenden Gruppen beeinflußt haben, und daß man ihm nur deshalb die Macht zuerkennt, diese gemeinsamen Erinnerungen anläßlich von Festen, Ritualen oder öffentlichen Feierlichkeiten in Szene zu setzen: […] Jemeinigkeit der Erinnerungen in analoger Weise auf die Idee auszuweiten, daß wir Besitzer unserer kollektiven Erinnerungen sind.«607

Gemeinsame Welterfahrungen bilden den Ausgangspunkt für Gleichzeitigkeit und gemeinsame Gedächtnisse. »In dieser Hinsicht wird die Geschichte Schemata anbieten, die zwischen den extremen Polen des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses zu vermitteln vermögen.«608 Dabei sind Nahestehende privilegierte Andere, die durch eine Beziehung mit einer Person verbunden sind.609 Ricoeur geht von einer »dreifachen Zuschreibung des Gedächtnisses [aus]: an das Selbst, an die mir Nahestehenden, an die Anderen.«610 Da in der vorliegenden Arbeit das individuelle autobiografische Gedächtnis relevant ist, folgen keine weiteren Diskussionen zum kollektiven Gedächtnis und dessen Verbindung zum individuellen autobiografischen Gedächtnis. Fremdverstehen geht für Schörken damit einher, das eigene Selbstbild zu verändern oder zu erweitern.611 Fremdverstehen und Alteritätserfahrung werden 604 605 606 607 608 609 610 611

Ebd., 437. Ebd., 439f. Halbwachs (1967), 34ff. Ricœur (2004), 185. Ebd., 203. Ebd., 202ff. Ebd., 205. Schörken (1980), 329.

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oft begrifflich nicht voneinander getrennt; Buchsteiner et al. verstehen Alterität als Voraussetzung für Fremdverstehen.612 Bei Alterität spielen unterschiedliche Perspektiven eine wichtige Rolle – die eigene subjektive und anders erlebte. Voraussetzung für die Wahrnehmung einer anderen Perspektive ist das Erkennen der eigenen Sichtweise.613 Es erscheint sinnvoll, dass »Alteritätselemente von Lebewesen und ihre Handlungen/ Haltungen/Vorstellungen sowie Gegenstände aus ihrer zeitgenössischen Bedeutung heraus betrachtet werden.«614 Alterität zeigt sich als Zeiterfahrung.615 In diesem Prozess ist nur ein Perspektivennachvollzug, so Buchsteiner et al., möglich, hingegen Fremdverstehen unzutreffend. Die jeweiligen vergangenen und gegenwärtigen Werte- und Normensysteme sind stets zu berücksichtigen. Für sie erscheint erstrebenswert, bei Schüler*innen eine kognitive Perspektivübernahme in Abgrenzung zu Empathie anzuregen.616 Sie legen den Fokus auf kognitiv-sprachliche Prozesse. Fremderfahrungen beziehen sich auf gegenwärtige Erfahrungen anderer Urteile und Interpretationen. Hier sehen Buchsteiner et al.617 eine Möglichkeit zur (Selbst-)Reflexion, die mit der Anbahnung eines entsprechenden Werturteils einhergeht: Die eigenen Erfahrungs- und Deutungsmuster sollen als Mögliche von vielzähligen anderen Möglichen anerkannt werden. Bei der Begegnung mit Andersartigkeit wird das »Eigene im Sinne von eigener Identität«618 wahrgenommen, was eine kritische Distanz erlaubt. Es geht demzufolge um den Prozess »einer Erfahrung von anderen gegebenen Sinn zu erfassen, zu dekonstruieren«619, was aufgrund des Verhaftetseins an eigenen Verstehenskategorien häufig nur annäherungsweise gelingt. Ziel ist, den eigenen Standort, die eigene Perspektive und Andersartigkeit anzuerkennen, Distanz zu verringern620 und ein selbst-reflektiertes Werturteil zu formulieren.621 »Mithilfe des Prinzips ›Fremderfahrungen und Selbstreflexion‹ ließen sich u. a. ein tieferes Verständnis für kultur- und standortabhängige Sach- und Werturteile, ebenso wie für Handlungsoptionen, -motive und -zwänge von Personen erzeugen und könnten Lernende sich selbst als historisch gewachsene und vorgeprägte Individuen betrachten und verstehen lernen.«622 612 613 614 615 616 617 618 619 620 621 622

Buchsteiner/Lorenz/Must (2017), 60f. Ebd., 67. Ebd., 71. Ebd., 72. Ebd., 83ff. Ebd., 97. Alavi (2004), 30. Ebd., 31. Ebd., 30ff. Buchsteiner/Lorenz/Must (2017), 101. Ebd., 109, Buchsteiner et al. schlagen vor das Prinzip Alterität und Fremdverstehen als Fremderfahrung und Selbstreflexion zu erfassen.

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»Dabei ist das durch den Zeitverzug Fremde (Alterität) in historischen Lernprozessen per se vorhanden, was aber nicht unbedingt mit einer Identifikation der Alterität durch das lernende Subjekt einhergehen muss.«623 Alavi betont die Auseinandersetzung mit Andersartigkeit vergangener Gesellschaften und den Bezug zu eigenen Normen und Selbstverständlichkeiten, wobei historische Handlungsmöglichkeiten und Begründungszusammenhänge wahrgenommen und diskutiert werden sollen. Unterschiede zu heute, Andersheit zu heute gilt es im historischen Sinnbildungsprozess wahrzunehmen, die unterschiedlichen Erfahrungs- und Deutungsmuster zu erkennen.624 Es ist also zu überlegen, welchen Status Alterität(-serfahrung) bei biografisch orientierten Sinnbildungsprozessen haben. Kapitel 2.4 erörtert, ob Alterität grundsätzlich und ausschließlich an kognitiv-sprachliche und bewusste Sinnbildungsprozesse gebunden ist. Teilweise wurden die Grenzen von historischem Lernen mit dem Ziel von Geschichtsbewusstsein deutlich. Die folgenden Kapitel bündeln und vertiefen die Gedanken. 2.1.8 Grenzen des Geschichtsbewusstseins Die aktuellen, konsensualen Diskussionen zu Geschichtsbewusstsein bergen einige Probleme, die dem Anspruch einer Theorie, die alle Menschen einbindet, entgegenstehen. Solange die Aspekte konsensual als zentral für die Konzepte historischen Lernens diskutiert werden, behalten Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht ihre exklusive Stellung und wirken ausschließend. Insbesondere die kulturelle Orientierung von Geschichtsbewusstsein und sein Fokus auf rationaler Vernunft sowie kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten erscheinen als Exklusionsmechanismen. In den folgenden Ausführungen werden Barrieren von Geschichtsbewusstsein erörtert. 2.1.8.1 Kulturelle Orientierungsfunktion Aus den voranstehenden Darstellungen wird ersichtlich, dass die Fachdidaktik Geschichtsbewusstsein im Zeichen der kulturellen Orientierung von Menschen versteht. Ziele historischen Lernens sind kulturelle Orientierung625, kulturelle Kohärenz626 und kulturelle Identität.627 Die Ausrichtung und Zielsetzung von Geschichtsbewusstsein er-scheinen im Hinblick auf plurale und heterogene Einwanderungsgesellschaften fraglich und bedenklich. Wie sich in den nachstehenden Erörterungen zu Kultur, Nation, Ethnie, Identität, Geschichte und 623 624 625 626 627

Alavi (2004), 28. Ebd., 28f. Rüsen (1997b), 24. Pandel (2013), 23. Ebd., 143, kursiv im Original.

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Geschichtsbewusstsein zeigen wird, sind Exklusion und Ausgrenzung die Folge. Geschichtsbewusstsein als Fundamentalkategorie historischer Sinnbildung ist unbedingt kritisch einzuordnen; zu fragen ist auch, ob in der vorliegenden Arbeit weiterhin an Geschichtsbewusstsein festgehalten oder eine andere Ausrichtung bzw. ein anderer Begriff eingeführt werden soll oder muss. Es ist zu fragen, wer Subjekt und wer Objekt in der geschichtsdidaktischen Theoriebildung und somit auch im Geschichtsunterricht ist. Völkel zeigt, dass dem reflektierten Geschichtsbewusstsein Subjektcharakter zugestanden wird; die Lernenden werden zu Objekten.628 Wenn Geschichtsbewusstsein mit dem Ziel der kulturellen Orientierung zum Subjekt der Lernprozesse gerät, ist der Schluss, dass kulturelle Orientierung, kulturelle Kohärenz und kulturelle Identität selbst Ziele bzw. Subjekte historischen Lernens darstellen, nicht weit. Kultur (und wie gezeigt wird, auch Nation und Ethnie) hat also in Theorie und Unterricht einen sehr bedeutenden Stellenwert. Hat historisches Lernens stets kulturelle Bezüge als Ziel, zeigen sich Probleme. Denn Kultur und Nation sind als Komplentärbegriffe629 zu deuten. Völkel identifiziert Nation komplementär zu Kultur und somit als Bezugsgröße historischer Sinnbildungsprozesse. Historisch betrachtet entwickelte sich die Idee der Nation im ausgehenden 18. und gesamten 19. Jahrhundert, die durch die Geschichtswissenschaft mit Meistererzählungen – die Geschichten der Nation mit ihren ›Wurzeln‹ – an Bedeutung gewann.630 »Aus diesen ›Wurzeln‹ heraus entwickelte sich, so konnte nun [durch die Meistererzählung, Anmerkung F.R.] kohärent dargestellt werden, dessen einzigartige Kultur, die schützenswert ist, weil sich hier eine Werte- und Solidargemeinschaft wiederfindet, die sich sozial mit der Nation verbunden und für diese verantwortlich weiß.«631

Die eine ureigene Kultur ist unmittelbar mit einer unilinearen Geschichte und der Idee der Nation verbunden.632 Individuen verorten sich durch historische Lernprozesse in dieser kulturell-nationalen Gemeinschaft: »Über die […] generierten Meistererzählungen, die die Geschichte der Nation von ihren ›Ursprüngen‹ her erzählte, konnte der Idee der Nation eine Ideologie unterlegt werden, die die ehemaligen theologischen Heilsgeschichten (wo komme ich her, wo gehe ich hin) zu ersetzen vermochte.«633 Werden Kultur und Nation in ihrer Bedeutung komplementär verstanden, ergeben sich durch historisches Lernen die Ziele der nationalen Orientierung, nationalen Kohärenz und nationalen 628 629 630 631 632 633

Völkel (2015), 76ff. Völkel (2017a), 23. Völkel (2017b), 94. Ebd. Ebd., 96f. Völkel (2017c), 94.

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Identität. »Nationalgeschichte hat in der Moderne eine strukturelle Orientierungsfunktion übernommen. Und genau diese Orientierungsfunktion von Geschichte bildet ja den Kern des aktuellen geschichtsdidaktischen Konsenses.«634 Das, so lässt sich zeigen, hat verheerende Folgen. Um sich in Gruppen (kulturell-national) orientieren zu können, muss man sich zugehörig fühlen. Zugehörigkeit zu einer Gruppe beinhaltet eine Abgrenzung gegenüber denen, die als anders, fremd wahrgenommen werden. Gleichzeitig werden ›die Anderen‹ von der Gruppe ausgeschlossen: die Wirkung ist exkludierend. Die Abgrenzung von den kategorial Anderen erkennt Völkel als »Differenzierungsmerkmal in einer komplexen und unübersichtlichen Welt«, wenn es um die eigene Zugehörigkeit und die Verortung des eigenen Selbst in der Gemeinschaft geht.635 Sie rückt solche Denk- und Differenzierungsprozesse in den Kontext historischer Bewusstseinsbildung und bringt sie mit der Auseinandersetzung mit (nationaler) Geschichte als Meistererzählung in Verbindung:636 »Dieses [Denkmuster, Anmerkung F.R.] wird […] über die institutionalisierte Kommunikation von Geschichte in plurale und heterogene Nationalstaaten eingeführt.«637 Kommuniziert wird die Geschichte der Ethnie, der unsichtbaren Allgemeinen638, der eine »größere Kontinuität zum Ursprung zuerkannt wird«639. Im Geschichtsunterricht wird kulturell-nationale Orientierung, kulturell-nationale Kohärenz und kulturell-nationale Identität institutionalisiert verfolgt – durch Abgrenzung und Ausgrenzung von Anderen. Das führt zu einem weiteren Gedanken. Der Nationalstaat zeichnet sich durch staatliche Institutionen und sein Territorium aus; ein gemeinsames Staatsgebiet wird bewohnt: darüber (und über die gemeinsamen ›Wurzeln‹) lässt sich Zugehörigkeit und Gemeinschaft konstruieren. Die Ethnie als homogene Gemeinschaft kann ihre eigenen historischen Ursprünge, die eigene Geschichte, mit der Kultur und Geschichte der Nation in Verbindung bringen und auch so erzählen.640 Sie definiert sich über ihre eigene unilineare Geschichte; der Zusammenhalt innerhalb der nationalen Gemeinschaft ergibt sich demzufolge aus der gemeinsamen kulturell-nationalen Rah-

634 Völkel (2017a), 19. Die Ausrichtung an der Nationalgeschichte birgt darüber hinaus die Gefahr, koloniale Denkmuster zu reproduzieren, was Völkel (2015), 84f.) aufgreift und als weiteres Problem der kulturellen Orientierungfunktion historischen Lernens erkennt. Sie kritisiert, dass in der »Trias Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur – historische Identität in kolonialer Blick verzeitlicht hat« (Völkel (2015), 87). 635 Völkel (2017c), 91. 636 Ebd. 637 Ebd., 91f. 638 Völkel (2017b), 106. 639 Ebd. 640 Ebd., 93ff.

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mung: Kultur gilt als zentrale Bezugsgröße der Identität einer Nation.641 »Historische Erfahrungen eines zumeist als sesshaft gedachten Nationalkörpers werden auf diese Weise zum Maßstab des Erinnerns.«642 Das führt zur Konstruktion der ethnisch homogenen Nation als Gemeinschaft. Ihr stehen andere gegenüber, die nicht zu ihr gehören. Es entsteht eine Vorstellung von ›wir‹ mit einer gemeinsamen Geschichte, die sich in der Geschichte der Nation verorten kann. Dem entgehen stehen die ›Anderen‹ mit anderen Geschichten. Ihre Geschichten unterscheiden sich von der Historie der Gruppe; sie sind in der Geschichte der Nation nicht zu finden.643 Ein Zugehörigkeitsgefühl von ›wir‹ ist nicht vorstellbar, ohne dass in Abgrenzung davon ein ›anders‹ gegenübersteht. Ohne diese Dichotomie bliebe Zugehörigkeit bedeutungslos. Der Gedanke von Zugehörigkeit und Abgrenzung als dichotome Konstruktpole lässt sich bspw. mit Kellys Annahme zur Dichotomie persönlicher Konstrukte644, s. Kapitel 3.4.1.1, belegen; konstruiert sich eine Nation gemeinschaftlich über eine verbindende kulturell-nationale Bezugsgröße, schließt sie sogleich andere davon aus. Sie verfügt über ein Konstrukt mit dem Differenzierungsmerkmal ›wir – die anderen‹. Folgt aus der Sinnkonstruktion des ›wir‹ und der ›Anderen‹ ein Anspruch auf das Territorium des Nationalstaats und durch die Nation, werden Problematik und Gefahr sehr deutlich.645 Völkel spricht mit Verweis auf Assmanns Überlegungen zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis bei der Geschichte einer Nation von einem »transgenerationellen Bindeglied.«646 Die gemeinsame Erzählung verknüpft »die gleichen Menschen kulturell miteinander.«647 Sie ermöglicht Identifikation und Identitätsbildung über die gleiche Kultur. Daraus folgt ein Geschichtsverständnis, das sich linear auf seinen traditionalen Ursprung, eine kohärente Geschichte, bezieht. Das führt zu einer elitären Sichtweise »über die Kommunikation einer lebensweltlich verwurzelnden, auf kulturelle Kohärenz hin ausgerichtete Geschichte in einer Gesellschaft unter Gleichen.«648 Eine »historisch-nationalekulturelle Identität«649 bildet sich heraus. »Historische, kulturelle und nationale Identität [können] im Grunde synonym gedacht«650 werden. Dieses Identitätskonstrukt vermag es, in einer komplexen Welt Antworten und Zukunftsvorstellungen zu erzeugen. Es besteht, so die These, keine Option, andere Einflüsse, 641 642 643 644 645 646 647 648 649 650

Völkel (2017b), 97. Lücke (2016), 59. Völkel (2017c), 106. Kelly (1986), 72. Völkel (2017c), 100. Ebd., 99. Ebd. Ebd., 105. Ebd., 104. Völkel (2015), 79.

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die sich nicht auf den linearen Ursprungsgedanken einer Nation als Gemeinschaft stützen, als kultur- und identitätsprägend einzubeziehen. Solange von einer dominanten Kultur, die sich lediglich in ihrer linearen historischen Dimension versteht und von anderen kulturellen Einflüssen unberührt bleibt, ausgegangen wird, erscheint eine Veränderung unmöglich. Rüsen erkennt die Problematik, die sich aus der Bezugsgröße der Nation/Kultur in (veränderten) Gesellschaften als Einwanderungsgesellschaften ergibt.651 Er spricht sich für eine »Einheit der Menschheit durch die Vielheit der Kulturen«652 aus. Worin genau diese Einheit bestehen kann, bleibt ungeklärt. »Sie [die Dominanzkultur, Anmerkung F.R.] ist ›verwurzelt‹ in der Geschichte der Nation, damit zivilisiert und verlässlich.«653 Vor dem Hintergrund erscheint es naiv und unmöglich, von einer Einheit verschiedener Kulturen innerhalb einer Nation auszugehen. In einer Nation ist eine Kultur, eine Geschichtskultur, dominant prägend: es ist die Kultur der dominanten Gemeinschaft. Die Geschichte der ›Anderen‹, die nicht dazu gehören, wird nicht erzählt, so Völkel mit Blick auf eine Hierarchisierung von Kultur(en) und Geschichte(n).654 Die Geschichten anderer existieren, erscheinen aber nicht relevant (für die dominante Ethnie); die anderen Individuen und ihre Geschichten, werden marginalisiert. Diskriminierung, »Ethnozentrismus, Xenophobie und Rassismus«655 sind die Folge. Zugehörigkeit lässt sich, unabhängig davon, wie sehr sich Menschen, die aufgrund ihrer Geschichte nicht zur dominanten Nation gehören, bemühen – Völkels Argumentation folgend – nicht erreichen. Sie gehören schlicht nicht dazu. Es ist kaum anders vorstellbar, als dass sich Menschen, die sich nicht zugehörig fühlen können, marginalisiert, ausgeschlossen und diskriminiert fühlen; sie werden wohl unzufrieden. Möglicherweise wird dadurch eine Spirale in Gang gesetzt, die von gegenseitiger Abgrenzung und Exklusion geprägt ist; eine Tendenz, die gefährliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.656 Geschichtsbewusstsein »manifestiert sich konkret in der Geschichtskultur einer Gesellschaft.«657 Die Geschichtskultur an sich ist, wie gezeigt, aktuell noch nicht inklusiv; so begibt sich Lücke auf die »Suche nach einer inklusiven Erin-

651 652 653 654 655 656

Rüsen (2008), 8. Rüsen (2002a), 229, kursiv im Original. Völkel (2017c), 106. Ebd., 107. Ebd., 105. Vorschläge, wie mit dem Problemkomplex umgegangen werden könnte gibt Völkel (2017c), 110ff.). Die Argumente können in der vorliegenden Arbeit nicht weiter nachvollzogen werden, da sie den Rahmen der Arbeit verlassen würden. Ebenso unternimmt auch Lücke (2016), 63) den Versuch, eine inklusive Erinnerungs- und Geschichtskultur zu denken, um historisches Lernen vor diesem Hintergrund möglich werden zu lassen. 657 Rüsen (2008), 121 kursiv im Original.

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nerungskultur«658, die jeden Menschen einschließt. Die Dringlichkeit der Suche erscheint groß. Und dennoch ist grundsätzlich zu überlegen, ob historisches Lernen überhaupt kulturelle Orientierung, Identität und Kohärenz verfolgen sollte. Es erscheint notwendig, den kulturellen Bezug zugunsten inklusiver Ansprüche zu verändern. Eine Diskussion, die an anderer Stelle unbedingt weiterzuführen ist. Steht historisches Lernen im Zusammenhang mit Kultur, linearer Geschichte einer dominanten Gemeinschaft, Politik, Ethnien und Nationalstaaten in Verbindung, werden institutionalisiert fragliche Denkmuster gefördert. Verheerende Folgen für das Zusammenleben (in einer Einwanderungsgesellschaft, allerdings auch global gewendet) sind die Folge. Der »Definition von Geschichtsbewusstsein liegt also ein ethnozentrischer und antigeschichtlicher Gedanke zu Grunde, der über die erinnerungskulturell angebundenen historischen Narrationen die Ethnie immer wieder neu legitimiert«659 wird. Daher ist kritisch zu überlegen, inwiefern historisches Lernen an und durch national orientierte Meistererzählungen660 mit dem Ziel einer kohärenten historischen Identität661 in einer pluralen und heterogenen Gesellschaft überhaupt sinnvoll sein kann. Es erscheint außer Frage: Geschichtsbewusstsein als Ziel historischen Lernens ist vor den angeführten Überlegungen nicht zu verteidigen. Bestünde die Möglichkeit, die eingangs eingebrachten »Kollektivsingulare«662, Kultur, Nation, Geschichte und plural als Kulturen, Identitäten, Nationen und Geschichten zu denken, böte das, so die begründete Vermutung, die Möglichkeit, Gemeinschaften nicht exklusiv zu verstehen. Das, so die These, erlaubt Geschichtsbewusstsein aktuell aber nicht. Ebenso ist der Primat der politischen Geschichte zu hinterfragen. Historisches Lernen ließe sich auch unabhängig seiner politischen Dimension denken. Wie Kapitel 2.1.4 zeigt, äußert sich Geschichtsbewusstsein in Narrationen. Soll sich historisches Lernen allerdings nicht in vom Ursprung her gedachten Geschichten zeigen, ist die historische Narration an sich ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Völkel verweist darauf, dass Geschichten als Erklärgeschichten vorliegen könnten und im gegenseitigen Dialog erklären und verstehen ließen: So könnte ein Austausch entstehen.663 Menschen könnten ihre unterschiedlichen, pluralen Geschichten und Sinnbildungen nachvollziehen. Ob hierfür historische Narrationen wirklich notwendig sind, ist zu prüfen. Es erscheint sinnvoll, das 658 Lücke (2016), 58. 659 Völkel (2017a), 45. 660 Rüsen (1998), 23. Rüsen stellt hier fest, es gebe »keine kulturellen Identitäten ohne Meistererzählungen«. 661 Koselleck (2017), 267. 662 Ebd., 56. 663 Völkel (2017c), 116f.

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Begriffspaar Erklären und Verstehen, das geschichtsdidaktisch bereits relevant ist, zu fokussieren. Es könnte an die Stelle der historischen Narration treten. Eine Ausrichtung von Erklären auf Erzählen, wie Rüsen es vorschlägt, ist nicht sinnvoll. So würde sich die Erklärung der Erzählung unterordnen und ihre Chancen aufgeben. Vor dem Hintergrund kognitiv-sprachlicher Anforderungen wirkt eine Narration außerdem noch stärker exkludierend als Erklären und Verstehen, wie Kapitel 2.4 erörtert. Eine Veränderung würde auch ein Umdenken in Bezug auf historische Kompetenzen nach sich ziehen. Ebenfalls wären bestehende didaktische Denkfiguren in Bezug auf das Begriffspaar Erklären und Verstehen zu durchdenken. Aktuelle Ziele wären zu hinterfragen, zu verändern und Neue zu entwickeln.664 Die Probleme von Geschichtsbewusstsein zeigen sich zum einen in der historisch-kulturell-nationalen Rahmung von Geschichtsbewusstsein. Schüler*innen mit einer anderen Geschichte als der unilinearen angebotenen Geschichte werden marginalisiert. Es ist aber auch sein Menschenbild, das per se ausgrenzend wirkt und bestimmte Menschen kategorisch (von der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein und historischem Lernen) ausschließt. Im folgenden Kapitel wird die vorangegangene Kritik zum Fokus auf kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten gebündelt und diskutiert, warum Geschichtsbewusstsein mit seinen Facetten nicht (mehr) das Ziel historischen Lernens bleiben kann. 2.1.8.2 Der fähige Mensch Zentrale Annahmen und Denkfiguren zum reflektierten Geschichtsbewusstsein werden nun systematisch daraufhin überprüft, inwiefern sie bestimmte Fähigkeiten voraussetzen, die auf eine Exklusivität von historischem Lernen hinweisen. Es ist der Frage nachzugehen, ob und inwiefern es sinnvoll und zielführend ist, Geschichtsbewusstsein als vorrangig kognitiv-sprachlichen Akt rationaler Vernunft zu begreifen. Wird das so vorgenommen, werden alle, u. a. von Straub angeführten weiteren Aspekte einer historischen Sinnbildung abgetrennt. Geschichtsbewusstsein ist aktuell an sprachliche und kognitive Kompetenz, »historisch-narrative Kompetenz«665, gebunden. Die Engführung lässt pragmatischinteraktionistische Bezüge außen vor, so Straubs Kritik.666 Welche Chancen pragmatisch-interaktionistisch orientierte Aspekte historischer Sinnbildung bereit halten, diskutiert Kapitel 2.2. Auch Ricoeur stellt fest, dass historisches

664 Ebd., 119. Völkel führt Ambiguitätstoleranz als zentrales Ziel historischen Lernens an, die sich in verschiedenen Kompetenzen zeigen könnte. 665 Straub (1998), 103; vgl. auch Gautschis Kompetenzmodell mit historischem Erzählen im Mittelpunkt (Gautschi (2016), 51). 666 Ebd., 105.

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Denken und Erzählen einen »fähigen Menschen«667 voraussetzen, der bestimmte kognitiv-sprachliche Fähigkeiten mitbringen muss, um historische kognitivsprachliche Prozesse vollziehen zu können. Er differenziert grundlegende notwendige Fähigkeiten, um sich rational, bewusst und kognitiv-sprachlich mit Vergangenheit beschäftigen zu können. Zum einen geht er von den Fähigkeiten Sprechen-Können, Sich-ErinnernKönnen und Für-sein-Handeln-Einstehen-Können668, zum anderen von Handeln-Können und Erzählen-Können669 aus. Völkel kritisiert, dass »Geschichtsverständnis seit der Aufklärung an den denk- und sprach-fähigen sowie vernunftbegabten Menschen«670 ausgerichtet ist. Die Fähigkeiten sind nicht losgelöst voneinander vorstellbar: Sprechen-Können alleine bspw. genügt nicht, um Sinnbildungsprozesse über Zeiterfahrungen als Narration hervorbringen zu können; Sich-Erinnern-Können, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, ist nicht ausreichend, um bspw. Handeln-zu-Können. Alle Fähigkeiten müssen in einem komplexen bewussten und kognitiv-sprachlich reflektierten Sinnbildungsprozess so aufeinander bezogen werden, dass eine sinnvolle und tragfähige Narration entsteht und geäußert wird. Nur das führt, so die aktuelle Annahme, zu Handlungs- und Orientierungsfähigkeit. Für diesen Sinnbildungsprozess sind, so die These, weitere Fähigkeiten notwendig. Die von Ricoeur eingeführten Fähigkeiten sind vor dem Hintergrund aktueller geschichtsdidaktischer Theoriebildung fortzuführen; dafür wird auf die einzelnen Aspekte historischen Lernens der vorangegangenen Kapitel zurückgegriffen. Schüler*innen müssen etwas Wahrnehmen-Können, sie müssen einen abstrakten historischen Gegenstand als solchen wahrnehmen und Deuten-Können sowie Kontextualisieren-Können. Auf diese Fähigkeiten verweisen Rüsens Überlegungen zu den Operationen, Wahrnehmen, Deuten und Orientieren, was von motivationalen Aspekten begleitet ist. Das beinhaltet auch die Fähigkeit, Quellen der Vergangenheit in ihrer Abständigkeit sowie Alterität zur jeweiligen Gegenwart zu erkennen und sinnvoll einzuordnen. Ohne vergangene Quellen und Sachverhalte historisch einzubetten und sie in ihrem historischen Kontext zu deuten sowie zu bewerten, wäre die Dimension einer historischen Kontextualisierung zu vermissen. Schüler*innen müssen zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden und mögliche Ähnlichkeiten und Unterschiede, Aspekte von Kontinuität und Wandel wahrnehmen und in ihren jeweiligen Bezügen deuten.

667 668 669 670

Ricœur (2004), 47. Ebd., 47–54. Ebd., 531. Völkel (2017a), 48.

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Die Lernenden müssen Fähigkeiten zum Analysieren-Können – wie erwähnt – Deuten-Können und Urteilen-Können haben; darauf verweisen Jeismanns Überlegungen zu historischen Analysen, Sachurteilen und Wertungen. Sie müssen Entscheidungen und Handlungen Begründen-Können. Dazu sollten sie ebenso Fragen-Können oder Fragen-Verstehen-Können, um Fragestellungen, die sich auf eine historische Dimension beziehen, wahrzunehmen. Auf die Fragen finden sie narrative Sinnzuweisungen als Antworten – in Form von der von Ricoeur angeführten Fähigkeit zum Erzählen-Können. Auch Gautschis Überlegungen zu historischen Kompetenzen verweisen darauf, dass diese ausschließlich kognitiv-sprachlich und rational orientiert vorliegen; zusätzlich zu den bereits genannten Voraussetzungen (WahrnehmenKönnen, Erzählen-Können und Urteilen-Können) führt Gautschi die Kompetenzen Erschließen-Können, Interpretieren-Können und Reflektieren-Können ein. Die Fähigkeiten, über die Schüler*innen verfügen müssen, um historisch zu lernen und Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, zeigen sich sehr vielseitig und komplex. Das führt zur begründeten Vermutung, dass sie für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (und andere Schüler*innen ohne Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung) eine Überforderung darstellen. Einige Fähigkeiten sind bereits mit historischen Denkfiguren verbunden; nachstehend wird überlegt, wie weitere fachdidaktische Aspekte zum Geschichtsbewusstsein vor dem Hintergrund kognitiv-sprachlicher Fähigkeiten und rationaler Vernunftorientierung einzuordnen sind. Insbesondere die historische Narration als Fundamentaloperation des Geschichtsbewusstseins, wird kritisch beleuchtet. Wie Kapitel 2.2.3 bespricht, kommt der Fähigkeit Handeln-Können vor dem Hintergrund von Überlegungen zum Zeitbewusstsein eine besondere Rolle zu; sie ist die einzige Fähigkeit, die sich auch unabhängig von kognitiv-sprachlichen und rational bzw. bewusst orientierten Fähigkeiten einordnen lässt; ein Gedanke, der an späterer Stelle wieder aufzugreifen ist. Das Menschenbild, das reflektiertem Geschichtsbewusstsein als kognitivsprachlich reflektierte Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten zu Grunde liegt, lässt sich – dem cartesianischen Dualismus zufolge – auf der Seite des Geistes verorten.671 Recht allgemeingültig stellt Rüsen fest, dass »Rationalität zum Sinnkriterium des Historischen«672 wird. Er bezieht Rationalität auf Geschichtswissenschaft und -didaktik. In diesem Moment ist die Bezugsgröße für beide Disziplinen gleich: rationale Vernunft. Bei der Orientierung an Rationalität zeigen sich grundlegende Schwierigkeiten – insbesondere, aber nicht aus671 Völkel (2017a), 62. 672 Rüsen (2001b), 70.

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schließlich, für Schüler*innen mit geistiger Behinderung. Das rational orientierte cartesianische Menschenbild hierarchisiert, so kritisiert Völkel, den Geist vor dem Körper; Wissenschaften und schulische Lernprozesse gewähren geistigen Prozessen Vorrang und verfolgen eine rationale und kognitiv-sprachlich reflektierte Auseinandersetzung mit Inhalten.673 Historisch Sinnbildung geschieht aktuell ausschließlich vor dem Hintergrund bewusster, rational reflektierter und kognitiv-sprachlich reflektierter Denk- und Narrationsprozesse. Wie in den voranstehenden und nachfolgenden Ausführungen zu erkennen, lassen sich in der geschichtsdidaktischen Theoriebildung etliche Beispiele für rational und kognitiv-sprachlich orientierte Paradigmen finden; das verweist zum einen darauf, dass Schüler*innen mit geistiger Behinderung kategorisch in der Theorie marginalisiert werden; zum anderen, verbirgt sich in der alternativlosen rationalen Vernunftorientierung und dem Fokus auf kognitiv-sprachliche Denk- und Reflexionsprozesse ein weiterer Grund für die geringe Bedeutung, die historische Lernprozesse im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (noch immer) besitzen. Wenn die didaktische Theoriebildung von derart eindimensionalen kognitiv-sprachlichen Zielen beim historischen Lernen ausgeht und ihre Modelle an geschichtswissenschaftlichen Forschungsprozessen orientiert, wie Rüsens und Barricellis Überlegungen zur Historik und Geschichtsdidaktik aufgezeigen, erscheint es unmöglich, Sinnbildungsprozesse aller Schüler*innen theoretisch zu begründen. Gleichzeitig rückt historisches Lernen für Schüler*innen mit kognitivem Förderanspruch in weite Ferne. Ohne eine Veränderung und Erweiterung der Theorie erscheint es unmöglich, sonderpädagogische Aspekte so anzubinden, um allen Schüler*innen historische Lernprozesse anbieten zu können. Darüber hinaus zeigt sich eine weitere Problematik, wendet man sich nochmal der Stellung des Subjekts und Objekts zu. Völkel zieht, wie erwähnt, das Fazit, dass reflektiertes Geschichtsbewusstsein als Subjekt, die Schüler*innen als Objekte gesehen werden, was gravierende Folgen hat.674 »Das ›denkende Ich‹ interessiert in diesem Zusammenhang [bei empirischen Untersuchungen, Anmerkung F.R.] nicht mehr als Subjekt, als denkendes, wollendes und handelndes Wesen, sondern ›nur noch‹ als Träger von Geschichtsbewusstsein.«675 Wird der/die Schüler*in so wahrgenommen, führt das zu einer Verkürzung seiner selbst als Subjekt bei Lernprozessen. Völkel spricht vom »denkenden Ich«676, wenn sie von den Lernenden spricht. Mit Fokus auf Geschichtsbewusstsein und seiner kognitiv-sprachlichen Ausrichtung lässt sich dieser Bezeichnung folgen; dennoch ist deutlich erkennbar: wenn Ge673 674 675 676

Völkel (2017a), 64. Völkel (2015), 75f. Ebd., 75. Ebd.

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schichtsbewusstsein als Subjekt der Geschichtsdidaktik sowie des Geschichtsunterrichts und das denkende Ich als Objekt gilt, ist dringend zu fragen: welche Stellung haben dann Schüler*innen, die Geschichte nicht in der Weise denken können, wie es in der Disziplin diskutiert und bei historischen Lernprozessen verfolgt wird? Die Antwort erscheint einfach: Schüler*innen, die nicht als Träger*innen von Geschichtsbewusstsein gelten, haben keine Stellung; sie kommen in der Didaktik nicht vor. Für sie, so die ›plausible‹ Konsequenz kann es keine adäquaten historischen Lernanlässe geben. Richtet sich Geschichtsunterricht nach den didaktischen Maßgaben zum Geschichtsbewusstsein, so haben die betroffenen Schüler*innen auch im Geschichtsunterricht keinen Platz, geschweige denn werden sie als Subjekte wahrgenommen. Offenkundig zeigt sich die exkludierende Wirkung der geschichtsdidaktischen Parameter und des Geschichtsunterrichts, soll reflektiertes Geschichtsbewusstsein das alleinige Ziel sein. Ein Zustand, der schwer zu verteidigen ist. Reflektiertes Geschichtsbewusstsein setzt die angeführten Fähigkeiten voraus und erweitert sie zusätzlich um die bereits mit Verweis auf Gautschis Überlegungen angeführte Voraussetzung Reflektieren-Können. Es geht nicht nur darum, verschiedene Zeitebenen wahrzunehmen und bewusst, kognitiv und sprachlich miteinander zu verbinden, also ohnehin komplexe Fähigkeiten. Vielmehr sollen sich die Lernenden dessen außerdem bewusst sein und den gesamten Prozess auf eine reflektierte Art und Weise vollziehen. Sie müssen dann fähig sein, von ihren Voraussetzungen, Denk- und Sprechprozessen zu abstrahieren, darüber sowie sich nachdenken können. Es ist offenkundig, dass die Reflexionsebene eine weitere kognitiv-sprachliche und rationale Ebene darstellt, die für viele Schüler*innen eine Barriere oder sogar unüberwindbare Grenze beinhaltet. Dabei spricht sich Rüsen gegen eine kognitivistische Verengung bei Sinnbildungsprozessen bzw. die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein aus. Er stellt fest, dass auch die prä- und außerkognitiven Aspekte Beachtung finden müssen.677 Wie genau die Aspekte berücksichtigt werden können, bleibt ungeklärt und wird in Rüsens Ausführungen nicht weiter systematisch verfolgt. Das lässt die Vermutung zu, dass prä- und außerkognitive Aspekte für die aktuelle geschichtsdidaktischer Theorie nicht relevant (genug?) erscheinen. Völkel stellt fest, dass sinnliche Wahrnehmungen, wie sehen, riechen, schmecken, hören, fühlen und damit alle Sinne nicht primär an Intellekt gebunden sind.678 Sinn und Sinnbildungsprozesse sind vielschichtig und weisen verschiedene Dimensionen auf, die über bewusste und kognitiv-sprachliche Aspekte weit hinausgehen. Vor dem Hintergrund ist die kognitiv-sprachliche Verengung zu kritisieren.

677 Rüsen (1994/95), 15. 678 Völkel (2017a), 134.

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Jeismann führt an, dass die bereits aufgeführten drei Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, Analyse, Sachurteil und Wertung, nicht nur kognitiv zu betrachten sind; sie sind affektiv, emotional und von anderen Aspekten beeinflusst.679 Der Gedanke ist wichtig, fächert er doch die Vielschichtigkeit historischen Bewusstseins auf. Allerdings verlässt er die kognitiv-sprachliche Ebene nicht; die drei Dimensionen sind an Narration mit den entsprechenden Voraussetzungen gebunden.680 Jeismann stellt Geschichtsbewusstsein lediglich weitere Aspekte zur Seite, die zusätzlich zum Fokus auf Kognition und Sprache vorhanden sind. Systematisch und differenziert ausgearbeitet, werden sie auch hier nicht. Die Formel Sinnbildung über Zeiterfahrung ist hochkomplex und kognitiv; sie lässt sich nur sprachlich-narrativ abbilden. Historische Sinnbildungsprozesse sind, den fachdidaktischen Annäherungen zufolge, nur dann möglich und tragfähig, wenn sie in einer Narration geäußert werden. »Zeitsinn […] [wird] über sinnbildende Erzählungen zu Zeiterfahrungen konstruiert.«681 Kontinuität und Kohärenz sind ohne Erzählungen, so die konsensuale Theorie, nicht möglich. Erzählen ist ja die verbalsprachliche Äußerung von Sinnbildung über Zeiterfahrung, die aus Zeit Sinn konstruiert. Das verortet Barricelli, ähnlich wie Rüsen, sowohl in Geschichtswissenschaft als auch Geschichtsdidaktik mit Geschichtsbewusstsein als Ziel.682 Sinn, Sinnbildungsergebnisse und Geschichtsbewusstsein zeigen sich einzig in einer Narration, die zu einer Handlung führt. Grundvoraussetzung für Handlungsfähigkeit ist die orientierende Erzählung. Schüler*innen müssen über alle angeführten Fähigkeiten verfügen, wenn sie als Träger*innen von Geschichtsbewusstsein im Zeichen von Sinnbildung über Zeiterfahrung gelten wollen. Für viele Lernende erscheint das utopisch. Eine historische Narration gilt, wie gezeigt, als Fundamentalkategorie und Basisoperation von Geschichtsbewusstsein. Dem aktuellen fachdidaktischen Konsens folgend, lassen sich die verschiedenen Narrationen der Schüler*innen unterschiedlichen Sinnbildungs- bzw. Erzähltypen zuordnen. Rüsens, Körbers, von Borries’ und Pandels dargestellten Annäherungen an historische Sinnbildungstypen gehen von entsprechenden kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen aus. Jeder Typ zeigt sich rein kognitiv-sprachlich und erzeugt eine Barriere, die notwendigerweise überschritten werden muss, damit von historischer Sinnbildung zu sprechen ist. Es ist auszuschließen, dass alle Schüler*innen in der Lage sind, alle Sinnbildungs- und Erzähltypen zu erreichen; die Exklusivität ist offensichtlich. Musenberg stellt mit Blick auf Rüsens Typologie die 679 680 681 682

Jeismann (1978a), 60. Axel Becker (2012), 323. Völkel (2017a), 106. Barricelli (2015), 6.

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berechtigte Frage, ob bei allen Schüler*innen mit geistiger Behinderung ohne weiteres anzunehmen ist, dass sie zu kritischer oder genetischer Sinnbildung fähig sind. Er vermutet, dass das nicht allen gelingt.683 Seine Hypothese betrifft wohl nicht nur Schüler*innen mit Förderbedarf. Auch die aus Kapitel 2.1.4 zentralen Ordnungsmittel einer Narration, Sequenzierung, selektive Verknüpfung, Retrospektivität, Partikularität, Konstruktivität, Partialität, ihr Interpretations- und Imaginationscharakter sind ohne die dargestellten kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten nicht vorstellbar. Eine Erzählung zeichnet sich durch bestimmte Muster aus; sie hat einen Anfang und Schluss, ein identifizierbares Referenzsubjekt, ein fünfteiliges Geschichtenschema, Dramatik und Redefiguren. Das setzt hochkomplexe kognitiv-sprachliche Fähigkeiten voraus. In einer Erzählung zeigen sich kognitiv-instrumentelle, ästhetisch-expressive und auch normativ-evaluative Aspekte gleichzeitig. Das stellt einen weiteren Aspekt dar, der sich nicht unabhängig von gewissen Voraussetzungen deuten und historisches Erzählen exklusiv werden lässt. Auch von Borries’ Vorschlag, Narrationen in bestimmten Mustern mit kausalen Verkettungen zu erzählen, verweist auf die eingangs angeführten Fähigkeiten. Wie Kapitel 2.1.4 darstellt, erkennt Rüsen nicht- und pränarrative Momente von Sinnbildung; sie reichen zur sinnhaften Orientierung und Handlung in der Lebenswelt aber nicht aus. Sinnbildung muss narrativiert werden, um zu tragfähiger Orientierungs- und Handlungsfähigkeit zu führen. Damit schränkt Rüsen nicht- und vorsprachliche Sinnbildungsprozesse ein und erkennt ihnen keine historische Dimension sowie keinen ausreichenden Stellenwert zu, um orientiert leben zu können. Auch seine Überlegungen zu narrativen Abbreviaturen zeigen keine Möglichkeit, auch Menschen, die nicht über die eingangs überlegten Fähigkeiten verfügen, historische Sinnbildung zu unterstellen; narrative Abbreviaturen verweisen auf Narrationen und sind demzufolge an kognitiv-sprachliche Momente gebunden. Sie müssen zwar nicht erzählt werden, ihr historischer Sinn erschließt sich aber nur, wenn eine Zeitverlaufsvorstellung ausgedrückt und nachvollzogen wird. Rüsen sieht Erzählen als »eine anthropologisch universelle Kulturpraxis der Zeitdeutung.«684 Die Annäherung an den historischen Erzählbegriff, wirft die Frage auf, wo sich darin Menschen wiederfinden können, die zu dieser universellen Kulturpraxis nicht in der Lage sind. Ihr Menschsein wird in Frage gestellt und erscheint prekär. Das ist inakzeptabel und unterstreicht die Orientierung am cartesianischen Menschenbild. Die Geschichtsdidaktik muss zwingend prüfen, ob sie diese Orientierung weiter aufrecht erhalten möchte.

683 Musenberg (2014), 62. 684 Rüsen (2001b), 43f.

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Barsch verweist darauf, dass Sprache immer heterogen und uneinheitlich ist, nämlich auf der pragmatischen Ebene durch den Einsatz von Sprache durch die verschiedenen Individuen.685 Er sieht in der sonderpädagogischen Herangehensweise, von den Stärken und den vorhandenen Fähigkeiten der Schüler*innen auszugehen, eine weitreichende Ressource für die geschichtsdidaktische Theorie; wie die Geschichtsdidaktik nun allerdings darauf reagieren soll, wenn Schüler*innen nicht zu den historischen Narrationen in der Lage sind, bleibt offen. Wie von den Stärken ausgegangen werden kann, wenn historisches Lernen an Kognition und Sprache gebunden bleibt, wird von Barsch nicht systematisch weitergeführt.686 Musenberg und Pech hingegen stellen dar, dass Überlegungen zu Narrativität nicht auf lautsprachliches Erzählen eingeschränkt werden müssen. Sie halten es für denkbar, Narrativität bspw. mit narrativem Lernen zu verbinden. Dann ließen sich unterschiedliche Erzählmöglichkeiten einbeziehen, die weit über lautsprachliches Erzählen hinausgehen und sich bspw. für Schüler*innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung aufgreifen lassen.687 Musenberg schlägt vor, Erzählungen als Narrationen durch Fotografien oder Bilder zu ergänzen und verweist auf die Vielfalt von Erzählen, was nicht nur verbalsprachlich gelingt.688 Die Gedanken erlauben es, einige der eingangs genannten Fähigkeiten als Voraussetzung auszuklammern; so erscheinen für Musenbergs Überlegungen nur die Fähigkeiten Wahrnehmen-Können und Deuten-Können notwendig. Den Gedanken, historisches Lernen auch unabhängig von Verbalsprache zu denken, greift Kapitel 2.2 auf. Alavi geht davon aus, dass historisches Erzählen generell zu fördern ist, wobei sie einen erweiterten Erzählbegriff in den Raum stellt, der für alle Schüler*innen möglich sein sollte.689 Wie ein solcher erweiterter Erzählbegriff genau theoretisch begründet und differenziert auszuarbeiten ist, bleibt offen und müsste weiter diskutiert werden. Ebenso ist zu erörtern, welche Fähigkeiten daran gebunden sind. Sollte sich auch ein erweiterter Erzählbegriff an verbalsprachlichen Narrationen orientieren, folgen auch daraus Einschränkungen. Historische Narrationen als zentrale Voraussetzung, um Geschichtsbewusstsein zu entwickeln und äußern, sind im aktuellen geschichtsdidaktischen Konsens ohne entsprechende kognitiv-sprachliche Fähigkeiten nicht möglich. Historisches Bewusstsein ist aktuell alternativlos an Sprache und kognitive Leistungen gebunden. Ohne Kognition, Sprache und vernunftgebundene Rationalität ist historische Sinnbildung, so der aktuelle Fachkonsens, nicht vorstellbar. Wie dargestellt, besteht ohne eine historische Narration keine Mög685 686 687 688 689

Barsch (2014b), 40. Ebd., 53f. Musenberg/Pech (2011), 233. Musenberg (2014), 78. Alavi (2016), 54.

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lichkeit, handlungsfähig zu werden. Dabei stellt sich die Frage, wie Schüler*innen handlungsfähig werden, obwohl sie nicht historisch narrativieren. Deutlich wird diese Überlegung folgendermaßen: Alle Schüler*innen der vorliegenden Arbeit erscheinen handlungsfähig. Es wirkt notwendig, Narrationen als Grundlage und Voraussetzung für die Entwicklung historischen Bewusstseins zu hinterfragen und Handlungsfähigkeit unabhängig von einer kognitivsprachlichen Narration einzuordnen. Weitere Überlegungen dazu folgen in Kapitel 2.2. Auch das Begriffspaar Erklären und Verstehen verfügt über kognitiv-sprachliche Barrieren, die sich nicht von allen Schüler*innen gleichermaßen überschreiten lassen. Dennoch sind Erklären und Verstehen mit kleineren Hürden verbunden als eine historische Erzählung. Alle eingangs überlegten Fähigkeiten gelten als Voraussetzung, um etwas erklären und verstehen zu können. Die Voraussetzungen, um etwas erklären und verstehen zu können, sind aber im Vergleich zu den vielseitigen und anspruchsvollen Kriterien einer historischen Narration weniger komplex. Beispielsweise muss eine Erklärung zwar kausale Beziehungen zwischen einzelnen Aspekten durch ein Aufzeigen von Ursachen und Folgen herstellen und äußern; sie muss aber nicht – anders als die Narration – über die Eigenschaften eines Anfangs und eines Schlusses verfügen; Erklärungen kommen ohne ein fünfteiliges Geschichtenschema, Dramatik und Redefiguren aus, anders als eine historische Narration. Auch eine Erklärung zeichnet sich durch einige Aspekte aus, die auch auf eine Erzählung zutreffen. Das deutet auf eine teilweise vergleichbare Komplexität hin. So ist eine historische Erklärung – wie eine historische Narration – selektiv verknüpfend, retrospektiv, partikular, konstruktiv, interpretierend, imaginär und partial; ein bedeutender Unterschied liegt in der Sequenzierung. Bei einer historischen Narration ist eine Sequenzierung entscheidend, zeichnet sie sich doch durch einen Anfang sowie Schluss und die Verbindung einzelner Ereignisse und Elemente miteinander aus; bei einer Erklärung sind diese Kriterien nicht notwendig. Insofern zeigt die Erklärung eine verminderte kognitivsprachliche Komplexität, was darauf verweist, dass mehr Schüler*innen eine (historische) Erklärung gelingen kann; exklusiv bleibt sie dennoch, da sie bewusst erfolgt und kognitiv-sprachliche Fähigkeiten zwingend erforderlich sind. Wie dargestellt, ist historische Sinnbildung nur dann als Solche einzuordnen, wenn sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf Inhalte bezieht, die zeitlich vor der eigenen Biografie liegen. Die biografische Zeitgrenze ist gedanklich zu überschreiten, um von historischem Lernen sprechen zu können. Diese Ausrichtung beinhaltet eine weitere kognitiv-sprachliche und vernunftbasierte Ebene. Die Fähigkeiten, Sich-Erinnern-Können, Wahrnehmen-Können, Deuten-Können, Kontextualisieren-Können, Analysieren-Können, ErschließenKönnen, Interpretieren-Können und Reflektieren-Können, in Verbindung mit einer historischen Narration zusätzlich dazu die Fähigkeiten Urteilen-Kön-

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nen, Begründen-Können, Fragen-Können (Fragen-Verstehen-Können), Sprechen-Können und Erzählen-Können werden voraussetzt. Um die eigene-biografische-Lebenszeit-gedanklich überschreiten-zu-können, müssen Schüler*innen eine weitere Fähigkeit mitbringen: die-eigene-Lebenswelt-gedanklich-verlassen-Können. Sie müssen von der eigenen Lebenswelt Abstrahieren-Können und in der Lage sein, abstrakte Sachverhalte, die sich losgelöst von ihrer eigenen Lebenswelt zeigen, wahrzunehmen, einzuordnen und ihre entsprechenden Denkprozesse zu versprachlichen. Auch das impliziert Hürden, die einige Lernende sicher nicht so überwinden können, dass ihnen historische Sinnbildung zu unterstellen ist. Insbesondere für (viele) Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung dürfte das zutreffen. Dabei ließe sich durch die eigene Biografie historisch lernen. Ein weiterer Aspekt historischen Lernens verweist auf grundsätzliche Barrieren. Quellen der Vergangenheit beziehen sich nur auf vorbiografische Quellen, an denen sich eine Alteritätserfahrung als Differenzerfahrung zwischen Damals und Heute wahrnehmen und deuten lässt. Sie sollen sogar in ihrer Widersprüchlichkeit zueinander wahrgenommen und analysiert werden. Für diese hochkomplexen Prozesse sind alle vorgestellten Fähigkeiten vonnöten. Besonders deutlich zeigen sich die Barrieren darin, dass die Schüler*innen in der Lage sein müssen, eine Quelle als Relikt der Vergangenheit und in ihrer Widersprüchlichkeit zu anderen Quellen wahrzunehmen und zu deuten; dazu müssen sie sich erinnern, kontextualisieren, analysieren, begründen, urteilen, fragen, erschließen, interpretieren, reflektieren und schließlich sprechen und erzählen; zum anderen soll das Relikt unabhängig von ihrer eigenen Lebenszeit und Lebenswelt sein, was eine weitere Abstraktionsebene beinhaltet. Sie müssen von der eigenen Lebenswelt abstrahieren können. Die Gesamtheit der Fähigkeit wirkt exkludierend. Bezieht sich die Wahrnehmung und Erfahrung von Alterität ausschließlich auf kognitive Perspektivenübernahmen, verbunden mit dem Ziel, ein selbstreflektiertes Werturteil zu formulieren, verbirgt sich hier ein Fokus auf komplexen kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten. Wahrnehmen, Erkennen und Einordnen unterschiedlicher Perspektiven ist entscheidend. Auch die Annahmen für Alterität (-serfahrungen) erscheinen exklusiv. Alterität ist aktuell damit verbunden, unterschiedliche Erfahrungs- und Deutungsmuster zu erkennen. Schüler*innen, die sich Alterität nicht kognitiv-sprachlich reflexiv annähern können, wird auch in dieser Hinsicht die Möglichkeit zur historischen Sinnbildung abgesprochen. Ein weiterer und abschließender Aspekt zeigt eindrücklich, inwiefern die Ausrichtung historischer Lernprozesse auf Rationalität, Sprache und Kognition gefährlich erscheint. Historische Orientierung gilt für Rüsen, wie gezeigt, als

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»lebensermöglichender Standpunkt.«690 Historische Sinnbildungs- und Narrationsprozesse werden zur anthropologischen Konstante; Erzählen gilt als kulturelle Praxis. Ohne historische Orientierung durch Erzählen scheint Leben nicht möglich. Zum einen ist der kulturelle Bezugsrahmen dessen mit Hinblick auf seine Gefahren zu hinterfragen und kritisieren. Zum anderen müssen die Überlegungen, sind sie als anthropologische Konstante zu verstehen, ausnahmslos für alle Menschen gelten. Das ist aber nicht der Fall. Die Prozesse, auf die sich die historischen Sinnzuweisungen beziehen, sind durch ihre kognitivsprachliche und rationale Ausrichtung so beschaffen, dass sie einige Menschen ausschließen: Für diese Menschen (mit geistiger Behinderung), die nicht oder nicht ausreichend über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, um Vergangenheit mit Sinn zu versehen und Sinnzuweisungen zu narrativieren, gilt diese anthropologische Konstante nicht. Es handelt sich um eine Konstante fähiger Menschen. Verfügen Menschen nicht über die entsprechenden Voraussetzungen, erscheint ihr Status als Mensch prekär. Eine Konsequenz, die nicht zu akzeptieren ist. Schulz-Hageleit setzt sich mit der Frage auseinander, ob unbewusster Sinn beim historischen Lernen eine Rolle spielen kann; Sinn wird auch als Bedeutungszuweisung verstanden.691 Schulz-Hageleit stellt die Hypothese auf, »dass nicht das Unbewusste als solches, sondern das Bewusstmachen von Unbewusstheiten Sinn generiert, und zwar dadurch, dass ein Netz von Bedeutungsund Beziehungszusammenhängen entsteht bzw. weiter entwickelt, verstärkt und verfeinert wird.«692 Darüber hinaus erkennt Schulz-Hageleit »Sinn als Aufgabe und Lebensperspektive.«693 Sinnbildung ist für ihn vorsprachlich-unbewusst und im Rahmen kommunikativ-produktiver Beziehungen möglich. Beide Ebenen versteht er als »fast sinngleich.«694 Geschichtsbewusstsein – verstanden als bewusst und kognitiv-sprachlich reflektiert – so resümiert Schulz-Hageleit, entfaltet »keinen vollständigen und existenziell tragfähigen Sinn.«695 Er plädiert dafür, beide Aspekte, sowohl Unbewusstes als auch Bewusstes als zentrale Aspekte von Geschichtsbewusstsein aufzunehmen.696 Die aufgezeigte Ausrichtung von Geschichtsbewusstsein an rein bewussten, kognitiv-sprachlichen sowie rational vernunftbasierten narrativen Aspekten ist grundsätzlich zu kritisieren und vor dem Hintergrund einer inklusiven Theorie zu prüfen. Völkel kommt zur These, dass Geschichtsbewusstsein durch die 690 691 692 693 694 695 696

Rüsen (2013), 42. Ebd., 43. Ebd., 52. Ebd., 52f. Ebd., 55. Schulz-Hageleit (2004), 55. Ebd.

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Fachdisziplin vorwiegend auf seine kognitiv-narrativen Aspekte reduziert und nicht angemessen in seiner Komplexität abgebildet wird.697 Einige Schüler*innen, die von historischem Lernen zusätzlich aufgrund kultureller Aspekte ausgeschlossen werden, werden in doppelter Hinsicht durch die Theorie marginalisiert. Das sollte Konsquenzen für eine inklusive Theoriebildung haben. Völkel schlägt vor, sich dem inneren Zeitbewusstsein von Menschen zuzuwenden. Möchte man der kulturell-heterogenen und kognitiv-sprachlichen Engführung nicht folgen, so besteht die Möglichkeit, historisches Lernen unter phänomenologischen Aspekten zu denken und pragmatisch-interaktionistische Aspekte einzubeziehen; damit verändern sich Menschenbild, Voraussetzungen zur historischen Sinnbildung und Zielsetzungen, wie die folgenden Überlegungen zeigen.

2.2

Zeitbewusstsein – die Relevanz des Individuums

Völkel geht davon aus, dass die didaktische Theorie prinzipiell beim »fähigen Menschen«698 ansetzt und historisches Lernen ausschließlich von diesem Aspekt her denkt.699 Die Überlegung lässt sich auch aus der obigen Diskussion schließen. Zur Teilhabe am historischen Lernen sind, wie gezeigt, verschiedene Fähigkeiten vonnöten. Das setzt »komplexes Auffassungsvermögen, Lesekompetenzen, sowie Sprach- und Reflexionskompetenzen«700 voraus. Dabei hält die Geschichtsdidaktik, so Völkel, gerade für Menschen mit einer Komplexen Behinderung, derzeit vor allem Ratlosigkeit, aber kein Konzept bereit, das diese Personengruppe einschließt.701 Um alle Schüler*innen in geschichtsdidaktische Diskurse einzubeziehen, muss sich die Theorie erweitern. Überlegungen zu einer solchen inklusiven Geschichtsdidaktik stellt Völkel jüngst an.702 Auf der Suche nach einer geeigneten Theorie stellt sie zur Diskussion, ob Geschichtsbewusstsein, wie es bis heute als einzigartige, unhinterfragbare Bezugsgröße für historisches Lernen gesetzt ist, als alleiniger Rahmen für die Beschäftigung mit Geschichte hilfreich und sinnvoll ist. Völkel entwirft geschichtsdidaktische Überlegungen mit dem Anspruch, kulturell heterogenen und Menschen mit heterogenen kognitiv-sprachlichen Kompetenzen gleichermaßen Teilhabe an historischem Lernen zu ermöglichen. Sie begründet diese notwendige Neuorientierung zum einen damit, dass historische Sinnbildung 697 698 699 700 701 702

Völkel (2017a), 106. Ricœur (2004), 54. Völkel (2017a), 48ff. Ebd., 53. Ebd., 55f. Ebd.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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vorrangig an der Nationalgeschichte als politischer Geschichte, also nicht für alle Menschen gleichermaßen anschlussfähig, ausgerichtet ist. Zum anderen, wie ebenfalls dargestellt, können nicht alle Menschen ihre eigene Lebenszeit gedanklich überschreiten und verfügen über die notwendigen kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten, die für historisches Lernen vorausgesetzt werden, »was die Kommunikation über Geschichte für uns unmöglich erscheinen lässt.«703 Völkel rückt inneres Zeitbewusstsein, als dem Geschichtsbewusstsein vorgelagert, und phänomenologische Überlegungen über Leiblichkeit in das Zentrum ihrer Theorie.704 Das erscheint plausibel; Zeit- und Geschichtsbewusstsein gelten, so auch Häußler, als »eng verknüpft«705. Zeitbewusstsein könnte geeignete Überlegungen liefern, um wirklich alle Menschen zu berücksichtigen. Um die vorliegende Arbeit vor diesem Hintergrund zu diskutieren, folgen Überlegungen zur Phänomenologie. 2.2.1 Inneres Zeitbewusstsein In den nachstehenden Ausführungen wird skizzenhaft dargestellt, wie Urimpression, Retention, Protention, retentionales Bewusstsein und Wiedererinnerung miteinander zusammenhängen und bei jedem Menschen inneres Zeitbewusstsein konstruieren.706 Widerfährt einem Menschen ein Erlebnis zum ersten Mal, so lässt sich von einer Urimpression sprechen. Er nimmt etwas mit seinen Sinnen, also seinem Körper wahr. Dieses Erleben findet immer in der Gegenwart, im Jetzt statt. Bei mehreren Wahrnehmungen in Folge, entsteht eine Vorstellung von Kontinuität und Dauer. Die Retention als primäre Erinnerung verweist auf die Urimpression. In ihr eröffnet sich leiblich reflexiv und nicht-bewusst, nichtkognitiv sowie nichtsprachlich Vergangenheit als Zeithorizont.707 Ricoeur resümiert mit Verweis auf Husserl, dass die Verbindung von Urimpression und Retention das Jetzt und das Vergangene konstituiert.708 Dabei entsteht eine Vorstellung davon, dass in Zukunft wieder etwas wahrgenommen werden kann, die Protention. Im retentionalen Bewusstsein überlagern sich Vergangenheit als Retention und Zukunft als Protention im absoluten Jetzt als Urimpression; hier liegt die Urform von Historizität.709 Eine Vorstellung von soeben und sogleich entsteht und erzeugt Dauer im Wandel.710 In jeder 703 704 705 706 707 708 709 710

Ebd., 7. Ebd., 8; sie bezieht sich hier auf Überlegungen von Husserl (1986). Häußler (2015), 231. Zur vertieften Lektüre Völkel (2017a), 97–105) oder Husserl (1986). Völkel (2017a), 98f. Ricœur (1988a), 56. Völkel (2017a), 100. Ebd., 95.

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Theoretische Grundlagen

Erfahrung zeigen sich per se ein Vergangenheits- und ein Zukunftshorizont, was auf etwas spezifisch Historisches hinweist. Jede Erfahrung ist an sich also historisch. Bei einer Wiedererinnerung wird die Vergangenheit vergegenwärtigt. Leibliches Erleben und Wiedererinnern erzeugen gemeinsam Objekthaftigkeit.711 Auch in der Wiedererinnerung sind Vergangenheits- und Erwartungs-, bzw. Zukunftshorizonte enthalten.712 Somit werden Abstand und Andersartigkeit zur jetzigen Gegenwart konstruiert und der Horizont der Vergangenheit wahrnehmbar.713 Völkel erkennt hier »die Urstiftung der Alteritätserfahrung im Leib«714 und verbindet die Gedanken mit dem geschichtsdidaktischen Moment der Alterität. Die Aspekte Dauer und Wandel entstehen aus Zeitbewusstsein durch leibliche Reflexivität. Das erzeugt Geschichtlichkeit; sie wirkt sich auf Wahrnehmen, Erleben und Erfahren von Menschen aus – ist untrennbar damit verbunden. Phänomenologisch betrachtet, sind die drei Zeitebenen bei jedem Menschen für seine Sinnbildungsprozesse zentral. Im Leib fallen sie vorsprachlich zusammen und bilden eine historische Dimension. Zeit entsteht vom Leib her gesehen durch eine gerichtete Bewegung, zwischen dem Hier, wo sich das Subjekt soeben befindet, und dem Dort, wo sich das Subjekt sogleich hinbewegen kann. Hier und Jetzt kommen aus phänomenologischer Sicht besondere Bedeutung zu. Das Hier bildet den Ausgangspunkt, wie analog dazu das Jetzt aus der Reihe der Zeitpunkte hervorragt. Vergangene und zukünftige, räumliche und zeitliche Punkte verweisen auf die jeweilige Gegenwart, in der der Mensch sich hier und jetzt befindet. Der Gliederung der Zeit können Geschichten folgen. Völkel versteht orientierte Zeit, gelebte Zeit, als biografische Zeit und Geschichten als Lebensgeschichten.715 Hier zeigt sich die Relevanz, die die Phänomenologie für die didaktische Theorie, besitzt. Über Bewegung eröffnet sich Zukunft, wird Sinn wirksam – ohne bewusste oder kognitiv-sprachliche Reflexivität. Orientierter Raum und orientierte Zeit stehen sich komplementär gegenüber.716 »In Bezug auf die orientierte Zeit ist die eigene Geschichte als Handlungswissen präsent, sie erlaubt dem Menschen, sich in seiner Umwelt systemisch kohärent zu verhalten.«717 Ohne Vergangenheit und Zukunft bliebe die jeweilige Gegenwart ohne subjektive Bedeutung und ohne Handlungskonsequenzen. Stets sind bestimmte Ziele, Pläne, Motive und Gründe für Bewegungen 711 712 713 714 715 716 717

Ebd., 102. Ebd., 100–104. Ebd., 12. Ebd., 99. Ebd., 95f. Ebd., 95. Ebd., 104.

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und Handlungen wirksam. Der menschliche Wille ist die treibende Kraft, um motorische Intentionalität und Bewegung zu erzeugen. Verschränkt mit diesen Beweggründen, Motiven und Zielen kommen subjektive Bedeutsamkeiten hinzu, die der Mensch zeitlich gliedert. Die Einteilung der Zeit erzeugt durch leibliche subjektive Bedeutsamkeiten und menschliche Bewegungen bzw. Handlungen Geschichte.718 Eigene Erfahrungen lassen sich historisch deuten und historische Sinnbildung zu. Völkel resümiert, dass das »Zeiterleben bei allen Menschen komplex ist.«719 »Auf der Ebene von primärer (Retention) und sekundärer Erinnerung (Wiedererinnerung) gehört die geschichtliche Vergangenheit des Menschen damit der gleichen Zeitlichkeit an wie die fortschreitende Gegenwart. Geschichte und Gegenwart zeigen sich im Leib abstandslos; im inneren Zeitbewusstsein sind sie als orientierte Zeit koinzindet [sic!]. In Bezug auf die orientierte Zeit ist die eigene Geschichte als Handlungswissen präsent, sie erlaubt dem Menschen, sich in seiner Umwelt systemisch kohärent zu verhalten.«720

Es sind die verschiedenen Zeitebenen, verbunden mit Erfahrungen und verschiedenen Dimensionen der Erinnerung und Erwartung, die dazu führen, dass Menschen sich orientieren können und handlungsfähig werden. Eine Erinnerung ist grundsätzlich reflexiv, so Ricoeur, da sie bedeutet, sich seiner selbst zu erinnern.721 Diese Reflexionsebene ist allerdings nicht (nur) – ein zentraler Unterschied zu den aktuellen konsensualen Überlegungen der Geschichtsdidaktik – kognitiv-sprachlich einzuordnen. »Leibliche Reflexivität ist damit sowohl narrativ wie auch ästhetisch legitimiert.«722 Sie zeigt sich bei all »unseren Handlungen, die sich als Geschichte unseres Leibes zum Ausdruck bringen.«723 Somit ist eine »erfahrungsgesättigte Zukunft […] vom Leib her gesehen […] aufgrund unseres Zeitbewusstseins auch ohne narrativierte Geschichte möglich.«724 Im Zeitbewusstsein sind, so Völkel, nicht nur kognitiv-sprachliche Elemente vorhanden, sondern auch solche, die sich leiblich reflexiv auf Bewegung und Handlung beziehen. Damit werden geschichtsdidaktische Überlegungen anschlussfähig an phänomenologische Erklärungsansätze von subjektiver Zeitlichkeit.725 Völkel geht davon aus, dass historisches Bewusstsein seinen Sitz im Leib hat.726 Hier erzeugt es die Lebensgeschichte. 718 719 720 721 722 723 724 725

Ebd., 96. Ebd., 100. Ebd., 104. Ricœur (2004), 21 und 151. Ricoeur stellt das zunächst infrage und entwickelt die Antwort in seinen Überlegungen. Völkel (2017a), 104. Ebd., 104. Ebd., 105. Ebd., 106.

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Theoretische Grundlagen

Jeder Mensch ist in von ihm erlebte und erzeugte Geschichten verstrickt und in verschiedene Szenarien verwickelt. »Man ist in die Geschichte soweit verstrickt, wie man sie kennt, und man kennt sie soweit, als man darin verstrickt ist.«727 Man ist Teil einer Geschichte und deutet oder erzählt sie aus diesem ›Teilsein‹ bzw. Verstricktsein. Geschichten lassen sich nur im Zusammenhang mit dem ›Verstricktsein‹ verstehen. Zeit ist in (elaborierten) Geschichten immer durch ›Vorher‹ und ›Nachher‹, durch Sinnzusammenhänge, erfahrbar.728 Kein Mensch ist ein geschichtsloses Wesen. Ein Leben lang ist der Mensch, so Schapp, in verschiedene Geschichten verstrickt, da keine Geschichte jemals ganz abgeschlossen sein kann.729 Vergangene Geschichten gibt es nicht, so seine These. Solange die Verbindung andauert, gehören die Geschichten nicht zur Vergangenheit.730 Erst, wenn man sich der Geschichten bewusst wird und sich kognitiv-sprachlich mit ihnen auseinandersetzt, wird Zeitdifferenz wahrnehmbar. Dann gehören die Geschichten zum elaboriert-historischen Bewusstsein und können Ausgangspunkt für elaboriert-historisches Lernprozesse werden. Um Zugang zum Menschen zu erhalten, eignet sich, so Schapp, der Weg über die jeweiligen Geschichten des Menschen.731 Im gemeinsamen Dialog bekämen Menschen zueinander Zugang. Jeder Mensch verfügt über vielzählige Geschichten, die miteinander und mit ihm verbunden sind. Sie verbinden ihn mit seiner Umgebung, mit dem orientierten Raum und erzeugen seine spezifische place identity732. Jede Bewegung und Erfahrung prägt seine place identity (weiter) und erzeugt Handlungs- und Orientierungsfähigkeit. Im jeweiligen orientierten Raum ist es ihm möglich, sich stimmig und störungsfrei zu bewegen. Place identity und Handlungsfähigkeit hängen untrennbar zusammen. Sie beeinflussen und erzeugen sich gegenseitig. Der Mensch ist aufgrund seiner leiblichen Reflexivität, der Vernunft des Leibes, fähig zu handeln. Er kann handeln.733 Bestimmte Räume und Geschichten wirken auf seine und andere Geschichten ein, werden darin präsent und beeinflussen die place identity maßgeblich. Jede*r verfügt über unzählige Geschichten, welche die jeweilige Gegenwart und das Erleben prägen.734 Hier lassen sich Überlegungen zum biografisch-historischen und elaboriert-historischen Bewusstsein anbinden; jede*r ist leiblich reflexiv und nichtbewusst auf biografisch-historischer Ebene in verschiedene Geschichten ver726 727 728 729 730 731 732 733 734

Ebd., 90. Schapp (2012), 86. Ebd., 140. Ebd., 124. Ebd., 142. Ebd., 134. Völkel (2017a), 80, kursiv im Original. Ebd., 80. Ebd., 92.

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strickt; wird der Mensch sich der Geschichten bewusst, nimmt er sie in einer kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung wahr, er (er-)kennt und versteht sie und ist in der Lage, Sinnzusammenhänge zu erklären. Folglich sind geschichtsdidaktische Überlegungen vom Leib her zu denken und zu entwickeln. Dabei werden die Subjekte mit ihrer spezifischen place identity in den Fokus gerückt. Sie gilt es konsequent zu beachten. Historische Orientierung als Orientierung in der Zeit als »Sinnbildung über Zeiterfahrung«735 ist mit phänomenologisch orientierter Zeit nicht gleichzusetzen.736 Zentraler Unterschied ist, dass phänomenologisch orientierte Zeit ohne kognitiv-sprachlich basierte Narrationen auskommt und dennoch Orientierung sowie Handlungsfähigkeit generiert. Historische Narrationen lassen sich auf Ebene einer phänomenologischen Wiedererinnerung denken,737 wenn Rüsen anführt, dass »durch den Erzählvorgang die Vergangenheit des Erzählten vergegenwärtigt [wird]. Das historische Erzählen zeichnet sich dadurch aus, dass es das Vergangene wie eine zweite Gegenwart erscheinen lässt.«738 Bei der phänomenologischen Wiedererinnerung kann zusätzlich ein kognitiv-sprachlicher Reflexionsprozess einsetzen. Völkel stellt die Hypothese auf, dass die historische Erzählung, wie sie in der Geschichtswissenschaft und -didaktik als zentral gilt, radikal zu hinterfragen ist. Darüber hinaus spricht sie sich dafür aus, das Narrationsparadigma kritisch zu prüfen und davon unabhängige Überlegungen zu entwickeln. Dazu veranlasst sie die Überlegung, dass auch Menschen, die Geschichte nicht historisch narrativieren, stets in Geschichten verstrickt sind. Sie bewegen sich im historisierbaren Raum.739 Somit wird der leibliche Zugang zu historischem Lernen auch für Menschen, die Geschichte aufgrund ihrer leiblichen Verfasstheit anders oder nicht narrativieren, anschlussfähig. Völkel diskutiert, bezogen auf die Beschäftigung mit Zeit, zwei verschiedene Dimensionen, die einen zentralen Aspekt ihrer inklusiven Didaktik einnehmen. Zum einen erlebt jeder Mensch Zeit – jeder Moment, jede Minute, jeder Tag, jede Woche, jedes Jahr ist von Zeitlichkeit geprägt, was sich wahrnehmen und erleben lässt. Zum anderen kann der Mensch über Zeitlichkeit und Zeit nachdenken.740 Biografisch orientiertes historisches Lernen im Kontext des inneren Zeitbewusstseins ist mit Daumüllers sogenannter Begegnungsdidaktik741 verknüpfbar. Grundlage der Theorie ist, dass Schüler*innen sich selbst in ihrer Geschicht735 736 737 738 739 740 741

Rüsen (1982), 520. Völkel (2017a), 106f. Ebd., 108. Rüsen (2013), 198. Völkel (2017a), 90. Ebd., 93f. Daumüller (2010), 355–471.

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Theoretische Grundlagen

lichkeit erfahren; die eigene Historizität ist im Zusammenhang mit der Historizität der Umgebung zu deuten.742 Überlegungen, die in Völkels Zugang wiederzufinden sind.743 Die Schüler*innen mit ihren Erfahrungen stehen dann im Mittelpunkt. Ein Übergang zwischen der eigenen Biografie und kollektiven Aspekten lässt sich schaffen, wenn die Verarbeitung und Transformation der eigenen und der kollektiven Geschichte thematisiert wird, so Daumüller.744 Anhand von Schnittlinien lässt sich, mit Blick auf die eigene Biografie und Aspekte der Kollektivgeschichten, durch Erleben und Erfahren historisch lernen. »Erfahrungs- und Bedeutungserleben […]«745 bilden den Kern des Lernprozesses: »Wie Menschen, die in ihre Sozialisation, in gesellschaftliche Wertungen in die kollektiven Erinnerungen eingebunden sind, mit ihrer verinnerlichten Geschichte und ihrer Geschichtlichkeit umgehen und wie darauf in ihren Köpfen ›zukünftige Geschichte‹ in Form von Zielen, Plänen, Selbstbildern, Handlungsintentionen wird.«746 Zentral ist die »suchende und reflexive Ich-Orientierung in den Verhältnissen der Zeit.«747 Daumüllers Überlegungen lassen sich, wie zu zeigen ist, bei elaboriert-historischem Bewusstsein diskutieren. Inwiefern sie anschlussfähig für nicht-bewusste, leiblich reflexive historische Sinnbildungsprozesse sind, ist zu prüfen. Auch lässt sich fragen, welche Rahmung die angeführten Kollektive haben; hätten sie kulturelle Kohärenz als Ziel, laufen sie Gefahr, zu Diskriminierung zu führen. Die Annahmen der Begegnungsdidaktik erscheinen aber grundsätzlich anschlussfähig, um von biografischen Erfahrungen mit Blick auf Erfahrungen Dritter historisch zu lernen. Historisches Erzählen (als Wiedererinnerung) verweist auf Urimpressionen anderer Menschen, die als Quellen vorliegen und birgt ein Problem. Die Urimpressionen von Schüler*innen beim historischen Lernen beziehen sich meist auf Texte als Quellen und nicht auf ihr eigenes Erleben.748 »Damit gehört die historische Erzählung in eine andere ›Welt‹, die offensichtlich nach ähnlichen Kriterien strukturiert werden kann, wie die Lebenswelt.«749 Eine Wiedererinnerung ist immer ein Wiedererkennen; sie kann mit oder ohne Erzählung geschehen.750 Die Wiedererinnerung bezieht sich auch auf das Abgebildete. Das ist der Unterschied zur Phantasie, zum Fiktiven.751 Sie verweist auf eine eigene lebens-

742 743 744 745 746 747 748 749 750 751

Ebd., 355. Völkel (2017a), 100. Daumüller (2010), 356f. Ebd., 359. Ebd. Ebd., 372. Völkel (2017a), 108. Ebd. Ricœur (2004), 74. Ebd., 83f.

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weltliche Erfahrung.752 Wiedererinnern hat eine kognitive, aber auch eine pragmatische Ebene. Sich an etwas zu erinnern, heißt auch, etwas zu tun. Wenn eine Wiedererinnerung darin gipfelt, dass etwas wiedererkannt wird, gehört das zur kognitiven Ebene. Der Prozess dorthin ist pragmatisch. In diesem Aspekt ähnelt die Tätigkeit der einer/eines Historikerin/Historikers: »Der Historiker ›treibt und schreibt Geschichte‹ […], wie jeder von uns ›Gedächtnis praktiziert‹ […].«753 Beide Operationen, die kognitive und die pragmatische, sind untrennbar miteinander verbunden und doch differenziert zu betrachten.754 »Die historische Erzählung ist Teil der Ideenwelt der Geschichtswissenschaft und hier erzeugt sie narrativen Sinn. In der historischen Erzählung als Wiedererinnerung eines als Text erhaltenen Ereignisses erscheint Vergangenheit objektiv bedeutsam. In der Wiedererinnerung des Individuums wird jedoch eine primäre Erinnerung aus seiner Lebenswelt objektiv bedeutsam. Diese Bedeutsamkeit artikuliert sich über eine für den Menschen sinnvolle Handlung.«755

Diese pragmatische Ebene ließe sich bei historischer Sinnbildung stärker betonen, sodass Handlungssinn und die Vernunft des Leibes in den Fokus gerückt werden. 2.2.2 Vernunft des Leibes Völkel entwickelt ihr geschichtsdidaktisches Modell vom Leib her, dem eine Erinnerungs- und Gedächtnisfunktion zuzuschreiben ist. Dort sind verschiedene Zeitebenen wirksam. Erfahrungen, Kommunikationen und erlebter Raum schreiben sich in den Leib ein; Habitus und Handlungen des Menschen werden durch ihn, seine Vernunft, beeinflusst.756 Zentrale mentale Operationen und der Gedächtnisbegriff, wie er in (Geschichtswissenschaft und) Geschichtsdidaktik angenommen wird, beziehen sich nur auf kognitiv-sprachliche Strukturen von Erinnerung und Vernunft. Der phänomenologischen Herangehensweise zufolge, sitzen sie aber auch im Leib.757 Merleau-Ponty schildert den Leib als ein nicht rational-kognitives Phänom, als »schweigendes cogito«758. Darauf haben Menschen nur eingeschränkten Zugriff. Sie können auf die dort eingespeicherten Erfahrun752 753 754 755 756 757

Ebd., 86. Ebd., 96. Ebd., 96. Völkel (2017a), 108f. Ebd., 71. Ebd., 71; es ist nicht der Anspruch dieser Arbeit phänomenologische Überlegungen grundlegend und allumfassend zu diskutieren. Die folgenden Ausführungen geben einen knappen Überblick, wie der geschichtsdidaktische Diskurs um phänomenologische Überlegungen erweitert werden kann. 758 Merleau-Ponty (1966), 458.

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Theoretische Grundlagen

gen und Erinnerungen, ja Wahrheiten, nicht vollständig zugreifen oder sie ausdrücken.759 Wie angeführt, verweist auch Straub auf unbewusste, anders rationale und emotional konnotierte Aspekte bei historischer Sinnbildung.760 Straubs Kritik lässt sich dahingehend deuten, das schweigende cogito und die Ebene leiblicher Vernunft in der Theorie stärker in den Blick zu nehmen. Leibliche Reflexivität, die sich als Vernunft zeigt, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Mensch im Leib stets als Subjekt, aber zugleich als Objekt vertreten ist.761 Völkel schildert dieses Phänomen anschaulich an einem Beispiel: Als Mensch ist man in der Lage, sich selbst wahrzunehmen und zu sehen. In diesem Prozess ist er aktiv als Subjekt wirksam: Der Mensch sieht aktiv. Was der Mensch sieht, bezieht sich auf ihn selbst als Objekt. Beide Facetten geschehen stets verschränkt miteinander und lassen sich nicht trennen. Sie sind wechselseitig in der menschlichen Leiblichkeit vorhanden.762 Weizsäcker spricht in vom »Prinzip der Drehtür.«763 Durch die Metapher der Drehtür wird der Prozess des Sich-selbst-betrachtens nachvollziehbar. Sehende und die Gesehene lassen sich nicht unbedingt identisch wahrnehmen. Kognitive und leibliche Reflexivität bilden zwei unterschiedliche Ebenen. Leibliche Reflexivität lässt sich losgelöst von kognitiv-sprachlicher Rationalität deuten und zeigt sich als Handlungsfähigkeit: der Mensch kann etwas. Wahrnehmen und Erleben finden leiblich reflektiert als Einheit, als »erlebendes Wahrnehmen«764 statt. Beide Modi lassen sich jeweils verfolgen; dennoch sind sie untrennbar miteinander verschränkt.765 Bewegen und Erleben ermöglichen es dem Menschen, etwas wahrzunehmen und zu reflektieren.766 »Wann immer ein Mensch über etwas nachdenken soll, das ihm unbekannt ist, muss dieses Neue erst in ein Erleben übersetzt werden, damit es wahrgenommen und dann überdacht werden kann.«767 Historische Sinnbildung wird damit unabhängig von kognitiv-sprachlichen Aspekten und Lernprozesse im Geschichtsunterricht leiblich reflexiv. Das bietet allen Schüler*innen historische Lerngelegenheiten. Jeder Mensch verfügt über »leibliche Rationalität«768. Dabei könnte es sich um den von Rüsen angeführten anderen Rationalitätstypen handeln, der von ihm nicht weiter systematisch ausgeführt ist. Sinnbildungsprozesse lassen sich zu759 Völkel (2017a), 72. 760 Straub (1998), 92; unbewusst ist an den phänomenologischen Begriff nicht-bewusst anschlussfähig. 761 Völkel (2017a), 73. 762 Ebd., 84f. 763 Weizsäcker (1973), 50. 764 Völkel (2017a), 73. 765 Ebd., 73f. 766 Ebd., 60. 767 Ebd., 61. 768 Waldenfels (2013), 74.

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nächst leiblich und nicht kognitiv rational fassen. Die leibliche Rationalität zeichnet sich, wie auch leiblich erzeugte Sinn- und Bedeutungszuweisungen, dadurch aus, dass sie ohne Kognition und ohne Sprache vorliegt.769 »Wissen entsteht damit nicht im Kopf, sondern in der sinnlichen Auseinandersetzung mit der Welt, in der man lebt.«770 Die sinnliche Wahrnehmung stellt die Voraussetzung von Wissen im Zusammenhang mit kognitiven Fähigkeiten dar. Demzufolge würden beim Fokus auf kognitiv-sprachlichen historischen Sinnbildungsprozessen die sinnlichen, leiblichen Wahrnehmungen und Sinnbildungsprozesse fehlen oder vernachlässigt werden. Wissen, das dem Leib zuzuschreiben ist, ermöglicht Handlungen;771 Geschichte ist dort immer sedimentiert enthalten.772 Wahrnehmung ermöglicht Erfahrung, wobei Sinn durch Wahrnehmen und Bewegen entsteht.773 Dadurch können sich Menschen je nach Situation »(an-)passend in der Welt bewegen und werden handlungsfähig.«774 Auf Grundlage der leiblichen Reflexivität sind Menschen, so der phänomenologische Zugang, fähig, sinnvoll und kompetent zu handeln und sich in ihrer Welt zu bewegen.775 Der Mensch erlebt Raum und Lebenswelt. Er nimmt sie über seinen Leib in den jeweiligen Situationen und aus den entsprechenden Perspektiven wahr.776 Koselleck geht davon aus, dass Geschichte und Raum grundsätzlich miteinander in Beziehung stehen. Jedem Raum sind Geschichten vorauszusetzen; er ist historisierbar, weil sich dort bestimmte Aspekte – soziale, ökonomische und politische – verändern.777 Sie befinden sich in Dauer und Wandel. Diese Grundannahme zeigt, dass sich Erleben und Wahrnehmung je nach Standort und Situation verändern – es ist eine Bewegung, welche die Hinwendung des Leibes zur Welt beeinflusst.778 Damit bindet der Zugang den jeweiligen situativen Kontext für Erleben, Wahrnehmen und Sinnbildung ein. Bewegung ist die entscheidende Grundvoraussetzung dafür, dass der Mensch unterschiedliche Perspektiven einnehmen und ihnen subjektiven Sinn zuweisen kann. Sinn und Bedeutung entstehen durch Bewegung im Raum. Sie sind an den Kontext, den Horizont gebunden, in dem der Gegenstand erlebt wird. Ohne die Beziehung zum jeweiligen Horizont, könnte der Mensch Erlebnissen und Wahrnehmungen keine Bedeutung beimessen. Durch Sinnzuweisung entsteht eine Struktur zwischen 769 770 771 772 773 774 775 776 777 778

Ebd. Völkel (2017a), 134. Ebd. Ebd., 141. Waldenfels (2013), 63ff. Völkel (2017a), 141. Ebd., 142. Waldenfels (2013), 115. Koselleck/Gadamer (2003), 82. Völkel (2017a), 76.

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Theoretische Grundlagen

Gegenstand und Horizont. Die Perspektive und damit bedeutsamer, ja orientierter Raum werden durch die Beziehung zwischen Mensch und Gegenstand im Kontext des jeweiligen Horizonts über den Leib erzeugt.779 Der Mensch ist in der Lage, sich über den Raum, in dem er sich bewegen möchte, zu orientieren. Durch die mit der Vernunft des Leibes verbundene Orientierung kann er sich dort ohne Zwischenfälle und Irritationen bewegen.780 Bewegungs-, Orientierungs- und Handlungsfähigkeit sind unabhängig von kognitiv-sprachlichen Sinnbildungsprozessen zu verstehen; das widerspricht u. a. Rüsens und Barricellis Annahmen. Sie spiegeln den Handlungssinn eines Menschen wider. Straubs Überlegungen aus Kapitel 2.1.4 zum orientierten Verhalten ließen sich folglich nicht nur im Rahmen sprachlich-kognitiver, sondern auch leiblicher Reflexionsprozesse und Handlungssinn deuten. 2.2.3 Handlungssinn Mittlerweile gilt als Konsens, dass sich (auch) Menschen mit geistiger Behinderung, zeitlich innerhalb ihrer eigenen Biografie orientieren können. Lindmeier und Oermann definieren dieses Bewusstsein als Zeitbewusstsein.781 Dabei ist zwischen Lebenslauf und Lebensgeschichte zu unterscheiden, wobei die Lebensgeschichte mit persönlichen Bedeutungszuweisungen angereichert ist;782 indem der Mensch Lebensereignisse subjektiv miteinander verbindet, in Beziehung setzt, verleiht er ihnen Sinn. Kapitel 2.3.2 geht näher auf den Konstruktcharakter und subjektive Bedeutsamkeit von Biografien ein. Der handlungsfähige Mensch ist Mittelpunkt der aktuellen Theoriebildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Es wird anerkannt, dass Menschen mit geistiger Behinderung »eigene Ziele verfolgen, auf diese Ziele mehr oder weniger geschickt hinarbeiten und […] auch Erfolg und Misserfolg ihres eigenen Handelns erleben.«783 Indem Menschen sich mit ihrem eigenen Leben beschäftigen und einzelne Erlebnisse sowie Erfahrungen in einen sinnvollen Zusammenhang bringen, erzeugen sie ihre Lebensgeschichte. Davon ausgehend lässt sich Zukunft auf zwei Ebenen vorstellen, planen und erwarten, wie der strukturelle Vergleich der beiden historischen Bewusstseinsdimensionen zeigt. Die Teilnehmer*innen der vorliegenden Studie werden als handlungsfähig anerkannt; es ist zu vermuten, dass ihr Handlungssinn und ihre Kompetenz durch die neuen Erfahrungen differenzierter werden, was Kapitel 4.3.3 aufgreift. Die Interviews über subjektive Sinnzuweisungen bilden eine Grundlage dafür, dass sich die Schüler*innen ko779 780 781 782 783

Ebd., 78. Ebd., 83. Lindmeier/Oermann (2017), 40. Schulze (1993); Lindmeier/Oermann (2017), 40. Pitsch/Thümmel (2017), 13.

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gnitiv-sprachlich und bewusst mit ihrem Handlungssinn und ihrer Lebensgeschichte befassen. Über »erlebte Zeitlichkeit«784 findet jeder Mensch Zugang zu historischem Lernen, wenn das »innere Zeitbewusstsein«785 im Mittelpunkt didaktischer Bemühungen stünde. Damit vollzieht Völkel eine Perspektivenerweiterung bezogen auf Überlegungen zur Narration, welche die Theoriebildung bislang dominiertt.786 Handeln und Denken/Sprechen sollen, so Völkels Ansatz, bei historischer Bildung gleichwertig nebeneinander stehen.787 Sie versteht Handeln und Denken/Sprechen als komplementär zueinander. Sinnvolles Handeln ist zentrales Element ihrer Didaktik. In jeder Handlung offenbart sich individuelle Bedeutungszuweisung als Handlungssinn. Geschichte zeigt sich als Lebensgeschichte, »die im Handlungssinn ihren Ausdruck findet.«788 Handlungen sind von der Vernunft des Leibes geprägt und grundsätzlich subjektiv sinnvoll. Den Gedanken folgend erhielte bspw. Narrativität im Geschichtsunterricht eine andere Rolle und Bedeutung. Die verbalsprachliche Narration stellt nicht die alleinige Möglichkeit dar, historisch Sinn zu bilden. Handlungssinn lässt sich mit dem Sinn, den Denken und Sprechen erzeugen, strukturell vergleichen. Er ist stets historisch gerahmt. »Handeln ist eingebettet in die Geschichte«789, hat wie die historische Erzählung grundsätzlich einen historischen Bezug. »Wir haben es hier mit zwei kategorial zu unterscheidenden Ebenen zu tun.«790 Handlungen hängen mit Zeitbewusstsein und Lebenswelt zusammen, während Erzählungen mit Geschichtsbewusstsein und -wissenschaft verbunden sind. Beide Welten sind strukturell vergleichbar, wie Kapitel 2.4 zeigt. Völkel stellt die These auf, dass narrative Kompetenz eine Fähigkeit ist, welche die Schüler*innen nicht handlungsfähiger in ihrer Lebenswelt werden lässt, sondern sich – als historische Erzählung – nur auf die Geschichtswissenschaft bezieht.791 Eine Erfahrung, die ein Mensch im Alltag macht, kann ihm »eine neue Einsicht zugänglich«792 machen. Es gibt Erfahrungen, die eine (abstrakte) Vermutung (konkret) bestätigen, aber auch solche, welche diese neue Einsicht erzeugen und eine andere Erwartung durchkreuzen.793 »Sie [die Erfahrung, Anmerkung F.R.] ist ein eigens erlebtes Ereignis, das sich jeweils dem Zusammenhang einer Le-

784 785 786 787 788 789 790 791 792 793

Völkel (2017a), 152. Ebd., 154. Ebd., 152ff. Ebd., 54. Ebd., 96. Schapp (2012), 158. Völkel (2017a), 109. Ebd., 108f. Tengelyi (2007), 9, kursiv im Original. Ebd., 9.

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Theoretische Grundlagen

bensgeschichte einfügt.«794 In einer solchen lebensweltlichen Erfahrung, die eine neue Einsicht ermöglicht, bildet sich neuer Sinn. Erfahrung und Sinn sind eng miteinander verzahnt, sie gehören in der Phänomenologie zusammen.795 Außersprachlicher Sinn lässt sich als Erfahrungssinn bezeichnen. Damit gibt es, so Tengelyi keine Erfahrung ohne Sinnbildung und keinen außersprachlichen Sinn ohne Erfahrung. Sinn und Erfahrung sind ohne einander undenkbar – ein Gedanke, der für geschichtsdidaktische Theorie zentral sein könnte, sind Sinn und Sinnbildung hier doch im Fokus. Sinnbildung beinhaltet einen Prozess, der sich nicht dem Bewusstsein zuzuschreiben lässt.796 Geschichten kommt eine besondere Rolle zu. Sie fangen den Erfahrungssinn auf, ohne dass er sich dadurch verfestigt. Durch die Erzählung wird der nicht-bewusste Sinn fassbar, werden Erfahrungen ausgedrückt; eine Erfahrung bildet das Bindeglied zwischen Handlung und Erzählung. Eine Handlung ist erzählbar, wenn sie eine Erfahrung ausdrückt.797 Hier lässt sich kritisch in Frage stellen, ob die Erfahrung das Bindeglied zwischen einer Handlung und einer (historischen) Erzählung darstellt. Es erscheint plausibel, kognitiv-sprachliches Erklären und Verstehen stärker in den Blick zu nehmen, mit denen sich Sinn ausdrücken lässt. Geschichten greifen immer auf Vorgeschichten zurück, die aber im Verborgenen bleiben.798 Erst in Erzählungen werden die Vorgeschichten, die sich auf Erfahrungen beziehen, greifbar. Ricoeur geht davon aus, dass Erzählungen diese vorgelagerten Geschichten fortsetzen.799 »Die enge Verwandtschaft zwischen der Motivation und der Fähigkeit, die aus der Vergangenheit ererbte Erfahrung in der Gegenwart zu mobilisieren, ist ebenso offensichtlich. Schließlich tragen das ›Ich kann‹, das ›Ich tue‹ und das ›Ich leide‹ offensichtlich zu dem Sinn bei, den wir spontan der Gegenwart geben.«800 So öffnet sich ein Zukunftshorizont. »Die Erfahrung wird durch erzählte Geschichte erfaßt, ausgedrückt und festgehalten.«801 Neue Geschichten erzählen neue Erfahrungen.802 Sinn entsteht zunächst durch Erfahrung, durch eine erlebend-wahrnehmende Auseinandersetzung mit der Umwelt und ist an die ästhetische Wahrnehmung des Körpers gebunden (z. B. den Sehsinn). Er zeigt sich als Wahrnehmungssinn803 und geht dem Ausdruck voraus.804 Husserl erkennt die Lebenswelt als bedeut794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804

Ebd. Ebd., 13. Ebd., 14f. Ebd., 294ff. Schapp (2012), 100f. Ricoeur (1988), 119. Ricœur (1988b), 98. Tengelyi (2007), 303. Ebd. Husserl (1980), 170. Tengelyi (2007), 6.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

115

samen Bezugspunkt und maßgeblichen Rahmen für individuelle Sinnbildung.805 Jeder Mensch konstruiert seine Welt durch seine Wahrnehmungen mit subjektiven Bedeutungszuweisungen.806 Wahrnehmungen und Bewegung bilden, so Waldenfels, die Grundlage für Erfahrungen.807 Sinn entsteht ursprünglich im Leib und entwickelt vor jeder kognitiven oder sprachlichen Reflexion seinen Einfluss auf Handlungen.808 Erinnerung schließlich ist es auch, die es ermöglicht, verschiedene Gewohnheiten und Fertigkeiten ausüben zu können, ohne sie erneut lernen zu müssen: Man kann etwas.809 »Es ist unser reflexives und eben nicht automatisiertes Handlungswissen, dass [sic!] […] die permanenten Anpassungen an veränderte Bedingungen erlaubt. […] Retentionales Bewusstsein artikuliert sich demnach nicht nur über […] Handlungen, sondern auch in allem«810, was geäußert wird. Dem retentionalen Zeitbewusstsein folgen Handlungssinn und -kompetenz, dem Geschichtsbewusstsein Erzählkompetenz.811 Völkel hält es für eine der Geschichtsdidaktik unmögliche Aufgabe, zwischen beiden Ebenen zu vermitteln.812 Dabei sieht sie ein Problem beim schulischen historischen Lernen, das auf Geschichtsbewusstsein ausgerichtet ist: »Wir können sie [die historische Sachverhalte, Anmerkung F.R.] nicht vergegenwärtigen, weil wir sie nicht selbst erlebt haben.«813 Verfolgt Geschichtsunterricht, historische Inhalte zu vermitteln, stehen, so Völkel weiter, Handlungen im Unterricht als Urimpressionen im Vordergrund. Sollen sich die Schüler*innen an die historischen Sachverhalte erinnern, werden sie von der Wiedererinnerung an die Urimpression überlagert.814 Um diese Problematik zu mindern, hält sie es für günstig und notwendig, eigene biografische Erfahrungen zum Ausgangspunkt geschichtsdidaktischer Lernprozesse zu machen. »Entsteht in der orientierten Zeit […] ein Riss, wird eine Zeitbrucherfahrung als Handlungsunsicherheit erlebt, die unbedingt wiederhergestellt werden muss, dann kann eine Bezugnahme auf rückwärtswirkende Erwartungen, die im leiblichen Archiv eingelagert sind, individuell bedeutsam werden.«815 Völkel schlägt vor, sich bei Zeitbrucherfahrungen an eigenen Erfahrungen bzw. rückwärtswirkenden Erwartungen zu bedienen, um davon

805 806 807 808 809 810 811 812 813 814 815

Husserl (1986), 254. Völkel (2017a), 28. Waldenfels (2013), 63ff. Völkel (2017a), 136f. Ricœur (2004), 54. Völkel (2017a), 146. Ebd., 114f. Ebd., 115. Ebd., 102. Ebd., 102f. Ebd, 161.

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Theoretische Grundlagen

ausgehend wieder handlungsfähig zu werden.816 So stehen der Mensch selbst, seine leibliche Reflexivität, seine Zeitlichkeit und sein Zeitbewusstsein im Fokus.817 »Leiblich reflexiv wird es aber dann, wenn ich erkenne, dass ich nicht nur eine Geschichte habe, sondern überall und rundherum geschichtlich bin.«818 Auch Häußler stellt als ein Ziel historischen Lernens (so auch im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung) das »Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit«819 heraus. Folgt man den Ausführungen zu leiblich orientierten historischen Lernanlässen, so sollten sie mit der eigenen Biografie in unmittelbarem, direktem Zusammenhang stehen.820 Selbstthematisierungen, die Geschichten des eigenen Lebens und die eigenen Handlungen – der Handlungssinn – könnten Zentrum historischen Lernens werden. Handlungen kommen, so Völkels Vorschlag, die gleiche Würdigung wie Sprache zu.821 Aufgabe des Geschichtsunterrichts wäre beispielsweise einen sprachlich-reflexiven Zugang zum eigenen retentionalen Bewusstsein zu schaffen, um sich davon ausgehend der eigenen (Lebens-) Geschichte zuzuwenden. Die eigene Lebensgeschichte als Erlebensund Erfahrungsgeschichte, welche die Möglichkeit bietet, thematisiert, also sprachlich reflektiert zu werden, rückt so in den Fokus.822 Würden Anlässe historischen Lernens derart konzipiert, muss, so Ricoeur, »der Wahrheitsanspruch des Gedächtnisses […] anerkannt werden, und zwar vor jeder Betrachtung pathologischer Insuffizienzen und nicht-pathologischer Schwächen des Gedächtnisses […], und selbst vor der Konfrontation mit Unzulänglichkeiten […].«823 Das Gedächtnis ist ein Aspekt von Jemeinigkeit, von privatem Besitz, es bezieht sich eigens auf die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen. Vergangenheit ist immer die eigene Vergangenheit. Abstandslos lässt sich von der jeweiligen Gegenwart die Vergangenheit erinnern, was Grundlage für die Differenzierung in unterschiedliche Zeitabschnitte ist, Grundlage für Alterität. Orientierung wird von der Vergangenheit in die Zukunft angestoßen und umgekehrt, von der zukünftigen Erwartung über die Gegenwart hin zur Erinnerung.824 Völkel vertritt die These, dass alle Schüler*innen mit einer geistigen Behinderung in der Lage sind, die »eigene Zukunft in einer selbst bestimmten Weise [zu] reflektieren.«825 Diese Überlegungen sind für die vorliegende Studie, bei der die eigene Biografie Anlass historischer Sinnbildung ist, zentral. 816 817 818 819 820 821 822 823 824 825

Ebd. Ebd., 161. Ebd., 74f. Häußler (2015), 231. Völkel (2017a), 185. Ebd., 147. Ebd., 162ff. Ricœur (2004), 48. Ebd., 151f. Völkel (2017a), 165.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Historisches Lernen nach Völkel ist stets darauf angelegt, den »Horizont durch Erlebnisse und Wiedererinnerungen zu erweitern.«826 Je mehr erlebt wird, desto mehr wird an die (eigene) Zukunft erwartet. Das kann Menschen in Bezug auf Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeit unterstützen.827 »Damit erhalten die jeweiligen retentionalen Horizonte ein Mehr an möglichen Protentionen«828, wobei dieses Mehr in Form von Handlungssinn und -fähigkeit dazu beiträgt, dass die Schüler*innen ihre eigene Selbstwirksamkeit wahrnehmen und so Selbst-Bewusstsein und ein positives Selbstkonzept entwickeln können.829 Handlungssinn bezieht sich auf die leiblich reflexive Lebensgeschichte, die sogenannte sedimentierte Geschichte und ist von elaborierter Geschichte zu unterscheiden. 2.2.4 Sedimentierte und elaborierte Geschichte Kapitel 2.4.1 und 2.4.2 gehen umfassend auf strukturelle Vergleichbarkeiten und Unterschiede der beiden Geschichtsbegriffe, sedimentiert und elaboriert, ein. Um die nachstehenden Gedanken, einordnen zu können, lässt sich der strukturelle Vergleich bereits hier anreißen. »In […] Wahrnehmungen ist sedimentierte Geschichte als Sinn enthalten.«830 Sedimentierte Geschichte liegt leiblich reflexiv, nicht-bewusst und unabhängig von kognitiv-sprachlicher Auseinandersetzung vor. Dahingegen ist »historisches Wissenschaftswissen als auf ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein bezogenes Wissen […] eben nicht sedimentiert, sondern elaboriert.«831 Sedimentierte Geschichte bezieht sich auf die eigene Lebenswelt, elaborierte Geschichte auf die Geschichtswissenschaft. Durch sedimentierte Geschichte, die im retentionalen Bewusstsein gespeichert ist, ist der Mensch handlungsfähig, ohne Nachdenken zu müssen, ohne sich seiner Handlungsfähigkeit (oder – unfähigkeit) bewusst zu werden.832 »Elaborierte Geschichte macht es möglich, die Textur der sedimentierten Geschichte in ihrer Komplexität zu reduzieren, indem ein Ereignis aus dem Erlebnisfluss herausgenommen wird, um es genauer zu untersuchen.«833 Man kann sich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv mit Geschichte auseinanderzusetzen.834 Die vorliegende Arbeit versteht Geschichte auch dann als elaboriert, wenn einzelne Er826 827 828 829 830 831 832 833 834

Ebd., 165. Ebd., 169. Ebd., 195. Ebd., 13. Ebd., 131. Ebd., 140. Ebd., 189. Ebd., 189f. Ebd., 190.

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Theoretische Grundlagen

eignisse der eigenen Biografie bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv betrachtet werden; dem Gedanken folgend, lässt sich elaborierte Geschichte in der eigenen Lebensgeschichte verorten. Sie unterscheidet sich aber auch dann von sedimentierter Geschichte. »Im Rahmen einer elaborierten Geschichte [mit Hilfe von Historiografie, Anmerkung F.R.] können Geschehnisse der Vergangenheit thematisiert und dadurch analytisch und nicht substanziell von der Gegenwart getrennt werden.«835 Elaborierte Geschichte ist in der jeweiligen Gegenwart präsent, sie »greift auf diskursive, schriftbasierte und ästhetische Archive als Speicher von Wissensbeständen zurück, die dem historischen Apriori der Protagonisten aufgrund der Sedimentierung verschlossen sind.«836 Dadurch wird ein erweiterter Zugang »als ein wissenschaftsbasierter Wahrnehmungskontext zur Geschichte im retentionalen Bewusstsein«837 ermöglicht. Elaborierte (biografische) Geschichten bilden einen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Geschichte: die Historizität des eigenen Selbst und des eigenen Denkens lässt sich erkennen.838 »Anthropologisch bedeutsame und hoffentlich irritierende Fragen«839 könnten zum Fundament des Geschichtsunterrichts werden, um vor hier Urimpressionen mit historischen Inhalten zu schaffen. Bei diesen Fragen sind vielfältige Urteile zu erwarten, die zum Dialog führen. Erklärende Geschichten bspw. über die Historizität von gesellschaftlichen Werten schaffen Anlässe zur Reflexion über sich selbst und die Inhalte.840 Geschichtsunterricht greift Fragen in ihrer historischen Dimension (und optional in der Überschreitung der eigenen Lebenszeit) auf. Erlebnisse aus Beständen, die nicht aus der eigenen Zeit stammen, können zu Urimpressionen werden, das retentionale Bewusstsein anreichern und somit Protentionen entwickeln. So lässt sich erklären und verstehen, wie man handelt und welche Alternativen bestehen.841 »Weil wir jetzt mehr über uns selbst wissen, können wir jetzt nicht nur besser über uns selbst, sondern auch über solche Sachen wie funktionale Äquivalenz sprechen, nachdenken und in Bezug auf unser Handeln reflektieren.«842 Lässt sich dem Gedankengang folgen, stellt sich die Frage, ob reflektiertes Geschichtsbewusstsein und die damit in Bezug stehenden Denkfiguren geeignete 835 836 837 838 839 840 841 842

Ebd. Ebd., 190. Ebd. Ebd. Ebd., 193. Ebd., 197. Ebd., 218f. Ebd., 219, kursiv im Original; ein Dialog im Sinn von funktionalen Äquivalenzen erlaubt es, Vergleichbarkeiten zu thematisieren, indem nicht mehr nach Gleichheit gefragt wird. Unterschiedliche Orientierungsangebote könnten so vergleichbar und gleichwertig nebeneinander bestehen.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

119

Parameter historischen Lernens darstellen können? Es erscheint plausibel, dass Bewusstseinsbildung auch auf leiblicher Ebene spezifisch historisch geschieht und sich als sedimentierte Geschichte in Handlungen und Handlungsfähigkeit zeigt. Es wäre doch wünschenswert, (historische) Bewusstseinsprozesse aller Schüler*innen in einem geschichtsdidaktischen Modell zu erfassen, auf dessen Grundlage sich fachspezifische (und lebensweltlich sinnvolle) Ziele und entsprechende Zugänge erkennen sowie konzipieren lassen. Der »gemeinsame Gegenstand«843 müsste für alle sinnvoll und subjektiv bedeutsam sein. Völkels Handlungsaufforderung an die Geschichtsdidaktik, diesen Zugang zum gemeinsamen Gegenstand zu schaffen, könnte über die Geschichten, die jedem menschlichen Leib eingelagert sind, gelingen.844 Die Überlegungen lassen sich mit zentralen Aspekten von Biografiearbeit verbinden.

2.3

Historische Sinnbildung durch die eigene Lebensgeschichte

Es erscheint sinnvoll, historisches Lernen biografisch orientiert einzubetten. Die eigene Lebensgeschichte lässt sich für biografisch-historische und elaborierthistorische Lernanlässe heranziehen. Die weiterführenden Kapitel stellen grundlegende Aspekte von Biografiearbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung dar, welche die Geschichtsdidaktik bereichern könnten. 2.3.1 Biografiearbeit mit Personen mit geistiger Behinderung Historisches Lernen anhand der eigenen Biografie stellt in der Geschichtsdidaktik aktuell noch eine Ausnahme dar. Mögliche Ursache hierfür könnte bspw. die diskutierte Orientierung an Inhalten der vorbiografischen Vergangenheit sein. Es lässt sich aber überlegen, wie biografisch orientiertes historisches Lernen mit didaktischen Aspekten für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verknüpft werden könnte. Wie von Reeken betont, »verfügt jeder Mensch über eine LebensGeschichte, die ebenso wie die überindividuelle Geschichte geprägt ist von Ereignissen und Entwicklungen der Vergangenheit, so dass Menschen ihr eigenes Leben nur ganz ›verstehen‹ können, wenn sie diese Einflüsse mit berücksichtigen.«845 Er vergleicht die eigene Lebensgeschichte und die überindividuelle Geschichte, wobei beide nur durch den jeweils retrospektiven, deutenden Blick in die Vergangenheit zu verstehen sind. Der Vergleich lässt den Schluss zu, dass beide Geschichten, 843 Feuser (1989), 32. 844 Völkel (2017a), 113. 845 Reeken (2017), 6.

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Theoretische Grundlagen

sowohl die Eigene als auch die Überindividuelle, Kollektive historische Bezüge in Form von Ereignissen und Entwicklungen aufweisen.846 Von Reeken stellt fest, dass auch biografische Erinnerungen und Erzählungen in die kollektive Geschichte eingebettet sind; eine biografische Erinnerung und Erzählung ist eine »individuelle […] ›Geschichte‹.«847 Seine Überlegungen greifen die strukturelle Vergleichbarkeit einer biografisch-historischen und elaboriert-historischen Geschichte auf. Sobald die individuelle Geschichte aber ausschließlich vor dem Hintergrund kultureller Orientierung und kollektiver Bezüge diskutiert wird, besteht die Gefahr, kulturelle Kohärenz zu erzeugen, was Kapitel 2.1.8.1 beleuchtet. Die Gedanken müssten, wie vorgeschlagen, erweitert werden, um Biografiearbeit im Zeichen von biografisch-historischem und elaboriert-historischem Bewusstsein zu ermöglichen. Bei Biografiearbeit, wie sie die vorliegende Studie verfolgt, wird die eigene Lebengeschichte nicht unter kollektiven Aspekten thematisiert. Es ließen sich aber vielseitige Bögen zu Geschichten Dritter schlagen, was die eigene Biografie überschreiten würde und gleichzeitig biografisch-historisch bzw. elaborierthistorisch orientiert wäre. Hier lassen sich hypothesengenerierend einige Überlegungen anstellen. Unterschiedliche Geschichten könnten, wie erwähnt, Anlässe für gemeinsame Dialoge schaffen. Musenberg und Pech verweisen darauf, dass ein Zugang für den Personenkreis mit geistiger Behinderung zum historischen Lernen biografisch sein kann; man könnte sich zunächst mit Biografien der Schüler*innen beschäftigen, um anhand anderer »(alltäglicher) Biografien historisch-gesellschaftliche Prozesse sichtbar«848 und greifbar werden zu lassen. Der Zugang vermag es, eine Biografie als Teil des historisch ›großen Ganzen‹ zu erzählen,849 wobei sich die Komplexität je nach Lernausgangslage der Schüler*innen vertiefen lässt. Lebensgeschichten fungieren dann als Lerngeschichten.850 Es bleibt zu hinterfragen, ob das mit dem Hintergrund von kultureller Orientierung geschieht und was das ›große Ganze‹ darstellt. Zentrum historischen Lernens können unterschiedliche Aspekte verschiedener biografischer Lebensphasen sein. Eine Biografie lässt sich in vier Abschnitte gliedern: Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter.851 Die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter gewinnen innerhalb dieser Hauptphasen mittlerweile an Bedeutung. Die Teilnehmer*innen befinden sich in ihrer Jugend bzw. Adoleszenz, am Übergang zum Erwachsenenalter. Im Jugendalter wird in der Regel eine stabile Persönlichkeit entwickelt; Unabhängigkeit vor allem von der 846 847 848 849 850 851

Ebd., 6. Ebd., 8f. Musenberg/Pech (2011), 233. Ebd., 230. Baacke/Schulze/Bittner (1993), 9. Pitsch/Thümmel (2017), 14.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

121

Familie steht im Vordergrund, eigene Lebensziele und Pläne werden entwickelt und verfolgt.852 Bei Jugendlichen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung geht mit dem Eintritt in die nächste Lebensphase, das ( junge) Erwachsenenalter, meist die Beendigung der Schulzeit einher.853 Das junge Erwachsenenalter reicht vom Ende des Schulbesuchs bis zum Eintritt in den Arbeitsmarkt bzw. der Gründung einer eigenen Familie.854 Menschen mit geistiger Behinderung erleben diese Phase in der Regel gar nicht oder nur marginal, da die meisten direkt nach der Schulzeit eine Arbeit aufnehmen. Pitsch und Thümmel plädieren daher dafür, die Phase als junge Erwachsene bei diesem Personenkreis nicht als eigenständig anzuerkennen, sondern sie entweder als Jugendliche oder Erwachsene zu verstehen.855 Erwachsensein fokussiert sich bei Menschen ohne Behinderung in der Regel auf Arbeit und Familie;856 für Menschen mit geistiger Behinderung liegt der Schwerpunkt auf Arbeit, die Gründung einer eigenen Familie geschieht selten.857 Arbeit nimmt demzufolge im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung einen bedeutsamen Stellenwert ein. Bei Biografiearbeit setzt man sich mit Erlebnissen der eigenen Lebensgeschichte auseinander. Die eigene Historizität lässt sich erfahren, wenn bspw. Brüche oder Veränderungen des eigenen Lebens zum Ausgangspunkt der Beschäftigung werden.858 Die »persönliche Ziel- und Sinnorientierung«859 betont die eigene Verantwortung für das Leben und die Zukunft. Außerdem lässt sich die Gegenwart besser verstehen.860 Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie bietet eine »integrative Zusammenschau der Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsperspektive der individuellen Biografie [und somit, Anmerkung F.R.] einen wichtigen Zugang zum Selbstverständnis aller Menschen.«861 »Besonders kommt Biografiearbeit dort zum Tragen, wo Krisen oder Wendepunkte in der Lebensgeschichte eine Rückschau erfordern oder wo unbekannte oder unverstandene Teile der Biografie der Erklärung und Verarbeitung bedürfen.«862 Beim Übergang von Schule in ein Arbeitsverhältnis ist von einem solchen Wendepunkt auszugehen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte erscheint lohnenswert. Durch eine bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexion eigener Erfahrungen, Sinnzuweisungen, Wünsche und Erwartungen lassen sich 852 853 854 855 856 857 858 859 860 861 862

Heinz (2012), 72ff. Pitsch/Thümmel (2017), 16. Heinz (2012), 76. Pitsch/Thümmel (2017), 17. Heinz (2012), 77. Pitsch/Thümmel (2017), 17f. Lindmeier (2013), 20ff. Vogt (1996), 46. Lattschar/Wiemann (2013), 13. Buschmann (1992), 217. Lattschar (2007), 13.

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Theoretische Grundlagen

Hintergründe sowie subjektive Bedeutsamkeiten verstehen und erklären. Das ermöglicht vertiefte Orientierungs- und Handlungsfähigkeit sowie einen erweiterten Zukunftshorizont. Vor oder alternativ zur bewussten Auseinandersetzung sind Erleben und Wahrnehmen zu verfolgen: Es müssen Erfahrungen gesammelt werden. Ohne sie ist eine bewusste Auseinandersetzung nicht sinnvoll. Für Schüler*innen, die sich nicht bewusst bzw. kognitiv-sprachlich mit ihrer eigenen Biografie beschäftigen können, ist Biografiearbeit erfahrungsorientiert und -erweiternd umsetzbar. Die Inhalte biografisch-orientierter Lernanlässe sind vielfältig; jeder neuen Erfahrung ist eine historische Sinnbildungsdimension eingelagert. Das führt zur Frage, ob sich das spezifisch nur auf Geschichtsunterricht bezieht oder ob sich ein erfahrungsbasierter Ansatz nicht in allen Lernangeboten umsetzen ließe.863 Alle Personen (auch mit geistiger Behinderung) verfügen über »biografische Kompetenz«864, die für Lindmeier und Oermann eine wichtige Voraussetzung ist, Perspektiven zu entwickeln und im eigenen Leben zu verfolgen.865 »Biografische Kompetenz verstehen wir im Kontext fortgeschrittenen Lebensalters als die Fähigkeit, das Leben bis zum Schluss so zu gestalten, dass sich der Handelnde wohl, sicher und handlungsfähig fühlt, wichtige Beziehungen, Tätigkeiten und Gewohnheiten erhalten bleiben und Wünsche nach Neuem umgesetzt werden können.«866

Sie beziehen ihre Überlegungen insbesondere auf ältere Menschen mit geistiger Behinderung, die sich auf junge Menschen übertragen lassen. Die Fähigkeiten, das eigene Leben zu gestalten, sind nicht nur im fortgeschrittenen Alter, sondern immer wegweisend. Biografiearbeit gilt als »persönliche und zugleich sozial vermittelte Lebensbeschreibung.«867 Die Lebensgeschichten von Menschen mit geistiger Behinderung und mögliche Bedeutungszuweisungen gewinnen in den letzten Jahren an Vielfalt; die Vorbestimmung durch Institutionen weicht auf, sodass sie mehr Möglichkeiten und unterschiedliche Entscheidungsspielräume besitzen. Theunissen sieht darin eine zunehmende Entfernung von Institutionsbiografien hin zu pluralen Individualbiografien.868 Biografische Kompetenz könnte in das Zentrum historischer Lernprozesse gerückt und für alle Schüler*innen (mit oder ohne Behinderung) zu einem Ziel im Geschichtsunterricht werden. Ihre individuellen Erfahrungen ließen sich in den Mittelpunkt stellen. Dadurch erweitern die Lernenden, so ist zu vermuten, ihre Orientierungs- und

863 864 865 866 867 868

Rein (2020). Lindmeier/Oermann (2017), 13. Ebd. Ebd., 42. Theunissen (2002), 113. Ebd., 113f.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Handlungsfähigkeit. Die eigene Zukunft erscheint differenziert vorstellbar, erwart- und gestaltbar. Lindmeier/Oermann und Lindmeier stellen zur Umsetzung von Biografiearbeit verschiedene Überlegungen und Methoden vor.869 Die vorliegende Studie greift Biografiearbeit in einem strukturierten Interview auf, indem subjektive Theorien von bestimmten Lebensereignissen erhoben und interpretiert werden. Daran anknüpfend ließe sich mit den Teilnehmer*innen mit verschiedenen Zielsetzungen weiterarbeiten, was den Rahmen dieser Arbeit überschreitet. Es ist davon auszugehen, dass Lebensveränderungen, wie bspw. der Wendepunkt am Übergang von Schule in die Arbeitswelt, bei vielen Menschen mit Unsicherheit, Handlungsunfähigkeit, Orientierungslosigkeit und krisenhaften Erfahrungen verbunden sind. Biografiearbeit kann an diesen Kontingenzerfahrungen ansetzen. Ziel historischen Lernens (und auch von Biografiearbeit) ist, wie Kapitel 2.1 und 2.2 zeigen, bei Krisen und Kontingenzerfahrungen die eigene Orientierung und Handlungsfähigkeit wieder herzustellen. Wird die geschichtsdidaktische Theorie, wie vorgeschlagen, entsprechend verändert und erweitert, lässt sich diese Intention durch Biografiearbeit umsetzen. Das Verknüpfen der drei Zeitdimensionen steht im Vordergrund, was orientierteres Leben und Handeln ermöglicht. Schütze unterscheidet vier unterschiedliche Haltungen bzw. Deutungs- und Erzählmuster gegenüber biografischen Ereignissen. Es gibt (1) Biografische Handlungsschemata (2) Institutionelle Ablaufmuster der Lebensgeschichte, (3) Verlaufskurven und (4) Biografische Wandlungsprozesse.870 Die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte in Form von (1) biografischen Handlungsschemata betont die eigene Gestaltungsmöglichkeit. Eigene Handlungen, Pläne und Ziele dominieren und bestimmen Wahrnehmung und Deutung der Biografie.871 Die eigenen Sinnabschnitte sind beim (2) institutionellen Ablaufmuster der Lebensgeschichte durch die Abfolge verschiedener Lebensereignisse gekennzeichnet.872 Hier lassen sich bspw. Schulbeginn, Übergang in ein Arbeitsverhältnis, Umzüge oder andere Ereignisse sinnhaft zu einem Ablaufmuster zusammenfügen. Lindmeier und Oermann verweisen darauf, dass Biografien von Menschen mit geistiger Behinderung häufig von Brüchen und Einflüssen Dritter gekennzeichnet sind. Veränderungen der eigenen Biografie werden meist als von außen bestimmt gedeutet.873 Die Erzählung der eigenen Biografie in (3) Ver869 Lindmeier/Oermann (2017), 209–231. Da in der vorliegenden Forschungsarbeit derartige Methoden nicht im Vordergrund stehen, werden sie hier nicht näher ausgeführt und diskutiert. 870 Schütze (1984), 92. 871 Lindmeier/Oermann (2017), 42. 872 Schütze (1984), 92. 873 Lindmeier/Oermann (2017), 43f.

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Theoretische Grundlagen

laufskurven bringt die eigene Handlungsunfähigkeit und die Dominanz äußerer Entscheidungseinflüsse, also Ohnmacht der Betroffenen, zum Ausdruck.874 Die Personen erleben sich meist nicht (mehr) kompetent, Situationen oder Herausforderung zu bewältigen.875 Wird das Leben (4) in Form von biografischen Wandlungsprozessen erzählt, so geht das mit der Wahrnehmung (der Wiedergewinnung) der eigenen Erlebnis- und Handlungsfähigkeit einher.876 Situationen von außen (z. B. Renteneintritt, etc.) ermöglichen es, Veränderung anzunehmen und aktiv mitzugestalten. Grundsätzlich sind die Erzählmuster flexibel; Bedeutungszuweisungen können sich je nach Lebensphase und Ereignissen jederzeit ändern. Die Deutungs- und Erzählmuster sind für jeden Menschen subjektiv sinnvoll.877 Sie lassen sich kaum von außen bewerten. Einige Erzählmuster werden von eigener Ohnmacht bzw. Determiniertheit und Handlungs- und Einflussfähigkeit bestimmt. Die Äußerungen der Teilnehmer*innen sind in diesem Spannungsfeld zu untersuchen. Musenbergs und Pechs Überlegungen zum »Lernen in Biografien […] [als] ein möglicher Ansatzpunkt historischen Lernens«878 ist als Biografiearbeit zu verstehen. Dazu liegen noch keine empirischen Ergebnisse vor, weswegen sich nur theoriebasierte Aussagen treffen lassen.879 Häußler verweist darauf, dass biografisch orientiertes historisches Lernen günstig sein kann. Allerdings führt er auch Aspekte, wie Zeiträume oder gemessene Zeit (Uhr) an;880 das führt zur Frage, ob es sich dabei tatsächlich um historische Sinnbildung handelt. Musenberg und Pech schildern drei Möglichkeiten für biografisch orientiertes historisches Lernen, die sie skizzenhaft und teilweise mit Bezug auf Holl-Gieses881 Überlegungen zur Rekonstruktion der eigenen Einschulungsgeschichte ausführen.882 Aus Rahmengründen der vorliegenden Arbeit werden Musenbergs und Pechs Gedanken nicht näher ausgeführt. Die eigene Einschulungsgeschichte markiert wie der Übergang in die Arbeitswelt einen biografischen Wendepunkt. Für eine Neuorientierung spielen Erleben des Wandels und subjektive Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten eine wichtige Rolle. Holl-Giese verweist darauf, dass die Einschulung ein Lebensereignis ist, das häufig erinnert wird.883 Bei einem Praktikum und dem Übergang in die Arbeitswelt lassen sich, ähnlich wie die Einschulung, Veränderungen »räumlichen, sozialen und kogni874 875 876 877 878 879 880 881 882 883

Schütze (1984), 92. Lindmeier/Oermann (2017), 47. Schütze (1984), 92. Lindmeier/Oermann (2017), 51. Musenberg/Pech (2011), 233. Ebd., 234. Häußler (2015), 223. Holl-Giese (2003). Musenberg/Pech (2011), 233ff. Holl-Giese (2003), 11.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

125

tiven Lebenswelt, verbunden mit neuen Anforderungen und Erwartungen«884 beobachten. Ein Praktikum verweist auf zunehmende Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Verantwortung für das eigene Leben, kurz auf Erwachsenwerden. An beiden biografischen Übergängen ist erkennbar, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte Orientierungmöglichkeiten bietet, indem subjektives Erleben und Sinnzuweisungen reflektiert werden. So lässt sich bspw. Perspektivität von Geschichte wahrnehmen und fördern.885 Eine Lebensgeschichte gilt als subjektive Konstruktion. 2.3.2 Zur subjektiven Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte Biografien sind subjektive Wissensbestände, die ein Individuum im Kontext seiner sozialen Systeme konstruiert. Sie gelten als viable, standortabhänige Wirklichkeitskonstruktionen.886 Durch die Organisationsform der Autopoiese gelingen Selbstherstellung und -erhaltung.887 Der Mensch verfolgt während seines Lebens verschiedene Ziele, wodurch Zukunft erwartbar und in der Regel gestaltbar wird. Damit äußere und innere Welt deckungsgleich werden, ist er bestrebt, seine Ziele mit äußeren Umständen und inneren Bedürfnissen in Einklang zu bringen.888 Gelingt das, werden die gesetzten Ziele positiv erlebt. Manche Motive erscheinen im Laufe des Lebens ›widersprüchlich‹ und werden erst rückblickend sinnvoll konstruiert.889 Der Sinn von Erfahrungen und Erwartungen ist meist von »Anspruchsminimierung oder Kompromissbildung sowie Verarbeitungsformen, die den Ereignissen eigener Handlungen unabhängig von den ursprünglichen Intentionen im Nachhinein Sinn verleihen«890 geprägt. Sinnhaftigkeit ist höchst individuell und nur im jeweiligen Kontext nachvollziehbar. Kohärenz wird hergestellt, wenn »frühere Erfahrungen und zukunftsorientierte Wünsche verbunden werden können«891, so Friedrich bezogen auf empirische Ergebnisse zur subjektiven Konstruktion der eigenen Biografie. Im autobiografischen Wissen befinden sich Selbstschemata, Selbstkategorisierungen und Selbstkonzepte, die zum eigenen Selbst, der Identität beitragen. Gedächtnisprozesse, wie Vergessen und Verdrängen, spielen dabei eine ent-

884 885 886 887 888 889 890 891

Ebd. Musenberg (2014), 76. Hedderich (2015), 23. Maturana/Varela (1990). Brunstein/Maier (2002), 159. Ebd., 171. Witzel/Kühn (1999),14 zit. nach Friedrich (2006), 79. Friedrich (2006), 79.

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Theoretische Grundlagen

scheidende Rolle.892 Das autobiografische Gedächtnis als mentale Repräsentation der eigenen Lebensgeschichte gilt als zentrale Informationsquelle – aber, so Strube und Weinert auch als Fehlerquelle – wenn es darum geht, subjektive Sinnzuweisungen zu erklären.893 Autobiografische Erinnerungen nehmen mit voranschreitender Zeit ab. Sie verblassen und Ereignisse, die länger zurück liegen, werden weniger (gut) als aktuellere Geschehnisse erinnert.894 Von Borries schildert Erinnerung zwar als selektiv und unsicher, was bspw. ihre Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit angeht, allerdings als konstitutiv für die eigene Wahrnehmung der Welt und die Persönlichkeit.895 Daher »ist es […] theoretisch möglich und ergiebig, das autobiographische Gedächtnis spezifisch als Inbegriff jedes ausgezeichneten Wissens anzusehen, das eine Person über sich und ihre Lebensgeschichte gespeichert hat; ein Wissenssystem also, das nicht nur die inhaltliche Basis für selbstbezogene Eigenschaftszuschreibungen, Handlungserklärungen, Verhaltensvorhersagen und persönliche Bewertungen bildet, sondern auch eine notwendige Grundlage für das Erleben persönlicher Identität im Wandel der Zeit darstellt.«896 Durch Erfahrungen und Wissen, das im autobiografischen Gedächtnis gespeichert ist, werden Menschen handlungsfähig; es ist mit dem Leib vergleichbar. Sie wenden sich ihrer Umwelt auf dieser Reflexionsgrundlage zu. Werden sie sich dessen bewusst, können sie Zuschreibungen, Handlungserklärungen, Verhaltensvorhersagen und persönliche Bewertungen äußern und darüber nachdenken; sie sind fähig, sich in einer historischen Dimension selbst zu thematisieren und über sich nachzudenken. Biografisches Wissen lässt sich meist besonders gut wiedererinnern, da es subjektiv bedeutsam ist.897 Es bezieht sich auf Urimpressionen;898 das weist darauf hin, dass historische Sinnbildung an eigenen Erfahrungen als Urimpressionen anknüpfen muss, um gut wiedererinnert und subjektiv bedeutsam zu werden. Es ist anzunehmen, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung autobiografisches Wissen besser als anderes wiedererinnern. Das Praktikum als zentrale Erfahrung ist wohl besonders gut zu erinnern. Bilder, wie bspw. Fotografien, oder Illustrationen können Menschen zu (eigenen) Geschichten hinführen; sie ermöglichen Erinnerungen oder Erzählungen.899 Die Fotos der verschiedenen Arbeitsanlässe der Teilnehmer*innen haben 892 Strube/Weinert Franz Emanuel (1987), 151f.; an dieser Stelle können die vorliegenden Prozesse nicht näherer Gegenstand der vorliegenden Arbeit werden, da hier die Ergebnisse der subjektiven Konstruktionsprozesse betrachtet werden, nicht aber die Prozesse selbst. 893 Ebd., 151. 894 Strube/Weinert Franz Emanuel (1987), 159. 895 Borries (2008), 122. 896 Strube/Weinert Franz Emanuel (1987), 163. 897 Ebd., 153. 898 Husserl (1986), 108. 899 Schapp (2012, 113.

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in der vorliegenden Studie diese Funktion. Mit ihrer Hilfe erinnern sie sich an vergangene Erlebnisse und drücken subjektiven Sinn aus; das ist ein erster Schritt, die Konstruktion der eigenen Biografie bewusst und zum Ausgangspunkt für eine weitere Beschäftigung werden zu lassen. So könnte die Schule den Übergang in die Arbeitswelt institutionell unterstützen. 2.3.3 Den Übergang von der Schule zum Beruf gestalten Arbeit bezieht sich nicht nur auf reine Erwerbsarbeit, sondern ist als Kategorie menschlicher Entfaltung zu verstehen. Sie dient der Existenzsicherung und geht mit der eigenen Verortung innerhalb der Gesellschaft und der Ausprägung der eigenen Identität einher.900 Ihr Stellenwert im Leben ist hoch. Es gilt als menschliches Bedürfnis, einen angemessenen Beruf zu erlernen und ihm nachzugehen.901 Pitsch und Thümmel gehen davon aus, dass Arbeit u. a. ein zentrales Bedürfnis von jedem darstellt902, also auch von Menschen mit geistiger Behinderung. Der Übergang (z. B. von Schule) in die Erwerbsarbeit ist vor allem für diesen Personenkreis mit Barrieren und Einschränkungen verbunden.903 Fischer et al. kennzeichnen den Übergang als eine der zentralen Herausforderungen im sonderpädagogischen (und heilpädagogischen) Kontext.904 Vermutlich schlagen sich diese Hindernisse auf die subjektive Sinnkonstruktion von Erwerbsarbeit nieder. Arbeit905 ist ein Menschenrecht. Sie soll es dem Menschen dauerhaft ermöglichen, an seiner Lebenswelt, seiner Realität mitzuwirken, seine Persönlichkeit zu 900 901 902 903 904 905

Niehaus/Baumann (2016), 234. Speck (1998b). Pitsch/Thümmel (2017), 14. Hudson (2003), 262. Fischer/Heger/Laubenstein (2014), 14. Ein Beruf ist eine »dauerhafte angelegte, i. d. R. eine Ausbildung voraussetzende Betätigung, die Arbeitskraft sowie Arbeitszeit überwiegend in Anspruch nimmt. Nach Art. 12 GG besteht das Recht, den Beruf frei wählen zu können, allerdings ohne Gewährleistung der Möglichkeit zum tatsächlichen Tätigwerden. […] Eine berufliche Tätigkeit kann in einem Angestelltenverhältnis oder als selbstständige Tätigkeit ausgeübt werden. Angestellt arbeiten kann man in Vollzeit oder Teilzeit.« (Springer Gabler Verlag) Dabei steht ein Beruf in einem engen Zusammenhang mit einer spezifisch damit verknüpften Ausbildung und bezieht sich auf eine ganzheitlichere Sicht auf Erwerbstätigkeit, in Abgrenzung zu anderen Begriffen wie Job, Beschäftigung oder Arbeit (Pingel/Würfel (2016), 81). Insbesondere unterscheidet sich die Tätigkeit eines Berufs von Arbeit darin, dass für die Ausübung des Berufs i. d. R. eine Ausbildung vorausgesetzt wird. Arbeit wird allgemeiner gefasst, nämlich als »zielgerichtete, soziale, planmäßige und bewusste, körperliche und geistige Tätigkeit« (Springer Gabler Verlag). In der vorliegenden Forschungsarbeit sollen für die nachschulische Betätigung in einer WfbM oder einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkt daher beide Begriffe, sowohl Arbeit als auch Beruf verwendet werden, da die nachschulische Tätigkeit grundsätzlich sowohl in Form einer Arbeitstätigkeit, aber auch einer Berufstätigkeit erfolgen kann. Pitsch

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verwirklichen und sich weiterzuentwickeln. Sie kann dazu beitragen, Sinn im Leben zu verwirklichen;906 außerdem lässt sie Orientierungsmöglichkeiten zu, so Speck und erlaubt nach Fischer et al. »eine individuelle Gestaltung der Lebensmöglichkeiten.«907 Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention – nunmehr über zehn Jahren ratifiziert – gilt das Recht auf Arbeit für Menschen mit (geistiger) Behinderung.908 Dort heißt es: »Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderung auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen umgänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird.«909

Menschen mit geistiger Behinderung gelten (mittlerweile) als arbeitsfähig und -willig. Ihnen stehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Arbeit zur Verfügung. Bei der Umsetzung sollen sie geeignete Unterstützung erfahren.910 Baden-Württemberg sieht dafür ein fünfgliedriges Konzept vor, das berufliche Teilhabe ermöglichen und Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt ebnen soll: 1) Schulische Vorbereitung und Kompetenzanalyse, 2) Netzwerkkonferenz, 3) Berufswegekonferenz, 4) Berufsvorbereitende Einrichtung (BVE) und 5) Kooperative berufliche Bildung und Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (KoBV).911 Nach dem Besuch der Schule bestehen für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verschiedene Möglichkeiten. Durch ein Berufsvorbereitungsjahr oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen können sie ihre Qualifikation für anschließende berufliche Tätigkeiten weiterentwickeln. Sie können auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, eine betriebliche Berufsausbildung absolvieren, an einer Ausbildungsmaßnahme an einem Berufsbildungswerk teilnehmen, die Arbeit in einer WfbM aufnehmen oder einen Arbeitsplatz in einer Selbsthilfe- oder Integrationsfirma finden.912 Im Rahmen der WfbM können sie unterschiedliche Arbeitsplätze wählen; es gibt meist einen Förder- und Betreuungsbereich für Personen, die nicht über das »Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit«913 verfügen, einen Produktionsbereich

906 907 908 909 910 911 912 913

und Thümmel sprechen sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich davon aus, von Berufstätigkeit zu sprechen, auch wenn Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel nicht in einem per se anerkannten Beruf tätig sind (Pitsch/Thümmel (2017), 147). Speck (1998a), 5f. Fischer/Heger/Laubenstein (2014), 7. Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (2018). Ebd., Artikel 27. Pitsch/Thümmel (2017), 13. Klauß (2013), 361f. Theunissen (2003), 122f. Klauß (2013), 289.

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und Arbeitsplätze in einem ausgelagerten Bereich, der strukturell zur WfbM gehört, aber vor Ort bei einem anderen Betrieb angegliedert ist.914 Menschen mit geistiger Behinderung haben einen Rechtsanspruch auf ein Arbeitsverhältnis in einer WfbM. Klauß weist kritisch darauf hin, dass die UN-Konvention ausdrücklich auch ein Recht auf eine Berufsausbildung ausspricht. Der Anspruch müsste in einem allgemeinen inklusiven Bildungssystem eingelöst werden.915 Der Zugang zu inklusiven Arbeitssettings ist gesetzlich gesichert; WfbM sollen den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen.916 Sie stellen für Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel aber den üblichen Arbeitsort dar, wobei der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren vermehrt angestrebt wird.917 Die meisten Betroffenen arbeiten nach Beendigung der Schulzeit in einer WfbM – bis zum Renteneintritt.918 Trotz der nach UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt, ist derzeit nicht davon auszugehen, dass die WfbM in absehbarer Zeit überflüssig werden.919 Nicht einmal ein Prozent aller Personen, die in einer WfbM arbeiten, wechseln im Laufe ihrer Arbeitskarriere in den allgemeinen Arbeitsmarkt.920 Theunissen schließt daraus, dass sowohl »die Schulen für Geistigbehinderte als auch (vor allem) die WfbM keinen wesentlichen Beitrag zur nachschulischen Eingliederung von Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung ins gesellschaftliche Arbeitsleben leisten und damit die traditionelle Ausgrenzung, Diskriminierung und Besonderung dieses Personenkreise perpetuieren.«921 Menschen mit geistiger Behinderung benötigen – wie Menschen ohne Behinderung – teilweise Unterstützung, um sich Themen ihres Erwachsenenlebens wie bspw. Freizeitgestaltung, Wohnen und Arbeiten anzunehmen.922 Ziel der Schulzeit ist, den Schüler*innen berufliche Bildung zukommen zu lassen, durch die sie Kompetenzen für das eigene (berufliche) Handeln entwickeln.923 Die Unterstützung bei der Vorbereitung auf diese Themen und die Veränderung der damit einhergehenden Rolle in der Gesellschaft wird (in Baden-Württemberg) in der Berufsschulstufe angebahnt. Was genau unter einer Berufsschulstufe zu verstehen ist, wird später erläutert. Lindmeier und Oermann schildern, dass beim Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand sensibel auf die sich verändernde 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923

Ebd., 289. Ebd., 355. Niehaus/Baumann (2016), 236. Speck (2018), 372. Schneider (2000), 106. Speck (2018), 372. Doose (1997b), 229; Niehaus/Kaul/Friedrich-Gärtner/Klinkhammer/Menzel (2012). Theunissen (2003), 107. Ebd., 52. Ebd., 105.

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Theoretische Grundlagen

Lebenssituation zu reagieren ist.924 Analog dazu ist auch die Vorbereitung auf den Übergang von Schule in die Arbeitswelt umsichtig anzubahnen. Menschen mit geistiger Behinderung profitieren grundsätzlich davon, wenn Bildungsangebote u. a. an den Erfahrungen des eigenen Lebens anknüpfen, so Theunissen.925 Die Vorbereitung auf das nachschulische Arbeitsleben ist mit eigenen Erfahrungen, bspw. aus Praktika zu verbinden.926 In der Berufsschulstufe der SBBZen können sich Schüler*innen auf ihre spätere Arbeit vorbereiten. Die Maßnahmen und die zugrundeliegenden Konzepte gelten als Berufsvorbereitung.927 Zur schulischen Vorbereitung gehören bspw. »Betriebs- bzw. Arbeitsplatzerkundungen, Betriebspraktika, Arbeitslehre, persönliche Beratungsgespräche […] [und] Nutzung von Medien zur Berufswahl und Einsatz im Unterricht.«928 Das Training von »Arbeitstugenden, wie Zuverlässigkeit, Fleiß, Verantwortlichkeit [und] Pünktlichkeit«929 sowie Absprachen untereinander zu treffen, ließe sich verfolgen.930 Kooperation zwischen Schule, Erziehungsberechtigten, Berufsberatung und Arbeitswelt, ist ein Schlüssel für eine gelingende Arbeitswahl – der/die Schüler*in und seine/ihre Perspektiven stehen im Zentrum aller Überlegungen.931 Berufsvorbereitung in der Schule umfasst implizite und explizite Maßnahmen. Implizite Unternehmungen zielen grundsätzlich, aber indirekt auf spätere Arbeit oder Beruf. Explizite Maßnahmen dienen der direkten und gezielten Vorbereitung.932 Die Arbeitsanlässe der Forschungsteilnehmer*innen sind eine explizite Berufsvorbereitung – sie trainieren im schulischen Unterricht und bei Praktika gezielt arbeitsbezogene Kompetenzen. Somit zielen die Unternehmungen auf die »Gewährleistung arbeitsbezogener Erfahrungen – insbesondere über begleitete Praktika oder längere Anwesenheitszeiten in Betrieben«933 und »die Stimulation von Arbeitsprozessen – insbesondere über Schülerfirmen oder in Form von Produktionsschulen.«934 Die betroffenen Schüler*innen erfüllen durch den Besuch der Berufsschulstufe ihre Berufsschulpflicht. In dieser Stufe soll eine Grundlage für ihre Berufswegeplanung geschaffen werden; die Lernenden sammeln Erfahrungen, um Entschei-

924 Lindmeier/Oermann (2017), 53ff. 925 Theunissen (2003), 76. 926 Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Institut für Bildungsanalyse Baden-Württemberg. 927 Stein (2016), 246. 928 Theunissen (2003), 122. 929 Klauß (2013), 288. 930 Ebd. 931 Theunissen (2003), 122. 932 Stein (2016), 246. 933 Ebd., 247. 934 Ebd.

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dungen über die nachschulische Arbeit zu treffen935 und trainieren Arbeitstechniken und -haltungen.936 Methodisch lässt sich die Planung der Arbeitszukunft durch Betriebs- und Arbeitsplatzerkundungen und Praktika unterstützen. Das soll zur Orientierungsfähigkeit beitragen.937 Fischer und Pfriem empfehlen dafür die vier Themenbereiche, technische Bildung, ökonomische Bildung, Haushalt, Hauswirtschaft und Ökologie sowie Berufsorientierung.938 Alle Maßnahmen dienen der persönlichen Zukunftsplanung, die das folgende Kapitel bespricht. Eine Normalisierung der Lebensbereiche soll die pädagogische Leitidee sein; vorhandene Strukturen und Systeme sind zu hinterfragen, Barrieren zu erkennen sowie abzubauen und die Bedingungen so zu verändern, dass ein Leben so normal wie möglich praktikabel wird. Inklusion und Selbstbestimmung sind zentrale Prinzipien.939 Die Vorbereitung auf nachschulische Arbeit ist an diesen drei Leitprinzipien zu orientieren. »Bedeutsame Übergänge im Lebenslauf als kritische Lebensereignisse führen wegen des mit ihnen verbunden ›affektiven Lärms‹ zu einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit des Individuums.«940 Veränderungen sind aufgrund erhöhter Vulnerabilität und dem Abgleich von eigenen mit sozialen Erwartungen prekär – besonders bei Menschen mit geistiger Behinderung. Eigene Erwartungen werden mit dem eigenen Selbstkonzept und (den in der Regel) eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten verglichen. Die Phase ist wohl häufig krisenhaft. Menschen mit geistiger Behinderung fühlen sich an Übergängen vermutlich oft überfordert, was zu einer Identitätskrise führen kann und unbedingt beachtet werden muss.941 Es erscheint sinnvoll, Phasen des Wandels für biografisch-historische und elaboriert-historische Lernanlässe in den Blick zu nehmen. Die Schüler*innen könnten differenzierte Erfahrungen sammeln und werden leiblich reflexiv handlungsfähiger. Ebenso ermöglicht eine bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexion eigener Erlebnisse (auch in Verbindung mit Dritten) differenziertere Einsichten in eigene Haltungen, Meinungen, Wünsche und Vorstellungen an die eigene Zukunft. Vielfältige Zukunftshorizonte lassen sich durch entsprechende Lernangebote zur Persönlichen Zukunftsplanung eröffnen.

935 936 937 938 939 940 941

Biermann (2016), 296f. Speck (2018), 309. Pitsch/Thümmel (2017), 145ff. Fischer/Pfriem (2011), 337ff. Klauß (2013), 283f. Friedrich (2006), 71. Ebd., 72.

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2.3.4 Persönliche Zukunftsplanung Menschen mit geistiger Behinderung werden zunehmend als fähige Gestalter*innen ihres eigenen Lebens wahrgenommen.942 Ihre Lebenssituationen und -bereiche sind allerdings immer noch von »Institutionalisierung, Überwachung, Regulierung, Fremdbestimmung und Exklusion gekennzeichnet.«943 Diese Merkmale zeigen sich im schulischen und nachschulischen Bereich; nach Trescher wirken sie sich besonders auf Wohnen, Freizeit und Arbeiten aus.944 Die Einflussmöglichkeiten der Betroffenen auf die eigene Zukunft sind oft noch eingeschränkt; Impulse von außen dominieren meist Entscheidungen, die Zukunftsvorstellungen sind von außen begrenzt.945 Lindmeier und Oermann stellen fest, dass die Betroffenen sich selten als handlungsfähig einschätzen; Einfluss auf eine aktive Lebensgestaltung ist wohl selten gegeben. Es zeigt sich, dass sie ihre eigene Zukunft als determiniert und Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten als begrenzt wahrnehmen.946 »Die äußere Einflussnahme auf die Subjektentwicklung«947 ist wohl besonders groß. Insbesondere Eltern und das »pädagogisches Protektorat« bilden dominante Konstanten; Lebens- und Erfahrungsraum der Betroffenen sind stark von äußeren Faktoren, die sich als »schonender Lebensraum präsentieren«948, geprägt. Trescher stellt dar, dass viele Betroffene konstant erschwerten Zugang zu den üblichen »Lebens- und Erfahrungsräumen [haben] und [mit] der Beschränkung auf Lebensbereiche, die sich durch Überwachungs-, Regulierungs- und Fremdbestimmungspraxen auszeichnen, […] auch eine Gewöhnung an eine mehr oder weniger stark eingeschränkte individuelle Handlungsökonomie einher [geht].«949 Das betrifft alle Lebensbereiche: Schule, Wohnen, Freizeit, Arbeiten und viele mehr. Die Personen werden oft durch Herkunftsfamilie oder Hilfesystem ›behindert‹.950 In vielen Bereichen sind Menschen mit geistiger Behinderung noch abhängig. So werden Entscheidungen manchmal (so sicher auch bezüglich der Arbeit) gegen ihren Willen getroffen. Die Begründung dafür ist nicht selten, vermeintliche Unfähigkeit, selbst Entscheidungen zu treffen und mangelnde Einsicht.951 Früher ging man davon aus, die professionellen Helfer*innen wüssten um die 942 Lindmeier/Oermann (2017), 12. Zu dieser Entwicklungstendenz trägt auch die UN-Behindertenrechtskonvention 2009 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (2018) bei. 943 Trescher (2017b), 15. 944 Trescher (2015). 945 Trescher/Börner (2014). 946 Lindmeier/Oermann (2017), 52. 947 Trescher (2017a), 55. 948 Ebd., 55. 949 Ebd., 240. 950 Trescher (2017b), 173. 951 Mattke (2004), 305.

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Voraussetzungen und Möglichkeiten der betroffenen Personen am besten Bescheid und könnten am besten ihre Zukunft planen.952 Für die Betroffenen galt das als Überforderung. Noch bis vor wenigen Jahren war es bspw. üblich, dass einzig die beteiligten Helfer*innen Förderpläne verfassen.953 Man sprach dem Personenkreis jahrelang die Fähigkeit ab, Zukunft selbst planen bzw. mitgestalten und eigene Bedürfnisse sowie Wünsche hervorzubringen zu können. Dieses Herangehen steht diametral konträr zum Recht auf Selbstbestimmung und Grundsätzen von Menschenwürde und -rechten. Es gilt mittlerweile als zeitgemäß und angemessen, Überlegungen mit den Betroffenen anzustellen und sie aktiv in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.954 Spätestens seit Diskussionen um Empowerment und Selbstbestimmung sickert mehr und mehr die Haltung durch, sie als Expert*innen in eigener Sache zu begreifen und dahingehend zu unterstützten.955 Die Entwicklung ist erst in den vergangenen Jahren zu beobachten, sodass begründet davon auszugehen ist, dass Fremdbestimmung und Bevormundung noch immer – wenn auch hoffentlich weniger – stattfinden. Persönliche Zukunftsplanung956 kann Allgemeinbildung, freizeit- und erwachsenen-pädagogische Aspekte in der Berufsschulstufe aufgreifen957, um zu Selbstbestimmung beizutragen. Wunsch- und Wahlmöglichkeit sind zu stärken.958 Die Lernenden sollen eigene Fähigkeiten realistisch einschätzen und im Abgleich mit Wahrnehmungen Dritter zu einer möglichen Planung ihrer eigenen Zukunft kommen.959 Sie denken über ihre eigene Zukunft nach, planen Ziele und verfolgen sie. Gegebenenfalls können gewählte Bezugspersonen sie dabei unterstützen.960 Persönliche Zukunftsplanung bestärkt die Schüler*innen bei ihren Entscheidungen; die Entscheidungen sollen allen Beteiligten als Orientierung dienen.961 Biografisch-historisches und elaboriert-historisches Lernen lässt sich durch Persönliche Zukunftsplanung institutionell umsetzen. Die Betroffenen können, so die Vermutung, dadurch die eigene Zukunft kompetenter erwarten und eher mitgestalten; vielseitige Erfahrungen eröffnen biografisch-historisch leib952 953 954 955 956

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Theunissen (2003), 130. Theunissen (2002), 172f. Ebd., 129. Ebd., 173. Doose (1997a)) gibt zahlreiche Hinweise zur Umsetzung der persönlichen Zukunftsplanung, wie Methoden, Hilfsmittel oder Fragen als Richtlinien an. Auch Theunissen (2003)) schlägt ein konkretes Vorgehen für die persönliche Zukunftsplanung vor. Ebenso finden sich vielfache nützliche Hinweise bei Tschann (2014)). Speck (2018), 309. Biermann (2016), 297. Pitsch/Thümmel (2017), 144. Doose (1997a), 199. Theunissen (2003), 130f.

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lich reflexive Zukunftshorizonte, was zu orientierterem Leben und Handeln beiträgt. Auf elaboriert-historischer Ebene lassen sich kognitiv-sprachliche und bewusste Reflexionsanlässe schaffen, welche die Handlungskompetenz ebenfalls erweitern. Es ist zu fragen, wie sich Überlegungen zur Biografiearbeit und Persönlichen Zukunftsplanung systematisch in historisches Lernen einbetten lassen; dazu erscheint die Trennung historischen Bewusstseins in zwei Ebenen notwendig.

2.4

Historische Sinnbildung ist mehr …

Vor dem Hintergrund der vorherigen Ausführungen zum Geschichtsbewusstsein, Zeitbewusstsein und Biografiearbeit erscheint es plausibel und notwendig, von zwei Ebenen historischen Bewusstseins auszugehen: dem biografisch-historischen Bewusstsein und dem elaboriert-historischen Bewusstsein. In beiden Dimensionen findet historische Sinnbildung statt, die sich in Lernprozessen verfolgen lassen. Die Ebenen sind zunächst theoretisch herzuleiten, was in den folgenden Kapiteln geschieht. In Kapitel 4.3.3 werden die theoretischen Überlegungen mit den Sinnzuweisungen der Forschungsteilnehmer*innen verbunden. Die nachstehenden Überlegungen sind als erste Annäherung zu verstehen, die es zu erweitern und auszudifferenzieren gilt. Mit Blick auf die kritischen spricht die vorliegende Arbeit nicht mehr von Geschichtsbewusstsein, was sich vor dem Hintergrund der weiteren Ausführungen begründen lässt.962 Die Aufspaltung historischer Sinnbildungsprozesse in zwei Ebenen lässt eine große Chance für eine inklusive Geschichtsdidaktik und -unterricht vermuten. Es erscheint lohnenswert, zu überlegen, ob Inklusion in Theorie und schulischen Lernprozessen von diesen Überlegungen her gedacht werden und gelingen könnte. Die Trennung birgt die Möglichkeit, auch biografisch-historische Lernprozesse im Kontext von historischem Bewusstsein zu begreifen. Auf dieser historischen Sinnbildungsebene spielen rationale Vernunftorientierung und kognitiv-sprachliche Voraussetzungen zur Bewusstseinsentwicklung keine Rolle. Es könnten wirklich alle Schüler*innen am historischen Lernen partizipieren; biografischhistorisches Lernen und die Erweiterung des entsprechenden Bewusstseins wäre mit dem Ziel biografischer Kompetenz zu verfolgen. Ein Modell, das diese Kompetenz auf beiden Ebenen ausdifferenziert, könnte im Zentrum weiterer didaktischer Bemühungen stehen. Die vorliegende Arbeit möchte erste Impulse setzen. Grundlegendes Ziel dieser Kompetenz wäre, die Schüler*innen dabei zu unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und selbstständig zu gestalten. Sie sollen eigene 962 Wird auf die aktuelle geschichtsdidaktische Theoriebildung verwiesen, ist weiterhin von Geschichtsbewusstsein zu sprechen.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Wünsche und Vorstellungen ihrer persönlichen Zukunft erzeugen und handlungsfähiger werden. Auf biografisch-historischer Ebene zielt biografisch-historische Kompetenz auf die Erweiterung von Erfahrung. Es sind Sinnbildungsprozesse anzuregen, durch welche die Lernenden orientierter leben und handeln. Auf elaboriert-historischer Ebene ist elaboriert-historische Kompetenz durch die bewusste Auseinandersetzung mit Erfahrungen (eigenen und denen Dritter) zu verfolgen. Sie erweitern ihre Handlungskompetenz, indem sie einzelne Aspekte aufeinander beziehen. Mit Blick in die didaktische Theorie erscheint es legitim, von zwei Ebenen historischer Sinnbildung auszugehen. So geht bspw. Rüsen, wie gezeigt, davon aus, dass von autobiografischer Sinnbildung auf die Psychologie des Geschichtsbewusstseins zu schließen ist. Vermutlich ist damit eine Vergleichbarkeit beider Dimensionen gemeint. Durch den strukturellen Vergleich wird auch Rüsens Feststellung, dass bei der Sinnbildung einige Deutungselemente, wie unbewusste Prozesse eine Rolle spielen963, nachgegangen. Die Überlegung deutet auf die biografisch-historische Sinnbildungsebene hin. Mit der Annahme einer biografisch-historischen Dimension wird auch Straubs Forderung, dass bei Überlegungen zur historischen Sinnbildung nicht-kognitive und vernunftsunabhängige Aspekte einzubeziehen sind,964 gefolgt. Vorsprachlich-nichtbewusste biografisch-historische Sinnbildung und kommunikativ-produktive elaborierthistorische Sinnbildung stehen gleichberechtigt nebeneinander. Schulz-Hageleits Vermutung, dass der rein bewusst-reflektierte Fokus auf Geschichtsbewusstsein der Komplexität von Sinnbildung nicht gerecht wird,965 lässt sich so nachgehen. Begründen lässt sich die Aufspaltung auch vom Erfahrungsbegriff her. »Weil Erfahrung selbst geschichtlich ist, kann sie nur retrospektiv in ihrer Ganzheit aufgefasst werden und ist sie in ihre Interpretation auch durch den Blick auf die Zukunft bedingt.«966 Jede Erfahrung – jede biografisch-historische und jede elaboriert-historische – ist historisch. Folgt man dieser Definition, würde das den Begriff davon, was die Geschichtsdidaktik aktuell als historisch versteht, stark erweitern. Sinnbildung ist, wie gezeigt, elementar und untrennbar mit Erfahrung verbunden: ohne Erfahrung lässt sich kein Sinn erzeugen; ohne Sinnbildung ist nicht von Erfahrung zu sprechen. Rüsen bspw. verbindet historischen Sinn ausschließlich mit Erfahrung des zeitlichen Wandels und dem Erzeugen von Bedeutung; erst dann, so Rüsen, wird Sinn spezifisch historisch.967 Das stellt, vor 963 Rüsen (1994/95), 15. 964 Straub (1998), 155, kursiv im Original; vernunftsunabhängig hier bezogen auf rationale Vernunft. 965 Schulz-Hageleit (2004), 55. 966 Rese (2010), 111. 967 Rüsen (2013), 36.

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dem Hintergrund der vorherigen Überlegungen, eine unnötige Engführung dar und verpasst die Gelegenheit, biografische Erfahrungen, die sich nicht auf eine Zeitdifferenz beziehen, als historisch zu deuten und in den geschichtsdidaktischen Diskurs zu implementieren. Beide Bewusstseinsebenen sind spezifisch historisch. Sie verbinden die drei Zeiteben miteinander und betreffen dezidiert die Vergangenheit. Biografisch-historisch geschieht das nicht-bewusst auf leiblich reflexiver Ebene, elaboriert-historisch hingegen bewusst und kognitivsprachlich reflexiv. Zeitliche Veränderungen lassen sich erleben, wahrnehmen (biografisch-historisch) und reflektieren (zusätzlich elaboriert-historisch). So erzeugen Menschen Sinn und vergewissern sich selbst im Wandel der Zeit. Biografisch-historisch betreffen die Sinnbildungsprozesse die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, elaboriert-historische Bedeutungszuweisungen beziehen sie sich biografisch auf die drei Zeitebenen und können darüber hinauszeigen. Die einzelnen Aspekte werden aus dem Erlebnisfluss abstrahiert und gezielt betrachtet. In beiden Dimensionen lassen sich Geschichten erzeugen. Biografisch-historisch entsteht die Lebensgeschichte, elaboriert-historisch entstehen weitere Geschichten. Geschichten verbinden auf beiden Ebenen unterschiedliche Zeitebenen miteinander – ein Aspekt, der als spezifisch historisch zu betrachten ist. Das führt zu Überlegungen, warum reflektiertes Geschichtsbewusstsein als Bezugsgröße und Ziel historischen Lernens in der vorliegenden Arbeit keine Verwendung mehr finden soll. Es ist, wie gezeigt, ausschließlich und untrennbar mit rationaler Vernunft, Sprache und Kognition verbunden. Die Bewusstseinsebene ist vielen Schüler*innen, nämlich denen, die nicht über entsprechende kognitiv-sprachliche Fähigkeiten verfügen, abzusprechen. Das ist keine vertretbare Option. Die geschichtsdidaktische Theorie muss sich verändern. Geschichtsbewusstsein zeigt sich in einer historischen Narration; sinnhafte Orientierungs- und Handlungsfähigkeit sind ohne vorherige historische Erzählung nicht möglich.968 Wenn die Geschichtsdidaktik ihre zentrale Denkfigur an diese komplexe rationale und kognitiv-sprachlich hoch anspruchsvolle Operation einer historischen Narration bindet, verpasst sie die Möglichkeit, alle Schüler*innen zu erreichen und wirklich allen historisches Lernen zu ermöglichen. An die Stelle der Narration könnten zum einen die Handlung, zum anderen das Begriffspaar Erklären und Verstehen969 treten. In Erklärens- und Verstehensprozessen lassen sich Zusammenhänge weniger komplex als in einer historischen Narration darstellen. Da Geschichtsbewusstsein untrennbar mit der historischen Narration verbunden ist, erscheint es unmöglich, weiterhin davon zu sprechen, ihm bloß anstatt der Narration nun eine Handlung oder Erklären 968 Rüsen (2001b), 77. 969 Mayer (2014).

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und Verstehen an die Seite zu stellen. Daher erscheint Geschichtsbewusstsein keine geeignete Bezugsgröße mehr zu sein, was sich auch mit den folgenden Überlegungen begründen lässt. Zum einen ist Geschichtsbewusstsein, wie Kapitel 2.1.8.1 erörtert, unhintergehbar mit historisch-national-kulturellen Bezügen verbunden, was sich äußerst problematisch zeigt. Mögliche Folgen der Orienterung über Zugehörigkeit und Ausgrenzung können Diskriminierung, Ethnozentrismus, Xenophobie und Rassismus sein. Sie treten an die Stelle, an der eigentlich Pluralität, Offenheit, Neugierde, Dialog und Toleranz stehen müssten. Doch Geschichtsbewusstsein, so ist begründet zu vermuten, lässt Vielfalt und Haltungen, die von Ambiguitätstoleranz geprägt sind, nicht zu.970 Genau hier liegen Chancen von historischem Lernen, nicht aber die Chancen von Geschichtsbewusstsein. Ebenso ist sein Subjektcharakter zu kritisieren. Geschichtsdidaktische Theorie und historische Lernprozesse müssen das Individuum in den Fokus stellen. Daher sollte nicht von kultureller Orientierung, sondern individueller Orientierung in sozialen und kulturellen Kontexten zu sprechen sein. Hier verbirgt sich ein zentraler Wandel; Orientierung ist nun an das Individuum gebunden. Wie bereits dargestellt, lässt sich Geschichtsbewusstsein und damit auch seine kulturellen Bezüge aktuell als das Subjekt der Theorie und Lernprozesse verstehen. Die fähigen Schüler*innen werden zu den Objekten; Schüler*innen, die über gewisse kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten nicht verfügen, so zeigten die weiterführenden Überlegungen, besitzen keinen Status. Es ist nicht vertretbar, Geschichtsbewusstsein als Subjekt und fähige Schüler*innen als Objekte zu verstehen sowie Lernende, welche nicht über die geforderten Fähigkeiten verfügen, zu marginalisieren. An die Stelle der Subjekte müssen die Schüler*innen als Individuen treten; von ihnen aus sind historische Lernangebote zu gestalten; nicht von Seiten des Geschichtsbewusstseins und der -kultur. Dann bieten historische Lernprozesse die Möglichkeit, dass Individuen ihre einzigartige Identität und keine kulturell-nationale Identität entwickeln, was positive Effekte für Pluralität bereit hält. Vor den geschilderten Überlegungen gilt es nun einen Begriff zu finden, der historische Sinnbildung mit elaborierter Geschichte ermöglicht, allerdings nicht die negativen Folgen von Geschichtsbewusstsein besitzt. Elaboriert-historische Sinnbildung mit dem Ziel, elaboriert-historisches Bewusstsein zu entwickeln oder zu vertiefen, erscheint dafür geeignet. Elaborierthistorisches Lernen und das entsprechende Bewusstsein müssen über grundlegende Voraussetzungen verfügen, um nicht die gleichen Nebenwirkungen wie Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Es ist nicht mit Geschichtsbewusstsein gleichzusetzen, da es sich auf biografisch-historisches Bewusstsein bezieht. Über

970 Völkel (2017c), 119.

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welche Strukturen elaboriert-historisches Bewusstsein verfügt, erörtert Kapitel 2.4.2. Die biografisch-historische und die elaboriert-historische Bewusstseinsebene als gleichwertig zu betrachten, führt zu einer Abkehr vom cartesianischen Menschenbild und der Bevorzugung der rationalen Vernunft sowie kognitivsprachlichen Fähigkeiten. Handeln und Denken/Sprechen werden einander komplementär gegenübergestellt.971 Das neue Menschenbild lässt sich in der Phänomenologie verorten. Die Schüler*innen sind Subjekte innerhalb der historischen Sinnbildungsprozesse – und gleichzeitig Objekte.972 Sie sammeln biografisch-historisch Erfahrungen und erleben ihre eigene Historizität, die Historizität von Wertvorstellungen sowie ihrer Umgebung. Sie setzen sich (zusätzlich) elaboriert-historisch mit biografischen Erfahrungen und sich selbst auseinander. Ihre Reflexion kann sich (biografisch-historisch und elaboriert-historisch) auf die eigene Lebenszeit beziehen oder (elaboriert-historisch zusätzlich) daüber hinaus gehen. Es ist keine Voraussetzung, die eigene Lebenszeit gedanklich zu überschreiten. Einige geschichtsdidaktische Denkfiguren zeigen sich an elaboriert-historische Sinnbildung anschlussfähig; sie sind aber auf elementare Aspekte zu reduzieren und lassen sich nur im Rahmen der vorgestellten Veränderungen und Erweiterungen anknüpfen. Die folgenden Ausführungen betrachten die strukturelle Ähnlichkeit beider Bewusstseinsebenen; einige konsensuale Aspekte geschichtsdidaktischer Theorie sind in ihren Grundzügen wieder zu finden. Das legt die Vermutung nahe, dass Geschichtsbewusstsein bislang zu eindimensional betrachtet wird. In der Trennung beider Ebenen als strukturell vergleichbare und gleichwertige historische Sinnbildungsprozesse, liegt die Chance, historisches Lernen für alle Schüler*innen theoretisch zu begründen. Mit Blick auf die konsensuale Theorie in Kapitel 2.1 und phänomenologisch orientiertem Zeitbewusstsein in Kapitel 2.2, lassen sich fundamentale Aspekte historischen Bewusstseins ausfindig machen. Sie sind strukturell vergleichbar: Erfahrung, Sinnbildung, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte. 2.4.1 Biografisch-historisches Bewusstsein Mit Bezug auf die voranstehenden Ausführungen lassen sich Erfahrung, Sinnbildung, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte vor dem Hintergrund biografisch-historischen Bewusstseins ausführen. Alle fünf Aspekte bedingen sich und sind nur in Verbindung miteinander zu denken; dennoch wird versucht, sie zu differenzieren, um ihre eigene Funktion und Wirkung einzu971 Völkel (2017a), 54. 972 Ebd., 84.

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ordnen. Als Ergebnis und Ziel von biografisch-historischem Lernen lässt sich biografisch-historisches Bewusstsein deuten. Erfahrung Eine biografisch-historische Erfahrung bezieht sich auf die nicht-bewusste Verarbeitung eines Erlebnisses und ist in ihrer leiblich reflexiven Dimension zu betrachten. Durch Sinnzuweisungen lässt sich Erleben als Erfahrung deuten. Verschiedene Aspekte der Umwelt gewinnen an subjektiver Bedeutsamkeit, wenn sie auf andere Erfahrungen bezogen werden. Differenzerfahrungen leisten einen wesentlichen Beitrag, Erleben in seiner Andersartigkeit mit Sinn zu versehen.973 Das erlaubt es dem Menschen, sich in seiner Umwelt zu orientieren und zu handeln. Er wird durch Erfahrung orientierungs- und handlungsfähig. Dieser Prozess lässt sich mit Kellys Überlegungen zur Personal Construct Psychology aus Kapitel 3.4.1.1 verbinden, was der Abschnitt zur Sinnbildung aufgreift. Erfahrungen sind, wie gezeigt, neben Erleben und Erwartungen leiblich reflexiv in orientierter Zeit enthalten. Durch orientierte Zeit ist erfahrungsgesättigte Zukunft aufgrund leiblich reflexiver Verarbeitungsprozesse ohne historische Narration möglich. Sie eröffnet sich durch die Strukturen des Zeitbewusstseins. Erfahrungen selbst verweisen in die Zukunft und eröffnen einen Erwartungshorizont. Sie ist an sich historisch und in den Kontext historischer Sinnbildung zu rücken. Alle biografisch-historischen Erfahrungen sind im schweigenden cogito, im Leib, gespeichert; Menschen haben darauf nur eingeschränkten Zugriff, da sie zunächst nicht-bewusst und rein leiblich reflektiert verarbeitet werden. Sie lassen sich nie vollständig ausdrücken. Wie Ricoeur darstellt, kann der Abstand und die Abgeschlossenheit einer Erfahrung abstandslos durch eine Erinnerung überwunden werden.974 Sind verschiedene Erfahrungen nicht bewusst durch einen kognitiv-sprachlichen Prozess voneinander getrennt, sodass sich ihre Differenz betrachten lässt, fallen sie zusammen und bilden in ihrer Gesamheit die leibliche Reflexivität. Sie sind an ihren Raum und die jeweiligen sozialen und kulturellen Dimensionen gebunden. Um sich in verschiedenen Räumen störungsfrei und ohne Irritationen bewegen zu können, bedarf es verschiedener Erfahrungen, die biografisch-historisch zu Orientierungs- und Handlungsfähigkeit beitragen. Durch eine neue Erfahrung gewinnt ein Mensch eine neue Einsicht; seine Handlungsfähigkeit wird differenzierter. Sinnbildung und Erfahrungen sind aneinander gebunden und komplementär zueinander. In Erfahrungen generiert sich außersprachlicher und nicht-bewusster Erfahrungssinn, der sich als Handlungssinn deuten lässt und zeigt.

973 Völkel (2017a), 134. 974 Ricoeur (1997), 437.

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Sinnbildung Um zu erklären, wie auf biografisch-historischer Ebene Sinn gebildet wird, lohnt sich ein Blick in Kellys Personal Construct Psychology aus Kapitel 3.4.1. Er geht davon aus, dass jeder Mensch alle Aspekte seiner Umwelt mit Konstrukten einordnet und so mit Sinn versieht. Die Bedeutungszuweisung geschieht über einen nicht-bewussten, nichtsprachlichen und nichtkognitiven Vergleich verschiedener Umweltaspekte, indem der Mensch Ähnlichkeiten und Unterschiede wahrnimmt und sie mit Bedeutung versieht.975 Er vergleicht und erzeugt im Erleben Differenz – ein Gedanke, der bei elaboriert-historischem Bewusstsein aufzugreifen ist. Sinnbildung ist nur in einer zeitlichen Perspektive zu betrachten, da sie und alle Konstrukte sich auf eigene vergangene Erfahrungen und Erwartungen beziehen.976 Jede Bedeutungszuweisung umfasst die eigene Vergangenheit und die zu erwartende Zukunft. Sie ist an sich historisch und steht mit der eigenen Lebensgeschichte in Verbindung: es handelt sich um biografischhistorische Sinnbildung. Ziele der biografisch-historisch orientierten Bedeutungszuweisung sind, die eigene Zukunft besser vorherzusagen977 und orientierter und handlungsfähiger zu leben. Sinnbildung, Orientierung und Handlungsfähigkeit sind eng miteinander verknüpft. Persönliche Konstrukte liegen, wie gezeigt, präverbal und nicht-bewusst vor978, also unabhängig von Sprache und kognitiver Reflexion. Zur Erhebung persönlicher Konstrukte entwickelte Kelly die Repertory Grid Methodik als halbstrukturiertes Interviewverfahren, das Kapitel 3.4 ausführt. Mit der Befragungsmethode lassen sich die Konstrukte als subjektive Sinnzuweisungen der Teilnehmer*innen erheben.979 Es ist plausibel davon auszugehen, dass es sich bei den Sinnzuweisungen um die Ergebnisse von leiblich reflexiver Sinnbildung handelt. Sie sind von der Vernunft des Leibes geprägt und liegen unabhängig von rationaler Vernunft, Sprache und Kognition vor. Um auf Veränderungen in der Umgebung reagieren zu können, muss der Mensch seine Konstrukte anpassen.980 Der Gedanke lässt sich auf Kontingenzerfahrungen übertragen, die in der geschichtsdidaktischen Theorie eine entscheidende Rolle spielen. Bei einer Kontingenzerfahrung, einer Zeitbrucherfahrung, erlebt der Mensch einen Bruch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – gefolgt von Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Der Sinn passt nicht mehr; er ist mit deutendem Rückgriff auf die Vergangenheit wiederherzustellen bzw. zu erneuern. Der Mensch kann die Kontingenz mit 975 976 977 978 979 980

Kelly (1986), 72. Kelly (1955), 16. Kelly (1986), 22. Kelly (1955), 8f. Fromm (2010), 524. Kelly (1986), 22.

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historischer Sinnbildung als Zeiterfahrung auflösen, so die aktuelle Theorie; indem er eine historische Narration äußert, wird er wieder orientierungs- und handlungsfähig. Diese Dimension von Sinnbildung ist auf biografisch-historischer Ebene nicht gemeint. Hier ist anzunehmen, dass der Mensch durch eine Anpassung seiner Konstrukte – unabhängig von Sprache, Kognition und rationaler Reflexion – Orientierungs- und Handlungsfähigkeit zurückerlangt. Dazu benötigt er keine historische Narration. Eine Veränderung und Anpassung persönlicher Konstrukte geschieht durch neue Erfahrungen – ein Gedanke, der bei der Auswertung der Interviewergebnisse der Teilnehmer*innen aufzugreifen ist. Auch mit Völkels Ausführungen zur Phänomenologie lässt sich zeigen, dass historische Sinnbildung nicht zwingend und ausschließlich in Verbindung mit einer historischen Narration geschieht. Vermutlich sind darunter auch die unbewussten Konstruktionsprozesse zu verstehen, von denen Barricelli in Kapitel 2.1.4 spricht. Sie lassen sich, den vorangegangenen Überlegungen folgend, als historisch deuten. Historische Sinnbildung auf biografisch-historischer Ebene geschieht leiblich reflexiv. Sie steht in Verbindung mit Erleben sowie Wahrnehmen von Zeit als Dauer und Wandel. Erfahrung und Gliederung der Zeit erzeugen subjektive Bedeutsamkeit. Diese Sinnbildung ist an erlebendes Wahrnehmen eines Menschen geknüpft. Hierfür ist der jeweilige situative Kontext entscheidend, in denen er erlebt, wahrnimmt und Bedeutung konstruiert; Sinnbildung ist erlebens- und wahrnehmungs- und raumgebunden. Welche Rolle der Raum bei biografisch-historischem Bewusstsein einnimmt, wird später überlegt. Weist ein Mensch seinen Erlebnissen Bedeutung zu, verbindet er sie sinnvoll miteinander: er verknüpft die einzelnen Elemente zu seiner Lebensgeschichte und bringt sie in einen kohärenten Zusammenhang. Er erzeugt biografische Kohärenz. Neue Erfahrungen führen zu neuen Einsichten, zu neuem Sinn. Jede Erfahrung wird sinnvoll mit der Biografie verbunden. Lindmeier und Oermann verweisen darauf, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung ihre eigene Lebensgeschichte mit Sinn versehen können.981 Der Gedanke scheint für alle Menschen gleichermaßen zu gelten. Die Bedeutungszuweisung äußert sich in Handlungen als Handlungssinn, »nicht als narrativer Sinn.«982 Durch ihn ist der Mensch fähig, orientierter zu leben und handeln.983 Auf biografisch historischer Ebene lässt sich, wie gesagt, »biografische Kompetenz«984 verfolgen. Durch vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten können die Lernenden ihre 981 Lindmeier/Oermann (2017), 40. 982 Völkel (2017a), 82. 983 Da Bewegung, wie gezeigt, einen entscheidenden Einfluss auf Sinnbildungsprozesse ausübt, könnte man Menschen durch leiblich reflektierte Sinnbildungsprozesse nicht nur handlungs- und orientierungsfähig, sondern auch bewegungsfähig bezeichnen. 984 Lindmeier/Oermann (2017), 13.

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Kompetenz erweitern. Sie erleben sich selbst als durch und durch historisch und erweitern ihre Handlungsfähigkeit. Weitere Überlegungen zu einem Modell, orientiert an biografisch-historischer Kompetenz sollten Bemühungen weiterer Diskussion sein. Reflexivität Biografisch-historische Sinnbildung geschieht leiblich reflexiv und aufgrund der Vernunft des Leibes. Erleben und Wahrnehmen werden als Einheit mit Sinn versehen. Die Reflexion unterscheidet sich grundlegend von der elaboriert-historischen Ebene, wie später zu zeigen ist. Sie kommt vollkommen ohne kognitivsprachliche Reflexivität aus und unterscheidet sich von vernunftorientierter Reflexivität, wie sie aktuell der Theorie zum Geschichtsbewusstsein zugrunde gelegt wird. Sie wendet sich gegen die Priorisierung des cartesianischen Verständnisses von rationaler Vernunft.985 Kellys Überlegungen lassen sich folgendermaßen konkretisieren und verbinden leibliche Reflexivität mit der Personal Construct Psychology. Erlebt der Mensch etwas (Neues), nimmt er etwas (Neues) wahr, verortet er es im Spannungsfeld eines oder mehrerer Konstrukte. Möglicherweise findet er eine geeignete Sinnzuweisung und verleiht seinem Erleben, seiner Wahrnehmung, so Bedeutung. Es ist vorstellbar, dass der Mensch die Konstruktion leicht oder stark anpassen muss, damit sie weitere Aspekte umfasst, also verändert er sie. Der Prozess geschieht nicht-bewusst, vorsprachlich, leiblich reflexiv und erzeugt Handlungssinn. Alterität Auf biografisch-historischer Ebene lässt sich Alterität finden. Leiblich reflexiv findet hier eine nicht-bewusste, vorsprachliche und nichtkognitive Alteritätserfahrung statt; Völkel spricht von einer »Urstiftung.«986 Alterität lässt sich als Andersartigkeit erleben und wahrnehmen. Im Erleben und Wahrnehmen verschiedener Zeitebenen ist ein zentraler Aspekt für Alterität erkennbar. Vergangenheit wird in ihrer Andersartigkeit zur jetzigen Gegenwart erlebend konstruiert. Das ist eine Grundvoraussetzung, die Orientierung und Sinn erst ermöglicht. Erleben und Wahrnehmen von Sein, Vergehen und Werden ist als Alteritätsempfinden zu beschreiben. Das verweist darauf, dass Alterität bei historischer Sinnbildung grundsätzlich durch emotionale und nicht-bewusste Verarbeitungsprozesse erfahrbar ist. Erinnerungen an eigene Erfahrungen lassen sich abstandslos vergegenwärtigen; das setzt voraus, Zeit im Erleben in ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹ oder ›Gerade noch‹ und ›Jetzt aber‹, also Abschnitte zu diffe985 Völkel (2017a), 139. 986 Ebd., 99.

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renzieren: die Grundlage von Alterität. Dem retentionalen Bewusstsein lässt sich in seinem Erleben von Dauer und Wandel durch die Wahrnehmung von Differenz Zeiterleben zuschreiben. Verschiedene Aspekte werden bei der Erfahrung von Alterität miteinander in Bezug gesetzt, um ihnen durch ihre Andersartigkeit Sinn verleihen zu können. Über eine Alteritätserfahrung erzeugt oder verändert jede*r seine/ihre Konstrukte. Jede Erfahrung an sich ist an Alterität geknüpft. Ohne die leiblich reflexive Wahrnehmung und Erfahrung von Alterität, so die Überlegung, bestünde keine Möglichkeit, der Umwelt Sinn zu verleihen. Durch den leiblich reflexiven Vergleich von ›soeben‹ und ›sogleich‹ oder ›gestern‹ und ›heute‹ zeigt sich Alterität, die mit Sinn versehen wird. Menschen erfahren Fremdheit, wenn sie sich nicht mehr in ihren orientierten Räumen bewegen, so Völkel; das passiert bspw., wenn sie sich in kulturell und sozial anderen Umgebungen aufhalten, in denen sie nicht mehr handlungsfähig, nicht mehr kompetent sind.987 Menschen erleben dann wohl gravierend Alterität. Erst durch neue leiblich reflexive Erfahrungen gewinnen sie wieder Vertrautheit, Sinn sowie Orientierung und Kompetenz. Orientierung Menschen werden auf biografisch-historischer Bewusstseinsebene handlungsfähig und erzeugen Orientierung. Orientierung ist leiblich reflexiv gesehen vom jeweiligen Menschen, dem Gegenstand und dem Kontext abhängig. Alle drei Aspekte beeinflussen Wahrnehmung, Erfahrung, Orientierung, Perspektive und Sinn. Orientierung an sich ist historisch und nur im Zusammenhang mit den drei Zeitebenen vorstellbar. Durch die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft entsteht Orientierung, so Husserl.988 Die drei Zeitebenen sind als Erfahrung, Erleben und Erwartung präsent. Rein leiblich reflexiv erzeugt jeder Mensch erlebend orientierte Zeit. Sie lässt sich auch als bedeutsame Zeit begreifen; die Zeit an sich wird subjektiv sinnvoll. Sie bezieht sich als eigene Lebenszeit auf gelebte, kohärente Zeit, die der Mensch durch Sinn zu einer Lebensgeschichte konstruiert. Er erzeugt Kohärenz und kann in orientierten Räumen kohärent handeln. Sein Wissen ist als Handlungswissen gegenwärtig und wirksam. Ist ein Mensch in der Lage, zu handeln, lässt das auf seine Orientierungsfähigkeit schließen. Er kann sich orientieren und befindet sich in seinem orientierten Raum; er kann sich ohne Zwischenfälle und Irritationen sinnvoll und kompetent bewegen. Das verweist auf die Konstruktion subjektiv bedeutsamen Sinns, der an diesen spezifischen Raum gebunden ist. Orientierung und Raum sind untrennbar miteinander verschränkt; ist ein Mensch in einem Raum in der 987 Ebd., 80. 988 Husserl (1986), 157.

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Lage, sich zu orientieren und zu handeln, ist dies nicht ohne Weiteres auf andere Räume übertragbar. Er muss sich neue Räume erst erwohnen, um sich auch dort störungsfrei bewegen und handeln zu können. »Raum und Leib zusammen machen aus dem gelebten Raum einen orientierten Raum, der eine ›place identity‹ schafft.«989 Geschichte Wie die Überlegungen zur Sinnbildung zeigen, lässt sich die eigene Biografie auf biografisch-historisches Bewusstsein beziehen. Geschichte ist als Lebensgeschichte vorhanden. Sie ist sedimentiert als Grundlage enthalten und bildet die Basis für weiteres erlebendes Wahrnehmen. Jedes Erleben trägt leiblich reflexiv zu Erfahrung, Sinn, Wissen und Geschichte bei und erzeugt somit individuelle Kohärenz. Die Geschichte zeigt sich vorsprachlich und leiblich reflexiv, nicht kognitiv-sprachlich reflexiv. Sie muss nicht narrativiert werden, um ihre Wirksamkeit zu entfalten. »Sedimentierte Geschichte stellt uns einen Erfahrungshorizont als unperfekte Bandbreite zur Verfügung, der […] [Menschen, Anmerkung F.R.] ohne großes Nachdenken handlungsfähig macht.«990 Vor diesem Erfahrungshorizont wenden sich Menschen der Welt zu, nehmen Dinge wahr, verleihen ihnen Sinn, orientieren sich und werden dadurch handlungsfähig. Sedimentierte Geschichte ist an den orientierten Raum und die place identity eines Menschen gebunden. 2.4.2 Elaboriert-historisches Bewusstsein Erfahrung, Sinnbildung, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte lassen sich auch im Zeichen von elaboriert-historischem Bewusstsein deuten. Auch auf dieser Ebene sind vielseitige und komplexe Verschränkungen der einzelnen Aspekte zu beobachten, dennoch lassen sie sich differenzieren. Elaboriert-historisches Bewusstsein ist Ergebnis und Ziel elaboriert-historischer Lernprozesse. Die bewusste kognitiv-sprachliche Beschäftigung, spielt zusätzlich zur nicht-bewussten leiblich-reflexiven Auseinandersetzung, eine Rolle. Das bedeutet auch, biografisch-historische Bewusstsein dem elaboriert-historischen Bewusstsein als vorgelagert zu betrachten; es bildet die Basis, um sich elaborierthistorisch mit Vergangenheit zu beschäftigen. Straub unterscheidet zwischen zeitgeschichtlichem Bewusstsein, das sich auf die eigene Lebensgeschichte bezieht, und historischem Bewusstsein, das sich mit der Zeit außerhalb der eigenen Biografie beschäftigt.991 Beide Dimensionen sind strukturell ähnlich, so seine 989 Völkel (2017a), 80, kursiv im Original. 990 Ebd., 189. 991 Straub (1998), 86.

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Vermutung. Weitere Überlegungen zur Vergleichbarkeit stellt er nicht an. Beide Aspekte lassen sich unter elaboriert-historischem Bewusstsein zusammenfassen, so eine weitere These der vorliegenden Arbeit. Alle exemplarischen Überlegungen zur Anschlussfähigkeit einiger didaktischer Denkfiguren sind ausschließlich auf Grundlage der vorgeschlagenen Veränderung und Erweiterung zu sehen. Die didaktischen Modelle sind meist auf ihren Kernaspekt herunterzubrechen. Elaboriert-historisches Bewusstsein kann sich, so die Vermutung, auf Erfahrungen der eigenen Biografie und zusätzlich auf Erfahrungen Dritter und Aspekte des Universums des Historischen beziehen. Sie umfasst fünf Sinnbildungsebenen: 1. Selbstreflexive Handlungen: Hier ließe sich fragen, wie bestimmte Erfahrungen in das eigene Handeln gehören. Die Lernenden überlegen, über welche Bedeutungszuweisungen, Vorstellungen, Werturteile und Haltungen sie verfügen – und mit welchen Erfahrungen sie diese verbinden. Aspekte der eigenen Lebensgeschichte werden erklärend und verstehend verknüpft, indem sich die Lernenden mit sich selbst beschäftigen; sie machen sich selbst und eigene Handlungen zum Objekt ihrer Betrachtungen. Begrenzt wird der Reflexionsprozess von der eigenen Lebenszeit. 2. Quellen der eigenen Biografie reflektieren: Erklärend und verstehend lässt sich über Quellen (Gegenstände, Fotografien etc.) der eigenen Lebensgeschichte nachdenken. Sie lassen sich mit dem eigenen Handeln in Verbindung bringen. Das erzeugt innerhalb der eigenen Lebenszeit erklärend-verstehend Sinn und Geschichten. 3. Handlungen Dritter reflektieren: Das eigene Handeln lässt sich darauf befragen, wie es mit Handeln anderer Personen in Verbindung zu bringen ist. Die anderen Personen sind in die eigene Lebensgeschichte verstrickt. Die Verstrickungen an sich lassen sich ebenso thematisieren. Es kann erklärt und verstanden werden, wie Handlungen Dritter mit den Eigenen zusammenhängen und sich diese möglicherweise gegenseitig beeinflussen. Die eigene Lebenszeit muss nicht, aber kann gedanklich überschritten werden. 4. Quellen Dritter reflektieren: Hier lassen sich Quellen aus der Lebensgeschichte Dritter, die mit der eigenen Biografie verstrickt sind, untersuchen. Zu erklären und verstehen wäre, wie die Quellen mit dem Handeln der anderen Person und mit dem eigenen Handeln zusammenhängen. Gerahmt werden die Überlegungen von der eigenen Lebenszeit und können darüber hinaus weisen. 5. Quellen aus dem Universum des Historischen reflektieren: Es lassen sich Quellen, welche aus anderen Zeiten als der eigenen Lebenszeit stammen, thematisieren. Der Prozess geschieht wie die erklärend-verstehende Sinnbildung auf Ebene 4 anhand der Quellen Dritter. Allerdings muss der/die Lernende hierfür die eigene Lebenszeit gedanklich verlassen und das eigene

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Handeln in Bezug zu Quellen und Personen setzen, die nicht mehr direkt in seine eigene Lebensgeschichte verstrickt sind.

Erfahrung Eine Erfahrung bezieht sich auf elaboriert-historischer Ebene auf eine analytische Trennung der Zeitebenen. Die Abständigkeit von verschiedenen Zeitpunkten lässt sich als Zeitdifferenz erkennen und mit Sinn versehen. Dafür ist die bewusste und kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung mit Zeit und den Zeitebenen zentral. Eine elaboriert-historische Erfahrung betrifft eine biografischhistorische Erfahrung; der Mensch setzt sich zusätzlich bewusst und kognitivsprachlich mit leiblich reflexiven Erfahrungen auseinander. Der Mensch versteht, dass jede Gegenwart in die Vergangenheit übergeht und kann fragen, wie Geschichte in das eigene Handeln gehört. Er reflektiert sich sowie sein Handeln und macht das zu den Objekten seiner Reflexion. Durch diese Zeitdifferenzerfahrung entsteht eine Vorstellung davon, dass alles, was in der Zukunft liegt, zur Gegenwart wird. Der Mensch befasst sich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, erfährt dabei Alterität und erzeugt Sinn. Im Erklären und Verstehen kann er die Zeitdifferenzerfahrung subjektiv bedeutsam konstruieren und äußern. Eine Zeitdifferenzerfahrung lässt sich innerhalb der eigenen Lebensgeschichte bzw. -zeit verorten. Die Andersartigkeit unterschiedlicher Zeitpunkte der eigenen Vergangenheit wird auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Wird die bewusste Erfahrung gemacht, dass es sich bei vergangenen Erfahrungen um voneinander abständige, unterschiedliche Zeitpunkte handelt, ist von einer Zeitdifferenzerfahrung zu sprechen. Sie lässt sich auch erkennen, wenn andere vergangene Ereignisse, welche die eigene Biografie überschreiten, einbezogen werden. Eigene Erfahrungen können so auf fremde Erfahrungen Dritter bezogen werden, was kognitiv-sprachlich Sinn erzeugt. Über unterschiedliche Erfahrungen lässt sich erklärend und verstehend sprechen: ein gemeinsamer Dialog wird möglich. Sinnzuweisungen können sich im Laufe des Lebens verändern bzw. erst durch Abstand zur Erfahrung entwickeln – ein Gedanke, der die geschichtsdidaktische Theorie bereichern könnte. Eigene Urteile könnten zum Anlass für elaborierthistorisches Lernen werden: »›Damals‹ habe ich folgendes erlebt, heute sehe ich das so …«992 Ausgehend von biografisch-historischen Erfahrungen lässt sich (elaboriert-historische) Alterität erkennen, die vielschichtige Anlässe für elaboriert-historische Lernprozesse darstellen. Aus biografisch-historischen Erfahrungen lassen sich unterschiedliche Vorstellungen über den weiteren Verlauf des Lebens erzeugen, wenn sie zusätzlich kognitiv-sprachlich und bewusst reflektiert 992 Schulz-Hageleit (1996), 191.

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werden. Es entstehen plurale Lebensentwürfe. Eigene Wünsche, Vorstellungen, Kompetenzen, Fähigkeiten und Bereitschaften, Intentionen, Motive, Erwartungen und Ziele lassen sich betrachten und äußere Ansprüche sowie Umstände darauf beziehen. Der Mensch entwickelt eine erweiterte Vorstellung seiner Zukunft. Um sich an Wünschen und Interessen der betroffenen Person für die Planung deren Zukunft zu orientieren, ist die Beschäftigung mit ihren subjektiven Lebenserfahrungen unerlässlich.993 Wichtig ist das (vor allem) am Übergang von Lebensphasen – wenn es verschiedene Perspektiven gibt und Entscheidungen anstehen – so am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Dafür ist die Befragung Betroffener nach ihren Sichtweisen auf die eigene Vergangenheit und Zukunft notwendig. Durch einen erklärend-verstehenden Austausch sind subjektive Bedeutsamkeiten zu ergründen, reflektieren und Überlegungen zur eigenen Zukunft anzustellen. Sinnbildung Auf elaboriert-historischer Ebene geschieht Sinnbildung bewusst, sprachlich und kognitiv reflexiv. Sie lässt sich als eine Metaebene zur leiblich reflexiven Sinnbildung, allerdings nicht losgelöst von ihr, deuten. Auch auf dieser Ebene ist Sinnbildung, vergleichbar mit der biografisch-historischen Ebene, an Erfahrung gebunden. Vergangenheit wird als abständig von der Gegenwart wahrgenommen, erfahren und gedeutet. Verschiedene Zeitpunkte der Vergangenheit lassen sich ebenfalls in ihrer Abständigkeit mit Sinn verbinden. Dafür bedarf es der bewussten sowie kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Erfahrung; Sinn wird analog dazu kognitiv-sprachlich ausgedrückt. Einige Überlegungen von Kelly zu den persönlichen Konstrukten sind auch auf elaboriert-historischer Ebene bedeutsam; liegen diese auf biografisch-historischer Dimension nicht-bewusst und vorsprachlich vor, ist auf elaborierthistorischer Dimension davon auszugehen, dass sie sich verbalisieren lassen. Sie sind aber nie vollkommen bedeutungsgleich mit dem vorsprachlich nicht-bewussten Pendant.994 In einem weiteren Schritt, der bewussten und kognitivsprachlich orientierten Auseinandersetzung mit der jeweiligen Sinnzuweisung, lässt sie sich reflektieren. Sie werden zum Objekt der Auseinandersetzung. Es lassen sich bspw. Überlegungen zum Zustandekommen der Konstrukte, zu möglichen Veränderungen und Ursachen kognitiv-sprachlich anstellen. Der Mensch setzt sich auf einer Metaebene mit seinen eigenen Bedeutungszuweisungen, die entscheidend für sein Handeln sind, auseinander; er kann über sie, sein Handeln und sich selbst nachdenken sowie seine Gedanken äußern. Wird sich ein Mensch seiner verschiedenen Konstrukte bewusst, versetzt er sich in die 993 Lindmeier (2013), 11. kursiv im Original. 994 Fromm (1995), 17.

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Lage, sie zu verändern.995 Eine Weiterentwicklung oder Veränderung der Konstrukte auf elaboriert-historischer Ebene bindet an biografisch-historische Sinnbildung an, geht aber in einem entscheidenden weiteren Aspekt, der kognitiv-sprachlichen und bewussten Reflexion, darüber hinaus. Daraus folgen noch differenziertere Sinnzuweisungen und ein Zuwachs an Orientierungs- und Handlungsfähigkeit: ein kognitiv-sprachlich reflexiver Zukunftshorizont öffnet sich. Der Mensch kann zwischen unterschiedlichen Sinnzuweisungen wählen und ist kein Opfer seiner Lebensgeschichte und Sinnkonstruktion.996 So lassen sich verschiedene Zeitpunkte miteinander in Bezug setzen und die Abstandslosigkeit, die auf leiblich reflexiver Ebene zwischen Vergangenheit und Gegenwart vorzufinden ist, überwinden. Elaboriert-historische Sinnbildung ist davon geprägt, dass der Mensch sich bewusst (seinen) Erfahrungen, (seiner) Vergangenheit sowie (seinen) Sinnzuweisungen zuwendet und sich mit ihnen auseinandersetzt. Auf dieser Ebene ist es möglich, eigene Erfahrungen mit Erfahrungen Dritter sinnvoll miteinander zu verknüpfen. So lässt sich eine Brücke in das Universum des Historischen schlagen; der Mensch kann Phänomene anderer Epochen erkennen und dadurch eine Zeitdifferenz erfahren. Er kann verschiedene Zeitpunkte, die sich nicht dezidiert auf seine Biografie beziehen, auf die eigene Lebensgeschichte beziehen und Sinn erklärend verstehen. Das gedankliche Überschreiten der eigenen Lebenszeit wird auf elaborierthistorischer Ebene möglich. Sie stellt aber keine Grundvoraussetzung für diese Sinnbildungsprozesse dar; elaboriert-historisch lassen sich auch Erfahrungen sinnbildend miteinander verknüpfen, die sich dezidiert auf die eigene Lebenszeit beziehen; sie müssen dazu aber in der jeweiligen Abständigkeit zueinander thematisiert und gedacht werden. Sinnbildung als Zeitdifferenzerfahrung wird elaboriert-historisch möglich, ist allerdings untrennbar mit der biografischhistorischen Ebene verbunden. Alterität im Rahmen einer Zeitdifferenzerfahrung lässt sich durch Sinnbildung mit subjektiver Bedeutsamkeit versehen. »In ihm [dem Sinnbildungsprozess, Anmerkung F.R.] gelangt das Individuum durch subjektive Verarbeitung und Mitgestaltung der objektiven Gegebenheiten und durch Bewältigung der sich lebensgeschichtlich stellenden Aufgaben zum Welt- und Selbstverständnis, aber auch zu einem diesem Verständnis entsprechenden, verantwortlichen Handeln sowie zur nicht egozentrisch gemeinten Selbstverwirklichung und zur persönlichen, biografischen Identität. In ihr manifestiert sich der Sinn, den der einzelne auch unter dem Einfluss von Erziehung in seiner Lebensgeschichte findet bzw. seinem Leben gibt.«997

995 Kelly (1986), 22. 996 Ebd., 28f. 997 Weber (1996), 199.

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Der Mensch kann sich selbst thematisieren, sich mit unterschiedlichen Aspekten auseinandersetzen und erkennen, in welche Geschichten er verstrickt ist. Die eigene Biografie wird zum Ausgangspunkt für Sinnbildung über Erfahrungen von Zeitdifferenz. Sinn lässt sich sprachlich bspw. erklären. Im wechselwirkenden Verstehen und Erklären lassen sich Aspekte mindestens zweier Zeitpunkte bzw. Erfahrungen aufeinander beziehen; dadurch konstruiert und versteht der Mensch den Sinn, den er der Verbindung zuweist. Bspw. ist es möglich, die Historizität des eigenen Denkens, Seins und der Umwelt zu erkennen und sich bewusst damit zu beschäftigen. Veränderungen von Sinnzuweisungen im Laufe der Lebensgeschichte werden zum Gegenstand der kognitiv-sprachlichen und bewussten Reflexion. Mögliche Gründe oder Ursachen lassen sich erörtern. Dadurch gelingt ein Bogen zur eigenen Zukunft: Erkennt ein Mensch, dass sich seine Sinnzuweisung verändert, lässt sich vermuten, welche Sinnzuweisungen er in der Zukunft vornehmen wird. Die eigene Zukunft wird bewusst erwart-, vorstell- und veränderbar. Dieses Phänomen nennt Kelly den Konstruktiven Alternativismus.998 Das ermöglicht Identität und Kohärenz. Hier ist vorwegzunehmen, dass die in Kapitel 4.3.1 ausführlicher dargestellten Sinnzuweisungen der Teilnehmer*innen auf biografisch-historischer Ebene nicht-bewusst und leiblich reflexiv vorhanden sind. Werden die Deutungsmuster geäußert, setzt auf elaboriert-historischer Ebene ein bewusster und kognitivsprachlich reflexiver Prozess von Erklären und Verstehen ein; der Mensch versetzt sich in die Lage, über seine Deutungsmuster, Bewegen und Handeln nachzudenken und sich in der Zeit zu orientieren. Dadurch entsteht Sinn, der sich mithilfe von Schützes bzw. Lindmeiers und Oermanns Überlegungen aus Kapitel 2.3.1 deuten lässt. So sind Rückschlüsse über deterministische oder freiheitliche Rahmungen der Sinnkonstruktionen abzuleiten. Das könnte ein weiterer Anlass zur Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte werden. Sinn als deutende Instanz der verschiedenen Zeitdimensionen ist bewusst wahrnehmbar. Die kognitiv-sprachliche reflexive und bewusste Auseinandersetzung mit Zeitlichkeit, eigenen Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen führt zu historischem Bewusstsein. Ziel ist nicht Geschichtsbewusstsein, sondern elaboriert-historisches Bewusstsein. Verschiedene Fragen regen zu lebensweltlich wirksamen und pluralen Sinnzuweisungen (aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen) an; diese und die entstehenden Meinungen sind als vielfältig zu erwarten, was Raum für Dialoge schafft. Die eigenen Vorstellungen und Werte, Vorstellungen und Werte Dritter sowie gesellschaftliche Vorstellungen und Werte können den Mittelpunkt eines Austausches bilden und ermöglichen eine

998 Kelly (1986), 28.

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kognitiv-sprachlich und bewusste Beschäftigung mit sich selbst und anderen in sozialen und kulturellen Bezügen. Von hier aus lassen sich mehrere Bezüge zu geschichtsdidaktischen Modellen herstellen; die grundlegenden Gedanken zu historischen Lernprozessen erweisen sich in ihren Grundannahmen als anschlussfähig, um sie theoretisch im Kontext elaboriert-historischer Lernprozesse einzuordnen. Die Veränderungsund Erweiterungsvorschläge sind dafür allerdings zu berücksichtigen. Die folgenden Ausführungen greifen exemplarisch einige der zentralen Überlegungen zur historischen Sinnbildung auf. Hier lassen sich Jeismanns Darstellungen aus Kapitel 2.1.3 zu Analyse, Sachurteil und Wertung verorten; elaboriert-historisch sind Analysen als Untersuchung, Beschreibung und Klärung des historischen (historisch-biografischen) Sachverhalts einzubinden. Durch eine Kontextualisierung dieser Aspekte, also bspw. die Einbettung einer Lebenserfahrung in die eigene Lebensgeschichte lassen sich Sachurteile vornehmen. Dann werden Wirkung und Bedeutung der Erfahrung innerhalb der Biografie erklärt und verstanden.Die Sachurteile können vielseitig sein und ermöglichen es, unterschiedliche Deutungen, Zusammenhänge, Bezüge, Darstellungen, Ursachen, Hintergründe und deren Auswirkungen interpretativ einzuordnen. Im Werturteil als »wertender Stellungnahme«999 fließen Aspekte des gegenwärtigen Kontexts in das Urteil ein. Die eigene Urteilsdimension wird biografisch orientiert eingebracht. Gautschis grundlegende Überlegungen sind vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Erweiterungen anschlussfähig. Die Operationen sind aber nur möglich, wenn der Mensch in der Lage ist, sich den eigenen Erfahrungen durch einen elaborierthistorischen, bewussten und kognitiv-sprachlich reflexiven Prozess distanziert zu nähern. Durch die drei Dimensionen lässt sich ein Bogen in die Geschichtsschreibung schlagen; Sachverhalte, die sich nicht nur auf eigene Erfahrungen beziehen, lassen sich auf Erfahrungen Dritter beziehen, deuten und bewerten. Zu fragen ist bspw., wie Geschichten von Streiks in das eigene Handeln bei den Fridays-For- Future-Streiks gehören.1000 Auch Gautschis Kompetenzmodell aus Kapitel 2.1.3 ließe sich in seinen Grundzügen im Zusammenhang mit elaboriert-historischen Lernprozessen diskutieren. Allerdings erscheint der Fokus auf narrativer Kompetenz1001 als unüberwindbares Hindernis, um das Modell elaboriert-historisch zu betrachten. Wie erörtert, scheint eine historische Narration gegenüber Erklären und Verstehen keine Vorteile zu bieten, um Sinnbildung vollziehen zu können. Vielversprechender stellt sich, wie angedeutet, biografische Kompetenz als Zentrum 999 Jeismann (1978a), 58. 1000 Näheres zum Kontext von FRIDAYS FOR FUTURE s. https://fridaysforfuture.de/. 1001 Gautschi (2016), 48ff.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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spezifischer geschichtsdidaktischer Kompetenzen dar. Ziel der historisch-elaborierten (biografischen) Kompetenz könnte sein, dass die Lernenden zu einer stabileren biografischen Kohärenz gelangen und diese erklären und verstehen. Rüsens Überlegungen zur historischen Sinnbildung über Zeiterfahrung erscheinen mit den vorgeschlagenen Veränderungen und Erweiterungen in Grundzügen prinzipiell anschlussfähig. Sinn wird elaboriert-historisch gebildet, wenn Erlebnisse der eigenen biografischen Vergangenheit in einen Zusammenhang gebracht werden, wenn sie aufeinander bezogen werden. Das geschieht allerdings nicht, wie von Rüsen vorgeschlagen, zwangsläufig als historische Narration, sondern als erklärend-verstehender Sinnbildungsprozess. Es geht um eine biografisch bedeutsame subjektive Erklärung. Eigene Erfahrungen werden sinnvoll und sinnbildend miteinander zu (Lebens)Geschichten verknüpft. Die Bedeutungszuweisung vollzieht sich in einem zeitlichen Wandel, was eine »Ausrichtung praktischer Lebensvollzüge an erfahrungsgesättigten Zeitverlaufsvorstellungen«1002 im Rahmen der eigenen individuellen Biografie ermöglicht und eine biografisch orientierte Zukunftsrichtung enthält. Elaboriert-historischer Sinn bezieht sich auf bewusst gedeutete Zeit. Die Zusammenhänge als biografische Zeitverlaufsvorstellungen entwickeln ihren Sinn in der individuellen Gegenwart und für die individuelle Gegenwart bzw. Zukunft. Für die elaboriert-historische Auseinandersetzung bedeutet das, dass vergangene Aspekte erklärend und verstehend mit Sinn verbunden werden – Überlegungen, die sich aus den vorangegangenen Darstellungen ebenfalls ableiten lassen und sich daher anschlussfähig zeigen. Menschen machen durch die bewusste Beschäftigung mit vergangenen Aspekten (ihrer eigenen Biografie oder darüber hinaus) die Erfahrung einer Zeitdifferenz, was zur biografischen Orientierung in der eigenen Lebenspraxis beiträgt. Ausgelöst wird der Sinnbildungsprozess, wie gezeigt, von einer deutungsbedürftigen Zeiterfahrung in der Gegenwart. In der orientierten Zeit entsteht ein Riss, ein Zeitbruch, der als Verunsicherung erlebt wird, aber durch die gezielte Beschäftigung mit eigenen Erfahrungen überwunden werden kann. Durch einen Sinnbildungsprozess über eine Zeiterfahrung, in dem der Mensch sich selbst thematisiert und seine kognitiv-sprachlichen Überlegungen auf sich selbst bezieht, lässt sich Orientierung und Handlungsfähigkeit erzeugen. Um diese Einlassungen von Völkel sind Rüsens Denkfiguren zu erweitern. Der Mensch bekommt so einen Zugang zur eigenen sedimentierten Geschichte und einen qualitativ erweiterten Blick auf die eigenen biografisch-historischen Erfahrungen. Zukunftshorizonte und Handlungsfähigkeit entstehen durch die Zuwendung der eigener Vergangenheit oder zusätzlich der Geschichtsschreibung.

1002 Rüsen (2001a), 85.

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Theoretische Grundlagen

Durch die angeführten Veränderungen und Erweiterungen werden elaborierthistorisch auch Überlegungen zur Typologie der Sinnbildung aus Kapitel 2.1.1.3 grundsätzlich anschlussfähig. Beispielhaft wird an Rüsens Annahmen überlegt, wie sie sich elaboriert-historisch einordnen lassen. Es ist vorstellbar, dass der Mensch durch einen elaboriert-historischen Reflexionsprozess im Rückgriff auf eigene biografische Erfahrungen und optional zusätzlich durch Erfahrungen Dritter traditional, exemplarisch, genetisch oder kritisch Sinn bildet und so erweitert handlungsfähig wird. Es ist möglich, dass er im Rückblick auf vergangene Erfahrungen zur Erkenntnis kommt, dass in seiner Perspektive auch im Wandel der Zeit alles so bleibt, wie es einmal war. Er erkennt keine Veränderungen und leitet Gegenwart bzw. Zukunft direkt aus der Vergangenheit ab. Versteht er durch den Rückblick in die Vergangenheit Veränderungen, indem er einzelne Aspekte exemplarisch als generalisierend für eine Sinnzuweisung anführt, bildet er exemplarisch Sinn. Er führt einzelne Beispiele der Biografie heran, um Sinn für die eigene Gegenwart und Zukunft zu erzeugen. An dieser Stelle wird Körbers Einschränkung, dass exemplarische Sinnzuweisung nur für »längere Zeiträume«1003 gültig ist, gefolgt. Es ist anzunehmen, dass neue Erfahrungen zu einer Veränderung der Sinnbildung führen, was auf eingeschränkte Gültigkeit hinweist. Erkennt ein Mensch Veränderungen innerhalb von Regelsystemen und die Veränderbarkeit der Regelsysteme an sich, stellt er fest, dass sich alles (die eigene Vergangenheit, Gegenwart und aufgrund dieser Erkenntnis auch Zukunft) in einem Prozess befindet, bildet er genetisch Sinn. Das eigene Leben wird erklärend-verstehenden dynamisch konstruiert. Kritisch wird Sinnbildung, wenn der Mensch durch den deutenden Rückgriff in die eigene Biografie alle Sinnzuweisungen auf allen Ebenen negieren und verändern kann. Durch den Blick in die Vergangenheit lassen sich bisher geltende Deutungsmuster kritisch hinterfragen und erklärend/verstehend verändern. Allgemein gültige Regeln, die das eigene Leben bislang bestimmt haben, lassen sich aufarbeiten, vielseitige Sichtweisen erkennen und bestehende Deutungsmuster verändern oder erweitern. Elaboriert-historischer Sinn wirkt sich direkt auf Wahrnehmungs- und Erlebensprozesse aus. Der Mensch versetzt sich in die Lage, unterschiedliche Perspektiven auf eine Erfahrung oder bestimmte Aspekte einzunehmen. Vermutlich spielen neue Erfahrungen bei kritischer Sinnbildung eine besondere Rolle. Erfährt der Mensch etwas neues, was er bewusst und kognitiv-sprachlich auf andere Erfahrungen bezieht, kann er wohl – abhängig von der Qualität der neuen Erfahrung – seinen Sinnzuweisungen kritisch begegnen und sie verändern. Er erweitert seine Perspektiven, Zukunftserwartungen und Handlungsmöglichkeiten. Daran anschließend lässt sich die Essenz, vorausgesetzt den vorgeschlagenen Änderungen und Erweiterungen wird gefolgt, Rüsens Annahmen zu Wahrneh1003 Körber (2014), 5.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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mung, Deutung, Orientierung und Motivation aus Kapitel 2.1.1 an elaborierthistorische Sinnbildung anknüpfen. Werden Erfahrungen, Ereignisse oder einzelne Aspekte der Vergangenheit aus dem Ereignisfluss isoliert und miteinander verbunden, ist ein zeitlicher Wandel wahrzunehmen und zu reflektieren. Der Wandel lässt sich interpretierend deuten und mit Sinn versehen. Durch die erfahrungsgesättigte biografisch-historisch orientierte Zeitverlaufsvorstellung – also indem verschiedene Aspekte mit der eigenen Biografie sinnbildend zusammengebracht werden – erzeugt der Mensch Zukunftsperspektiven als Orientierung. Er wird handlungsfähig. Der gesamte Prozess ist von Gefühlen begleitet, was darauf hindeutet, dass nicht-bewusste (biografisch-historische) Aspekte dauerhaften Einfluss ausüben. Das lässt sich als Hinweis dafür deuten, dass biografisch-historische Momente grundsätzlich auf die elaboriert-historischen Auseinandersetzung einwirken. Durch die vier Operationen lassen sich Fragen nach dem eigenen Selbst und der eigenen Historizität ergründen. Der Mensch kann über seine eigene Identität nachdenken und Rückschlüsse zur Historizität von Sinnzuweisungen oder der Umgebung ziehen, was Orientierung und Handlungsfähigkeit erweitert. Durch diesen individuumsorientierten Prozess lässt sich elaboriert-historisch in Auseinandersetzung mit biografisch-historischen Aspekten vertiefte Handlungskompetenz erzeugen, welche die eigene Zukunft differenzierter vorstellbar und erwartbar macht. Der Mensch erlebt sich kompetenter. Reflexivität Der Mensch setzt verschiedene Erfahrungen und Zeitdimensionen als Zeitschichten vor dem Hintergrund einer Zeitdifferenzerfahrung sinnvoll zueinander in Bezug. Phänomenologisch kann bei einer Wiedererinnerung (zusätzlich) ein kognitiv-sprachlich reflexiver und bewusster Prozess einsetzen. Durch einen deutenden Rückgriff auf eigene Erfahrungen oder Erfahrungen Dritter lässt sich durch bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexion erweiterte Handlungskompetenz entwickeln. Die Zeitdifferenz wird im Erklären, Verstehen und Sinnzuweisen subjektiv bedeutsam, was Orientierungs- und Handlungsfähigkeit differenziert. Biografisch-historische Reflexivität zeigt sich in Handlungsfähigkeit – elaboriert-historische Reflexivität in Handlungsfähigkeit und der Möglichkeit, darüber zu sprechen, sie bewusst zu thematisieren und kognitiv-sprachlich weiterzuentwickeln. Nimmt der Mensch erlebend etwas Neues wahr, erfährt er Zeitdifferenz als Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Damit kann er sich nun bewusst und kognitiv-sprachlich auseinanderzusetzen. Er kann erkennen und benennen, worin die Zeitdifferenz liegt, mögliche Ursachen und Hintergründe verstehen und sie sich selbst und anderen erklären; er ist fähig, die Zeitdifferenzerfahrung kognitiv-sprachlich reflexiv und bewusst mit Sinn versehen.

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Theoretische Grundlagen

Möglicherweise stellt er sich Fragen oder wird irritiert, wenn er sich mit eigenen Erfahrungen oder den Erfahrungen Dritter auseinandersetzt. Dem kann er nachgehen und versuchen, Irritationen (wieder) mit Sinn zu versehen. Verändert er bspw. Bedeutungszuweisung kann er das elaboriert-historisch bewusst erklärend verstehen und sich kognitiv-sprachlich mit der Veränderung auseinandersetzen. Es ist anzunehmen, dass Sinn durch die kognitiv-sprachliche und bewusste Reflexivität eine andere Qualität erhält. Er lässt sich auch kognitivsprachlich in gemeinsamer dialogischer Reflexion erzeugen. Alterität Nimmt ein Mensch bei einer Zeitdifferenz Alterität wahr, so erkennt er die Andersartigkeit der unterschiedlichen Vergangenheiten bewusst. Andersartigkeit kann sich auf verschiedene eigene oder (zusätzlich) Vergangenheiten Dritter beziehen. Es ist möglich, sie innerhalb der eigenen Lebenszeit zu erfassen. Ein Mensch wird durch die Wahrnehmung und sinnvolle (bewusste und kognitivsprachlich reflexive) Auseinandersetzung mit der Alteritätserfahrung zusätzlich handlungsfähig. Er versetzt sich (wieder) in die Lage, sich zu orientieren. Der Mensch bildet Sinn, indem er Kontingenz erkennt. Er erkennt, dass sich ›Heute‹ vom vermuteten ›Morgen‹ und ›Gleich‹ vom vermuteten ›Gleich‹ unterscheidet. Für elaboriert-historische Alteritätserfahrungen sind nicht zwingend unterschiedliche Perspektiven bzw. Wertungen notwendig, wie Buchsteiner et al. in Kapitel 2.1.7 annehmen. Körbers Überlegungen zu Kontingenzerfahrungen zeigen sich, im Rahmen der vorgeschlagenen Veränderungen und Erweiterungen, anschlussfähig. Er geht davon aus, dass der Mensch Kontingenz erfährt, indem er ›gestern‹ auf ›heute‹ bezieht und Andersartigkeit erlebt. Auf elaboriert-historischer Ebene erlebt und erkennt der Mensch Alterität und Kontingenz. Die Alteritätserfahrung bezieht sich nicht unbedingt auf »gelebte Fremdheitserfahrungen«1004 mit Akteur*innen aus dem Universum des Historischen. Das kann sie, muss es aber nicht. Alterität ist vielschichtiger zu verstehen; sie kann eine Alteritätserfahrung im Rahmen der eigenen Biografie, bspw. bei unterschiedlichen Erfahrungen, beinhalten oder eigene und andere Erfahrungen Dritter. Die anderen Personen können historische Akteur*innen oder Personen aus der Umgebung des Menschen sein, der eine Alterität erfährt. Einige grundlegende Aspekte von Alteritätserfahrungen im historischen Lernkontext sind prinzipiell anschlussfähig an Alterität im elaboriert-historischen Sinn; eine rein kognitive Perspektivenübernahme in Abgrenzung zur Empathie, wie sie Buchsteiner et al. vorschlagen, erscheint nicht hilfreich.1005 Unter dieser Prämisse würden biografisch-historische Bezüge außer Acht gelassen, was aufgrund der 1004 Barricelli (2014a), 71. 1005 Buchsteiner/Lorenz/Must (2017), 93.

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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Verbindung beider Ebenen unmöglich ist. Alavis Vorschläge, dass es bei Alteritätserfahrung um Auseinandersetzung mit Andersartigkeit (vergangener Gesellschaften oder gegenwärtiger Aspekte) und um eigene Normen und Selbstverständlichkeiten geht, lassen sich elaboriert-historisch begründen. Verschiedene Handlungsmöglichkeiten und Begründungszusammenhänge (bspw. mit Blick auf mehrere Biografien) sind wahrnehmbar und im Dialog zu diskutieren. Durch kognitiv-sprachliche Reflexion ist der Mensch in der Lage, sich mit Alterität auseinanderzusetzen und sie sinnvoll zu deuten. Ein Austausch über gemeinsame Erfahrungen bspw. in Form von verstehenden und erklärenden Geschichten wird möglich. Im Dialog lassen sich unterschiedlichste Geschichten bspw. über Arbeit oder andere Erfahrungen bspw. mit Kultur (race), sozialen Gefügen (class), Geschlecht (gender) oder den eigenen Fähigkeiten (ability) erklären. Dabei wird Alterität auch in unterschiedlichen Geschichten erfahrbar, was Ausgangspunkt für eine weitere Diskussion werden kann. Die Geschichten müssen nicht über Merkmale einer historischen Narration verfügen, um zum Austausch und Nachvollziehen-Können von Erfahrungen, Meinungen und Urteilen zu führen. Orientierung Durch bewusste und kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Phänomenen der Umwelt gelingt dem Menschen, wie Kapitel 2.2 darstellt, die Orientierung im Raum und in der Zeit. Er ist dadurch in der Lage, sich in seiner Lebenswelt noch besser zu orientieren. Er beschäftigt sich mit seinem orientierten Raum und der orientierten Zeit. Die Trennung der Zeitebenen der eigenen Lebensgeschichte oder darüber hinaus ist dafür entscheidend. Nur auf Grundlage der Zeitdifferenzerfahrung lässt sich elaboriert-historisch Orientierung als Abstraktion von biografisch-historischer Zeiterfahrung herstellen. Durch den kognitiv-sprachlichen Rückgriff auf Erfahrungen wird der Mensch wieder handlungsfähig; er etabliert seine Handlungskompetenz auf einer weiteren Ebene, zusätzlich zur Biografisch-Historischen und überwindet den Zeitbruch sinnbildend. Er kann über sich selbst und seine soziale sowie kulturelle Umwelt nachdenken, sich mit ihr beschäftigen, mit anderen Menschen in Dialog treten, dadurch Irritationen bewältigen und Kohärenz herstellen. Er setzt sich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv mit eigenen Erfahrungen, denen Dritter, eigenen Sinnzuweisungen und denen Dritter (alleine oder im Dialog) auseinander. Das ermöglicht Erkenntnisse und grundlegenderes Verständnis von sich selbst, anderen, der eigenen Historizität und der seiner Umwelt. Er versteht und erklärt diese Aspekte vor dem Hintergrund möglicher Zusammenhänge und Kausalitäten. All das führt zu einer erweiterten Qualität von Orientierungs- und Handlungsfähigkeit sowie des individuellen Zukunftshorizonts. Die eigene Zukunft wird vielseitiger vorstellbar, beeinfluss- und erwartbarer je mehr leiblich

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Theoretische Grundlagen

reflexive Erfahrungen gesammelt werden und je intensiver die bewusste sowie kognitiv-sprachliche Reflexivität ist. Ziel ist eine individuelle Orientierung in Bezug auf das Selbst und den sozialen und kulturellen Kontext. Geschichte Der Mensch beschäftigt sich mit elaborierter Geschichte. Er ist in unterschiedliche Geschichten verstrickt; schon die eigene Biografie besteht aus mehreren Geschichten. Der Raum lässt sich aus unterschiedlichen Geschichten konstruieren und ist an sich historisierbar. Diese Geschichten lassen sich zum Ausgangspunkt für elaboriert-historische Lernprozesse machen. Dazu muss der Mensch sich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv mit (s)einen Geschichten, also einer sinnvollen Verkettung von Ereignissen, Zusammenhängen und Kausalitäten beschäftigen können. Einzelne Elemente der Geschichten lassen sich aus dem Erlebnisfluss heraustrennen, um sie gezielt, mit bestimmten Fragestellungen, Überlegungen oder aufgrund verschiedener Irritationsanlässe zu untersuchen. Er kann eine Geschichte zergliedern, ihre Zusammenhänge verstehen und erklären. Das Aufspalten von Geschichten in ihre Teile ermöglicht Zeitdifferenzerfahrungen. Die verschiedenen ( jeweils vergangenen) Zeitschichten lassen sich genauso trennen wie die Vergangenheit von der Gegenwart. Die Gliederung von Zeit ermöglicht die Konstruktion erklärender und verstehender Geschichten. Vergangenheit bleibt mit der Gegenwart in ihrer Geschichte stets verbunden. Die Analyse geschieht rein kognitiv-sprachlich. Subjektive Bedeutsamkeiten lassen sich erkennen, deuten und mit Sinn versehen. Es lassen sich Geschichten zur eigenen Biografie oder im gedanklichen Überschreiten der eigenen Lebenszeit mit historiografischen Bezügen erzeugen. Das ermöglicht Geschichten, in die mehrere Menschen verstrickt sind. Anhand von Sinnbildungsprozessen rücken die eigene Historizität und die der Umgebung als Geschichte in den Blick. Der Mensch kann Geschichten ausgehend von gemeinsamen Schnittlinien entwickeln und erklären, die für jede*n anschlussfähig sind. Der biografische Horizont bleibt aufgrund der leiblich reflexiven Rahmung des biografisch-historischen Bewusstseins stets präsent. Neue Urimpressionen oder Wiedererinnerungen werden erzeugt, wenn der Mensch Fragen an die Vergangenheit stellt oder Geschichten konstruiert. Sie tragen aufgrund leiblich reflexiver Prozesse zur erfahrungsgesättigten Handlungs- und Orientierungsfähigkeit bei und werden zum Ausgangspunkt für eine bewusste, kognitiv-sprachliche Auseinandersetzung. Hier sind Jeismanns Überlegungen im Rahmen der vorgeschlagenen Erweiterungen und Veränderungen zur Verknüpfung der Zeitebenen anschlussfähig. Sie lassen sich dann umstandslos mit elaboriert-historischer Sinnbildung verbinden. Elaboriert-historisch lässt sich Vergangenheit deuten, Gegenwart verstehen und eine zukünftige Perspektive erzeugen. Im Verstehen und Erklären

Bewusstseinsbildung im Kontext historischen Lernens

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werden Zusammenhänge und Bezüge hergestellt. Mit Blick in die Vergangenheit lassen sich einzelne Ereignisse, einzelne (Lebens-)Geschichten auswählen und als Grundlage für ein Deutungsangebot für die jeweilige Gegenwart oder Zukunft anführen. Biografisch begründete Deutungsmuster werden erzeugt, mit denen sich die eigene Zukunft erwarten lässt. Vor ihrem Hintergrund versetzen sich Schüler*innen in die Lage, durch einen bewussten und kognitiv-sprachlichen Reflexionsprozess biografisch-historischer Erfahrungen Handlungs- und Entscheidungen zu begründen und Alternativen zu finden. Sie erweitern die eigene Orientierungs- und Handlungsfähigkeit vor dem Horizont der eigenen Lebensgeschichte.

IV

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

3

Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung

3.1

Zur Erhebung Subjektiver Theorien

Die nachstehenden Überlegungen reflektieren allgemeine und spezifische Zugangsweisen zur Erhebung subjektiver Theorien bzw. persönlicher Konstrukte von Menschen mit geistiger Behinderung, um Rückschlüsse für das Forschungsdesign der Studie zu ziehen. Im Mittelpunkt für qualitativ empirische Erhebungen stehen das »Subjekt, seine Sichtweisen, lebensgeschichtlichen (Leidens)Erfahrungen, Weltbilder, Handlungsmöglichkeiten. Dabei wird Subjektivität in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit anerkannt.«1006 Dem Subjekt und seiner einzigartigen Perspektive auf seine Lebenswirklichkeit ist größtmöglicher Raum während einer Erhebung, so auch in der vorliegenden Arbeit, zu geben. Das Erhebungsverfahren ist so offen zu wählen, dass alle Teilnehmer*innen ungehindert und möglichst unvoreingenommen ihre subjektiven Theorien ausdrücken können. Nach Mayring sind vor allem Befragungen bzw. Interviews besonders gut geeignet, um das zu gewährleisten und etwas über die Lebenswirklichkeit der Teilnehmer*innen zu erfahren.1007 Lamnek sieht das Interview als den »Königsweg«1008 in der empirischen Forschung zur Erhebung subjektiver Theorien. Interviewteilnehmer*innen sind grundsätzlich Expert*innen »für ihre eigenen Bedeutungsgehalte.«1009 Bei qualitativen Erhebungen sind sie als kompetent anzuerkennen;1010 nur die Betroffenen können Auskunft über ihre eigene Perspektive geben. Das gilt für alle Personen – auch für Personen mit geistiger Behinderung. Dieses kompetenzorientierte Menschenbild erinnert an Kellys Annahme, jeden 1006 1007 1008 1009 1010

Steinke (1998), 122. Mayring (2016), 66. Lamnek (2010), 301. Mayring (2016), 66. Schuppener/Hauser (2014), 235.

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

»Menschen als Wissenschaftlicher«1011 wahrzunehmen. Jede*r ist daran interessiert, Vorgänge der Umwelt durch Hypothesenbildung und deren Verifikation oder Falsifikation vorherzusagen und zu kontrollieren.1012 Ziel empirischer qualitativer Studien ist die Verbesserung von Lebensqualität.1013 Vorrangig geht es darum, Perspektiven der Teilnehmer*innen nachzuvollziehen, Wünsche und Bedürfnisse kennenzulernen, um sie zu berücksichtigen.1014 Interviewer*in und Teilnehmer*in sind gleichberechtigt: Es wird »die Parallelität zwischen wissenschaftlich-psychologischer und alltagspsychologischer Konstruktbildung hergestellt […], die die Auffassung eines gleichberechtigten Verhältnisses zwischen beiden Perspektiven nahelegt. Methodisch folgt hieraus ein gleichberechtigtes und partnerschaftliches Verhältnis zwischen Befrager und Befragtem, das (im Idealfall) einem Subjekt-Subjekt- und nicht einem Subjekt-Objekt-Verhältnis entspricht.«1015 Lohaus beschreibt damit die von Kelly bereits in den 1950ern geforderte Gleichberechtigung von Wissenschaftler*in und Teilnehmer*in. Seine Idee, sich auf Augenhöhe zu begegnen, lässt sich bspw. davon ableiten, dass er jeden Menschen als Wissenschaftler*in betrachtet.1016 Für Menschen mit (geistiger) Behinderung wird erst jüngst gefordert, sie als Expert*innen der eigenen Angelegenheiten1017 und dem/der Forscher*in gleichberechtigt wahrzunehmen. Studien, welche die eigene Biografie in den Mittelpunkt stellen, gelten in der Forschung teilweise als umstritten. Daten aus solchen Interviews werden manchmal als unzulänglich oder verfälscht betrachtet. Zu dieser Kritik führen Verarbeitungsprozesse des Gedächtnisses, u. a. Verdrängen und Vergessen. Gleichzeitig sind subjektive Perspektive und Bedeutungszuweisung aber zentrale Aspekte, die sich nur in biografisch orientierten Interviews erheben lassen. Somit erscheinen Interviews als die geeignetste Möglichkeit, um subjektiven Sinn zu erheben.1018 Ob und inwiefern Vergessen, Verdrängen oder Veränderung eine Rolle spielen, ist nachrangig; subjektive Zugänge und Sinnkonstruktion stehen im Vordergrund, nicht ein Ereignis selbst. Es geht nicht darum, sich der Vergangenheit objektiv zu nähern, um der gewesenen Realität möglichst nahe zu kommen, sondern um die individuelle Konstruktion. Bislang liegen verhältnismäßig wenig empirische Daten zu subjektiven Theorien von Personen mit geistiger Behinderung vor. So stellt Lindmeier fest, 1011 1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018

Kelly (1986), 18. Ebd, 19; Scheer/Catina (1993), 8. Schuppener/Hauser (2014), 233. Giese/Hofmann/Overbeck (2002), 183. Lohaus (1993), 81. Kelly (1986), 18; vgl. auch Sader/Weber (1996), 47f. Trescher (2017a); Keeley (2015), 109. Strube/Weinert Franz Emanuel (1987), 151.

Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung

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dass sich die Forschung stärker empirischer Forschung mit Menschen mit geistiger Behinderung und ihren »subjektiven Lebenserfahrungen«1019 widmen müsse, damit sie Mit- und Selbstbestimmung erlangen. Sie sollten in Theorie und Praxisempfehlungen einbezogen werden.1020 Buchner und Koenig stellen bei einer Zeitschriftenanalyse der Jahre 1996–2006 fest, dass nur 22 % der 510 analysierten Artikel empirisch basiert sind.1021 Insgesamt widmet sich nur ca. 0,4 % der empirischen Forschung autobiografischen Darstellungen dieses Personenkreises. Janz und Terfloth vermuten, dass fehlende (verpflichtende) Anteile für empirische Forschungsmethoden während des Studiums zur Sonderpädagog*in dazu beitragen, dass dort so wenig empirisch geforscht werde. Student*innen der Sonderpädagogik sind kaum in Forschungsprojekte eingebunden und können nur wenige Erfahrungen sammeln bzw. eigene Interessen für Forschung entwickeln.1022 Auch Trescher resümiert, dass qualitative Forschungsansätze nur sehr selten Anwendung finden.1023 Wie es generell bisher noch wenige empirische Studien mit Menschen mit geistiger Behinderung gibt, erheben noch wenigere Arbeiten ihre subjektive Sichtweise.1024 Aus der jüngeren Vergangenheit sind vermehrt Forschungen über Personen mit geistiger Behinderung vorhanden, so Schäfers; Perspektiven der Personengruppe selbst liegen kaum vor.1025 König und Buchner gehen davon aus, dass im deutschsprachigen Raum weit mehr Forschungen über diese Personen stattfinden als Forschungen mit ihnen. Sie verweisen auf den englischsprachigen Raum, in dem zunehmend die Perspektive der Betroffenen im Vordergrund steht und diese selbst am Forschungsprozess teilhaben.1026 Die qualitative Erhebung von Daten mit Menschen mit geistiger Behinderung – als Expert*innen in eigener Sache – sieht Schäfers als die beste Möglichkeit, um ihre subjektiven Theorien zu erheben.1027 Bislang liegen nur die in Kapitel 1.2 diskutierten Studien von Barsch und George zu historischer Sinnbildung von Personen mit geistiger Behinderung vor.

1019 1020 1021 1022 1023 1024

Lindmeier (2013), 11, kursiv im Original. Ebd., 11. Buchner/Koenig (2008), 23. Janz/Terfloth (2009), 10. Trescher (2017a), 57. Keeley (2015), 108; exemplarisch wird auf einige Studien verwiesen, die Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung erheben. Die Vielfalt ist mittlerweile zu groß, um alle Studien vollständig anzuführen: Giese/Hofmann/Overbeck (2002); Schäfers (2008); Schuppener (2005b); Trescher (2018); Römisch (2011). 1025 Schäfers (2008). 1026 Koenig/Buchner (2009), 177f. 1027 So bspw. Schäfers (2009); Hagen (2001); Hagen (2002); Hagen (2007); Giese/Hofmann/ Overbeck (2002); Giese (2016); Emerson/Hatton/Thompson/Parmenter (2004); Janz/Terfloth (2009); Keeley (2015); Kuhl/Euker (2015); Michels; Michels (2002); Schäfers (2009); Schäfers (2008); Schuppener/Hauser (2014); Schuppener (2005a); Buchner (2008); Buchner/Koenig.

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Vor rund 35 Jahren galten Menschen mit geistiger Behinderung als nicht befragbar.1028 Dieses Vorurteil wirkt sich wohl bis heute auf das Menschenbild von Forscher*innen und ihre Studien aus. Es bestehen noch immer Vorbehalte gegenüber Forschungsvorhaben mit Menschen mit geistiger Behinderung, so vermutet Wilke.1029 Perry verweist darauf, dass die Betroffenen trotz emanzipatorischer Forschungsforderungen mehr Teilnehmer*innen an Forschung und weniger Forscher*innen selbst sind. Bei emanzipatorischen Vorhaben kontrollieren und verantworten die Teilnehmer*innen selbst den Forschungsprozess.1030 Die Vorbehalte gegenüber diesem Personenkreis reichen bis in die jüngere Vergangenheit zurück und basieren auf einem defizitorientierten Menschenbild, das sich wohl hartnäckig tradiert. Ergebnisse von Studien mit Menschen mit geistiger Behinderung gelten teilweise noch immer als nicht valide. Folgt man Sigelman et al., sei es nur unter sehr komplexen Bedingungen möglich, überhaupt valide Antworten der Betroffenen zu erhalten1031 – eine Annahme, die auf ein massives Vorurteil hinweist. Verschiedene Studien, wie bspw. von Schuppener1032, Schäfers1033, Goodley/Rapley1034, Rapley1035 sowie Goodley1036 hinterfragen und widerlegen das überwiegend. So hängt es insbesondere vom Forschungsdesign ab, ob die Teilnehmenden zu Expert*innen der eigenen Angelegenheiten werden, was, so Keeley, zu validen Ergebnissen führt.1037 Das Verhalten des/der Interviewenden, Inhalt, Format der Befragung und Selbstbewusstsein der Forschungsteilnehmer*innen können die Validität der Antworten eines Interviews ebenso beeinflussen.1038 Die Teilnehmer*innen kommen, so die begründete Vermutung, durch angemessenes Verhalten der Interviewenden sowie zugängliche Inhalte und Formate eher zu belastbaren Antworten. Bei Menschen mit geistiger Behinderung hält sich, so Buchner und Koenig, noch immer das Vorurteil, sie seien aufgrund ihrer kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten generell nicht in der Lage, an Interviews teilzunehmen.1039 Diese Annahme geht an den unterschiedlichen Fähigkeiten des Personenkreises deutlich vorbei. Trescher widerspricht dem Vorurteil: Die Betroffenen sind 1028 Laga (1982); man muss nicht viel weiter in die Vergangenheit blicken, um festzustellen, dass dieser Personenkreis auch als grundsätzlich nicht lernfähig stereotypisiert wurde. 1029 Wilke (2015), 111. 1030 Perry (2004), 116. 1031 Sigelman/Budd/Spanhel/Schoenrock (1981). 1032 Schuppener (2005a); Schuppener (2005b). 1033 Schäfers (2009). 1034 Goodley/Rapley (2001). 1035 Rapley (2004). 1036 Goodley (2011). 1037 Keeley (2015), 109. 1038 Prosser/Bromley (2012), 108ff. 1039 Buchner/Koenig 2011, 3f.

Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung

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durchaus als Expert*innen der eigenen Lebenssituation und -geschichte zu betrachten;1040 davon lässt sich begründet ihre Möglichkeit ableiten, an Interviews über die eigene Lebenssituation und -geschichte teilzuhaben. Auch Schuppener und Hauser deuten das Vorurteil im Rahmen einer kompetenzorientierten Sichtweise als nicht plausibel und nicht vertretbar.1041 Ebenso kommen Klauß und Janz zum Ergebnis, dass die Betroffenen grundsätzlich zu Interviews in der Lage sind. Es ergeben sich überwiegend »differenzierte und sinnvolle Antworten.«1042 Prosser und Bromley fordern, dass es für Menschen mit geistiger Behinderung keine Grenzen zur Interviewteilnahme geben sollte.1043 Sprache ist zentrales Element – und auch Barriere – eines Interviews: die Fragestellung muss verstanden, Informationen zur Beantwortung müssen abgerufen werden; es gilt eine Meinung, eine Sichtweise oder ein Urteil zu erzeugen und zu formulieren.1044 Die sprachlich-kommunikativen Anforderungen können herausfordern. Für Personen mit geistiger Behinderung ist es oftmals leichter, »konkrete Sachverhalte zu beantworten als abstrakte Zusammenhänge zu erschließen.«1045 Allerdings ist den Betroffenen nicht generell die Fähigkeit abzusprechen, sich abstrakte Zusammenhänge erschließen bzw. eigene komplexe Perspektiven darstellen oder versprachlichen zu können. Erkenntnisse von Keeley deuten darauf hin, dass sie – insbesondere bezogen auf ihre Sichtweise und Lebenswirklichkeit – komplexe Sinnzusammenhänge herstellen und formulieren können.1046 Teilweise wird Menschen mit geistiger Behinderung unterstellt, sie würden eher sozial oder institutionell erwünscht antworten.1047 Das Phänomen ist bei allen Menschen zu beobachten, es ist also in einem größeren Zusammenhang zu problematisieren. »Das Zustandekommen von Einstellungen und Grundhaltungen sowie das Präsentieren der Ansichten [ist] in Untersuchungssettings im Allgemeinen durch fremde Einflüsse geprägt.«1048 Hagen verweist darauf, dass sozial erwünschtes Antwortverhalten weniger mit Behinderung als vielmehr mit dem lebensweltlichen Kontext der Teilnehmer*innen zusammenhängt.1049 Er vermutet, dass eine anregende, nicht isolierte Lebenssituation Konsistenz und Validität des Antwortverhaltens erhöht.1050 Klauß und Janz nehmen mit Verweis 1040 1041 1042 1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050

Trescher (2017a). Schuppener/Hauser (2014). Klauß/Janz, 51. Prosser/Bromley (2012), 108. Schäfers (2009). Keeley (2015), 111. Michels 2012; Michels (2002). Schuppener/Hauser (2014), 242. Ebd. Hagen (2002), 295. Thornicroft et al. 1993 und Coroy und Badley 1985 zit. nach Hagen (2002).

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

auf eine unveröffentlichte Arbeit von Weidenbach an, dass die Betroffenen bei abstrakten und komplexen Fragen eher mit Zufriedenheit bzw. sozialer oder institutioneller Erwünschtheit antworten. Bei konkreteren Fragen und Inhalten können sie Unzufriedenheit und Änderungswünsche benennen.1051 Personen mit geistiger Behinderung zeigen in Interviews teilweise Tendenzen zu Zustimmung.1052 Allerdings weniger bei qualitativen als bei quantitativen Methoden1053, da bei ersteren eher offene Fragestellungen dominieren und Vertiefung immer möglich ist. Während der Erhebung kann der/die Teilnehmer*in frei antworten und muss sich nicht innerhalb von Antwortvorgaben bewegen. Er/Sie »kann das formulieren, was ihm [ihr] in Bezug auf das Thema bedeutsam ist.«1054 Das Problem ist für die vorliegende Arbeit nicht relevant. Das Ausbleiben an empirischen Studien mit Menschen mit geistiger Behinderung ist keineswegs nur auf ein defizitorientiertes Menschenbild zurückzuführen. Ein weiterer Aspekt ist wohl die fehlende Erfahrung und Sicherheit der Forscher*innen, wie angemessen auf den Personenkreis einzugehen ist. »Auf methodischer Ebene bestehen nach wie vor weitreichende Unsicherheiten in Bezug auf die Auswahl und Anwendung von Methoden empirischer Sozialforschung.«1055 Schuppener und Hauser führen das auf die Individualität der Betroffenen zurück.1056 Wie auch qualitative Forschungen mit diesem Personenkreis recht spärlich vorhanden sind, gibt es bislang nur wenige Auswertungen und Analysen dieser Studien1057, aus denen sich Kriterien ableiten lassen.Es sind kaum grundliegende Unterschiede von (leitfadengestützten) Interviews mit Menschen mit geistiger Behinderung im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung festzustellen. Mit wenigen Anpassungen gelingt es vielen Personen nahezu unabhängig von ihren sprachlichen und kognitiven Leistungen, an qualitativ empirischen Forschungsvorhaben aktiv teilzuhaben.1058 Die vorliegende Studie stellt die Erhebung der persönlichen Konstrukte von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in den Mittelpunkt. Um mehr über ihre subjektive Sinnkonstruktion zu erfahren, erscheint es ethisch unabdingbar, den Betroffenen selbst – auch im Hinblick auf Emanzipation, Mitbestimmung, Empowerment und Teilhabe – die Möglichkeit zu 1051 Weidenbach (2009): Freizeitgestaltung und Freizeitwünsche von Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Beitrag zu Sozial- und Teilhabeplanung der Stadt Heidelberg. Wissenschaftliche Hausarbeit Päd. Hochschule Heidelberg, unveröffentlicht. Zit. nach: Klauß/ Janz, 52ff. 1052 Bspw. Schäfers (2009). 1053 Buchner (2008). 1054 Mayring (2016), 66. 1055 Schuppener/Hauser (2014), 235. 1056 Ebd., 235ff. 1057 Buchner (2008), 516. 1058 Schallenkammer (2016), 53.

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geben, sich aktiv an der Erhebung zu beteiligen und als Expert*innen zu äußern; nur dann bietet Forschung den Vorteil, authentischere Erkenntnisse zu gewinnen als das Äußerungen Dritter vermögen.1059 Ist das Ziel die Verbesserung der Lebenswirklichkeit, muss die subjektive Perspektive der Betroffenen abgebildet werden, möchte man nicht an ihnen vorbei Entscheidungen treffen. Das Forschungsdesign soll sicherstellen, die subjektiven Theorien der Schüler*innen bestmöglich zu erheben und ihnen selbstbewusstes Mitwirken ermöglichen. Bei partizipativen Forschungsansätzen sollen die Teilnehmer*innen selbst zu Forscher*innen werden und zu Worte kommen.1060 In der vorliegenden Arbeit stellen die geäußerten Konstrukte einen Beitrag der Teilnehmer*innen dar. Darüber hinaus werden, wie Kapitel 4.3.2 zeigt, die Interpretationen und Hypothesen gemeinsam mit ihnen überprüft, ob sie zutreffen oder zu verändern sind, um die Datenauswertung an partizipativen Forschungsüberlegungen zu orientieren. Grundsätzlich sind ethische Richtlinien handlungsweisend, die das folgende Kapitel diskutiert. Ein kompetenzorientiertes Menschenbild dominiert die Studie; die Methode ist so zu wählen, dass sie sich den Kompetenzen der Teilnehmer*innen anpasst. Nicht umgekehrt.

3.2

Ethisch verantwortungsvolle Forschung

Während der gesamten Forschung muss die Beziehung von Teilnehmer*in und Interviewer*in auf einer Subjekt-Subjekt-Ebene stattfinden.1061 Der/die Interviewer*in sucht stets die Augenhöhe. Bei Forschungsvorhaben sollen Recht auf Freiwilligkeit an der Teilnahme, Information über das Ziel der Forschung immer beachtet werden, so Griffin und Baladin. Der gesamte Forschungsprozess – vom Design bis zu Publikation – ist ethisch zu reflektieren.1062 Die Teilnehmer*innen sollen vom Forschungsprojekt profitieren; zu keinem Zeitpunkt darf die Teilnahme für sie nachteilig sein. Buchner misst dem ethischen Paradigma oberste Priorität für Forschungsprozesse mit diesem Personenkreis bei.1063 Für das vorliegende Projekt bedeutet das, das Design daraufhin zu prüfen, ob die Teilnehmer*innen die Interviews bewältigen können, sie dadurch emotional beeinflusst werden oder ihr Selbstbewusstsein gefährdet sein könnte; der Er1059 1060 1061 1062

Schuppener (2005a). Graf (2015), 37. Buchner (2008). Griffin/Balandin (2004), 61f. Besonders mit einem Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts sind ethische Überlegungen diesem Personenkreis gegenüber zentral wichtig. 1063 Buchner (2008), 517; an dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass dieses ethische Paradigma für alle Teilnehmer*innen an Studien, nicht nur für den von Buchner angeführten Personenkreis, gelten muss.

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kenntnisgewinn muss den persönlichen Raum der Schüler*innen respektieren. Darüber hinaus ist nötig, dass alle die Vorgehensweise und Ziele der Forschung kennen und verstehen, mit ihrer Mitwirkung einverstanden sowie sich der Freiwilligkeit bewusst sind. Der eigene Einfluss auf Teilnahme oder Nichtteilnahme muss erkennbar sein. Perry misst der Phase der Einwilligung zur Mitwirkung große Bedeutung zu.1064 Das informierte Einverständnis soll an mehreren Stellen des Forschungsprozesses eingeholt werden und sicherstellen, dass die Teilnehmer*innen dauerhaft informiert einwilligen.1065 Insbesondere bei biografisch orientierten Studien sind ethische Grundprinzipien handlungsleitend. So ist mit der Biografie besonders sensibel umzugehen.1066 Mit den Teilnehmer*innen ist eine Entscheidung zur Anonymisierung der Studie zu treffen1067, was konsequent einzuhalten ist.1068

3.3

Anforderungen an das gewählte Forschungsdesign

Die subjektive Konstruktion ausgewählter Aspekte der Lebenswelt steht in der vorliegenden Arbeit im Vordergrund. Zur Erhebung kommen verschiedene narrative, bspw. von Nittel1069, oder strukturierte Interviewformen, bspw. von Fuchs-Heinritz1070 in Frage.1071 Nach Keeley ist eine »methodische und wissenschaftstheoretisch individuelle Herangehensweise an das Forschungsdesign«1072 notwendig, damit sich alle Personen zu ihrer Lebenssituation und subjektiven Perspektive äußern können. Sie empfiehlt, Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen, sowie die Lebenswirklichkeit der/des Proband*in gut zu kennen und Fotos oder Videosequenzen 1064 1065 1066 1067 1068

1069 1070 1071 1072

Perry (2004), 117. Buchner (2008), 517. Lindmeier (2013), 29. Buchner (2008), 517. Die vorliegende Forschungsarbeit wird im sonderschulischen Kontext in Baden-Württemberg angefertigt. Daher müssen hierbei die relevanten Gesetze und Verwaltungsvorschriften zum Schutz personenbezogener Daten in Baden-Württemberg beachtet werden, die u. a. eine Anonymisierung der Daten verlangen. Besonders relevant für Schulen in Baden-Württemberg ist hier das Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten (Landesdatenschutzgesetz – LDSG) in der Fassung vom 18. 09. 2000, gültig ab 01. 09. 2000. Mit den Schüler*innen wird vereinbart, dass alle ihre Daten ausschließlich anonymisiert verarbeitet und weitergegeben werden dürfen. Die Namen aller Schüler*innen wurden geändert. Ebenfalls wurden die Namen aller Lehrkräfte bei der Bezeichnung der Elemente und in den Transkripten im Anhang geändert. Nittel (2008). Fuchs-Heinritz (2009). Trescher (2017a), 64ff. Keeley (2015), 108.

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als Anlass zum Austausch heranzuziehen. Beides erleichtere das gemeinsame Gespräch. Weitere Adaptionen sind möglich. Visualisierungen haben den Vorteil, dass der/die Proband*in dem Interview nicht nur kognitiv-sprachlich, sondern auch nonverbal-visuell folgen kann.1073 Damit wird es anschaulicher und mehrdimensional zugänglich. Es ist eine Voraussetzung der vorliegenden Studie, dass die Schüler*innen dem Interview folgen und Sinn äußern können.1074 Als Methode wird eine qualitative, offene halbstrukturierte Interviewform, das erwähnte Repertory Grid Interview, gewählt. Mayring schlägt vor, jede qualitative, offene, halbstrukturierte Befragungsform als »problemzentriertes Interview«1075 zu bezeichnen, ein von Witzel1076 geprägter Begriff.1077 Folgt man dieser Einteilung, ist ein Repertory Grid Interview problemzentriert und zeichnet sich durch eine festgelegte Vorgehensweise aus.1078 Davon ist bei Verständnisfragen oder -probleme abzuweichen. Ein Repertory Grid Interview erlaubt das gleiche Vorgehen beim Erheben der Konstrukte und Ranking der Elemente für jede Befragung, wie das folgende Kapitel erläutert. Die partielle Standardisierung erleichtert es, Äußerungen zu vergleichen und daraus Rückschlüsse zu ziehen.1079 Auf Vergleiche der Ergebnisse verschiedener Schüler*innen verzichtet die vorliegende Arbeit; die Interpretation erfolgt rein qualitativ und individuell. Der/die Teilnehmer*in bringt sich über die Standards hinaus selbst durch Beispiele oder Erläuterungen ein.1080 Wie Kapitel 3.1 darstellt, neigen einige Menschen dazu, Äußerungen unreflektiert zuzustimmen. Ein Repertory Grid Interview begegnet dieser Problematik damit, dass die Teilnehmer*innen sehr selten dazu Gelegenheit haben, da sie ihre Konstrukte selbst beschreiben und benennen. Nur im Gespräch darüber ist das – in Abhängigkeit der angebotenen Fragen – möglich und zu bedenken. Um Zustimmungstendenzen zu minimieren, sollte die oder der Interviewer*in möglichst keine Aussagen anbieten, denen sich zustimmen lässt, sondern offen fragen. Es kann vorteilhaft sein, den Teilnehmer*innen öfters mitzuteilen, dass es keine richtigen oder keine falschen Antworten gibt und nur die subjektive Sicht wichtig ist. Das kann soziale oder institutionelle Erwünschtheit mindern. Ein Repertory Grid Interview folgt einer festgelegten Struktur. Um sicherzustellen, dass die Teilnehmer*innen sich kompetent fühlen und es auch sind, sollte die Methodik vorab kennengelernt und erprobt werden. Auch bei der Heidel1073 1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080

Ebd., 110f. Zu den Lernvoraussetzungen der Schüler*innen s. Kapitel 4.2. Mayring (2016), 67. Witzel (1982). Mayring (2016), 67. Fromm/Paschelke (2010), 21–51. Mayring (2016), 70. Fromm/Paschelke (2010), 33ff.

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berger-Struktur-Lege-Technik (SLT), einer anderen halbstrukturierten Interviewmethodik, die sich wie die Repertory Grid Methodik auf Kellys Personal Construct Psychology bezieht, wird vorheriges Üben empfohlen.1081 Prosser und Bromley schildern weitere Aspekte, die zum Gelingen von Interviews mit Personen mit geistiger Behinderung beitragen.1082 Im Folgenden werden ihre Überlegungen, ergänzt von Buchner, diskutiert und mit eigenen Überlegungen verknüpft.1083 Durch ein Repertory Grid Interview haben die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, sich selbst zu äußern und zusätzlich durch die abschließenden Auswertungsgespräche erheblichen Einfluss auf die Aussagekraft der Forschungsergebnisse auszuüben. Ihnen wird damit auf Augenhöhe begegnet; es wird nicht über sie, sondern mit ihnen geforscht. Sie teilen ihre Sinnzuweisungen selbst mit und können in den abschließenden Gesprächen Stellung beziehen. Um sicherzustellen, dass alle informiert in die Teilnahme an der Studie einwilligen, ist es notwendig, dass sie bewusst einwilligen und das Vorgehen der Interviews sowie deren Ziele verstehen. Dennoch ist kritisch zu reflektieren, über welche Lernvoraussetzungen die Teilnehmer*innen verfügen ›müssen‹, um selbstbewusst an einem Repertory Grid Interview mitwirken zu können. Die vorliegende Arbeit möchte Rückschlüsse auf biografisch-historische Sinnbildung der Schüler*innen ziehen; es ist zu erheben, inwiefern davon auszugehen ist, dass sie über eigene biografische Erfahrungen historischen Sinn konstruieren und handlungsfähig werden. Es wird vermutet, dass alle Schüler*innen leiblich reflexiv Sinn bilden können. Die Vermutung lässt sich bspw. aus den Beobachtungen der Schüler*innen während der schulischen Arbeitssituationen ableiten; beim Anfertigen der Fotografien erschienen alle Schüler*innen orientierungs- und handlungsfähig. Mithilfe der Repertory Grid Methodik wird erhoben, ob sie über verschiedene Erfahrungen Handlungssinn erzeugen, der Grundlage für ihre Handlungs- und Orientierungsfähigkeit ist. Es ist anzunehmen, dass sie Erfahrungen nicht-bewusst sowie unabhängig von Sprache und Kognition aufeinander beziehen und dadurch Sinn erzeugen. Da, wie gezeigt, davon auszugehen ist, dass biografisch-historische Sinnbildung nicht-bewusst und unabhängig von kognitiv-sprachlicher Reflexivität sowie nicht rational vernunftorientiert stattfinden, kann ein Repertory Grid Interview nur Annäherungen an die Bedeutungszuweisungen der Teilnehmer*innen erheben. Die Sinnzuweisungen an sich lassen sich nicht vollständig erheben; eine verbalsprachliche Äußerung ist nur eine Annäherung an ein Konstrukt, das nonverbal und leiblich reflexiv vorliegt. Dennoch lassen die 1081 Giese (2016), 83. 1082 Prosser/Bromley (2012), 109–118. 1083 Ebd., 109–118; Buchner (2008), 516–528.

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Äußerungen der Schüler*innen Rückschlüsse auf subjektive Sinnkonstruktion und Bedeutsamkeit zu. Es ist zu erörtern, ob sich für die Schüler*innen aufgrund ihres Erfahrungs- bzw. Handlungssinns ein Zukunftshorizont eröffnet, der erweiterte Orientierungs- und Handlungsfähigkeit ermöglicht. Ergründet werden soll ebenfalls, ob sie sich in den unterschiedlichen Arbeitskontexten und -situationen störungsfrei und ohne Irritationen bewegen konnten, was auf die Konstruktion subjektiven Sinns hinweist. All diese Ziele der Erhebung ließen sich mit anderen Forschungsmethoden bspw. mit einer teilnehmenden Beobachtung untersuchen; das hätte aber zur Folge, die Schüler*innen selbst nicht zu Wort kommen zu lassen. Auch wären die Beobachtungen weniger intersubjektiv nachvollziehbar, da sie an bestimmte Perspektiven gebunden sind. Zudem ließen sich keine Aussagen über Hinweise auf elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse ziehen. Mithilfe der Repertory Grid Methodik lässt sich zusätzlich erkennen, ob die Schüler*innen ihren subjektiven Sinn verbalsprachlich äußern können. Das lässt Rückschlüsse zu, ob sie sich elaboriert-historisch bewusst und kognitiv-sprachlich damit auseinandersetzen könnten. Dafür sind bestimmte kognitiv-sprachliche Lernvoraussetzungen notwendig – auch um zu gewährleisten, dass sie das Interview selbstbewusst bestreiten können. Um sicherzustellen, dass sich die Forschungsergebnisse vor dem Hintergrund biografisch-historischer und elaboriert-historischer Sinnbildungsprozesse interpretieren lassen, müssen alle Schüler*innen orientierungs- und handlungsfähig erscheinen; außerdem ist es sinnvoll, wenn sie über bestimmte kognitivsprachliche Fähigkeiten verfügen. Damit erlaubt es die Repertory Grid Methodik, die Interviewergebnisse auf biografisch-historischer und elaboriert-historischer Ebene einzuordnen, was weitreichende Aussagen über historische Sinnbildung ermöglicht. Die Teilnehmer*innen werden im Rahmen ihrer leiblichen Verfasstheit und ihren kognitiv-sprachlichen/bewussten Lernvoraussetzungen betrachtet. Für die Umsetzung der Repertory Grid Interviews sind konkrete Aspekte zu reflektieren: Überlegungen zum Verfahren und Rahmen Der Ort der Befragung muss für die Teilnehmer*innen leicht erreichbar sein. Am besten sollte der/die Interviewer*in die Reise zu dem/der Teilnehmer*in auf sich nehmen. Ein den Teilnehmer*innen bekannter, ruhiger, ungestörter Raum, an dem sie sich wohl fühlen, ist günstig; das kann auch eine unübliche Situation sein.1084 Die Teilnehmenden sollten sich im Raum handlungsfähig fühlen; es muss

1084 Prosser/Bromley (2012), 118.

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sich um einen orientierten Raum handeln.1085 Buchner schlägt vor, den Rahmen von den Teilnehmer*innen festlegen zu lassen.1086 Eine entspannte, angenehme und ungezwungene Atmosphäre kann ein selbstbewusstes und offenes Beantworten der Fragen ermöglichen. Weiter zeigt es sich meist vorteilhaft, die Teilnehmer*innen vor der eigentlichen Befragung kennen zu lernen.1087 Während des Interviews ist stets auf ihre Bedürfnisse zu achten. Um sicherzugehen, dass sich Inhalte und Fragen eignen, können diese mit Menschen, die Zugang zu den Sichtweisen und Kompetenzen der Teilnehmer*innen haben, vorab besprochen werden.1088 Das Interview beginnen Prosser und Bromley schlagen vor, das Interview mit einer kurzen Unterhaltung über etwas von der eigentlichen Befragung Unabhängiges zu beginnen, da die Teilnehmenden verunsichert oder ängstlich sein könnten. Ein mögliches Thema für diesen Beginn wäre bspw. das Wetter.1089 Das ist vorstellbar, allerdings erscheint ein persönlicheres Thema, wie bspw. der bisherige Tagesverlauf, besondere Vorkommnisse oder das gegenwärtige Befinden für die vorliegende Studie besser geeignet. Die Themen bieten den Vorteil, zu erfahren, was der/die Teilnehmer*in bislang erlebt hat und mit welcher Befindlichkeit sie/er an der Befragung teilnimmt. Das kann das Gespräch beeinflussen oder in die Interpretation der Daten einfließen. Ebenso erscheint es vorteilhaft, darauf hinzuweisen, dass alle Antworten richtig sind, um Selbstbewusstsein und die Relevanz der eigenen Sichtweise zu stärken. Je nach Umfang des Interviews ist es am Stück oder mit Pausen durchzuführen. In der vorliegenden Studie wird das gemeinsam mit den Teilnehmer*innen entschieden. Fragestil Ein Interview stellt die Teilnehmer*innen vor Herausforderungen.1090 So ist das Gespräch insbesondere mit Blick auf den befragten Personenkreis mit »Sensibilität, Spontaneität und Einfühlungsvermögen«1091 zu führen. Vorgehen und die eigene Handlungsweise sind stets zu reflektieren, Fragen gegebenenfalls anzupassen.1092 Eindeutige und kurze Fragen eignen sich besonders. Prosser und Bromley empfehlen, kurze Wörter und Sätze zu verwenden, die sich unter Um1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092

Völkel (2017a), 78. Buchner (2008), 520. Prosser/Bromley (2012), 109. Ebd., 118. Ebd., 110. Buchner (2008), 521. Ebd. Ebd.

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ständen umformulieren und vereinfachen lassen. Es empfiehlt sich, Hauptsatzkonstruktionen und Verben im Präsens aktiv zu verwenden sowie pro Satz eine Frage zu stellen, um die Verständlichkeit zu erleichtern. Es ist günstig, wenn sich Fragen auf Gegenwart und Vergangenheit und nicht auf die Zukunft beziehen, da das spekulativ wäre. Darüber hinaus sind doppelte Verneinungen und Fachbegriffe zu meiden. Die Fragen sollten konkret formuliert sein; es kann helfen, sie im Vorhinein zu entwerfen. Umgangssprachliche Ausdrücke könnten von der eigentlichen Frage ablenken und sind zu vermeiden. Es ist sicherzustellen, dass alle Fragen verstanden werden.1093 Frageformat Offene Fragen sind das bevorzugte Format für qualitative Erhebungen. Geschlossene Fragestellungen, die sich mit ja oder nein beantworten lassen, sind allerdings am leichtesten zu verstehen und zu beantworten und können teilweise Verwendung finden, so Prosser und Bromley. Fragen mit mehreren Antwortmöglichkeiten im multiple-choice-Stil erlauben ein größeres Spektrum an Antworten, sind aber komplexer zu verstehen.1094 Die Frageform ist an den individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden zu orientieren.

3.4

Das Repertory Grid Interview

3.4.1 Theoretische Grundlagen: Die Personal Construct Psychology Kelly trifft die Grundannahme, dass »Zeit […] das umfassende Band aller Zusammenhänge«1095 ist. Universum und Realität sind von steten Veränderungen geprägt, wobei Zeit die relevante Größe für das Verständnis von Veränderung ist. Der Mensch kann sein Leben nur mit Sinn versehen, wenn er es im Horizont der Zeit betrachtet, so Kelly weiter. Persönliche Konstrukte, mit denen Menschen verschiedenen Aspekten Sinn verleihen, beziehen sich auf eigene Erfahrungen und Erwartungen. Vergangenheit und Zukunft sind in jedem Konstrukt enthalten.1096 Die Überlegung zeigt, dass Konstrukte und ihr Entstehen als historisch zu betrachten sind. Da sich die Annahme mit geschichtsdidaktischer Theorie in Verbindung bringen lässt1097, erscheinen die Personal Construct Psychology wie

1093 1094 1095 1096 1097

Prosser/Bromley (2012), S. 114f. Ebd., S. 112. Kelly (1986), 20. Ebd., 16. Kellys Überlegungen lassen sich mit grundlegenden Aspekten zu historischen Sinnbildungs- und Lernprozessen verbinden; seine Ansätze lassen sich bspw. mit Völkels inklusiver Geschichtsdidaktik (Völkel (2017a)) oder Kosellecks Ausführungen zu historischen

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auch die Repertory Grid Methodik besonders geeignet für Forschung zu historischer Sinnbildung. Auf weitere Aspekte persönlicher Konstrukte geht Kapitel 3.4.1.1 näher ein. Kellys Grundannahmen und Thesen sind noch immer relevant und finden sich u. a. bei aktuellen (konstruktivistischen) Überlegungen wieder.1098 Einige seiner Ideen finden sich auch in der modernen Kognitionspsychologie wieder, so Scheer und Catina.1099 Die Personal Construct Psychology gründet auf einer grundlegende These und weiteren Korollarien (Annahmen).1100 Jüngere Betrachtungen stellen Kellys Annahme zur Dichotomie und Eindimensionalität von Konstrukten in Frage1101, was Kapitel 3.4.1.2 diskutiert. Das Hauptpostulat lautet: »Die Prozesse eines Menschen werden psychologisch durch die Mittel und Wege kanalisiert, mit deren Hilfe er Ereignisse antizipiert.«1102 Denken verläuft in Kanälen, die der Mensch selbst schafft. Neue Perspektiven kann er durch die Verbindung alter Kanäle untereinander erzeugen, so Kelly weiter.1103 Er sieht den Menschen als stets aktives Subjekt1104 und schränkt das nicht auf bestimmte Personen ein; seine Überlegungen sind auch für Menschen mit Förderanspruch anschlussfähig. Der Mensch konstruiert seine Umwelt und eigene Wirklichkeit. Er entwickelt persönliche Konstrukte, durch die er seine Realität wahrnimmt und auf deren Grundlage er sie interpretiert und bewertet. Ebenso versucht er – ein weiterer wichtiger Gedanke – seine Konstrukte immer an die (sich verändernden) Gegebenheiten der Welt anzupassen, damit er präzisere Vorhersagen für seine Zukunft treffen kann.1105 So stellt jeder Mensch die Gültigkeit seiner Sinnkonstruktion immer wieder auf den Prüfstand. Gegebenenfalls erweitert er sie, verwirft sie oder passt sie an.1106 Jede*r hat die Möglichkeit, Erfahrungen oder seine Umwelt (Elemente) unterschiedlich zu konstruieren und ihr spezifisch Bedeutung zuzuweisen. Wird sich der Mensch seiner Konstruktion bewusst, kann er sie

1098

1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106

Erfahrungen und Erwartungen in Verbindung bringen (Koselleck (2017)). Die Gedanken werden in Kapitel 2.4 näher ausgeführt. Bspw. bei Fahrenbach (1973); Fransella (2003); Fransella (2005); Habermas (1973); Maturana/Varela (1990); Watzlawick (2016); Winter (2010); [Der Titel »#115« kann nicht dargestellt werden – Die Vorlage »Fußnote – Unklarer Dokumententyp – Feld »Autor« leer | Feld »Herausgeber« leer | Feld »Institution« leer« beinhaltet nur Felder, welche bei diesem Titel leer sind.]. Scheer/Catina (1993), 9. Kelly (1986), 59ff. An dieser Stelle sei nur auf die Korollarien verwiesen. Sie werden in dieser Arbeit nicht wiedergegeben. Riemann (1996); MAIR (1967). Kelly (1986), 59. Ebd., 73. Ebd., 60 und 15. Ebd., 21f. Ebd., 27.

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verändern.1107 Kelly geht davon aus, dass jede Person zwischen unterschiedlichen Sinnzuweisungen wählen kann und niemals Opfer der eigenen Biografie werden muss. Kelly bezeichnet diese Freiheit, wie in Kapitel 2.4.2 benannt, als Konstruktiven Alternativismus.1108 Die Erhebung der Konstrukte in der vorliegenden Studie lässt sich als Beginn sehen, dass sich die Schüler*innen elaboriert-historisch bewusst mit eigenen Sinnzuweisungen auseinandersetzen, was vielseitige Zukunftshorizonte eröffnet und Handlungsfreiheit ermöglicht. Jede*r versucht, die Umwelt »zu verstehen, zu beschreiben und zu kontrollieren«1109; Kelly vergleicht das mit dem Vorgehen von Wissenschaftler*innen.1110 Der Mensch ist allerdings kein Theoretiker; die Sinnkonstruktion verläuft »nicht immer offenkundig, verbal oder formal logisch«1111, wie Catina und Schmitt betonen. Der Prozess ist von Emotionen begleitet und nicht-bewusst.1112 Einige Kritiker*innen bemängeln die Theorie als zu kognitivistisch;1113 da Kelly Emotionen bei der Sinnkonstruktion einen hohen Stellenwert beimisst und davon ausgeht, dass sie präverbal und nicht-bewusst geschieht1114, wird der Kritik nicht gefolgt. Der Mensch bezieht alle Aspekte seiner Umwelt aufeinander und verleiht ihnen durch sein individuelles Konstruktsystem Sinn. Alles verortet er in Spannungsfeldern dichotomer Sinnzuweisungen und konstruiert so Bedeutung: eine Person lässt sich nur dann freundlich wahrnehmen, wenn ihr Handeln im Spannungsfeld zweier Konstruktpole – Kelly spricht von Initialpol und Kontrastpol – steht z. B.freundlich – unfreundlich.1115 Die Gesamtheit aller persönlichen Konstrukte einer Person bildet ihre Persönlichkeit ab.1116 »Das Konstruktsystem gestaltet die Weise, in der man denkt, fühlt oder sich verhält«1117, so Catina und Schmitt. Um die Sinnbildung eines Menschen (und den Menschen selbst) zu verstehen, können seine Konstrukte und die damit konstruierten Elemente aufschlussreich sein.1118 So lassen sich subjektive Theorien und Handeln nachvollziehen: man versteht einen Menschen. Kann er seine Konstrukte nicht mitteilen, wird er (möglicherweise) von seiner

1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117 1118

Ebd., 22. Ebd., 28f. Bonarius/Angleitner/John (1984), 109. Kelly (1986), 18. Catina/Schmitt (1993), 13. Ebd. Ebd. Kelly (1955), 8f. Kelly (1986), 72. Catina/Schmitt (1993), 15. Ebd., 15. Kelly (1986), 74.

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Umwelt nicht verstanden, so Kelly weiter.1119 Kann man einen Menschen und dessen individuelle Zugänge und Sinnbildungen nachvollziehen, lässt sich auf Bedürfnisse eingehen. Die Überlegungen sind so offen, dass sie alle Menschen einschließen. Allerdings verfügen nicht alle Menschen über die analoge Sprache, um sich mitzuteilen; dann ist zu versuchen, subjektiven Sinn bspw. aus Handlungen zu konstruieren. Sader und Weber kennzeichnen Kellys Ansatz als phänomenologisch, »die subjektiven Phänomene, d. h. die Gedanken, Vorstellungen, Gefühle, Strukturierungen und Ordnungsschemata des einzelnen, werden nicht nur beachtet (schon das ist viel), sie sind vielmehr das leitende Ordnungsprinzip für die Rekonstruktion der Erfahrungswelt des Individuums.«1120 Subjektive Aspekte in der Forschung zu berücksichtigen, erscheint vor allem für die Psychologie nützlich.1121 Dieser Nutzen beschränkt sich aber nicht nur auf den psychologischen Bereich; auch andere Disziplinen, so bspw. die Geschichtsdidaktik, können wichtige Kenntnisse daraus gewinnen. Bisher sind zwei Studien, welche historischen Sinn mithilfe der Repertory Grid Methodik verwenden, bekannt.1122 So lassen sich Probleme und Themen aus der Perspektive der Betroffenen erörtern.1123 Eine phänomenologische Orientierung ermöglicht außerdem relevantere, vollständigere und validere Ergebnisse.1124 3.4.1.1 Die persönlichen Konstrukte Persönliche Konstrukte sind abstrakte Eigenschaften, die auf mehrere Aspekte der Umwelt zutreffen. Der Mensch bildet sie, indem er bei (mindestens) zwei Ereignissen einen ähnlichen Aspekt ausmacht, der sich von einem dritten Ereignis als gegensätzlich unterscheidet. In Bezug auf einen Aspekt (Initialpol) sind die zwei Ereignisse ähnlich, während das weitere Ereignis dazu gegensätzlich (Konstrastpol) konstruiert wird.1125 Verschiedene Personen erzeugen unterschiedliche Bedeutungen, die jeweils subjektiv sinnvoll sind. Das legen auch Völkels Studien zur Verarbeitung historischer Inhalte nahe.1126 Durch persönliche Konstrukte nehmen Personen Unterscheidungen vor. In der Regel sind sie nicht-bewusst und präverbal – nicht mit verbalen Äußerungen gleichzusetzen;1127 Sinn lässt sich mittels verbaler Äußerungen nur bedingt er1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125 1126 1127

Ebd., 136. Sader/Weber (1996), 63. Ebd., 64. Völkel (2007); Völkel (2013). Miller (1969), 1074. In: Sader/Weber (1996), 64. Bannister/Fransella (1986). In: Sader/Weber (1996), 64. Kelly 1986, 72. Völkel (2007); Völkel (2013). Kelly (1955), 8f.

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läutern. Manche Konstukte sind gar nicht zu versprachlichen und beeinflussen dennoch Denken und Handeln. Es gibt viele Möglichkeiten, Sinn auszudrücken (z. B. Worte, Handlung, Farben etc.). Kein Symbolsystem jedoch vermag es, die Bedeutung vollständig und deckungsgleich abzubilden.1128 Da die vorliegende Arbeit die Problematik nicht zu lösen vermag, greift sie auf das verbalsprachliche Symbolsystem zurück. Ist von persönlichen Konstrukten die Rede, sind die verbalsprachlichen Äußerungen der Teilnehmer*innen gemeint. Beim Vorhersagen zukünftiger Erwartungen lassen sich Eigenschaften antizipieren; auch ist zu vermuten, was wohl nicht eintreten wird.1129 Jedes Konstrukt besitzt einen bestimmten Geltungsbereich. So ist bspw. ›schwarz – weiß‹ für Elemente außerhalb seiner Reichweite, z. B. Zuneigung zu Menschen, vollkommen bedeutungslos.1130 Der Gültigkeitsbereich ist für jeden Menschen qualitativ und quantitativ unterschiedlich.1131 Konstrukte sind nicht isoliert, sondern in einer individuell unterschiedlichen »Organisationsstruktur hierarchisch nach Wichtigkeit, Allgemeingültigkeit und Bedeutsamkeit für das Individuum gegliedert.«1132 Die Organisationsstruktur spielt in der vorliegenden Arbeit keine Rolle. 3.4.1.2 Zwei Grundannahmen auf dem Prüfstand Die Dichotomie und Eindimensionalität persönlicher Konstrukte bilden wichtige theoretische Grundlagen für die Repertory Grid Methodik und werden daher näher diskutiert. Kelly geht davon aus, dass alle Konstrukte grundsätzlich dichotom vorliegen: sie umfassen immer einen Initialpol und einen Kontrastpol. Er verweist auf die unveröffentlichte Dissertation von Lyle, in der Forschungsteilnehmer*innen Wörter entsprechenden Kategorien zuordneten. Die Studie lässt vermuten, dass Konstrukte immer dichotom bzw. bipolar sind.1133 Kelly nimmt zudem an, dass sie eindimensional sind. Er führt zwei Phänomene aus der Wissenschaft an, bei denen sich die Annahme von Dichotomie als triftig erwiesen hat.1134 Weiter argumentiert er, dass seine These sinnvoll sei, da ein Begriff ohne Gegenpol bedeutungslos bleibt. Elemente auf Grundlage eines Aspekts zu vergleichen (der keinen Gegenpol hat) sei nicht sinnvoll.1135 Er erläutert die Überlegung am Beispiel des Konstrukts Tisch. Ein Tisch drückt sowohl Ähnlichkeit und Unterschied aus. Beide Pole, Ähnlichkeit und Unterschied seien innerhalb 1128 1129 1130 1131 1132 1133 1134 1135

Fromm (1995), 17. Kelly (1986), 133. Ebd., 115. Ebd., 118. Catina/Schmitt (1993), 17. Kelly (1986), 116f. Ebd., 119. Ebd., 71.

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des Gültigkeitsbereichs des Konstrukts anwendbar und notwendig. Das Konstrukt (z. B. ähnelt einem Tisch – ähnelt einem Tisch nicht) trifft auf eine Reihe von Möbelstücken zu, die einem Tisch ähneln, andere ähneln ihm nicht. Ohne das Spannungsfeld wäre der Ähnlichkeitspol (Initialpol) bedeutungslos.1136 Mair1137 und Epting et al.1138 bezweifeln aufgrund ihrer Studie Kellys Annahme zur Dichotomie, da einige Elemente von ihren Teilnehmer*innen nicht in einem bipolaren Spannungsfeld verortet werden konnten. Sie stellen Überlegungen an, dass persönliche Konstrukte nicht zwingend dichotom vorliegen bzw. verwendet werden müssen. Riemann1139 weist darauf hin, dass die Ergebnisse der Studien von Mair1140 und Epting et al.1141 mit der gewählten Methode zusammenhängt. Persönliche Voraussetzungen der Teilnehmer*innen, wie bspw. Müdigkeit, können Ergebnisse ebenfalls beeinflussen. Auch eine eingeschränkte Reichweite persönlicher Konstrukte führt dazu, dass sich Elemente nicht im Spannungsfeld verorten lassen. Die Elemente werden dann einem der beiden Pole zugeordnet, was die bipolare Anwendung von Konstrukten aber nicht grundsätzlich in Frage stellt. Die Befunde beider Studien können Kellys Annahme nicht falsifizieren, so Riemann.1142 Es lassen sich Hinweise dazu finden, dass Konstrukte aus einem Initialpol und mehreren dazugehörigen Kontrastpolen bestehen; die unterschiedlichen Kontrastpole können eine andere Reichweite haben.1143 Riemann schließt daraus, dass Personen Elemente eines Anwendungsbereichs nicht immer dichotom zuordnen; sie nehmen manchmal differenziertere Unterscheidungen vor.1144 Die Beobachtung widerlegt die Annahme zur Dichotomie von Konstrukten nicht. Sie könnte ebenso plausibel zeigen, dass Personen bezogen auf einen Anwendungsbereich sehr feine Unterschiede vornehmen. Demzufolge lassen sich manche Konstrukte nicht auf alle Elemente anwenden. Riemann zeigt in seiner Studie weiter, dass Konstrukte überwiegend bipolar gebraucht werden.1145 Allerdings kann bei einem Teil der Initialpole kein Kontrastpol benannt werden, was darauf hindeutet, dass sie nicht immer bipolar verwendet werden.1146 Er geht davon aus, dass die Kontrastrelationen der Konstrukte nicht grundsätzlich bedeutungslos sind und spricht sich dafür aus, Kellys Annahme zur Bedeutungszuweisung durch Spannungsfelder 1136 1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146

Ebd., 75. Mair (1967). Epting/Suchman/Nickeson (1971). Riemann (1987), 22. Mair (1967). Epting/Suchman/Nickeson (1971). Riemann (1987), 22. Bonarius 1984 zit. nach Riemann (1987). Riemann (1987), 23. Ebd., 37. Ebd., 38.

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weiterhin als plausibel anzuerkennen.1147 Fromm1148 und Catina1149 verstehen die Bipolarität persönlicher Konstrukte ebenfalls als zentral für die Personal Construct Psychology. Fromm verweist darauf, dass sich die Bedeutung eines Begriffs doch erheblich je nach dem assoziierten Gegenteil verändert.1150 Für Catina ist die These zur Dichotomie grundsätzlich für Denken, Handeln und Entscheidungsprozesse relevant.1151 Bonarius1152 verweist auf verschiedene Studien, die eine Abschwächung der Dichotomie-These nahelegen. Er resümiert, dass ein einzelner Konstruktpol »zu einer Vielzahl von anderen in Unähnlichkeitsrelationen stehen kann und daß innerhalb eines spezifischen situationalen Kontextes eine bestimmte Bipolarität aktualisiert wird.«1153 Er schlägt vor, dass in einem Repertory Grid Interview alle Elemente anhand eines unipolaren Konstrukts eingestuft werden können. Allerdings sind Kontrastpole unerlässlich, wenn die Bedeutung der Konstrukte im Vordergrund steht, so Bonarius weiter. Er spricht sich dafür aus, Konstrukte grundsätzlich dichotom zu begreifen.1154 Die vorliegende Arbeit geht, den Argumenten folgend, von der Dichotomie von Konstrukten aus. Allerdings erläutert Kapitel 3.5.1, wie die Diskussion in der Studie zu berücksichtigen ist. Die folgenden Kapitel befassen sich mit der Methodik des Forschungsdesigns. 3.4.2 Methodik der Erhebung Die Erhebung von persönlichen Konstrukten ist nur sinnvoll, wenn die Teilnehmer*innen diese darstellen können.1155 Die vorliegende Studie erhebt sie über Elemente zu eigenen Erfahrungen; die Teilnehmenden gelten als Expert*innen für die eigene Biografie. Es ist anzunehmen, dass die verschiedenen Arbeitserfahrungen für alle wichtig sind, an die sie sich gut erinnern. Es erscheint ein sinnvoller Inhalt für ein Repertory Grid Interview. Bei der Wahl der Elemente und Erzeugen der Konstrukte gilt es einiges zu beachten:1156 1. Die Elemente müssen für den zu untersuchenden Schwerpunkt repräsentativ sein.

1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153 1154 1155 1156

Ebd., 50. Fromm 1995, 136; Fromm 2010, 527. Catina (1996), 66ff. Fromm 1995, 136. Catina (1996), 66ff. Bonarius/Angleitner/John (1984), 122ff. Ebd.,124, kursiv im Original. Ebd., 135. Ebd., 126. Scheer (1993), 29f.

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2. Es gibt zwei Möglichkeiten, Elemente zu erzeugen: entweder sie werden gemeinsam mit der oder dem Teilnehmer*in erarbeitet oder von dem oder der Untersuchenden vorgegeben. Das ist je nach Fragestellung zu entscheiden. 3. Die Elemente sollten homogen und von vergleichbarer Qualität sein. Das erleichtert es den Teilnehmer*innen, alle Elemente auf alle Konstrukte zu beziehen. 4. Die Anzahl der Elemente wird durch die Fragestellung vorgegeben; eine Anzahl zwischen sieben und 24 ist sinnvoll. Einige Auswertungsprogramme geben Grenzen für die Menge vor. 5. Bei manchen Anlässen ist es sinnvoll, persönliche Konstrukte vorzugeben. Das ist je nach Fragestellung und Umständen der Befragung zu entscheiden. Wesentliches Prinzip eines Repertory Grid Interviews ist, dass die Teilnehmer*innen verschiedene Elemente ihrer Umwelt anhand ihrer Konstrukte ranken. So lassen sich Rückschlüsse auf Beziehungen der Elemente untereinander, der Konstrukte untereinander sowie der Elemente und Konstrukte zueinander ziehen. Um Konstrukte zu erzeugen, nehmen die Teilnehmer*innen Urteile in Bezug auf Ähnlichkeit und Unähnlichkeit der Elemente vor, indem sie mindestens drei Elemente vergleichen.1157 Es ist auch ein Vergleich zweier Elemente möglich, was Scheer zu folge »bei Kindern, aber auch bei Unterbegabten«1158 von Vorteil sein kann. Die Begrifflichkeit »Unterbegabter«1159 bezieht sich wohl auf den Personenkreis der vorliegenden Arbeit. Es gibt oberflächliche Konstrukte, die aufgrund ihrer Reichweite nicht alle Elemente umfassen. Diese sind zu vermeiden und von der/dem Teilnehmer*in durch ein anderes Konstrukt zu ersetzen. Fromm schildert den Prozess als »i. d. R. leicht möglich.«1160 Darin liegt für Personen mit einer geistigen Behinderung möglicherweise eine Schwierigkeit. Persönliche Konstrukte lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen. Fromm und Paschelke schlagen folgende Einteilung vor: oberflächlich (z. B. groß – klein; üblicherweise wenig Bedeutung), vage (z. B. cool – nicht cool; tiefere Bedeutung des Konstrukts muss näher erläutert werden), konventionell/privat ( je nach Kontext), auffällig formuliert (ungewöhnliche Wortwahl oder Betonung), wertend (starke persönliche Bedeutung, positiv oder negativ konnotiert), selbstreflexiv (z. B. mag ich – mag ich nicht, drückt Beziehung des Gegenstands zur/zum Forschungsteilnehmer*in aus), unipolar (z. B. ist nett – weniger nett), dichotom (bspw. Gefäß – kein Gefäß, Konstrukt lässt keine Abstufungen zu), 1157 1158 1159 1160

Ebd., 30. Ebd., 31. Ebd. Fromm (1995), 98.

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Misch-Konstrukt (z. B. unfähig – macht seine Arbeit; Konstruktkategorien werden gemischt).1161 Die recht starre Einteilung erscheint nicht unproblematisch, lassen sich teilweise doch Überschneidungen erkennen und ist eine klare Zuordnung nicht immer vollkommen möglich. Darüber hinaus, so die Hypothese, wird diese Einteilung teilweise aufgelöst, wenn die beiden Pole des Konstrukts näher erläutert werden. So gewinnt z. B. das als vage eingeordnete Konstrukt ›cool – nicht cool‹ bei näheren Erklärungen an Bedeutung und verliert seinen vagen Charakter. Ebenso könnte sich das bei unipolaren, konventionellen/privaten, auffällig formulierten Konstrukten oder Mischkonstrukten verhalten. Es ist, wie überlegt, anzunehmen, dass für ein entsprechendes Konstrukt Wörter gewählt werden, die den Sinn nicht gänzlich wiedergeben. Es ist vorstellbar, dass Konstrukte, die nach Fromm und Paschelke als dichotom klassifiziert werden, nicht vollkommen dichotom vorliegen. So können manche Gegenstände bspw. mehr oder weniger mit einem Gefäß in Verbindung gebracht werden, was Abstufungen zulässt. Oberflächliche Konstrukte sind für die vorliegende Studie relevant, zeigen sie doch, wie differenziert die Schüler*innen ihre Arbeitsumgebungen beschreiben. Daher werden diese Konstrukte in der Auswertung als ›beschreibende Konstrukte‹ bezeichnet. Die Überlegungen zeigen, wie wichtig Erklärungen zu den Konstrukten sind. Für die Auswertungen werden die Kategorien beschreibend, wertend und selbstreflexiv übernommen. Alle erhobenen Konstrukte werden nach deren Erhebung auf alle Elemente angewendet. Das genaue Vorgehen dafür ist unterschiedlich. Riemann erläutert die möglichen Vorgehensweisen als dichotome Zuweisung zu einem der beiden Konstruktpole, Zuweisung der Elemente auf einer Ratingskala (mit und ohne Nullpunkt) oder als freie Zuordnung. Ratingskalen lassen sich sehr variabel gestalten (z. B. 3 bis 13 Skalierungspunkte).1162 Das bietet den Vorteil eines strukturierten Settings, an dem sich die Teilnehmenden orientieren können. Die Ratingskala mit Abstufungen wird in der Forschung am häufigsten verwendet. Die Anzahl der Stufen orientiert sich an den Teilnehmer*innen, »der Differenziertheit ihrer Konstruktion und ihrer Selbsteinschätzung«1163. 3.4.3 Methodik der Auswertung Zur Auswertung von Repertory Grid Interviews gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Daten sind nach unterschiedlichen, inhaltlichen oder formalen, Aspekten zu interpretieren.1164 Es lässt sich »die Struktur der Konstruktbeziehun1161 1162 1163 1164

Fromm (2010), 55ff. Riemann (1987), 94. Ebd. Scheer (1993), 25.

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gen untersuchen oder die Konfiguration der Elemente oder auch die Beziehungen zwischen Konstrukt- und Elementsystemen.«1165 In der vorliegenden Arbeit werden die Daten mit GridSuite 4.5.01166 ausgewertet, einem Computerprogramm, das verschiedene Vorteile bietet. Zum einen ist die Software aktuell, sie wird stetig angepasst und bietet als einzige Software den Vorzug, die Daten per MouseSort vorzusortieren. Zum anderen erzeugt sie verschiedene Darstellungen, die sich miteinander vergleichen lassen. Die Anwendung ist benutzer*innenfreundlich und gut zugänglich. Grundsätzlich ist zwischen Hand- und Computerauswertung zu unterscheiden.1167 Fromm und Paschelke halten es für sinnvoll, beide Verfahrensweisen, den Inhaltsanalytischen durch die Handauswertung und den Computeranalystischen zu mischen, um von beiden Zugängen zu profitieren. Dadurch wird die Interpretation belastbarer. Beide Auswertungsformen können sich ergänzen.1168 Zur Handauswertung zählen Fromm und Paschelke folgende Zugänge: Inhaltsanalyse (Art der Konstrukte, Besonderheiten der Ratings, Rating von Konstrukten und Elementen, Eyeballing der Konstrukte, Eyeballing des Ratings sowie Eyeballing der Relationen), Fokussierung, Folienauswertung und Handauswertung mit Computerhilfe MouseSort.1169 Zur Computerauswertung gehören: Clusteranalyse, Hauptkomponentenanalyse, Gridvergleiche und SharedGrids.1170 Zunächst sind die Daten zu sortieren, so Fromm und Paschelke. Ziel davon ist die sogenannte Fokussiereung, die einzelnen Elemente und Konstrukte nach Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit zu ordnen. Sie erleichtert die Interpretation. Danach beginnt die Analyse.1171 Fokussierung Um Elemente und Konstrukte übersichtlicher zu gestalten, werden sie durch GridSuite 4.5.0 (MouseSort) neu angeordnet, um Ähnlichkeiten deutlicher hervortreten zu lassen.1172 Manche Konstrukte müssen dafür umgepolt werden (Initialpol wird zum Kontrastpol und umgekehrt). Das empfiehlt sich, wenn ein Konstrukt ›anders‹ auf die Elemente angewendet wird, als die übrigen Konstrukte.1173 Ebenso sind die Konstrukte neu zu ordnen: einander ähnliche Konstrukte werden nah, unähnliche Konstrukte entfernt angeordnet. Gleiches ge1165 1166 1167 1168 1169 1170 1171 1172 1173

Ebd., 25. Transfer-Gründungszentrum (TGZ) constructiv. Fromm/Paschelke (2010), 52–140. Ebd., 49f. Ebd., 52–81. Ebd., 82–140. Ebd., 63ff. Ebd., 63. Ebd., 72ff.

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schieht mit den Elementen (ähnliche Elemente benachbart, unähnliche Elemente entfernt).1174 Danach beginnt die eigentliche Interpretation. Zur Handauswertung Durch die Inhaltsanalyse werden die Daten inhaltlich betrachtet und analysiert, was offen oder kriteriengeleitet geschehen kann.1175 Die vorliegende Studie wählt eine offene Auswertung, um der Einzigartigkeit der subjektiven Theorien Rechnung zu tragen. So lassen sich verschiedene Konstrukte inhaltlich betrachten, um bspw. eine Konnotation (z. B. positive oder negative Sichtweise) abzuleiten. Davon ausgehend sind Rückschlüsse auf die allgemeine Sicht auf Arbeit bzw. Zukunft zu ziehen, um Hypothesen für mögliche Ursachen dieser Sicht aufzustellen. Neben den einzelnen Konstrukten lassen sich die Zuweisungen der Rankings interpretieren. Sie können einzeln oder im Vergleich interpretiert werden. Zur Computerauswertung Darüber hinaus lassen sich Bezüge zwischen den Elementen bzw. Konstrukten sowie Elementen und Konstrukten mittels Computerauswertungen ableiten. Die verschiedenen Darstellungen sind besonders günstig.1176 Clusteranalyse Die Clusteranalyse ordnet die Daten daraufhin, welche Elemente bzw. Konstrukte sich nach Grad der Ähnlichkeit/Unähnlichkeit im Vergleich zu anderen Elementen und Konstrukten in Gruppen (Clustern) zusammenfassen lassen. Das wird in einem Dendrogramm abgebildet. Hohe Übereinstimmung lässt sich an flachen Bögen der Elemente bzw. Konstrukte, niedrige Übereinstimmungen an hohen Bögen erkennen. Die Ähnlichkeit ist auch an einer Prozentskala oder Ähnlichkeitsmatrix abzulesen. In Dendrogramm-Darstellungen wird nur ein Teil der Bezüge dargestellt; auch ist die Interpretation der Cluster stark von der jeweiligen Anordnung nach Ähnlichkeit/Differenz der Daten abhängig.1177 Zur Interpretation bei Clusteranalysen Die Daten können mit Hinblick auf bedeutsame Zusammenhänge, die nach dem Ordnen durch MouseSort noch nicht erkennbar sind, interpretiert werden. Beim Erstellen von Clustern entstehen allerdings auch nicht sinnvolle Cluster. Fromm und Paschelke raten da von einer Interpretation ab. Darüber hinaus können 1174 1175 1176 1177

Ebd., 76f. Ebd., 52. Ebd., 82ff. Ebd., 82ff.

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andere Aspekte wertvolle Informationen liefern, die beim Dendrogramm nicht ablesbar sind.1178 Bei Dendrogrammen werden Ähnlichkeiten bzw. Unähnlichkeiten von Elementen und Konstrukten durch die Klammern des ›Konstruktbaums‹ dargestellt. Hohe Ähnlichkeitsbezüge bei Elementen bedeuten, dass sie recht einheitlich einzuschätzen sind. Bei Konstrukten bezieht sich die hohe Ähnlichkeit darauf, dass sie »häufig gleichsinnig angewandt werden.«1179 Von Interesse kann auch die Anzahl an Clustern sein; so verweist eine große Anzahl kleinerer Cluster bei den Elementen darauf, dass der oder die Proband*in klar zwischen den einzelnen Phänomenen unterscheidet. Sind die Clusterhierarchien groß und haben sie zudem einen großen Ähnlichkeitswert, lässt sich vermuten, dass der/ die Teilnehmer*in die Phänomene als sehr ähnlich, möglicherweise stereotyp wahrnimmt.1180 Kleinere Cluster bei Konstrukten verweisen auf unabhängig voneinander gebrauchte Sinnzuweisung und eine komplexe Wahrnehmung, große Clusterhierarchien mit mäßigen Ähnlichkeiten hingegen auf differenzierte, aber verknüpfte Verwendung. Hohe Ähnlichkeiten sind als wenig differenzierter Konstruktgebrauch zu deuten, wobei wenige große Cluster auf eine »aufgeräumt-überschaubare Welt, in der Grautöne selten sind«1181 hinweisen. Die Matrizen lassen sich mit anderen Interviews vergleichen. Zudem lassen sich die numerischen Zentralitäten interpretieren1182, worauf die vorliegende Arbeit verzichtet, da sie davon ausgeht, auch ohne diesen Interpretationsschritt belastbare Ergebnisse zu erhalten. Hauptkomponentenanalyse (Principal Components Analysis, PCA) Auch hier werden Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Elementen und Konstrukten berechnet und dargestellt. Die Bezüge zeigen sich sparsam und reduziert in sogenannten Hauptkomponenten. Durch die Analyse der Hauptkomponenten lassen sich nicht nur Beziehungen der Elemente bzw. Konstrukte untereinander, sondern auch zum dafür installierten Bezugssystem, den Hauptkomponenten, als Interpretationsanlässe einbeziehen. Das Bezugssystem wird als Koordinatenkreuz, auch Biplot genannt, dargestellt. Es gibt numerische Berechnungen (z. B. Korrelationsmatrix, Eigenwerte/Scree-Plots, Strukturkoeffizienten oder Komponentenwertkoeffizienten), welche die Biplotinterpretation ergänzen können. Liegen die Einträge für Elemente bzw. Konstrukte relativ weit von den Achsen vom Koordinatenkreuz entfernt, korrelieren die Aspekte hoch mit den Komponenten. Die Ähnlichkeit der Konstrukte bzw. Elemente bleibt 1178 1179 1180 1181 1182

Ebd., 86ff. Ebd., 90. Ebd., 92. Ebd. Ebd., 96.

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davon unberührt; ihre Relationen lassen sich unabhängig von der Lage im Koordiantensystem interpretieren. Je nach Fragestellung können die Hauptkomponenten auch interpretiert werden. Dann wird die Gemeinsamkeit aller Aspekte gesucht, die sich in der hohen Korrelation zur Komponente ausdrückt.1183 Zur Interpretation bei Hauptkomponentenanalysen Die Anordnungen einer Hauptkomponentenalayse verweisen nicht auf eine psychologische Genauigkeit bzw. Unfehlbarkeit der Interpretation. Nach Fromm und Paschelke sei eine Biplotinterpretation grundsätzlich weniger anfällig für solche ›Fehler‹. Hier komme eher zum Vorschein, dass es sich bei den Darstellungen um bestimmte Lesarten der Daten handelt, die durch weitere Analyseschritte interpretiert werden können.1184 Vom Biplot lässt sich ablesen, wie differenziert die/die Teilnehmer*in seine/ihre Beurteilung der Umwelt vornimmt. Sind alle vier Quadranten mit Variablen gefüllt, ist anzunehmen, dass er/sie seine/ihre Urteilsdimensionen unabhängig voneinander handhabt. Werden zwei Quadranten kaum oder überhaupt nicht gefüllt, weist das darauf hin, dass die Sinnzuweisungen zueinander in Bezug stehen. Bei der Clusteranalyse entspricht das einer gestauchten Dendrogramm-Darstellung.1185 Das legt eine stereotype Urteilsbildung nahe. Der Entfernung der Variablen zum Ursprung des Koordinatenkreuzes lässt sich entnehmen, wie hoch sie mit der jeweiligen Komponente korreliert. Das ist auch an der Tabelle der Strukturkoeffizienten abzulesen.1186 Räumlich benachbarte Konstrukte werden durch den/die Teilnehmer*in ähnlich angewendet, räumlich benachbarte Elemente ähnlich konstruiert. Wie bei der Clusteranalyse kann die Gemeinsamkeit zwischen den Elementen untereinander bzw. Konstrukten interpretiert werden. Liegen ein Konstruktpol und ein Element nahe beieinander, bedeutet das, dass das Element von diesem Konstruktpol gekennzeichnet ist. Es ist möglich, dass die Komponenten sich inhaltlich nicht charakterisieren lassen, das deutet bspw. darauf hin, dass der/die Teilnehmer*in vieldeutige Konstrukte verwendet, deren Sinn unterschiedlich angewendet wird. Auf die inhaltliche Interpretation der Komponenten lässt sich alternativ verzichten. Eine optische Verdichtung in einem Biplot deutet auf Ähnlichkeit von Elementen bzw. Konstrukten hin. Die verschiedenen Variablen einer solchen Verdichtung stehen für den/die Forschungsteilnehmer*in in einem bestimmten Zusammenhang zueinander. Der Raum einer Verdichtung ist jeweils gleich groß festzulegen, um annähernd Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit zu gewährleisten, möchte man ihn interpretieren.1187 1183 1184 1185 1186 1187

Ebd., 104ff. Ebd., 111. Ebd., 112. Ebd., 115f. Ebd., 119ff.

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Weitere Überlegungen lassen sich mit den numerischen Berechnungen des Scree-Plots1188 anstellen, worauf die vorliegende Studie verzichtet, da auch ohne diesen Interpretationsschritt tragfähige Ergebnisse vorliegen. Gridvergleiche Trotz der idiosynkratischen Ausrichtung der Repertory Grid Methodik lassen sich Darstellungen aufeinander beziehen, so Scheer. Allerdings bedarf das einer gewissen Standardisierung, wobei Scheer deren Fehlen als wesentliches Merkmal des Verfahrens betrachtet. Durch die Vergleichbarkeit steht die Methodik im Spannungsfeld zwischen der Erhebung des individuell Einzigartigen und allgemein Vergleichbaren.1189 Dabei ist zu prüfen, ob die vergleichende Interpretation psychologisch sinnvoll ist.1190 Die vorliegende Arbeit vergleicht nur Darstellungen derselben/deselben Schülers*in miteinander, um Rückschlüsse auf Veränderung bzw. Stabilität seiner/ihrer Sinnbildung zu ziehen.

3.5

Das Repertory Grid Interview mit Personen mit geistiger Behinderung

Die Repertory Grid Methodik umfasst verschiedene teilstrukturierte Verfahren.1191 Da ein Repertory Grid Interview unterschiedlich durchzuführen und für den Personenkreis der Studie zu adapieren ist, werden Veränderungsmöglichkeiten überlegt. Bislang ist nur eine Veröffentlichung aus dem englischsprachigen Raum bekannt, die sich mit dem Einsatz eines Repertory Grid Interivews bei Menschen mit geistiger Behinderung beschäftigt.1192 Diese Studie wird mit Gedanken von Fromm1193 ergänzt. Barton et al. zufolge eignen sich die Interviews, um sich den subjektiven Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung valide und reliabel zu nähern.1194 Die Methodik erscheint nutzbar, wobei ihr Erfolg (wie bei allen Interviews) auch von den kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten abhängt.1195 Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob sie sich eignet oder nicht. Die Motivation der Teilnehmenden, sich an einer Repertory Grid Befragung zu beteiligen, ist nach Barton et al. recht hoch. Einfallsreichtum der Interviewenden bei der Adaption der Methode erscheint eine wichtige Grundvoraussetzung. Es 1188 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195

Ebd., 119. Scheer (1993), 25. Fromm/Paschelke (2010), 130. Fromm (2010), 524. Barton/Walton/Rowe (1976). Fromm (1995). Barton/Walton/Rowe (1976), 47. Ebd., 51f.

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lassen sich verschiedene Anpassungen vornehmen, bspw. im Fall, dass der/die Teilnehmer*in keine Schrift lesen kann. Der Einsatz von Schriftsprache ist nicht bzw. marginal erforderlich1196 und lässt sich den jeweiligen Kompetenzen der Teilnehmenden anpassen. Die Triadenerhebung, also der jeweilige Vergleich von drei Elementen, zeigt sich als ungünstig, so Barton et al.. Sinnvoller ist es, die Konstrukte im Gespräch durch den Vergleich von Elementen zu erheben. Es ist auch denkbar, den Sinn im Gespräch über einzelne Elemente herauszufinden. Zudem ist es möglich, beim Erzeugen der Konstrukte zu unterstützen bzw. Wörter anzubieten und sich die spezifische Bedeutung von dem/der Teilnehmer*in erklären zu lassen. Barton et al. schildern, dass es einigen Teilnehmer*innen leichter fällt, Konstrukte, die sich auf sie selbst beziehen, zu äußern.1197 Zur Präsentation der Elemente sind verschiedene Darstellungsformen denkbar; so sind bspw. Gegenstände, Fotografien, Piktogramme, Wortkärtchen o. Ä. als Stellvertreter für Elemente einsetzbar. Die vier Aneignungsniveaus, basal-perzeptiv, konkret-gegenständlich, anschaulich oder abstrakt-begrifflich lassen sich beachten.1198 Es sollten maximal 15 Elemente eingesetzt werden.1199 Hilfsmittel, wie Elementkarten, Konstruktkarten und eine Skala können sinnvoll sein. Zusätzliche Visualisierungshilfen ermöglichen den Teilnehmer*innen nicht nur den kognitiven, sondern einen mehrdimensionalen Zugang.1200 Beim Ranking können sie Elemente im Vergleich zueinander ranken, sollte ihnen das leichter fallen als isoliert.1201 Barton et al. ziehen das Fazit, dass sich die Reichweite der Konstrukte der Teilnehmer*innen als groß herausstellt; den Teilnehmer*innen gelingt ein recht komplexes Ranking.1202 Für die Skalierung der Rankingskala können veränderbare Skalierungsstufen nützlich sein, die sich während des Interviews anpassen lassen. Dadurch kann der/die Interviewer*in flexibel auf Voraussetzungen und Bedürfnisse des/der Teilnehmers*in eingehen. Eine dichotome Zuweisung der Elemente, als niederschwelliges Ranking, ermöglicht eine klare Einordnung und vermeidet kognitive Überforderung.1203 Auch die Rankingsskala lässt sich bspw. mit Visualisierungen oder Wörtern veranschaulichen. Insgesamt stellen Barton et al. keinen Zusammenhang zwischen den kognitiv-sprachlichen Leistungen der einzelnen Teilnehmer*innen und dem Erzeugen sinnvoller Konstrukte fest.1204 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204

Ebd., 47. Ebd., 52f. Ministerium für Kultus/Jugend und Sport Baden-Württemberg (2009b), 13. Barton/Walton/Rowe (1976), 54. Fromm (1995), 96f. Barton/Walton/Rowe (1976), 55. Ebd., 59. Fromm (1995), 95. Barton/Walton/Rowe (1976), 62.

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Auch Völkel erkennt bei den Teilnehmenden ihrer Studien keinen Zusammenhang zwischen kognitiv-sprachlichen Leistungen und Konstrukten.1205 Ein Repertory Grid Interview setzt, wie geschildert, eine eher feste und unflexible Struktur voraus, ohne die das Interview nicht sinnvoll ist. Es ist notwendig, dass die Teilnehmer*innen die Struktur nutzen und umsetzen können. Das könnte einige vor Herausforderungen stellen und ist nicht für jeden Menschen anwendbar. Die Methodik erscheint vielseitig einsetzbar, lässt sich an die Kompetenzen der Teilnehmenden anpassen. Allerdings ist im Einzelfall zu entscheiden, ob ihr Einsatz zielführend ist. 3.5.1 Pretest Um sicherzustellen, dass die Schüler*innen die Befragung bestreiten können, wird vor der eigentlichen Erhebung ein Pretest durchgeführt. Ziel ist, die Überlegungen zur Adaption des Forschunsdesigns auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen, um mögliche Barrieren oder Herausforderungen zu erkennen und beim eigentlichen Interview zu berücksichtigen. Das garantiert, dass sie die Befragung bewältigen und tragfähige Äußerungen produzieren. Da beim Pretest die Methodik im Vordergrund steht, wird – unabhängig vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand – die Konstruktion verschiedener Unterrichtsfächer thematisiert. Ähnlich wie in der eigentlichen Erhebung haben alle Schüler*innen dazu Erfahrungen gemacht, was den Pretest mit dem Forschungsgegenstand vergleichbar werden lässt. Es ist davon auszugehen, dass jede*r über Konstrukte zu den Unterrichtsfächern verfügt. Wie Kapitel 3.4.1.2 diskutiert, gelten Kellys Annahmen zur Dichotomie und Ein-dimensionalität persönlicher Konstrukte als umstritten. Darauf wird im Pretest reagiert, indem auf den Kontrastpol verzichtet wird, sollte der/die Teilnehmer*in dabei vereinzelt Schwierigkeiten zeigen. Zeigt es sich als problematisch, ein Element innerhalb eines Spannungsfeldes zu verorten, kann nach Ähnlichkeit des Elements mit dem Initialpol oder Kontrastpol gefragt werden. In beiden Fällen, so die These, liegt das Kontrukt unipolar vor. Dabei ist die unterschiedliche Reichweite unipolarer und dichotomer Konstrukte zu beachten. Sollte sich beim Erzeugen der persönlichen Sinnzuweisung oder Raten der Elemente zeigen, dass der/die Schüler*in mehrere Kontrastpole mit einem Initialpol verbindet, ist zu vermuten, dass die Sinnzuweisung nicht eindimensional vorliegt. Da sich die Bedeutung je nach Kontrastpol verändert, ist anzunehmen, dass dann um unterschiedliche Konstrukte vorliegen.

1205 Völkel (2013).

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Während des Pretests zeigten sich bei keiner/keinem der Teilnehmer*innen Probleme, Kontrastpole zu benennen und Elemente zu ranken. Alle Konstrukte lagen dichotom vor. Das Berücksichtigen mehrerer Kontrastpole erschien günstig. Die vorgestellten Anpassungen werden weiterhin berücksichtigt. Auch äußert kein*e Schüler*in oberflächliche Konstrukte bzw. zeigt Probleme, oberflächliche Konstrukte weiter zu abstrahieren. Die einzelnen Elemente als Piktogramme der jeweiligen Unterrichtsfächer liegen den Schüler*innen als Kärtchen gemischt auf einem Tisch vor (s. Anhang, Kapitel 5).1206 Sie werden aufgefordert, sie zu beschreiben, um zu ergründen, was sie damit verbinden. Anschließend sollen sie zwei ähnliche Piktogramme finden und diesen Aspekt, den Initialpol, beschreiben. Teilweise umschreiben die Schüler*innen die Ähnlichkeit oder benennen ein Wort. Es folgt die nähere Erläuterung bspw. mit einem Beispiel. Dadurch soll nachvollziehbar werden, was die Schüler*innen unter der ›Ähnlichkeit‹ verstehen. Daraufhin benennen oder beschreiben sie das Gegenteil vom Initialpol, den Kontrastpol. Zum eingehenderen Verständnis werden die Schüler*innen nach weiteren Beschreibungen oder Beispielen des Kontrastpols gefragt. Beide Pole werden von der Interviewenden auf Kärtchen notiert, sie dienen als Grundlage für das anschließende Ranking. Die Teilnehmer*in benennt solange Konstrukte, bis er/sie keine neuen Sinnzuweisungen äußert oder mitteilt, dass ihr/ihm nichts mehr einfällt. Die einzelnen Konstruktpolkärtchen dienen beim Ranking als dichotome Pole des Konstrukts, anhand dessen die Schüler*innen Abstufungen vornehmen. Sie ordnen jedes Element anhand einer fünfstufigen Rankingskala (s. Anhang, Kapitel 4) ein. Das Ranking ist mit Visualisierungen veranschaulicht; die Schüler*innen legen die einzelnen Fotos an die für sie entsprechende Abstufung der Rankingskala. Die Zuordnung wird von der Interviewenden in dafür entwickelte Bögen (s. Anhang, Kapitel 3) verzeichnet, um die Ergebnisse zu sichern. Alle Schüler*innen erschienen während des gesamten Pretests handlungsfähig und selbstbewusst; sie konnten störungsfrei und kompetent handeln. Alle konnten die Struktur der Methodik innerhalb des Pretests so für sich nutzen, dass sie recht bald nicht mehr über ihr Handeln nachdenken mussten; das lässt vermuten, dass sie die Struktur leiblich reflexiv und nicht-bewusst bestreiten können. Sie sind ohne kognitiv-sprachlich oder bewusst darüber nachzudenken orientierungs- und handlungsfähig.

1206 Der Online-Anhang ist über den Link unter dem Inhaltsverzeichnis einsehbar.

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3.5.2 Durchführung der Interviews Zur Erhebung der persönlichen Konstrukte der Schüler*innen wird nach der Arbeitssituation (Schule oder Praktikum) ein Interview durchgeführt. Mit jeder/ m Schüler*in finden zwei Interviews statt. Dabei sind die Überlegungen und Adaptionen aus dem Pretest weiterhin maßgeblich. Um dem Aufbau der Interviews folgen zu können, wird er kurz geschildert. Im ersten Interview liegen den Schüler*innen die Elemente des schulischen Arbeitskontextes in Form von Kärtchen mit Fotografien vor. Sie sollen Erinnerungen hervorrufen. Die Fotografien werden von den jeweiligen Vorgesetzten bzw. der Interviewerin angefertigt und stellen repräsentative Situationen des Arbeitsprozesses dar. Die Schüler*innen wurden in mehreren Arbeitssituationen und Pausen fotografiert. Auch die Räume befinden sich bei den Elementen. Die Fotografien unterstützen das Interview visuell. So wird sichergestellt, dass den Schüler*innen eine große Auswahl an Elementen vorliegt, was unterschiedliche Sinnzuweisungen ermöglichen soll. Es ist zu vermuten, dass eine größere Auswahl an Elementen zu einer größeren Anzahl an (explizierten) Konstrukten führt. Damit sich die Schüler*innen an die jeweiligen Situationen erinnern, beschreiben sie zunächst die Fotografien. Das gelingt allen Schüler*innen; es lässt sich begründet davon ausgehen, dass sie sich an die Situationen erinnern.1207 Die einzelnen Elemente liegen den Schüler*innen gemischt vor, um ihnen unabhängige Vergleiche zu ermöglichen. Da sie diese Struktur im Pretest gut anwenden können, wird wieder so verfahren. Auf einen Triadenvergleich bspw. wird verzichtet. Durch Fragen, welche beiden Fotografien die Schüler*innen mit einer Ähnlichkeit verbinden, erzeugen sie jeweils einen Initialpol; es folgt die Erläuterung und nähere Beschreibung bspw. durch Beispiele, was allen gelingt. Anschließend werden sie nach dem Gegenteil gefragt. Teilweise ist zu beobachten, dass die Schüler*innen den Aufbau verinnerlichen; sie äußern oftmals von sich aus das Gegenteil. Wie beim Pretest werden so lange Konstrukte erhoben, bis keine neuen mehr benannt werden oder die/der Schüler*in die Phase selbst beendet. Die Schüler*innen erleben dadurch den eigenen Einfluss auf das Interview. Da alle eine Vielzahl an Konstrukten äußern, erscheint das Vorgehen sinnvoll. In beiden Interviews vor und nach dem Praktikum zeigt sich ein Lerneffekt; so können sie die Methode im Vergleich zum Pretest noch selbstbewusster nutzen; sie erinnern sich schnell an Aufbau und Struktur. Es ist davon auszugehen, dass der Pretest als Übungsphase sinnvoll ist. Die Interviewende notiert die Konstruktpole – wie beim Pretest – für das Ranking auf einzelne Kärtchen. Zum Ranking wird die fünfstufige Skala der 1207 Eine darstellende Übersicht über die jeweiligen Fotografien bzw. Elemente befindet sich in Kapitel 4 bei jedem/jeder Schüler*in.

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Pretests verwendet (s. Anhang, Kapitel 4), die sich als günstig herausstellte. Für das Ranking legen die Schüler*innen die Fotografien an die entsprechende Abstufung der Skala; die gleichen Visualisierungen des Pretests finden Verwendung. Allen Schüler*innen gelingt das Ranking sehr differenziert; eine Schüler*in, Maria, nimmt recht wenige Abstufungen vor und rankt die Elemente überwiegend dichotom. Da sie von der fünfstufigen Skala nicht irritiert scheint und manchmal Abstufungen nutzt, wird sie nicht weiter reduziert. Das Ranking wird dokumentiert (s. Anhang, Kapitel 3). Im zweiten Interview liegen die Elemente von Schule und Praktikum als Fotografien vor. So lassen sich Rückschlüsse ziehen, ob sie die unterschiedlichen Räume und Zeitpunkte aufeinander beziehen. Alle Rahmenbedingungen des zweiten Interviews entsprechen denen des Ersten. Die genannten Gründe sind weiterhin handlungsleitend. Um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die im ersten Interview geäußerten Konstrukte auf die Elemente des Praktikums anwendbar sind und sich ihre Reichweite darauf bezieht, werden beim Ranking auch die ›ersten‹ Konstrukte angeboten. Das ermöglicht Aussagen über mögliche Veränderungen oder Stabilität der Sinnkonstruktion. 3.5.3 Vorgehen bei der Auswertung Beim ersten Interview werden nur schulische Erfahrungen, bei der zweiten Befragung Erfahrungen aus beiden Arbeitskontexten thematisiert. Die nachfolgende Schilderung dient einem Überblick zur Vorgehensweise der Auswertung; Kapitel 4.3.1 betrachtet die Interviews inhaltlich genauer. Das wird an zwei konkreten Beispielen der Schülerinnen, Maria und Lisa, veranschaulicht, um darzustellen, wie die Daten für die Auswertung vorbereitet werden. Beide Schülerinnen werden exemplarisch gewählt, um das Vorgehen zur Auswertung an verschiedenen Beispielen aufzuzeigen. Maria rankt die Elemente bei beiden Interviews eher dichotom und wenig differenziert; die näheren Erläuterungen ihrer Konstrukte gelingen ihr eher beschreibend und weniger abstrakt. Lisa hingegen nimmt sehr komplexe Einordnungen vor und schildert alle Konstrukte umfassend und abstrakt. Alle anderen Schüler*innen befinden sich im Spannungsfeld der beiden Schülerinnen. Im Anhang, Kapitel 6, befinden sich die Transkripte der Interviews von Maria und Lisa. Exemplarisch wird für beide Schülerinnen gezeigt, wie die Konstrukte und Beschreibungen, die als Auswertungsgrundlage dienen, aus den Interviews in das Auswertungsprogramm GridSuite 4.5.0 eingepflegt werden. Alle Darstellungen der Konstrukte mit Erklärungen befinden sich tabellenartig im Anhang, Kapitel 7. Für Lisa und Maria sind die Darstellungen der Konstruke und Erklärungen mit jeweiligen Minutenangaben der Transkripte versehen.

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Sichtung der persönlichen Konstrukte Um die Daten weiter bearbeiten und in GridSuite darstellen zu können, werden die Konstrukte vorsortiert. Doppelungen sind zu vermeiden. Auch die Äußerungen des ersten und zweiten Interviews sind auf identische Konstrukte zu überprüfen und zusammenfassen. Dazu lassen sich Beschreibungen und Beispiele der Konstrukte heranziehen, miteinander vergleichen und bei einer inhaltlichen Überschneidung kombinieren (s. Anhang, Kapitel 7). Die Konstruktpole ergeben sich aus den Notizen auf die Kärtchen und den Äußerungen (für Maria und Lisa traskribiert). MouseSort Elemente und Konstrukte werden zunächst in Grid Suite 4.5.0 eingetragen und mit MouseSort sortiert. Dabei werden die Ähnlichkeitskorrelationen der Elemente und Konstrukte aufeinander bezogen und die Aspekte geordnet. Elemente werden in der Regel aufsteigend nach Ähnlichkeit der Mittleren Zentralität sortiert. Bei Konstrukten orientiert man sich auch nach den Mittleren Zentralitäten; neben numerischen sind inhaltliche Aspekte zu beachten. Bei der numerischen Sortierung werden ähnliche Konstrukte (ähnlicher Wert) möglichst nahe beieinander platziert. Inhaltliche Kriterien werden berücksichtigt, indem ähnliche Elemente bzw. Konstrukte nebeneinander angeordnet werden, auch wenn das nicht dem unmittelbar der numerischen Zentralität entspricht. Die Konstrukte lassen sich numerisch aufsteigend oder als Kurve anordnen – je nach inhaltlich sinnvollen Bezügen. Bei einigen Konstrukten empfiehlt sich eine Umpolung, um Konstrukte, die anders als die meisten anderen Konstrukte verwendet werden, anzupassen. Teilweise ist eine gänzlich lineare Anordnung der Elemente bzw. Konstrukte nicht möglich. In den Fällen werden die einzelnen Elemente und Konstrukte inhaltlich betrachtet, um ähnliche Aspekte möglichst nah beieinander zu platzieren. Dieses Vorgehen beschreibt ein mögliches von vielen. Es beinhaltet bereits eine Interpretation. Abbildungen 1, 4, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19, 21, 23, 25, 27 und 29 zeigen die Daten aller Schüler*innen nach der Strukturierung durch MouseSort. Handauswertung Die Handauswertung betrachtet, welche Konstrukte bei beiden Interviews vorliegen, um weitreichende und/oder dominante Parameter zu erkennen. Die Darstellung stellt die verschiedenen Elemente und Konstrukte jeweils in Beziehung zueinander dar. Hier sind erste Aussagen zu treffen und Hypothesen zu bilden.

Subjektive Theorien von Menschen mit geistiger Behinderung

191

Computerauswertung Darstellungen der Clusteranalyse bspw. Dendrogramme werden aufgrund der angeführten kritischen Analyse nicht ausgewertet. Beispielhaft wird in Kapitel 4.3.1.1 bei Lisa aufgezeigt, dass sich die Beobachtungen der Hauptkomponentenanalyse überweigend auch in einem Dendrogramm finden lassen. Bei der Computerauswertung steht, wie von Fromm und Paschelke vorgeschlagen,1208 die Interpretation der Biplots im Vordergrund. Dort lassen sich Verdichtungen und Komponenten interpretieren. Hypothesen für ihr Zustandekommen sind möglich. Konstrukte und Elemente, die aufgrund ihrer Nähe zum Ursprung vernachlässigbar mit der jeweiligen Komponente korrelieren, werden nicht interpretiert. Aufgrund der Berechnungen durch das Computerprogramm Gridsuite 4.5.0 kann es dazu kommen, dass Elemente bzw. Konstruktpole als Teil einer Komponente dargestellt werden, die nicht mit allen Aspekten korrelieren. Die Ungenauigkeit ergibt sich aus den Berechnungen; es ist möglich, dass bspw. ein Element mit fast allen Konstruktpolen der Verdichtung außer Einem korreliert. Das Programm berechnet über die Korrelation der Elemente und Konstruktpole auch die Korrelation der Elemente und die Korrelation der Konstruktpole untereinander. Somit ist es vorstellbar, dass dennoch eine räumliche Nähe des Elements zum Konstruktpol (mit dem es eigentlich nicht oder nicht signifikant korreliert) abgebildet wird, da das Element auf allen anderen Konstruktpolen bezieht. Da das Element signifikant mit den anderen Aspekten korreliert und die Konstruktpole inhaltlich zusammenhängen, wird die Verdichtung interpretiert, da sie bedeutsam erscheint. Daraus, so die These, lassen sich die Rückschlüsse auf die Konstruktion der Erfahrungen der Schüler*innen ziehen. Die Interpretationsvorschläge sind als mögliche von vielen anderen zu betrachten, die mehr oder weniger präzise und mehr oder weniger umfänglich zutreffen. Ein Biplot ermöglicht es, Elemente, die zwischen zwei Achsen liegen in ihrem Spannungsfeld zu interpretieren. Hier lassen sich weitere Hypothesen für die Sinnkonstruktion aufstellen. Alle Interpretationen und Hypothesen werden, wie angeführt, in einem abschließenden Gespräch mit den Teilnehmer*innen auf deren Zutreffen besprochen. Sie können den Interpretationsvorschlägen zustimmen, ergänzen oder ablehnen. Im abschließenden Gespräch lassen sich die Erkenntnisse also plausibilisieren. Daher werden weitere Daten und numerische Berechnungen nicht weiter in die Analyse einfließen. Es ist anzunehmen, dass durch die beiden verschiedenen Darstellungen (Handauswertung nach MouseSort und Biplot) sowie die anschließenden Gespräche belastbare und zuverlässige Aussagen vorliegen, die nicht weiter numerisch abzusichern sind.

1208 Fromm/Paschelke (2010), 111.

192

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Vergleich der Grids In der vorliegenden Analyse ist es sinnvoll, beide Interviews von jeweils einem/ einer Schüler*in vergleichend zu interpretieren. Vor allem mögliche Veränderungen und Konstanten zwischen dem ersten und zweiten Interview sind interessant. Ein Vergleich Schüler*innen untereinander erscheint nicht zielführend, da die Fragestellung nicht auf einen Vergleich von Sinnzuweisungen einzelner Schüler*innen abzielt und rein individuell vorgeht. Die Aussagen beziehen sich darauf, welche Ähnlichkeiten und Veränderungen bei den Beziehungen zwischen Konstrukten und Elementen erkennbar sind und wie sie sich interpretieren lassen. So sind Hypothesen für stabile Konstruktion oder Verändern möglich. Dafür werden jeweils die Ergebnisse der Handauswertung und des Biplots interpretiert. Auf eine weiterführende berechnende Gegenüberstellung durch GridSuide 4.5.0 wird verzichtet. Das Computerprogramm berechnet bei der Gegenüberstellung erneut Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Datensätze, die eine weitere Strukturierung und damit Vorschläge für mögliche Interpretationen aufgrund numerischer Berechnungen liefern. Die Daten würden durch Berechnungen weiter rechnerisch verändert, was inhaltliche Veränderungen nach sich zieht und somit nicht sinnvoll erscheint. Interviews über die Interpretationen und Hypothesen Im Anschluss an die Interpretationen und Hypothesenbildungen beider Interviews werden mit sechs der sieben Teilnehmer*innen Gespräche geführt. Die Hypothesen, die als Gesprächsgrundlage dienen, befinden sich im Anhang, Kapitel 10. Dort sind auch die zwei Transkripte von Lisas und Marias Abschlussgesprächen hinterlegt, um exemplarisch darzustellen, wie diese stattfinden. In diesen abschließenden Gesprächen werden den Schüler*innen die jeweiligen Interpretationen und Hypothesen erläutert. Die Schüler*innen beurteilen, ob sie zutreffen oder ob sie Änderungen vornehmen möchten. Das soll sicherstellen, dass Interpretation und Hypothesen der subjektiven Sinnkonstruktionen plausibel sowie valide sind und sich die Schüler*innen in dieser Phase einbringen können. Paul ist in der Zwischenzeit verzogen, sodass kein abschließendes Gespräch stattfinden kann.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

4

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

4.1

Die Forschungsteilnehmer*innen

193

Die Teilnehmer*innen sind Schüler*innen an einem SBBZ mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Baden-Württemberg. Bei allen wurde Anspruch auf sonderpädagogisches Bildungsangebot in diesem Förderschwerpunkt diagnostiziert. Alle Schüler*innen wenden sich aufgrund ihrer spezifischen leiblichen Verfasstheit der Welt zu, konstruieren leiblich reflexiv Sinn, der sich als Handlungssinn in ihrer Orientierungs- und Handlungsfähigkeit ausdrückt. Sie zeigen sich in beiden Arbeitskontexten und Interviews orientierungs- und handlungsfähig, was darauf verweist, dass sie durch verschiedene Erfahrungen Sinn als Handlungssinn erzeugen können. Über ihre Konstrukte lassen sich Aussagen über biografisch-historische Sinnbildungsprozesse treffen. In den Interviews nutzen sie Verbalsprache, um Handlungssinn als Sinnzusammenhänge auszudrücken; davon lassen sich Überlegungen zu ihren Möglichkeiten, Sinn elaboriert-historisch zu konstruieren, treffen. Die Gruppe der Teilnehmer*innen kommt im mehreren Schritten und aufgrund unterschiedlicher Überlegungen zustande, die kurz skizziert werden. Zum einen sollen alle Schüler*innen in der Berufsschulstufe an dem SBBZ beschult werden, an dem die Interviewerin als Lehrkraft arbeitet. So lässt sich sicherstellen, dass die Interviewende den Schüler*innen bereits bekannt ist, was auf ein Vertrauensverhältnis schließen lässt. Auch bietet das den Vorteil, dass die Forscherin während der Studie angemessener auf die Teilnehmenden eingehen kann. Zum anderen sollen die Teilnehmer*innen im Schuljahr 2016/17 an schulischen Arbeitsangeboten teilnehmen. Darüber hinaus sollen sie im gleichen Schuljahr ein Berufsorientierungspraktikum absolvieren. Beide Zeitpunkte und die Erfahrungen der Schüler*innen während beider Arbeitssituationen bilden die Grundlage für die Erhebung. Darüber hinaus sind Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler*innen zu beachten, woraus sich Überlegungen zu ihrer Handlungskompetenz ableiten lassen. Ebenso sind ihre kognitiven und sprachlichen für das teilstrukturierte Interview zu berücksichtigen, um Rückschlüsse auf biografisch-historische und elaboriert-historische Sinnbildung ziehen zu können. In Rücksprache mit den zuständigen Klassenlehrkräften wird überlegt, welche Schüler*innen für die Erhebung in Frage kommen. Die Interviewerin infomiert jede*n Schüler*in in Einzelgesprächen über den Verlauf und die Ziele der Erhebung. Da die geplante Erhebung qualitativ und nicht repräsentativ angelegt ist, erscheint eine Befragung von fünf bis zehn Schüler*innen

194

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

ausreichend. Die Ergebnisse beanspruchen keine Allgemeingültigkeit. Nach der Information erklären sich sieben Schüler*innen zur Teilnahme an der Studie bereit. Die Größe des Samplings ist damit ausreichend. Es handelt sich um die erste Studie, die biografisch-historische und elaborierthistorische Sinnbildung von Schüler*innen mit geistiger Behinderung in den Mittelpunkt von Forschungsbemühungen stellt; die Gruppe von Lernenden mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zeigt sich sehr heterogen; es könnten weitere Studien folgen, die weitere Untersuchungen zu historischen Sinnbildung dieser Personengruppe durchführt, um weitreichendere Aussagen zu treffen, so bspw. von Schüler*innen mit Komplexen Behinderungen. Dafür sind geeignete Forschungsmethoden zu finden, die sich ethisch damit auseinandersetzen, Schüler*innen, die unter Umständen kein informiertes Einverständnis geben können, in den Mittelpunkt von Forschungsvorhaben zu stellen. Dabei ist auch zu reflektieren, inwiefern mit und nicht über sie geforscht werden kann.

4.2

Zu den individuellen Lernvoraussetzungen

Dieses Kapitel erörtert knapp die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler*innen. Es setzt die Überlegungen aus Kapitel 3 konkret um und überlegt, ob sie leiblich reflexiv und kognitiv-sprachlich reflexiv selbstbewusst ein Repertory Grid Interview bestreiten können. Überlegungen zur leiblichen Reflexivität und Orientierungs- sowie Handlungsfähigkeit der Schüler*innen werden aus den Beobachtungen aus dem Pretest und den Situationen, in denen in der Schule die Fotos entstanden, abgeleitet. In den abschließenden Interviews wird darauf eingegangen, inwiefern die Schüler*innen auch bei ihren Praktika orientierungs- und handlungsfähig wurden. Aussagen über die kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen sind den Zeugnissen des Schuljahres 2016/17 entnommen.1209 Lisa kann sich in der Schule selbstbewusst bewegen und erscheint kompetent, was darauf hindeutet, dass die Schule für sie einen orientierten Raum darstellt. Sie kennt das Zimmer der Interviews aus früheren Erfahrungen. Sie ist in der Lage, Texte sinnentnehmend zu lesen und auf Fragen zu Texten angemessen zu antworten. Darüber hinaus kann Lisa selbst Texte verfassen. Ihr passiver und 1209 Am SBBZ der Schüler*innen gibt es für das Zeugnis Tabellen, mit denen Lernvoraussetzungen durch die Lehrkräfte eingeschätzt werden. Die relevanten Rasterbereiche der Schüler*innen befinden sich anonymisiert im Anhang, Kapitel 2, dieser Forschungsarbeit und wurden der besseren Lesart wegen im aktuellen Kapitel in einen Fließtext übersetzt. Die Einschätzungen der Lehrkräfte decken sich mit dem Eindruck der Autorin zu den kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen aus dem Pretest.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

195

aktiver Wortschatz ist recht groß. Ebenso verfügt sie über die kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten, eine Unterhaltung zu führen und Texte zu bestimmten Themen zu verfassen. Das lässt auf recht differenzierte kognitiv-sprachliche Kompetenzen schließen. Es ist anzunehmen, dass sie ihre Gedanken in Worte fassen kann und schriftlich oder mündlich mitteilen kann. Lisas kognitive Fähigkeiten ermöglichen es ihr, mehrgliedrige Arbeitsanweisungen auszuführen. Daher ist begründet davon auszugehen, dass sie das Interview selbstbewusst bewältigen kann. Max ist in der Lage, sich in der gesamten Schule selbstbewusst zu bewegen. Die Schule stellt für ihn wohl einen orientierten Raum dar. Aus früheren Situationen ist ihm das Zimmer der Interviews bekannt. Max verfügt über sehr gute Sprachkenntnisse. Sein aktiver und passiver Wortschatz ist, wie sich seinem Zeugnis entnehmen lässt, sehr groß und differenziert. Er ist in der Lage, Unterhaltungen zu führen und sich auf Gesprächspartner*innen einzulassen. Max kann Texten Sinn entnehmen und entsprechend darauf antworten; es gelingt ihm, eigene Texte zu verfassen. Es ist begründet anzunehmen, dass er seine Gedanken in Worte fassen und mitteilen kann. Mehrgliedrige Arbeitsaufträge kann er ausführen, was ebenso auf entsprechende kognitiv-sprachliche Voraussetzungen hindeutet. Für ist Max begründet anzunehmen, dass er ein Interview selbstbewusst durchführen kann. Lena ist in der Schule in der Lage zu handeln und sich selbstbewusst zu bewegen. Ihr ist der Raum der Interviews bekannt. Es ist davon auszugehen, dass die gesamte Schule für sie einen orientierten Raum darstellt. Lena besitzt differenzierte Sprachkenntnisse. Sie verfügt über einen großen passiven und aktiven Wortschatz. Es gelingt ihr, Texte sinnentnehmend zu lesen, Fragen dazu zu beantworten und eigene Texte zu verfassen. Das deutet darauf hin, dass sie in der Lage ist, Gedanken in Worte zu fassen und zu äußern. Darüber hinaus gelingt es Lena, mehrgliedrige Arbeitsaufträge auszuführen. Auf Grundlage ihrer Fähigkeiten ist anzunehmen, dass sie ein Interview sehr gut bewältigen kann. Philipp kann sich in der ganzen Schule selbstbewusst bewegen. Sie stellt für ihn wohl einen orientierten Raum dar. Das gilt auch für das Zimmer, in dem die Interviews entstehen, das er aus früheren Situationen kennt. Er verfügt über einen großen aktiven und passiven Wortschatz; er kann ihn differenziert einsetzen. Philipp ist in der Lage, Gespräche zu führen. In Situationen mit wenig Ablenkung gelingt es ihm, seine Aufmerksamkeit zu bündeln; seine kognitivsprachlichen Leistungen sind dann entsprechend differenziert. Außerdem ist er in der Lage, Texten Sinn zu entnehmen, Fragen dazu zu beantworten und Texte selbst zu verfassen. Das verweist auf Philipps Fähigkeit, eigene Gedanken in Worte fassen und mitzuteilen zu können. Mehrgliedrige Arbeitsaufträge kann er erledigen. Da die Interviewsituation in einem sehr reizarmen Setting stattfindet, ist anzunehmen, dass Philipp das Interview selbstbewusst bewältigen kann.

196

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

In der gesamten Schule, so auch in dem Zimmer der Interviews, kann sich Maria selbstbewusst bewegen und handeln. Das lässt darauf schließen, dass die Schule für sie ein orientierter Raum ist. Maria besitzt einen recht differenzierten passiven und aktiven Wortschatz. Texte kann sie sinnentnehmend lesen und Fragen dazu beantworten. Das Verfassen eigener Texte bereitet Maria keine Schwierigkeiten. Sie ist in der Lage, ihre Gedanken in Worte zu fassen und schriftlich sowie mündlich mitzuteilen. Maria kann Unterhaltungen zu führen und mehrgliedrige Arbeitsaufträge mühelos ausführen. Ihre Fähigkeiten erlauben es ihr vermutlich, selbstbewusst am Interview teilzunehmen. Für Paul stellt die ganze Schule wohl einen orientierten Raum dar. Das lässt sich daraus schließen, dass er sich hier kompetent und orientiert bewegen kann. Paul kann eigenen Erfahrungen Handlungssinn zuweisen, was ihm zu Orientierungs- und Hanldungsfähigkeit in der Schule verhilft. Paul verfügt über einen recht großen aktiven sowie passiven Wortschatz. Er kann Texte sinnentnehmend lesen und Fragen dazu beantworten. Es gelingt ihm auch, eigene Texte zu verfassen, was darauf schließen lässt, dass er Gedanken in Worte fassen und sie schriftlich sowie mündlich mitteilen kann. Er kann Unterhaltungen führen. Vermutlich kann Paul ein Interview selbstbewusst bewältigen. Annika zeigt sich in der Schule selbstbewusst. Das trifft auch für das Zimmer zu, indem die Interviews stattfinden. In dem Zimmer konnte Annika bereits Erfahrungen sammeln. Daher lässt sich begründet annehmen, dass die gesamte Schule für sie einen orientierten Raum darstellt. Dadurch ist sie kompetent zu handeln. Annika besitzt einen sehr großen passiven und aktiven Wortschatz. Sie ist in der Lage, Texte sinnentnehmend zu lesen. Es gelingt ihr, Fragen zu Texten zu beantworten und eigene Texte zu verfassen. Daher lässt sich begründet annehmen, dass sie eigene Gedanken in Worte fassen und äußern kann. Annika kann problemlos Gespräche führen. Es ist davon auszugehen, dass sie über entsprechende Fähigkeiten verfügt, ein Interview selbstbewusst durchzuführen.

4.3

Subjektive Sinnzuweisung durch biografische Erfahrungen: Die Ergebnisse

4.3.1 Darstellung und Interpretation In den folgenden Kapiteln werden die Beziehungsgeflechte der Elemente und persönlichen Konstrukte der Interviews dargestellt, interpretiert auf mögliche Hintergründe zum Zustandekommen hinterfragt. Diese inhaltliche Betrachtung der Ergebnisse der Interviews erfolgt bei allen Schüler*innen gleichermaßen. Anhand der Daten lässt sich überlegen, wie Ballungen zustande kommen, wie persönliche Konstrukte mit Elementen zusammenhängen, welche Ursachen

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

197

hierfür anzunehmen sind und welche Konsequenzen die Sinnbildungen für zukünftige Erlebnisse haben könnten. Beide Interviews werden jeweils zunächst getrennt und anschließend im Vergleich zueinander betrachtet, um Veränderungen oder Konstanten herauszuarbeiten und Rückschlüsse für mögliche Ursachen oder Konsequenzen zu ziehen. Beide Interviews sind mit Mouse-Sort sortiert, in den folgenden Darstellungen als Handauswertung bezeichnet. Daran schließt die computergestützte Auswertung anhand des Biplots an. Die Bezeichnung der Koordinatenachsen bleiben mit der entsprechenden Bezeichnung 1 und 2 vorhanden. Die Parameter werden entsprechend ihrer Ausrichtung im Biplot bezeichnet: links horizontal beginnend mit 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten. Bei den Parametern lässt sich analysieren, welche Konstruktpole und Elemente sich darauf beziehen und was das bedeuten könnte. Konstruktpole, die weiter vom Ursprung entfernt liegen, beeinflussen die Sinnzuweisungen stärker und werden mehr berücksichtigt. Da sich die beiden Darstellungsarten, Biplot und Dendrogramm inhaltlich überschneiden, wird auf die zusätzliche Interpretation der Dendrogramme verzichtet. Deren Interpretation bietet keine weiteren Erkenntnisse, was die Auswertung von Lisas Interviews exemplarisch zeigt. Bei den anderen Schüler*innen wird darauf verwiesen, dass die Überlegungen des Biplots mit dem Dendrogramm übereinstimmen. Der Vergleich der Interviews stellt die einzelnen Überlegungen der Hand- und Computerauswertung gegenüber. Hier werden Annahmen zur Stabilität und Veränderungen vor und nach dem Praktikum getroffen sowie mögliche Hintergründe dafür diskutiert. 4.3.1.1 Lisa Interview I Lisa arbeitet beim wöchentlichen Arbeitstag in der Schule ein Jahr in einer Dienstleistungsgruppe, die verschiedene Hausmeisteraufträge erledigt. Die Elemente der Arbeitssituation in der Schule sind: ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Schrank abbauen‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Müll wegbringen‹, ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum Werkstatt‹ und ›Rechnungen schreiben mit Computer‹.

198

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Arbeiten mit Lehrer

Rechnung schreiben mit Computer

Schrank abbauen

Pause Schule

Pausenhof

Rasenmäher reparieren

Arbeitsraum Schule

Mittagessen Schule

Müll wegbringen

Bank tragen

Handauswertung1210 Beim Betrachten Lisas persönlicher Konstrukte fällt auf, dass es ihr gelingt, ihre persönlichen Konstrukte sehr differenziert zu schildern. Auch kann sie jeden Konstruktpol, den sie benennt oder umschreibt, erklären und mit Beispielen versehen. Sie schildert zu den Elementen der schulischen Arbeitssituation elf persönliche Konstrukte, mit denen sie ihren Erfahrungen Sinn verleiht. Es gelingt ihr, alle Konstrukte auf alle Elemente anzuwenden; alle Aspekte stehen für sie im Zusammenhang zueinander. Lisa äußert verschiedene Arten persönlicher Konstrukte1211, um ihre Sinnzuweisungen zu explizieren. So verwendet sie beschreibende Konstrukte, z. B. ›draußen arbeiten – drinnen arbeiten‹. Sie nutzt wertende Konstrukte, z. B. ›konzentriert – nicht konzentriert‹ und selbstreflexive Konstrukte, z. B. ›gut – schlecht‹. Alle Sinnzuweisungen liegen dichotom vor und werden dichotom auf die einzelnen Elemente angewendet.

Draußen arbeiten

Drinnen arbeiten

Freunde

Mit niemanden …

Partnerarbeit

Nicht helfen

Arbeiten

Rumsitzen

Konzentriert

Nicht konzentriert

Aufpassen

Nicht aufpassen

Loben

Schimpfen

Normal sein zu …

Andere beleidigen

Verantwortung

Nichts machen

Langsam und …

Schnell und nicht …

Gut

Schlecht

Abbildung 1: Elemente und persönliche Konstrukte – Lisa | Interview 1

1210 Alle folgenden Darstellungen wurden mit dem Computerprogramm GridSuite 4.5.0 angefertigt. 1211 Die Einordnung der persönlichen Konstrukte bezieht sich auf die von Fromm und Paschelke referierten Komponenten aus Kapitel 3.4.2.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

199

Aus den Beobachtungen lässt sich ableiten, dass Lisa persönliche Konstrukte in Bezug auf die Arbeitssituation in der Schule entwickelt hat bzw. sie diese auf die Situation anwenden und explizieren kann. Vermutlich kann sie ihre Konstrukte auch auf andere Arbeitskontexte, nicht nur die exemplarisch herausgegriffenen Situationen, anwenden. Ebenso zeigen sich Lisas differenzierte Vorstellungen von verschiedenen Arbeitssituationen und deren Anforderungen. Das ist bspw. am Konstrukt ›arbeiten – rumsitzen‹, wobei anhand der Beschreibungen und Beispiele deutlich wird,1212 dass sie je nach Anforderung verschiedene Annahmen über eigene Verhaltensänderungen hat, erkennbar. Mit den verschiedenen Konstrukten geht für sie wohl einher, dass sie ihr Handeln an die jeweiligen Situationen und deren Bedingungen anpassen kann. Bei den selbstreflexiven Initial- bzw. Kontrastpolen fällt auf, dass sie als Initialpole eher positiv konnotierte, als Kontrastpol eher negativ konnotierte Begriffe nutzt. Sie konstruiert alle Erfahrungen eher positiv; vermutlich hat sie gegenüber der Arbeitssituation in der Schule generell eine positive Haltung. Darauf verweist u. a. das Konstrukt ›gut – schlecht‹, das sie beim Ranking positiv bis neutral anwendet. Es ist anzunehmen, dass Lisa sich ihre eigene Arbeitszukunft vorstellen kann und sie diese anhand der bereits vorliegenden Konstrukte mit Sinn versieht. Ihre zukünftige Arbeit ist, so die Vermutung, aufgrund ihrer eher positiven Erfahrung für sie erstrebenswert. Lisa nimmt sehr differenzierte Urteile vor und nutzt die gesamte Rankingsskala von eins bis fünf. Das lässt darauf schließen, dass sie ihre Erfahrungen sehr nuanciert wahrnimmt. Sie beurteilt manche Situationen positiver als andere. So ist für sie bspw. das Tragen einer Bank weniger positiv als Rechnungen am Computer zu schreiben. Hier lassen sich verschiedene Vermutungen anstellen, wie das zustande kommt. Möglicherweise arbeitet Lisa lieber kognitiv als körperlich. Oder für sie ist es angenehmer, alleine Rechnungen zu schreiben als in Teamarbeit eine Bank zu tragen. Möglicherweise fühlt sie sich bei einer Tätigkeit kompetenter als bei der anderen. Auffällig ist, dass Lisa Arbeitssituationen, die sie deutlich ›arbeiten‹ und nicht ›rumsitzen‹ zuordnet, in denen sie eher ›gelobt‹ wird, eher ›Verantwortung‹ übernehmen kann, eher ›aufpassen‹ muss und sich eher ›konzentriert‹ positiver konstruiert. Sie ist vermutlich bereit, sich anzustrengen und Verantwortung zu übernehmen. Es ist anzunehmen, dass Lisa zukünftige Situationen, die sie ähnlich konstruiert, als positiver und erstrebenswerter einordnet als Situationen, in denen sie sich nicht anstrengt und keine Verantwortung übernimmt.

1212 Alle Überlegungen können mit den Transkripten, Anhang Kapitel 6.1 und 6.2, und den Darstellungen der persönlichen Konstrukte und Erklärungen, Anhang Kapitel 7.1 und 7.2 verglichen werden.

200

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Computergestützte Auswertung mit GridSuite1213 Die nachstehenden Überlegungen lassen sich in ihren Grundzügen auch der Dendrogramm-Darstellung entnehmen, was nach der Interpretation des Biplots exemplarisch gezeigt wird. Auch der Biplot deutet auf Lisas differenzierte Konstruktion hin; in allen vier Quadranten liegen Elemente und Konstrukte vor, wobei sich Verdichtungen erkennen und vier Komponenten ausmachen lassen. Bank tragen

7‘

8‘ andere beleidigen 3 Partnerarbeit

9‘ nichts machen

11‘

9‘

8‘

7‘ schimpfen

2‘ mit niemanden etwas zu tun haben

6‘ nicht aufpassen 11‘ schlecht

1‘ drinnen arbeiten

2‘

5 konzentriert 10 langsam und gründlich arbeiten 4 arbeiten 6 aufpassen 11 gut

Schrank abbauen Pausenhof

5

4‘ rumsitzen

10‘ 6‘

1‘

4 Arbeiten mit Lehrer Rechnungen schreiben 6 10Arbeitsraum Schule 2 Rasenmäher reparieren

4‘ Pause Schule 1

3‘ nicht helfen 5‘ Mittagessen Schule Müll wegbringen

10‘ schnell und nicht gründlich arbeiten 5‘ nicht konzentriert 1 draußen arbeiten 2 Freunde

7 loben 9 9 Verantwortung

8 11 7

8 normal sein zu anderen

Abbildung 2: Biplot – Lisa | Interview 1

Die Biplot-Darstellung der schulischen Arbeitssituation zeigt vier Komponenten, 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten, mit denen Lisa ihre Erfahrungen nach Sinnzusammenhängen strukturiert. Deutlich ist, dass unterschiedlich viele und verschiedene Elemente bzw. Konstrukte mit den jeweiligen Parametern korrelieren. Das verweist auf unterschiedliche Relevanz und Einfluss der Parameter. Einige Elemente stehen im Spannungsfeld zwischen zwei Komponenten, was nach der Interpretation der Komponenten aufgegriffen wird. Die erste Komponente, 1 links, umfasst die Konstruktpole ›konzentriert‹, ›aufpassen‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›drinnen arbeiten‹, ›Verantwortung‹, ›andere beleidigen‹, ›mit niemandem etwas zu tun haben‹, ›gut‹ und ›loben‹. ›Partnerarbeit‹ wird aufgrund der Nähe zum Ursprung bei den 1213 Die computergestützte Interpretation bezieht sich bei dieser und allen nachstehenden Interpretationen auf Berechnungen mit dem Programm GridSuite 4.5.0. Die Interpretationen werden mit Hilfe verschiedener Darstellungen (Darstellung nach MouseSort und Biplot) durchgeführt und teilweise in Bezug zueinander gesetzt.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

201

weiteren Betrachtungen nicht einbezogen. Die Komponente bezieht sich auf die Elemente ›Arbeitsraum Schule‹, ›Rasenmäher reparieren‹, ›Rechnungen schreiben‹, ›Arbeiten mit Lehrer‹ und ›Schrank abbauen‹. ›Pausenhof‹ ist aufgrund der Nähe zum Ursprung ebenfalls zu vernachlässigen. Alle Elemente liegen recht mittig an der Achse, woraus sich schließen lässt, dass sie mäßig mit der Komponente korrelieren. Lisa umschreibt die Konstruktpole sehr detailliert. Ihre Schilderungen deuten darauf hin, dass es ihr wichtig ist, beim Arbeiten Fehler zu vermeiden – für sie mit kognitiven Anforderungen verbunden. Das lässt sich von den prägenden Sinnzuweisungen ›konzentriert‹, ›aufpassen‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›Verantwortung‹ und den weniger einflussreichen Polen ›gut‹ und ›loben‹ ableiten. Für sie ist der Parameter Fehler vermeiden und kognitive Anforderungen bewältigen, ein wichtiger Aspekt, mit dem sie, so die Hypothese, auch zukünftigen Arbeitssituationen Sinn zuweist. Er ist für Lisa eher positiv konnotiert. Sie bezieht die Konstruktpole auf vier der insgesamt sieben Arbeitssituationen. Körperliche Elemente, wie bspw. ›Bank tragen‹ oder ›Müll wegbringen‹, konstruiert sie nicht damit. Das lässt die Vermutung zu, dass diese Tätigkeiten weniger fehleranfällig und kognitiv herausfordernd sind als die zuvor Genannten. Die Beobachtung unterstreicht die Annahme der Handauswertung, dass für sie kognitive Tätigkeiten angenehmer sind als körperliche. Komponente 2 oben beinhaltet die Konstruktpole ›schimpfen‹, ›schlecht‹, ›andere beleidigen‹, ›nichts machen‹, ›mit niemandem etwas zu tun haben‹, ›drinnen arbeiten‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›nicht aufpassen‹ und ›rumsitzen‹. Die Pole ›nicht konzentriert‹ und ›Partnerarbeit‹ werden aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht betrachtet. Der Parameter trifft auf nur zwei Elemente ›Bank tragen‹ und ›Schrank abbauen‹ zu, wobei ›Bank tragen‹ für Lisa besonders eindeutig damit in Bezug steht. ›Pausenhof‹ wird aufgrund seiner Nähe zum Ursprung nicht analysiert. Auffällig ist, dass Lisa die Konstrukpole eher negativ beschreibt, was sich bspw. an den Konstruktpolen ›schimpfen‹, ›schlecht‹, ›andere beleidigen‹, ›nichts machen‹, und ›nicht aufpassen‹ zeigt; sie beeinflussen den Parameter absteigend stark. Lisa schildert einige Konstruktpole so, dass sie eine Situation negativ beeinflusst hat oder nicht beeinflussen konnte. Auch verbindet sie damit, dass sie nicht mit anderen Personen zusammengearbeitet hat. Ihre Sinnzuweisung lässt darauf schließen, dass in diesen Situationen zu wenig Unterstützung (von ihr anderen gegenüber oder von anderen ihr gegenüber) geleistet wurde. Hier zeigt sich die eher negative Konnotation, die nur auf wenige Situationen zutrifft. Lisa hat wohl eine Vorstellung davon, dass es Situationen beim Arbeiten gibt, in denen Unterstützung eher eine untergeordnete Rolle spielt. Das nimmt sie negativ wahr. Es ist anzunehmen, dass die negative Konnotation für sie überwiegend mit körperlich assoziierten Tätigkeiten in Bezug steht. Die Überlegung der Handauswertung, dass sie körperliche Herausforderungen negativer einschätzt als kognitive, wird verstärkt.

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Komponente 1 rechts bezieht sich auf ›nicht konzentriert‹, ›nicht aufpassen‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›rumsitzen‹, ›draußen arbeiten‹, ›nichts machen‹, ›normal sein zu anderen‹, ›Freunde‹, ›schlecht‹ und ›schimpfen‹, wobei ›nicht helfen‹ aufgrund der Nähe zum Ursprung außen vor gelassen wird. Den Parameter wendet Lisa auf ›Mittagessen Schule‹, ›Müll wegbringen‹ ›Pause Schule‹ und ›Bank tragen‹ mäßig stark an und verbindet sie damit, dass sie sich nicht anstrengen muss, was sich aus den Konstruktpolen und dazugehörigen Beschreibungen ›nicht konzentriert‹, ›nicht aufpassen‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›rumsitzen‹ und ›nichts machen‹ ableiten lässt. Der Parameter ist für Lisa eher negativ konnotiert, was den Bedeutungszuweisungen ›schlecht‹ und ›schimpfen‹ zu entnehmen ist. Sie schildert, dass sie reden oder in die Luft schauen kann und ihren Kopf nicht anstrengen muss. Sie hat eine sehr genaue Vorstellung, wie sie sich in einer Pause verhalten kann. Der Parameter hängt für sie mäßig stark mit anderen Personen zusammen, was dem Pol ›Freunde‹ abzuleiten ist. Auffällig ist, dass sie die Konstruktpole auf Pausen- und Arbeitssituationen (›Müll wegbringen‹ und ›Bank tragen‹) anwendet. Für sie sind wohl Arbeitssituationen vorstellbar, die für sie eher keine Anstrengung darstellen. Das deckt sich mit den vorangegangenen Vermutungen, dass die beiden Tätigkeiten für Lisa weniger fehleranfällig sind als andere (kognitive) Tätigkeiten. Interessant ist, dass der Konstruktpol ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹ bei ihrer Sinnkonstruktion ebenfalls eine Rolle spielt. Sie weiß wohl, dass es Arbeitssituationen gibt, in denen sie sich weniger konzentrieren und ihren Kopf eher weniger anstrengen muss sowie ›schnell und nicht gründlich‹ arbeiten kann. Da Lisa auch den Konstruktpol ›schimpfen‹ damit verbindet, weiß sie wohl um Fehleranfälligkeit solcher Situationen (das bezieht sie hauptsächlich auf Arbeitssituationen). Aufgrund der Zuschreibungen ist davon auszugehen, dass sie eine Vorstellung davon hat, wie sie sich in Pausen- und Arbeitssituationen verhalten kann, die sie wenig herausfordern. Sie kann, so die weitere Vermutung, die Situationen und auch ihr Handeln gegenüber anderen Arbeitskontexten abgrenzen, in denen sie stärker konzentriert arbeiten muss. Diese Arbeitssituationen, so ist anzunehmen, ähneln für Lisa eher einer Pause. Komponente 2 unten umfasst die Konstruktpole ›loben‹, ›gut‹, ›normal sein zu anderen‹, ›Verantwortung‹, ›Freunde‹, ›draußen arbeiten‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›aufpassen‹ und ›arbeiten‹. Die Aspekte ›nicht helfen‹ und ›konzentriert‹ sind aufgrund der Ursprungsnähe nicht zu betrachten. Lisa konstruiert mit dem Parameter die Elemente ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Rechnungen schreiben‹, ›Müll wegbringen‹, ›Mittagessen Schule‹ ›Pause Schule‹ und ›Arbeit mit Lehrer‹. Bei der Beschreibung der Pole wird deutlich, dass alle Situationen mit anderen Personen in Verbindung stehen. So verbindet sie bspw. ›Freunde‹ oder auch ›Verantwortung‹ mit einem Teamaspekt. Auch ›loben‹ und ›normal sein zu anderen‹ sind mit anderen Personen verknüpft. Die

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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Konstruktpole ›Verantwortung‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹ und auch ›aufpassen‹ zeigen zudem, dass sie in den entsprechenden Situationen Verantwortung übernehmen muss. Der Parameter steht vermutlich mit Zusammenarbeit mit anderen Personen und Verantwortung in Bezug. Alle Aspekte sind positiv konnotiert und für Lisa angenehm. Es ist vorstellbar, dass sie auch zukünftige Arbeitssituationen dahingehend wahrnimmt und mit Sinn versieht. Auch ist anzunehmen, dass sie gerne Verantwortung für andere Personen übernimmt und solche Arbeitssituationen erstrebenswert ansieht. Da Lisa die Komponente auf sieben Erfahrungen anwendet, ist davon auszugehen, dass sie einflussreich ist. Einige Elemente, so zeigt die Biplot-Darstellung, werden von Lisa im Spannungsfeld zweier Parameter konstruiert, die im Sinnzusammenhang zueinander stehen. Lisa konstruiert manche Elemente als nicht anstrengend und eher negativ, aber auch mit Zusammenarbeit mit anderen Personen/Verantwortung, was für sie eher positiv ist. In dem Spannungsfeld lassen die Elemente ›Müll wegbringen‹, ›Pause Schule‹ und ›Mittagessen Schule‹ verorten. Es gibt für Lisa Situationen, die nicht anstrengend sind (eher negativ), in denen sie aber mit anderen Personen zusammenarbeitet bzw. Verantwortung hat (eher positiv). Lisa konstruiert dahingehend wohl eher Situationen, die sie weniger herausfordern und anstrengen, in denen Zusammenarbeit und Verantwortung wichtig sind. Vielleicht fühlt sie sich in allen drei Situationen besonders verantwortlich für andere Schüler*innen oder die Aufgaben selbst. Lisa nimmt eher Pausensituationen, weniger Arbeitssituationen so wahr. Da sie das Spannungsfeld auf drei Elemente anwendet, ist davon auszugehen, dass sie sich mehr Erlebnisse vorstellen kann, die sie so sieht. Das Spannungsfeld ist wohl nicht einflussreich auf ihre gesamte Sinnkonstruktion. Ein weiterer Zusammenhang lässt sich bei den Komponenten Fehler vermeiden/kognitive Anforderungen und Zusammenarbeit mit anderen Personen/ Verantwortung, für Lisa positiv konnotiert, herstellen. Beide Komponenten, so der Biplotdarstellung zu entnehmen, verbindet sie mit den Erfahrungen ›Arbeitsraum Schule‹, ›Rasenmäher reparieren‹, ›Rechnungen schreiben‹ und ›Arbeiten mit Lehrer‹. Beide Parameter treffen gleichermaßen auf die Erfahrungen zu. Demzufolge ist für Lisa das Vermeiden von Fehlern durch kognitive Herausforderung in Situationen mit anderen Personen besonders wichtig. Möglicherweise strengt sich Lisa stark an. Vielleicht möchte sie ihre Leistungsbereitschaft und Kompetenzen zeigen oder besonders viel Verantwortung übernehmen. So konstruiert Lisa vier Erfahrungen; die Sinnzuweisung besitzt wohl recht großen Einfluss auf ihre Wahrnehmung vergangener und zukünftiger Arbeitssituationen.

204

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Das Element ›Schrank abbauen‹ korreliert für Lisa mit der Komponente Fehler vermeiden/ kognitive Anforderung, was sie positiv wahrnimmt und zu wenig Unterstützung, für sie negativ konnotiert. Die Arbeitssituation verbindet sie eher gering mit beiden Komponenten. Für sie sind Situationen vorstellbar, die sie sehr herausfordern, in denen sie zu wenig Unterstützung bekommt oder sich mehr Unterstützung wünschen würde. Vermutlich nimmt sie auch andere Arbeitskontexte so wahr. Da die Kombination nur auf eine Erfahrung zutrifft, ist davon auszugehen, dass das Spannungsfeld eher selten vorkommt. Das Element ›Bank tragen‹ bringt Lisa mit den Komponenten zu wenig Unterstützung und nicht anstrengend in Verbindung, das Element ›Pausenhof‹ wird aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht betrachtet. Beide Komponenten sind für sie negativ konnotiert. Die Situation korreliert für Lisa stärker mit der ersten Komponente. Für Lisa sind negative Erlebnisse, die sie nicht anstrengen, in denen sie zu wenig Unterstützung von anderen Personen bekommt oder andere Personen zu wenig unterstützt, vorstellbar. Auch das Spannungsfeld trifft für sie auf nur eine Erfahrung zu, die Kombination für sie wohl selten zu. 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

Nicht helfen

Bank tragen

Schrank abbauen

Rechnung schreiben mit Computer

Arbeiten mit Lehrer

Arbeitsraum Schule

Rasenmäher reparieren

Pausenhof

Pause Schule

Mittagessen Schule

Müll wegbringen

100

100 90

Partnerarbeit

Mit niemanden etwas zu tun haben

Freunde

Arbeiten

Rumsitzen

Verantwortung

Nichts machen

Aufpassen

Nicht aufpassen

Konzentriert

Nicht konzentriert

Langsam und gründlich arbeiten

Schnell und nicht gründlich arbeiten

Gut

Schlecht

Normal sein zu anderen

Andere beleidigen

loben

schimpfen

Drinnen arbeiten

Draußen arbeiten

Abbildung 3: Dendogramm – Lisa | Interview 1

80

70

60

50

40

30

20

10

0

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

205

Exemplarisch ist zu zeigen, inwiefern sich die Interpretationen der Biplotanalyse mit Überlegungen zur Dendrogramm-Darstellung decken. Dafür lässt sich das Dendrogramm inhaltlich interpretieren. Bei den anderen Teilnehmer*innen wird darauf verwiesen, ob sich Überlegungen der Hauptkomponentenanalyse im Dendrogramm finden lassen. Die recht differenzierte Sicht auf den schulischen Arbeitskontext zeigt sich im Dendrogramm an den recht vielen kleineren Clustern. Einige einzelne Cluster korrelieren inhaltlich miteinander (niedrige Bögen), was sich mit den Ballungen des Biplots deckt. Beide Darstellungsarten zeigen Ähnlichkeiten und lassen vergleichbare Interpretationen zu. Bei den Elementen ist eine recht klare Trennung in zwei größere Cluster erkennbar, die sich mit dem Biplot deckt. Die kleineren Cluster, die aufgrund ihrer niedrigen Bögen auf eine ähnliche Konstruktion hinweisen, zeigen sich auch in der Biplot-Darstellung (Ballungen). Die vielen Cluster deuten auf eine komplexe Sinnkonstruktion des gesamten schulischen Arbeitskontexts hin – eine Annahme, die sich auch mit dem Biplot begründen lässt. So zeigt das Dendrogramm ähnlich wie der Biplot, dass die Elemente ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum‹, ›Arbeiten mit Lehrer‹, ›Rechnungen schreiben‹ und ›Schrank abbauen‹ ein markantes Cluster (mit jeweils kleineren Clustern) bilden und, so die Vermutung, ähnlich konstruiert werden. Auch ›Müll wegbringen‹, ›Mittagessen‹, ›Pause Schule‹, ›Pausenhof‹ und ›Bank tragen‹ hängen inhaltlich mzusammen, was im Biplot ebenfalls abgebildet wird. Beide Darstellungen sind ähnlich zu interpretieren. Die exponierte Lage des Elements ›Bank tragen‹ zeigt sich sowohl in der Biplot-Darstellung als auch in der Dendrogramm-Darstellung. Das Dendrogramm zeigt, dass Lisa ›Verantwortung‹, ›aufpassen‹, ›konzentriert‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›gut, ›normal sein zu anderen‹ und ›loben‹ ähnlich konstruiert. Die Grundzüge des Clusters finden sich im Biplot in den beiden Parametern 1 links (Pole ›Verantwortung‹, ›aufpassen‹, ›konzentriert‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›gut‹, ›normal sein zu anderen‹ und ›loben‹) und 2 unten (Konstruktpole ›loben‹, ›gut‹, ,normal sein zu anderen‹, ›Verantwortung‹ ›Freunde‹, ›draußen arbeiten‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›aufpassen‹ und ›arbeiten‹) wieder. Dass beide Parameter Ähnlichkeiten untereinander aufweisen, zeigt sich auch im Dendrogramm. Das Cluster von ›nichts machen‹, ›nicht aufpassen‹, ›nicht konzentriert‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›schlecht‹, ›andere beleidigen‹ und ›schimpfen‹ ist in seinen Grundzügen in beiden Parametern 2 oben (›schimpfen‹, ›schlecht‹, ›andere beleidigen‹, ›nichts machen‹, ›mit niemandem etwas zu tun haben‹, ›drinnen arbeiten‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›nicht aufpassen‹ und ›rumsitzen‹) und 1 rechts (›nicht konzentriert‹, ›nicht aufpassen‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›rumsitzen‹, ›draußen arbeiten‹, ›nichts

206

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

machen‹, ›normal sein zu anderen‹, ›Freunde‹, ›schlecht‹, ›schimpfen‹) erkennbar. Es zeigt sich eine große Schnittmenge. Beide Darstellungen verfügen über grundlegende Ähnlichkeiten und Interpretationsanlässe, die vergleichbare Erkenntnisse und ähnliche Rückschlüsse ermöglichen. Interview II Lisa absolviert ihr Praktikum bei einem Friseursalon auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt; sie arbeitet im Service, betreut Kund*innen und führt Reinigungsund Aufräumarbeiten durch. In der Darstellung liegen Elemente sowie persönliche Konstrukte aus der schulischen sowie der außerschulischen Arbeitssituation vor, die im Folgenden der besseren Übersichtlichkeit bzw. zur Interpretation den jeweiligen Arbeitsanlässen zugeordnet werden. Elemente der Arbeitssituation in der Schule: ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Schrank abbauen‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Müll wegbringen‹, ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum Werkstatt‹ und ›Rechnungen schreiben mit Computer‹. Konstrukte, des ersten Interviews: ›draußen arbeiten – drinnen arbeiten‹, ›Freunde – mit niemanden etwas zu tun haben‹, ›Partnerarbeit – nicht helfen‹, ›arbeiten – rumsitzen‹, ›konzentriert – nicht konzentriert‹, ›aufpassen – nicht aufpassen‹, ›loben – schimpfen‹, ›normal sein zu anderen – andere beleidigen‹, ›Verantwortung – nichts machen‹, ›langsam und gründlich arbeiten – schnell und nicht gründlich arbeiten,‹ ›gut – schlecht‹. Elemente der Arbeitssituation beim Praktikum: ›Pause Arbeiten‹, ›Handtuch aufräumen‹, ›Lockenwickler aufräumen‹, ›Fegen‹, ›Zeitschriften sortieren‹, ›Chefin Friseur‹, ›Arbeitsraum‹ und ›Kaffee kochen‹. Konstrukte des zweiten Interviews: ›leise sein – sprechen‹, ›sauber – schmutzig‹, ›lang – kurz‹, ›anstrengend – nicht anstrengend‹, ›angenehm – unangenehm‹, ›von mir aus reagieren – nicht reagieren‹, ›etwas für andere machen – etwas für mich machen‹, ›ordentlich – unordentlich‹. Konstrukte aus dem zweiten Interview, die sich inhaltlich mit Konstrukten des ersten Interviews überschneiden (das Konstrukt in Klammern ist das der schulischen Arbeitssituation): ›Pause – Arbeiten‹ (›arbeiten – rumsitzen‹), ›Teamarbeit – alleine arbeiten‹ (›Partnerarbeit – nicht helfen‹), ›helfen – ignorieren‹ (›Partnerarbeit – nicht helfen‹), ›konzentriert – unkonzentriert‹ (›konzentriert – nicht konzentriert‹), ›drinnen arbeiten – draußen arbeiten‹ (›draußen arbeiten – drinnen arbeiten‹).

207

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Kaffee kochen

Arbeitsraum

Chefin Friseur

Rechnungen schreiben mit Computer

Arbeitsraum Werkstatt

Zeitschriften sortieren

Fegen

Rasenmäher reparieren

Bank tragen

Lockenwickler aufräumen

Müll wegbringen

Arbeiten mit Chef

Schrank abbauen

Handtuch aufräumen

Mittagessen Schule

Pause Arbeiten

Pause Schule

Pausenhof

Handauswertung

Draußen …

Drinnen …

Arbeiten

Rumsitzen

Leise sein

Sprechen

Freunde

Mit niemandem …

Partnerarbeit

Nicht helfen

Sauber

Schmutzig

Lang

Kurz

Anstrengend

Nicht an…

Aufpassen

Nicht auf…

Verantwortung

Nichts machen

Angenehm

Unangenehm

Konzentriert Von mir aus reagieren Normal sein

Nicht konzentriert Nicht reagieren Andere beleidigen

Etwas für andere…

Etwas für mich

ordentlich

Unordentlich

Gut

Schlecht

Langsam und …

Schnell und …

Loben

schimpfen

Abbildung 4: Elemente und persönliche Konstrukte – Lisa | Interview 2

Auch im zweiten Interview gelingt es Lisa, ihre persönlichen Konstrukte sehr differenziert und vielseitig zu benennen und zu erklären. Sie verbindet beide Arbeitssituationen gedanklich und ist in der Lage, Konstrukte, die sich auf beide Kontexte beziehen, darzustellen. Daher ist begründet davon auszugehen, dass es Lisa auch gelingt, andere Arbeitssituationen mit anderen Erfahrungen in Bezug zu setzen bzw. die Konstrukte, mit denen sie den beiden Situationen Sinn verleiht, auf andere zukünftige Situationen anzuwenden. Sie äußert beim zweiten Interview sieben neue Konstrukte und vier Bedeutungszuweisungen, die inhaltlich deckungsgleich oder sehr ähnlich mit Konstrukten des ersten Interviews sind. Sie stellt zwischen allen Elementen und Konstrukten – schulischen als auch

208

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

außerschulischen – Sinnzusammenhänge her, indem sie jede Sinnzuweisung auf alle Elemente anwendet und rankt. Wieder äußert sie beschreibende Konstrukte, wie beispielsweise ›drinnen arbeiten – draußen arbeiten‹, wertende Konstrukte, wie z. B. ›von mir aus reagieren – nicht reagieren‹ und selbstreflexive Konstrukte, wie z. B. ›angenehm – unangenehm‹. Erneut liegen alle Konstrukte dichotom vor und werden dichotom auf alle Elemente angewendet. Wie bereits im ersten Interview äußert sich Lisa sehr differenziert über beide Arbeitskontexte; es gelingt ihr, die Ranking-Skala von eins bis fünf auf die unterschiedlichen Elemente anzuwenden. Die Vermutung, dass Lisa eine Vorstellung von unterschiedlichen Situationen hat, in denen sie ihr Handeln anpassen muss, manifestiert sich. Lisa kennt wohl verschiedene Anpassungsmöglichkeiten, kann sie benennen und ihr Handeln entsprechend ändern. Auch das zweite Interview zeigt deutlich, dass sie beide Arbeitskontexte positiv konstruiert, bspw. am persönlichen Konstrukt ›gut – schlecht‹ erkennbar, das sie sehr positiv bis eher positiv auf dreizehn der achtzehn Elemente anwendet. Auch benennt sie die Initialpole wieder eher positiv konnotiert, was die Hypothese unterstreicht. Die positive Konstruktion von Arbeit, wird vermutlich auch bei zukünftigen Arbeitssituationen erkennbar. Lisa bewertet vor allem Situationen, die mit einer Arbeitspause in Verbindung stehen, als ›schlecht‹. So konstruiert sie die Pause beim Arbeiten und den Pausenhof in der Schule als ›schlecht‹, das Mittagessen eher ›gut‹, die Pause in der Schule, genau wie zwei Arbeitssituationen der Schule neutral. Alle anderen Arbeitssituationen wertet sie hingegen sehr gut. Das deutet darauf hin, dass das Praktikum ihre positive Haltung gegenüber Arbeitssituationen aus dem ersten Interview verstärkt und sie nun eine noch positivere Wahrnehmung von Arbeit hat. Mit dieser positiven Haltung begegnet Lisa sicherlich auch weiteren Arbeitsmöglichkeiten. Vielleicht langweilt sich Lisa in Pausen oder ist so motiviert zu arbeiten, dass sie Pausen eher als ein Abhalten von der Arbeit erlebt. Es ist denkbar, dass sie beim Praktikum auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ihre große Anstrengungsbereitschaft und Arbeitsmotivation unter Beweis stellen möchte; Pausen sind dafür wohl eher hinderlich für sie. Computergestützte Auswertung mit GridSuite In der Biplot-Darstellung sind vier Komponenten erkennbar. Es zeigt sich, dass es bei zwei Komponenten, 1 links und 2 unten, markante Verdichtungen mit vier oder mehr Elementen gibt, die darauf schließen lassen, dass sie besonders relevant sind. Beide Parameter sind wohl für die zukünftige Wahrnehmung von Arbeitssituationen relevanter als Komponenten 1 rechts und 2 oben, die die mit weniger Elementen korrelieren. Alle Elemente sind über den gesamten Biplot angeordnet, was darauf hindeutet, dass Lisa beide Kontexte differenziert konstruiert. Allerdings zeigt sich eine deutliche Trennung von Pausen- und Arbeitssituationen. In den beiden rechten Quadranten finden sich alle Situationen,

209

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

die mit einer Pause zusammenhängen; in den beiden linken Quadranten hingegen befinden sich alle Arbeitserfahrungen. Im Quadranten unten rechts liegt eine Pausensituation, wohingegen im Quadranten unten links eine markante Verdichtung erkennbar ist. Dort sind besonders relevante und einflussreiche Sinnkonstruktionen zu vermuten. 7‘ kurz

13 von mir aus reagieren

4 Freunde

Handtuch aufräumen

12 konzentriert

2‘ rumsitzen

6‘ schmutzig 3‘ sprechen 9‘

9‘ nicht aufpassen

8‘

10‘

3‘

19‘ schimpfen

19‘ 7‘ Pausenhof 2‘

1 draußen arbeiten

5‘ nicht helfen 5‘ Zeitschriften sortieren

16‘ unordentlich

16‘ Müll wegbringen

11 angenehm

Bank tragen

17 gut

1‘ drinnen arbeiten 19 loben

13 14 18 15

12

17

6‘

Fegen 4 6 11‘ Kaffee kochen 16 Arbeitsraum 1‘ Rasenmäher reparieren Rechnungen schreiben Arbeitsraum Werkstatt Chefin Friseur

2 arbeiten 4‘ mit niemandem etwas zu tun haben

2 7 19

7‘ lang 8 anstrengend

8

Arbeiten mit Chef

18‘ 17‘ 12

5 Lockenwickler aufräumen 9 Schrank abbauen

10

3

15‘ etwas für mich machen 18‘ schnell und nicht gründlich arbeiten 17‘ schlecht

1

4

11

18 langsam und gründlich arbeiten 15 etwas für andere machen

Mittagessen Schule Pause Schule 15‘

14‘ 13‘

11‘ unangenehm 16 ordentlich Pause 5 Partnerarbeit Arbeiten 9 aufpassen 3 leise sein 6 sauber 10‘ nichts machen 13‘ nicht reagieren 8‘ nicht anstrengen

10 Verantwortung

12‘ nicht konzentriert

14 normal sein

14‘ andere beleidigen

Abbildung 5: Biplot – Lisa | Interview 2

Komponente 1 links hängt für Lisa mit Konstruktpolen zusammen, die recht hoch damit in Verbindung stehen; für sie steht der Parameter mit ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›etwas für andere tun‹, ›von mir aus reagieren‹, ›normal sein‹, ›konzentriert‹, ›gut‹, ›angenehm‹, ›anstrengend‹, ›drinnen arbeiten‹, ›nicht helfen‹, ›Verantwortung‹, ›arbeiten‹, lang‹, ›nicht aufpassen‹, ›loben‹, ›mit niemandem etwas zu tun haben‹ und ›schmutzig‹ in Zusammenhang. ›Sprechen‹ und ›unordentlich‹ werden aufgrund ihrer Ursprungsnähe nicht betrachtet. Für Lisa korreliert die Komponente mit ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum (Praktikum), ›Rechnungen schreiben‹, ›Kaffee kochen‹, ›Fegen‹, ›Handtuch aufräumen‹, ›Zeitschriften sortieren‹, ›Arbeitsraum Werkstatt‹, ›Bank tragen‹, ›Chefin Friseur‹ und ›Arbeiten mit Chef‹, wobei die erstgenannten Elemente mäßig stark zutreffen. ›Chefin Friseur‹ und ›Arbeit mit Chef‹ hängen weniger damit zusammen. Auf die Elemente ›Müll wegbringen‹, ›Lockenwickler sortieren‹ und ›Schrank abbauen‹ hat die Komponente wohl keinen Einfluss. Lisa wendet sie auf elf Arbeitserfahrungen an, was die Vermutung zulässt, dass die Sinnkonstruktion in Relation einflussreich ist. Sie verbindet damit gleichermaßen Elemente beider Arbeitskontexte. Der Sinnaspekt trifft für sie auf beide Kontexte zu. Lisa bringt die Komponente mit Herausforderungen und persönlicher Anstrengung

210

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

in Verbindung, für sie positiv. Darauf deuten die Pole ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›etwas für andere tun‹, ›von mir aus reagieren‹, ›konzentriert‹, ›gut‹, ›angenehm‹, ›anstrengend‹ und ›Verantwortung‹ hin. Lisa sieht wohl Situationen, in denen sie sich stark einbringen kann, positiv und erstrebenswert an. Sie zeigt vermutlich in vielen Arbeitssituationen große Anstrengungsbereitschaft und Motivation; Herausforderungen nimmt sie wohl bereitwillig an. Die Komponente scheint weitreichend; Lisa wendet sie auf künftige Arbeitssituationen an. Die Vermutung der Handauswertung, dass Lisa sehr motiviert zum Arbeiten ist und große Anstrengungsbereitschaft zeigt, lässt sich unterstreichen. Komponente 2 oben, umfasst ›nicht anstrengend‹, ›sprechen‹, ›nichts machen‹, ›schimpfen‹, ›kurz‹, ›rumsitzen‹, ›nicht aufpassen‹, ›nicht helfen‹, ›unordentlich‹, ›Freunde‹, ›draußen arbeiten‹, ›etwas für mich machen‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›angenehm‹ und ›schmutzig‹; die Pole ›andere beleidigen‹, ›von mir aus reagieren‹, ›konzentriert‹ und ›schlecht‹ fließen aufgrund ihrer Nähe zum Ursprung nicht in die Betrachtungen ein. Mit der Sinnkonstruktion korrelieren ›Handtuch aufräumen‹, ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Pause Schule‹, ›Zeitschriften sortieren‹, ›Bank tragen‹ und ›Müll wegbringen‹, wobei ›Handtuch aufräumen‹ aufgrund der Distanz zum Ursprung besonders hoch korreliert; ›Bank tragen‹ und ›Müll wegbringen‹ weniger. Lisa wendet die Komponente auf schulische und außerschulische Erfahrungen an; sie ist, so die Hypothese, für verschiedene Kontexte relevant. Lisa muss in den genannten Situationen nicht besonders aufmerksam sein und sich nicht anstrengen. Darauf weisen die Pole ›nicht anstrengend‹, ›sprechen‹, ›nichts machen‹, ›rumsitzen‹, ›nicht aufpassen‹, ›nicht helfen‹ und ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹ hin. Sie kann etwas neben der eigentlichen Tätigkeit machen, wie bspw. reden; das lässt ›sprechen‹ vermuten, der recht stark korreliert. Verantwortung ist wohl kein besonderes Merkmal. Lisa verbindet die Komponente mit negativer Rückmeldung, was sich der Sinnzuweisung ›schimpfen‹ entnehmen lässt. Möglicherweise weiß Lisa, dass sie, wenn sie sich nicht besonders konzentriert und nebenher redet, mit negativer Rückmeldung rechnen muss. Sie verbindet mit der Komponente eher wenig Sorgfalt und Motivation. Aufgrund der eher negativen Aspekte ›nichts machen‹, ›schimpfen‹, ›rumsitzen‹, ›nicht aufpassen‹, ›unordentlich‹ und auch ›schmutzig‹ und der eher negativen Beschreibungen ist davon auszugehen, dass sie die Komponente negativ konstruiert. Sie verwendet die Sinnkonstruktion auf sieben Situationen an; ihr Einfluss ist wohl mittelstark. Komponente 1 rechts bezieht sich auf ›schnell und gründlich arbeiten‹, ›andere beleidigen‹, ›nicht reagieren‹, ›etwas für mich machen‹, ›nicht konzentriert‹, ›schlecht‹, ›unangenehm‹, ›draußen arbeiten‹, ›nicht anstrengend‹, ›Partnerarbeit‹, ›kurz‹, ›schimpfen‹, ›rumsitzen‹, ›aufpassen‹ und ›Freunde‹. Die Aspekte ›nichts machen‹, ›sauber‹ und ›leise sein‹ liegen zu nah am Ursprung, um den Sinn zu beeinflussen. Der Parameter hängt mit ›Pause Arbeiten‹, Pause Schule‹,

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

211

›Mittagessen Schule‹ und ›Pausenhof‹ zusammen. Lisa wendet ihn nur auf Situationen an, in denen sie nicht arbeitet. Alle schulischen und außerschulischen Pausensituationen werden stark von der Komponente erfasst. Sie ist für Lisa negativ besetzt und hängt wenig Herausforderung/Anstrengung zusammen. Darauf deuten vor allem die Pole ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›andere beleidigen‹, ›nicht reagieren‹, ›nicht konzentriert‹, ›schlecht‹, ›unangenehm‹, ›nicht anstrengend‹, und ›rumsitzen‹ hin. Es ist vorstellbar, dass Lisa sich in den Situationen langweilt und lieber arbeiten möchte. Die Vermutungen aus der Handinterpretation lassen sich bestätigen. Möglicherweise gefällt ihr die Arbeit im Friseursalon so gut, dass sie gar nicht aufhören möchte, zu arbeiten. Auf diese Annahme deutet das Element ›Pause Arbeiten‹, das besonders stark korreliert, hin. Lisa konstruiert alle Pausensituationen damit; der Parameter scheint sehr einflussreich für ihre Wahrnehmung, so wohl auch zukünftig. Komponente 2 unten umfasst ›anstrengend‹, ›Verantwortung‹, ›loben‹, ›lang‹, ›arbeiten‹, ›leise sein‹, ›aufpassen‹, ›Partnerarbeit‹, ›etwas für andere tun‹, ›unordentlich‹, ›drinnen arbeiten‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›angenehm‹ und ›mit niemandem etwas zu tun haben‹. Die Pole ›schmutzig‹, ›nicht reagieren‹ und ›normal sein‹ werden aufgrund ihrer Ursprungsnähe nicht berücksichtigt. Lisa wendet die Sinnzuweisung auf ›Schrank abbauen‹, ›Lockenwickler sortieren‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Rechnungen schreiben‹, ›Rasenmäher reparieren‹, ›Arbeitsraum (Praktikum)‹, ›Arbeitsraum Werkstatt‹, ›Chefin Friseur‹ und ›Kaffee kochen‹ an, wobei die ersten drei Elemente besonders stark damit in Bezug stehen. Die Elemente ›Fegen‹ und ›Pause Arbeiten‹ werden vom Parameter eher nicht erfasst. Lisa bringt die Konstruktpole mit Motivation, Verantwortung und Sorgfalt in Verbindung. Darauf weisen die Aspekte ›anstrengend‹, ›Verantwortung‹, ›loben‹, ›arbeiten‹, ›leise sein‹, ›aufpassen‹, ›etwas für andere tun‹, und ›langsam und gründlich arbeiten‹, hin. Mit motiviertem, verantwortungsvollem und sorgfältigem Arbeiten verbindet sie auch eine positive Rückmeldung; der Parameter ist positiv besetzt, worauf die überwiegend positiv konnotierten Konstruktpole hindeuten. Lisa hat in den vergangenen Arbeitssituationen wohl die Erfahrung gemacht, bei motiviertem, verantwortungsvollem und sorgfältigem Arbeiten gelobt zu werden. Daher, so die Vermutung, weiß sie, wie sie (mit Kund*innen) zufriedenstellend arbeiten kann. Beide Arbeitsbereiche beziehen sich auf Dienstleistungen und die Arbeit mit Kund*innen. Wertschätzung und Anerkennung, so eine weitere Hypothese, sind für Lisa wichtige Faktoren für Motivation und Leistungsbereitschaft. Da sie neun Elemente aus beiden Kontexten so konstruiert, erscheint der Parameter auf zukünftig einflussreich. Wie beim ersten Interviews stehen alle Erfahrungen im Spannungsfeld zwischen zwei Komponenten. Das unterstreicht die vermutete komplexe Sinnkonstruktion; manche Elemente beziehen sich überwiegend auf einen Parameter.

212

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

›Handtuch aufräumen‹, ›Zeitschriften sortieren‹ und ›Bank tragen‹ verbindet Lisa zum einen damit, wenig motiviert und sorgfältig zu arbeiten, für sie negativ besetzt, zum anderen mit Herausforderung und Anstrengung, für sie positiv konnotiert. Das Element ›Müll wegbringen‹ liegt ebenfalls in diesen Quadranten, wird aufgrund der Nähe zum Ursprung aber vernachlässigbar mit Komponente 1 links in Verbindung gebracht. Lisa bringt die übrigen Situationen eher mit wenig Sorgfalt und Motivation, sondern mit Anstrengung und Herausforderung in Verbindung. Für sie sind Arbeitssituationen vorstellbar, die anstrengend und herausfordernd sind, aber wenig Sorgfalt und Motivation erfordern. Sie ist wohl weniger motiviert und arbeitet weniger sorgfältig, dennoch strengt sie sich an. Darin liegt für Lisa kein Widerspruch. Erkennbar wird hier ihr differenzierter Blick; sie konstruiert die Elemente positiv und gleichzeitig negativ. In dem Spannungsfeld stehen für sie schulische und außerschulische Erfahrungen und, so die Vermutung, auch zukünftige Situationen. ›Pausenhof‹, ›Mittagessen‹ und ›Pause Schule‹, also ausschließlich schulische Erfahrungen, sind mit den negativen Komponenten wenig Sorgfalt, Motivation, Verantwortung/ Herausforderung und Anstrengung in Zusammenhang zu bringen. Sie nimmt die Erfahrungen sehr negativ wahr; das hängt wohl damit zusammen, dass sie in den Situationen nicht arbeiten, keine Verantwortung übernehmen und sich nicht einbringen kann, wie es ihrer Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft entspricht. Da Lisa nur schulische Pausensituationen derart konstruiert, ist bedingt davon auszugehen, dass sie auch zukünftige Arbeitserfahrungen so konstruiert. Sie besitzt wohl eine insgesamt negativere Sichtweise auf Schule als auf ihr Praktikum. ›Pause Arbeiten‹, also nur ein Element ist mit wenig Herausforderung und Anstrengung, für sie eher negativ, aber mit Motivation und Sorgfalt, für sie eher positiv, in Verbindung zu bringen. Die Konstruktion korreliert stark mit wenig Herausforderung/Anstrengung. Lisa ist für die Pause im Praktikum wohl etwas eher motiviert als für schulische Pausen. Das unterstreicht die Vermutung, dass Lisa das Praktikum grundsätzlich positiver konstruiert als den Schulkontext. Möglicherweise hängt die Konstruktion mit Personen zusammen, mit denen Lisa ihre Pausen verbringt. Für sie sind Situationen innerhalb dieses Spannungsfelds vorstellbar, allerdings (auch zukünftig) eher selten. Die Elemente ›Lockenwickler sortieren‹ und ›Fegen‹ korrelieren stärker mit je einer der folgenden Komponenten als mit der anderen und werden daher in den folgenden Betrachtungen außen vor gelassen. Lisa bringt demgegenüber sechs schulische und außerschulische Arbeitserfahrungen mit Motivation, Sorgfalt, Verantwortung, Anstrengung und Herausforderung in Zusammenhang, für sie positiv. Das Spannungsfeld der beiden Parameter ist für Lisas Sinnbildung relevant und einflussreich, da eine markante Verdichtung an Elementen (schulisch und außerschulisch) vorzufinden ist. Es ist zu vermuten, dass sie sehr gerne

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

213

arbeitet und zukünftig Tätigkeiten ausüben möchte, die den beiden Arbeitskontexten ähneln. Es lässt sich kein grundlegender Unterschied zwischen dem schulischen und dem Arbeitskontext des Praktikums ausmachen. Lisa konstruiert beide Bereiche positiv und ist bereit, Leistung zu erbringen, sich motiviert und verantwortungsvoll zu verhalten. Solche Tätigkeiten machen Lisa wohl viel Spaß. Das Spannungsfeld wird auch zukünftig einflussreich sein.

Pausenhof

Pause Schule

Pause Arbeiten

Mittagessen Schule

Bank tragen

Müll wegbringen

Arbeitsraum Werkstatt

Arbeitsraum

Rechnungen schreiben Computer

Kaffee kochen

Lockenwickler aufräumen

Chefin Friseur

Schrank abbauen

Arbeiten mit Chef

Rasenmäher reparieren

Fegen

Zeitschriften sortieren

Handtücher aufräumen

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10

Sauber

schmutzig

Angenehm

Unangenehm

Gut

Schlecht Nicht konzentriert Etwas für mich machen schimpfen

Konzentriert Etwas für andere machen loben Ordentlich Von mir aus reagieren

Lang

Unordentlich Nicht reagieren Schnell und nicht gründlich arbeiten Andere beleidigen Draußen arbeiten Nicht aufpassen Nichts machen Nicht anstrengend Kurz

Leise sei

Sprechen

Langsam und gründlich arbeiten Normal sein Drinnen arbeiten Aufpassen Verantwortung Anstrengend

Arbeiten Mit niemandem etwas zu tun haben Nicht helfen

0

Rumsitzen Freunde Partnerarbeit

Abbildung 6: Dendogramm – Lisa | Interview 2

Die Dendrogramm-Darstellung des zweiten Interviews zeigt, ähnlich wie das erste Interview, Ähnlichkeiten mit dem Biplot, die darauf hinweisen, dass die vorherigen Ausführungen sich mit Beobachtungen der Dendrogramm-Darstellung decken. Auch das Dendrogramm weist aufgrund der vielen kleineren Cluster darauf hin, dass Lisa beiden Arbeitskontexten komplex und differenziert Sinn zuweist. Darüber hinaus stellen die insgesamt niedrigen bzw. mittelhohen Bogen deut-

214

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

liche bis mäßig deutliche Korrelationen der Konstrukte und Elemente untereinander dar. Auch die Beobachtung zeigt sich im Biplot. Dem Dendrogramm lässt sich entnehmen, dass die drei Pausensituationen ›Pause Schule‹, ›Pause Arbeiten‹ und ›Pausenhof‹ einander ähnlich konstruiert werden, was sich mit Überlegungen der Handauswertung und Biplot-Darstellung deckt. Obwohl das ›Mittagessen Schule‹ sowohl in der Handauswertung als auch in der Biplot-Darstellung recht ähnlich mit den übrigen drei Pausenelementen dargestellt wird, deutet das Dendrogramm auf Übereinstimmung mit anderen Arbeitssituationen (beider Arbeitskontexte) hin. Es lässt sich fragen, wie es zu dieser Unstimmigkeit kommt. Vermutlich hängt das mit den komplexen Berechnungen des Programms GridSuite zusammen. Das zeigt die Notwendigkeit, bei der Interpretation inhaltliche Aspekte zu berücksichtigen. Dem Dendrogramm ist, wie dem Biplot, die ähnliche Konstruktion aller Arbeitssituationen zu entnehmen. Die niedrigen Bögen und teilweise größeren Cluster deuten hier auf ähnliche Sinnzuweisungen hin. Einige der Cluster des Dendrogramms zeigen eine große Schnittmenge mit den jeweiligen Komponenten dem Biplot und erlauben eine ähnliche Interpretation. So wird Komponente 1 rechts ›schnell und gründlich arbeiten‹, ›andere beleidigen‹, ›nicht reagieren‹, ›etwas für mich machen‹, ›nicht konzentriert‹, ›schlecht‹, ›unangenehm‹, ›draußen arbeiten‹, ›nicht anstrengend‹, ›Partnerarbeit‹, ›kurz‹, ›schimpfen‹, ›rumsitzen‹, ›aufpassen‹ und ›Freunde‹ beeinflusst. Im Dendrogramm befindet sich ein Cluster mit den Konstruktpolen ›unangenehm‹, ›schlecht‹, ›nicht konzentriert‹, ›etwas für mich machen‹, ›schimpfen‹ und ›unordentlich‹. Das Cluster hängt zusätzlich mit ›nicht reagieren‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›andere beleidigen‹, ›draußen arbeiten‹, ›nicht aufpassen‹ und ›nichts machen‹ zusammen. Die Schnittmenge erlaubt ähnliche Annahmen. Auch Komponente 1 links des Biplots und zwei Cluster des Dendrogramms lassen sich aufgrund der Überschneidung ähnlich interpretieren. So wird Komponente 1 links hauptsächlich von ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›etwas für andere tun‹, ›von mir aus reagieren‹, ›normal sein‹, ›konzentriert‹, ›gut‹, ›angenehm‹, ›anstrengend‹, ›drinnen arbeiten‹, ›nicht helfen‹, ›Verantwortung‹, ›arbeiten‹, lang‹, ›nicht aufpassen‹, ›loben‹, ›mit niemandem etwas zu tun haben‹ und ›schmutzig‹ konstruiert und zeigt Ähnlichkeit mit den Clustern ›angenehm‹, ›gut‹, ›konzentriert‹, ›etwas für andere machen‹, ›loben‹ und ›ordentlich‹, bzw. ›von mir aus reagieren‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›normal sein‹, ›drinnen arbeiten‹, ›aufpassen‹ und ›Verantwortung‹, die miteinander in Zusammenhang stehen. Auch ›anstrengend‹, ›Verantwortung‹, ›loben‹, ›lang‹, ›arbeiten‹, ›leise sein‹, ›aufpassen‹, ›Partnerarbeit‹, ›etwas für andere tun‹, ›unordentlich‹, ›drinnen arbeiten‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›angenehm‹ und ›mit niemandem etwas zu tun haben‹ der Komponente 2 unten lassen sich als eng miteinander in

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

215

Bezug stehende Cluster des Dendrogramms finden (›angenehm‹, ›gut‹, ›konzentriert‹, ›etwas für andere machen‹, ›loben‹ und ›ordentlich‹ bzw. ›von mir aus reagieren‹, ›langsam und gründlich arbeiten‹, ›normal sein‹, ›drinnen arbeiten‹, ›aufpassen‹ und ›Verantwortung‹) und ähnlich interpretieren. Gleiches gilt für die Pole der Komponente 2 oben ›nicht anstrengend‹, ›sprechen‹, ›nichts machen‹, ›schimpfen‹, ›kurz‹, ›rumsitzen‹, ›nicht aufpassen‹, ›nicht helfen‹, ›unordentlich‹, ›Freunde‹, ›draußen arbeiten‹, ›etwas für mich machen‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›angenehm‹ und schmutzig‹, die sich zum Großteil in den Clustern ›unangenehm‹, ›schlecht‹, ›nicht konzentriert‹, ›etwas für mich machen‹, ›schimpfen‹ und ›unordentlich‹ bzw. ›nicht reagieren‹, ›schnell und nicht gründlich arbeiten‹, ›andere beleidigen‹, ›draußen arbeiten‹, ›nicht aufpassen‹ und ›nichts machen‹ finden lassen. Die Übereinstimmungen lassen ähnliche Analysen zu. Vergleichende Auswertungen beider Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte Interview I Drinnen arbeiten – draußen arbeiten

Interview II Drinnen arbeiten – Draußen arbeiten

Partnerarbeit – nicht helfen Konzentriert – nicht konzentriert

Teamarbeit – Alleine arbeiten Konzentriert – Unkonzentriert

Arbeiten – rumsitzen Freunde – mit niemandem etwas zu tun haben

Pause – Arbeiten

Aufpassen – nicht aufpassen Loben – schimpfen Normal sein zu anderen – andere beleidigen Verantwortung – nichts machen

Leise sein – sprechen Sauber – schmutzig Lang – kurz Anstrengend – nicht anstrengend Angenehm – unangenehm

Langsam und gründlich arbeiten – schnell und nicht gründlich arbeiten

Von mir aus reagieren – nicht reagieren

Gut – schlecht

Etwas für andere machen – etwas für mich machen Ordentlich – unordentlich

Lisa äußert während des zweiten Interviews vier Konstrukte, die deckungsgleich oder sehr ähnlich mit solchen des ersten Interviews sind:

216

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview I Drinnen arbeiten – Draußen arbeiten

Interview II Drinnen arbeiten – Draußen arbeiten

Partnerarbeit – Nicht helfen Konzentriert – Nicht konzentriert

Teamarbeit – Alleine arbeiten Konzentriert – Unkonzentriert

Arbeiten – Rumsitzen

Pause – Arbeiten

Lisa beschreibt und erklärt die persönlichen Konstrukte jeweils sehr ähnlich oder identisch mit vergleichbaren Beispielen. Das lässt darauf schließen, dass sie in beiden Interviews das gleiche Konstrukt – teilweise mit unterschiedlichen Wörtern – äußert. Da sie in beiden Arbeitssituationen vier gleiche Konstrukte äußert, ist davon auszugehen, dass diese besonders stabil und relevant für ihre Sinnkonstruktion sind. Vermutlich ordnet sie zukünftige Arbeitssituationen mit den Konstrukten ein und verleiht ihnen damit Sinn. Ihre Konstrukte lassen sich in drei große Bereiche einteilen; so nutzt Lisa beschreibende Konstrukte, mit denen sie Situationen schildert, wertende Konstrukte, mit denen sie eine Situation beurteilt und selbstreflexive Konstrukte, mit denen sie sich selbst bzw. ihr Handeln oder ihre Kompetenzen in Bezug zur Situation reflektiert. Die folgenden Tabellen teilen Lisas Konstrukte den entsprechenden Bereichen zu. Identische Konstrukte sind einmal aufgeführt. Beschreibende Konstrukte Interview I Drinnen arbeiten – draußen arbeiten

Interview II Drinnen arbeiten – draußen arbeiten

Partnerarbeit – nicht helfen

Teamarbeit – alleine arbeiten

Arbeiten – rumsitzen Langsam und gründlich arbeiten – schnell und nicht gründlich arbeiten

Pause – arbeiten Leise sein – sprechen Sauber – schmutzig Lang – kurz Etwas für andere machen – etwas für mich machen Ordentlich – unordentlich

Wertende Konstukte Interview I Konzentriert – nicht konzentriert

Interview II Konzentriert – unkonzentriert

Aufpassen – nicht aufpassen Loben – schimpfen

Von mir aus reagieren – nicht reagieren

Verantwortung – nichts machen

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

217

(Fortsetzung) Interview I Freunde – mit niemanden etwas zu tun haben Normal sein zu anderen – andere beleidigen

Interview II

Selbstreflexive Konstrukte Interview I Gut – schlecht

Interview II Anstrengend – nicht anstrengend Angenehm – unangenehm

Lisa äußert in beiden Interviewsituationen beschreibende, bewertende sowie selbstreflexive Sinnzuweisungen. Es ist davon auszugehen, dass sie künftige Arbeitskontexte anhand der drei Kategorien einordnet. Auffällig ist, dass sie beim zweiten Interview acht der zwölf Konstrukte eher beschreibend nutzt. Diese gehen deutlich über die Sinnzuweisungen des ersten Interviews hinaus. Sie erfasst, so die Vermutung, beide Kontexte rückblickend differenzierter. Vermutlich trägt das Praktikum zu dieser Wahrnehmung und Sinnbildung bei. Die neuen Erfahrungen, so die Annahme, bereichern ihre Bedeutungszuweisungen. Wertende Konstrukte nutzt Lisa vor allem beim ersten Interview. Mit sechs der elf Konstrukte bewertet Lisa Situationen. Demzufolge wertet sie im ersten Interview häufiger als im zweiten. Inhaltlich sind die Konstrukte ›Verantwortung – nichts machen‹ und ›von mir aus reagieren – nicht reagieren‹ ähnlich. Es ist vorstellbar, dass Lisa ihre Vorstellung von Verantwortung während des Praktikums präzisiert hat und sie damit verbindet, von sich aus zu reagieren. Bereits bei der Beschreibung des Konstruktpols ›Verantwortung‹ im Rahmen des ersten Interviews schilderte Lisa, dass das mit dem eigenen Reagieren zusammenhängt, im zweiten Interview erklärt sie die eigene Reaktion mit Eigeninitiative und Engagement. Möglicherweise gehört es zu Lisas Aufgaben oder Arbeitsanweisungen im Praktikum, selbst auf ihre Aufgaben zu achten bzw. Initiative zu ergreifen und aktiv zu sein. Das zweite Interview bestätigt die Hypothese aus dem ersten Interview, Lisa könne die Konstrukte auf andere Arbeitskontexte anwenden. Sie wendet bspw. ›arbeiten – rumsitzen‹ auf alle schulischen und außerschulischen Elemente an; Lisa hat dahingehend eine genaue Vorstellung und kann entsprechend handeln. Sie weiß, wie sie sich in Arbeits- und Pausensituationen angemessen verhalten kann. Sie wendet alle Konstrukte, auch die des zweiten Interviews, auf alle Erfahrungen an; es ist anzunehmen, dass sie auch weitere zukünftige Arbeitskontexte

218

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

damit in Zusammenhang bringt. Sie hat, so die Vermutung, weitere Sinnkonstruktionen entwickelt bzw. wendet diese nun auch auf den schulischen Arbeitskontext an, die sie zuvor entweder noch nicht besitzt oder damit noch nicht in Bezug bringt. Sie gewinnt wohl durch das Praktikum eine differenziertere Sichtweise auf Arbeit (auch in der Schule). Auch im zweiten Interview verwendet Lisa die Initialpole eher positiv an und zeigt, wie im ersten Interview, eine sehr positive Haltung gegenüber Arbeit, was bspw. ›loben‹ und ›Verantwortung‹ zu entnehmen ist. Sie zeigt bei der zweiten Befragung eine noch positivere Haltung. Möglicherweise ist das auf erfolgreiche oder angenehme Erfahrungen im Praktikum zurückzuführen. Vergleich der computergestützten Auswertung Bei beiden Interviews lassen sich vier Komponenten ableiten, mit denen Lisa Erfahrungen Sinn verleiht. Manche Parameter ähneln sich, andere unterscheiden sich. Es lässt sich vermuten, dass einige recht stabil sind, andere sich durch das Praktikum verändern. Die Beobachtung verweist auf Prozesse von Kontinuität und Wandel bzw. Veränderbarkeit, die Lisa bei der Konstruktion ihrer Erfahrungen zulässt. So sind ihre Konstruktionen der Pausen- und Arbeitssituationen vor dem Praktikum bspw. stärker gemischt. Das führt zur Annahme, dass sie die Situationen vor dem Praktikum einander ähnlicher als danach wahrnimmt. Im zweiten Interview lässt sich eine klare Trennung (Pause vs. Arbeit) erkennen. Möglicherweise entwickelt Lisa eine klarere Vorstellung von Arbeiten und Pause, was sie rückblickend auf beide Arbeitskontexte anwendet. Es ist anzunehmen, dass sie zukünftige Arbeits- und Pausensituationen derart einordnet und entsprechend konstruiert. Alle Pausen nimmt sie nach dem Praktikum als wenig herausfordernd und wenig anstrengend und negativ wahr. Sie sind mit wenig Sorgfalt und Motivation verbunden, ebenfalls negativ. Vor dem Praktikum verbindet sie die beiden schulischen Pausen mit Zusammenarbeit mit anderen Personen, sie sind positiv gerahmt. Möglicherweise gewinnt sie durch die neuen Erfahrungen größere Anstrengungsbereitschaft und Motivation, die sie im zweiten Interview auf die schulischen Pausen überträgt. Lisa konstruiert Pausen nach dem Praktikum, vermutlich auch zukünftig, negativer und mit einer anderen Komponente. Möglicherweise ist ihr in Pausen langweilig oder/und ihre große Anstrengungsbereitschaft wird so verstärkt, dass sie keine Pause mehr machen möchte. Vielleicht trägt dazu bei, dass sie die Pausen während des Praktikums alleine ohne Freund*innen (der Schule oder der Arbeit) verbringt. Nach dem Praktikum lässt sich erkennen, dass Lisa die Arbeitssituationen stark mit dem Parameter Sorgfalt und Motivation verbindet, was sie positiv verknüpft. Sie konstruiert im zweiten Interview auch Elemente aus der schulischen Arbeitserfahrung mit der Komponente, die sie im ersten Interview anderen Komponenten zuweist. Da hier eine markante Verdichtung vorliegt, ist anzu-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

219

nehmen, dass der Parameter seit dem Praktikum einflussreich ist. Vermutlich beeinflusst das Praktikum, auch zukünftig, diese Wahrnehmung. Möglicherweise entwickelt Lisa – sie schätzt Arbeit im Praktikum sehr positiv ein – durch das Praktikum eine motivierte Arbeitshaltung, die Sorgfalt in den Fokus rückt. Da es sich bei ihrem Praktikum um eine Dienstleistung mit direktem Kund*innenkontakt handelt, ist anzunehmen, dass beim Praktikum auf diese Komponente besonders viel Wert gelegt wird bzw. ihr die Relevanz besonders deutlich wird. Vermutlich bringt sie für das Praktikum besonders viel intrinsische Motivation mit, die Arbeit bereitet ihr viel Spaß. Sie nimmt wohl auch zukünftige Arbeitssituationen, die dieser Arbeit ähneln, so wahr. Vor und nach dem Praktikum hängen zwei Komponenten mit verantwortungsvollem Arbeiten zusammen. Vor dem Praktikum konstruiert Lisa die Sinnzuweisung eher mit Arbeitssituationen mit anderen Personen. Nach dem Praktikum verbindet sie diese eher mit Motivation und sorgfältigem Arbeiten. Es ist anzunehmen, dass sich ihre Vorstellung von Verantwortung durch das Praktikum verändert. Motivation und Sorgfalt sind für sie nun entscheidende Aspekte für verantwortungsvolles Arbeiten. Der Bezug zu anderen Personen wird nicht mehr so deutlich wie in der ersten Komponente. Wahrscheinlich arbeitet Lisa während dem Praktikum eher selbstständig und alleine; demzufolge bezieht sie Verantwortung eher auf sich sowie eigene Motivation und eigene Sorgfalt. Sie muss im Praktikum, anders als in der Schule, wohl keine Verantwortung für andere übernehmen. Vor dem Praktikum konstruiert Lisa zwei Arbeitserfahrungen mit zu wenig Unterstützung, für sie negativ besetzt. Es zeigt sich, dass sie beide Erfahrungen in Bezug auf Zusammenarbeit mit anderen Personen negativ wahrnimmt. ›Schrank abbauen‹ und ›Bank tragen‹ bringt sie auch mit wenig Anstrengung in Verbindung, für sie ebenfalls negativ. Zwei ihrer Arbeitserfahrungen konstruiert sie nach dem Orientierungspraktikum eher positiv bzw. weniger negativ. Möglicherweise verändert sich ihre Wahrnehmung aller Arbeitssituationen während des Praktikums, so dass sie jede Arbeit eher oder ganz positiv sieht. Ein möglicher Hintergrund dafür könnte ihre starke Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft sein, die sich vor allem nach dem Praktikum zeigt. Nach dem Praktikum konstruiert sie vier der insgesamt 14 Erfahrungen mit einer negativen Komponente; demzufolge ist die negative Konstruktion weniger einflussreich. Vor dem Praktikum konstruierte sie drei der insgesamt sieben Erfahrungen negativ, in Relation also deutlich mehr Elemente. Bei beiden Interviews fällt auf, dass jeweils zwei Komponenten positiv und zwei negativ sind. Lisa bringt nach dem Praktikum alle Tätigkeiten mit Anstrengung und Herausforderung in Verbindung. Vor dem Praktikum hingegen konstruierte sie ›Müll wegbringen‹ und ›Bank tragen‹ als weniger anstrengend, für sie negativ besetzt. Daraus lässt sich ableiten, dass Lisa Arbeit nach dem

220

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Praktikum grundsätzlich positiver konstruiert. Vermutlich nimmt sie Arbeit während des Praktikums als herausfordernd, anstrengend und positiv wahr, was sie retrospektiv auf die Schule überträgt. Vor und nach dem Praktikum konstruiert Lisa Situationen, die für sie weniger anstrengend oder herausfordernd sind, negativ. So weist sie sowohl im ersten als auch im zweiten Interview vier Elemente dieser Komponente zu, wobei sie im zweiten Interview damit nur Pausen konstruiert. Möglicherweise fühlt sich Lisa in manchen Situationen (insbesondere beim schulischen Arbeiten) unterfordert, für sie negativ. Es ist davon auszugehen, dass Lisa die Konstruktion auf andere zukünftige Arbeit anwendet und Situationen, in denen sie sich unterfordert fühlt, eher negativ wahrnimmt. Vor dem Praktikum konstruiert Lisa vier Arbeitssituationen mit den Komponenten Fehler vermeiden, kognitive Anforderung, Zusammenarbeit mit anderen Personen und Verantwortung, beide positiv. Beim ersten Interview ist hier die größte Verdichtung erkennbar, das Spannungsfeld erscheint besonders relevant. Drei weitere Elemente (zwei Arbeits- und eine Pausenerfahrung) der insgesamt zehn Situationen konstruiert sie mit wenig Anstrengung, für sie eher negativ, und Zusammenarbeit mit anderen Personen und Verantwortung, für sie positiv. Hier verbirgt sich ebenfalls ein einflussreiches Spannungsfeld. Zusammenarbeit mit anderen Personen und Verantwortung spielt wohl eine entscheidende Rolle bei der schulischen Arbeit. Nach dem Praktikum befinden sich sieben der insgesamt zehn schulischen und außerschulischen Arbeitserfahrungen im Spannungsfeld der Parameter Motivation, Sorgfalt, Verantwortung, Anstrengung und Herausforderung, für Lisa positiv. Hier zeigt sich, dass sie die Situationen ähnlicher zueinander konstruiert, da die Verdichtung im Verhältnis zu allen Elementen größer ist als bei der ersten Erhebung. Sie grenzt Pausen- und Arbeitssituationen im zweiten Interview schärfer voneinander ab. 4.3.1.2 Lena Interview I Lena arbeitet in einem Café für Schüler*innen und Lehrkräfte, sie bereitet das Café vor, arbeitet im Café und räumt auf. Zu den zehn schulischen Elementen des Interviews gehören: ›Mittagessen Schule‹, ›Pausenhof‹, ›Arbeiten mit Chefin Café‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Pause Schule‹, ›Holz schleifen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kassieren‹, ›Holz ölen‹ und ›Tisch wischen‹.

221

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Holz ölen

Arbeitsraum Café

Tisch wischen

Geschirr spülen

Schleifen

Arbeiten mit Chefin

Kassieren

Pause Schule

Pausenhof

Mittagessen Schule

Handauswertung

Ausruhen

Lernen

Nicht gut

Gut

Kein Geschirr

Geschirr

Arbeiten

Nicht arbeiten

Nichts essen

Essen

Sich gut fühlen

Sich schlecht fühlen

Konzentriert

Nicht konzentriert

Ausruhen

Laut

Entspannt

Nicht entspannt

Abbildung 7: Elemente und persönliche Konstrukte – Lena | Interview 1

Die Darstellung zeigt, dass Lena neun unterschiedliche Konstrukte benennen kann.1214 Sie wendet alle Sinnzuweisungen differenziert auf alle Elemente an und nutzt die Rankingskala von eins bis fünf aus. Alle Konstrukte hängen mit allen Elementen zusammen. Lena gelingt es auch, alle Initial- und Kontrastpole mit Beispielen zu versehen oder sie näher zu erklären. Sie kann ihre Sinnzuweisungen präzise schildern. Alle Konstrukte liegen dichotom vor und werden so auf alle Situationen angewandt; es lassen sich drei Kategorien ausmachen: beschreibend, wertend und selbstreflexiv. Lena nutzt ›nichts essen – essen‹ bspw. beschreibend; ›konzentriert – nicht konzentriert‹ liegt wertend vor, wobei sie bspw. ›sich gut fühlen – sich schlecht fühlen‹ selbstreflexiv anwendet. Es fällt auf, dass Lena Arbeits eher positiv einschätzt; so wendet sie das Konstrukt – ›schlecht – gut‹ eher positiv an. Die Beobachtung deckt sich mit den Sinnzuweisungen ›sich gut fühlen – sich schlecht fühlen‹ und ›entspannt – nicht entspannt‹ und der Beobachtung, dass 1214 Alle folgenden Darstellungen und Interpretationen lassen sich mit den Darstellungen zu den persönlichen Konstrukten und Erklärungen, Anhang, Kapitel 7.3 und 7.4 überprüfen.

222

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Lena bei den meinst zunächst den positiven Initialpol und erst dann den negativen Kontrastpol bildet. Es unterstützt die Annahme, dass ihre persönliche Arbeitszukunft für sie erstrebenswert ist. Zur der positiven Einstellung führen, so die Hypothese, Situationen, in denen sie eher lernen und sich weniger ausruhen kann. Persönlicher Lernzuwachs und positives Erleben hängen für sie wohl zusammen. Sie konstruiert alle Situationen sehr differenziert, kann ihr Handeln vermutlich ebenso vielseitig anpassen. So wendet sie bspw. das Element ›ausruhen – lernen‹ sehr differenziert an und erklärt beide Pole mit unterschiedlichen Handlungsoptionen. Es ist anzunehmen, dass sie ihre Sinnzuweisungen auf andere Kontexte übertragen und entsprechend handeln kann. Der Initialpol ›ausruhen‹ hängt für sie mit zwei unterschiedlichen Kontrastpolen zusammen; zum einen ist ›lernen‹ für sie das Gegenteil von ›ausruhen‹, zum anderen von ›laut‹. Die Bedeutung des Initialpols verändert sich je nach Kontrast; zum einen kann sie sich ausruhen, so schildert Lena, Pausen, in denen sie nicht denken oder lernen muss und sie mit Freund*innen sprechen kann. Zum anderen ist für sie Erholung vorstellbar, wenn es leise ist. Aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungen werden die Konstrukte nicht zusammengefasst, sondern bedeutungsunterscheidend behandelt. Computergestützte Auswertung mit GridSuite 9‘ 6‘ 8‘ Pausenhof 9‘ nicht entspannt

Mittagessen Schule

2 nicht gut

6‘ sich schlecht fühlen 8‘ laut

Kassieren

1‘ lernen

5‘ Essen

3‘ Geschirr

4‘ nicht arbeiten

7 konzentriert

3‘

5 nichts essen 8 ausruhen 6 sich gut fühlen

4

2‘ gut

5‘

Geschirr spülen

1‘

4 arbeiten

7‘ 2‘

2

3

7

4‘

Arbeiten mit Chefin

3 kein Geschirr 1

5

7‘ nicht konzentriert

1 ausruhen 9 entspannt

Tisch wischen Schleifen Arbeitsraum Café Holz ölen

8 6

Pause Schule 9

Abbildung 8: Biplot – Lena | Interview 1

Der Biplot zur schulischen Arbeitssituation unterstreicht die differenzierten Sinnzuweisungen, was sich auch im Dendrogramm finden lässt. Die Elemente sind gleichmäßig auf alle vier Quadranten verteilt, lediglich im unteren linken

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

223

Quadranten lässt sich eine kleine Verdichtung von drei bzw. vier Elementen finden. Die Sinnzuweisung dieser Verdichtung besitzt für Lena wohl weitreichendere Gültigkeit als andere Konstruktionen. Durch die recht kompakte Lage der Pole an den einzelnen Koordinatenachsen lassen sich vier Komponenten, 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten erkennen. Sie hat wohl eine besonders einflussreiche Vorstellung von Pause und Arbeit. In den rechten Quadranten befinden sich eher Situationen, die mit Pausen zusammenhängen, in den beiden linken eher Arbeitssituationen. Beim schulischen Arbeiten unterscheidet Lena genau zwischen Arbeit und Pause. Das verstärkt die Vermutung der Handinterpretation, dass Lena weiß, wie sie ihr Handeln anpassen kann. Komponente 1 links umfasst ›lernen‹, ›arbeiten‹, ›konzentriert‹, ›nichts essen‹, ›sich gut fühlen‹, ›nicht entspannt‹, wobei ›ausruhen‹ ›nicht gut‹ und ›Geschirr‹ bei der weiteren Interpretation aufgrund ihrer Ursprungsnähe nicht weiter berücksichtigt werden. Der Konstruktpol ›nicht entspannt‹ korreliert. Die Komponente erfasst ›Kassieren‹, ›Geschirr spülen‹, ›Schleifen‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Holz ölen‹ und ›Tisch wischen‹. ›Tisch wischen‹ korreliert am wenigsten, wobei ›Kassieren‹ und ›Geschirr spülen‹ recht hoch in Bezug stehen. Insgesamt werden hier sechs der insgesamt zehn Elemente inhaltlich verortet, die Komponente ist einflussreich. Den Konstruktpolen ›lernen‹ und ›konzentriert sowie Lenas Äußerungen zu ›arbeiten‹ lässt sich entnehmen, dass der Parameter mit Denken zusammenhängt. Lena kann sich in den Situationen nicht entspannen, da sie kognitiv gefordert ist; dennoch ist die Komponente eher mit ›sich gut fühlen‹, also Wohlbefinden verknüpft. Während der schulischen Arbeit ist Lena herausgefordert, sich kognitiv anzustrengen. Möglicherweise macht ihr das Spaß oder/und wird positiv verstärkt, so dass sie sich dabei wohlfühlt. Vielleicht erlebt sie sich durch eigenes Mitdenken erfolgreich oder selbstwirksam. Auf Parameter 2 oben beziehen sich ›nicht entspannt‹, ›laut‹ und ›sich schlecht fühlen‹, wobei alle drei Pole stark damit korrelieren. Weniger starken Einfluss übt ›essen‹ aus, wohingegen die Sinnzuweisungen ›gut‹, ›Geschirr‹, ›lernen‹, ›nicht konzentriert‹ und ›nicht arbeiten‹ aufgrund ihrer Nähe zum Ursprung keine Berücksichtigung finden. ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Kassieren‹ werden von der Komponente erfasst. Alle drei Arbeitssituationen korrelieren recht hoch. Lena beschreibt ›nicht entspannt‹, ›laut‹ und ›sich schlecht fühlen‹ in Verbindung mit zwischenmenschlichen Beziehungen, mit vielen anderen Personen. Alle Aspekte sind für sie negativ konnotiert; sie schildert sie als anstrengend, unangenehm und mit komischen Gefühlen verbunden. Sie schätzt die Beziehung zu anderen Personen teilweise wohl belastend ein. Möglicherweise ist Lena von vielen Personen und der Menge an Reizen gestresst. Vielleicht fehlt ihr in den Situationen auch eine Möglichkeit, sich zurückzuziehen bzw. eher einer Tätigkeit nachzugehen, in der sie weniger präsent sein muss. Da Lena sowohl Pausen- als auch Arbeitssituationen damit in Verbindung bringt, besitzt der

224

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Parameter wohl recht große Reichweite. Es korrelieren nur drei der zehn Elemente damit. Er erscheint also weniger einflussreich. Komponente 1 rechts ist inhaltlich von den Konstruktpolen ›ausruhen‹, ›nicht arbeiten‹, ›nicht konzentriert‹, ›sich schlecht fühlen‹, ›entspannt‹ und ›essen‹ beeinflusst, vor allem ›ausruhen‹, ›nicht arbeiten‹ und ›nicht konzentriert‹ prägen die Komponente. ›Gut‹, ›laut‹ und ›kein Geschirr‹ korrelieren aufgrund der Nähe zum Ursprung gering und werden nicht berücksichtigt. Die vier Elemente ›Pausenhof‹, Mittagessen Schule‹, ›Arbeiten mit Chefin‹ und ›Pause Schule‹ stehen mit dem Parameter in Verbindung. Bei Lenas Beschreibungen wird deutlich, nicht denken zu müssen. Darauf weisen die Konstruktpole ›ausruhen‹, ›nicht konzentriert‹ ›entspannt‹ und ›nicht arbeiten‹ hin. Sie schildert ausruhen positiv, allerdings korreliert auch der Konstruktpol ›sich schlecht fühlen‹; deswegen kann nicht abschließend eingeschätzt werden, ob Lena den Parameter negativ oder positiv anwendet. Vermutlich sind für Lena sowohl negative oder positive Aspekte damit verbunden. Sie wendet die Konstruktion auf drei Situationen an, die mit einer Pause zusammenhängen: ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Pause Schule‹. Sie verwendet die Komponente auch, wenngleich weniger stark mit einer Arbeitssituation, in der sie ›mit der Chefin arbeitet‹. Möglicherweise wird Lena durch die Anwesenheit der Chefin entlastet; Mitdenken und ihre eigene Verantwortung sind weniger wichtig. Möglicherweise macht sie in Pausen sowohl positive als auch negative Erfahrungen (mit ihren Mitschüler*innen). Für Lena ist es vorstellbar, dass Arbeit einer Pause ähnelt. Komponente 2 unten wird inhaltlich von ›ausruhen‹, ›entspannt‹, ›sich gut fühlen‹, ›arbeiten‹ und ›nichts essen‹ beeinflusst. Alle Pole außer ›arbeiten‹ und ›nichts essen‹ korrelieren hoch. ›Konzentriert‹, ›kein Geschirr‹ und ›nicht gut‹ haben aufgrund der Nähe zum Ursprung kein Gewicht. Lena wendet die Komponente auf fünf Elemente ›Tisch wischen‹, ›Holz ölen‹, ›Pause Schule‹, ›schleifen‹ und ›Arbeitsraum Café‹ an, wobei ›Tisch wischen‹ am wenigsten beeinflusst wird; am stärksten korreliert ›Pause Schule‹. Insbesondere ›ausruhen‹ und ›entspannt‹ weisen darauf hin, dass sie Ruhe hat und Zeit mit Freund*innen verbringen kann. Sie erwähnt, dass das für sie positiv ist, worauf auch ›sich gut fühlen‹ hindeutet. Lena wendet die Komponente auf drei Arbeitssituationen an, außerdem auf eine Pause sowie den Arbeitsraum. Die Reichweite ist vermutlich recht groß. Lena konstruiert Tätigkeiten, in denen sie zurückgezogen und für sich alleine, mit wenigen anderen Personen arbeiten kann, wohl positiver als Situationen mit vielen Personen. Sie ist, eine weitere Vermutung, entspannter. Sieben der insgesamt zehn Elemente sind mehreren, unterschiedlichen Komponenten zuzuordnen. Drei Elemente korrelieren hauptsächlich mit einer Komponente, so dass sie nicht weiter berücksichtigt werden. Für Lena sind die meisten Elemente von zwei Aspekten geprägt, was auf eine vielschichtige, komplexe Wahrnehmung hinweist. Alle benachbarten Parameter stehen für sie zu-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

225

einander in Beziehung; daher ist begründet davon auszugehen, dass die Spannungsfelder auch künftig einflussreich sind. So stehen ›Geschirr spülen‹ und ›Kassieren‹ für Lena mit Denken, wobei sie sich wohlfühlt und vielen Personen in Verbindung, für sie negativ. Beide Komponenten sind einflussreich. Beim Element ›Kassieren‹ lässt sich vermuten, dass die Situation für sie kognitiv anspruchsvoll ist, was sie eher stressig und belastend erlebt. Möglicherweise ist es Lena in der Situation unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht erhält sie in der Situation aber positive Rückmeldung, bspw. aufgrund ihrer kognitiven Kompetenzen, was zum Wohlfühlen beiträgt. Vielleicht erlebt sie sich in der Situation erfolgreich, was eine andere Erklärung für das positive Gefühl darstellt. Die Situation ›Tisch wischen‹ findet Lena ebenfalls eher stressig. Es ist anzunehmen, dass die Situation mit Konzentration und großer (kognitiver) Anstrengung für sie verbunden ist. Sie, so lässt sich unterstreichen, bevorzugt ruhige und zurückgezogene Arbeiten. Daneben konstruiert Lena ›Mittagessen Schule‹ und ›Pausenhof‹ damit, dass sie nicht denken muss und vielen Personen sowie negativ. Beide Parameter treffen auf zwei Pausen gleichermaßen zu. Für Lena sind hier keine Arbeitserfahrungen vorstellbar. Das lässt die Vermutung zu, dass sie zukünftig nur Pausen innerhalb des Spannungsfelds konstruiert. Möglicherweise langweilt sich Lena in den Situationen, die sie kognitiv nicht herausfordern. Entspannen, so die weitere Vermutung, kann sie sich in den Situationen dennoch nicht, da die anderen Personen sie stören. Lena konstruiert Pausensituationen, in denen sie eher für sich oder mit wenigen Personen zusammen ist, wohl positiver und erstrebenswerter als Situationen, in denen viele Personen anwesend sind. ›Pause Schule‹ ist für Lena davon beeinflusst, nicht denken zu müssen und in Ruhe Zeit mit Freund*innen verbringen zu können, für sie positiv. Situationen in diesem Spannungsfeld stellen eine Ausnahme dar. Möglicherweise fühlt sich Lena bei ihren Freund*innen wohl, sie kann sich richtig entspannen. Sie muss sich, so eine weitere Hypothese, bei ihren Freund*innen auf nichts konzentrieren oder nachdenken, sie kann die Zeit genießen. ›Tisch wischen‹, ›schleifen‹, ›Holz ölen‹ und ›Arbeitsraum Café‹ werden für Lena maßgeblich von den positiven Komponenten denken, wobei sich Lena eher wohl fühlt und in Ruhe Zeit mit Freund*innen verbringen, konstruiert. Das Spannungsfeld wendet sie auf vier der zehn Elemente an und bildet den wohl einflussreichsten Bereich. Solche Situationen verbindet Lena mit Entspannung und Erholung, obwohl sie kognitiv herausgefordert wird. Sie sind für Lena nicht belastend oder stressig. Möglicherweise ist sie sicher, die Situationen gut bewältigen zu können. Vielleicht hängt die Konstruktion auch von einzelnen Personen ab. Es gibt Personen, die sehr zur persönlichen Entspannung und Erholung beitragen. Andere beeinflussen die Situation negativ – unabhängig davon, ob sie eine Pause hat oder arbeitet.

226

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview II Lena absolviert ihr Berufsorientierungspraktikum in einer WfbM. Die folgenden Darstellungen setzen Elemente und Konstrukte der Schule und des Praktikums zueinander in Bezug. Zu den zehn schulischen Elementen gehören: ›Mittagessen Schule‹, ›Pausenhof‹, ›Arbeiten mit Chefin Café‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Pause Schule‹, ›Holz schleifen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kassieren‹, ›Holz ölen‹ und ›Tisch wischen‹. Konstrukte des ersten Interviews: ›ausruhen – lernen‹, ›nicht gut – gut › ›kein Geschirr – Geschirr‹, ›arbeiten – nicht arbeiten‹, ›nichts essen – essen‹, ›sich gut fühlen – sich schlecht fühlen‹, ›konzentriert – nicht konzentriert‹, ›ausruhen – laut‹, ›entspannt – nicht entspannt‹. Arbeitssituationen des Praktikums: ›Mittagessen‹, ›Arbeitsraum‹, ›Pause‹, ›Rollen holen‹, ›Kiste holen mit Chefin‹, ›Schnur schneiden‹ und ›Kaleidoskop bestücken‹. Neu geäußerte persönliche Konstrukte des zweiten Interviews: ›anstrengend – nicht anstrengend‹, ›sauber – schmutzig‹, ›leicht – schwierig‹. Einige persönliche Konstrukte äußerte Lena im zweiten Interview sehr ähnlich oder deckungsgleich mit Konstrukten des ersten. Das lässt sich zum einen den direkten Bezeichnungen entnehmen; zum anderen weisen Beschreibungen und Beispiele darauf hin. Die identischen Konstrukte werden zusammengefasst. In Klammern stehen die Konstrukte aus dem ersten Interview: ›arbeiten – nicht arbeiten‹ (›arbeiten – nicht arbeiten‹), ›Pause – arbeiten‹ (›arbeiten – nicht arbeiten‹), ›unwohlfühlen – wohlfühlen‹ (›sich gut fühlen – sich schlecht fühlen‹), ›essen – nicht essen‹ (›nichts essen – essen‹). Lena konstruiert beide Situationen mit ähnlichem Sinn. So äußert sie im zweiten Interview insgesamt sieben persönliche Konstrukte, von denen vier inhaltlich mit dem ersten Interview identisch sind. Lenas Sinnkonstruktion wird durch das Praktikum teilweise verändert. Handauswertung Insgesamt äußert Lena innerhalb der beiden Interviews über ihre schulische und außerschulische Arbeitssituation zwölf unterschiedliche Konstrukte. Es gelingt ihr, alle Konstruktpole zu beschreiben und mit Beispielen zu versehen. Ihre Sinnzuweisungen lassen sich den drei Komponenten zuordnen und werden beschreibend, wertend oder selbstreflexiv angewendet. ›Sauber – schmutzig‹ konstruiert sie bspw. beschreibend, während sie ›leicht – schwierig‹ bewertend und ›nicht anstrengend – anstrengend‹ selbstreflexiv verwendet.

227

Geschirr Nicht entspannt

Kaleidoskop bestücken

Tisch wischen

Schnurschneiden

Holz ölen

Kiste holen mit Chefin

Rollen holen

Arbeitsraum Café

Kassieren

Geschirr spülen

Pause

Holz schleifen

Pause Schule

Arbeiten mit Chefin Café

Arbeitsraum

Pausenhof

Mittagessen Schule

Mittagessen

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Kein Geschirr Entspannt

Leicht

Schwierig

Ausruhen

Laut

Sauber

Schmutzig

Nicht anstrengend

Anstrengend

Unwohlfühlen

Wohlfühlen

Essen

Nicht essen

Ausruhen

Lernen

Nicht gut

Gut

Nicht arbeiten Nicht konzentriert

Arbeiten konzentriert

Abbildung 9: Elemente und persönliche Konstrukte – Lena | Interview 2

Es gelingt Lena, die verschiedenen Arbeitssituationen differenziert mit Sinn zu versehen; so kann sie bspw. alle Konstrukte, sowohl die aus dem ersten, als auch die aus dem zweiten Interview auf alle vorliegenden Erfahrungen anwenden. Sie nutzt die Rankingskala differenziert von eins bis fünf aus. Sie hat eine genaue Vorstellung von verschiedenen Situationen und weiß, wie sie ihr Handeln anpassen kann. Das lässt sich bspw. an dem persönlichen Konstrukt ›arbeiten – nicht arbeiten‹ erkennen. Es ist begründet anzunehmen, dass sie dieses Spannungsfeld in zukünftige Arbeitssituationen anwendet. Wie der spätere Vergleich beider Interviews zeigt, konstruiert Lena beide Arbeitskontexte stark selbstreflexiv. Sie setzt schulische und außerschulische Arbeitssituationen ähnlich zueinander in Bezug; genauso konstruiert sie Pausensituationen vergleichbar. Das Konstrukt ›gut – schlecht‹ nutzt sie im zweiten Interview recht differenziert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sie sechs der 17 Elemente als ›nicht gut‹ einschätzt, sechs weitere eher ›gut‹, fünf andere neutral. Die nachfolgende Analyse überprüft weiter, welche Elemente Lena positiv, welche negativ und welche neutral konstruiert, um Hypothesen zur Erklärung zu entwickeln. Insgesamt lässt sich eine neutrale Sicht auf Arbeit vermuten. Die noch im ersten Interview angenommene positive Sichtweise ist in der zweiten Befragung nicht mehr zu beobachten. Das hängt vermutlich mit den neuen Erfahrungen zusammen. Möglicherweise fühlt sich Lena im Praktikum

228

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

nicht wohl; oder sie ist von Personen umgeben, zu denen sie kein Vertrauen aufbauen kann bzw. in deren Anwesenheit sie sich belastet oder gestresst fühlt. Möglicherweise erlebt sie durch das Praktikum den anstehenden Übergang in die Arbeitswelt. Ihr wird vielleicht klar, dass nur noch begrenzt Zeit mit ihren Schulfreund*innen bleibt, mit denen sie, so lässt sich dem ersten Interview entnehmen, gerne zusammen ist. Möglicherweise kann Lena im Praktikum keinen Kontakt zu anderen Personen aufbauen, der mit den Freundschaften der Schule vergleichbar wäre. Computergestützte Auswertung mit GridSuite 7‘ 2‘ Pause Schule

4 3

6

5 sauber 3 leicht

Tisch10‘ wischen Geschirr spülen Arbeitsraum Café

6 nicht anstrengend

8‘ Arbeiten mit Chefin

11 nicht arbeiten 9 ausruhen 12 nicht konzentriert 8 essen

11 129

Rollen holen Kaleidoskop bestücken

8

1‘ kein Geschirr 8‘ nicht essen

9‘12‘ 11‘

1

9‘ lernen 12‘ konzentriert 6‘ anstrengend

10 nicht gut

4‘ laut

Holz schleifen Schnur schneiden

2 nicht entspannt

5‘

Pausenhof

10‘ gut Kassieren

1‘

Mittagessen Schule

1 Geschirr

7 unwohlfühlen

2‘ entspannt 11‘ arbeiten

Pause

4 ausruhen

7‘ wohlfühlen

Holz ölen 5

3‘ schwierig

Kiste holen mit Chefin

10

5‘ schmutzig

6‘ 3‘ Mittagessen

2

4‘

Arbeitsraum

7

Abbildung 10: Biplot – Lena | Interview 2

Dem Biplot lässt sich entnehmen, dass alle Quadranten belegt sind, was die Annahme der differenzierten und komplexen Sinnkonstruktion unterstreicht. Einige Verdichtungen von Elementen sind erkennbar, die auf eine einflussreiche Bedeutungszuweisung hindeuten. Es sind vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts, und 2 unten auszumachen. Lena hat wohl eine sehr klare Differenzierung von Arbeits- und Pausensituationen. In den beiden linken Quadranten sind ausschließlich pausenbezogenen Elemente zu finden; in den rechten verdichten sich Arbeitserfahrungen. Lena hat eine eindeutige Vorstellung davon, dass sich unterschiedliche Situationen in diesem Spannungsfeld befinden. Sie unterscheidet hier nicht zwischen der schulischen und der außerschulischen Arbeitssituation. Vermutlich konstruiert Lena auch zukünftige Arbeitskontexte in dem Spannungsfeld und unterscheidet Pausen von Arbeit. Lena weiß, wie sie in den unterschiedlichen Si-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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tuationen handeln kann. Sie kann dieses Wissen auf zukünftige Situationen übertragen und ihr Handeln anpassen. Komponente 1 links bezieht sich auf ›nicht arbeiten‹, ›nicht konzentriert‹, ›ausruhen‹, ›nicht anstrengend‹, ›essen‹, ›leicht‹, ›unwohlfühlen‹ und ›nicht gut‹. ›Sauber‹, ›Geschirr‹ und ›nicht entspannt‹ werden aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht einbezogen. Der Parameter umfasst ›Mittagessen Schule‹, ›Pause Schule‹, ›Pause (Praktikum)‹, ›Pausenhof‹ und ›Mittagessen (Praktikum)‹. Lena wendet die Konstruktion auf zwei schulische und eine außerschulische Arbeitserfahrung an und verbindet sie damit, nicht denken zu müssen. Sie kann wie in einer Pause handeln und muss sich nicht anstrengen. Diese Vermutung legen besonders die Pole ›nicht arbeiten‹, ›nicht konzentriert‹, ›ausruhen‹, ›nicht anstrengend‹ und ›leicht‹ bzw. deren Beschreibungen nahe. Lena verbindet das mit einer eher negativen Gefühlslage, was sich ›unwohlfühlen‹ und ›nicht gut‹ entnehmen lässt. Da sie die Komponente in beiden Arbeitskontexten nutzt, ist davon auszugehen, dass sie zukünftige Situationen so konstruiert. Lena wird wohl nicht kognitiv herausgefordert, für sie negativ. Es ist denkbar, dass sie die Pausen aufgrund der Unterforderung so wahrnimmt. Vermutlich ordnet sie Pausensituationen grundsätzlich so ein. Vielleicht ist Lena auch von den verschiedenen Möglichkeiten überfordert, wo, wie und mit wem sie ihre Pause verbringen kann. Sie hat keine klare Aufgabe und ist in der Gestaltung freier als beim Arbeiten – möglicherweise eine belastende Situation für sie. Mit Komponente 2 oben korrelieren ›wohlfühlen‹, ›entspannt‹, ›sauber‹, ›leicht‹, ›nicht anstrengend‹, ›ausruhen‹, ›gut‹ und ›nicht essen‹, wobei ›kein Geschirr‹, ›lernen‹, ›konzentriert‹ und ›arbeiten‹ aufgrund der Nähe zum Ursprung vernachlässigt werden. Lena konstruiert acht Elemente ›Pause Schule‹, ›Holz ölen‹, ›Tisch wischen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Kassieren‹, ›Arbeiten mit Chefin‹ und ›Pause (Praktikum)‹ inhaltlich damit. Das Element ›Mittagessen Schule‹ fließt nicht in die Betrachtungen ein. Die Komponente scheint rein quantitativ recht einflussreich, da sie sich auf acht von 17 Elementen bezieht. Darüber hinaus ist markant, dass sieben der acht Elemente aus dem schulischen, nur ein Element aus dem außerschulischen Arbeitskontext stammt. Das lässt vermuten, dass der Parameter nahezu ausschließlich für den schulischen Bereich zutrifft. Es ist fraglich, inwiefern zukünftige Arbeitskontexte durch die Komponente beeinflusst werden. Den Konstruktpolen ›wohlfühlen‹, ›entspannt‹, ›leicht‹, ›nicht anstrengend‹, ›sich ausruhen‹ und ›gut‹ ist die positive Konnotation gemeinsam. Lena empfindet wohl alle Situationen als angenehm und bringt sie mit persönlichem Wohlbefinden in Verbindung. Sie konstruiert die Schule wohl positiver als das Praktikum. Das kann an den Arbeitskolleg*innen, den Tätigkeiten, der Umgebung, den Vorgesetzten oder anderen Faktoren liegen. Vermutlich führen genau diese Aspekte des schulischen Be-

230

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

reichs zur positiven Sinnbildung. Der Parameter umfasst Pausen als auch Arbeit. Das verweist auf seine große Reichweite. Komponente 1 rechts wird von ›arbeiten‹, ›konzentriert‹, ›lernen‹, ›anstrengend‹, ›nicht essen‹, ›laut‹, ›schwierig‹, ›gut‹, ›wohlfühlen‹ und ›entspannt‹ beeinflusst. ›Kein Geschirr‹ und ›schmutzig‹ werden aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht betrachtet. Sie betrifft die sieben Elemente ›Kassieren‹, ›Arbeiten mit Chefin‹, ›Geschirr spülen‹, ›Rollen holen‹, ›Kaleidoskop bestücken‹, ›Kiste holen mit Chefin‹ und den ›Arbeitsraum (Praktikum)‹. ›Schnur schneiden‹ und ›Holz schleifen‹ korrelieren vernachlässigbar. Lena bezieht diese Sinnkonstruktion auf schulische sowie außerschulische Elemente. Den Polen ›arbeiten‹, ›konzentriert‹, ›lernen‹ und ›anstrengend‹ ist gemeinsam, dass sie denken muss, für sie herausfordernd und ›schwierig‹. Sie muss sich auf ihre Arbeit fokussieren und kognitiv anstrengen, um die Tätigkeiten auszuführen. Der Parameter hat für sie positive und herausfordernde Aspekte, wobei ihre Äußerungen eine leicht positive Konnotation nahe legen. Darauf deuten ›gut‹, ›wohlfühlen‹ und ›entspannt‹ hin. Es handelt sich bei der Komponente vermutlich ebenfalls um einen recht einflussreichen Parameter, da ihn Lena auf sieben der insgesamt 17 Elemente (Schule und Praktikum) bezieht. Die Komponente ist wohl auch in zukünftigen Arbeitssituationen dominant. Möglicherweise machen Lena kognitive Tätigkeiten (Arbeit) Spaß. Sie konstruiert keine Pausensituation derart, was auf die klare Trennung von Pausen und Arbeit hindeutet. Komponente 2 unten bezieht sich auf ›unwohlfühlen‹, ›nicht entspannt‹, ›laut‹, ›schwierig‹ ›nicht gut‹, ›schmutzig‹, ›anstrengend‹, und ›essen‹, wobei ›Geschirr‹, ›nicht arbeiten‹, ›konzentriert‹ und ›ausruhen‹ aufgrund der Nähe zum Ursprung ausgeklammert werden. Der Parameter steht mit sechs Elementen ›Holz schleifen‹, ›Schnur schneiden‹, ›Kiste holen‹, ›Arbeitsraum (Praktikum)‹, ›Pausenhof‹ und ›Mittagessen (Praktikum)‹ in Verbindung. Aufgrund der Nähe zum Ursprung werden ›Rollen holen‹ und ›Kaleidoskop bestücken‹ nicht weiter betrachtet. Vier der sechs Elemente beziehen sich auf Arbeitserfahrungen des Praktikums. Demzufolge ist begründet davon auszugehen, dass die Komponente größeren Einfluss auf die Konstruktion des Praktikums, als auf die Schule hat. Den Polen ›nicht gut‹, ›nicht entspannt‹, ›unwohlfühlen‹, ›laut‹, ›schwierig‹ und ›anstrengend‹ lässt sich entnehmen, dass etwas unangenehm, negativ ist. Das deutet darauf hin, dass sich Lena im Praktikum weniger wohl fühlt; wahrscheinlich ist die Trennung von ihren schulischen Freund*innen dafür zentral; die Arbeit im Praktikum ist, wie gezeigt, auch positiv konnotiert. Möglicherweise verarbeitet Lena durch das Praktikum den Ablöseprozess von der Schule, was das Praktikum negativ erscheinen lässt. Lena kann die Komponente wohl auf alle, auch zukünftige Arbeitssituationen anwenden und ihnen somit Sinn verleihen. Lena konstruiert die meisten der 17 Elemente im Spannungsfeld von zwei Komponenten; ihre Sinnzuweisungen sind komplex.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

231

Die Elemente ›Pause Praktikum‹ und ›Pause Schule‹ korrelieren damit, nicht denken zu müssen, was leicht negativ besetzt ist; allerdings sind sie auch positiv, mit Wohlbefinden konnotiert. Beide Parameter können für Lena auf eine Situation gleichzeitig zutreffen. Es ist begründet anzunehmen, dass sie auch zukünftige Pausen dahingehend konstruiert. Da ›nicht anstrengend‹ markant mit beiden Komponenten zusammenhängt, ist anzunehmen, dass sie bei Pausen keine Herausforderung oder Anstrengung wahrnimmt, für sie negativ oder positiv konnotiert. Das ordnet sie wohl je nach Situation unterschiedlich ein. Sie wendet die Sinnzuweisung auf Erfahrungen beider – wohl auch zukünftiger – Kontexte an. ›Geschirr spülen‹, ›Kassieren‹ und ›Arbeiten mit Chefin‹ bringt Lena mit Wohlbefinden und Denken in Zusammenhang, für sie positiv und angenehm. Die Verbindung trifft nur auf den schulischen Kontext zu; keine Praktikumserfahrung ist hier zu finden. Das unterstreicht die Vermutung, dass Lena das Praktikum eher negativ konstruiert und könnte, wie vermutet, mit Ablöseprozessen zusammenhängen. Möglicherweise hat sie Angst vor der nahenden Veränderung. Es ist zu fragen, ob die beiden Sinnkonstruktionen auf zukünftige Situationen oder ausschließlich auf die Schule zutreffen. Die Arbeitserfahrungen des Praktikums ›Kiste holen mit Chefin‹ und ›Arbeitsraum (Praktikum)‹, ›Rollen holen‹ und ›Kaleidoskop bestücken‹ und die schulischen Erfahrungen ›Holz schleifen‹ und ›Schnur schneiden‹ konstruiert Lena mit Denken, was für sie außerdem eher negativ und unangenehm konnotiert ist. Situationen, in denen sie kognitiv gefordert ist, können positiv oder negativ sein. Möglicherweise sind im Praktikum die Anforderungen höher und die Situationen für Lena anstrengender als in der Schule. Vielleicht profitiert sie in der Schule auch davon, dass ihr Abläufe und Strukturen vertrauter sind. Da sie die Komponenten auf Erfahrungen in der Schule und im Praktikum anwendet, ist davon auszugehen, dass sie auch auf zukünftige Situationen zutreffen; vermutlich meist in Kontexten, die ihr unbekannt sind. Lena erlebt Anstrengung und Herausforderung wohl mit negativen Gefühlen. Womöglich sind solche negativen Arbeitskontexte wie das Praktikum weniger erstrebenswert für Lena. Für Lena gibt es zwei Elemente ›Pausenhof‹ und ›Mittagessen (Praktikum)‹, die sie damit in Verbindung bringt, nicht denken zu müssen; sie nimmt sie negativ und unangenehm wahr. Kognitive Entspannung und Unwohlsein kann für sie gleichermaßen auf eine Situation zutreffen. Lena konstruiert die Schule, das Praktikum und wohl auch zukünftige Kontexte derart. Ihre Sinnzuweisung kann unterschiedliche Ursachen haben; möglicherweise ist sie von den vielfältigen Optionen, ihre Pause zu verbringen, überfordert.

232

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Vergleichende Interpretation der beiden Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte Interview I Arbeiten – nicht arbeiten

Interview II Arbeiten – nicht arbeiten

nicht gut – gut Konzentrieren – nicht konzentrieren

Pause – Arbeiten Nicht anstrengend – anstrengend

Nichts essen – essen Kein Geschirr – Geschirr

Essen – nicht essen Sauber – schmutzig

Ausruhen – laut Sich gut fühlen – sich schlecht fühlen

Schwierig – leicht Wohlfühlen – unwohlfühlen

Ausruhen – lernen Entspannt – nicht entspannt

Lena äußert in beiden Interviews drei Konstrukte identisch, beschreibt oder erklärt sie gleich. Die drei Konstrukte sind wohl besonders stabil und relevant. Demzufolge ist anzunehmen, dass sie auch zukünftige Arbeitskontexte anhand der Sinnzuweisungen konstruiert. Markant ist, dass sie beim zweiten Interview vier der sieben Konstrukte äußert. Das Praktikum, so die Vermutung, hat eher mäßigen Einfluss auf Lenas Konstruktion. Interview I Arbeiten – nicht arbeiten

Interview II Arbeiten – nicht arbeiten

Nichts essen – essen

Pause – Arbeiten Essen – nicht essen

Sich gut fühlen – sich schlecht fühlen

Wohlfühlen – unwohlfühlen

In beiden Interviews äußert Lena beschreibende, wertende und selbstreflexive Konstrukte. Beschreibende Konstrukte Interview I Arbeiten – nicht arbeiten

Interview II Arbeiten – nicht arbeiten

Nichts essen – essen Kein Geschirr – Geschirr

Essen – nicht essen Sauber – schmutzig

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

233

Wertende Konstrukte Interview I Konzentrieren – nicht konzentrieren

Interview II Schwierig – leicht

Selbstreflexive Konstrukte Interview I Gut – schlecht

Interview II Nicht anstrengend – anstrengend

Ausruhen – laut Sich gut fühlen – sich schlecht fühlen

Wohlfühlen – unwohlfühlen

Ausruhen – lernen Entspannt – nicht entspannt

Lena bringt in beiden Interviewsituationen besonders viele beschreibende und selbstreflexive Konstrukte hervor. Es ist davon auszugehen, dass sie auch in zukünftigen Arbeitssituationen hauptsächlich die beiden Kategorien nutzt, um Erfahrungen mit Sinn zu versehen. Im ersten Interview äußert sie drei beschreibende, ein wertendes und fünf selbstreflexive Konstrukte; im zweiten Interview ebenfalls drei beschreibende, ebenfalls ein wertendes und zwei selbstreflexive Sinnzuweisungen. Wie erwähnt, nutzt sie im zweiten Interview drei neue Konstrukte, die über die erste Befragung hinaus gehen. Das Praktikum hat bedingt Einfluss auf ihre Sinnzuweisungen. Im ersten Interview verwendet sie vor allem selbstreflexive Konstrukte; daher ist davon auszugehen, dass für sie der eigene Bezug zu den jeweiligen Erfahrungen relevant ist. Im zweiten Interview äußert sie nicht mehr so viele neue selbstreflexive Konstrukte. Möglicherweise sieht sich Lena eher in einer distanzierteren Haltung zu ihrem Praktikum, so dass sie es weniger selbstreflexiv konstuiert. Es ist vorstellbar, dass die Konstrukte ›entspannt – nicht entspannt‹ und › nicht anstrengend – anstrengend‹ für Lena inhaltlich miteinander zusammenhängen. Im ersten Interview wendet sie das Konstrukte eher auf Situationen mit anderen Personen an, während sie es in der zweiten Befragung auf Arbeit bezieht. Zunächst stehen wohl Beziehungen, vermutlich zu Freund*innen, im Vordergrund, was sich durch das Praktikum verändert. Wie vermutet, kann Lena alle Konstrukte aus beiden Interviews auf alle Erfahrungen anwenden. In beiden Gesprächen wendet Lena bspw. das Konstrukt ›ausruhen – lernen‹ oder auch ›arbeiten – nicht arbeiten‹ sehr differenziert auf alle Elemente an. Daraus lässt sich ableiten, dass sie eine sehr genaue Vorstellung der unterschiedlichen Situationen und Anforderungen an ihr Handeln besitzt. Die Vermutung des ersten Interviews lässt sich bestätigen. Eine Korrelation der beiden Kostruktpole ›gut‹ und ›lernen‹ wie sie nach der ersten Erhebung wohl vorliegt, zeigt sich nicht mehr signifikant. Im zweiten Interview verwendet sie das

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Konstrukt ›gut – schlecht‹ weniger markant als im ersten Interview; das lässt sich auf eine neutrale bzw. differenziertere Sicht auf beide Arbeitskontexte schließen. Vermutlich erlangt sie durch das Praktikum eine differenziertere Sicht. Vergleich der computergestützten Auswertung Bei beiden Interviews lassen sich jeweils vier Komponenten ausmachen, die Lenas Sinnzuweisungen strukturieren. Der obigen Gegenüberstellung lässt sich entnehmen, dass es für Lena zwei Sinnkonstruktionen gibt, die vor und nach dem Praktikum eine einflussreiche Rolle besitzen. Es gibt Situationen, die sie mit Denken, also kognitiven Tätigkeiten, in Verbindung bringt, wobei sie den Parameter sowohl vor und nach dem Praktikum mit nahezu den gleichen Konstruktpolen in Bezug setzt. Nach dem Praktikum bringt Lena zusätzliche Aspekte mit dem Parameter in Verbindung, die ihn inhaltlich aber nicht verändern. Vor und nach dem Praktikum ist er eher positiv besetzt und mit Wohlbefinden konnotiert. Die Komponente erscheint besonders stabil und relevant. Es ist anzunehmen, dass sich seine Reichweite durch das Praktikum vergrößert. Aufgrund der Stabilität ist zu vermuten, dass Lena auch zukünftige Situationen mit der Komponente mit Sinn versieht. Beim ersten Interview trifft sie auf sechs Elemente zu, was für ihre Dominanz spricht; beim zweiten Interview sind es sieben Elemente, was die Annahme unterstreicht. Der Parameter zeigt sich für beide Arbeitskontexten relevant. Einige Elemente konstruiert sie vor und nach dem Praktikum mit der Sinnzuweisung; bei anderen Elementen ist nach dem Praktikum keine Korrelation mehr erkennbar. Dafür können verschiedene Hypothesen aufgestellt werden; zum einen ist es möglich, dass Lena während des Praktikums eher andere Tätigkeiten damit verbindet, weil sie die neuen Erfahrungen stärker damit verknüpft, denken zu müssen als die älteren Situationen. Möglicherweise erhält Lena im Praktikum eine andere, erweiterte Vorstellung von Denken, so dass einige schulische Arbeitssituationen für sie nicht mehr damit zusammenhängen. Möglich ist auch, dass sie die Tätigkeiten bei der zweiten Befragung, beeinflusst durch das Praktikum, eher anders konstruiert. Vielleicht erlebt sich Lena im Praktikum stärker kognitiv gefordert, sodass die Komponente durch die neuen Erfahrungen weniger stark auf die Schule zutrifft. Für die Vermutung spricht, dass vier der sieben korrelierenden Elemente außerschulisch, nur drei schulisch sind. Gegenteilig davon konstruiert Lena einige Arbeitserfahrungen mit der Komponente nicht denken. Auch mit der Sinnzuweisung verbindet Lena vor und nach dem Praktikum die gleichen Konstruktpole. Nach dem Praktikum bringt sie zusätzlich den Pol ›essen‹ damit in Zusammenhang. Weiterhin konstruiert sie damit Pausen. Die schulische Arbeitssituation mit ihrer Chefin verbindet sie nach dem Praktikum nicht mehr damit. In dieser Situation arbeitet Lena, sie hat eigentlich keine Pause. Nach dem Praktikum ist die Komponente negativ kon-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

235

notiert; es lässt sich begründet vermuten, dass sie in Pausen des Praktikums Erfahrungen gemacht hat, welche die Situationen negativer werden lassen; das überträgt sie wohl auf die Schule. Möglichweise greift der Parameter deshalb nicht mehr für die Erfahrung mit der Chefin, da sie zu positiv ist. Lena verbindet vor und nach dem Praktikum alle Pausen, wohl auch zukünftige, mit der Komponente. Sie scheint stabil und relevant. Im ersten Interview bringt Lena ›nicht entspannt‹, ›laut‹ und ›sich schlecht fühlen‹ mit vielen Personen in Verbindung, für sie negativ besetzt und auf drei Elemente anzuwenden. Nach dem Praktikum beeinflussen die drei Pole und zusätzliche Situationen, die für sie unangenehm und negativ sind. Der Fokus – vor dem Praktikum noch auf vielen Personen – verschiebt sich, so dass sie die Komponente stärker selbstreflexiv anwendet. Lediglich ein Element, das Lena vor dem Praktikum damit in Verbindung bringt, ›Pausenhof‹ konstruiert sie auch danach damit. Die Komponente ist beim zweiten Interview negativer gefärbt als davor. Alle negativen Konstruktpole verdichten sich hier. Lena nimmt ihr Praktikum wohl intensiv negativ wahr. Die Ballung der außerschulischen Arbeitssituationen unterstreicht die Vermutung. Sie sieht die Schule, wohl im Kontrast zum Praktikum, insgesamt positiver. Gegenteilig dazu konstruiert Lena vor und nach dem Praktikum ›ausruhen‹, ›entspannt‹ und ›sich gut fühlen‹ positiv. Vor dem Praktikum beeinflussen die Pole die Komponente Ruhe und Zeit mit Freund*innen verbringen. Nach dem Praktikum stehen die Sinnzuweisungen, mit weiteren Aspekten in Zusammenhang, mit Wohlbefinden und angenehmen Gefühlen. Beide Komponenten korrelieren wohl; vor und nach dem Praktikum verbindet Lena ähnliche Elemente damit. Nach dem Praktikum konstruiert sie eine weitere schulische und eine außerschulische Erfahrung damit. Auch lässt sich beobachten, dass sich der Fokus zugunsten eines stärker selbstreflexiven Bezugs verändert. Aufgrund der Verdichtung der Elemente ist begründet anzunehmen, dass die Komponente vor allem für schulische Arbeit einflussreich ist. Nach dem Praktikum befinden sich hier mehr Situationen aus der Schule. Möglicherweise nimmt Lena Schule durch das stärker negativ geprägte Praktikum, in Relation dazu, positiver wahr. Es bleibt fraglich, inwiefern sie die Komponente auf zukünftige Situationen anwendet, da sie sie wohl mit dem Ablöseprozess von der Schule verbindet. Im ersten Interview zeigt sich eine Ballung der Elemente im Spannungsfeld denken bzw. wohlfühlen und in Ruhe Zeit mit Freund*innen verbringen. Lena konstruiert hier vier der insgesamt zehn Erfahrungen bzw. insgesamt sieben Arbeitserfahrungen. Beide Parameter sind positiv. Auch im zweiten Interview zeigt sich ihre klare Vorstellung von Pause und Arbeiten. Das unterstreicht vermutete Dominanz dieser Sinnkonstruktion. Besonders markant ist im zweiten Interview die Verdichtung der Elemente, die Lena in den Zusammenhang mit Denken und unangenehmen Gefühlen

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

bringt. Hier konstruiert sie vier außerschulische und zwei schulische Arbeitserfahrungen, bringt tendenziell das Praktikum damit in Verbindung. Drei schulische Arbeitserfahrungen konstruiert sie mit positiven Aspekten, Wohlfühlen und Denken. In dem Spannungsfeld befindet sich keine außerschulische Arbeitserfahrung, was die Vermutung stützt, dass Lena das Praktikum negativ einschätzt. Die schulische Arbeitserfahrung ›Kassieren‹ verbindet sie davor mit der negativen Komponente viele anderen Personen, nach dem Praktikum sind keine negativen Zuweisungen mehr erkennbar. Lena konstruiert Schule wohl nach dem Praktikum positiver. 4.3.1.3 Annika Interview I Annika arbeitet in der Schule für einen Schenkmarkt, der Sachspenden sammelt, inventarisiert und dann an Schüler*innen der Schule verschenkt. Zu den schulischen Elementen in ersten Interview gehören: ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›am Computer schreiben‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Mittagessen‹, ›Kiste anmalen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Thema Müll‹, ›Formen zeichnen‹. Handauswertung Annika äußerte im ersten Interview elf verschiedene Konstrukte, mit denen sie ihre Erfahrungen strukturiert.1215 Es gelingt ihr, alle Pole differenziert zu erklären und mit Beispielen zu versehen. Sie wendet alle Sinnzuweisungen auf alle Situationen an. Vermutlich kann sie die Sinnzuweisungen auch auf andere Arbeitskontexte übertragen, da sie wohl eine große Reichweite haben. Es fällt auf, dass sie die Rankingskala differenziert ausnutzt und den Elementen präzise Abstufungen zuweist. Sie äußert beschreibende, bewertende und selbstreflexive Konstrukte. So schildert bspw. ›am Tisch sitzen – stehen‹ beschreibend. Andere Konstrukte nutzt sie wertend, so bspw. ›Kollegen – Freunde‹. Weitere Konstrukte, wie z. B. ›schön – langweilig‹, lassen sich selbstreflexiv deuten. Alle Sinnzuweisungen liegen dichotom vor. Die beiden Konstrukte ›arbeiten – chillen‹ und ›arbeiten – nichts tun‹ wirken ähnlich. Jedoch beschreibt Annika die Konstruktpole unterschiedlich und wendet die Konstrukte voneinander abweichend auf die Erfahrungen an; es ist anzunehmen, dass es sich um zwei unterschiedliche Konstrukte handelt bzw. ein Konstrukt mit zwei Konstrastpolen. Sie verbindet ›nichts tun‹ damit, sich ausruhen zu können und sich zu entspannen. ›Chillen‹ ist für sie mit anderen Personen verbunden, mit denen sie in solchen Situationen reden, lachen und Spaß 1215 Alle folgenden Darstellungen und Interpretationen lassen sich mit den Darstellungen zu den persönlichen Konstrukten und Erklärungen, Anhang, Kapitel 7.5 und 7.6 belegen.

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Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Formen zeichnen

Thema Müll

Arbeitsraum Schule

Kiste anmalen

Mittagessen

Arbeiten mit Chef

Am Computer schreiben

Pause Schule

Pausenhof

haben kann. Erhebung und Auswertung behandelt beide Konstrukte separat. Diese feinen Unterschiede lassen darauf schließen, dass Annika eine sehr genaue Vorstellung davon besitzt, welche Situationen sie mit Arbeit und welche sie mit ›nichts tun‹ oder ›chillen‹ verbindet. Es ist anzunehmen, dass die Konstrukte einflussreich sind. Sie hat wohl eine präzise Vorstellung, wie sie in unterschiedlichen Situationen handeln kann.

Nichts reden

Reden

Schön

langweilig

Macht Spaß

Macht keinen Spaß

Schreiben

Nichts schreiben

Am Tisch sitzen

Stehen

Mit der Hand etwas machen

Nichts mit der Hand machen

Kollegen

Freunde

Am Computer arbeiten

Nicht am Computer arbeiten

Arbeiten

Nichts zu tun

Nichts essen

Essen

Arbeiten

Chillen

Abbildung 11: Elemente und persönliche Konstrukte – Annika | Interview 1

Den beiden selbstreflexiven persönlichen Konstrukten ›schön – langweilig‹ und ›macht Spaß – macht keinen Spaß‹ ist zu entnehmen, dass Annika Situationen in Bezug auf eigene Befindlichkeiten beurteilen kann. Sie bewertet ›schön‹ und ›macht Spaß‹ positiv und als erstrebenswert, ›keinen Spaß machen‹ und ›langweilig‹ negativ. Vier der insgesamt neun verschiedenen Situationen nimmt sie schön/eher schön, fünf langweilig/eher langweilig wahr. Annika besitzt wohl eine neutral-differenzierte Sicht auf Schule. Vier der sechs Situationen wertet sie langweilig; sie ordnet den Arbeitskontext vermutlich eher langweilig und negativ ein. Von den drei Pausensituationen sind zwei eher schön und positiv. Mit Spaß

238

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

konstruiert Annika drei Elemente, drei neutral und drei mit keinem Spaß. Davon ist abzuleiten, dass sie eine neutrale Sichtweise auf den Kontext, so auch einen Zukünftigen, besitzt. Computergestützte Auswertung mit GridSuite Am Computer schreiben Arbeiten mit Chef 8

4

3 2

4 schreiben

2 schön

8 am Computer arbeiten

3 macht Spaß

5

7‘ Freunde

10 nichts essen 5 am Tisch sitzen 7 Kollegen 6 mit der Hand etwas machen 11 arbeiten 9 arbeiten

Mittagessen 1‘ 1110 9

Arbeitsraum Schule

11‘ Chefin 7‘

7

9‘ 11‘ 10‘ Pause Schule

6‘ 1 Formen zeichnen

6‘ nichts mit der Hand machen 10‘ essen 5‘ stehen

1 nichts reden 3‘ macht keinen Spaß

1‘ reden 9‘ nichts zu tun

6

8‘ nicht am Computer arbeiten

Thema Müll 5‘

2‘ langweilig

Kiste anmalen 2‘ 3‘

8‘

4‘ nichts schreiben

4‘

Pausenhof

Abbildung 12: Biplot – Annika | Interview 1

Annika konstruiert die vergangenen Erfahrungen der Schule mit vier markanten Komponenten, die unterschiedliche Reichweiten haben. Alle vier Quadranten sind mit Situationen belegt, was auf eine differenzierte Sicht hinweist. Es lassen sich Verdichtungen erkennen, die darauf hindeuten, dass Annika einige Situationen ähnlich konstruiert. Besonders markant ist, dass in beiden rechten Quadranten nur Pausensituationen zu finden sind; in beiden linken Quadranten befinden sich ausschließlich Arbeitserfahrungen. Das unterstreicht die Hypothese, dass sie eine klare Vorstellung davon hat, welche Erfahrungen sie mit einer Pause oder mit Arbeit verbindet. Es ist begründet anzunehmen, dass Annika zukünftige Arbeits- und Pausensituationen innerhalb dieses Spannungsfelds einordnet. Komponente 1 links bezieht sich auf ›arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›nichts essen‹, ›Kollegen‹, ›schreiben‹, ›nichts reden‹, ›am Computer arbeiten‹, ›am Tisch sitzen‹, ›mit der Hand etwas machen‹, ›macht keinen Spaß‹ und ›langweilig‹. Der Parameter umfasst ›Arbeitsraum Schule‹, ›Formen zeichnen‹, ›Thema Müll‹, ›Kiste anmalen‹, ›Arbeiten mit Chef‹ und ›am Computer schreiben‹. Den Zuschreibungen und Erklärungen lässt sich entnehmen, dass sie den Parameter mit körperlichem Arbeiten und anderen Personen verbindet, für sie eher negativ; so

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

239

bezieht sich der Parameter darauf, was ›keinen Spaß‹ macht und ›langweilig‹ ist. Personen, mit denen Annika arbeitet, also andere Schüler*innen oder Lehrerkräfte, bezeichnet sie als ›Kollegen‹. Sie wendet den Parameter auf alle sechs Arbeitssituationen an, wobei alle ähnlich hoch korrelieren. Es handelt sich wohl um eine – auch zukünftig – einflussreiche Komponente. Komponente 2 oben umfasst ›schön‹, ›macht Spaß‹, ›am Computer arbeiten‹, ›schreiben‹, ›am Tisch sitzen‹, ›mit der Hand etwas machen‹, ›reden‹, ›nichts essen‹ und ›arbeiten‹. ›Freunde‹ und ›nichts zu tun haben‹ korrelieren aufgrund ihrer Nähe zum Ursprung vernachlässigbar. Annika wendet verbindet damit ›am Computer schreiben‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Mittagessen‹ und ›Arbeitsraum Schule‹, wobei ›Computer schreiben‹ und ›Arbeiten mit Chef‹ besonders markant konstruiert werden. Für Annika sind die Erfahrungen positiv, sie ist motiviert; so grenzt sie die Elemente von den anderen drei Arbeitserfahrungen ab und verbindet sie mit ›schön‹ und ›Spaß‹. Die positive Konstruktion, die für Annika mit Motivation zusammenhängt, bezieht sich für sie auf Arbeit und ›Mittagessen‹, was eher einer Pause zuzuordnen ist. Sie wendet die Komponente überwiegend auf Arbeitserfahrungen an, allerdings sind für sie auch Pausen denkbar. Hier überwiegen Situationen, in denen sie alleine oder mit ihrem Vorgesetzten arbeitet. Vermutlich sind diese Arbeitsbedingungen für sie erstrebenswert. Möglicherweise arbeitet sie mit anderen Schüler*innen weniger gerne zusammen. Die Komponente umfasst vier Situationen und erscheint einflussreich. Komponente 1 rechts bezieht sich auf ›essen‹, ›chillen‹, ›nichts tun‹, ›Freunde‹, ›reden‹, ›nichts schreiben‹, ›stehen‹, ›nicht am Computer arbeiten‹, ›nichts mit der Hand machen‹, ›schön‹ und ›macht Spaß‹. Der Parameter steht für Annika in Verbindung mit ›Pause Schule‹, ›Mittagessen‹ und ›Pausenhof‹, wobei sie die beiden erst genannten Erfahrungen besonders damit verbindet. Den Konstruktpolen ›essen‹, ›chillen‹, ›nichts tun‹, ›reden‹, ›nichts am Computer arbeiten‹, ›nichts mit der Hand machen‹ sowie den Beschreibungen lässt sich entnehmen, dass sie darunter Ausruhen vom Arbeiten konstruiert. Ihre Pause verbringt sie mit anderen Personen, für sie positiv, mit ›Spaß‹ und ›schön‹ verbunden. Sie genießt wohl die freie Zeit mit Freund*innen. Das trifft nur auf Pausen (vermutlich auch Zukünftige) zu. Komponente 2 unten umfasst ›langweilig‹, ›macht keinen Spaß‹, ›nicht am Computer arbeiten‹, ›nichts schreiben‹, ›stehen‹, ›nichts reden‹, ›nichts mit der Hand machen‹, ›chillen‹ und ›essen‹. ›Kollegen‹ wird aufgrund seiner Nähe zum Ursprung nicht weiter berücksichtigt. Annika bezieht ihn auf ›Kiste anmalen‹, ›Pausenhof‹, ›Thema Müll‹, ›Formen zeichnen‹ und ›Pause Schule‹, Erfahrungen, die für sie negativ besetzt sind und für die sie keine oder wenig Motivation aufbringt. Das lässt sich bspw. den Konstruktpolen ›langweilig‹ und ›macht keinen Spaß‹ entnehmen, die sehr einflussreich sind. Sie schildert die Komponente passiv, worauf die Konstruktpole ›nicht am Computer arbeiten‹, ›nichts

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

schreiben‹, ›stehen‹, ›nichts reden‹ und ›nichts mit der Hand machen‹ hinweisen. Möglicherweise sprechen Annika die Tätigkeiten weniger an. Mit dem Parameter bringt sie fünf der neun Erfahrungen in Verbindung; die Komponente ist wohl zentral für ihr Erleben. Sie konstruiert hier drei Arbeits- und zwei Pausenerfahrungen, was auf eine umfassende Reichweite hindeutet. Einige der Erfahrungen stehen für Annika im Zusammenhang mit zwei Komponenten. Manche Elemente korrelieren stärker mit einem Parameter, andere sind eher im Spannungsfeld zweier Aspekte zu interpretieren. Die Beobachtung unterstreicht die Vermutung, dass sie Erfahrungen differenziert einordnet. Es gibt drei Elemente, die Annika mit Arbeiten und anderen Personen in Verbindung bringt, für sie negativ. Auf der anderen Seite konstruiert sie die Erfahrungen positiv, mit Motivation. Der ›Arbeitsraum Schule‹ korreliert für Annika stärker mit dem negativ besetzten Arbeiten mit anderen Personen, während sie ›am Computer schreiben‹ und ›Arbeiten mit Chef‹ auf Motivation und etwas Positives bezieht. Situationen in diesem Spannungsfeld sind für sie denkbar. Es ist davon auszugehen, dass sie weitere Arbeitserfahrungen so konstruiert. Möglicherweise stellt sich ihre Motivation erst beim Arbeiten ein oder verschwindet während der Arbeit. Motivation ist wohl kein stabiler Faktor für Arbeit. Das unterstreicht die Vermutung, dass sie mit Mitschüler*innen eher weniger gerne arbeitet. Das ›Mittagessen‹ korreliert für Annika stark damit, dass sie sich mit anderen Personen ausruhen kann. Die Erfahrung ist auch mit Motivation verbunden. Beide Parameter sind positiv. Das Spannungsfeld bezieht sie nur auf eine Situation, wobei diese eher polarisiert. Es ist daher davon auszugehen, dass die beiden Aspekte selten gleichzeitig wirksam sind und sie zukünftige Erfahrungen weniger hier verortet. Das schulische Mittagessen ist für Annika eine grundsätzlich positiv gerahmte und erstrebenswerte Situation. Möglicherweise trifft das auch auf zukünftige Situationen zu. ›Pause‹ und ›Pausenhof‹ konstruiert Annika mit Ausruhen mit anderen Personen, was sie positiv wahrnimmt, aber auch mit wenig oder keiner Motivation, für sie eher negativ. Das Spannungsfeld ist für Annika nur für Pausensituationen (hier zwei von drei) wirksam. Möglicherweise sind Pausen für Annika nicht grundsätzlich erholsam und entspannt, sondern auch mit negativen Aspekten besetzt. Vielleicht macht sie in Pausen negative Erfahrungen, wie bspw. Auseinandersetzungen mit anderen Mitschüler*innen, obwohl sie sich eigentlich mit Freund*innen ausruhen möchte. Die Umstände wirken sich wohl negativ auf eine Pause aus. Es ist davon auszugehen, dass sie auch weitere Pausensituationen derart konstruiert ›Formen zeichnen‹, ›Thema Müll‹ und ›Kiste anmalen‹ konstruiert Annika grundsätzlich negativ, im Spannungsfeld Arbeiten mit anderen Personen und

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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keine oder wenig Motivation. Drei der sechs Situationen nimmt sie vollkommen negativ wahr. Es ist vorstellbar, dass die Tätigkeiten für sie nicht motivierend sind. Möglicherweise hängt das mit den Arbeitsaufträgen an sich, anderen Schüler*innen oder weiteren Faktoren zusammen. Vermutlich ist die Konstruktion einflussreich und auch zukünftig relevant Für Annika gibt es fünf Erfahrungen, bei denen sie positive und negative Aspekte wahrnimmt, drei Erfahrungen, die sie grundsätzlich negativ konstruiert und eine Erfahrung, die vollständig positiv besetzt ist. Die Schule ist für sie leicht negativ besetzt. Interview II Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das zweite Interview nach dem Praktikum. Annika absolviert ihr Orientierungspraktikum in einem Cafébetrieb, der strukturell zu einer WfbM gehört, allerdings ausgelagert ist. Annika arbeitet überwiegend im hauswirtschaftlichen Bereich, bspw. im Service oder im Wäschedienst. Schulische Elemente: ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›am Computer schreiben‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Mittagessen‹, ›Kiste anmalen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Thema Müll‹, ›Formen zeichnen‹. Außerschulische Elemente: ›Kartons tragen‹, ›Pause Arbeiten‹, ›Mittagessen Arbeiten‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Wäsche aus Waschmaschine holen‹, ›Arbeiten mit Chef Arbeiten‹, ›Geschirr abtrocknen‹, ›Bügeln‹. Konstrukte der ersten Befragung: ›nichts reden – reden‹, ›schön – langweilig‹, ›macht Spaß – macht keinen Spaß‹, ›schreiben – nicht schreiben‹, ›am Tisch sitzen – stehen‹, ›mit der Hand etwas machen – nichts mit der Hand machen‹, ›Kollegen – Freunde‹, ›am Computer arbeiten – nicht am Computer arbeiten‹, ›arbeiten – nichts zu tun‹, ›nichts essen – essen‹, ›arbeiten – chillen‹. Konstrukte des zweiten Interviews: ›Arbeitsaufträge von anderen Personen – Arbeitsaufträge vom Chef‹, ›draußen – drinnen‹, ›alleine – zusammen‹, ›zusammen arbeiten – alleine arbeiten‹, ›lernen – nicht lernen‹, ›gut – schlecht‹, ›schwere Sachen tragen – leichte Sachen tragen‹. Im ersten und zweiten Interview äußert Annika einige Konstrukte identisch. ›Arbeiten – nichts tun (›Pause – arbeiten‹)‹ und ›Kollegen Freunde (›Freunde – Kollegen‹)‹ sind für Annikas Sinnkonstruktion, so die Vermutung, stabil und einflussreich. Es ist anzunehmen, dass die beiden Konstrukte auch in weiteren Arbeitskontexten relevant sind.

242

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Bügeln

Kiste anmalen

Geschirr abtrocknen

Arbeit mit Chef Arbeiten

Wäsche aus Waschmaschine holen

Arbeitsraum Arbeiten

Thema Müll

Formen zeichnen

Mittagessen Arbeiten

Pause Arbeiten

Mittagessen Schule

Kartons tragen

Arbeitsraum Schule

Pause Schule

Pausenhof

Arbeiten mit Lehrer am Computer

Am Computer schreiben

Handauswertung

Arbeiten

Nichts tun

Arbeitsaufträge von anderen

Arbeitsaufträge vom Chef

Draußen

Drinnen

Essen

Nicht essen

Pause

Arbeiten

Alleine

Zusammen

Am Computer arbeiten Am Tisch sitzen Zusammen arbeiten Mit der Hand etwas machen

Nicht am Computer …

Macht Spaß Schreiben

Stehen Alleine arbeiten Nichts mit der Hand machen Macht keinen Spaß Nicht schreiben

Lernen

Nicht lernen

Nicht reden

Reden

Schön

Langweilig

Kollegen

Freunde

Gut

Schlecht

Schwere Sachen tragen

Leichte Sachen tragen

Abbildung 13: Elemente und persönliche Konstrukte – Annika | Interview 2

Annika äußert sieben neue dichotome Konstrukte. Sie beschreibt ihre Sinnzuweisungen und findet Beispiele dafür, indem sie feine Unterschiede nutzt. Annika verwendet bspw. die beiden Konstrukte ›alleine – zusammen‹ und ›zusammen arbeiten – alleine arbeiten‹, hinter denen sich nur ein Konstrukt (›alleine – zusammen‹) verbergen könnte. Die Beschreibungen zeigen, dass sie mit ›alleine – zusammen‹ auch andere Situationen konstruiert, die sich nicht nur auf Arbeit beziehen, wohingegen sie mit ›zusammen arbeiten – alleine arbeiten‹ dezidiert Arbeit verbindet. Das Ranking zeigt, dass Annika beide Konstrukte nicht identisch auf ihre Erfahrungen anwendet, was die Hypothese, dass zwei unterschiedliche Konstrukte vorliegen, unterstreicht. Beide Sinnzuweisungen

243

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

sind im Folgenden getrennt voneinander zu betrachten. Es gelingt Annika, alle persönlichen Konstrukte mit allen Elementen in Bezug zu bringen sowie alle Elemente anhand der Ranking-Skala zu bewerten. Dabei fällt, wie beim ersten Interview auf, dass sie differenzierte Abstufungen vornimmt; sie nutzt die fünfstufige Ranking-Skala aus. Die Konstrukte lassen sich drei Kategorien zuordnen. Zu den beschreibenden Konstrukten zählen bspw. ›draußen – drinnen‹, wertend äußert sie unter anderem ›lernen – nicht lernen‹, selbstreflexiv verwendet sie bspw. ›gut – schlecht‹. Am selbstreflexiven Konstrukt ›gut – schlecht‹ lässt sich erkennen, inwiefern sie verschiedene Situationen positiv oder negativ sieht. Von den insgesamt 17 Erfahrungen konstruiert sie fünf (eher) gut, weitere fünf neutral und sieben (eher) negativ. Das führt zur Vermutung, dass sie beide Arbeitskontexte differenziert und eher negativ konstruiert. Ihre eher negative Konstruktion der Schule festigt sich möglicherweise durch Erfahrungen während des Praktikums; eine Vermutung, die in den weiteren Betrachtungen berücksichtigt wird. Computergestützte Auswertung mit GridSuite 8‘ stehen

3 draußen

4‘ nicht essen

2 Arbeitsaufträge von anderen

17‘ schlecht

1‘ nichts tun 17‘

11‘ macht keinen Spaß 15‘ langweilig 1 arbeiten 18‘ leichte Sachen tragen 9‘ alleine arbeiten 10 mit der Hand etwas machen 16 Kollegen 7 am Computer arbeiten

14

4‘ 1

13‘ 15‘ 8‘ 11‘ 16‘ 12‘ Wäsche aus Waschmaschine holen Kartons tragen Geschirr abtrocknen Arbeitsraum Schule 10‘ Arbeit mit Chef 2 Arbeitsraum Arbeiten Thema Müll 6‘ 3‘ Kiste anmalen9 18‘ Bügeln Formen zeichnen

5‘ 3‘

9‘

6

5‘ Arbeiten

2‘

9 zusammen arbeiten 5 Pause Schule 1

18 schwere Sachen tragen 14‘ reden 15 schön 11 macht Spaß 17 gut

10

8 am Tisch sitzen 15 8 11

5 Pause 12‘ nicht schreiben

7 17

4 essen 6‘ zusammen

13 lernen 14 nicht reden

18‘ Freunde 10‘ nichts mit der Hand machen

4 Pause Arbeiten 14‘

18

12 1316

6 alleine 12 schreiben

Pausenhof

Mittagessen Arbeiten Mittagessen Schule

2‘ Arbeitsaufträge vom Chef 3‘ drinnen

7‘ nicht am Computer arbeiten

7‘

Am Computer arbeiten Arbeiten mit Lehrer

13‘ nicht lernen

Abbildung 14: Biplot – Annika | Interview 2

Auch die Biplot Darstellung unterstreicht die Vermutung, dass Annika beide Arbeitskontexte differenziert wahrnimmt; so sind alle Quadranten mit mindestens zwei Erfahrungen belegt. Im Quadranten links oben zeigt sich eine markante Verdichtung mit zehn der insgesamt 17 Erfahrungen, die sehr relevant erscheint. Einige Elemente korrelieren stark mit einer oder zwei Komponenten, andere eher mit einer Sinnzuweisung. Auch zeigt sich, dass sich in den linken Quadranten nur

244

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Arbeitserfahrungen befinden, in den rechten Quadranten ausschließlich Pausensituationen. Annika trennt auch nach dem Praktikum Arbeit grundsätzlich von Pause. Sie kennt Unterschiede für beide Aspekte und kann entsprechend handeln; so wohl auch in künfigen Arbeitskontexten. Komponente 1 links bezieht sich auf ›nichts essen‹, ›arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›nicht reden‹, ›drinnen‹, ›schreiben‹, ›Kollegen‹, ›lernen‹, ›alleine‹, ›stehen‹, ›langweilig‹, ›am Computer arbeiten‹, ›Arbeitsaufträge von andere Personen‹, ›schlecht‹ und ›macht keinen Spaß‹. ›Leichte Sachen tragen‹, ›alleine arbeiten‹ und ›mit der Hand etwas machen‹ werden aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht einbezogen. Den Sinnzusammenhang bringt Annika mit ›am Computer schreiben‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Arbeiten mit Lehrer‹, ›Wäsche aus Waschmaschine holen‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Thema Müll‹, ›Kiste anmalen‹, ›Form zeichnen‹, ›Bügeln‹, ›Kartons tragen‹, ›Geschirr abtrocknen‹ und ›Arbeiten mit Chef (Praktikum)‹ in Verbindung. Im Vordergrund stehen Arbeiten, andere Personen und Anstrengung, was körperlich und kognitiv sein kann. Die Sinnkonstruktion lässt sich vor allem ›nichts essen‹, ›arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›nicht reden‹, ›Kollegen‹ und ›Arbeitsaufträge von anderen Personen‹ entnehmen. Da auch der Pol ›alleine‹ hier in Bezug steht, ist nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch auf Situationen bezieht, in denen sie alleine arbeitet. Da zwei Konstruktpole mit anderen Personen in Verbindung stehen, besitzen andere Personen wohl einen größeren Einfluss auf die Komponente. Deutlich zeigt sich die negative Konnotation in den selbstreflexiven Konstruktpolen ›langweilig‹, ›schlecht‹ und ›macht keinen Spaß‹. Langeweile erscheint besonders einflussreich. Möglicherweise ist sie in den Situationen zu wenig herausgefordert. Andererseits kann die negative Konnotation mit den Kolleg*innen zusammenhängen oder der Anstrengung. Markant ist auch, dass sehr viele Elemente (zwölf von 17) mit der Komponente zusammenhängen. Sie ist wohl besonders relevant und einflussreich. Da sie den Parameter sowohl auf schulische und außerschulische Situationen bezieht, ist auch davon auszugehen, dass er andere Arbeitskontexte beeinflusst. Komponente 2 oben wird von ›schlecht‹, ›nicht am Computer arbeiten‹, ›nicht lernen‹, ›nicht schreiben‹, ›Freunde‹, ›stehen‹, ›langweilig‹, ›Arbeitsaufträge vom Chef‹, ›nichts mit der Hand machen‹, ›draußen‹, ›zusammen‹, ›leichte Sachen tragen‹, ›alleine arbeiten‹, ›Pause‹, und ›nicht reden‹ geprägt, wobei ›nicht essen‹ und ›arbeiten‹ aufgrund des geringen Abstands zum Ursprung ausgeklammert werden. Die Komponente bezieht sich auf ›Pausenhof‹, ›Kartons tragen‹, ›Wäsche aus Waschmaschine holen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Geschirr abtrocknen‹, ›Arbeiten mit Chef Arbeiten‹, ›Thema Müll‹, ›Kiste anmalen‹ und ›Pause Schule‹. Für ›Bügeln‹ und ›Formen zeichnen‹ trifft die Sinnzuweisung vernachlässigbar zu, da sie nah am Ursprung liegen. Aus den Polen ›schlecht‹ und ›langweilig‹ sowie einigen Beschreibungen lässt sich vermuten,

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

245

dass Annika den Parameter mit Situationen verbindet, die für sie negativ geprägt sind und auf die sie wenig Einfluss hat. Möglicherweise hängt die Komponente mit Passivität bzw. Handlungsunfähigkeit zusammen. Die Vermutung, wenig Einfluss zu haben und passiv zu sein, ist ›nicht am Computer arbeiten‹, ›nicht lernen‹, ›nichts schreiben‹, ›stehen‹, ›nichts mit der Hand machen‹, ›Pause‹ und ›nicht reden‹ abzuleiten. Möglicherweise erlebt sie ihren Einfluss stark begrenzt und sich passiv. Es ist anzunehmen, dass sie sich in den Situationen nicht so einbringen kann, wie möchte. Vermutlich trägt das Praktikum zu der Sinnkonstruktion bei. Es ist bspw. vorstellbar, dass Annika im Cafébetrieb an Grenzen stößt und ihre eigene Einflussnahme limitiert erlebt. Vielleicht wird sie von Kolleg*innen nur selten in verschiedene Arbeitsabläufe einbezogen. Den Parameter bringt Annika mit zehn der insgesamt 17 Erfahrungen in Verbindung; es ist anzunehmen, dass die Komponente auch zukünftig großen Einfluss hat. Komponente 1 rechts wird von ›essen‹, ›Pause‹, ›nichts tun‹, ›reden‹, ›draußen‹, ›nicht schreiben‹, ›nicht lernen‹, ›Freunde‹, ›zusammen‹, ›schön‹, ›am Tisch sitzen‹, ›Arbeitsaufträge vom Chef‹, ›nicht am Computer arbeiten‹, ›gut‹ und ›macht Spaß‹ bestimmt. Aufgrund der Nähe zum Ursprung korrelieren ›schwere Sachen tragen‹, ›zusammen arbeiten‹ und ›nichts mit der Hand machen‹ nicht. Annika wendet die Komponente auf ›Pause Schule‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Pausenhof‹, ›Pause Arbeiten‹ und ›Mittagessen Arbeiten‹, also nur Pausen, an. Sie verbindet sie mit Pause, für sie positiv. Darauf deuten ›essen‹, ›Pause‹, ›nichts tun‹, ›reden‹, ›nicht schreiben‹ ›nicht lernen‹, ›Freunde‹, ›schön‹, ›nicht am Computer arbeiten‹ ›gut‹ und ›macht Spaß‹ hin. Annika verbindet die Situationen mit Kontakt mit anderen Personen und Entspannung. Wie im ersten Interview sind andere Personen, mit denen sie ihre Pause verbringt, für sie wichtig. Sie kann sich entspannen und erholen; vermutlich sind solche Situationen für sie erstrebenswert. Der Parameter ist einflussreich. Für Komponente 2 unten sind ›gut‹, ›nicht am Computer arbeiten‹, ›macht Spaß‹, ›am Tisch sitzen‹, ›schön‹, ›lernen‹, ›schreiben‹, ›Kollegen‹, ›Arbeitsaufträge von anderen Personen‹, ›mit der Hand etwas machen‹, ›drinnen‹, ›alleine‹, ›alleine arbeiten‹, ›schwere Sachen tragen‹, ›reden‹ und ›arbeiten‹ einflussreich, wobei ›essen‹ und ›nichts tun‹ aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht relevant sind. Annika wendet den Parameter auf ›Arbeiten mit Lehrer‹, ›am Computer schreiben‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Mittagessen Arbeiten‹ und ›Pause Arbeiten‹ an; ›Formen zeichnen‹ korreliert vernachlässigbar. Sie verbindet damit Arbeitsund Pausensituationen aus Schule und Praktikum. Die Reichweite ist wohl recht groß. Die Komponente ist außerdem sehr positiv besetzt. Annika verbindet sie mit eigener Aktivität und Einflussmöglichkeiten, worauf vor allem ›gut‹, ›macht Spaß‹, ›schön‹, ›lernen‹, ›schreiben‹, ›Arbeitsaufträge von anderen Personen‹, ›mit der Hand etwas machen‹, ›alleine‹, ›alleine arbeiten‹, ›schwere Sachen tragen‹, ›reden‹ und ›arbeiten‹ hindeuten. ›Nicht am Computer arbeiten‹ korreliert

246

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

zwar mit der Komponente, wird aber aufgrund der deutlich größeren Anzahl an Konstruktpolen, die auf Aktivität verweisen, vernachlässigt. Der Parameter trifft nur auf schulische Erfahrungen zu. Möglicherweise erlebt sie sich in der Schule selbstwirksamer und kompetenter als im Praktikum. Vielleicht kann sie sich eher einbringen. Im Praktikum ist ihr das wohl seltener möglich bzw. wird ihr dies seltener ermöglicht. Es ist fraglich, inwiefern Annika weitere Arbeitserfahrungen so konstruiert. Die meisten Elemente stehen eher im Spannungsfeld zweier Parameter, nur wenige lassen sich einem Parameter zuordnen. Das verweist auf ihre komplexe Wahrnehmung. Im Quadranten oben links zwischen Komponente 1 links und 2 oben befinden sich viele Elemente, was auf ein einflussreiches Spannungsfeld hindeutet. Die acht Elemente ›Wäsche aus Waschmaschine holen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Kartons tragen‹, ›Geschirr abtrocknen‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Kiste anmalen‹ und ›Thema Müll‹ bringt Annika mit Arbeiten, Anstrengung, anderen Personen, wenig Einfluss und Passivität in Verbindung, beide Parameter sind negativ konnotiert. Die deutlich negative Konstruktion verweist darauf, dass sie die Situationen schlecht wahrnimmt und für ihre Arbeitszukunft weniger anstrebt. Sie wendet das Spannungsfeld auf die Mehrzahl ihrer Arbeitserfahrungen, acht von insgesamt 17 Erfahrungen (insgesamt zwölf Arbeitserfahrungen) an. Vermutlich sind beide Komponenten eng miteinander verknüpft und treten häufig zusammen auf. Der Zusammenhang trifft besonders auf das Praktikum zu. Die Reichweite ist (auch künftig) groß. ›Pause Schule‹ und ›Pausenhof‹ liegen im Spannungsfeld von wenig Einfluss und Passivität (negativ) und Entspannung. Sie verbringt eine Pause, hat Kontakt mit anderen Personen, was sie positiv konstruiert und bezieht die beiden Komponenten nur auf schulische Pausen; die Reichweite ist wohl beschränkt. Es ist fraglich, ob sie künftige Pausen so konstruiert. Annika erlebt die drei Pausensituationen ›Pause Arbeiten‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Mittagessen Arbeiten‹ entspannt; sie verbringt eine Pause und kann Kontakt mit anderen Personen aufnehmen, für sie positiv. Auf der anderen Seite verbindet sie die Erfahrungen mit eigenen Einflussmöglichkeiten und Aktivität, ebenfalls positiv. Eine Pause kann für Annika mit Einfluss und Aktivität verbunden sein. Das steht im Gegensatz zum vorherigen Spannungsfeld. Möglicherweise gelingt es ihr, in der Pause im Praktikum Kontakt zu Kolleg*innen aufzunehmen. Annika wendet das Spannungsfeld auf insgesamt drei schulische und außerschulische, wahrscheinlich auf zukünftige, Pausen an. Sie verbindet ›am Computer schreiben‹ und ›Arbeiten mit Lehrer‹ mit Arbeiten, anderen Personen und Anstrengung, was sie negativ wahrnimmt und mit eigener Aktivität und Einflussmöglichkeiten, für sie positiv. Besonders stark korrelieren beide Elemente mit der zweiten Komponente. So sind für Annika

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

247

Arbeitserfahrungen denkbar, die anstrengend sind, in denen sie im Team mit anderen Personen arbeitet und die sie dennoch positiv erlebt. Möglicherweise trägt eigene Aktivität zu dieser positiven Sichtweise bei. Sie konstruiert so zwei der insgesamt zwölf Situationen. Daher ist davon auszugehen, dass die beiden Aspekte in Kombination nicht einflussreich sind. Annika verbindet damit nur schulische Erfahrungen. Das unterstreicht die Vermutung, dass sie sich, trotz Anstrengungen, im Praktikum wenig einbringen kann und wenig positive Erfahrungen sammelt. Es ist fraglich, ob sie weitere Situationen in dem Sinnzusammenhang einordnet. Vergleichende Auswertung beider Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte In den folgenden Ausführungen werden alle Konstrukte benannt, identische aufgezeigt und in die drei Komponenten, beschreibend, wertend und selbstreflexiv unterteilt. Interview I nicht reden – reden

Interview II Pause – Arbeiten

schön – langweilig macht Spaß – macht keinen Spaß

draußen – drinnen alleine – zusammen

schreiben – nichts schreiben am Tisch sitzen – stehen etwas mit der Hand machen – nichts mit der Hand machen Kollegen – Freunde am Computer arbeiten – nicht am Computer arbeiten arbeiten – nichts tun

Arbeitsaufträge von anderen Personen – Arbeitsaufträge vom Chef zusammen arbeiten – alleine arbeiten lernen – nicht lernen gut – schlecht schwere Sachen tragen – leichte Sachen tragen Freunde – Kollegen

nichts essen – essen arbeiten – chillen

Zwei Konstrukte äußert Annika im ersten und zweiten Interview identisch. Bei beiden Befragungen schildert sie Sinnzuweisungen als ›arbeiten – nichts tun‹ und ›Kollegen – Freunde‹. Es ist davon auszugehen, dass beide Konstrukte besonders stabil und zentral für ihre Sinnzuweisungen sind; vermutlich konstruiert sie so auch zukünftige Arbeitserfahrungen.

248

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview I Arbeiten – nichts tun

Interview II Pause – arbeiten

Kollegen – Freunde

Freunde – Kollegen

Beschreibende Konstrukte Interview I nicht reden – reden

Interview II draußen – drinnen

schreiben – nichts schreiben

alleine – zusammen Arbeitsaufträge von anderen Personen – Arbeitsaufträge vom Chef

am Tisch sitzen – stehen etwas mit der Hand machen – nichts mit der Hand machen am Computer arbeiten – nicht am Computer arbeiten

zusammen arbeiten – alleine arbeiten schwere Sachen tragen – leichte Sachen tragen

arbeiten – nichts tun nichts essen – essen

Wertende Konstrukte Interview I Kollegen – Freunde

Interview II lernen – nicht lernen

arbeiten – chillen

Selbstreflexive Konstukte Interview I schön – langweilig

Interview II gut – schlecht

macht Spaß – macht keinen Spaß

Annika äußert in beiden Interviews beschreibende, wertende und selbstreflexive Konstrukte, so wohl auch zukünftig. Sie nutzt besonders viele beschreibende Konstrukte. Diese gehen beim zweiten Interview deutlich über die Sinnzuweisungen der ersten Befragung hinaus. Vermutlich entwickelt sie während im Praktikum andere Sinnzuweisungen bzw. präzisiert sie. Beide Arbeitskontexte erlebt sie danach differenzierter. Sie konstruiert danach Sinn, der sich auf Einzelarbeit bzw. Teamarbeit bezieht. Es ist davon auszugehen, dass Alleinsein bzw. -arbeiten und die Zusammenarbeit mit anderen während des Praktikums ihre Sinnzuweisungen verändert. Im zweiten Interview, erst nach den Praktikumserfahrungen äußert sie ›lernen – nicht lernen‹. Möglicherweise überfordern sie die Anforderungen im Café. Die Vermutung des ersten Interviews, dass Annika in zukünftigen Arbeitskontexten alle vorliegenden Konstrukte auf alle Elemente anwenden kann, be-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

249

stätigt das zweite Interview. Sie kann bspw. ›arbeiten – nichts tun‹ und ›arbeiten – chillen‹ differenziert auf alle vorgelegten außerschulischen Elemente anwenden; sie kann ihre sehr genaue Vorstellung und ihr Wissen um Handlungsoptionen wohl je auch auf den Praktikumskontext übertragen. Vor dem Praktikum zeigt Annika eine eher negativ-neutrale Sicht auf Arbeit, während sie Pausen eher positiv konnotiert. Nach dem Praktikum festigt sich die negative Sicht und weitet sich auf den gesamten Kontext aus. Pausen sind nicht mehr positiv. Die Tendenz hängt vermutlich mit Erfahrungen des Praktikums zusammen. Möglicherweise überträgt sie negative Erfahrungen auf die Schule. Die eigenen Grenzen bzw. die Erfahrung, sich nicht angemessen einbringen zu können oder einbezogen zu werden, könnten eine Rolle spielen. Vergleich der computergestützten Auswertung Im ersten und zweiten Interview lassen sich jeweils vier Komponenten ableiten. Teilweise ähneln sich die Parameter; so lässt sich an den Konstruktpolen erkennen, dass Komponenten 1 links und 1 rechts in der ersten und und zweiten Befragung ähnlich sind. Es ist davon auszugehen, dass ihre Sinnkonstruktionen vor und nach dem Orientierungspraktikum vergleichbar sind und sich leicht verändern. Es zeigt sich eine feine Erweitertung an den beiden Polen ›lernen‹ und ›schlecht‹, die Annika nach dem Praktikum damit verbindet; sie weisen auf Anstrengung, Lernmöglichkeiten und negative Erfahrungen hin. Vor dem Praktikum konstruiert Annika Komponente 1 links mit Arbeiten und anderen Personen, für sie negativ. Nach dem Praktikum verbindet sie mit der Komponente noch immer Arbeiten, aber auch mit Anstrengung. Die negative Konnotation bleibt bestehen, verfestigt sich durch den Konstruktpol ›schlecht‹. Der Fokus, der vor dem Praktikum stärker auf anderen Personen liegt, erweitert sich. So steht nach dem Praktikum die eigene Anstrengung im Mittelpunkt. Es ist anzunehmen, dass Annika das Praktikum anstrengend wahrnimmt. Möglicherweise muss sie im Praktikum viel mehr arbeiten als in der Schule. Vielleicht erlebt sie das Praktikum herausfordernd oder überfordernd. Der Parameter ist einflussreich und stabil; so konstruiert Annika in beiden Befragungen alle sechs schulischen Erfahrungen mit der Komponente, was auf eine recht stabile Bedeutungszuweisung hindeutet. Nach dem Praktikum, wohl auch künftig, verbindet sie zusätzlich alle außerschulischen Arbeitserfahrungen damit. Annika konstruiert Komponente 1 rechts vor dem Praktikum mit Ausruhen und mit anderen Personen, was sie positiv wahrnimmt. Sehr ähnlich konstruiert sie die Komponente nach dem Praktikum, mit eine Pause im Zusammenhang mit Kontakt mit anderen Personen, Entspannung und positiv. Im ersten Interview

250

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

konstruiert sie die Konstruktpole1216 ›stehen‹ und ›nichts mit der Hand machen‹, danach verbindet sie die Sinnzuweisungen nicht mehr damit. Nach dem Praktikum bezieht sie die Komponente deutlicher auf andere Personen, am Konstruktpol ›zusammen‹ erkennbar. Die positive Rahmung der Komponente wird zusätzlich durch ›gut‹ markiert. Sie bringt ›nicht lernen‹ zusätzlich ein, was auf entspannte Situationen mit anderen Personen hinweist. Auf Arbeitserfahrungen trifft der Parameter nicht mehr zu. Weitere Sinnzuweisungen der zweiten Befragung beeinflussen die Komponente weniger. Möglicherweise sind Pausen im Praktikum so gestaltet, dass sie sich (besonders gut) entspannen konnte. Da sie die schulischen Pausen auch danach damit verbindet, ist davon auszugehen, dass sie diese rückblickend entspannt einordnet. Sie konstruiert so alle, wohl auch zukünftige Pausen. Bei den beiden Komponenten 2 oben und 2 unten ist eine deutliche Veränderung erkennbar. So konstruiert Annika vor dem Praktikum die vier Elemente ›am Computer schreiben‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Mittagessen‹ und ›Arbeitsraum Schule‹ mit Motivation (positiv). Nach dem Praktikum bringt sie alle Erfahrungen mit eigener Einflussmöglichkeit und Aktivität in Verbindung. Als außerschulische Erfahrung konstruiert sie damit ›Pause Arbeiten‹. Möglicherweise erlebt Annika, wie bereits vermutet, ihre eigene Einflussmöglichkeit und Aktivität im Praktikum als so begrenzt, dass sie einige Schulerfahrungen als konträr dazu einordnet. Die Konstruktpole der Komponente aus dem ersten Interview bleiben nahezu gleich; es lassen sich kleine Veränderungen erkennen. Nach dem Praktikum fallen für Annika zusätzlich ›gut‹, ›lernen‹ und ›alleine‹ darunter, was eine Bedeutungsveränderung unterstreicht. Die positive Rahmung, der Lernaspekt und Einzelarbeit bzw. alleine sein, prägen den Parameter im zweiten Interview. Da Annikas Äußerungen, Motivation, Einflussmöglichkeit und Aktivität inhaltlich in Verbindung zu bringen sind, lässt sich vermuten, dass sich die Komponente durch das Praktikum verändert. In der zweiten Befragung stehen eigene Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund, davor ihre Bereitschaft zu arbeiten (Motivation). Es ist anzunehmen, dass die eigene Einflussnahme und Aktivität beim Arbeiten nach dem Praktikum Faktoren darstellen, die für künftige Arbeitssituationen erstrebenswert und wichtig sind. Vermutlich erlebt sich Annika in der Schule handlungsfähiger als während des Praktikums. Da Annika den Parameter auf beide Arbeitskontexte anwendet, ist davon auszugehen, dass sie auch zukünftige Situationen in dem Zusammenhang konstruiert. Voraussichtlich bleibt der Fokus auf ihren erlebten Handlungsmöglichkeiten. Vor dem Praktikum konstruiert Annika ›Kisten anmalen‹, ›Pausenhof‹, ›Thema Müll‹, ›Formen zeichnen‹ und ›Pause Schule‹ mit keiner oder wenig 1216 Der Konstruktpol ›chillen‹ wurde im zweiten Praktikum durch den gleichbedeutenden Pol ›Pause‹ ersetzt.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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Motivation. Danach bringt sie alle Elemente bis auf ›Formen zeichnen‹ damit in Verbindung, wenig Einfluss auf die Situationen zu besitzen und passiv zu sein. Vor und nach dem Praktikum sind beide Parameter negativ konnotiert. In der zweiten Befragung konstruiert sie zusätzlich die außerschulischen Elemente ›Kartons tragen‹, ›Wäsche aus Waschmaschine holen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Geschirr abtrocknen‹ und ›Arbeit mit Chef‹ damit. In beiden Interviews nutzt Annika ähnliche Konstruktpole. Nach dem Praktikum korreliert die Komponente zusätzlich mit ›schlecht‹, ›nicht lernen‹, ›Freunde‹, ›Arbeitsaufträge vom Chef‹, ›draußen‹, ›zusammen‹ und ›leichte Sachen tragen‹. Sie weist der Komponente negativere Färbung zu, verbindet sie mit anderen Personen und damit, nichts zu lernen. Möglicherweise wird Annika während des Praktikums bei der Zusammenarbeit gehemmt, so dass sie sich nicht einbringen kann und nichts oder nur wenig lernt. Die Bedeutungsveränderung wird wohl durch das Praktikum beeinflusst. Die große Reichweite lässt vermuten, dass sie auch zukünftigen Erfahrungen damit Sinn verleiht. Vor und nach dem Praktikum nimmt Annika beide Arbeitskontexte, wohl auch künftige, eher negativ wahr. Ihre Sinnzuweisungen sind vermutlich recht stabil, werden durch neue Erfahrungen aber weiterentwickelt. Vor und nach dem Praktikum zeigt sich, dass sie Pausen und Arbeit stabil sehr unterschiedlich konstruiert. So liegen alle Pausen in zwei anderen Quadranten als Arbeit. Vor dem Praktikum lassen sich zwei markante Verdichtungen der Arbeitserfahrungen feststellen. Sie konstruiert drei Elemente damit, keine Motivation dafür aufbringen zu können (negativ) und mit anderen Personen zu arbeiten (negativ). Weitere drei Arbeitserfahrungen verbindet sie mit Arbeit mit anderen Personen (negativ), wozu sie motiviert ist (positiv). Nach dem Praktikum ballen sich acht Arbeitserfahrungen, die sie mit Arbeit mit anderen Personen und wenig Einflussvermögen bzw. Passivität konstruiert. Beide Komponenten sind negativ. Sie konstruiert Arbeit nach dem Praktikum insgesamt negativer, unterscheidet beide Arbeitskontexte aber voneinander. 4.3.1.4 Philipp Interview I Philipp arbeitet im Café für Lehrer*innen und Schüler*innen im hauswirtschaftlichen Bereich. Elemente: ›Tisch wischen‹, ›Pausenhof‹, Café mit Chefin‹, ›Spülen/Abtrocknen‹, ›Pause Schule‹, ›Hocker schrauben‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Mittagessen‹, ›Mohnschnecken einpacken‹.

252

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Mohnschnecken einpacken

Mittagessen

Arbeitsraum

Hocker zusammenschrauben

Pause

Spülen/Abtrocknen

Café mit Chefin

Pausenhof

Tisch wischen

Handauswertung

Bewegen

Pause

Arbeiten

Pause

Schlecht

Gut

Dreckig

Sauber

Nass

Trocken

Abbildung 15: Elemente und persönliche Konstrukte – Philipp | Interview 1

Philipp nutzt die Rankingskala von eins bis fünf recht differenziert aus, was auf eine komplexe Sicht hindeutet. Er kann alle Elemente in Bezug zu allen Konstrukten setzen. Vermutlich kann er zukünftigen Kontexten auf Grundlage der Konstrukte Sinn zuweisen. Er nutzt beschreibende bspw. ›nass – trocken‹ und selbstreflexive bspw. ›schlecht – gut‹ Sinnzuweisungen. Er bewertet die Erfahrungen nicht. Philipp verleiht dem schulischen Arbeitskontext mit fünf Konstrukten Sinn.1217 Er besitzt noch recht wenige Sinnzuweisungen. Möglicherweise überdecken wenige, einflussreiche und dominante Konstruktionen andere Zusammenhänge. Das Konstrukt ›arbeiten – Pause‹ umschreibt er mit drei Sinnzuweisungen einander ähnlich: ›arbeiten – ausruhen‹, ›Pause – arbeiten‹ und ›arbeiten – bedienen lassen‹. Alle Umschreibungen verweisen auf das gleiche Konstrukt. Vermutlich verbindet Philipp (auch zukünftige) Arbeitskontexte intensiv damit; sie dominiert seine Sinnbildung. Elemente, die er mit ›Pause‹ verbindet, nimmt er eher ›gut‹ wahr. Pausen sind besonders angenehm. Situationen, die er mit ›arbeiten‹ konstruiert, sind ›gut‹ oder ›schlecht‹. Seine differenziertere Wahrnehmung ist erkennbar. Von den insgesamt sechs Arbeitssituationen konstruiert Philipp zwei sehr ›schlecht‹, eine neutral, und drei eher bzw. sehr ›gut‹. Er nimmt Arbeit eher positiv wahr, allerdings konstruiert er zwei Erfahrungen sehr schlecht. Da sich die Tendenz bei allen Pausen bzw. Arbeit zeigt, ist davon auszugehen, dass er 1217 Alle Darstellungen und Interpretationen lassen sich mit der Übersicht über die persönlichen Konstrukte und Erklärungen belegen, Anhang Kapiteln7.7 und 7.8.

253

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

grundsätzlich Pausen eher ›gut‹ und Arbeit differenziert ›gut‹ oder ›schlecht‹ einordnet. Situationen, die er mit ›dreckig‹ verbindet, sind eher ›schlecht‹; ›sauber‹ und ›gut‹ hängen zusammen. Die Korrelation trifft auf sieben der neun Erfahrungen zu. Sauberkeit ist wohl auch zukünftig ein wichtiger und positiver Aspekt. Philipp äußert zwei unterschiedliche Konstrukte mit dem Kontrastpol ›Pause‹. Er findet unterschiedliche Beispiele und rankt sie verschieden. Sie sind daher separat zu betrachten. Computergestützte Auswertung mit GridSuite 5‘

Hocker zusammenschrauben

1 bewegen 2 arbeiten

3‘

Arbeitsraum

5‘ trocken 2

Mittagessen 4‘

3‘ gut Pause

Mohnschnecken einpacken Spülen/Abtrocknen

1

2‘ Pause

4 dreckig

1‘ 2‘ Café mit Chefin

4

3 schlecht

4‘ sauber

1‘ Pause 5 nass

3 Pausenhof

Tisch wischen

5

Abbildung 16: Biplot – Philipp | Interview 1

Der Biplot verweist, wie das Dendrogramm, darauf, dass Philipp seine Erfahrungen recht differenziert wahrnimmt. Die Elemente sind gleichmäßig in allen vier Quadranten angeordnet; es liegen keine markanten Ballungen vor. Seine Erfahrungen werden mit vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten erfasst. Auffällig ist, dass alle Elemente stärker mit Komponenten 1 links und 1 rechts korrelieren als mit den Komponenten 2 oben und 2 unten. Beide Parameter sind wohl einflussreicher und dominanter. Es ist erkennbar, dass er Pausen stark von Arbeit abgrenzt. Fünf der insgesamt sechs Arbeitserfahrungen liegen in den beiden linken Quadranten, während sich alle Pausen in den beiden rechten Quadranten befinden. Die Arbeitssituation ›Café mit Chefin‹ konstruiert er eher wie die übrigen Pausen. Möglicherweise kann er sich auf seine Chefin verlassen und muss weniger Verantwortung übernehmen. Für ihn ist, allerdings als Ausnahme, vorstellbar, dass Arbeit eher einer Pause ähnelt.

254

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Komponente 1 links wird von ›arbeiten‹, ›bewegen‹, ›schlecht‹ und ›dreckig‹ beeinflusst, wobei ›bewegen‹ und ›arbeiten‹ signifikant sind. Besonders trifft sie auf ›Spülen/Abtrocknen‹, ›Tisch wischen‹, ›Hocker zusammenschrauben‹, ›Arbeitsraum‹ und ›Mohnschnecken einpacken‹ zu. Einige Pole, so ›arbeiten‹ und ›dreckig‹ bringt er mit einer Verpflichtung, etwas zu tun, in Verbindung, was für ihn Anstrengung durch ›arbeiten‹ und ›bewegen‹ bedeutet. Außerdem bedeutet sie auch, Verantwortung übernehmen zu müssen. So muss er bspw. im Café kontrollieren, dass nichts mehr ›dreckig‹ ist. Beim Arbeiten ist es wohl wichtig, seine Tätigkeiten verlässlich auszuüben. Philipp möchte Fehler vermeiden. Insgesamt ist die Komponente negative konnotiert, was sich an ›schlecht‹ zeigt. Möglicherweise erlebt Philipp (die) Arbeit und Anforderungen als belastend. Vielleicht belasten ihn Anspruch und Druck von sich selbst oder außen. Die Sinnkonstruktion betrifft fünf der sechs Arbeitserfahrungen. Sie erscheint auch künftig einflussreich und weitreichend. Komponente 2 oben wird von ›trocken‹, ›gut‹, ›sauber‹, ›bewegen‹ und ›arbeiten‹ beeinflusst, wobei ›trocken‹ hoch korreliert. Philipp verbindet sie mit sechs von neun Elementen ›Hocker zusammenschrauben‹, ›Arbeitsraum‹, ›Mittagessen‹, ›Pause‹, ›Mohnschnecken einpacken‹ und ›Spülen/Abtrocknen‹. Sie umfasst Pause und Arbeit. Die Situationen sind angenehm; darauf weisen ›trocken‹, ›gut‹, und ›sauber‹ hin. Die Beschreibungen und Erklärungen legen nahe, dass er sich kompetent wahrnimmt und erfolgreich handeln kann, für ihn positiv. Vielleicht führt er die Tätigkeiten gut und korrekt aus, was von Dritten bestätigt wird. Da er sie mit insgesamt sechs der neun Arbeits- und Pausensituationen in Verbindung bringt, ist davon auszugehen, dass er auch künftige Arbeitskontexte so konstruiert. Komponente 1 rechts verbindet er mit ›Pause‹, ›Pause‹, ›gut‹, ›sauber‹ und ›nass‹ und wendet sie auf ›Café mit Chefin‹, ›Pause‹, ›Pausenhof‹ und ›Mittagessen‹ an. ›Pause‹ und ›Pause‹ prägen den Sinn besonders. Überwiegend konstruiert er Pausen damit, wobei er auch für eine Arbeitssituation zutrifft. Die Reichweite ist wohl groß. Vermutlich fallen auch künftige Pausen unter diesen Sinnzusammenhang. Philipp bezieht die Komponente auf Situationen, in denen er sich entspannen kann und er keine Verantwortung übernehmen muss; darauf weisen ›Pause‹, ›Pause‹ und ›sauber‹ hin. Sie ist positiv konnotiert, was sich ›gut‹ und ›sauber‹ entnehmen lässt. In der Arbeitssituation mit seiner Chefin übernimmt sie Verantwortung, so dass Philipp sich entspannen kann. Es ist anzunehmen, dass der Parameter weitreichend und auch zukünftig wirksam ist. Für Philipp wird die Komponente 2 unten von ›nass‹, ›schlecht‹, ›dreckig‹, ›Pause‹ und ›Pause‹ beeinflusst, wobei er sie auf ›Tisch wischen‹, ›Pausenhof‹ und ›Café mit Chefin‹ anwendet. Er bringt den Parameter mit zwei Arbeits- und einer Pausenerfahrung in Verbindung, was auf recht große Reichweite hindeutet. Sie umfasst drei von neun Elementen und erscheint weniger einflussreich. Inhaltlich

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

255

sind die Situationen für ihn unangenehm; darauf weisen ›nass‹, ›schlecht‹ und ›dreckig‹ hin. Er konstruiert die Erfahrungen eher negativ, ›schlecht‹. Möglicherweise nimmt er sie als Herausforderung wahr; vielleicht hat er Angst, Fehler zu machen. Darauf deutet seine Äußerung hin, dass er sich sehr anstrengen muss, wenn etwas ›nass‹ oder ›dreckig‹ ist. Vielleicht fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren, worauf die Pole ›Pause‹ hindeuten. Vielleicht fühlt er sich kontrolliert und hat Angst, etwas nicht wie gefordert zu erledigen. Er stößt wahrscheinlich an körperliche und/oder kognitive Grenzen. Alle Elemente stehen im Spannungsfeld zweier Parameter, er konstruiert sie komplex. So bringt Philipp die vier Elemente ›Hocker zusammenschrauben‹, ›Arbeitsraum‹, ›Mohnschnecken einpacken‹ und ›Spülen/Abtrocknen‹ mit Verpflichtung, Anstrengung sowie Verantwortung (negativ) und, sich eher kompetent zu erleben (angenehm), in Verbindung. Er konstruiert die Erfahrungen positiv. Alle Aspekte können gleichermaßen auf Erfahrungen zutreffen. Es ist anzunehmen, dass Philipp weiß, dass er für Aufgaben und Ergebnisse verantwortlich ist. Möglicherweise ist das für ihn mit Druck verbunden. Da vier der insgesamt sechs Arbeitssituationen mit beiden Parametern konstruiert werden, ist davon auszugehen, dass Philipp Arbeit zukünftig in dem Spannungsfeld verortet. ›Pause‹ und ›Mittagessen‹ verbindet Philipp zum einen damit, dass er sich kompetent erlebt; er sieht sich in der Lage, die Situationen zu bewältigen und nimmt sie angenehm wahr (positiv). Zum anderen ist er entspannt und muss keine Verantwortung übernehmen (positiv). Innerhalb des Spannungsfeldes konstruiert er zwei der drei Pausen, Arbeit verbindet er nicht damit. Philipp mag Pausen wohl lieber als Arbeit, er erlebt diese wohl erstrebenswert. Er fühlt sich kompetent, er weiß, wie er handeln kann; er fühlt sich sicher. Für Philipp sind Situationen vorstellbar, die er auf der einen Seite mit Entspannung und keiner Verantwortung (positiv) konstruiert, auf der anderen Seite unangenehm erlebt und mit Fehlern verbindet (negativ). Für ihn trifft das Spannungsfeld auf eine Arbeits- und eine Pausensituation zu, also zwei der neun Erfahrungen. Es ist wohl weniger einflussreich. Philipp verbindet Erfahrungen, in denen er sich nicht besonders anstrengt und verantwortlich fühlt, eher mit Fehlern. ›Tisch wischen‹ ist das einzige Element, das Philipp sehr negativ konstruiert. Er nimmt die Erfahrung als Verpflichtung, Verantwortung, Anstrengung und Fehler zu machen (unangenehm) wahr. Auf eine Pause trifft das Spannungsfeld nicht zu, es ist wohl weniger einflussreich. Wahrscheinlich fühlt sich Philipp eher unsicher, er stößt an seine Grenzen. Vielleicht fühlt er sich überfordert oder strengt sich nicht ausreichend an. Das schlägt sich wohl negativ auf sein Selbstbild nieder und lässt die Situation für ihn sehr negativ werden.

256

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview II Philipp verbringt sein Praktikum im Arbeitsbereich einer WfbM und erledigt Auftragsarbeiten, z. B. Abzählen und Einpacken von Gegenständen, Errichten eines Ziegenstalls. Der besseren Übersichtlichkeit wegen werden alle Elemente der schulischen und außerschulischen Situationen genannt und die Konstrukte den Interviews zugeordnet. Elemente der Schule: ›Tisch wischen‹, ›Pausenhof‹, Café mit Chefin‹, ›Spülen/ Abtrocknen‹, ›Pause Schule‹, ›Hocker schrauben‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Mohnschnecken einpacken‹. Die Konstrukte des ersten Interviews: ›bewegen – Pause‹, ›arbeiten – Pause‹, ›schlecht – gut‹, ›dreckig – sauber‹, ›nass – trocken‹. Elemente aus dem Praktikum: ›Mittagessen‹, ›Pause/Essen‹, ›Schaufeln‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Schrauben einpacken‹, ›Gummis einpacken‹, ›Arbeitsraum‹ Konstrukte des zweiten Interviews: ›konzentrieren – nicht konzentrieren‹, ›drinnen – draußen‹, ›essen – nicht essen‹, ›glücklich – traurig‹, ›schwierig – leicht‹, ›tragen – nichts tragen‹. Identische Konstrukte (das Konstrukt des ersten Interviews steht in Klammern): ›gut – schlecht‹ (›schlecht – gut‹), ›Pause – Arbeiten‹ (›Pause – Arbeiten‹) Handauswertung Philipp äußert in der zweiten Befragung sechs neue Konstrukte. Es gelingt ihm, beide Arbeitskontexte aufeinander zu beziehen, seine Sinnbildungen zu äußern und zu erklären. Alle persönlichen Konstrukte des ersten Interviews wendet er auf beide Kontexte an. Sie sind (immer noch) sinnvoll. Das Ranking gelingt Philipp recht differenziert; er nutzt die Ranking-Skala von eins bis fünf und nimmt feine Abstimmungen vor. Die beiden Konstrukte ›gut – schlecht‹ und ›Pause – Arbeiten‹ äußert Philipp im ersten und zweiten Interview inhaltlich deckungsgleich, sogar mit gleichen Beschreibungen. Es ist anzunehmen, dass beide stabil und zentral sind. Während er im ersten Interview keine wertenden Konstrukte äußert, nutzt er in der zweiten Befragung beschreibende (›drinnen – draußen‹), wertende (›konzentrieren – nicht konzentrieren‹) und selbstreflexive Konstrukte (›glücklich – traurig‹). Philipp hat eine genaue Vorstellung von Pause und Arbeit. Situationen, die er mit einer ›Pause‹ verbindet, sind eher ›gut‹ und er selbst ›glücklich‹. ›Arbeiten‹ verbindet er, wohl abhängig von seinen Erfahrungen mit ›gut‹ oder ›schlecht‹ und ›glücklich‹ oder ›traurig‹. Die Pole korrelieren. Pausen konstruiert er weiterhin positiv; Arbeit kann positiv oder negativ sein. ›Pause‹ hängt mit ›leicht‹ zusammen, ›arbeiten‹ mit ›leicht‹ oder ›schwierig‹. Vermutlich nimmt er sich in Pausen handlungsfähiger wahr.

257

Arbeitsraum

Arbeitsraum Café

Gummis einpacken

Schrauben einpacken

Tisch wischen

Mohnschnecken einpacken

Hocker schrauben

Arbeiten mit Chef

Spülen/Abtrocknen

Schaufeln

Mittagessen Schule

Café mit Chefin

Pause/Essen

Pause Schule

Mittagessen

Pausenhof

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Gut

Schlecht

Glücklich

Traurig

Drinnen

Draußen

Arbeiten

Pause

Nicht essen

Essen

Konzentrieren

Nicht konzentrieren

Bewegen

Pause

Nichts tragen

Tragen

Trocken

Nass

Dreckig

Sauber

Schwierig

Leicht

Abbildung 17: Elemente und persönliche Konstrukte – Philipp | Interview 2

Computergestützte Auswertung mit GridSuite Dem Biplot lässt sich entnehmen, dass Philipp eine sehr differenzierte Vorstellung der beiden Arbeitskontexte besitzt; alle Quadranten sind mit Elementen belegt. Allerdings lassen sich einige Besonderheiten erkennen. So finden sich in den beiden linken Quadranten (wieder) fast nur Arbeitserfahrungen. Er nimmt sie ähnlich wahr. Pausen und ›Café mit Chefin‹ befinden sich in den beiden rechten Quadranten. Er konsturiert sie ähnlich. Die vergleichbare Arbeitssituation des Praktikums findet sich hier nicht. Die Vorgesetzte der Schule erlebt er wohl als größere Unterstützung als den Chef im Praktikum. Philipp konstruiert alle Pausen- und Arbeitssituationen mit vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten. Im Quadranten rechts oben ist nur das Element ›Pausenhof‹ zu finden. Demzufolge gibt es für ihn nur eine Erfahrung, die er im Zusammenhang mit den beiden Parameter 2 oben und 1 rechts einordnet. Alle Elemente stehen mit zwei Komponenten in Verbindung; ähnlich wie beim ersten Interview konstruiert Philipp alle Erfahrungen komplex.

258

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen 1‘ 8

52‘

8 nichts tragen

4

11‘ leicht

Tisch wischen

9‘ nass

7‘ Spülen/Abtrocknen

10 dreckig

11

9 trocken

3 drinnen

6‘ nicht konzentrieren

Schrauben einpacken

4 Arbeiten

6 konzentrieren

3‘ draußen

Arbeiten mit Chef 10

2‘ traurig

11 schwierig

Pausenhof

Schaufeln

1‘ schlecht

5 nicht essen

3‘

6

6‘

Gummis einpacken Arbeitsraum 9

10‘ sauber 4‘ Pause

11‘

9‘ Arbeitsraum Café

5‘ essen

2 glücklich Pause Schule 4‘ 8‘ tragen 7‘ Café mit Chefin Pause/Essen 1 gut

Hocker schrauben 10‘ Mohnschnecken einpacken

7 bewegen

7‘ Pause 5‘ 2 Mittagessen Schule 3

Mittagessen 8‘ 1

Abbildung 18: Biplot – Philipp | Interview 2

Komponente 1 links wird von ›arbeiten‹, ›konzentrieren‹, ›bewegen‹, ›schwierig‹, ›nicht essen‹, ›traurig‹, ›dreckig‹, ›schlecht‹, ›nichts tragen‹, ›trocken‹, und ›drinnen‹ beeinflusst. Für Philipp trifft sie auf zehn Elemente ›Gummis einpacken‹, ›Spülen/Abtrocknen‹, ›Schaufeln‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Schrauben einpacken‹, ›Tisch wischen‹, ›Arbeitsraum Café‹, ›Mohnschnecken einpacken‹, ›Hocker schrauben‹ und ›Arbeitsraum‹ zu. Er verbindet nahezu alle Arbeitserfahrungen, sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich, damit. Lediglich die Arbeitssituationen ›Café mit Chefin‹ steht nicht in diesem Sinnzusammenhang. Die Komponente wird von den Konstruktpolen ›arbeiten‹, ›konzentrieren‹, ›bewegen‹, ›schwierig‹, ›nicht essen‹ und ›dreckig‹, also Anstrengung, Herausforderung und Leistung geprägt, für ihn negativ. Er fühlt sich ›traurig‹ und findet die Situationen ›schlecht‹. Philipp muss sich in beiden Arbeitskontexten wohl bemühen, die Tätigkeiten korrekt auszuführen. Wahrscheinlich werden Ergebnisse kontrolliert, für Philipp wohl mit Druck oder Angst verbunden. Die Situationen fordern ihn heraus. Möglicherweise überfordern sie ihn, da er Fehler unbedingt vermeiden möchte. Der Parameter scheint sehr einflussreich und weitreichend. Vermutlich konstruiert er auch zukünftige Arbeitserfahrungen so. Komponente 2 oben steht für Philipp mit ›schlecht‹, ›nichts tragen‹, ›drinnen‹, ›traurig‹, ›nichts essen‹, ›dreckig‹, ›arbeiten‹, ›bewegen‹, ›nicht konzentrieren‹, ›schwierig‹ und ›trocken‹ in Zusammenhang. Er bringt sie mit acht Elementen ›Pausenhof‹, ›Schaufeln‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Schrauben einpacken‹, ›Tisch wischen‹, ›Spülen/Abtrocknen‹, ›Gummis einpacken‹ und ›Arbeitsraum‹ in

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

259

Verbindung. Er konstruiert damit sieben schulische und außerschulische Arbeitserfahrungen sowie eine Pause der Schule. Sie trifft auf Arbeit und Pause gleichermaßen zu, wohl aber dominanter für Arbeit. Der Parameter ist sehr negativ, worauf die Pole ›schlecht‹, ›traurig‹ und auch ›schwierig‹ hindeuten. Er verbindet den Parameter damit, Fehler zu machen und sich schlecht zu fühlen. Darauf deuten die Pole ›nicht konzentrieren‹, ›schlecht‹, ›traurig‹ und ›schwierig‹ hin. Er fühlt sich wohl nicht kompetent oder nicht handlungsfähig. Möglicherweise sind ihm die Situationen bzw. seine eigenen Grenzen peinlich und unangenehm. Es ist vorstellbar, dass die Sinnkonstruktion durch das Praktikum geprägt wird, wobei sie sich – später mehr dazu – ansatzweise schon davor zeigt. Vielleicht fühlt sich Philipp im Praktikum den Aufgaben und/oder den Anforderungen nicht gewachsen. Da er die Komponente auf acht der sechszehn Erfahrungen anwendet, ist anzunehmen, dass sie einflussreich und weitreichend ist. Komponente 1 rechts steht für Philipp ›nicht konzentrieren‹, ›Pause‹, ›Pause‹, ›leicht‹, ›glücklich‹, ›essen‹, ›gut‹, ›tragen‹ ›sauber‹, ›draußen‹, und ›nass‹ in Zusammenhang. Er wendet sie auf ›Pause Schule‹, ›Pause/Essen‹, ›Café mit Chefin‹, ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Mittagessen‹, also alle Pausen an. Er konstruiert auch eine schulische Arbeitserfahrung ›Café mit Chefin‹ damit. Es ist zu vermuten, dass die Anwesenheit oder Unterstützung der schulischen Chefin seine Wahrnehmung beeinflusst. Philipp erlebt die Situation angenehm, er kann sich entspannen und muss keine Leistung erbringen, für ihn positiv. Darauf deuten ›nicht konzentrieren‹, ›Pause‹, ›Pause‹, ›leicht‹, ›glücklich‹, ›essen‹ ›gut‹ und ›sauber‹ hin. Er kann sich in den Situationen ausruhen, muss sich nicht anstrengen und nichts erledigen. Wahrscheinlich kann er sie genießen, er ist ›glücklich‹. Er bringt wohl grundsätzlich Pausen damit in Zusammenhang. Komponente 2 unten verbindet Philipp mit ›gut‹, ›tragen‹, ›drinnen‹, ›essen‹, ›glücklich‹, ›sauber‹, ›Pause‹, ›konzentrieren‹, ›leicht‹ und ›nass‹. Für ihn trifft sie auf ›Mittagessen‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Mohnschnecken einpacken‹, ›Pause/ Essen‹, ›Café mit Chefin‹, ›Arbeitsraum Café‹ und ›Pause Schule‹, also alle schulischen und außerschulischen Pausensituationen und drei schulische Arbeitssituationen, zu. Das verweist auf eine recht große Reichweite. Er verbindet den Parameter mit acht der insgesamt 17 Pausen- und Arbeitserfahrungen; die Komponente ist wohl einflussreich. Der Parameter steht für ihn damit im Zusammenhang damit, sich kompetent zu erleben; er verbindet ihn mit Erfolg und fühlt sich gut. Darauf verweisen ›gut‹, ›tragen‹, ›glücklich‹, ›sauber‹, ›konzentrieren‹ und ›leicht‹. Er muss sich zwar anstrengen (›tragen‹, ›konzentrieren‹) für ihn hier nicht negativ. Philipp verbindet keine außerschulische Arbeitserfahrung damit. Daher ist anzunehmen, dass er das Praktikum weniger positiv erlebt; er fühlt sich dort nicht kompetent und erfolgreich. Schule entspricht Philipps Kompetenzen eher. Er ist im Praktikum wohl sehr herausgefordert oder über-

260

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

fordert. Aufgrund der recht großen Reichweite ist anzunehmen, dass er zukünftige Arbeits- und Pausensituationen damit konstruiert. Alle Arbeitserfahrungen stehen für ihn im Spannungsfeld zweier Parameter; er nimmt bei allen Situationen verschiedene Aspekte wahr. Im Quadranten links oben befinden sich besonders viele Elemente, was darauf schließen lässt, dass er diese Erfahrungen (als ähnlich zueinander) konstruiert. Dahingegen ist im Quadranten rechts oben nur ein Element zu finden; das Spannungsfeld ist eher weniger einflussreich Die sieben Elemente ›Schaufeln‹, ›Arbeiten mit Chef‹, ›Schrauben einpacken‹, ›Tisch wischen, ›Spülen/Abtrocknen‹, ›Gummis einpacken‹ und ›Arbeitsraum‹ konstruiert Philipp mit Leistung, Herausforderung und Anstrengung, Fehler zu machen, sich schlecht zu fühlen. Beide Parameter sind negativ konnotiert. Es gibt sowohl schulische als auch außerschulische Arbeitserfahrungen (sieben von insgesamt zwölf), die er in dem einflussrreichen Spannungsfeld verortet. Markant ist die negative Konstruktion. Er erlebt Arbeit sehr negativ, anstrengend und herausfordernd; er muss Leistung erbringen und hat Bedenken, Fehler zu machen, was ihm ein schlechtes Gefühl vermittelt. Er macht wohl im Praktikum die Erfahrung, sich sehr anzustrengen, Leistung erbringen zu müssen und Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Die Vermutung, dass er im Praktikum überfordert wird, wird verstärkt. Möglicherweise verunsichert ihn die neue Umgebung. Das schlägt sich wohl negativ auf seine Stimmung und Selbstbild nieder. ›Pausenhof‹ verbindet er damit, Fehler zu machen und sich schlecht zu fühlen und ist negativ. Auf der anderen Seite nimmt er die Situation als entspannt und angenehm wahr; er muss keine Leistung erbringen. Die zweite Komponente ist für Philipp positiv gerahmt. Die Situation ist für ihn also vielschichtig. Er muss zwar nichts leisten, dennoch befürchtet er, Fehler zu machen. Möglicherweise handelt er auf dem Pausenhof manchmal nicht angemessen, so dass er negative Rückmeldungen bekommt, die er als Fehlverhalten interpretiert. Es ist fraglich, inwiefern er auch zukünftige Erfahrungen damit konstruiert. Sehr positiv konstruiert Philipp ›Pause Schule‹, ›Pause/Essen‹, ›Café mit Chefin‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Mittagessen‹, die er als angenehm, sich selbst als entspannt, erfolgreich und kompetent wahrnimmt, wobei er muss keine Leistung erbringen muss. Darüber hinaus fühlt er sich wohl. Darunter fallen vier der fünf schulischen und außerschulischen Pausen sowie eine schulische Arbeitssituation. Auf Arbeit trifft die Wahrnehmung vermutlich nur bei entsprechender Unterstützung zu. Möglicherweise ist Arbeit von Leistung, Anstrengung und möglichen Fehlern dominiert. Für ihn sind Pausen wahrscheinlich sehr wichtig, um sich von Anforderungen beim Arbeiten zu erholen. Da er überwiegend Pausen so konstruiert, ist das auch für zukünftige Pausen anzunehmen.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

261

›Arbeitsraum Café‹, ›Hocker schrauben‹ und ›Mohnschnecken einpacken‹ verbindet Philipp damit, kompetent und erfolgreich zu sein, sich gut zu fühlen (positiv) und Anstrengung, Leistung und Herausforderung (negativ). Das Spannungsfeld schreibt Philipp ausschließlich schulischen Arbeitserfahrungen zu, er konstruiert keine Pause damit. Für ihn hängen die Situationen wohl damit zusammen, dass er etwas erledigen muss, was mit bestimmten Anforderungen verbunden ist. Wahrscheinlich gelingen ihm die Aufgaben; er erlebt sich handlungsfähig und kompetent. Trotz des positiven Aspekts, ist die Konstruktion auch negativ geprägt. Vermutlich ist seine Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft gering oder wird von der Angst vor Fehlern überlagert. Vergleichende Interpretation beider Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte Interview I bewegen – Pause

Interview II glücklich – traurig

arbeiten – Pause schlecht – gut

drinnen – draußen nicht essen – essen

dreckig – sauber nass – trocken

konzentrieren – nicht konzentrieren nichts tragen – tragen schwierig – leicht

Im Rahmen des ersten und zweiten Interviews äußert Philipp zwei Konstrukte identisch. Interview I schlecht – gut arbeiten – Pause

Interview II gut – schlecht arbeiten – Pause

Philipp äußert die Konstrukte durch dieselben Worte, erklärt beide Konstruktpole sehr ähnlich und findet vergleichbare Beispiele. Beide Konstrukte sind wohl recht stabil und nicht durch Erfahrungen während des Praktikums verändert worden. Es ist davon auszugehen, dass sie auch zukünftig recht relevant und einflussreich sind. Die Konstrukte lassen sich beschreibend, wertend und selbstreflexiv einordnen:

262

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Beschreibende Konstrukte Interview I bewegen – Pause

Interview II drinnen – draußen

arbeiten – Pause dreckig – sauber

nichts essen – essen nichts tragen – tragen

nass – trocken

Wertende Konstrukte Interview I

Interview II konzentrieren – nicht konzentrieren

Selbstreflexive Konstrukte Interview I schlecht – gut

Interview II glücklich – traurig schwierig – leicht

Während beider Interviews wendet Philipp besonders viele Konstrukte beschreibend an. Erst im zweiten Interview beurteilt er die Situationen mithilfe wertender Konstrukte. Er äußert ein wertendes von insgesamt sechs Konstrukten. Die neue (bzw. neu geäußerte) Komponente ist in Relation mäßig einflussreich. Da im ersten Interview keine Wertung erfolgt, ist davon auszugehen, dass entsprechende Konstrukte erst beim Praktikum eine Rolle spielen. Im ersten Interview äußert Philipp ein selbstreflexives Konstrukt, im zweiten wendet er ein weiteres selbstreflexiv an. Im ersten und zweiten Interview verbindet Philipp alle Konstrukte mit allen Elementen. Sie besitzen wohl (auch zukünftig) eine große Reichweite. ›Arbeiten – Pause‹ ist besonders einflussreich. Im ersten Interview nimmt er Pausen eher ›gut‹ wahr, Arbeit kann ›gut‹ oder ›schlecht‹ sein. Die Tendenz zeigt sich auch nach dem Praktikum; so konstruiert Philipp alle Pausen ›gut‹ und bezieht den neuen Aspekt ›glücklich‹ darauf, Arbeit hingegen mit ›schlecht‹ oder ›gut‹ und ›glücklich‹ oder ›traurig‹. Der vor dem Praktikum ausgeprägte Zusammenhang zwischen ›sauber‹ und ›gut‹ bzw. ›dreckig‹ und ›schlecht‹ ist danach nicht mehr erkennbar. Vielleicht sind die Aspekte ›sauber‹ bzw. ›dreckig‹ im Praktikum nicht relevant. Vergleich der computergestützten Auswertung Bei beiden Interviews lassen sich vier Komponenten erkennen. Vor und nach dem Praktikum zeigen sich unterschiedliche Reichweiten und Sinnzusammenhänge. Die Komponenten hängen zusammen, verändern sich aber wohl durch

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

263

das Praktikum. Die Bedeutungszuweisungen gehen im zweiten über die im ersten Interview hinaus. Philipp konstruiert Schule und vor allem Praktikum negativer. So konstruiert er davor drei der insgesamt neun schulischen Erfahrungen mit unangenehm/ Fehler machen; danach ist der Parameter an sich negativer und bezieht sich auf acht der insgesamt 17 Erfahrungen, fast die Hälfte. Konstruiert er im ersten Interview die meisten mit einer positiven und einer negativen Komponente, verbindet er sie im zweiten eher mit zwei negativen Komponenten; das zeigt sich vor allem für sein Praktikum. Philipp fühlt sich im Praktikum vermutlich unwohl und überfordert. Er kommt an seine Grenzen und erlebt es belastend sowie stressig. Vor dem Praktikum verbindet Philipp die meisten schulischen Arbeitssituationen mit Verpflichtung, Anstrengung und Verantwortung (negativ). Er konstruiert fünf der sechs schulischen Arbeitserfahrungen so, die Verbindung ist sehr einflussreich. Nach dem Praktikum verbindet er sie immer noch mit Anstrengung, erweitert um Leistung und Herausforderung. Die negative Konnotation verstärkt sich, er fühlt sich ›traurig‹. Vor und nach dem Praktikum konstruiert er damit die gleichen Konstruktpole und Elemente; es handelt sich wohl um den gleichen Parameter. Jedoch ist der Sinn nach dem Praktikum durch ›konzentrieren‹, ›schwierig‹, ›nicht essen‹ und ›traurig‹ differenzierter. Die Arbeit im Praktikum ist wohl herausfordernd und kompliziert. Das hängt, wie angedeutet, vermutlich mit Überforderung und Grenzerfahrungen zusammen. Es ist anzunehmen, dass der Parameter auch künftig einflussreich ist, Philipp ihn aber weiter differenziert. Im ersten Interview verbindet er einige Situationen damit, sie bewältigen zu können; er nimmt sich kompetent wahr. Die Erfahrungen erlebt er positiv und angenehm. Nach dem Praktikum konstruiert er seine Erfahrungen immer noch mit der Komponente, bringt sie nun mit persönlichem Erfolg in Verbindung. Er bezieht sie stärker auf sich: er fühlt sich gut. Die Erweiterung lässt sich auf das Praktikum zurückführen; er nimmt die Situationen der Schule rückblickend, durch neue negative Erfahrungen anders wahr. Der Parameter trifft hauptsächlich auf die Schule zu (sechs schulische Erfahrungen, eine außerschulische Pause). Vermutlich sieht er das Praktikum als erfolglos, schlechten Gefühlen und wenig Handlungsfähigkeit. Vor dem Praktikum konstruiert er die Komponente stärker mit Arbeit, was sich ›arbeiten‹ und ›bewegen‹ entnehmen lässt. Danach verändert sich die Konstruktion, er erwähnt nun den ›Pause‹. Der positive Aspekt verstärkt sich durch das Praktikum, was ›glücklich‹ und ›leicht‹ abzuleiten ist. Das unterstreicht die Vermutung, dass er die Schule nach dem Praktikum noch positiver und sich noch kompetenter wahrnimmt. Die Komponente trifft auf Pausen und Arbeit zu, so wohl auf zukünftig.

264

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Alle schulischen und außerschulischen Pausen sowie die schulische Arbeit ›Café mit Chefin‹ konstruiert Philipp vor und nach dem Praktikum damit, entspannt zu sein, nicht für etwas verantwortlich zu sein, für ihn positiv. In der zweiten Befragung verbindet er die Sinnzuweisung stärker mit sich selbst, er erlebt die Situationen angenehm. Die positive Konnotation verstärkt sich wohl durch das Praktikum, worauf ›leicht‹ und ›glücklich‹ hindeuten. Die übrigen Pole bleiben gleich. Zusätzlich beeinflussen den Parameter weitere Konstruktpole. ›Nicht konzentrieren‹ korreliert nun markant und ist für die Komponente eine entscheidende Bedeutungserweiterung. Möglicherweise ist das Spannungsfeld im Praktikum zentral und unterscheidet sich von den schulischen Anforderungen. Vor und nach dem Praktikum konstruiert er damit die gleichen schulischen Erfahrungen; im zweiten Interview kommen außerschulische Pausen dazu, so wohl auch künftige. Auf Arbeit im Praktikum und weitere Arbeitssituationen in der Schule trifft der Parameter nicht zu. Philipp konstruiert vor dem Praktikum drei Elemente des schulischen Arbeitskontexts damit, Fehler zu machen und sie als unangenehm zu erleben, für ihn negativ konnotiert. Er bezieht den Parameter auf zwei Arbeits- und eine Pausensituation(en). Nach dem Praktikum differenziert er den Parameter; er fühlt sich schlecht. Hier verstärkt sich die negative Konnotation, wobei er die eigene Gefühlslage selbst stärker dazu in Bezug setzt, was sich den Konstruktpolen ›traurig‹ oder ›schwierig‹ entnehmen lässt. Vermutungen für die Veränderung wurden bereits angestellt. Vor dem Praktikum korrelieren die beiden Pole ›Pause‹ und ›Pause‹ mit dem Parameter, nach dem Praktikum bringt er ihn mit ›arbeiten‹ und ›bewegen‹ in Verbindung; das lässt schließen, dass sich die Komponente durch das Praktikum verändert. Der Fokus liegt nun auf Arbeitsaspekten. Die Annahme wird auch von den Elementen verstärkt, die Philipp nach dem Praktikum nun mit diesem Parameter in Verbindung bringt. So stehen für ihn nach dem Praktikum alle fünf vorgelegten Arbeitssituationen des Praktikums damit in Zusammenhang. Er konstruiert alle außerschulischen Arbeitserfahrungen mit der sehr negativ besetzten Komponente, was darauf hindeutet, dass er das Praktikum grundsätzlich negativ wahrnimmt. Das Element ›Café mit Chefin‹ bezieht Philipp vor dem Praktikum noch auf den Parameter; nach dem Praktikum nicht mehr. Er konstruiert es nun im Rahmen zweier positiv konnotierter Komponenten, was die Vermutung zulässt, dass er einige Erfahrungen, wohl durch den recht negativen Einfluss des Orientierungspraktikums und in Relation dazu, positiver konstruiert. Das Praktikum beeinflusst Philipps Sinnbildungen recht stark. Vor und nach dem Praktikum zeigt sich eine deutliche Unterscheidung von Pause und Arbeit, die jeweils in zwei unterschiedlichen Quadranten und Spannungsfeldern konstruiert werden. Er konstruiert im ersten Interview vier Arbeitserfahrungen mit Verpflichtung, Anstrengung und Verantwortung (negativ)

265

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

sowie Kompetenz und angenehmen Situationen (positiv). Das lässt darauf schließen, dass das Spannungsfeld einflussreich ist. Nach dem Praktikum verbindet er sieben Arbeitserfahrungen mit Leistung, Anstrengung und Herausforderung und Fehlern und damit, sich schlecht zu fühlen, beide Komponenten sind negativ gerahmt. Auch dieses Spannungsfeld ist einflussreich; die Sinnveränderung ist wohl auf das Praktikum zurückzuführen. Alle Arbeitsanlässe des Praktikums hängen für Philipp zusammen, er konstruiert sie im gleichen Spannungsfeld. Pausen sind nach dem Praktikum – wohl in Abgrenzung zur negativen Arbeit – sehr positiv konnotiert. 4.3.1.5 Maria Interview I Maria arbeitet in der Schule im Schüler*innen- und Lehrer*innencafé im hauswirtschaftlichen Bereich. Dazu gehören verschiedene Arbeiten vor, nach und während des Cafébetriebs. Die Elemente der Schule sind: ›Hocker schrauben‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Pausenhof‹, ›Café mit Lehrerin‹, ›Pause Schule‹, ›Bestellzettel schneiden‹, ›Hocker ölen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kaffeemaschine putzen‹, ›Arbeitsraum Schule‹.

Kaffeemaschine putzen

Hocker schrauben

Bestellzettel schneiden

Arbeitsraum

Geschirr spülen

Pausenhof

Pause

Café mit Chefin

Holz ölen

Mittagessen

Handauswertung

Gut

Nicht toll

Sauber

Dreckig

Kein Hunger

Hunger

Arbeiten

Pause

Gut arbeiten

Nicht oder schlecht arbeiten

Genau arbeiten

Pause

Konzentrieren

Ablenken

Abbildung 19: Elemente und persönliche Konstrukte – Maria | Interview 1

266

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Maria äußert im ersten Interview sieben dichotome Konstrukte.1218 Sie wendet diese auf alle Elemente an, die Reichweite ist groß. Die Konstruktpole schildert sie mit Beschreibungen und Beispiele; sie hat eine genaue Vorstellung von ihren Sinnzuweisungen. Maria verwendet alle Konstrukte eher polarisierend; für sie treffen die einzelnen Pole, so ist der Darstellung zu entnehmen, überwiegend eindeutig auf die jeweilige Erfahrung zu. Beim Ranking nutzt sie selten Zwischenstufen, um Abstufungen vorzunehmen, was wohl auch künftig zutrifft. Der Kontrastpol ›Pause‹ wird mit zwei verschiedenen Initialpolen konstruiert. So nutzt sie den Pol gegenteilig von ›arbeiten‹ und ›genau arbeiten‹. Beide Aspekte beschreibt sie unterschiedlich; ›arbeiten‹ beschreibt sie, ›genau arbeiten‹ verknüpft sie mit Wertungen. So bringt sie ›genau arbeiten‹ bspw. mit Kompetenzen in Verbindung und geht deutlich über die beschreibende Erklärung bei ›arbeiten‹ hinaus. ›Pause‹ schildert sie jeweils recht ähnlich. Beim Ranking nimmt Maria feine Unterschiede vor, weswegen die beiden Konstrukte getrennt voneinander behandelt werden. Marias Konstrukte lassen sich den drei Komponenten, beschreibend, wertend und selbstreflexiv zuordnen. So nutzt sie bspw. ›sauber – dreckig‹ beschreibend, während sie ›konzentrieren – ablenken‹ wertend anwendet und ›gut – nicht toll‹ selbstreflexiv vorliegt. Sie nimmt die Schule sehr positiv wahr. Neun der zehn persönlichen sind ›gut‹ oder eher ›gut‹. Maria weiß wohl genau, wann sie eine Situation ›gut‹ oder ›nicht toll‹ findet. Sie erzeugt überwiegend positiv konnotierte Initialpole, erlebt die Situationen also intuititv positiv. Sie weiß, wann sie ›arbeitet‹ oder eine ›Pause‹ hat und beschreibt beide Aspekte mit unterschiedlichen, sich gegenseitig ausschießenden Handlungsoptionen. Sie kann entsprechend handeln. Das kann sie wohl auf zukünftige Kontexte übertragen. Computergestützte Auswertung mit GridSuite Am Biplot lassen sich vier Komponenten, 1 links, 2 oben, 1 links und 2 unten erkennen. Die Elemente sind eher polarisierend auf alle Quadranten verteilt, was auf eindeutige Sinnzuweisungen hindeutet. Ihre klare Vorstellung von ›arbeiten‹ und ›Pause‹ findet sich auch im Biplot. In den beiden linken Quadranten sind die Elemente von ›arbeiten‹ geprägt; in den beiden rechten von ›Pause‹. Die Arbeitssituation ›Arbeiten mit Chefin‹ verbindet sie mit Pause und nicht mit ›arbeiten‹.

1218 Alle Überlegungen und Darstellungen sind den Transkripten, Anhang Kapitel 6.3 und 6.4 von Maria und den Darstellungen ihrer persönlichen Konstrukte und Erklärungen, Anhang Kapitel 7.9 und 7.10 zu entnehmen.

267

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

2‘

Holz ölen Geschirr spülen

2‘ dreckig

Mittagessen

1‘

4 arbeiten 3 kein Hunger 1‘ nicht toll 5 gut arbeiten 7 konzentrieren

4 5 3 67

6‘ Pause 5‘ nicht oder schlecht arbeiten

6 genau arbeiten

3‘ Hunger 6‘ 4‘‘3‘7‘5‘ 7‘ Pausenhof

Kaffeemaschine putzen Hocker schrauben

1

Bestellzettel schneiden Arbeitsraum

Pause Café mit Chefin

7‘ ablenken 1 gut 4‘ Pause 2 sauber

2

Abbildung 20: Biplot – Maria | Interview 1

Die eher dichotome Zuweisung der einzelnen Konstrukte ist deutlich erkennbar. So liegen zwölf der 14 Konstruktpole recht nah an oder auf den einzelnen Koordinatenachsen und nahezu maximal weit vom Ursprung entfernt, was auf eine besonders hohe Korrelation mit der jeweiligen Achse hinweist. ›Gut-schlecht‹ liegt in Relation zur sehr hohen Korrelation sehr nah am Ursprung. Es korreliert vernachlässigbar gering und wird nicht berücksichtigt. Mit Komponente 1 links bringt Maria mit ›genau arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›kein Hunger‹, ›gut arbeiten‹ und ›konzentrieren‹ in Verbindung, wobei ›dreckig‹ aufgrund der Nähe zum Ursprung nicht interpretiert wird. Sie konstruiert so sechs (von sieben) Elemente ›Arbeitsraum‹, ›Bestellzettel schneiden‹, ›Hocker schrauben‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kaffeemaschine putzen‹ und ›Hocker ölen‹. ›Genau arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›kein Hunger‹, ›gut arbeiten‹ und ›konzentrieren‹ sowie die Beschreibungen lassen vermuten, dass sie damit Erfahrungen konstruiert, bei denen sie sorgfältig und fokussiert arbeiten muss. Sie verbindet sie mit Herausforderungen. Maria strengt sich beim Arbeiten wohl sehr an, sie versucht, alles richtig und gut zu machen sowie Aufgaben zufriedenstellend zu erledigen. Das mag mit eigenen oder fremden Ansprüchen – intrinsisch oder extrinsisch motiviert – zusammenhängen. Es ist anzunehmen, dass sie bei Arbeit große Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft zeigt, wohl auch zukünftig. Mit Komponente 2 oben, die Maria ausschließlich mit ›dreckig‹ in Zusammenhang bringt, konstruiert sie ›Geschirr spülen‹, ›Holz ölen‹ und ›Mittagessen‹. ›Arbeiten‹, ›Pause‹, ›Hunger‹, ›ablenken‹ und ›gut arbeiten‹ werden aufgrund ihrer relativen Nähe zum Ursprung nicht einbezogen. Sie beschreibt den Kon-

268

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

struktpol dahingehend, dass er mit Gegenständen zusammenhängt, die dreckig oder unordentlich sind. Man muss daran etwas verändern. Sie erlebt so Situationen, in denen ein Zustand nicht so bleiben kann. Die Gegenstände müssen sauber und ordentlich gemacht werden. Maria besitzt wohl Arbeitskriterien, die sie bei ihrer Tätigkeit beachten muss. Das Arbeitskriterium ist vermutlich bei verschiedenen Arbeitsprozessen relevant und wird kontrolliert. Der Parameter betrifft Arbeit und Pausen, aber nur drei von zehn Elementen; die Reichweite ist mäßig. Komponente 1 rechts verbindet sie mit ›Pause‹, ›nicht oder schlecht arbeiten‹, ›Hunger‹, ›ablenken‹ und ›Pause‹, wobei ›sauber‹ aufgrund der Ursprungsnähe nicht berücksichtigt wird. Sie umfasst ›Pausenhof‹, ›Pause‹, ›Café mit Chefin‹ und ›Mittagessen‹, also alle schulischen Pausen sowie die Arbeit ›Café mit Chefin‹. Reichweite und Einfluss erscheinen mäßig. Maria kann sich entspannen und ausruhen und muss sich nicht anstrengen. Darauf verweisen ›Pause‹, ›nicht oder schlecht arbeiten‹, ›Hunger‹, ›ablenken‹ und ›Pause‹.Vermutlich trifft sie auf Arbeit zu, die ihr, möglicherweise durch die Unterstützung der Chefin, leicht fällt. Komponente 2 unten bezieht sich auf ›sauber‹, wobei Maria sie auf ›Hocker schrauben‹, ›Bestellzettel schneiden‹, ›Arbeitsraum‹, ›Café mit Chefin‹, ›Pause‹, ›Kaffeemaschine putzen‹ und ›Pausenhof‹ anwendet. ›Nicht oder schlecht arbeiten‹, ›Pause‹, ›konzentrieren‹, ›kein Hunger‹ und ›genau arbeiten‹ üben aufgrund der Nähe zum Ursprung keinen Einfluss aus. Maria verbindet die Situationen mit Sauberkeit und Ordnung. Sie erklärt, dass dieser Zustand so bleiben könne und nichts zu verändertn sei. Sie konstruiert damit auch die Erfahrung ›Kaffeemaschine putzen‹ als Endergebnis der Arbeit; bei ›Geschirr spülen‹ trifft das Konstrukt auf den Arbeitsprozess zu. Es handelt sich wohl um ein wichtiges Arbeitskriterium. Maria bezieht den Parameter auf sieben der zehn Elemente und konstruiert sowohl Pausen als auch Arbeits damit. Reichweite und Einfluss sind wohl recht groß. Alle Elemente stehen nicht nur mit einem, sondern mit zwei Parametern in Zusammenhang, was dem Biplot zu entnehmen ist. Maria verortet alle Erfahrungen in Spannungsfeldern. ›Geschirr spülen‹ und ›Hocker ölen‹ verbindet sie mit sorgfältigem und fokussiertem Arbeiten, was für sie eine Herausforderung bedeutet und damit, dass etwas dreckig und unordentlich ist, was sie verändern muss. Bei beiden Erfahrungen muss sie eine Aufgabe mit einem bestimmten Kriterium erledigen. Sie weiß, dass sich ihre Arbeit am Kriterium orientieren muss und zeigt vermutlich Anstrengungsbereitschaft. Für Maria befinden sich zwei der sieben Arbeitserfahrungen in dem (weniger einflussreichen) Spannungsfeld. ›Mittagessen‹ verbindet Maria mit Dreck und Unordnung und damit, an der Situation etwas verändern zu müssen. Sie bringt sie mit Entspannung und

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

269

Ausruhen in Zusammenhang und muss sich nicht anstrengen. Für Maria steht die Erfahrung im Spannungsfeld, Kriterien zu (er)kennen und eine Vorstellung davon, zu haben, was sie verändern muss. Dennoch erlebt sie sich entspannt, kann sich ausruhen und entspannen. So konstruiert sie nur eine Pause. Die Konstruktion erscheint wenig einflussreich. ›Pausenhof‹, ›Café mit Chefin‹ und ›Pause‹ nimmt Maria entspannt und nicht anstrengend wahr, sie kann sich ausruhen. Sie verbindet die Erfahrungen mit Sauberkeit und Ordnung, also Zuständen, die sich nicht verändern müssen. Sie muss keine Verantwortung übernehmen. Im Rahmen des Spannungsfeldes konstruiert sie zwei der drei Pausen und eine Arbeitserfahrung. Vermutlich ist die Reichweite mäßig groß; es ist anzunehmen, dass sie eher Pausen als Arbeit damit konstruiert. Auch sind Situationen vorstellbar, die von Sauberkeit, Ordnung, wobei der Zustand nicht verändert werden muss, sorgfältigem, fokussiertem Arbeiten und Herausforderung geprägt sind. So sieht sie ›Arbeitsraum‹, ›Hocker schrauben‹, ›Bestellzettel schneiden‹ und ›Kaffeemaschine putzen‹. Das Spannungsfeld ist für Maria ausschließlich für Arbeit sinnvoll und mäßig (auch künftig) einflussreich. Interview II Maria absolviert ihr Praktikum in einem Betrieb, der einer WfbM angegliedert ist. Sie arbeitet in einem Café im hauswirtschaftlichen Bereich, z. B. im Service und in der Reinigung. Elemente und Konstrukte werden zunächst geordnet aufgeführt. Elemente der Schule: ›Hocker schrauben‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Pausenhof‹, ›Café mit Lehrerin‹, ›Pause Schule‹, ›Bestellzettel schneiden‹, ›Hocker ölen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kaffeemaschine putzen‹, ›Arbeitsraum Schule‹. Kontrukte des ersten Interviews: ›gut – nicht toll‹, ›sauber – dreckig‹, ›Hunger – kein Hunger‹, ›Arbeiten – Pause‹, ›gut arbeiten – nicht oder schlecht arbeiten‹, ›genau arbeiten – Pause‹, ›konzentrieren – ablenken‹. Elemente des Praktikums: ›Mittagessen Arbeiten‹, ›Pause Arbeiten‹, ›Kuchen schneiden‹, ›Arbeiten Arbeitsraum‹, ›Kassenbereich putzen‹, ›Kaffee machen mit Chefin‹, ›Servieren‹, ›Bestellung aufnehmen‹. Konstrukte des zweiten Interviews: ›nicht reden – reden‹, ›schön – nicht schön‹, ›nicht essen – essen‹, ›wichtig – nicht wichtig‹, ›hat gut geklappt – hat nicht gut geklappt‹, ›entspannt – nicht entspannt‹. Konstrukte, die sich im ersten und zweiten Interview überschneiden (in Klammern ist das Konstrukt des ersten Interviews aufgeführt): ›Pause – Arbeiten‹ (›Arbeiten – Pause‹), ›sauber – dreckig‹ (›sauber – dreckig‹), ›genau arbeiten – unkonzentriert‹ (›genau arbeiten – Pause‹).

270

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Bestellung aufnehmen

Arbeitsraum Schule

Kaffee machen mit Chefin Servieren

Kassenbereich putzen

Arbeitsraum Arbeiten

Kaffeemaschine putzen

Kuchen schneiden

Geschirr spülen

Hocker ölen

Bestellzettel schneiden

Pause Schule

Pause Arbeiten

Café mit Lehrerin

Mittagessen Arbeiten

Pausenhof

Mittagessen Schule

Hocker schrauben

Handauswertung

Nicht reden

Reden

arbeiten

Pause

schön

Nicht schön

Gut

Nicht toll

Kein Hunger

Hunger

Nicht essen

Essen

Konzentrieren

Ablenken

Gut arbeiten

Nicht …

Wichtig

Nicht wichtig

Genau arbeiten Hat gut geklappt Entspannt Sauber

Pause Hat nicht gut geklappt Nicht entspannt Dreckig

Abbildung 21: Elemente und persönliche Konstrukte – Maria | Interview 2

Im zweiten Interview gelingt es Maria, die schulische und außerschulische Arbeitssituation mit sieben neuen Konstrukten darzustellen und ihre Sinnzuweisungen zu erklären. Alle Konstrukte liegen dichotom vor. Dabei bezieht sie neue und alte Konstrukte auf beide Arbeitskontexte. Es ist davon auszugehen, dass sie alle Sinnzuweisungen auf weitere Erfahrungen anwendet. Marie rankt alle Elemente eher wieder polarisierend. Zwischenstufen nutzt sie selten. Das unterstreicht die Vermutung, dass sie eine weniger komplexe Sicht besitzt. Die Konstrukte lassen sich in die drei Komponenten beschreibend, wertend und selbstreflexiv einordnen. Sie äußert im zweiten Interview besonders viele Wertungen. Beschreibend nutzt sie bspw. ›nicht reden – reden‹, wertend ›hat gut geklappt – hat nicht gut geklappt‹ und selbstreflexiv ›entspannt – nicht entspannt‹. Die Initialpole sind weiter positiver besetzt als die Kontrastpole, was die Vermutung der positiven Sicht unterstreicht. Maria konstruiert 17 der 18 Erfahrungen als sehr oder eher ›schön‹, nur eine Erfahrung ist ›nicht schön‹. Mit dieser positiven Haltung tritt sie wohl weiteren Arbeitskontexten entgegen.

271

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Computergestützte Auswertung mit GridSuite

46

7‘ Essen

5

11

4 gut

8 konzentrieren

2‘ Pause 12

6 hat gut geklappt

1‘ Pause Arbeiten Pause Schule

11 schön 1‘ reden 12 entspannt 3‘ Pause 9‘ nicht oder schlecht arbeiten 13 sauber

7‘2‘ 8‘9‘ 3‘

Mittagessen Arbeiten Pausenhof Mittagessen Schule

Cafè mit Lehrerin

5‘

10 13

10‘ nicht wichtig

Bestellung aufnehmen 10‘ 13‘ Geschirr spülen Holz ölen Kaffeemaschine putzen Kaffee machen mit Chefin Arbeitsraum Arbeiten Servieren Arbeitsraum Schule Bestellzettel schneiden 23 7 Kassenbereich putzen 8 9 1

12‘

5 kein Hunger 7 nicht essen 13‘ dreckig 9 gut arbeiten 3 arbeiten 12‘ nicht entspannt

Kuchen schneiden 11‘

1 nicht reden 11‘ nicht schön

4‘ 6‘

10 wichtig

6‘ hat nicht gut geklappt

5‘ Hunger

2 genau arbeiten

8‘ ablenken

4 nicht toll

Hocker schrauben

Abbildung 22: Biplot – Maria | Interview 2

Dem Biplot lassen sich vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten entnehmen. Auch im zweiten Interview zeigt sich Marias klare Vorstellung von Arbeit und Pause. So befinden sich in linken Quadranten Pausen, in den rechten Arbeitserfahrungen. ›Café mit Chefin‹ konstruiert sie wieder vergleichbar mit einer Pause. Insgesamt sind die Elemente recht gleichmäßig auf alle Quadranten verteilt, was auf eine differenzierte Sicht schließen lässt. Die meisten Elemente korrelieren stärker mit den Komponenten 1 links und 1 rechts; diese Sinnzuweisungen erscheinen einflussreicher als 2 oben und 2 unten. Im rechten oberen Quadranten ballen sich einige Elemente. Hier finden sich neun der 18 Elemente, was auf eine dominante Konstruktion mit großer Reichweitet hindeutet. Manche Elemente korrelieren nur mit einer der beiden Koordinatenachsen. Die Korrelation der einzelnen Pole mit nur einer Komponente ist nicht mehr so deutlich. Alle Pole liegen weit genug entfernt vom Ursprung, um in der Interpretation berücksichtigt werden zu können. Es ist anzunehmen, dass Maria durch die vielseitigen Erfahrungen im Praktikum eine komplexere Sichtweise auf beide Arbeitsumfelder bekommt. Im Vergleich mit den beiden Abbildungen, Ranking und Biplot, zeigt sich eine Schwäche der Forschungsmethode. Einige Konstrukte verwendet Maria nur oder überwiegend in Bezug auf einen Konstruktpol. So nutzt sie einige Sinnzuweisungen auf die vorliegenden Elemente (hauptsächlich) unipolar, z. B. das Konstrukt ›hat gut geklappt – hat nicht gut geklappt‹. Das ist plausibel, da der Kontrastpol für sie existiert, allerdings nicht auf die Situationen zutrifft. Manche Kontrastpole bildet

272

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

der Biplot in Korrelation zu einer Komponente oder Elementen ab, die Maria – laut Ranking – nicht auf die Elemente bezieht. Das ist Berechnungen des Programms und den vielseitigen Beziehungsgeflechten ihrer Sinnkonstruktionen geschuldet. Um ihre Konstruktionen nicht zu verfälschen, werden die unipolaren Konstruktpole bei der Interpretation nicht weiter berücksichtigt. Komponente 1 links bezieht sich auf ›essen‹, ›Pause‹, ›nicht oder schlecht arbeiten‹, ›Pause‹ ›ablenken‹, ›Hunger‹, ›reden‹, ›sauber‹, wichtig‹, ›gut‹, ›hat gut geklappt‹, ›schön‹ und ›entspannt‹. Marie wendet sie auf ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Arbeiten‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Café mit Lehrerin‹, ›Pause Schule‹ und ›Pause Arbeiten‹ an. Alle Erfahrungen verknüpft sie mit einer Pause, Essen, Ausruhen und Freizeit mit anderen Personen. Darauf weisen ›essen‹, ›Pause‹, ›nicht oder schlecht arbeiten‹, ›Pause‹, ›ablenken‹, ›Hunger‹, ›reden‹ und ›entspannt‹ hin. Die Situationen sind positiv konnotiert und ›gut‹, ›schön‹ oder ›entspannt‹. Maria wendet den Sinnzusammenhang auf eine schulische Arbeitssituation ›Café mit Lehrerin‹ und drei schulische bzw. zwei außerschulische Pausen an. Pausen konstruiert sie wohl grundsätzlich damit. Sie erlebt ›Café mit Lehrerin‹ eher als Pause, muss sich wohl nicht anstrengen und keine Verantwortung übernehmen. Möglicherweise finden die Pausen im Praktikum immer im Zusammenhang mit essen, entspannen und anderen Personen statt, für Maria sehr angenehm. Die differenziertere Sinnkonstruktion, so die Annahme, überträgt sie auf den schulischen (vermutlich auf zukünftigen) Kontext; sie besitzt eine große Reichweite. Komponente 2 oben konstruiert Maria mit ›gut‹, ›hat gut geklappt‹, ›schön‹, ›kein Hunger‹, ›entspannt‹, ›dreckig‹, ›nicht wichtig‹, ›reden‹, ›Pause‹ und ›Pause‹; ›nicht oder schlecht arbeiten‹, ›essen‹ und ›ablenken‹ werden aufgrund der geringen Korrelation vernachlässigt. Sie verbindet sie mit ›Pause Arbeiten‹, ›Pause Schule‹, ›Kaffee machen mit Chefin‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Kaffeemaschine putzen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Bestellung aufnehmen‹, ›Servieren‹, ›Arbeitsraum Schule‹ und ›Hocker ölen‹. ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Arbeiten‹ und ›Bestellzettel‹ korrelieren unerheblich. Sie erlebt die Erfahrungen sehr angenehm und bringt sie mit persönlichem Erfolg und Wohlbefinden in Zusammenhang. Darauf lassen ›gut‹, ›hat gut geklappt‹, ›schön‹, ›kein Hunger‹, ›entspannt‹, ›Pause‹ und ›Pause‹ schließen. Die Komponente ist sehr positiv belegt und umfasst Arbeit und Pausen aus Schule und Praktikum. Die Reichweite ist groß. Möglicherweise macht sie im Praktikum sehr gute Erfahrungen und erlebt sich erfolgreich sowie kompetent. Für ihre Leistung erhält sie wohl positive Rückmeldungen. Jeweils fünf der insgesamt zehn Erfahrungen beziehen sich auf das Praktikum bzw. die Schule; sie konstruiert beide Konexte vergleichbar. Komponente 1 rechts wird von ›gut arbeiten‹, ›nicht essen‹, ›konzentrieren‹, ›arbeiten‹, ›genau arbeiten‹, ›kein Hunger‹, ›nicht reden‹, ›dreckig‹ und ›nicht entspannt‹ beeinflusst. Wie oben geschildert, werden einige Kontrastpole (›hat nicht gut geklappt‹, ›nicht toll‹, ›nicht wichtig‹, ›nicht schön‹) von der Interpre-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

273

tation ausgeschlossen. Der Parameter trifft auf ›Kassenbereich putzen‹, ›Bestellzettel schneiden‹, ›Hocker ölen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Servieren‹, ›Bestellung aufnehmen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Kaffeemaschine putzen‹, ›Hocker schrauben‹, ›Kuchen schneiden‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹ und ›Kaffee machen mit Chefin‹ zu. Sie konstruiert Situationen, in denen sie sorgfältig und ohne Ablenkung arbeitet. Außerdem erlebt sie die Tätigkeiten als Herausforderungen. Auf die Vermutungen weisen ›gut arbeiten‹, ›nicht essen‹, ›konzentrieren‹, ›arbeiten‹, ›genau arbeiten‹, ›kein Hunger‹, ›nicht reden‹ und ›nicht entspannt‹ hin. Maria muss sich sehr anstrengen und gut sowie gewissenhaft arbeiten. Sie zeigt wohl große Anstrengungsbereitschaft und Motivation. Mit der Komponente verbindet sie zwölf der 13 Arbeitserfahrungen aus Schule und Praktikum. Der Parameter ist vermutlich auf künftig relevant. Mit Komponente 2 unten bringt Maria ›Hunger‹, ›nicht entspannt‹, , ›nicht reden‹, ›genau arbeiten‹ und ›arbeiten‹ in Verbindung, wobei ›nicht toll‹, ›dreckig‹ ›nicht schön‹, ›nicht wichtig‹, ›hat nicht gut geklappt‹, ›nicht essen‹, ›gut arbeiten‹ und ›konzentrieren‹ entweder aufgrund der Nähe zum Ursprung oder der (überwiegend) unipolaren Nutzung zu vernachlässigen sind. Maria wendet den Parameter auf ›Hocker schrauben‹ und ›Kuchen schneiden‹ an. ›Kassenbereich putzen‹, ›Café mit Lehrerin‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Bestellzettel schneiden‹ stehen in keinem beachtenswerten Bezug. Für sie hängt der Parameter mit einer unangenehmen Situation in Zusammenhang, darauf verweisen ›Hunger‹ und ›nicht entspannt‹, wobei auch ›nicht reden‹ verortet wird. Außerdem ist ›genau arbeiten‹ und ›arbeiten‹ zu entnehmen, dass sie damit Aktivität und Arbeit verbindet. Sie verknüpft die Situationen wohl damit, sich nicht wohlzufühlen und nimmt sie negative wahr. Es ist anzunehmen, dass die Sichtweise mit Erfahrungen des Praktikums zusammenhängen, möglicherweise mit Kolleg*innen oder anderen Arbeitsumständen. Vielleicht überfordern Maria die Aufgaben oder sie kann sich nicht ausreichend fokussieren. Ebenso ist denkbar, dass es strikte Regeln gibt, worauf ›nicht reden‹ und ›genau arbeiten‹ hindeuten. Maria verbindet damit zwei der 18 Erfahrungen; die Reichweite erscheint gering. Einige Elemente treffen auf zwei Komponenten zu. ›Pause Schule‹ und ›Pause Arbeiten‹ liegen im Spannungsfeld von Essen, Ausruhen und Freizeit mit anderen Personen verbringen (positiv) und Wohlbefinden, persönlichem Erfolg (angenehm, positiv). ›Mittagessen Arbeiten‹ und ›Pausenhof‹ korrelieren vernachlässigbar mit der letzteren Komponente und stehen weniger im Spannungsfeld. Maria kann die Pausen wohl genießen; vielleicht weil sie zuvor Tätigkeiten verrichtet, die ihr gut gelingen und für die sie positive Rückmeldung erhält. Möglicherweise bezieht sich das Spannungsfeld darauf, sich eine Pause durch gute Arbeit ›verdient‹ zu haben. So konstruiert sie wohl auch künftige Pausen.

274

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Die acht Situationen ›Kaffee machen mit Chefin‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Kaffeemaschine putzen‹, ›Geschirr spülen‹, ›Bestellung aufnehmen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Servieren‹ und ›Hocker ölen‹ verbindet Maria mit einer angenehmen Situation, persönlichem Erfolg und Wohlbefinden, was sie positiv konnotiert. Sie konstruiert sie auch mit sorgfältigem Arbeiten und darf sich nicht ablenken lassen, was sie herausfordernd erlebt. ›Bestellzettel schneiden‹ korreliert kaum mit der ersten Komponente und ist daher weniger im Spannungsfeld zu verstehen. Möglicherweise erlebt sich Maria durch das Praktikum kompetent und handlungsfähig. Sie erhält vermutlich positive Rückmeldung. Vielleicht motivieren sie gute Arbeitsergebnisse, die sie durch Anstrengung und gründliche Arbeit erzielt. Einfluss und Reichweite des Spannungsfelds sind (auch zukünftig) recht groß. Maria verbindet ›Kuchen schneiden‹ und ›Hocker schrauben‹ mit sorgfältigem Arbeiten, bei dem sie sich nicht ablenken lässt und herausgefordert wird und damit, sich nicht wohlzufühlen (unangenehm, negativ). ›Kassenbereich‹ korreliert hauptsächlich mit der ersten Komponente. Möglicherweise erlebt Maria im Praktikum auch persönliches Scheitern. Vielleicht sind manche Tätigkeiten zu anstrengend und überfordernd, vielleicht erhält sie negative Rückmeldung, was wohl abträglich für ihre Anstrengungsbereitschaft ist. Das Spannungsfeld erscheint wenig einflussreich zu sein. Kein Element bezieht sie darauf, sich nicht wohlzufühlen (unangenehm, negativ) und gleichzeitig essen, sich ausruhen zu können und ihre Freizeit mit anderen Personen zu verbringen (positiv). ›Café mit Lehrerin‹ und ›Mittagessen Schule‹ korrelieren unerheblich mit der ersten Komponente. Beide Aspekte schließen sich wohl (auch künftig) gegenseitig aus. Vergleichende Auswertung beider Interviews Vergleich der Handauswertung Persönliche Konstrukte Interview I gut – nicht toll

Interview II nicht reden – reden

sauber – dreckig kein Hunger – Hunger

schön – nicht schön nicht essen – essen

arbeiten – Pause gut arbeiten – nicht oder schlecht arbeiten

wichtig – nicht wichtig hat gut geklappt – hat nicht gut geklappt

genau arbeiten – Pause konzentrieren – ablenken

entspannt – nicht entspannt

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

275

Im Rahmen beider Interviews äußert Maria drei identische persönliche Konstrukte. Interview I arbeiten – Pause

Interview II Pause – arbeiten

sauber – dreckig genau arbeiten – Pause

sauber – dreckig genau arbeiten – unkonzentriert

In beiden Interviews äußert Maria inhaltlich identische Sinnzuweisungen. So benennt sie drei Konstrukte, die sie gleich beschreibt und sehr ähnliche Beispiele findet. Die drei Konstrukte sind wohl besonders stabil sind und nicht von den Erfahrungen des Praktikums verändert. Alle Konstrukte lassen sich beschreibend, wertend und selbstreflexiv einordnen. Beschreibende Konstrukte Interview I sauber – dreckig

Interview II nicht reden – reden

kein Hunger – Hunger arbeiten – Pause

essen – nicht essen

Wertende Konstrukte Interview I gut arbeiten – nicht oder schlecht arbeiten

Interview II hat gut geklappt – hat nicht gut geklappt

genau arbeiten – Pause konzentrieren – ablenken

Selbstreflexive Konstrukte Interview I gut – nicht toll

Interview II schön – nicht schön wichtig – nicht wichtig entspannt – nicht entspannt

Maria weist allen Erfahrungen beschreibend, wertend und selbstreflexiv Sinn zu. In beiden Befragungen äußert sie ähnlich viele beschreibende Konstrukte, wobei diese im zweiten inhaltlich über das erste Interview hinaus gehen. Sie kommt wohl durch das Praktikum zu differenzierteren Sinnzuweisungen. Im ersten Interview nutzt Maria drei wertende Konstrukte, im zweiten äußert sie ein Neues. Es bezieht sich auf den Erfolg von Arbeit. Möglicherweise wird während des Praktikums verstärkt auf das Ergebnis und weniger auf den Arbeitsprozess ge-

276

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

achtet. In der Schule sind die wertenden Konstrukte eher prozessorientiert. Maria äußert im ersten Interview ein selbstreflexives Konstrukt, im zweiten Interview sind es drei. Sie bezieht Erfahrungen im Praktikum wohl stärker auf sich; vielleicht achtet sie stark auf die eigene Befindlichkeit. Alle Konstrukte bringt Maria in beiden Interviews mit allen Elementen in Verbindung, sie haben eine große Reichweite. Sie nutzt die Konstrukte polarisierend und verwendet selten Zwischenstufen, was auf eine eher weniger komplexe Sichtweise hindeutet. Sie konstruiert beide Arbeitskontexte, wohl auch zukünftige, sehr positiv und hat eine klare Vorstellung von Pause und Arbeit. Vergleich der computergestützten Auswertung Marias Sinnkonstruktionen lassen sich in beiden Interviews vier Komponenten zuordnen, die sich teilweise ähneln, teilweise weichen sie voneinander ab. Einige erscheinen stabil, andere unterliegen durch den Einfluss des Praktikums Veränderungen. Nach dem Praktikum zeigt sich eine positive oder negative Konnotation der Komponenten. Davor lässt sich dieser Aspekt nicht interpretieren. Vermutlich erhält sie durch das Praktikum eine klarere Vorstellung davon, welche Situationen positiv bzw. negativ sind. Die strikte Trennung von ›Arbeit‹ und ›Pause‹ zeigt sich bei beiden Interviews; es handelt sich – so auch künftig – um eine besonders stabile Sinnzuweisung. Vor und nach dem Praktikum konstruiert Maria nahezu alle Arbeitssituationen im Rahmen von sorgfältiger und fokussierter Arbeit, ohne sich ablenken zu lassen, für sie eine Herausforderung. Es lassen sich kaum Hinweise auf eine positive oder negative Rahmung finden; vermutlich steht sie den Situationen neutral gegenüber. In beiden Befragungen verbindet Maria die gleichen Konstruktpole mit der Komponente und wendet sie auf die gleichen schulischen Arbeitserfahrungen an. Die Sinnzuweisung erscheint stabil. Nach dem Praktikum verbindet sie alle außerschulischen Arbeitserfahrungen damit. Im zweiten Interview wird sie zusätzlich von ›nicht entspannt‹, ›nicht reden‹, ›dreckig‹, ›nicht essen‹ präzisiert. Zum einen lassen die neuen Pole darauf schließen, dass beim Praktikum Arbeitskriterien (›dreckig‹) relevant sind. Außerdem gibt es wohl strengere Arbeitsregeln (›nicht reden‹, ›nicht essen‹). Ihre Vorstellung von sorgfältigem und fokussiertem Arbeiten wird genauer; sie nimmt das als Herausforderung wahr. Die Komponente bleibt in ihrer Grundkonstruktion wohl bestehen; sie wird aber erweitert. Eine weitere Komponente ist vor und nach dem Praktikum in ihrer Grundrahmung stabil. Alle Pausen und eine schulische Arbeitserfahrung verbindet Maria mit Ausruhen. Vor dem Praktikum sind Entspannung und keiner Anstrengung relevant, nach dem Praktikum Essen und Freizeit mit andern Personen; sie ist nun positiv gerahmt. Die Konstruktpole der Komponente bleiben gleich, allerdings verbindet sie danach mehr Pole (›essen‹, ›reden‹, ›sauber‹,

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

277

›wichtig‹, ›gut‹, ›hat gut geklappt‹, ›schön‹, ›entspannt‹) damit. Die positive Sicht ist deutlich erkennbar. Vielleicht sind Pausen im Praktikum für Maria besonders wichtig. Möglicherweise ist die Arbeit anstrengender. Es ist anzunehmen, dass sie sich in den außerschulischen Pausen sehr wohl fühlt. Die positive Konstruktion überträgt sie auf die Pausen der Schule. Es ist davon auszugehen, dass das Praktikum einen entscheidenden Einfluss auf die Präzisierung und Erweiterung der Sinnzuweisungen hat. Vor dem Praktikum werden zwei Komponenten von jeweils einem Pol beeinflusst. Maria konstruiert manche Elemente bspw. als dreckig, unordentlich und mit dem Anspruch, hier etwas verändern zu müssen, andere mit Sauberkeit und Ordnung, einem Zustand der nicht verändert werden muss. Beide Komponenten existieren nach dem Praktikum nicht mehr. Sie waren wohl instabil und hingen mit der Schule zusammen. Neue Erfahrungen des Praktikums verändern oder überlagern wohl die beiden Komponenten. Nach dem Praktikum ist eine neue Komponente besonders einflussreich. Maria konstruiert zehn der achtzehn schulischen und außerschulischen Erfahrungen mit persönlichem Erfolg und Wohlbefinden, für sie angenehm und positiv. Sie erlebt sich im Praktikum wohl einflussreich und erfolgreich. Die Ergebnisorientierung des Praktikums wird sichtbar. Dennoch konstruiert sie auch die Schule damit. Die Komponente ist einflussreich und hat (wohl auch künftig) eine große Reichweite. Nach dem Praktikum verbindet sie zwei Arbeitserfahrungen, eine schulische und eine außerschulische, damit, sich nicht wohlzufühlen, für sie unangenehm und negativ. Möglicherweise ist Maria durch die neue Arbeitsumgebung oder einzelnen Faktoren verunsichert, was sich negativ auf ihre Befindlichkeit niederschlägt; sie überträgt den Sinn auf die Schule, wobei die Reichweite wohl eher gering erscheint. Vor und nach dem Praktikum sind Ähnlichkeiten und Veränderungen festzustellen. So zeigt sich nach dem Praktikum, dass Maria zwei der vier Komponenten positiv, eine eher neutral und eine negativ konstruiert. Vor dem Praktikum lässt sich keine derartige Einschätzung vornehmen. In der ersten Befragung zeigt sich eine Verdichtung in Bezug auf die drei Komponenten, sauber/ordentlich/ kann so bleiben, Entspannung/Ausruhen/keine Anstrengung und sorgfältig und fokussiert Arbeiten/Herausforderung. Im zweiten Interview nimmt sie viele Situationen entspannt wahr; ihre Sicht verändert sich, so dass nun Essen, Freizeit mit anderen Personen und eine positive Sicht relevant werden. Sorgfältigkeit und ohne Ablenkung zu arbeiten, für sie herausfordernd, bleibt einflussreich. Die neue Komponente (Erfolg/Wohlbefinden/angenehm/ positiv) scheint maßgebend und zeigt die positive Arbeitshaltung.

278

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

4.3.1.6 Paul Interview I Paul arbeitet im schulischen Wäscheservice, der Handtücher und Lappen der Schule wäscht. Er muss Wäsche einsammeln, waschen, bügeln, zusammenlegen und verteilen. Die Elemente der Schule: ›Pause Schule‹, ›Pausenhof‹, ›frische Wäsche für Frau Müller‹, ›Mittagessen Schule‹, ›bügeln‹, ›Wäsche verteilen‹, ›schmutzige Wäsche einsammeln‹, ›Wäsche sortieren‹, ›Arbeiten mit Lehrerin‹, ›Arbeitsraum Schule‹.

Arbeitsraum

Arbeiten mit Chefin

Wäsche in den Korb legen

Mittagessen

Schmutzige Wäsche einsammeln

Wäsche verteilen

Pause

Frische Wäsche zu Frau Müller …

Bügeln

Pausenhof

Handauswertung

Draußen

Drinnen

Laufen

Rumstehen/sitzen

Chillen/rumlaufen

Kein Bock

Mein Ding

Nicht mein Ding

Ok

Schlecht

Aufpassen

Helfen

Wäsche

Waschmaschine

Arbeiten

Nichts tun

Abbildung 23: Elemente und persönliche Konstrukte – Paul | Interview 1

Paul äußert im ersten Interview acht persönliche Konstrukte. Es gelingt ihm, die einzelnen Konstruktpole zu beschreiben und Beispiele zu finden, um sie zu erklären.1219 Alle Sinnzuweisungen liegen dichotom vor. Die Reichweite aller Konstrukte bezieht sich auf alle vorliegenden Erfahrungen und vermutlich auch weitere Situationen. 1219 Alle Überlegungen und Interpretationen lassen sich mit den Darstellungen der persönlichen Konstrukte und Erklärungen, Anhang Kapitel 7.11. und 7.12 belegen.

279

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Er nutzt beim Ranking alle Zwischenstufen. Das deutet darauf hin, dass Paul die einzelnen Erfahrungen differenziert und komplex wahrnimmt. Die Konstrukte lassen sich als beschreibend, wertend und selbstreflexiv einordnen, wobei er bspw. ›laufen – rumstehen/sitzen‹ beschreibend, ›aufpassen – helfen‹ wertend und ›ok – schlecht‹ selbstreflexiv anwendet. Er äußert auch das Konstrukt ›Wäsche – Waschmaschine‹. Die Erklärungen bzw. Beispiele legen die Vermutung nahe, dass es sich dabei um kein echtes Konstrukt handelt, sondern um eine Verknüpfung im gleichen semantischen Feld. Im zweiten Interview wird Paul daher nochmal gefragt, wie das Konstrukt gemeint ist. Da er das nicht (mehr) erklären kann, wird es in den folgenden Ausführungen vernachlässigt. Paul kann bspw. präzise sagen, welche Situationen er mit ›chillen/rumlaufen‹ verbindet, für ihn positiv und welche Erfahrungen er mit ›kein Bock‹ in Zusammenhang bringt, für ihn negativ. Er besitzt der Schule gegenüber eine positive Haltung; die Hälfte aller Elemente nimmt er positiv (›ok‹, ›mein Ding‹) wahr. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass er Konstrukte zunächst über positiv besetzte Initialpole erzeugt. Er begegnet Arbeit wohl mit einer positiven Grundhaltung. Computergestützte Auswertung mit GridSuite 8‘

7 Pausenhof

Pause

1

8‘ nichts tun

7‘ Waschmaschine Mittagessen

3‘ kein Bock

1 draußen 2 laufen

6‘ helfen 3‘

4‘ nicht mein Ding 5‘ schlecht 2‘ rumstehen/sitzen

2

6‘

Schmutzige Wäsche einsammeln

4‘ Frische Wäsche zu Frau Müller bringen 5‘

4

6 Wäsche verteilen

2‘

1‘ drinnen

5 ok

5

3

Arbeiten mit Chefin

4 mein Ding 6 aufpassen 3 chillen/rumlaufen 7 Wäsche

8 arbeiten Bügeln

Arbeitsraum Wäsche in den Korb legen

1‘

7

8

Abbildung 24: Biplot – Paul | Interview 1

Pauls Sinnzuweisungen lassen sich durch vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten einordnen. Die Verteilung der Elemente unterstreicht die Vermutung, Pauls differenzierter Sinnkonstruktion, darauf verweist auch das Dendrogramm. Teilweise sind Verdichtungen erkennbar. Einige Elemente stehen

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

im Spannungsfeld zwischen zwei Komponenten, er nimmt mehrere Aspekte wahr. Die Elemente ›Mittagessen‹ und ›schmutzige Wäsche einsammeln‹ stehen für ihn nur mit der Komponente 2 oben in Bezug. Aufgrund der Nähe zum Ursprung wird ›schmutzige Wäsche einsammeln‹ nicht interpretiert. Komponente 1 links hängt mit ›nicht mein Ding‹, ›schlecht‹, ›kein Bock‹, ›helfen‹, ›arbeiten‹, ›drinnen‹, ›rumstehen/sitzen‹ und ›frische Wäsche für Frau Müller‹, ›Bügeln‹ und ›Pausenhof‹ zusammen, wobei ›Mittagessen‹ aufgrund der geringen Korrelation nicht betrachtet wird. ›Nicht mein Ding‹, ›schlecht‹ und ›kein Bock‹ korrelieren besonders stark mit der Komponente. Paul verbindet den Parameter damit, keine Lust auf die Situationen zu haben und keinen Spaß damit zu verbinden; er konstruiert ihn recht negativ. Auch eigene Aktivität ist einflussreich, worauf ›arbeiten‹ und ›helfen‹ hinweisen. Möglicherweise handelt es sich um einen Kausalzusammenhang: Paul gefallen die Situationen nicht, weil er aktiv sein und sich einbringen muss oder weil er sich langweilt. Die Reichweite bezieht sich auf drei Pausen- und Arbeitserfahrungen und wohl auch zukünftige Situationen. Möglicherweise würde er sich (in Pausen) lieber mehr entspannen bzw. passiver verhalten. Komponente 2 oben ergibt sich aus ›nichts tun‹, ›draußen‹, ›kein Bock‹, ›laufen‹, ›helfen‹ und ›ok‹, wobei die ersten beiden Aspekte besonders einflussreich sind. Paul konstruiert ›Pausenhof‹, ›Pause‹ und ›Mittagessen‹ mit einer Pause, die er im Freien verbringt; darauf verweisen ›nichts tun‹ und ›draußen‹. Manche Aspekte findet er in Ordnung, ›ok‹, hat auf anderes keine Lust, ›kein Bock‹; vermutlich wendet er die Komponente differenziert, positiv oder negativ an. In Pausen ist ihm möglicherweise langweilig. Seine Äußerungen deuten nicht darauf hin, dass Pausen für ihn (auch künftig) erstrebenswert sind oder er sie genießt. Komponente 1 rechts bezieht sich auf ›mein Ding‹, ›ok‹, ›chillen/rumlaufen‹, ›aufpassen‹, ›laufen‹, ›nichts tun‹, ›draußen‹. Für ihn fallen die fünf Elemente ›Pause‹, ›Arbeiten mit Chefin‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Wäsche in den Korb legen‹, und ›Arbeitsraum‹, also Pause und Arbeit darunter. Sie trifft eher auf Arbeit zu, wenn er Spaß und Lust (›mein Ding‹, ›ok‹ und ›chillen/rumlaufen‹) auf etwas hat. Außerdem bewegt er sich in den Situationen, er ist aktiv (›aufpassen‹, ›laufen). Er bringt sich in den Situationen wohl motiviert und aktiv ein. Der Parameter ist positiv und besitzt wohl auch künftig große Reichweite und Einfluss. Komponente 2 unten wird von ›arbeiten‹, ›drinnen‹, ›rumstehen/sitzen‹, ›aufpassen‹, ›schlecht‹ und ›chillen/rumlaufen‹ beeinflusst. Paul konstruiert ›Wäsche in den Korb legen‹, ›Arbeitsraum‹, ›Bügeln‹, ›Arbeiten mit Chefin‹, ›Wäsche verteilen‹ und ›frische Wäsche für Frau Müller‹ damit. Er sieht fast alle, sechs der sieben Arbeitserfahrungen, derart, was auf großen Einfluss und Reichweite schließen lässt. Paul verbindet den Parameter damit, im Gebäude einer Tätigkeit nachzugehen (›arbeiten‹, ›drinnen‹ und ›aufpassen‹), für ihn

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

281

positiv (›chillen/rumlaufen‹), aber eher negativ (›schlecht‹) konstruiert. Er bringt sie, wohl in Abhängigkeit von der Situation, mit Aktivität und auch Passivität in Verbindung. Er findet die Arbeit wohl nicht sonderlich spannend oder abwechslungsreich; er bringt sich vermutlich weniger aktiv ein. Die Komponente ist wahrscheinlich auch zukünftig einflussreich. Einige Elemente stehen für ihn nicht nur in Verbindung mit einer Komponente, er konstruiert sie vielschichtig, mit mehreren Aspekten. Insgesamt versieht Paul acht der insgesamt zehn Elemente mit zwei Komponenten. Er bringt ›Pausenhof‹ mit eigener Aktivität, keinem Spaß und keiner Lust in Verbindung, für ihn negativ konnotiert. Ebenso konstruierter er ihn auch mit Pause im Freien, für ihn positiv oder negativ. ›Mittagessen‹ korreliert vernachlässigbar mit dem ersten Parameter. Für Paul können beide Sinnkonstruktionen gleichzeitig zutreffen. Möglicherweise bezieht er die Pause mit der eigenen Aktivität, er muss sich vielleicht aktiv zeigen, worauf er keine Lust hat; vielleicht langweilt ihn die Pause. Es ist vorstellbar, dass er in Pausensituationen dazu aufgefordert wird, sich zu bewegen oder Verantwortung für andere zu übernehmen, für ihn negativ. Paul konstruiert hier nur eine schulische Pausensituation; das Spannungsfeld ist wohl (auch zukünftig) wenig einflussreich. Die Komponenten Pause im Freien (positiv oder negativ) und Spaß, Lust, bewegen (positiv) bezieht er auf das Element ›Pause‹. Anders als das Element ›Pausenhof‹ verbindet er die Pause im Freien mit Spaß, Lust und Bewegung. Pausen können ihm also auch Spaß machen. Möglicherweise nimmt er seine Freizeit unterschiedlich wahr. Sie hängt wohl von verschiedenen Faktoren ab. Er sieht nur eine Pausenerfahrung so; daher ist fraglich, ob er zukünftige Pausensituationen derart konstruiert ›Arbeiten mit Chefin‹, ›Wäsche verteilen‹, Wäsche in den Korb legen‹ und ›Arbeitsraum‹ bringt Paul mit Spaß, Lust und Bewegung in Verbindung (positiv), allerdings auch damit, dass er einer Tätigkeit im Gebäude nachgeht (positiv oder negativ). Möglicherweise ist Paul für die Tätigkeiten motiviert und zeigt Anstrengungsbereitschaft. Vielleicht bewegt er sich beim Arbeiten gerne oder das vertraute Schulgebäude erleichtert ihm die Arbeit. Die Parameter schließen sich nicht gegenseitig aus. Die Komponenten treffen auf vier der sieben Arbeitserfahrungen zu und sind wohl (auch zukünftig) einflussreich. ›Frische Wäsche für Frau Müller‹ und ›Bügeln‹ konstruiert er damit, einer Tätigkeit im Gebäude nachzugehen (negativ oder positiv) und dass sie ihm keinen Spaß machen bzw. er keine Lust darauf hat; er muss sich aktiv einbringen (negativ). Es ist davon auszugehen, dass er beide Elemente negativ erlebt. Vermutlich hat das Schulgebäude weniger Einfluss auf seine Konstruktion. Es hängt wohl von anderen Faktoren ab, möglicherweise den Tätigkeiten selbst, ob er motiviert ist oder nicht. Für beide Situationen bringt er wohl wenig Motivation auf. Das Spannungsfeld erscheint nicht besonders einflussreich.

282

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview II Paul verbringt sein Praktikum im Arbeitsbereich einer WfbM. Zu seinen Tätigkeiten gehören insbesondere Montageaufgaben. Um eine bessere Übersicht über die jeweiligen Elemente und Konstrukte zu erhalten, werden sie aufgeführt. Elemente der Schule: ›Pause Schule‹, ›Pausenhof‹, ›frische Wäsche für Frau Müller‹, ›Mittagessen Schule‹, ›bügeln‹, ›Wäsche verteilen‹, ›schmutzige Wäsche einsammeln‹, ›Wäsche sortieren‹, ›Arbeiten mit Lehrerin‹, ›Arbeitsraum Schule‹. Persönliche Konstrukte des ersten Interviews: ›draußen – drinnen‹, ›laufen – rumstehen/sitzen‹, ›chillen/rumlaufen – kein Bock‹, ›mein Ding – nicht mein Ding‹, ›ok – schlecht‹, ›aufpassen – helfen‹, (›Wäsche – Waschmaschine‹), ›arbeiten – nichts tun‹. Elemente des Praktikums: ›Pause Arbeiten‹, ›Speisesaal Arbeiten‹, ›Heißklebepistole bedienen‹, ›blaue Griffe montieren‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Arbeit mit Chefin‹. Konstrukte des zweiten Interviews: ›niemand da – viele Menschen‹, ›essen – nicht essen‹, ›alleine – zusammen‹, ›niemand guckt – jemand guckt‹, ›langweilig – aufgeregt‹, ›nervig – ganz ok‹, ›komisch/ungewohnt – gut‹. Identische Konstrukte des ersten und zweiten Interviews: ›arbeiten – nichts tun‹ (›nichts tun – arbeiten‹), ›Spaß – keine Lust‹ (›chillen/rumlaufen – kein Bock‹), ›draußen – drinnen‹ (›draußen – drinnen‹), ›laufen – stehen‹ (›laufen – rumstehen/sitzen‹) Handauswertung Paul äußert im zweiten Interview sieben weitere Konstrukte, die er auf alle Erfahrungen der Schule und des Praktikums anwendet. Alle Sinnzuweisungen, auch die des ersten Interviews, haben große Reichweite und erfassen alle Erfahrungen. Sie liegen dichotom vor. Paul nutzt die Ranking-Skala von eins bis fünf differenziert aus. Er äußert beschreibende, z. B. ›niemand guckt – jemand guckt‹ und selbstreflexive persönliche Konstrukte, z. B. ›nervig – ganz ok‹. Wertungen nutzt er beim zweiten Interview nicht. Den selbstreflexiven Konstrukten ist zu entnehmen, dass er beide Arbeitkontexte positiv wahrnimmt. Das Praktikum erscheint etwas negativer gerahmt. Sehr deutlich ist das bei den außerschulischen Pausen. Die Schule konstruiert er noch positiver als im ersten Interview. Das lässt vermuten, dass er im Praktikum Erfahrungen sammelt, welche seine Sicht auf die Schule verändern. Das könnten bspw. negative Erfahrungen im Praktikum sein. Da Paul im ersten Interview eine positive Arbeitshaltung zeigt, begegnet er so wohl auch zukünftigen Arbeitskontexten.

283

Arbeitsraum Schule

Arbeiten mit Lehrerin

Wäsche sortieren

Schmutzige Wäsche einsammeln

Wäsche verteilen

Bügeln

Arbeit mit Chefin

Arbeitsraum Arbeiten

Blaue Griffe montieren

Mittagessen Schule

Heißklebepistole bedienen

Frische Wäsche für Frau Müller

Pausenhof

Pause Schule

Speisesaal Arbeiten

Pause Arbeiten

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Kein Bock

Chillen/rumlaufen

Niemand da

Viele Menschen

Laufen

Rumstehen/ sitzen

Nichts tun

Arbeiten

Draußen

Drinnen

Aufpassen

Helfen

Essen

Nicht essen

Alleine

Zusammen

Niemand guckt

Jemand guckt

Langweilig

Aufgeregt

Nervig

Ganz ok

Nicht mein Ding

Mein Ding

Komisch/ ungewohnt

Gut

Schlecht

Ok

Abbildung 25: Elemente und persönliche Konstrukte – Paul | Interview 2

Computergestützte Auswertung mit GridSuite Pauls Sinnzuweisungen lassen sich anhand der vier Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten interpretieren. An Parameter 1 fällt eine Verdichtung der Konstruktpole auf, er scheint einflussreich und weitreichend. Einige Pole korrelieren markant, andere weniger. Das weist darauf hin, dass seine Konstruktion weniger komplex, eher klar und eindeutig ist. Die gleichmäßige Verteilung der Elemente allerdings verweist auf eine eher differenzierte Sicht. Wahrscheinlich konstruiert er die Komponenten eindeutig, die Elemente komplex. Die trennscharfe Einteilung der Elemente in ›Arbeit‹ und ›nichts tun‹ ist dominant. In den oberen Quadranten sind alle Elemente, die er mit einer Pause in Verbindung bringt, während unten alle Arbeitssituationen liegen. Er besitzt wohl eine genaue Vorstellung vom Unterschied zwischen Pausen und Arbeit und kann entsprechend handeln. Die Arbeitserfahrungen beider Kontexte sind gemischt; er konstruiert sie ähnlich.

284

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

12‘ mein Ding

7

11 nervig 6

10 langweilig

5Pausenhof

4

Pause Schule

5 draußen

6 aufpassen 9 niemand guckt 8 alleine 2‘ viele Menschen 13 komisch/ungewohnt 14 schlecht

Mittagessen Schule

Speisesaal arbeiten

9‘ jemand guckt

Pause Arbeiten 11 13 1210 14 1

2‘

8‘ zusammen

3 1‘

98 Blaue Griffe montieren 3‘ Heißklebepistole Arbeitsraum Arbeiten 2 bedienen

10‘14‘ 12‘ 13‘ 8‘ mit Chefin 11‘ Arbeit 9‘

Arbeitsraum Schule Wäsche sortieren Wäsche verteilen Bügeln Arbeiten mit Lehrerin Schmutzige Wäsche einsammeln Frische Wäsche verteilen

3‘ rumstehen/sitzen 1 kein Bock

1‘ Chillen/rumlaufen 3 laufen 14‘ok 13‘ gut 2 niemand da 11‘ ganz ok

5‘ drinnen 7‘ nicht essen

10‘ aufgeregt 7 essen

4 nichts tun

5‘

12 nicht mein Ding

4‘ 7‘

6‘

6‘ helfen 4‘ arbeiten

Abbildung 26: Biplot – Paul | Interview 2

Mit Komponente 1 links verbindet Paul ›schlecht‹, ›langweilig‹, ›kein Bock‹, ›nicht mein Ding‹, ›komisch/ungewohnt‹, ›nervig‹, ›rumstehen/sitzen‹, ›niemand guckt‹, ›alleine‹, ›drinnen‹, ›aufpassen‹ und ›nichts tun‹. Aufgrund ihrer Nähe zum Ursprung werden ›viele Menschen‹ und ›nicht essen‹ nicht einbezogen. Er verknüpft ihn mit ›Speisesaal Arbeiten‹, ›Pause Arbeiten‹, ›blaue Griffe montieren‹, ›Heißklebepistole bedienen‹, ›bügeln‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹ und ›Frische Wäsche für Frau Müller‹. Deutlich zeigt sich die negative Rahmung, er erlebt es ›schlecht‹, ›langweilig‹, ›kein Bock‹, ›nicht mein Ding‹, ›komisch/ungewohnt‹ und ›nervig‹. Paul hat wohl keine Lust auf diese Situationen und verbindet damit Langweile und negative Gefühle. Dazu tragen vermutlich negative Erfahrungen des Praktikums bei. Möglicherweise tritt er dem Praktikum mit einer negativen Grundhaltung entgegen oder einzelne Faktoren (bzw. der gesamte Kontext) sind negativ. Er ist wohl wenig motitivert und zeigt geringe Anstrengungsbereitschaft. Die Komponente trifft auf sieben Situationen aus Schule und Praktikum, Arbeit und Pausen, gleichermaßen zu. Reichweite und Einfluss scheinen groß. Paul nimmt das Praktikum wesentlich negativer als die Schule wahr; er verbindet damit fünf außerschulische Elemente und nur zwei Schulische. Die Beobachtung erscheint in Anbetracht der Relation der schulischen (zehn) und außerschulischen (sechs) Elemente umso gewichtiger. Vermutlich erlebt er auch weitere Erfahrungen so. Komponente 2 oben bringt er mit ›essen‹, ›nichts tun‹, ›aufpassen‹, ›draußen‹, ›viele Menschen‹, ›laufen‹, ›nervig‹, ›komisch/ungewohnt‹ und ›chillen/rumlaufen‹ in Verbindung, wobei ›ok‹, ›alleine‹, ›niemand guckt‹, ›langweilig‹ und ›nicht

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

285

mein Ding‹ irrelevant erscheinen. Für ihn korrelieren die fünf Elemente ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Mittagessen Schule‹, ›Speisesaal Arbeiten‹ und ›Pause Arbeiten‹ damit. Er deutet die Situationen als Pause und damit, draußen zu sein, worauf ›essen‹, ›nichts tun‹, ›draußen‹ und ›chillen/rumlaufen‹ hinweisen. Außerdem bezieht er andere Personen, ›viele Menschen‹, darauf und konstruiert den Parameter negativ, ›nervig‹ und ›komisch/ungewohnt‹. Vermutlich stehen während des Praktikums andere Personen, Kolleg*innen oder Vorgesetzte, im Fokus. Möglicherweise ist er von deren Fremdheit verunsichert. Vielleicht ist es ihm in der WfbM zu voll oder zu laut (›viele Menschen‹). Er konstruiert schulische sowie außerschulische Pausensituationen derart, eventuell auch künftige. Komponente 1 rechts wird ›ok‹, ›aufgeregt‹, ›mein Ding‹, ›gut‹, ›ganz ok‹, ›chillen/rumlaufen‹, ›zusammen‹, ›jemand guckt zu‹, ›laufen‹, ›draußen‹, ›helfen‹ und ›arbeiten‹ beeinflusst. ›Niemand da‹ und ›essen‹ werden nicht einbezogen. Im Zusammenhang damit stehen ›Pause Schule‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Wäsche sortieren‹, ›Arbeiten mit Chefin‹, ›Pausenhof‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Arbeiten mit Lehrerin‹, ›schmutzige Wäsche einsammeln‹ und ›Mittagessen Schule‹. Sie sind spannend und mit positiven Gefühlen besetzt. Darauf deuten ›ok‹, ›aufgeregt‹, ›mein Ding‹, ›ganz ok‹ und ›chillen/rumlaufen‹ hin. Auch schildert er, dass er Lust auf die Situationen hat und sie ihm Spaß bereiten. Er konstruiert damit Aktivität, ›laufen‹, ›helfen‹, ›arbeiten‹. Sie korrelieren gering. Acht der neun Elemente sind schulische Erfahrungen, er verbindet nur eine außerschulische Situation damit. Die Schule sieht er sehr positiv, wohl durch entsprechende Erfahrungen im Praktikum. Einfluss und Reichweite scheinen (auch zukünftig) groß, da er neun der insgesamt 16 Elemente damit verbindet. Komponente 2 unten steht ›nicht essen‹, ›helfen‹, ›arbeiten‹ ›drinnen‹, ›niemand da‹, ›rumstehen/sitzen‹, ›kein Bock‹, ›ganz ok‹ und ›gut‹ in Bezug. ›Schlecht‹, ›aufgeregt‹, ›jemand guckt‹ und ›zusammen‹ korrelieren vernachlässigbar. Er konstruiert ›frische Wäsche für Frau Müller‹, ›bügeln‹, ›Arbeiten mit Lehrerin‹, ›schmutzige Wäsche einsammeln‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›Wäsche sortieren‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Heißklebepistole bedienen‹, ›blaue Griffe montieren‹ und ›Arbeit mit Chefin‹ mit eigener Aktivität und im Gebäude Tätigkeiten nachzugehen, worauf ›nicht essen‹, ›helfen‹, ›arbeiten‹ und ›drinnen‹ hindeuten. Sie kann positiv oder negativ sein – so lassen ›kein Bock‹, ›ganz ok‹ und ›gut‹ vermuten. Die Komponente ist wohl mit Anstrengung (-sbereitschaft) und Arbeit beider Kontexte verbunden. Er konstruiert elf von 17 Situationen, wohl auch zukünftige, damit. Paul verbindet ›Speisesaal Arbeiten‹ und ›Pause Arbeiten‹ zum einen mit schlechten Gefühlen, Langeweile und keiner Lust auf die Situationen (negativ) und einer Pause im Freien, ebenfalls negativ. Beide Pausen des Praktikums konstruiert er sehr negativ. Das deutet, wie vermutet, darauf hin, dass er sein Praktikum negativer als die Schule konstruiert. Möglicherweise ist er im Prak-

286

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

tikum verunsichert, vielleicht fehlen vertraute Personen, mit denen er die Pause verbringen kann. Wahrscheinlich kann er sich in Pausen nicht erholen. Das Spannungsfeld trifft nicht auf Arbeit zu; es bleibt fraglich, ob es künftig einflussreich ist. Die schulischen Pausen ›Pausenhof‹, ›Mittagessen Schule‹ und ›Pause Schule‹ bringt Paul in Bezug zu einer Pause im Freien, für ihn negativ, aber auch mit positiven Gefühlen, Lust und Spaß. Außerdem findet er die Situationen spannend und positiv. Er betrachtet sie also sehr differenziert. Möglicherweise findet er Pausen grundsätzlich negativ. Vielleicht findet er sie in der Schule aber auch gut, angenehm und interessant. Er nimmt die Pausen der Schule positiver wahr als im Praktikum. In dem Spannungsfeld konstruiert Paul vermutlich auch weitere Pausen, Arbeit wohl nicht. ›Wäsche verteilen‹, ›Wäsche sortieren‹, ›Arbeiten mit Lehrerin‹, ›Arbeitsraum Schule‹, ›schmutzige Wäsche einsammeln‹ und ›Arbeit mit Chefin‹ verbindet Paul mit Lust und Spaß, positiven Gefühlen und eigener Aktivität, wobei er im Gebäude Tätigkeiten nachgeht (positiv oder negativ). Die sechs Situationen aus Praktikum und Schule konstruiert er ähnlich. Das Spannungsfeld betrifft keine Pausen. Er konstruiert sie mit Arbeit und Eigenaktivität. Zum anderen gefallen sie ihm, er geht ihnen wohl gerne nach und findet sie interessant. Möglicherweise hält sich Paul im Gegensatz zu den Pausen draußen lieber im Gebäude als auf. Die fünf schulischen und die außerschulische Erfahrung konstruiert er wohl positiver als die übrigen Situationen. Einfluss und Reichweite scheinen (vermutlich auch zukünftig) groß. Mit negativen Gefühlen, Langeweile und keiner Lust, also negativ, aber auch mit Eigenaktivität bei Tätigkeiten im Gebäude (positiv oder negativ), konstruiert Paul die fünf Elemente ›blaue Griffe montieren‹, ›Heißklebepistole bedienen‹, ›Arbeitsraum Arbeiten‹, ›Bügeln‹ und ›frische Wäsche für Frau Müller‹. Er konstruiert drei Arbeitserfahrungen des Praktikums und zwei der Schule damit, aber keine Pause. Das Spannungsfeld ist negativ geprägt. Vermutlich findet Paul Tätigkeiten, bei denen er sich anstrengen muss, schlecht und langweilig – er ist wohl eher weniger motiviert, sich anzustrengen. Im zweiten Interview liegen ihm mehr schulische als außerschulische Erfahrungen vor – diese Relation gibt einen weiteren Hinweis auf Pauls negative Haltung gegenüber dem Praktikum. Vermutlich konstruiert er Arbeit auch zukünftig so.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

287

Vergleichende Auswertung beider Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte Interview I draußen – drinnen

Interview II niemand da – viele Menschen

laufen – rumsitzen/stehen chillen/rumlaufen – kein Bock

essen – nicht essen alleine – zusammen

mein Ding – nicht mein Ding ok – schlecht

niemand guckt – jemand guckt langweilig – aufgeregt

aufpassen – helfen (Wäsche – Waschmaschine)

nervig – ganz ok komisch/ungewohnt – gut

arbeiten – nichts tun

Vier persönliche Konstrukte äußert Paul in beiden Interviews identisch; er nimmt ähnliche Beschreibungen, Erklärungen und Beispiele vor. Diese Sinnzuweisungen erscheinen weitreichend und stabil. Sie werden nicht durch Erfahrungen des Praktikums verändert. Interview I nichts tun – arbeiten

Interview II arbeiten – nichts tun

chillen/rumlaufen – kein Bock

Spaß – keine Lust

draußen – drinnen laufen – rumsitzen/stehen

draußen – drinnen laufen – stehen

Alle Konstrukte lassen sich den drei Komponenten beschreibend, wertend und selbstreflexiv zuordnen. Beschreibende Konstrukte Interview I draußen – drinnen

Interview II niemand da – viele Menschen

laufen – rumsitzen/stehen

essen – nicht essen

arbeiten – nichts tun

alleine – zusammen niemand guckt – jemand guckt

Wertende Konstrukte Interview I aufpassen – helfen

Interview II

288

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Selbstreflexive Konstrukte Interview I chillen/rumlaufen – kein Bock

Interview II langweilig – aufgeregt

mein Ding – nicht mein Ding ok – schlecht

nervig – ganz ok komisch/ungewohnt – gut

Paul nutzt bei beiden Interviews eher beschreibende und selbstreflexive Konstrukte. Wertend verwendet er ein Konstrukt aus dem ersten Interview. Deutlich häufiger konstruiert Paul seine Erfahrungen beschreibend; in beiden Interviews äußert er sieben beschreibende Konstrukte. Diese gehen inhaltich beim zweiten Interview deutlich über das erste hinaus. Er nimmt wohl im Praktikum mehr Aspekte wahr. Er benennt sechs selbstreflexive Konstrukte und bringt seine Erfahrungen mit sich selbst in Verbindung, für ihn wohl sehr relevant. Sechs Konstrukte verweisen darauf, ob ihm eine Situation gefällt bzw. wie er sie einschätzt. Vor und nach dem Praktikum wendet Paul alle Konstrukte auf alle Elemente an. Die Vermutung der Reichweite des ersten Interviews bestätigt sich. Die positive Haltung gegenüber der Schule verstärkt sich durch Das Praktikum, das er recht negativ konstruiert. Vergleich der computergestützten Auswertungen Pauls Sinnbildungen lassen sich jeweils vier Komponenten zuordnen. Vier Parameter ähneln sich vor und nach dem Praktikum, sie weisen feine Veränderungen auf. Paul konstruiert vor dem Praktikum drei schulische Erfahrungen mit keinem Spaß, keiner Lust und eigener Aktivität, für ihn negativ. Nach dem zeigt sich der Parameter leicht verändert. Er verbindet noch immer keine Lust damit, der Fokus liegt nun auf negativen Gefühlen und Langeweile. Der Parameter ist zeigt sich nach wie vor negativ. Nach dem Praktikum sind ›arbeiten‹ und ›helfen‹ nicht mehr einflussreich, allerdings viele Pole, die er überwiegend im zweiten Interview benennt. ›Langweilig‹, ›kein Bock‹, ›komisch/ungewohnt‹, ›nervig‹, ›niemand guckt‹, ›alleine‹, ›aufpassen‹ und ›nichts tun‹ stehen nun zusätzlich damit in Zusammenhang. Der Parameter ist negativer. Paul verbindet mit ihm nur Pausen aus dem Praktikum, keine aus der Schule mehr. Die zuvor damit zusammenhängenden schulischen Pausen sind für ihn wohl in Relation zum Praktikum positiver. Die Reichweite der Komponente verändert sich. Vor und nach dem Praktikum betrifft die Komponente die gleichen schulischen Arbeitserfahrungen; danach zusätzlich Arbeit des Praktikums. Dahingehend zeigt sie sich stabil. Paul konstruiert hier im ersten Interview drei von insgesamt zehn Erfahrungen, nach dem Praktikum sieben von 16; sie gewinnt an Einfluss.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

289

Vor und nach dem Praktikum verbindet er alle Pausen mit einer Pause im Freien (positiv oder negativ). Danach ist die Komponente allerdings grundsätzlich negativ, was vermutlich mit neuen Erfahrungen zusammenhängt. Er verbindet damit nicht mehr die Pole ›kein Bock‹, ›ok‹ und ›helfen‹, konstruiert nun eine Vielzahl weiterer negativer Aspekte (›essen‹, ›aufpassen‹, ›viele Menschen‹, ›nervig‹, ›komisch/ungewohnt‹, ›chillen‹ und ›rumlaufen‹). Er verbindet die Situationen mit anderen Personen. Möglicherweise erlebt er andere Menschen im Praktikum ›nervig‹ oder ihm fehlen seine Mitschüler*innen. Die Komponente scheint auf künftig stabil zu sein. Im ersten Interview verbindet er einige Erfahrungen mit Spaß, Lust und Bewegen, für ihn positiv. Nach dem Praktikum zeigt sich eine deutlicher positive Rahmung anhand positiver Gefühle, Spaß und Lust, was sich bspw. an ›gut‹ und ›ganz ok‹ zeigt. Die Erfahrungen sind nun spannend, er ist dabei ›aufgeregt‹. Zusätzlich verbindet er ›zusammen‹, ›jemand guckt zu‹, ›helfen‹ und ›arbeiten‹ damit. Die Komponente erscheint stabil, aber durch neue Erfahrungen veränderbar. Nach dem Praktikum konstruiert er nicht mehr ›Wäsche in den Korb legen‹, dafür vier weitere Pausen aus Schule und Praktikum damit. Eine Arbeit des Praktikums bezieht er ebenfalls darauf. Er verknüpft hauptsächlich die Schule mit diesem Sinn, der differenzierter und positiver wird. Paul nimmt, wie bereits vermutet, die Schule nach dem Praktikum noch positiver wahr. Das hängt wohl mit negativen Erfahrungen im Praktikum zusammen. Es ist fraglich, inwiefern die Komponente auch zukünftig einflussreich ist. Vor dem Praktikum konstruiert Paul eine Komponente damit, Tätigkeiten im Gebäude nachzugehen (positiv oder negativ). Nach dem Praktikum verbindet er sie zusätzlich mit eigener Aktivität. Er konstruiert nicht mehr ›aufpassen‹, ›schlecht‹ und ›chillen/rumlaufen‹, sondern ›nicht essen‹, ›helfen‹, ›niemand da‹, ›kein Bock‹, ›ganz ok‹ und ›gut‹ damit. Vor dem Praktikum trifft der Sinn auf fast alle Arbeitserfahrungen, danach alle Arbeitssituationen zu. Die Reichweite erscheint vergrößert, sie umfasst nun einflussreich und weitreichend Arbeit. Vor und nach dem Praktikum verbindet Paul alle Pausen und Arbeitserfahrungen mit ähnlichen Komponenten. Alle Pausen befinden sich in zwei Quadranten, Arbeitssituationen in den anderen beiden Quadranten. Die Konstruktion anhand von ›arbeiten – nichts tun‹ ist, erscheint grundsätzlich dominant. Vor dem Praktikum liegt eine Verdichtung von vier Arbeitserfahrungen vor, die Paul mit Spaß, Lust und Bewegung, also positiv, verbindet, aber auch damit, einer Tätigkeit im Gebäude nachzugehen, für ihn negativ oder positiv. Er konstruiert die vier Arbeitserfahrungen mit einer positiven bzw. mit einer positiv/ negativen Komponente. Nach dem Praktikum ballen sich Elemente, so dass er sie spannend, mit positiven Gefühlen, Lust und Spaß wahrnimmt. Außerdem bezieht er sie auf eigene Aktivität und damit, einer Tätigkeit im Gebäude nachzugehen (positiv oder negativ). Fünf der sechs Erfahrungen, mehr als vor dem

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Praktikum, beziehen sich auf die Schule. Das unterstreicht die Vermutung, dass er das Praktikum negativer konstruiert als die Schule. 4.3.1.7 Max Interview I Max arbeitet in der Schule im Wäscheservice. Zu seinen Tätigkeiten gehört es, Wäsche einzusammeln, zu waschen, zu bügeln, zusammenzulegen und wieder zu verteilen. Elemente der Schule in beiden Interviews: ›Bügeln mit Chefin‹, ›Arbeitsraum‹, ›Wäsche austeilen und einsammeln‹, ›Schüler*innencafé‹, ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Mittagessen‹, ›Wäscheliste abhaken‹, ›Wäsche zusammenlegen‹.

Wäsche zusammenlegen

Wäscheliste abhaken

Mittagessen

Wäsche verteilen

Pause Schule

Pausenhof

Schüler*innencafé

Wäsche austeilen und …

Arbeitsraum

Bügeln mit Chefin

Handauswertung

Langweilig

Beschäftigt

Pause

Arbeiten

Nicht austeilen

Austeilen

Lernen

Nicht lernen

Wäscheservice

Kein Wäscheservice

Gut

Schlecht

Glücklich

Sauer

Aufräumen

Alles liegen lassen

Leute

Keine Leute

Abbildung 27: Elemente und persönliche Konstrukte – Max | Interview 1

Max äußert im ersten Interview neun dichotome Konstrukte. Er ist in der Lage, alle Konstruktpole zu beschreiben und mit Beispielen zu versehen.1220 Alle 1220 Alle Überlegungen und Darstellungen dazu lassen sich mit den Tabellen zu den persönlichen Konstrukten und Erklärungen, Anhang, Kapitel 7.13 und 7.14 belegen.

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Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Konstrukte bezieht er auf alle Elemente, dabei nutzt er die Ranking-Skala von eins bis fünf. Die Konstrukte beschreiben oder bewerten die Situationen; andere verwendet er selbstreflexiv. Er wendet bspw. ›Pause – Arbeiten‹ beschreibend, wertend ›lernen – nichts lernen‹ und selbstreflexiv ›gut – schlecht‹ an. Die selbstreflexiven Zuweisungen zeigen, dass er die Schule positiv wahrnimmt; er konstruiert die meisten Elemente bspw. ›gut‹ oder ›glücklich‹, einige neutral. Es ist davon auszugehen, dass er zukünftige Arbeitskontexte eher positiv einordnet. Computergestützte Interpretation mit GridSuite 9‘

Bügeln mit Chefin

1‘

2‘

Wäscheliste abhaken

9‘ keine Leute 5‘ kein Wäscheservice

5‘ Schüler*innencafé

4 lernen 4

8‘

6‘

8‘ alles liegen lassen

2‘ arbeiten Wäsche verteilen

3‘ austeilen

6‘ schlecht 3‘

7 glücklich 6 gut

1‘ beschäftigt

Wäsche austeilen und einsammeln 7‘ Arbeitsraum

7 3 Wäsche zusammenlegen

2 Pause

7‘ sauer 3 nicht austeilen 8 aufräumen

1 langweilig

5 Wäscheservice

4‘ nicht lernen

8

4‘

6

5

9 Leute

Pause Schule 2

Mittagessen 1 Pausenhof

9

Abbildung 28: Biplot – Max | Interview 1

Der Biplot zeigt, dass Max seine Arbeitserfahrungen differenziert mit Sinn versieht; in allen Quadranten befindet sich mindestens ein Element, wobei markante Verdichtungen vorliegen. In den linken Quadranten liegen sieben, in den rechten drei Elemente. Die linken Quadranten haben wohl größeren Einfluss auf Max’ Sinnkonstruktion als die Rechten. Es ist eine dominante Einteilung durch ›Pause – arbeiten‹ erkennbar. Alle Pausen und eine Arbeitserfahrung liegen im linken unteren Quadranten; alle anderen Quadranten sind ausschließlich mit Arbeit belegt. Die Sinnzuweisungen lassen sich den Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts und 2 unten zuordnen, die je von einem Pol dominiert werden. ›Glücklich – sauer‹ und ›keine Leute – Leute‹ liegen auf den jeweiligen Achsen und korrelieren hoch. Mit Komponente 1 links verbindet Max ›glücklich‹, ›gut‹, ›kein Wäscheservice‹, ›Pause‹, ›nichts lernen‹, ›alles liegen lassen‹ und ›langweilig‹. ›Austeilen‹ und ›keine Leute‹ sind zu vernachläsigen. Er konstruiert ›Schüler*innencafé‹,

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

›Wäscheliste abhaken‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹ und ›Mittagessen‹ mit dem Parameter, wobei ›Wäsche zusammenlegen‹ nicht markant korreliert. Max bezieht die Situationen auf persönliches Wohlbefinden (›glücklich‹ und ›gut). Außerdem verbindet er damit eigene Passivität (›kein Wäscheservice‹, ›Pause‹, ›nichts lernen‹, ›alles liegen lassen‹ und ›langweilig‹) und Entspannung (›glücklich‹, ›Pause‹, ›nichts lernen‹). Er ist positiv, ›glücklich und ›gut‹, konnotiert. Es ist möglich, dass hier eine Kausalität vorliegt und es ihm gut geht, weil er sich ausruhen und entspannen kann. Er muss in den Situationen keine besondere Leistung erbringen. Einfluss und die Reichweite der Komponente sind wohl (auch zukünftig) groß. Komponente 2 oben verbindet Max mit ›keine Leute‹, ›beschäftigt‹, ›arbeiten‹, ›schlecht‹, ›lernen‹, ›alles liegen lassen‹, ›kein Wäscheservice‹ und ›austeilen‹ und ›Bügeln mit Chefin‹, ›Wäscheliste abhaken‹, ›Schüler*innencafé‹ und ›Wäsche verteilen‹. ›Wäsche austeilen und einsammeln‹ wird nicht davon beeinflusst. Er konstruiert den Parameter damit, dass er alleine etwas zu tun hat und nachdenken kann, ›keine Leute‹, ›beschäftigt‹, ›arbeiten‹, ›lernen‹ und ›austeilen‹ hinweisen. Zwar bringt er ihn mit ›schlecht‹ in Verbindung, die anderen Pole schildert er positiv. Der Parameter ist wohl negativ oder positiv. Vermutlich nimmt Max Arbeiten, für die er alleine verantwortlich und kognitiv herausgefordert ist, positiv wahr und führt sie motiviert aus. Vielleicht belastet ihn das aber auch. Die Reichweite ist auf Arbeit beschränkt; er konstruiert hier fast alle (wohl auch künftige) Arbeitserfahrungen. Komponente 1 rechts wird von ›sauer‹, ›schlecht‹, ›Wäscheservice‹, ›arbeiten‹, ›lernen‹, ›aufräumen‹ und ›beschäftigt‹ beeinflusst. ›Nicht austeilen‹ und ›Leute‹ korrelieren vernachlässigbar. Max konstruiert den Parameter mit ›Bügeln mit Chefin‹, ›Wäsche austeilen und einsammeln‹ und ›Arbeitsraum‹, mit negativen Gefühlen, Aktivität und der Pflicht, Dinge zu erledigen. Darauf verweisen ›sauer‹, ›schlecht‹, ›Wäscheservice‹, ›arbeiten‹, ›lernen‹, ›aufräumen‹ und ›beschäftigt‹. Obwohl er, so die Vermutung, manchmal von Arbeit genervt oder gestresst ist, erkennt er, dass er ihnen unabhängig davon nachgehen muss. Er kann dabei etwas lernen, seine Aufmerksamkeit wird absorbiert. Der Parameter umfasst ausschließlich Arbeit (drei von sieben Erfahrungen) und scheint mäßig einflussreich. Komponente 2 unten steht für Max im Bezug zu ›Leute‹, ›langweilig‹, ›Pause‹, ›gut‹, ›nicht lernen‹, ›Wäscheservice‹, ›aufräumen‹ und ›nicht austeilen‹, ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Mittagessen‹, ›Wäsche zusammenlegen‹ und ›Arbeitsraum‹. In dem Zusammenhang konstruiert er Erfahrungen, die mit anderen Personen (›Leute‹) zu tun haben, bei denen er eher weniger denken (›langweilig‹, ›Pause‹, ›nicht lernen‹) und keiner Aufgabe nachgehen (›langweilig‹, ›Pause‹, ›nicht austeilen‹) kann bzw. muss. Er verbindet damit positive oder negative Aspekte, worauf die beiden Pole ›langweilig‹ und ›gut‹ hinweisen. Er hat in den

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

293

Situationen nichts zu tun und kann die Zeit mit einer Pause verbringen. Wahrscheinlich sucht er dann Kontakt zu anderen Personen, damit ihm weniger langweilig ist. Die Komponente zeigt sich (wohl auch zukünftig) recht einflussreich und weitreichend. Fast alle Elemente stehen differenziert im Zusammenhang mit zwei Komponenten. So lassen sich ›Wäscheliste abhaken‹, ›Schüler*innencafé‹ und ›Wäsche verteilen‹ im Spannungsfeld von persönlichem Wohlbefinden, eigener Passivität und Entspannung sowie alleine etwas zu tun haben und Nachdenken interpretieren. Dabei ist die erste Komponente positiv, die Zweite negativ oder positiv. Für Max sind Situationen vorstellbar, in denen es ihm gut geht und er sich ausruhen kann, obwohl er eine Aufgabe hat. Möglicherweise trifft das Spannungsfeld eher auf weniger herausfordernde Situationen zu, die ihn nicht an kognitive oder körperliche Grenzen bringen. Das Spannungsfeld betrifft nur Arbeit und ist eher positiv konnotiert. Von den sieben schulischen Arbeitserfahrungen konstruiert er drei damit; die Sinnbildung scheint, wohl auch künftig, weitreichend. ›Bügeln mit Chefin‹ verbindet Max damit, alleine etwas zu tun haben, wobei er nachdenken muss, aber auch mit negativen Gefühlen, Aktivität und der Pflicht, Dinge erledigen zu müssen. Während die erste Komponente für ihn negativ oder positiv besetzt sein kann, konstruiert er die Zweite negativ. Er fühlt sich wohl verpflichtet und verantwortlich, einer Tätigkeit alleine nachzukommen und muss sich konzentrieren und denken. Das Spannungsfeld scheint negativ dominiert und begrenzt auf eine Erfahrung. Daher ist zu fragen, ob es zukünftig wirksam wird. ›Arbeitsraum‹ verbindet er mit negativen Gefühlen, Aktivität, der Pflicht, Dinge erledigen zu müssen, aber auch wenig denken zu müssen, anderen Personen und keine Aufgabe zu haben (positiv oder negativ). Er verknüpft den Raum damit, teilweise sehr aktiv sein und Dinge erledigen zu müssen, teilweise aber damit, keine Aufgabe zu haben und sich nicht sonderlich konzentrieren zu müssen. Vielleicht tritt er in Interaktion mit anderen Personen, wenn er nichts mehr zu tun hat. Möglicherweise mangelt es an weiteren Aufgaben. Das Spannungsfeld scheint wenig einflussreich und weitreichend. Im Zusammenhang mit persönlichem Wohlbefinden, eigener Passivität und Entspannung (positiv) sowie anderen Personen, keiner Aufgabe und wenig Denken (positiv oder negativ), konstruiert Max ›Pause Schule‹, ›Pausenhof‹ und ›Mittagessen‹. Er verbindet die drei Pausen damit, dass es ihm gut geht und er sich ausruhen kann; er muss keiner Aufgabe nachgehen und kann Zeit mit anderen verbringen. Wahrscheinlich genießt er die Pausen, er kann sich erholen. Wahrscheinlich sieht er auch künftige Pausen so.

294

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Interview II Bei Max’ Praktikum gibt es eine Besonderheit, die Einfluss auf das zweite Interview besitzt. Es war aufgrund von der Richtlinien des Praktikumsbetriebs nicht möglich, Max zu besuchen und Fotografien von ihm anzufertigen. Von seinen Erfahrungen im Praktikum liegen keine Fotografien vor. Es lassen sich keine Aussagen darüber treffen. Das zweite Interview bezieht sich nur auf Erfahrungen der Schule. Einflussfaktoren des Praktikums sind dennoch beim Vergleich der beiden Interviews vermuten. Max arbeitet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Handauswertung Der besseren Übersicht wegen werden die Konstrukte des ersten und zweiten Interviews aufgeführt. Persönliche Konstrukte des ersten Interviews: ›langweilig – beschäftigt‹, ›Pause – Arbeiten‹, ›nicht austeilen – austeilen‹, ›lernen – nicht lernen‹, ›Wäscheservice – kein Wäscheservice‹, ›gut – schlecht‹, ›glücklich – sauer‹, ›aufräumen – alles liegen lassen‹, ›Leute – keine Leute‹. Persönliche Konstrukte des zweiten Interviews: ›konzentriert – unkonzentriert‹, ›gut gehen – schlecht gehen‹, ›keinen Fehler machen – Fehler machen‹, ›entspannt – anstrengend‹, ›nicht lachen – lachen‹. Max äußert fünf neue dichotome Konstrukte. Alle Sinnzuweisungen beider Interviews bezieht er auf alle Elemente; es ist davon auszugehen, dass sie auch zukünftig wirksam sind. Er nutzt die Rankingskala aus und nimmt feine Unterscheidungen vor. Seine Konstrukte lassen sich als beschreibend, wertend und selbstreflexiv unterscheiden. Beschreibend wendet er bspw. ›nicht lachen – lachen‹ und wertend ›konzentriert – unkonzentriert‹ selbstreflexiv bspw. ›entspannt – anstrengend‹ an. Im zweiten Interview sind die meisten Initialpole positiv konnotiert, was darauf schließen lässt, dass er die Schule noch immer positiv einordnet. ›Gut – schlecht‹ wendet er eher positiv auf die Erfahrungen an. Sieben der zehn Elemente konstruiert er (eher) ›gut‹, zwei neutral und eins eher ›schlecht‹. Die positive Haltung gegenüber der Schule gilt auch für das Praktikum (möglicherweise generell). ›Lernen‹, ›konzentriert‹ und ›beschäftigt‹ hängen wohl kausal zusammen, er verwendet sie ähnlich.

295

Arbeitsraum

Wäscheliste abhaken

Wäsche austeilen und …

Schüler*innencafé

Wäsche zusammenlegen

Mittagessen

Pause Schule

Wäsche verteilen

Bügeln mit Chefin

Pausenhof

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

Konzentriert

Unkonzentriert

Lernen

Nicht lernen

Beschäftigt

Langweilig

Glücklich

Sauer

Gut gehen

Schlecht gehen

Keinen Fehler machen

Fehler machen

Gut

Schlecht

Leute

Keine Leute

Entspannt

Anstrengend

Nicht austeilen

Austeilen

Aufräumen

Alles liegen lassen

Arbeiten

Pause

Nicht lachen

Lachen

Wäscheservice

Kein Wäscheservice

Abbildung 29: Elemente und persönliche Konstrukte – Max | Interview 2

Computergestützte Auswertung mit GridSuite Am Biplot lässt sich Max’ differenzierte Sinnzuweisungen erkennen. In allen Quadranten befinden sich Elemente; in zwei von ihnen gibt es Verdichtungen, in den anderen beiden jeweils ein Element. Max konstruiert einige Elemente ähnlich, andere wenige sind einzigartig. Als Grundlage für die Interpretation sind die Komponenten 1 links, 2 oben, 1 rechts, 2 unten auszumachen. Ähnlich konstruiert er fünf der insgesamt sieben Arbeitssituationen. Davon abweichend konstruiert er die drei Pausen zusammenhängend. Max differenziert klar zwischen Pause und Arbeit. Das ist vielleicht auf sein Praktikum zurückzuführen. Einige Elemente korrelieren stark mit den jeweiligen Komponenten, andere weniger. Alle stehen im Spannungsfeld von zwei Komponenten.

296

5‘ schlecht gehen

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

Pausenhof

6‘

Bügeln mit Chefin

5‘

3‘ schlecht 4‘ Fehler machen

7‘ unkonzentriert

8‘

8‘nicht lernen

2‘ anstrengend 9 beschäftigt 14 keine Leute

4‘

3‘

7 konzentriert 6 glücklich

1

2‘ 9 12 10 11

12 Wäscheservice

9‘ 2

1‘

13 14 Arbeitsraum Wäsche zusammenlegen Wäsche austeilen

8

4

austeilen

3

4 keinen Fehler machen 3 gut 5 gut gehen

Schüler*innencafé

5 6

14‘ Leute

13‘ nicht austeilen

Wäsche verteilen Wäscheliste abhaken

7

1 lachen

9‘ langweilig

13‘

10 aufräumen 11 Arbeiten

11‘ Mittagessen Schule 12‘ 10‘ Pause Schule

14‘

1‘ nicht lachen 8 lernen

6‘ sauer 2 entspannt

7‘

11‘ Pause 12‘ kein Wäscheservice 10‘ alles liegen lassen

Abbildung 30: Biplot – Max | Interview 2

›Wäscheservice‹, ›Arbeiten‹, ›beschäftigt‹, ›anstrengend‹, ›schlecht‹, ›aufräumen‹, ›lernen‹, ›konzentriert‹, ›austeilen‹, ›keine Leute‹, ›nicht lachen‹, ›Fehler machen‹, ›schlecht gehen‹ und ›glücklich‹ verbindet Max mit Komponente1 links. ›Bügeln mit Chefin‹, ›Wäsche austeilen und einsammeln‹, ›Arbeitsraum‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Wäsche zusammenlegen‹ und ›Wäscheliste abhaken‹ sind davon beeinflusst. Es handelt sich ausschließlich um Arbeitssituationen (sechs von sieben). Reichweite und Einfluss erscheinen (auch zukünftig) groß. ›Wäscheservice‹, ›arbeiten‹, ›beschäftigt‹, ›anstrengend‹, ›aufräumen‹, ›lernen‹, ›konzentriert‹ und ›nicht lachen‹ weisen darauf hin, dass er die Komponente mit Verantwortung, Anstrengung und Nachdenken verbindet. Sie ist negativ gerahmt. ›Glücklich‹ wird von den ›schlecht‹ und ›schlecht gehen‹ dominiert. Komponente 2 oben bezieht sich auf ›sauer‹, ›schlecht gehen‹, ›unkonzentriert‹, ›nicht lernen‹, ›Leute‹, ›Pause‹, ›alles liegen lassen‹, ›kein Wäscheservice‹, ›nicht austeilen‹, ›schlecht‹, ›Fehler machen‹, ›lachen‹ und ›langweilig‹. ›Anstrengend‹ korelliert vernachlässigbar. Für Max stehen ›Pausenhof‹, ›Bügeln mit Chefin‹, ›Pause Schule‹ und ›Mittagessen‹ mit dem Parameter in Verbindung. Er bezieht ihn, darauf verweisen ›sauer‹, ›schlecht gehen‹, ›schlecht‹, ›Fehler machen‹ und ›langweilig‹ auf seine negativen Gefühle und eigene Passivität (›nicht lernen‹, ›Pause‹, ›alles liegen lassen‹, ›kein Wäscheservice‹, ›nicht austeilen‹ und ›langweilig‹). Andere Personen, ›Leute‹, sind ebenfalls relevant. Max konstruiert so alle Pausen und eine Arbeitssituation. Die Komponente scheint (auch zukünftig) weitreichend und einflussreich.

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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Mit Komponente 1 rechts lassen sich ›Pause‹, ›kein Wäscheservice‹, ›langweilig‹, ›alles liegen lassen‹, ›nicht lernen‹, ›gut‹, ›unkonzentriert‹, ›entspannt‹, ›nicht austeilen‹, ›keinen Fehler machen‹, ›Leute‹, ›lachen‹, ›gut gehen‹ und sauer‹ in Verbindung bringen. Sie bezieht sich auf ›Pausenhof‹, ›Pause Schule‹, ›Schüler*innencafé‹ und ›Mittagessen‹, also alle Pausen und eine Arbeitssituation. Max konstruiert damit Situationen, in denen er keiner Verpflichtung nachgehen muss und er sich ausruhen kann. Darauf verweisen ›kein Wäscheservice‹, ›langweilig‹, ›alles liegen lassen‹, ›nicht lernen‹, ›unkonzentriert‹, ›entspannt‹, ›nicht austeilen‹, ›lachen‹, und ›gut gehen‹. Die Komponente ist positiv. Es ist davon auszugehen, dass Max künftige Situationen, vor allem Pausen so erlebt. In Zusammenhang mit Komponente 2 unten stehen ›glücklich‹, ›gut gehen‹, ›konzentriert‹, ›lernen‹, ›arbeiten‹, ›keine Leute‹, ›aufräumen‹, ›keinen Fehler machen‹, ›gut‹, ›Wäscheservice‹, ›austeilen‹, ›lachen‹ und ›beschäftigt‹. ›Entspannt‹ korreliert marginal. Für Max betrifft der Paramter ›Wäscheliste abhaken‹, ›Schüler*innencafé‹, ›Wäsche verteilen‹, ›Wäsche austeilen und einsammeln‹, ›Arbeitsraum‹, und ›Wäsche zusammenlegen‹. Er verbindet ihn mit positiven Gefühlen, ›glücklich‹, ›gut gehen‹, ›gut‹ und ›lachen‹ und eigener Aktivität, ›konzentriert‹, ›lernen‹, ›arbeiten‹, ›arbeiten‹, ›keinen Fehler machen‹, ›Wäscheservice‹, ›austeilen‹ und ›beschäftigt‹. Er konstruiert mit dieser einflussreichen Komponente sechs von zehn Erfahrungen. Die Reichweite beschränkt sich auf (fast alle) Arbeitssituationen. Alle Elemente stehen mit zwei Komponenten in Verbindung. Max konstruiert ›Bügeln mit Chefin‹ mit Verantwortung, Anstrengung und Nachdenken (negativ) und negativen Gefühlen, eigener Passivität sowie anderen Personen. Beide Komponenten sind negativ und treffen nur auf Arbeit zu. Möglicherweise lässt sich von einer kausalen Korrelation ausgehen und vermuten, dass er in den Situationen zwar Verantwortung übernehmen und sich kognitiv anstrengen muss, er aber nur begrenzt Einfluss ausüben kann, was sich in eigener Passivität ausdrückt und mit negativen Gefühlen verbunden ist. Vielleicht werden sein Einfluss und seine Verantwortungsbereitschaft durch die Lehrkraft gehemmt. Alle Pausensituationen ›Mittagessen‹, ›Pausenhof‹ und ›Pause Schule‹ befinden sich im Spannungsfeld, das mit negativen Gefühlen, eigener Passivität und anderen Personen, und dem Umstand, keiner Verpflichtung nachgehen zu müssen und sich ausruhen zu können (positiv), in Bezug zu bringen ist. Er nimmt positive und negative Aspekte wahr. Zum einen findet er es wohl angenehm, keine Verpflichtung zu haben und sich entspannen zu können, auf der anderen Seite, erlebt er sich untätig. So konstruiert Max wohl auch künftige Pausen. ›Schüler*innencafé‹ befindet sich im Spannungsfeld davon, keiner Verpflichtung nachgehen zu müssen und sich ausruhen zu können (positiv), positive Gefühle und eigene Aktivität. Möglicherweise erlebt Max die Aufgabe als

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

leicht umsetzbar und als keine belastende Verpflichtung. Er kann der Arbeit ohne Anstrengung nachkommen und fühlt sich wohl. Die Wahrnehmung erscheint weniger einflussreich. Fünf der insgesamt zehn Elemente hängen mit positiven Gefühlen, eigener Aktivität und Verantwortung, Anstrengung sowie Nachdenken (negativ) zusammen. Fast alle Arbeitssituationen erlebt Max so. Er konstruiert die Situationen zum einen positiv – er kann sich einbringen und Aufgaben erledigen, was ihm gefällt; auf der anderen Seite muss er sich wohl sehr anstrengen und/oder die Aufgaben sind sehr herausfordernd. Vielleicht überfordern sie ihn. Der Sinnzusammenhang erscheint (generell) einflussreich. Vergleichende Interpretation beider Interviews Vergleich der Handauswertungen Persönliche Konstrukte Interview I langweilig – beschäftigt

Interview II konzentriert – unkonzentriert

Pause – Arbeiten nicht austeilen – austeilen

gut gehen – schlecht gehen keine Fehler machen – Fehler machen

lernen – nicht lernen Wäscheservice – kein Wäscheservice

entspannt – anstrengend nicht lachen – lachen

gut – schlecht glücklich – sauer aufräumen – nicht aufräumen Leute – keine Leute

Im ersten Interview äußert Max neun, in der zweiten Befragung fünf persönliche Konstrukte. Er benennt vier identische Sinnzuweisungen. Die Ähnlichkeit der Konstrukte zeigt sich in seinen Worten, Umschreibungen oder Beispielen. Vermutlich sind die Konstrukte besonders stabil und werden nicht durch die neuen Erfahrungen verändert. Er konstruiert den gesamten Arbeitskontext wohl recht stabil. Interview I gut – schlecht

Interview II mag ich – mag ich nicht

langweilig – beschäftigt aufräumen – alles liegen lassen

langweilig – macht Spaß aufräumen – alles liegen lassen

Leute – keine Leute

Leute – keine Leute

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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Beschreibende Konstrukte Interview I Pause – Arbeiten

Interview II keinen Fehler machen – Fehler machen

nicht austeilen – austeilen Wäscheservice – kein Wäscheservice

nicht lachen – lachen

aufräumen – alles liegen lassen leute – keine Leute

Wertende Konstrukte Interview I lernen – nicht lernen

Interview II konzentriert – unkonzentriert

Selbstreflexive Konstrukte Interview I gut – schlecht glücklich – sauer

Interview II gut gehen – schlecht gehen entspannt – anstrengend

langweilig – beschäftigt

In der ersten Erhebung bringt Max fünf beschreibende, ein wertendes und drei selbstreflexive Konstrukte hervor. Im zweiten Interview schildert weitere zwei beschreibende, ein wertendes und zwei selbstreflexive Sinnzuweisungen. Die neuen Konstrukte gehen deutlich über die Alten hinaus. Er weist seinen Erfahrungen differenzierter Sinn zu. Bei beiden Erhebungen sind alle drei Komponenten vertreten. Im zweiten Interview deutet ›keinen Fehler machen – Fehler machen‹ darauf hin, dass der Aspekt beim Praktikum wichtig ist. Möglicherweise werden seine Arbeitsergebnisse kontrolliert und bewertet oder er ist selbst dazu angehalten. ›Konzentriert – unkonzentriert‹ lässt die Vermutung zu, dass er im Praktikum Situationen in dem Spannungsfeld wahrhimmt; möglicherweise muss er sich sehr konzentrieren. Die Annahme könnte auch mit ›entspannt – anstrengend‹ zusammenhängen. Vielleicht liegen die drei Sinnzuweisungen kausal vor. Die Erweiterungen deuten darauf hin, dass er während seines Praktikums herausgefordert ist und sich anstrengen muss. In beiden Interviews zeigt sich die positive Konstruktion des gesamten Kontextes, die wohl auch zukünftig relevant ist. Vergleich der computergestützten Auswertungen Die Komponenten umfassen nach dem Praktikum zum Teil gleiche Konstruktpole und Erfahrungen wie davor. Vermutlich konstruiert Max den schulischen Arbeitskontext recht stabil. Es sind einige Veränderungen bzw. Erweiterungen erkennbar.

300

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

So lässt sich nach dem ersten Interview eine Komponente ausmachen, die von persönlichem Wohlbefinden, eigener Passivität und Entspannen bestimmt wird und positiv gerahmt ist. Nach dem Praktikum liegt die positive Rahmung noch immer als positive Gefühle vor, allerdings wird sie nun nicht mehr von Passivität und Entspannung, sondern von Aktivität bestimmt. Auch nach dem Praktikum erscheinen ›glücklich‹ und ›gut‹ (zusätzlich ›gut gehen‹) einflussreich, die anderen Aspekte (›Wäscheservice‹, ›gut gehen‹, ›konzentriert‹, ›lernen‹, ›arbeiten‹, ›keine Leute‹, ›aufräumen‹, ›keinen Fehler machen‹, ›austeilen‹, ›lachen‹ und ›beschäftigt‹) verweisen nun auf die aktive Grundhaltung. Vermutlich tragen dazu Erfahrungen seines Praktikums bei. Vielleicht nimmt er Aktivität und das Erledigen von Aufgaben als etwas Positives wahr oder erhält gute Rückmeldung für seine Arbeit, was er auf die Schule überträgt. Pausen sind für ihn nach dem Praktikum weniger positiv. Womöglich hängt die Entwicklung mit (vielleicht langweiligen, unangenehmen) Pausen des Praktikums zusammen. Vor dem Praktikum konstruiert Max alle Pausen so, danach nur Arbeit. Die Reichweite verändert sich massiv. Der Einfluss der Komponente ist vor wie nach dem Praktikum groß; sie betrifft jeweils sechs von zehn Arbeits- bzw. Pausen, also mehr als die Hälfte. Sie ist wohl auch künftig einflussreich. Eine Veränderung ist auch bei der nächsten Komponente beobachten. Vor dem Praktikum konstruiert Max damit, alleine etwas zu tun haben und nachdenken zu müssen (negativ oder positiv). Drei der Elemente (›Wäscheliste abhaken‹, ›Bügeln mit Chefin‹ und ›Wäsche verteilen‹) konstruiert Max vor und nach dem Praktikum damit, was auf gewisse Stabilität schließen lässt. Nach dem Praktikum ist der Parameter von Verantwortung und Anstrengung (negativ) geprägt. Möglicherweise spielen Arbeitsaufträge, die er alleine bearbeitet, im Praktikum eine untergeordnete Rolle. ›Anstrengend‹, ›aufräumen‹, ›konzentriert‹, ›nicht lachen‹, ›Fehler machen‹, ›schlecht gehen‹, ›glücklich‹ und ›Wäscheservice‹ verweisen darauf, dass er Verantwortung und Anstrengung im Praktikum negativ sieht. Vielleicht ist er von der Verantwortung und Anstrengung überfordert und stößt an Grenzen. Das ›Schüler*innencafé‹ konstruiert Max nach dem Praktikum nicht mehr damit, dafür vier andere Situationen. Die Reichweite der Komponente vergrößert sich wohl durch das Praktikum. Rückblickend (wohl auch zukünftig) verbindet er viele Situationen damit. Vor dem Praktikum bringt Max einige Elemente mit negativen Gefühlen, Aktivität und der Pflicht, Dinge erledigen zu müssen, in Verbindung. Danach ist die Komponente immer noch von negativen Gefühlen geprägt, allerdings verändert sie sich. Max konstruiert sie mit eigener Passivität und anderen Personen. Vor dem Praktikum verknüpft er negative Gefühle mit Aktivität und Verpflichtung, etwas erledigen zu müssen, danach mit Passivität. Vielleicht gelingt es ihm nicht, zu neuen Kolleg*innen eine gute Beziehung aufzubauen. Möglicherweise erlebt er die Schule durch vielseitige und herausfordernde Erfahrungen des

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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Praktikums rückblickend langweilig. Vor dem Praktikum beschränkt sich die Reichweite der Komponente auf Arbeit, danach umfasst sie alle Pausen und eine Arbeitssituation. Die Reichweite verändert sich und erscheint auf künftig einflussreich. Auch die Komponente, die sich vor dem Praktikum auf wenig denken, andere Personen und keine Aufgaben erledigen, bezieht und positiv oder negativ gerahmt sein kann, verändert sich. Vor und nach dem Praktikum prägen sie nahezu die gleichen Konstruktpole. Die zusätzlichen Pole nach dem Praktikum ›alles liegen lassen‹, ›unkonzentriert‹, ›entspannt‹, ›keinen Fehler machen‹, ›lachen‹, ›gut gehen‹ und ›sauer‹ deuten darauf hin, dass er sie nun ohne Verpflichtungen und mit Ausruhen verbindet (positiv). Die Veränderung des Konstrukts ›Wäscheservice‹ zu ›kein Wäscheservice‹ unterstreicht die Vermutung. ›Wäsche zusammenlegen‹ und ›Arbeitsraum‹ betrifft die Komponente nun nicht mehr. An die Stelle rückt ›Schüler*innencafé‹. Die Reichweite der Komponente umfasst vor und nach dem Praktikum alle Pausen und Arbeit. Nach dem Praktikum verbindet Max mit der Komponente noch stärker eine Pause als zuvor; er konstruiert weniger und andere Arbeitssituationen. Möglicherweise wird ihm im Praktikum der Unterschied zwischen Arbeit und Pause deutlicher. Vielleicht nimmt er die Pausen im Praktikum so positiv wahr, so dass er die Konstruktion auf die Pausen der Schule überträgt. 4.3.2 Die Abschlussgespräche Mit allen Schüler*innen findet im Rahmen der Auswertung ein abschließendes Gespräch über die Ergebnisse und Interpretationen statt.1221 Ziel der Gespräche ist bei jedem/jeder Schüler*in die Validierung der Ergebnisse und das Besprechen der Überlegungen für Entstehenshintergründe der Sinnkonstruktion. Die Gespräche sollen sicherstellen, dass die Ergebnisse und Interpretationen mit den Vorstellungen und subjektiven Theorien der Schüler*innen übereinstimmen. Sind Abweichungen erkennbar, sollten die Erkenntnisse und Überlegungen angepasst werden, um tragfähige Aussagen zu erzielen. Alle Gespräche finden in der Schule statt, den Schüler*innen ist der Raum also vertraut. Die Ergebnisse der Interviews werden im Umfang von durchschnittlich ca. einer Stunde mit sechs der sieben Schüler*innen besprochen. Da Paul mittlerweile verzogen ist, kann er sich nicht zur Auswertung äußern. In jedem Gespräch werden die Ergebnisse des ersten Interviews thematisiert, indem die abgeleiteten Komponenten und Überlegungen für ihr Zustandekommen erläutert werden. Um den Schüler*innen eine Visualisierung anzubieten, liegen die In1221 Das konkrete Vorgehen bei den Auswertungsgesprächen lässt sich den exemplarischen Transkripten von Lisas und Marias Gesprächen entnehmen.

302

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

terpretationen und Hypothesen als Wortkarten vor.1222 Die Fotos der beiden Arbeitskontexte werden im Gespräch den jeweiligen Parametern zugeordnet, wobei der/die Schüler*in dann beurteilen soll, ob für sie/ihn die Komponente auf die jeweilige Situation zutrifft oder er/sie eine Veränderung vornehmen möchte. Anschließend werden die Vermutungen für das Zustandekommen der Komponenten besprochen, wobei der/die Schüler*in auch hier beurteilen soll, ob sie zutreffen oder verändert werden müssen. Alle Schüler*innen beurteilen die gebildeten Komponenten und Hypothesen als zutreffend und stimmen den Vermutungen zu. Einige von ihnen zeigen sich erstaunt darüber, wie die Komponenten und Überlegungen zutreffen. Besonders Lena ist sehr überrascht und fragt im Abschlussgespräch: »Frau Rein, können Sie meine Gedanken lesen?« An Komponenten und Überlegungen werden aufgrund der Validierung durch die Schüler*innen keine weiteren Ergänzungen oder Veränderungen vorgenommen. 4.3.3 Die Ergebnisse im Zeichen historischen Bewusstseins Die folgenden Überlegungen untersuchen, ob und inwiefern sich bei den Ergebnissen der Interviews biografisch-historische und elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse zeigen.1223 Dafür werden beide Ebenen historischen Bewusstseins getrennt voneinander betrachtet. Die einzelnen Aspekte, mit denen in Kapitel 2.4 die strukturelle Vergleichbarkeit beider Dimensionen analysiert wird, dienen als Grundlage. Die einzelnen Begriffe Erfahrung, Sinnbildung, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte werden nacheinander mit konkreten Ergebnissen aus den Interviews verbunden. Das ermöglicht es, Rückschlüsse zu ziehen und Aussagen darüber zu treffen, ob die Schüler*innen im Rahmen des Forschungsvorhabens historisch Sinn bilden bzw. Hypothesen aufzustellen, ob sie zu weiteren historischen Lernprozessen in der Lage wären. Jeweils am Ende der beiden Kapitel wird eine abschließende knappe Einschätzung gegeben, ob bei den Daten der Schüler*innen von biografisch-historischer bzw. elaboriert-historischer Sinnbildung im Zeichen des entsprechenden Bewusstseins zu sprechen ist. Bei allen Ausführungen ist grundsätzlich zu beachten, dass sie rein qualitativ zu verstehen sind. Es lassen sich daraus keine Generalisierungen ableiten. Alle Darstellungen dienen der Bildung möglicher Forschungshypothesen, die in

1222 S. Anhang, Kapitel 10. 1223 Erste Überlegungen zu den historischen Sinnbildungsprozessen von Annika wurden bereits veröffentlich; die Gedankengänge der vorliegenden Forschungsarbeit gehen weit über diese ersten Annäherungen hinaus (Rein (2020)).

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

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weiteren Studien auf ihre Reichweite und Allgemeingültigkeit geprüft werden können und sollten. 4.3.3.1 Biografisch-historisches Bewusstsein Erfahrung Alle Schüler*innen sammeln im Rahmen der beiden verschiedenen Arbeitskontexte, in der Schule und im Orientierungspraktikum, verschiedene Erfahrungen. An den folgenden Überlegungen lässt sich die Relevanz von Erfahrungen für ihre biografisch-historische Sinnbildungsprozesse verdeutlichen. Durch ihr Erleben eröffnen sich durch Wiedererinnern, Urimpression, Retention und Protention als Vergangenheits- sowie Zukunftshorizonte und spezifsch historisches Bewusstsein; jede Urimpression und jedes Wiedererinnern erzeugt neue Vergangenheits- und Zukunftshorizonte. Das ist aus geschichtsdidaktischer Sicht vor dem Hintergrund biografisch-historischen Bewusstseins von entscheidender Relevanz. Alle Schüler*innen machen während der Arbeitssituationen im schulischen Kontext zahlreiche Erfahrungen, die an sich bereits verschiedene Zeitdimensionen enthalten. Es ist anzunehmen, dass sie durch ihr wahrnehmendes Erleben über biografisch-historisches Bewusstsein verfügen. Im Rahmen ihres Arbeitskontextes machen die Lernenden weitere Erfahrungen, die Vergangenheit als Zeithorizont öffnen. Ebenso erschließen sich zukünftige Zeithorizonte. Die Schüler*innen beziehen neue Erfahrungen nicht-bewusst auf alte Erfahrungen und erzeugen dadurch Sinn – ein Prozess der Bedeutungszuweisung, der sich strukturell mit Rüsens Überlegungen zur bewussten Sinnbildung über Zeiterfahrung vergleichen lässt. Die Teilnehmer*innen konstruieren Sinn durch ein Bewusstsein der jeweiligen Gegenwart, Jetztbewusstsein, und der Vergangenheit, Vergangenheitsbewusstsein, was auch das Bewusstsein über die eigene Zukunft enthält. In diesen Horizonten entsteht für jede*n Geschichtlichkeit und Orientierung. Da alle Schüler*innen, wie erwähnt Erfahrungen sammeln und sich in unterschiedlichen Situationen handlungsfähig zeigen (was sich bspw. ihren Äußerungen der Interviews entnehmen lässt), verfügen sie über diese verschiedenen Bewusstseinsmomente. Sie äußern ihre persönlichen Konstrukte, die sich implizit auf die eigene Vergangenheit und Zukunft beziehen. Der Aspekt verweist, wie erwähnt, auf die Handlungsfähigkeit der Schüler*innen: Sie entwickeln, so die begründete Beobachtung der vorliegenden Arbeit, durch Erfahrungen Bewusstseinsstrukturen als orientierte Zeit, die per se auf die eigene Historizität und die Historizität von Wahrnehmungs- und Sinnbildungsprozessen hinweisen. Sie erfahren ihre eigene Zeitlichkeit als gelebte Zeit. Alle Teilnehmer*innen handeln in beiden Arbeitsumgebungen leiblich reflexiv durch Handlungswissen, das im schweigenden cogito gespeichert ist. Alle

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Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

(neuen) Erfahrungen werden nicht-bewusst und vor dem Hintergrund der Vernunft des Leibes zu Sinn konstruiert. Erfahrungs- bzw. Handlungssinn zeigt sich, indem die Schüler*innen orientiert handeln können. Diese Sinnzuweisungen erlauben es, neue Erfahrungen (stabilen oder veränderten) mit Bedeutung zu versehen, was Orientierungs- und Handlungskompetenz erweitert. Der Praktikumskontext wird so zu einem neuen orientierten Raum mit einer eigenen Lebensgeschichte als orientierter Zeit. Es ist davon auszugehen, dass die Schüler*innen Deutungsmuster konstruieren, indem sie gegenwärtiges Erleben mit ihrer persönlichen Vergangenheit, mit ihren Erfahrungen, in Bezug setzen. Ihre Zukunft lässt sich dadurch eher vorhersehen. Die Schüler*innen beziehen sich nicht nur bei jedem gegenwärtigen Erleben auf die eigene Vergangenheit, sondern auch in jedem Interview, in dem sie ihre persönlichen Sinnbildungen erläutern. Sie wenden sich in der Schule und im Praktikum leiblich reflexiv und auf Grundlage ihres schweigenden cogito, ihrer sedimentierten Lebensgeschichte, der Welt zu und bilden über ihre Erfahrungen Sinn, den sie verbalsprachlich als persönliche Konstrukte äußern. Die neuen Erlebnisse betten die Schüler*innen teilweise in bereits bestehende Sinnzusammenhänge ein; darauf verweisen die identischen persönlichen Konstrukte, die jede*r Schüler*in in beiden Interviews äußert. Teilweise versehen sie neue Erfahrungen mit neuer Bedeutung. Das ist an den neuen bzw. neu angewandten Konstrukten erkennbar, die alle Teilnehmer*innen im zweiten Interview explizieren. Die neuen Verknüpfungen deuten auf einen umfassenderen und weitreichenderen Handlungssinn hin. Die erfahrungsgesättigten Sinnzuweisungen beeinflussen die Handlungen der Teilnehmer*innen, bevor sie diese in den Interviews (oder in einem anderen Rahmen) verbalsprachlich explizieren. Sie verfügen über leiblich reflexives Handlungswissen, das sie auf unterschiedliche Situationen anwenden und in Abhängigkeit neuer Erfahrungen weiterentwickeln. Ihr differenziertes Handlungswissen äußern alle Schüler*innen im Rahmen der persönlichen Konstrukte und deren Erläuterungen, die mit verschiedenen Handlungsoptionen verknüpft sind. Die unterschiedlichen Möglichkeiten können sie auf zukünftige Arbeitskontexte übertragen und orientierter leben sowie handeln. Ihr Orientieren und Handeln ist vom retentionalen Bewusstsein beeinflusst, das – von neuen Erfahrungen geprägt – zu einem Mehr an Protentionen als einem reicheren Zukunftshorizont führt. Es handelt sich um einen Prozess, der bei allen Teilnehmer*innen zu beobachten ist. Alle Teilnehmer*innen können ihre persönlichen Sinnzuweisungen benennen, erklären und mit Beispielen versehen. Die Sinnzuweisungen beider Interviews hängen, so zeigt sich, zusammen. Welche Rückschlüsse aufgrund der kognitiv-sprachlichen Äußerung der Sinnzuweisungen gezogen werden können, erörtert das folgende Kapitel zum elaboriert-historischen Bewusstsein. Bei allen

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Schüler*innen (außer Max1224) zeigt sich, dass sie Sinnzuweisungen, die sie unmittelbar nach der schulischen Arbeitserfahrung äußern, auch auf Erfahrungen des Arbeitskontexts des Praktikums anwenden. Es lässt sich beobachten, dass sie Sinnzusammenhänge vergangener Erfahrungen auch auf andere, zukünftige Arbeitskontexte übertragen. Es ist zu erwarten, dass sie auch anderen Erfahrungen in neuen Arbeitskontexten nicht-bewusst und unabhängig von kognitivsprachlicher Reflexivität mithilfe von subjektiv bedeutsamen Spannungsfeldern Sinn verleihen. Das erlaubt es den Schüler*innen, sich weiterhin zu orientieren, zu handeln und sich in neuen Räumen zurechtzufinden. Hier lässt sich eine leiblich reflexive Verbindung zwischen den drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unabhängig von einer kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung erkennen. Über die eigenen Erfahrungen erleben die Schüler*innen die eigene Historizität und die Historizität ihrer Umwelt. Mit diesen Beobachtungen lassen sich Völkels theoretische Überlegungen zu leiblich reflexiven historischen Sinnbildungsprozessen bei den Teilnehmer*innen belegen. Biografisch-historisch sind ihre Erfahrungen als historische Sinnzuweisungen zu deuten. Sinnbildung Die leiblich reflexiven Sinnzuweisungen beziehen sich auf die persönliche Vergangenheit und Zukunft der Schüler*innen. Sie treten stabil in Erscheinung, wenn sie großen Einfluss und Reichweite besitzen und für neue Erlebnisse als sinnvoll zutreffen, was sich teilweise bei allen Teilnehmer*innen zeigt. Sinn wird über ihre Differenzerfahrung durch leibliche Reflexivität auf Ebene ihrer biografisch-historischen Weltwahrnehmung erzeugt. Je vielfältiger die Erfahrungen der Forschungsteilnehmer*innen sind, desto reicher, so ist zu vermuten, wird ihr schweigendes cogito bzw. desto differenzierter können sie sich aufgrund ihrer leiblichen Reflexivität ihrer Umwelt zuwenden. Sie werden umso handlungsfähiger; ein vielfältigerer Zukunftshorizont eröffnet sich, so die begründete Beobachtung. Bei allen Schüler*innen lassen sich Hinweise auf stabile, einflussreiche und weitreichende Sinnzuweisungen erkennen. Diese Vermutung legen bspw. solche Äußerungen nahe, in denen die Schüler*innen ihr eigenes Handeln schildern oder Beispiele finden. So zeigt jede*r Schüler*in nicht-bewusste Sinnkonstruktionen zu seinen/ihren Handlungsmöglichkeiten, die sich auf die eigene Vergangenheit und Zukunft beziehen. Lisa schildert z. B. das persönliche Konstrukt ›arbeiten – rumsitzen‹, wie gezeigt, recht ausführlich mit Beispielen für ange1224 Da von Max nur Erfahrungen aus seinem schulischen Erfahrungskontext vorliegen, können in den folgenden Überlungen keine Aussagen über den außerschulischen Arbeitskontext getroffen werden.

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messenes Handeln. Sie kann, so die Annahme, die Unterscheidung für alle vergangenen Arbeitskontexte vornehmen und auf zukünftige Kontexte übertragen sowie ihr Handeln entsprechend anpassen. Dadurch wird Lisa auch in zukünftigen Situationen erweitert handlungsfähig. Ähnliches lässt sich für die anderen Konstrukte und Handeln vermuten. Lena zeigt Vergleichbares bspw. im Rahmen des persönlichen Konstrukts ›arbeiten – nicht arbeiten‹. So weiß auch Lena, wie sie in Pausensituationen gegenüber Arbeitssituationen angemessen handeln kann, was zukünftige Situationen beeinflusst. Vergleichbares lässt sich für Annika z. B. in Bezug auf das persönliche Konstrukt ›arbeiten – nichts tun‹, Maria und Philipp bei ihren Sinnzuweisungen für ›arbeiten – Pause‹, Paul und sein Konstrukt ›arbeiten – nichts tun‹ und Max für seine Vorstellung von ›Pause – Arbeiten‹ annehmen. Man kann ihnen begründet unterstellen, dass diese Sinnkonstruktionen auch in zukünftigen Situationen relevant werden. Über Differenzerfahrungen können alle Teilnehmer*innen biografisch-historischen Sinn als persönliche Konstrukte erzeugen. Das lässt ihre Sinnzuweisungen noch differenzierter und reichhaltiger werden, so die begründete Annahme. Ihr Handlungssinn lässt sie erfahrungsgesättigt kompetent werden. Es ist zu vermuten, dass sie auch weitere Erfahrungen von Differenz sinnbildend einordnen; dadurch wird ihr schweigendes cogito stetig reicher und umfassender; sie können sich der Welt differenzierter und noch orientierter zuwenden. Mehr Räume werden zu orientierten Räumen. Der Zukunftshorizont wird variabler, so die begründete These. Der aktuelle geschichtsdidaktische Konsens geht, wie gezeigt, davon aus, dass diese (historische) Handlungs- und Orientierungsfähigkeit erst einer historischen Narration folgt. Die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Teilnehmer*innen zeigt sich aber unabhängig von Erzählungen; alle können in neuen, herausfordernden Situationen auch ohne eine historische Narration handeln. Das verweist darauf, dass ihre historischen Sinnbildungen und Deutungsmuster unabhängig von bewussten Narrationen, sondern nicht-bewusst vorhanden sind. Die Beobachtung lässt sich z. B. der Äußerung von Lena ableiten, die sich im abschließenden Gespräch sehr überrascht von den Interpretationen und Hypothesen zeigt, sie aber als zutreffend empfindet. Ihre Frage: ›Frau Rein, können Sie meine Gedanken lesen?‹ lässt darauf schließen, dass ihr selbst die Überlegungen zu ihren Sinnzuweisungen nicht bewusst sind (und ebenso wenig historisch narrativiert vorliegen). Bei allen Schüler*innen wird sichtbar, dass sich ihre nicht-bewussten, leiblich reflexiv vorliegenden Sinnbildungen weiterentwickeln und sich spätere Sinnzusammenhänge vergangener Erfahrungen auf frühere Bedeutungszuweisungen aus dem ersten Interview beziehen. Das lässt auf eine erfahrungsgesättigte Erweiterung des Zukunftshorizonts und eine komplexere Weltwahrnehmung durch neue Erlebnisse im Praktikum schließen. Das weist darauf hin, dass die

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Schüler*innen durch das Praktikum leiblich reflexiv einen differenzierteren Erfahrungs- bzw. Handlungssinn erzeugen. Werden die Sinnkonstruktionen geäußert, setzt auf elaboriert-historischer Ebene ein bewusster und kognitivsprachlich reflexiver Prozess von Erklären und Verstehen ein; die Schüler*innen, so die Vermutung, sind dann in der Lage über ihre Deutungsmuster, ihr Bewegen und Handeln nachzudenken und sich in der Zeit zu orientieren. Sie werden dadurch noch handlungsfähiger. Die komplexeren Sinnzuweisungen lassen die eigene Zukunft vorstellbarer, erwartbarer und planbarer erscheinen. Die teilweise konstanten Sinnzuweisungen und die Weiterentwicklung belegen die Vermutung. Die Schüler*innen erleben Dauer und Wandel leiblich reflexiv; sie entwickeln subjektiven Bedeutsamkeiten teilweise weiter, andere bleiben konstant. Sie sind sich dessen (noch) nicht bewusst. Es ist davon auszugehen, dass alle Schüler*innen Alteritätserfahrungen machen, was zur Veränderung ihrer Sinnzuweisungen beiträgt. In den folgenden Überlegungen werden die Gedanken exemplarisch für vier Schüler*innen ausgeführt; auch bei den übrigen drei Schüler*innen lassen sich die gleichen Überlegungen anstellen – sie werden angerissen. Die Erfahrung von Alterität bezieht sich, wie alle Prozesse auf der biografisch-historischen Ebene, rein auf das Erleben. Auf elaboriert-historischer Ebene wird später analysiert, welche Auswirkung eine kognitiv-sprachliche und bewusste Auseinandersetzung mit subjektivem Sinn haben kann. So zeigt sich bei Lisa bspw. an den Komponenten ›Zusammenarbeit mit anderen Personen/Verantwortung/positiv‹ und ›Motivation/Sorgfalt/Verantwortung/positiv‹, dass sie vor und nach dem Praktikum ähnliche Aspekte damit verbindet; nach dem Praktikum bringt sie weitere Sinnzuweisungen damit in Verbindung, was auf eine Erweiterung des Parameters hindeutet. Die Ausweitung wird bei Lisa auch in den übrigen Komponenten deutlich. Sie äußert im ersten und zweiten Praktikum vier persönliche Konstrukte identisch; das weist darauf hin, dass vergangene und neue Sinnzuweisungen auch für zukünftige Kontexte relevant sind. Für Lena ist eine leichte Veränderung all ihrer Sinnkonstruktionen zu erkennen, wobei sich vor und nach dem Praktikum große Ähnlichkeiten in der grundsätzlichen Konstruktion der Arbeitserfahrungen feststellen lassen. Sie erzeugt in der ersten und zweiten Befragung drei bzw. vier identische persönliche Konstrukte, die wie bei Lisa darauf hindeuten, dass sie für zukünftige Situationen sinnvoll sind. Lenas Sinnzuweisungen liegen recht stabil vor; sie verbindet neue Erfahrungen gleichermaßen mit alten und neuen persönlichen Konstrukten und entwickelt ihre subjektiven Bedeutsamkeiten weiter. Auch bei Annika zeigt sich, dass sich ihre Konstrukte durch das Praktikum verändern bzw. sie Andere mit Arbeit verbindet. Darauf weisen bspw. die Komponenten ›Arbeiten/andere Personen/negativ‹ und ›Arbeiten/Anstrengung/andere Personen/negativ‹ hin, die inhaltlich ähnlich leicht verändert vorliegen. Auch die anderen Parameter

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lassen sich so deuten, dass sie sich durch Erfahrungen während des Praktikums weiterentwickeln. Annika benennt zwei identische persönliche Konstrukte, die darauf hindeuten, dass sie über stabile Sinnzuweisungen verfügt, die ebenso einflussreich wie neue Bedeutungszuweisungen sind. Bei Philipp ist ein Zusammenhängen, aber auch eine Weiterentwicklung der Parameter vor und nach dem Orientierungspraktikum erkennbar; das lässt sich exemplarisch an den Parametern ›angenehm/kompetent/positiv‹ und ›kompetent/Erfolg/sich gut fühlen/positiv‹ ablesen. Vergleichbare Weiterentwicklungen zeigen auch die übrigen Komponenten. Philipp konstruiert neue Situationen mit zwei gleichbleibenden identischen und neuen Konstrukten. Ähnliches zeigt sich bei den Komponenten Marias – z. B. ›dreckig/unordentlich/etwas verändern‹ und ›angenehm/persönlicher Erfolg/Wohlbefinden/positiv‹ – und Pauls – bspw. ›kein Spaß/ keine Lust/eigene Aktivität/negativ‹, ›negative Gefühle/keine Lust/Langeweile/ negativ‹ -. Maria äußert drei, Paul vier identische Konstrukte; ihre Sinnzuweisungen entwickeln sich weiter. Ebenso hängen die Sinnzuweisungen von Max vor und nach seinem Praktikum miteinander zusammen, so bspw. ›alleine etwas zu tun haben/nachdenken/negativ oder positiv‹ und ›Verantwortung/Anstrengung/Nachdenken/negativ‹. Er schildert vier identische Konstrukte; neue Erfahrungen konstruiert er mit neuen und konstanten Sinnzuweisungen. Es ist begründet davon auszugehen, dass die Sinnzuweisungen sich auf zukünftige Erfahrungen übertragen und erneut für die Schüler*innen relevant werden, um Situationen sinnvoll zu konstruieren. Allerdings werden sie sich durch neues Erleben und Erfahren weiterentwickelt, so die begründete Vermutung. Die Sinnzuweisungen, so eine These dieser Arbeit, verknüpfen leiblich reflexiv Verschränkung die drei Zeitebenen. Die Äußerungen Teilnehmer*innen spiegeln die Komplexität ihrer Sinnbildungsprozesse wider und gehen damit, wie gezeigt, über die rein kognitivsprachliche und rationale Ausrichtung von Geschichtsbewusstsein hinaus. Die Lernenden können ihre Konstrukte explizieren, dennoch beziehen sie sich als Handlungssinn auf ihre nichtsprachlichen und nichtkognitiven Sinnbildungsprozesse; niemals können die Teilnehmer*innen den Sinngehalt vollständig ausdrücken. Leibliche Reflexivität und Vernunft des Leibes sind tragende Momente von Sinnbildungsprozessen im Zeichen biografisch-historischen Bewusstseins. Reflexivität Bei allen Schüler*innen lassen sich viele Hinweise darauf finden, dass sie den neuen Erfahrungen im Praktikum auf Grundlage ihrer leiblichen Reflexivität Sinn verleihen. Sie ordnen die neuen Situationen im Praktikum aufgrund ihres leiblich reflexiven Handlungssinns ein. Belegen lassen sich die Überlegungen mit Beobachtungen aus den Interviews. Jede*r Schüler*in kann alle Erfahrungen der

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Schule und des Praktikums mit allen persönlichen Konstrukten in Verbindung bringen. Das zeigt, dass die Reichweite aller Sinnzuweisungen beide Kontexte vollständig – so wohl auch weitere zukünftige Situationen – umfasst. Die Interviews werden jeweils zeitnah nach den Arbeitserfahrungen geführt; dadurch soll ein elaboriert-historischer Sinnbildungsprozess ausgeschlossen werden. Da die Konstrukte vorsprachlich und nicht-bewusst vorliegen, ist nicht davon auszugehen, dass die Schüler*innen sich vor den Interviews bewusst damit auseinandersetzen. Exemplarisch belegt werden können die Beobachtungen mit der (leiblich reflexiven) Reichweite der persönlichen Konstrukte. So erzeugt Lisa während oder bereits vor dem Praktikum das Konstrukt ›konzentriert – nicht konzentriert‹. Sie kann beide Pole beschreiben und mit Beispielen versehen, was dem Anhang zu entnehmen ist. Die Beschreibungen und Beispiele – das Konstrukte an sich – befinden sich im Wissen des schweigenden cogito und bilden die Grundlage dafür, dass Lisa andere Erlebnisse dazu in Bezug setzen kann. Über eine Differenzerfahrung kann sie neue Erlebnisse im Spannungsfeld ›konzentriert – nicht konzentriert‹ verorten und ihnen dadurch Sinn verleihen. Sie kann alle Erfahrungen der Schule als auch des Praktikums mit dem persönlichen Konstrukt in Verbindung bringen und ihnen dadurch Sinn verleihen. Daher ist sie nun leiblich reflexiv in der Lage zu entscheiden, bei welchen Arbeitsaufträgen sie sich sehr, ein bisschen, mittel, eher nicht oder gar nicht konzentrieren muss, um ihre Arbeit zu erledigen. Auch ist zu erwarten, dass das Konstrukt durch die Erfahrungen im Praktikum leiblich reflexiv noch differenzierter werden; dadurch dass Lisa neue Erfahrungen nicht-bewusst in diesem Spannungsfeld verortet und entsprechend handelt, wird ihr Handlungssinn noch umfassender. Hier ist auch erkennbar, dass die Konstrukte miteinander zusammenhängen und leiblich reflexiver Sinn sehr vielschichtig und differenziert gebildet wird. Lisa wendet bspw. die Konstrukte ›konzentriert – nicht konzentriert‹ und ›Verantwortung – nichts machen‹ ähnlich auf die einzelnen Erfahrungen an (Abbildungen 1 und 4). Das verweist darauf, dass die beide Sinnzuweisungen für sie zusammenhängen und sie neue Situationen in Bezug darauf ähnlich konstruiert. In Anlehnung an die Überlegungen zu Lisas leiblich reflexiver Sinnkonstruktion lassen sich die gleichen Überlegungen für Lena anstellen. Sie konstruiert alle schulischen und alle außerschulischen Erfahrungen im Spannungsfeld von ›ausruhen – lernen‹; das persönliche Konstrukt ›ausruhen – lernen‹ nutzt sie bei allen Erfahrungen ähnlich wie ›nicht arbeiten – arbeiten‹ (Abbildungen 7 und 9); hier lässt sich eine korrelierende Verwendung vermuten. Gleiches trifft auch auf Annikas Sinnzuweisungen zu. Sie konstruiert alle Erfahrungen des schulischen Arbeitskontexts und des Orientierungspraktikums leiblich reflexiv bspw. im Spannungsfeld von ›schön – langweilig‹. Sie wendet das Konstrukt recht analog zu ›schreiben – nichts schreiben‹ an (Abbildungen 11 und 13). Davon lässt sich ableiten, dass beide

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Sinnzuweisungen für sie in ähnlicher Weise oder sogar kausal auf Erfahrungen zutreffen. Die gleichen Überlegungen lassen sich auch mit Blick auf Philipps Konstrukte und die Verwendung auf die unterschiedlichen Situationen ableiten. Er versieht alle Erlebnisse im Spannungsfeld ›gut – schlecht‹. Das Konstrukt wird ähnlich wie die Bedeutungszuweisung ›arbeiten – Pause‹ angewandt (Abbildungen 15 und 17), was darauf hinweist, dass beide Konstrukte leiblich reflexiv miteinander zusammenhängen. Für Maria treffen die Überlegungen ebenfalls zu. So konstruiert sie leiblich reflexiv alle schulischen und alle außerschulischen Erlebnisse mit dem Konstrukt ›konzentrieren – ablenken‹. Sie verwendet ›konzentrieren – ablenken‹ ähnlich wie ›kein Hunger – Hunger‹ (Abbildungen 19 und 21). Das deutet darauf hin, dass Maria neue Erlebnisse dahingehend ähnlich mit Sinn versieht. Vergleichbare Aussagen lassen sich auch für Paul und die leiblich reflexive Verwendung seiner persönlichen Konstrukte ›ok – schlecht‹ und ›Chillen/rumlaufen – kein Bock‹ treffen. Sie hängen wohl zusammen (Abbildungen 23 und 25). Ähnliches zeigt sich auch bei Max; er verwendet das Konstrukt ›gut – schlecht‹ und weist allen schulischen und außerschulischen Erfahrungen auf dieser Grundlage leiblich reflexiv Sinn zu. Er verwendet es ähnlich wie das Konstrukt ›glücklich – sauer‹ (Abbildungen 27 und 29), was darauf hindeutet, dass beide Sinnzuweisungen für ihn zusammenhängen und korrelierend auf Erfahrungen zutreffen. Alterität Alle Schüler*innen machen verschiedene Erfahrungen, die sie leiblich reflexiv und nicht-bewusst mit Sinn versehen. Sie konstruieren ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit Alterität, über das Wahrnehmen von Andersartigkeit. Durch den nicht-bewussten Vergleich verschiedener Situationen konstruieren die Teilnehmer*innen über die Erfahrung von Andersartigkeit persönliche Bedeutungszuweisungen als Spannungsfelder. Sie sammeln leibliche reflexive Differenzerfahrungen und weisen verschiedenen Erlebnissen nicht-bewusst darüber Sinn zu. Durch die Alteritätserfahrungen im retentionalen Bewusstsein erleben und erfahren die Schüler*innen Dauer und Wandel; sie gliederen Zeit durch das Erleben von Alterität in ein ›Vorher‹ und ›Nachher‹. Sie konstruieren Zeiträume, die sie derart mit Sinn versehen und Zeiträume, denen sie davon abweichend Bedeutung zuweisen. Alle Schüler*innen konstruieren alle Erfahrungen mit einer unterschiedlichen Kombination ihrer verschiedenen persönlichen Konstrukte. Sie weisen einzelnen Situationen sehr differenziert über eine einzigartige Kombination von Sinnzuweisungen Bedeutung zu. Nur Maria konstuiert zwei Erfahrungen in einer vollkommen identischen Verbindung; alle anderen Erfahrungen unterscheiden sich in ihrer Konstruktkombination voneinander. Das lässt sich den einzelnen Abbildungen 1, 4, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19, 21, 23, 25, 27 und 29 zu den persönlichen

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Konstrukten und den entsprechenden Erfahrungen des schulischen und außerschulischen Arbeitskontextes entnehmen. Durch die einzigartigen Verknüpfungen von Bedeutungszuweisungen erfahren die Teilnehmer*innen sehr differenziert Alterität. Sie nehmen die einzelnen Situationen vielschichtig und andersartig wahr. Die leiblich reflexive Alteritätserfahrung wirkt sich auf die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler*innen aus. Durch die komplexe Wahrnehmung von Andersartigkeit, sind sie zu ebensolchen Sinnzuweisungen in der Lage. Das führt dazu, dass sie ihre Handlungen entsprechend ihren (Handlungs-)Sinnzuweisungen sehr genau anpassen können. Auf biografisch-historischer Bewusstseinsebene zeigt sich, welchen Einfluss die Erfahrung von Alterität auf die Sinnbildungsprozesse der Schüler*innen ausübt. Sie ist ein wichtiger Aspekt, um biografisch-historisch Sinn zu erzeugen. Orientierung Orientierung und Perspektivität sind von dem/der einzelnen Schüler*in, dem Gegenstand und seinem/ihren jeweiligen Kontext abhängig. Alle Schüler*innen sind als Individuen zu betrachten; sie erleben unterschiedliche Situationen in verschiedenen Arbeitsumgebungen. Das führt zu einer individuell unterschiedlichen Sinnkonstruktion, mit der alle Teilnehmer*innen ihre Erfahrungen subjektiv sinnvoll deuten (Abbildungen 1, 4, 7, 9, 11, 13, 15, 17, 19, 21, 23, 25, 27 und 29). Ein Aspekt ist bei allen Schüler*innen gleichermaßen zu finden; alle verorten beide Arbeitskontexte im Zusammenhang von Arbeit und Pause. Lisa entwickelt das Konstrukt ›arbeiten – rumsitzen‹, Lena ›nicht arbeiten – arbeiten‹, Annika ›arbeiten – nichts tun‹, Philipp ›arbeiten – Pause‹, Maria ›arbeiten – Pause‹, Paul ›arbeiten – nichts tun‹ und Max ›Pause – arbeiten‹. Kein anderes Konstrukt zeigt sich so dominant. Die Struktur einer Arbeitstätigkeit und eines Arbeitstages erscheint sehr prägend für die generelle Sinnzuweisung. Bei allen Schüler*innen zeigt sich in den Biplot-Darstellungen auch die Ballung der jeweiligen Erfahrungen in Abhängigkeit von Pause oder Arbeit (Abbildungen 2, 5, 8, 10, 12, 14, 16, 18, 20, 22, 24, 26, 28 und 30). Dieses Spannungsfeld stellt einen wichtigen Parameter bei der Orientierung innerhalb der verschiedenen Arbeitskontexte dar. In der orientierten Zeit aller Schüler*innen fallen die drei Zeitebenen leiblich reflexiv zusammen; ihre Erfahrungen, Erwartungen und Erlebnisse sind gleichzeitig präsent. Das zeigt sich bspw. daran, dass alle Schüler*innen alle persönlichen Konstrukte der schulischen Arbeitserfahrung auch auf die neuen Erfahrungen des Praktikums anwenden; außerdem ist bei jedem Erleben ein Zukunftshorizont eingelagert. Immer verweisen die jeweils gegenwärtigen Erlebnisse auf ihre Vergangenheit und Zukunft. Das lässt sich für alle Schüler*innen folgendermaßen veranschaulichen:

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Zu beobachten ist, dass die einzigartige Kombination von Sinnzuweisungen immer nur auf eine Erfahrung und bestimmte Dauer zutrifft. Über ihr Erleben machen die Schüler*innen die Erfahrung, dass die Kombination nur für einen bestimmten Zeitraum zutrifft; innerhalb der Dauer des Erlebens eröffnen sich jeweilige Vergangenheits- und Zukunftshorizonte. Machen die Schüler*innen die Erfahrung, dass eine Phase abgeschlossen ist und eine neue Phase anbricht, die mit einer weiteren Kombination verschiedener Sinnzuweisungen verbunden ist, erleben sie leiblich reflexiv und nicht-bewusst, dass Dauer und Wandel im Wechselspiel zueinander stehen. Zeitlichkeit, die eigene Historizität und die Historizität der Umgebung werden in ihrem subjektiven Erleben von Dauer und Wandel erfahrbar. Es ist anzunehmen, dass die Schüler*innen sich durch die Erfahrungen im Praktikum einen neuen orientieren Raum erwohnen und eine place identity entwickeln. Die neuen persönlichen Konstrukte, die jede*r von ihnen nach seinem/ihrem Praktikum erzeugt, deuten darauf hin, dass er/sie neuen Sinn zuweisen und orientierter leben sowie handeln kann. Da alle Schüler*innen die neuen persönlichen Konstrukte auch mit den Erfahrungen aus der Schule verbinden können, lässt das darauf schließen, dass sie durch diese neuen Erlebnisse und den neuen orientierten Raum umfassender orientiert handeln werden. Der neue orientierte Raum erlaubt es den Schüler*innen, weiteren neuen Räumen noch kompetenter zu begegnen; auf Grundlage ihrer nun noch differenzierteren Orientierungsfähigkeit wird es ihnen wohl noch leichter fallen, sich neue Räume zu erwohnen. Es ist begründet anzunehmen, dass die Schüler*innen durch die Erfahrungen in der Schule und im Praktikum eine stabile place identity erzeugen können. Diese neuen Erfahrungen könnten die biografisch-historische Kompetenz der Schüller*innen fördern. Das Praktikum der Schüler*innen ist ein Berufsorientierungspraktikum. Das verweist auf seinen Zweck: die Schüler*innen sollen sich orientieren und ihre Orientierungsfähigkeit erweitern. Auf den Einfluss der Praktikumserfahrungen auf ihre Orientierungskompetenz verweist die Beobachtung, dass sich die Deutungsmuster aller Schüler*innen während des Praktikums und durch das Praktikum verändern. Andere Sinnzuweisungen liegen vor und nach dem Praktikum stabil vor. Die subjektiven Bedeutungszuweisungen beziehen sich in ihrer Reichweite auch auf das Praktikum. Die Schüler*innen werden durch stabile subjektive Konstruktionen in neuen Situationen, bei neuen Herausforderungen handlungsfähig, indem sie die neuen mit vergangenen Erfahrungen in Bezug setzen, was Sinn erzeugt. Einige Sinnzuweisungen verändern sich durch neue Differenzerfahrungen. Die Schüler*innen müssen die neuen Erfahrungen anders konstruieren, um handeln und sich orientieren zu können. Sie entwickeln ihre Deutungsmuster weiter, was sich an den veränderten Konstrukten bzw. Komponenten bei

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allen Teilnehmer*innen erkennen lässt. Das geschieht teilweise so stark bzw. grundlegend, dass der neue Sinn sehr weit entfernt von den ursprünglichen Sinnzuweisungen liegt. Lisas, Marias sowie Max’ Konstrukte und Komponenten weisen darauf hin, dass sie sich recht stark weiterentwickeln, Lenas, Annikas, Philipps sowie Pauls Sinnzuweisungen und Parameter zeigen sich weniger stark verändert. Alle Teilnehmer*innen äußern im zweiten Interview andere persönliche Konstrukte; die neuen oder neu geäußerten persönlichen Konstrukte werden auf alle Elemente des schulischen Arbeitskontextes angewendet; das lässt auf den Einfluss des Praktikums auf Sinnbildungsprozesse schließen. Auch zeigt sich die Veränderung an der anderen Reichweite der Konstrukte; manche Elemente werden vor dem Praktikum mit anderen Komponenten in Verbindung gebracht als nach dem Praktikum. So konstruiert Lisa bspw. das Element ›Schrank abbauen‹ vor dem Praktikum im Kontext von zu wenig Unterstützung und insgesamt eher negativ. Nach dem Praktikum bringt sie es mit motiviertem, sorgfältigem und verantwortungsvollem Arbeiten in Verbindung; sie konstruiert die Erfahrung positiv. Lena verbindet ihre Tätigkeit ›Kassieren‹ vor dem Praktikum mit vielen anderen Personen und schätzt sie eher negativ ein; danach konstruiert sie diese hingegen positiv mit Wohlbefinden und angenehm. Auch Annika bringt bspw. den ›Arbeitsraum (der) Schule‹ vor dem Praktikum mit eigener Motivation in Verbindung und zeigt eine positive Sichtweise darauf. Nach dem Praktikum konstruiert sie ihn negativ, mit wenig Einflussmöglichkeit und eigener Passivität. Für Philipp ist die Erfahrung ›spülen/abtrocknen‹ vor dem Praktikum angenehm und positiv, er fühlt sich kompetent. Danach hingegen verbindet er die Erfahrung mit einem schlechten Gefühl, Fehlern und konstruiert sie negativ. Maria weist der Erfahrung ›Geschirr spülen‹ nach dem Praktikum nicht mehr Sinn im Zusammenhang von Dreck, Unordnung und etwas verändern zu müssen zu, sondern von persönlichem Erfolg und Wohlbefinden. Das ist für sie angenehm und positiv. Paul verbindet den ›Pausenhof‹ vor dem Praktikum mit keinem Spaß, keiner Lust, Eigenaktivität und etwas Negativem, nach dem Praktikum hingegen mit Spannung, Spaß, Lust und positiven Gefühlen. Max konstruiert die ›Pause (der) Schule‹ vor dem Praktikum mit persönlichem Wohlbefinden, Passivität und Entspannung als positiv, danach zwar immer noch mit Passivität, allerdings mit negativen Gefühlen und anderen Personen. Es zeigt sich, dass sich die Sinnzuweisungen aller Schüler*innen teilweise verändern. Barricelli geht, wie in Kapitel 2.1.4 dargestellt, davon aus, dass die Erinnerung sich, je öfter eine Erfahrung erinnert wird, von der ursprünglichen Erfahrung entfernt. Es ist möglich, dass diese Annahme auf die Veränderung der Sinnzuweisungen der Schüler*innen zutrifft. Allerdings hängt die Veränderung, so die Annahme dieser Forschungsarbeit, mit den neuen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Orientierungspraktikum zusammen.

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Geschichte In jeder Wahrnehmung der Teilnehmer*innen ist die eigene sedimentierte Lebensgeschichte als Sinn enthalten. Wahrnehmen, Handeln und Sinnbilden basieren auf der eigenen Lebensgeschichte und Erfahrungen. Dadurch erzeugt jede*r von ihnen individuelle und biografische Kohärenz. Ihre sedimentierten Geschichten zeigen sich in den Konstrukten; so hängen die Sinnzuweisungen vor und nach dem Praktikum zusammen. Sie verändern sich maßgeblich durch das Orientierungspraktikum, so die begründete Beobachtung. Alle Teilnehmer*innen entwickeln Sinnzuweisungen weiter, erzeugen neue oder andere persönliche Konstrukte bzw. wenden sie auf den schulischen und auch den außerschulischen Arbeitskontext an. Bei allen Schüler*innen hängt die Veränderung ihrer Lebensgeschichte offenbar mit den Erfahrungen des Orientierungspraktikums zusammen. Um weiterhin handlungsfähig zu sein und individuelle biografische Kohärenz erzeugen zu können, müssen einige Sinnzuweisungen weiterentwickelt werden. Dazu veranlassen die neuen Erfahrungen des Praktikums, die sich nun in der sedimentierten Geschichte der Schüler*innen niederschlagen. Ihre Lebensgeschichte wird durch das Praktikum reicher und differenzierter. Exemplarisch wird für jeden/jede Teilnehmer*in gezeigt, welchen Einfluss die neuen Erfahrungen auf seine/ihre sedimentierte Geschichte besitzt. Lisas Anstrengungsbereitschaft und Motivation verändern sich durch das Praktikum stark. So konstruiert sie nach dem Praktikum einige schulische Elemente mit sorgfältigem und motiviertem Arbeiten, was sie deutlich positiv einordnet. Es ist anzunehmen, dass Lisa Arbeitskontexte, in denen sie sich mit sorgfältigem Arbeiten motiviert einbringen kann, ebenfalls positiv konstruiert und sie diese erstrebenswert wahrnimmt. Da Lisa nach dem Praktikum auch Arbeitserfahrungen aus der Schule mit diesen Sinnzuweisungen in Verbindung bringt, ist anzunehmen, dass sie Arbeit nun grundsätzlich so konstruiert. Bei Lena lässt sich auch eine Veränderung ihrer Sinnkonstruktionen erkennen; so ist anzunehmen, dass sie den Praktikumskontext insgesamt recht negativ und rückblickend ihre schulischen Arbeitserfahrungen positiver einordnet. Es lässt sich begründet annehmen, dass auch diese Veränderung der Sinnzuweisung auf Erfahrungen des Praktikums beruht. Die grundsätzlich stärker negative Rahmung einer Komponente lässt darauf schließen, dass Lena Arbeitskontexte, die dem Praktikum ähneln, eher nicht favorisieren wird; durch die positivere Konstruktion des schulischen Arbeitskontextes, wird sie vermutlich Umgebungen, die diesem ähneln, eher für sich erstrebenswert konstruieren. Bei Annika trägt die anstrengende Arbeit im Orientierungspraktikum wohl dazu bei, dass sie Arbeit nun grundsätzlich anstrengend konstruiert. Der noch vor dem Praktikum erkennbare Teamaspekt tritt dem gegenüber stärker in den Hintergrund. Annika konstruiert vor und auch nach dem Praktikum alle schulischen Arbeitserfahrungen im Rahmen dieser Bedeutungszuweisung. Allerdings verändert sie sich

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leicht, was vermutlich auf Erfahrungen im Praktikum zurückzuführen ist. Ihre Erlebnisse verändern, so die Überlegung, Annikas Sinn. Es ist anzunehmen, dass sie zukünftige Arbeitskontexte so konstruiert und anstrengende Tätigkeiten, wenn möglich, vermeidet. Philipps Praktikumserfahrungen beziehen sich vermutlich stark auf seine Leistungen; möglicherweise wird er daran gemessen. Zwar konstruiert er immer noch die gleichen schulischen Erfahrungen damit, allerdings erweitern sich seine Sinnzuweisungen. Wahrscheinlich wird Philipp zukünftige Arbeitssituationen mit der eigenen Leistung in Zusammenhang bringen und eher Kontexte anstreben, in denen er einen geringeren Leistungsbezug wahrnimmt als im Praktikum. Maria konstruiert nach dem Praktikum besonders viele Aspekte mit persönlichem Erfolg und Wohlbefinden, was für sie angenehm und positiv ist – eine Sinnzuweisung, die sich vor dem Praktikum noch nicht finden lässt. Dieser Bezug ist wohl für zukünftige Arbeitskontexte relevant; Maria wird künftig Tätigkeiten positiv einschätzen, wenn sie sich dabei wohlfühlt und sich erfolgreich wahrnimmt. Es ist anzunehmen, dass sie nun Arbeitskontexte anstrebt, in denen sie derartige Erfahrungen machen kann. Paul zeigt nach dem Orientierungspraktikum eine recht negative Grundhaltung dem gesamten Praktikumskontext gegenüber; die schulischen Erfahrungen werden – wohl auch in Relation zum Praktikum – positiver. Das lässt sich mit den insgesamt recht negativ konnotierten Erfahrungen im Praktikum in Beziehung bringen. Vermutlich wird Paul zukünftig Arbeitskontexte, die dem Schulischen ähneln, nun eher präferieren, als vor dem Praktikum; praktikumsähnliche Umfelder möchte er wohl vermeiden. Max zeigt nach seinem Praktikum eine recht positive Grundhaltung gegenüber verschiedenen Arbeitssituationen, die wohl damit in Zusammenhang steht, sich aktiv beim Arbeiten einbringen zu können. Das Deutungsmuster zeigt sich vor dem Praktikum noch nicht. Es ist zu vermuten, dass Max’ Sinnbildungsprozesse durch das Praktikum beeinflusst werden und sich dadurch seine Vorstellungen der persönlichen Arbeitszukunft verändern. Er wird wohl Arbeitskontexte bevorzugen, in denen er sich aktiv einbringen kann. Die Veränderungen der Sinnzuweisungen sind bei allen Teilnehmer*innen deutlich. Auch lässt sich beobachten, dass sich ihre Grundhaltungen gegenüber Arbeit stark weiterentwickeln. Alle Schüler*innen gelangen durch neue Erlebnisse und neue subjektive Bedeutsamkeiten leiblich reflexiv zu einer anderen Grundeinstellung gegenüber Arbeit. Ihr schweigendes cogito, ihre sedimentierte Lebensgeschichte ist durch Erfahrungen und neue Sinnzuweisungen angereichert, womit sie nun weiteren Arbeitskontexten begegnen. Ein leiblich reflexiv reichhaltigerer und eher zu erwartender Zukunftshorizont eröffnet sich ihnen erfahrungsgesättigt. Bei Lena, Annika, Philipp und Paul, also vier der sieben Teilnehmer*innen, zeigt sich nach den Erfahrungen im Orientierungspraktikum eine negativere Grundhaltung gegenüber Arbeit, was sich auch auf die schuli-

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schen Arbeitserfahrungen auswirkt. Das weist darauf hin, dass ihre sedimentierte Geschichte von den neuen Erlebnissen beeinflusst ist. Das wird sicher die Konstruktion neuer Situationen prägen. Die Schüler*innen reagieren auf die äußeren Veränderungen. Sie erzeugen leiblich reflexiv eine kohärente Lebensgeschichte, indem sie Differenz und Kontingenz erfahren. Ohne eine Weiterentwicklung ihrer persönlichen Sinnzuweisungen und ihrer sedimentierten Lebensgeschichte, so ist begründet zu vermuten, wären sie im Rahmen der neuen Erfahrungen und zukünftig nicht handlungsfähig. Solche Aspekte könnten bei der elaborierthistorischen Auseinandersetzung als Lernanlass herausgegriffen werden; die Schüler*innen könnten bewusst lernen, mit Veränderung umzugehen; weitere Überlegungen dazu stellt das folgende Kapitel an. Die Teilnehmer*innen zeigen, dass sie in den unterschiedlichen Situationen sinnvoll handeln können, indem sie ihre eigenen Sinnzuweisungen, also Teile ihrer sedimentierten Geschichte, in Form von persönlichen Konstrukten schildern. Diese Deutungsmuster können sie leiblich reflexiv und nicht-bewusst auf weitere Räume übertragen bzw. auf ihr Zutreffen überprüfen; es ist anzunehmen, dass die Schüler*innen für das Praktikum, wie soeben geschildert, eine Anpassung ihrer Sinnzuweisungen vornehmen, um sich auch hier angemessen und ohne Zwischenfälle bewegen zu können. Das lässt sich an den oben geschilderten Weiterentwicklungen der persönlichen Konstrukte bzw. der Komponenten erkennen und ist bei jede*r Schüler*in zu beobachten. Bei Lena, Annika, Philipp und Paul ist zudem zu vermuten, dass sie im Praktikum an Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten stoßen, was sich an der negativeren Rahmung der Sinnkonstruktion nach dem Praktikum zeigt. Sie reagieren mit einer Sinnanpassung, um wieder Kohärenz herzustellen. 4.3.3.2 Elaboriert-historisches Bewusstsein Elaboriert-historisches Bewusstsein basiert, wie gezeigt, zusätzlich zur leiblich nicht-bewussten auf der bewussten sowie kognitiv-sprachlichen Reflexion von Erfahrungen, was sich auf die eigene Biografie beziehen kann. Alle Teilnehmer*innen äußern ihre nicht-bewussten, leiblich reflexiven und vorsprachlichen Sinnzuweisungen als Konstrukte. Davon ausgehend können sie sich, so die These, bewusst und kognitiv-sprachlich damit sowie ihrer Lebensgeschichte auseinandersetzen. Es handelt sich dann um elaboriert-historische Sinnbildung, die sich, wie gezeigt, mit einigen Überlegungen aktuell konsensual diskutierter geschichtsdidaktischer Denkfiguren verbinden lässt. Hier ist nochmals zu betonen, dass der Bogen zu bereits bestehenden fachdidaktischen Überlegungen nur gelingt, wenn das Individuum mit seinen eigenen biografisch-historischen Erfahrungen, Sinnbildungsprozessen und leiblichen Verfasstheit radikal in den Mittelpunkt gestellt wird. Es ist von einem Menschenbild auszugehen, in dem sich Menschen der Welt zuwenden, durch Erfahrungen biografisch-historischen

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Sinn bilden und daran anschließend elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse vollziehen. Alle möglichen elaboriert-historischen Lernprozesse der Teilnehmer*innen lassen sich nur auf Grundlage von biografisch-historischen Überlegungen verstehen, die eine zentrale Voraussetzung darstellen, um sich bewusst mit der eigenen Lebensgeschichte und davon ausgehend mit Geschichten Dritter, der eigenen Historizität, der Historizität der Umwelt und subjektiven Sinnzuweisungen sowie pluralen Geschichten zu beschäftigen. Nur auf Grundlage biografisch-historischer Erfahrungen und der elaboriert-historischen Auseinandersetzung lässt sich ein Bogen in die Geschichtsschreibung schlagen, der für individuelle und erweiterte Handlungsfähigkeit tragfähig ist. Die Anschlussfähigkeit gelingt nur durch die in Kapitel 2.4 vorgeschlagenen Veränderungen und Erweiterungen. Die angeführten konsensualen geschichtsdidaktischen Überlegungen müssten entsprechend erweitert werden. Die folgenden Ausführungen überlegen, wie sich elaboriert-historische Lernprozesse der Forschungsteilnehmer*innen gestalten lassen und welche Bedeutung Erfahrung, Sinnbildung, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte haben. Allen ist zuzutrauen, sich elaboriert-historisch mit der eigenen Biografie und Erfahrungen Dritter zu befassen. Es handelt sich folgend um Hypothesen und Ausblicke auf weitere historische Lernmöglichkeiten, da eine bewusste und kognitiv-sprachliche Beschäftigung noch nicht differenziert stattgefunden hat. Einige Überlegungen lassen sich aus den Abschlussgesprächen herleiten. Die Gespräche sind aber nicht als umfassende bewusste Auseinandersetzung einzuordnen; vielmehr handelt es sich um eine erste Annäherung für eine bewusste Beschäftigung. Weitere Untersuchungen könnten Erkenntnisse darüber gewinnen, wie historische Lernprozesse auf elaboriert-historischer Ebene basierend auf der biografisch-historischen Dimension gelingen könnten. Erfahrung Alle Schüler*innen können den Überlegungen der Interviewerin in den Abschlussgesprächen zum Entstehen und den Hintergründen zur Veränderungen ihrer persönlichen Konstrukte folgen und sie kognitiv-sprachlich reflexiv nachvollziehen (exemplarisch Anhang, Kapitel 9.1 und 9.2). Das weist darauf hin, dass jede*r einzelne Erfahrungen aus dem Erlebnisfluss isolieren und sie gezielt betrachten kann. Jede*r ist in der Lage, Alterität als Zeitdifferenz zu erfahren und sich bewusst mit der eigenen Lebensgeschichte, der sedimentierten Geschichte, auseinanderzusetzen. Unterschiedliche Zeitpunkte können in Abständigkeit voneinander und von der eigenen Gegenwart wahrgenommen und erkannt werden. Es ist jedem/jeder möglich, über subjektiven Sinn nachzudenken. Alle Teilnehmer*innen können sich mit verschiedenen Aspekten des biografischhistorischen Bewusstseins befassen und davon ausgehend kognitiv-sprachlich

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reflexive und bewusste weitere Sinnbildungsprozesse vollziehen, so die begründete Vermutung. Ihnen wird die Fähigkeit unterstellt, Zeit und einen Erlebnisfluss bewusst und kognitiv gliedern zu können. So können alle Schüler*innen die Fotografien der schulischen und außerschulischen Arbeitssituationen (für Max gilt das für die schulische Situation) betrachten und erklären, welche Erinnerung durch das einzelne Foto ausgelöst wird. Sie zeigen Fähigkeiten, die begründet darauf verweisen, dass sie zur bewussten und kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung mit den einzelnen Erfahrungen in der Lage sind. Daraus lässt sich ein elaboriert-historischer Lernanlass gestalten, in dem sie sich bspw. mit unterschiedlichen Sinnzuweisungen oder anderen Aspekten ihrer Erfahrungen beschäftigen. Alle Schüler*innen äußern über einen jeweiligen Vergleich zweier Fotografien den Initialpol des Konstrukts; sie können ihn erklären, Beispiele dafür finden und den Kontrastpol dazu erzeugen. Auch den Kontrastpol können alle Schüler*innen beschreiben und mit Beispielen versehen (Anhang, Kapitel 7). Hier greifen sie auf nicht-bewusste, vorsprachlich und nichtkognitiv vorhandene Sinnzuweisungen zurück. Davon ausgehend, so die Annahme, können sich alle Teilnehmer*innen bewusst und kognitiv-sprachlich mit ihren (nicht-bewussten, leiblich reflexiven) Konstrukten auseinandersetzen. Sie können bspw. überlegen, warum sie die beiden jeweiligen Fotografien herausgegriffen haben, um das entsprechende persönliche Konstrukt zu äußern. So ließe sich kognitiv-sprachlich reflexiv erklären und verstehen, warum einzelne Erfahrungen für sie mit bestimmtem Sinn verbunden sind. Sie könnten auch überlegen, warum andere Erfahrungen nicht damit in Zusammenhang stehen. Ein elaboriert-historischer Lernanlass, der die eigenen biografischen Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen würde, kann diese unterschiedlichen Aspekte gezielt betrachten. In einem erklärenden und verstehenden Prozess können die einzelnen schulischen Erfahrungen oder die des Praktikums zueinander in Bezug gesetzt werden. So lassen sich zum einen die einzelnen Situationen getrennt voneinander betrachten; beide Arbeitskontexte sind zum anderen separat herauszugreifen. Darüber sind Dauer und Wandel bewusst erfahrbar. Die Arbeitserfahrungen in der Schule können in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden, denen sich alle Situationen des Praktikums gegenüberstellen lassen. Arbeit in der Schule kann als eine Dauer erkannt werden, Arbeit im Praktikum als eine andere Dauer. Die Erkenntnis, dass beide Kontexte auf eine bestimmte zeitliche Dauer verweisen, lässt Wandel bewusst werden. Die Schüler*innen setzen sich damit auseinander, dass jede Dauer irgendwann einmal beendet wird. Sie gewinnen dadurch auf elaboriert-historischer Ebene erfahrungsgesättigt Erkenntnisse über die eigene Historizität und die Historizität ihrer Umgebung. Davon ausgehend lassen sich Zukunftshorizonte erwarten, vorstellen und planen. Die Teilnehmer*innen

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können davon ausgehend gezielt über ihre persönliche Zukunft nachdenken und sich erfahrungsgesättigt differenzierter damit beschäftigen. Ausgehend von eigenen Erfahrungen lassen sich auch Bögen zu biografischhistorischen Erfahrungen Dritter schlagen. Sie sind durch eine elaboriert-historische Auseinandersetzung in Bezug auf die eigene Gegenwart bewusst und kognitiv-sprachlich möglich. Erfahrungen und Sinnbildungsprozesse Dritter können zu eigenen Erfahrungen und Sinnzuweisungen in Bezug gesetzt werden. Die Forschungsteilnehmer*innen können sich darüber austauschen. Sie überlegen, warum sie Erfahrungen teilweise ähnlich, teilweise unterschiedlich wahrnehmen (s. alle Abbildungen 1–30). In gemeinsamen Dialogen können sie sich ihre Lebensgeschichten und Hintergründe davon erklären. So sind sie in der Lage, subjektive Sichtweisen der anderen nachzuvollziehen und zu verstehen. Es ist anzunehmen, dass sich in diesem Erklärens- und Verstehensprozess weitreichendere Erkenntnisse gewinnen lassen; die Schüler*innen können zu anderen subjektiv bedeutsamen Einsichten gelangen. Das lässt darauf schließen, dass Zukunftshorizonte im gemeinsamen Prozess des Erklärens- und Verstehens reichhaltiger erscheinen. So lassen sich auch Bögen in andere Biografien, welche die eigene Lebenszeit gedanklich überschreiten, schlagen; ein weiterer Reflexionsprozess wird angestoßen, der differenziertere Zukunftshorizonte öffnet. Die Teilnehmer*innen können orientierter leben. Es ist anzunehmen, dass alle Schüler*innen vom anstehenden Übergang von der Schule in die Arbeitswelt verunsichert sind; vermutlich erfahren alle einen Riss in ihrer orientierten Zeit als eine Zeitbrucherfahrung. Diese Zeitbrucherfahrung hängt wohl mit Handlungsunsicherheiten zusammen. Sie sind vor verschiedene Herausforderungen gestellt: sie sollen zum einen Erfahrungen in Berufsorientierungspraktika sammeln, sich neue Räume erwohnen, um kompetent zu werden. Zum anderen ist die Arbeitswelt als zukünftiger Horizont und als eine bevorstehende Veränderung in ihrer Lebensgeschichte präsent. Befassen sich die Schüler*innen mit ihren eigenen biografisch-historischen Erfahrungen im Rahmen elaboriert-historischer Lernanlässe, können sie ihre Verunsicherung und Handlungsunsicherheit, so die Überlegung, überwinden. Sie können Sinn, Orientierung und Handlungskompetenz erfahrungsgesättigt auf elaboriert-historischer Ebene wiederherstellen. Sinnbildung Durch die gezielte Beschäftigung mit eigenen Bedeutungszuweisungen, Umständen und Einflüssen sowie Hintergründen auf Konstrukte können wohl alle Teilnehmer*innen ihre Sinnzuweisungen verändern. Sie können verschiedene Aspekte reflektieren und kommen möglicherweise zu neuen Erkenntnissen. Sie gelangen zu alternativen Sinnzuweisungen und werden nicht zum Opfer der eigenen Biografie. Je vielfältiger die Alternativen sind, desto handlungssicherer,

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kompetenter und wohl auch gelassener können die Schüler*innen ihrer Zukunft entgegenblicken. Sie können sich selbstbewusst neuen Erfahrungen sowie Herausforderungen stellen und orientierter leben. Werden ihre Perspektiven und Sinnkonstruktionen in den Mittelpunkt für Überlegungen zur weiteren Zukunft gestellt, erfahren sich die Schüler*innen, so eine weitere Vermutung, selbstwirksam und als Gestalter*innen der eigenen Biografie. Sie erkennen einen Zuwachs an Orientierungs- und Handlungsfähigkeit: Sie bestimmen ihre Lebensgeschichte selbst. Wie bereits überlegt, erfahren alle Teilnehmer*innen aufgrund der Übergangsphase, in der sie sich gerade befinden, Kontingenz und einen Zeitbruch. Hier lassen sich Rüsens Überlegungen zu Sinnbildung über Zeiterfahrung anschließen, wenn sie wie Kapitel 2.4 diskutiert, entsprechend erweitert und verändert werden. Es ist davon auszugehen, dass alle Schüler*innen die Übergangsphase als deutungsbedürftige Zeiterfahrung in der Gegenwart erleben; sie erfahren eine Veränderung in ihrer orientierten Zeit und sind mit ihren ›alten‹ Konstrukten nicht mehr orientierungs- und handlungsfähig. Davon ausgehend können sie bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv neuen Sinn konstruieren und wieder orientierungs- und handlungsfähig werden. Die Aspekte beziehen sich nicht mehr auf ihre kulturelle, sondern ihre individuelle Orientierung. Dazu können die Schüler*innen (zusätzlich) auf Erfahrungen Dritter, die innerhalb oder außerhalb der eigenen Lebenszeit liegen, zurückgreifen. Im Erklären und Verstehen erzeugen sie neuen Sinn und Kontinuität, wodurch Zukunft wieder erwartbar wird; ihre Handlungskompetenz wird differenzierter und biografische Kohärenz wieder hergestellt. Die Schüler*innen können sich mit verschiedenen selbst gewählten Aspekten ihrer Erfahrungen des schulischen oder des außerschulischen Arbeitskontextes beschäftigen, um die Erfahrung des Zeitbruchs am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, sinnbildend zu bewältigen. Dieses Vorgehen, so die Vermutung, ist für alle Schüler*innen in dieser und anderen Übergangsphasen sinnvoll und kann Gegenstand von elaboriert-historischen Lernprozessen werden. Der Verstehens- und Erklärungsprozess wird angestoßen, wenn die Teilnehmer*innen einzelne Aspekte aus dem Erlebnisfluss herausgreifen und Sinn konstruieren, der neue Verbindungen schafft. In entsprechenden Lernprozessen können sie bspw. die Zeitdifferenz in der Historizität der persönlichen Konstrukte erfahren werden. Alle Schüler*innen äußern nach dem Orientierungspraktikum eine Vielzahl weiterer persönlicher Konstrukte. Durch die Veränderung der Konstrukte lässt sich eine Zeitdifferenzerfahrung machen. Hier lässt sich von Borries‹ Denkfigur zur historischen Sinnbildung anschließen. Die Schüler*innen könnten erklären und verstehen, warum etwas ›damals zwar so war…, heute es aber so ist …, den inzwischen…‹. Die Sinnveränderung wird

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nachvollziehbar. Von Borries‹ Vorschlag zeigt sich für elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse anschlussfähig. Ebenso erweist sich, wie gezeigt wird, ein Blick in Jeismanns Überlegungen zur Analyse, Sachurteil und Wertung als sinnvoll. Mit den drei Operationen gelingt es den Teilnehmer*innen, so die Vermutung, unterschiedliche Konstrukte aufeinander zu beziehen; sie können sie mit ihren eigenen Erfahrungen (oder den Erfahrungen Dritter) in Verbindung bringen, um zu einer Wertung zu gelangen. Folgendermaßen lässt sich das exemplarisch für Max ausführen. So kann er sich bspw. mit der Erfahrung ›Bügeln mit Chefin‹ im Zusammenhang mit den beiden Konstrukten ›gut – schlecht‹ und ›glücklich – sauer‹ auseinandersetzen. Nach dem Praktikum bewertet er die Situationen eher negativ. Er findet sie eher schlecht und erlebt sich eher sauer. Davon ausgehend kann Max nun den Kontext analysieren; er kann die Situation untersuchen, beschreiben, erklären und einordnen. Daran anschließend kann er als Sachurteil überlegen, wie die einzelnen Aspekte für ihn zusammenhängen und welche Bezüge für ihn vorliegen; hier kann er sich auf die (beiden) persönlichen Konstruktpole beziehen, mit denen er der Situationen Bedeutung verliehen hat. Vielleicht stellt er auch Überlegungen dazu an und erklärt verstehend, welche Auswirkung seine Bedeutungszuweisung auf die damalige Situation hatte. Er kann die Situation aus seiner gegenwärtigen Perspektive und auf Grundlage gegenwärtiger Urteildimensionen (neu) bewerten und zu einer wertenden und handlungsorientierenden Stellungnahme kommen. Diese neue Wertung liegt nun elaboriert-historisch und nicht mehr (ausschließlich) biografisch-historisch vor. Max ist sich seiner beiden Stellungnahmen bewusst. In einem weiteren Schritt kann er die vergangene biografischhistorische Stellungnahme mit der Elaboriert-Historischen in Bezug setzen und erklären, warum sich seine Einschätzung verändert hat oder konstant geblieben ist. Vielleicht findet Max weitere Wertungen, mit denen er der vergangenen Situation noch differenzierter Bedeutung verleiht. Gleichermaßen können alle Teilnehmer*innen, so die Hypothese, die Operationen Analyse, Sachurteil und Werturteil für sich nutzen, um zu einer Stellungnahme in Bezug auf ihre vergangenen Erfahrungen zu gelangen. Auf Grundlage dieser Haltung ist es allen Schüler*innen möglich, so die These, sich (selbst)bewusster und handlungsfähiger neuen Herausforderungen zu stellen. Der eigene Zukunftshorizont erscheint differenzierter. Wie bereits überlegt, erscheint Gautschis Kompetenzmodell für die Ergebnisse der Forschungsteilnehmer*innen wenig anschlussfähig. Die elaborierthistorischen Sinnbildungsprozesse können, wie gezeigt, durch Verstehen und Erklären weiter angeregt werden. Es erscheint gewinnbringender, biografisch orientierte Kompetenzen in den Fokus elaboriert-historischer Lernprozesse zu stellen und biografische Kompetenz zu fokussieren. Dadurch, so die Vermutung,

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lassen sich Ziele verfolgen, die sich dezidiert auf den kompetenten Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte beziehen. Durch den sinnbildenden Prozess mit der Erfahrung von Zeitdifferenz sind vermutlich alle Schüler*innen in der Lage, Sinn zu erzeugen, der sich grundsätzlich in der konsensualen Theorie zur Typologie der Sinnbildung verorten lässt. Den Sinn äußern sie aber nicht in einer historischen Narration, sondern durch erklärende und verstehende Geschichten bzw. Äußerungen. Alle Sinnbildungstypen sind als gleichwertig nebeneinander zu verstehen; sie tragen jeweils zur Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler*innen bei und sind demzufolge gleichermaßen subjektiv wichtig für sie. Es ist eher weniger vorstellbar, dass die Teilnehmer*innen durch die Beschäftigung mit ihrer Gegenwart traditional Sinn bilden; auf dieser Ebene steht die Erkenntnis im Vordergrund, dass alles stabil ist und sich Sinnzuweisungen nicht weiterverändern. Sie würden dann keine Veränderungen wahrnehmen und erkennen, was aufgrund der Beobachtungen wenig plausibel erscheint. Da alle Schüler*innen vor und nach dem Orientierungspraktikum unterschiedliche, nicht-bewusste Konstrukte äußern, ist begründet anzunehmen, dass sie diese Unterschiede in einem weiteren kognitiv-sprachlichen Reflexionsprozess erklären und verstehen können. Traditionale Sinnzuweisungen, die auf eine gewisse Determiniertheit von der Vergangenheit bzw. von vergangenen Deutungsmustern hinweisen, würden sie, so die These, eher nicht erzeugen. Sie würden verschiedene beispielhafte Erfahrungen, mit denen sie bestimmte Konstruktpole verbinden, anführen, was auf ihre Fähigkeit zur exemplarischen Sinnbildung hindeutet. Auf Grundlage der Beispiele können sie zu generalisierenden Erkenntnissen kommen, mit denen sie ihrer jeweiligen Gegenwart und Zukunft Sinn verleihen. Vermutlich sind die generalisierenden Erkenntnisse nur für gewisse längere Zeiträume und (Lebens-)Phasen gültig. Es ist anzunehmen, dass sie sich in Abhängigkeit von neuen biografischen Erfahrungen bzw. der bewussten Auseinandersetzung mit neuen Erlebnissen verändern können. Durch neue Erfahrungen wäre es den Schüler*innen möglich, in die Vergangenheit zu blicken sowie die Neuen mit alten Erfahrungen in Verbindung zu bringen und neue generalisierende Erkenntnisse zu gewinnen. Neue Erlebnisse und kritische Sinnbildung zeigen einen Bezug zu einander auf. Sind die Schüler*innen zu einer bewussten Veränderung ihrer Konstrukte fähig, verweist das auf kritische Sinnbildung. Sie sind vermutlich (auf Grundlage neuer biografischer Erfahrungen, einer reicheren sedimentierten Lebensgeschichte und einem reicheren schweigenden cogito) in der Lage, eine kritische Haltung gegenüber alten Sinnzuweisungen einzunehmen und neuen Sinn zu bilden, indem sie sich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv mit unterschiedlichen Erfahrungen auseinandersetzen. So können auch andere Perspektiven bspw. von Mitarbeiter*innen oder Vorgesetzten zu einer kritischen Auseinandersetzung anregen.

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Dadurch, so die Vermutung, können die Schüler*innen zu neuen Deutungsmustern kommen. Für sie eröffnen sich alternative Sinnzuweisungen, erweiterte Handlungsmöglichkeiten und vielseitigere Zukunftshorizonte. Können die Forschungsteilnehmer*innen im Rückblick auf die eigene biografische Vergangenheit Veränderungen und Veränderbarkeiten innerhalb von Regelsystemen und der Regelsysteme an sich erkennen, bilden sie genetisch Sinn. Sie erkennen, dass alles im Fluss ist. Genetische Sinnbildung erscheint vor allem im Austausch der Teilnehmer*innen untereinander möglich. Indem sie sich ihre Lebensgeschichten, Sinnzuweisungen und Zusammenhänge erklären, können sie Veränderung und Veränderbarkeit als einflussreiche Größen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft analysieren und verstehen. Je vielfältiger die unterschiedlichen Geschichten, Sinnzuweisungen und Zusammenhänge sind, so die These, desto vielseitiger wären die daraus entstehenden Sinnbildungen. Sie können von hier aus einen Bogen in die Geschichtsschreibung schlagen. Verschiedene Aspekte lassen sich aus dem Ereignisfluss lösen und mit eigenen Erfahrungen, aus dem Erlebnisfluss isoliert, in Bezug setzen. So lässt sich ergründen, wie sich einzelne Aspekte des Universum des Historischen auf die eigene Lebensgeschichte und einzelne Erfahrungen beziehen. Das erweitert die Handlungsfähigkeit der Schüler*innen, so die Vermutung. Es ist anzunehmen, dass alle Teilnehmer*innen zu kritischer, exemplarischer, und genetischer Sinnbildung in der Lage sind; traditionale Sinnbildung ist nicht zu erwarten. Das widerlegt Musenbergs Annahme aus Kapitel 2.1.8.2, nicht alle Schüler*innen mit geistiger Behinderung seien dazu in der Lage, allerdings nicht. Es müssten weitere Untersuchungen – auch mit Schüler*innen mit heterogeneren Fähigkeiten – dazu angestellt werden. Ausgehend von ihren Erkenntnissen zu Sinnbildung und ihrer Historizität lassen sich vielseitige Anlässe für einen gemeinsamen Austausch darüber gestalten. Davon profitieren alle Teilnehmer*innen. Sie sammeln individuelle Erfahrungen und kommen auf biografisch-historischer bzw. elaboriert-historischer Ebene zu unterschiedlichen Sinnzuweisungen, zu unterschiedlichen Urteilen. Das kann Anlass für einen gemeinsamen Dialog sein. Alle Schüler*innen können auf Arbeitserfahrungen in der Schule und im Orientierungspraktikum zurückgreifen und sich gegenseitig ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen und pluralen Geschichten erklären. Ihre individuellen Erfahrungen und Sinnzuweisungen lassen sich vor dem Hintergrund kollektiver Aspekte einordnen. Jeder Mensch besitzt eine Lebensgeschichte, die er – verfügt er über die entsprechenden kognitiv-sprachlichen Fähigkeiten – zum Anlass eines Austausches werden lassen kann. Alle Schüler*innen stehen am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, alle sammeln unterschiedliche Erfahrungen, alle erfahren diese Phase als Zeitbruch, alle haben Vorstellungen, Wünsche und Ziele an ihre Zu-

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kunft. Das verweist auf kollektive Aspekte in ihren individuellen Lebensgeschichten, die sich aufgreifen lassen. Die Teilnehmer*innen können sich selbst, ihre eigene Historizität und die Historizität ihrer Umwelt im Zusammenhang mit sozialen und kulturellen Aspekten reflektieren. Hier lassen sich vielseitige Kontextualisierungen und Analysen vornehmen, auf deren Grundlage sie Erkenntnisse über die eigene Gewordenheit und die des sie umgebenden sozialen und kulturellen Raumes gewinnen. Alle Schüler*innen konstruieren bspw. Situationen über ihre Vorstellung von Arbeit und Pause leiblich reflexiv. Wenden sie sich diesem Merkmal bewusst und kognitiv-sprachlich zu, lässt sich fragen, warum es für alle so wichtig bzw. dominant ist. Ausgehend davon können die Schüler*innen in das Universum des Historischen blicken, um Antworten zu finden, wie das Verhältnis von Pause und Arbeit historisch einzuordnen ist oder wie sich das Spannungsfeld in seiner Bedeutsamkeit, im Arbeitsalltag und im Gestalten von Arbeitsprozessen elaboriert-historisch gesehen verändert hat. Den Schüler*innen gelingt dann das gedankliche Überschreiten der eigenen Biografie auf Grundlage ihrer eigenen biografisch-historischen Erfahrungen. Sie erfahren Alterität zwischen eigenen Erfahrungen, Erfahrungen der anderen Teilnehmer*innen und Erfahrungen von Persönlichkeiten des historischen Universums. Die Alteritäten können sie durch Bedeutungszuweisungen erklären und verstehen. Dadurch, so die begründete Vermutung, wird der Blick in die Geschichtsschreibung für sie lebensweltlich relevant; sie gelangen zu reicheren und differenzierteren Zukunftshorizonten, werden handlungsfähiger und können orientierter leben. Sie gelangen zu Erkenntnissen, was Veränderungen und Veränderbarkeit angeht und sich auf die eigene Zukunft bezieht. Die Äußerungen der Schüler*innen lassen sich vor dem Hintergrund Schützes Annahmen zu Deutungs- und Erzählmustern daraufhin befragen, ob sie eher auf eigene Ohnmacht und Abhängigkeit oder Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit hinweisen. Aus allen, insbesondere den selbstreflexiven, persönlichen Konstrukten sind Rückschlüsse auf Deutungsmuster, persönliche Befindlichkeit und Vorstellungen ziehen. Die eigenen Perspektiven sollten im Mittelpunkt der Entscheidung über ihre Arbeitszukunft stehen, um Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu gewährleisten. Alle Schüler*innen können wohl durch bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexionsprozesse Rückschlüsse ziehen, was ihnen für zukünftige Arbeitskontexte wichtig ist, was sie positiv bzw. erstrebenswert ansehen oder vermeiden möchten. Es ist anzunehmen, dass sich biografische Handlungsschemata erkennen lassen. Eigene Vorstellungen, Handlungen, Pläne und Ziele dominieren ihre Äußerungen. Ihre Deutungsmuster sind geprägt von Handlungsmöglichkeiten, die sich bspw. bei der Benennung und Beschreibung der persönlichen Konstrukte zeigen. Da sich alle Sinnzuweisungen während des Praktikums verändern, die Deutungsmuster noch differenzierter

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und reichhaltiger werden, ist begründet zu vermuten, dass alle Schüler*innen auf Grundlage dieser nicht-bewussten, leiblich reflexiven und bewussten kognitivsprachlich reflexiven Auseinandersetzung eine fundierte Entscheidung über die eigene Arbeitszukunft treffen können. Noch fundierter wird sie durch elaborierthistorische Auseinandersetzung. Ob sie ihre (neu gewonnenen) Sinnzuweisungen als Basis für die Entscheidungsfindung heranziehen und im Rahmen der Berufsorientierung einen eigenen Entschluss fassen können, lässt sich in weiteren Arbeiten überlegen. Reflexivität Elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse finden zusätzlich zur biografischhistorischen Reflexionseben bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv statt. Alle Teilnehmer*innen können, so die These, eine Zeitdifferenzerfahrung elaborierthistorisch durch einen kognitiv-sprachlichen und bewussten Reflexionsprozess mit Sinn versehen, dass eine andere Qualität ihrer Handlungsfähigkeit entsteht. Sie können Zeitdifferenzen oder Ursachen und Hintergründe, die zur Wahrnehmung von Alterität führen, erklären. So lassen sich bspw. Veränderungen eigener Sinnzuweisungen thematisieren; die Historizität des eigenen Selbst oder der Umgebung können zum Ausgangspunkt für den weiteren Reflexionsprozess werden. Die Reflexivität bekommt auf elaboriert-historischer Ebene eine erweiterte Qualität. Durch den Sinnbildungsprozess werden Bedeutungszuweisungen noch differenzierter oder verändert. Dauer und Wandel bestimmter Erfahrungen lassen sich von den Teilnehmer*innen hinterfragen und führen zu Erkenntnissen über ihre Historizität. Bspw. könnte der Einfluss bestimmter Sinnzuweisungen auf die eigene Gegenwart und Zukunft hinterfragt werden. Wie auf biografisch-historischer Ebene beobachtet, beeinflussen einige Konstrukte sich gegenseitig bzw. hängen kausal miteinander zusammen. Dieser Bezug, dieser Sinn, der nicht-bewusst und leiblich reflexiv bereits das Handeln der Schüler*innen prägt, kann elaboriert-historisch reflektiert werden. So lassen sich gemeinsam mit den Teilnehmer*innen Aspekte ausmachen, die sie thematisieren möchten. Lisa kann sich, so ein Vorschlag, damit auseinandersetzen, welchen Zusammenhang sie bei den beiden persönlichen Konstrukten ›konzentriert – nicht konzentriert‹ und ›Verantwortung – keine Verantwortung‹ erkennt (Abbildungen 1 und 4). Sie kann sich überlegen, welchen Einfluss Arbeitssituationen haben, wenn sie konzentriert oder nicht konzentriert sein muss bzw. wenn sie Verantwortung oder keine Verantwortung hat. Sie kann auch ergründen, inwiefern beide Konstrukte (oder weitere) mit persönlichen Erwartungen an die eigene Arbeitszukunft, Ziele, Vorlieben, persönlicher Zufriedenheit oder der Vorstellung von Glück in Verbindung stehen. Möglicherweise lassen sich so wichtige Rückschlüsse für die Gestaltung künftiger Praktikumskontexte oder grundsätzliche Konsequenzen für ihre Arbeitszukunft ziehen. Sie ist in

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der Lage, ihre eigenen persönlichen Bedeutungszuweisungen zu verstehen, zu erklären und Veränderungen zu erzeugen. Von hier aus lassen sich vielseitige Bögen in Lisas Zukunft schlagen. Sie wird zukünftigen Erfahrungen auf Grundlage dieser Reflexionen wohl anders begegnen; die Reflexionsprozesse und ihre Ergebnisse beeinflussen ihre Sinnzuweisungen und ihre Handlungsfähigkeit. Die gleichen Überlegungen lassen sich für Lena anstellen; sie kann sich mit verschiedenen Sinnzuweisungen und Hintergründen ausgehend von den beiden zusammenhängenden Konstrukten ›ausruhen – lernen‹ und ›nicht arbeiten – arbeiten‹ beschäftigen (Abbildungen 7 und 9). Für Annika ist die Beschäftigung mit den Konstrukten ›schön – langweilig‹ und ›schreiben – nichts schreiben‹ ein möglicher Lernanlass (Abbildungen 11 und 13). Philipp kann sich mit ›gut – schlecht‹ und ›arbeiten – Pause‹ (Abbildungen 15 und 17), Maria mit ›konzentriert – ablenken‹ und ›kein Hunger – Hunger‹ (Abbildungen 19 und 21), Paul mit ›ok – schlecht‹ und ›Chillen/rumlaufen – kein Bock‹ (Abbildungen 23 und 25) und Max mit ›gut – schlecht‹ und ›glücklich – sauer‹ auseinandersetzen (Abbildungen 27 und 29). Alterität Es ist anzunehmen, dass jede*r Teilnehmer*n auf elaboriert-historischer Ebene Alterität durch eine Zeitdifferenzerfahrung erkennen kann. Ihre Alteritätserfahrung kann sich in der elaboriert-historischen Dimension sowohl auf Erfahrungen der eigenen Lebenszeit als auch zusätzlich auf Erfahrungen, welche die eigene Lebenszeit überschreiten, beziehen. Um Alterität derart erfahren zu können, müssen die Teilnehmer*innen in der Lage sein, verschiedene Aspekte aufeinander zu beziehen und so zu analysieren, dass Andersartigkeit erkennbar wird. Das wird ihnen zugetraut. Ziel der Auseinandersetzung ist, dass sie Alterität verschiedener Erfahrungen, Sinnzuweisungen oder Normen entdecken und mit Sinn versehen. Dadurch, so die begründete Vermutung, können sie ihre Handlungsfähigkeit bewusst sowie kognitiv-sprachlich reflexiv differenzieren und sich kompetenter neuen Erfahrungen zuwenden. Ihr Zukunftshorizont wird vielfältiger und sie selbst in neuen Situationen orientiert handlungsfähiger. Zum Ausgangspunkt für Alteritätserfahrungen lassen sich, gemeinsam mit den Teilnehmer*innen, sehr unterschiedliche Aspekte heranziehen. So können unterschiedliche Erfahrungen oder auch Sinnzuweisungen Anlass für kognitivsprachliche und bewusste Reflexionsprozesse werden, um Andersartigkeit zu erfahren und davon Sinn abzuleiten. Ein möglicher Aspekt für die Erfahrung von Alterität kann ein bewusster und kognitiv-sprachlicher Umgang mit den Fotografien der verschiedenen Arbeitskontexte als Quellen der Vergangenheit sein. Sie ragen in die Gegenwart und können Anlass zur Analyse der Andersartigkeit von Vergangenheit und Gegenwart werden. Es ist zu vermuten, dass alle Forschungsteilnehmer*innen in der Lage sind, die unterschiedlichen Quellen in

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Bezug zueinander zu setzen und ihre Sinnzuweisungen durch Vergleiche auf Andersartigkeit mit Sinn zu versehen bzw. ihre Sinnzuweisungen zu erklären. Die Schüler*innen erfahren, so die These, so Zeitdifferenz: zum einen erkennen sie die vergangenen Erfahrungen als vorüber und in der Differenz zu ihrer Gegenwart. Zum anderen wissen sie, dass die unterschiedlichen Quellen Erfahrungen verschiedener Zeitpunkte markieren, die sich durch die Abständigkeit und Alterität aufeinander beziehen lassen. Über diese Zeitdifferenzerfahrungen, so die Vermutung, können sie Sinn bilden. Schildern sie ihre verschiedenen Erfahrungen und bringen sie diese in einen Sinnzusammenhang, ist davon auszugehen, dass sie eine Andersartigkeit der Situation und der jeweiligen Kontexte im Vergleich zu anderen Erfahrungen oder ihrer Gegenwart ausmachen. Es liegen keine anderen Urteile zu den biografisch-historischen Erfahrungen der Teilnehmer*innen vor, an denen sie zusätzlich Alterität erfahren können. Das lässt sich aber in der bewussten und kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung einbringen. So können bspw. Perspektiven der Kolleg*innen oder Vorgesetzen herangezogen werden. Im Abschlussgespräch über die Ergebnisse ist von einer Alteritätserfahrung auszugehen: wenn die Schüler*innen mit der Veränderung ihrer Deutungsmuster konfrontiert werden, dann erfahren sie dadurch, so die begründete Vermutung, Alterität. Sie erkennen, dass ihre Sinnzuweisung zu einem anderen Zeitpunkt anders ist und bemerken, Veränderungen oder Konstanten. Die unterschiedlichen Sinnzuweisungen bzw. deren Veränderungen oder auch Konstanten ›gehören‹ zur Person und ihrer Historizität selbst; sie beeinflussen ihre Identität. Diese Erfahrung lässt sich weiter kognitiv-sprachlich und bewusst vertiefen Exemplarisch lassen sich unterschiedliche Erfahrungen heranziehen, um aufzuzeigen, wie die Forschungsteilnehmer*innen Alterität elaboriert-historisch erfahren und durch Sinnbildungsprozesse zu einer erweiterten Handlungskompetenz gelangen können. Jede*r Schüler*in kann auf zwei verschiedene Erfahrungen mit zwei unterschiedlichen Vorgesetzten zurückgreifen; ihm/ ihr liegt jeweils eine schulische und eine außerschulische Erfahrung vor. Jede*r Schüler*in kann in einem kognitiv-sprachlichen und bewussten Reflexionsprozess erklärend und verstehend herausarbeiten, wo die Andersartigkeiten bei beiden Erfahrungen liegen. Unterschiedliche Aspekte lassen sich hierfür heranziehen. Bspw. lässt sich überlegen, bei welchem/welcher Vorgesetzten sich der/ die Schüler*in besonders wohl gefühlt hat, was sich mit weiteren Erklärungs- und Ursachenzusammenhängen in Verbindung bringen lässt. Möglicherweise nimmt der/die Schüler*in unterschiedliche Qualitäten von ›Wohlfühlen‹ wahr, die sich ergründen lassen. Oder die Unterstützung durch die Lehrkraft oder den/die Vorgesetzte wird Anlass, um sich mit der Alterität beider Erfahrungen zu beschäftigen. Zahlreiche weitere Aspekte können thematisiert werden; es ist si-

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cherzustellen, dass es sich um die individuelle Wahrnehmung und Erfahrung von Alterität der/die Schüler*in handelt. Grundlage für die Auseinandersetzung können auch unterschiedliche persönliche Konstrukte sein. Durch einen erklärenden und verstehenden Sinnbildungsprozess können die Schüler*innen ihre Alteritätserfahrungen und mögliche Hintergründe äußern. Sie erzeugen, so die Vermutung, auf dieser Grundlage eine erweiterte Handlungsfähigkeit und ziehen erfahrungsbasiert Rückschlüsse für ihre persönliche Arbeitszukunft. Auch lässt sich die Perspektive der jeweiligen Lehrkraft bzw. des/der Vorgesetzten des Praktikums einbeziehen, um eine zusätzliche Erfahrung von Alterität zu ermöglichen und in den erklärend-verstehenden Sinnbildungsprozess aufzunehmen. Die unterschiedlichen Alteritätserfahrungen können im gemeinsamen Austausch erklärt und verstanden werden. Hier lassen sich unterschiedliche Sinnzuweisungen, Erklärungsansätze und Überlegungen äußern; ein gemeinsamer Austausch über ihre Erfahrungen zur Arbeit mit Vorgesetzten wäre möglich. So erfahren die Schüler*innen wohl zusätzlich Alterität; sie werden noch handlungsfähiger. Von hier lässt sich in das Universum des Historischen blicken. Die Schüler*innen können sich mit Erfahrungen Arbeitserfahrungen von Figuren der elaboriert-historischen Geschichtsschreibung beschäftigen. Diese Alteritätserfahrungen können alle Teilnehmer*innen, so die Vermutung, aufgrund ihrer biografisch-historischen Erfahrung sinnvoll nutzen und zu erweiterter Handlungskompetenz gelangen. Orientierung Durch elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse können die Forschungsteilnehmer*innen zu Orientierung im Raum und in der Zeit gelangen. Das erfolgt durch ihre kognitiv-sprachliche sowie bewusst reflexive analytische Trennung der verschiedenen Zeitebenen und trägt zu erweiterter Orientierungs- und Handlungsfähigkeit bei, so die These. Eine solche (Neu-)Orientierung kann notwendig sein, wenn die Schüler*innen einen Zeitbruch als Riss in ihrer orientierten Zeit erfahren. Da sich alle Teilnehmer*innen aktuell am Übergang von der Schulzeit in die Berufswelt befinden, ist begründet davon auszugehen, dass sie eine Zeitbrucherfahrung erleben; eine erfahrungsgesättigte Erweiterung ihrer Orientierungs- und Handlungsfähigkeit wäre vermutlich für alle Schüler*innen sinnvoll. Die Teilnehmer*innen können sich wohl durch die bewusste und kognitivsprachlich reflexive Auseinandersetzung mit Erfahrungen in die Lage versetzen, über sich selbst, die eigene Historizität sowie ihre soziale und kulturelle Umgebung, nachzudenken und sich durch den elaboriert-historischen Reflexionsprozess neu oder erweitert zu orientieren. Sie leben orientierter sowie hand-

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lungsfähiger, können Irritationen bewältigen und Kohärenz sowie Kontinuität herstellen. Im Dialog lassen sich unterschiedliche Momente der Erfahrungen der Schüler*innen thematisieren. Gemeinsam ist zu ergründen, welcher Aspekt besonders geeignet oder wichtig für eine Vertiefung ist. Das können sie im Hinblick auf Rüsens Überlegungen zu Wahrnehmung, Deutung, Orientierung und Motivation vollziehen. Voraussetzung dafür sind die bereits erwähnten Erweiterungen und Veränderungen. Antworten auf Fragen zum eigenen Selbst, der eigenen Historizität oder auch der Historizität der eigenen Umgebung können im Prozess der Wahrnehmung, Deutung und Orientierung, was mit motivationalen Aspekten zusammenhängt, gefunden werden. Die Teilnehmer*innen können bspw. ihre persönlichen Befindlichkeiten bei den unterschiedlichen Erfahrungen bewusst reflektieren, um sich in der Übergangsphase emotional zu orientieren und kompetenter zu werden. Alle Forschungsteilnehmer*innen können einzelne Aspekte der Arbeitssituationen aus dem Erlebnisfluss heraustrennen und gesondert betrachten. Um bspw. emotionale Aspekte zu thematisieren, lässt sich eine Auseinandersetzung mit ihren selbstreflexiven persönlichen Konstrukten, die auf subjektive Befindlichkeiten und Emotionen hindeuten, verfolgen. Annika kann sich bspw. mit dem Konstrukt ›schön – langweilig‹ beschäftigen. Sie kann überlegen, auf welche Erfahrungen welcher Kontrastpol eher zutrifft und wie Situationen beschaffen sein müssen, damit sie diese als schön oder langweilig konstruiert. Möglicherweise lässt sich durch die bewusste Erfahrung von Alterität ein zeitlicher Wandel einbeziehen. Durch die deutende Interpretation entstehen erklärende und verstehende Sinnzusammenhänge. Historizität lässt sich dabei ebenso erkennen. Möglicherweise findet Annika in der bewussten und kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung auch Optionen, wie sie mit Situationen umgehen kann, die sie als langweilig einschätzt, um nicht unzufrieden zu werden. Es ist vorstellbar, dass sie ihre Erkenntnisse in Orientierung und orientierte Handlung überführt. Vielleicht gelingt es ihr, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und mit zukünftigen Erfahrungen so umzugehen, dass sie diese als weniger oder gar nicht langweilig einschätzt. Möglicherweise erkennt sie weitere Aspekte, die es ihr erlauben, ihre Sinnzuweisung zu verändern. Dadurch kann sie wohl künftig (beim Arbeiten) noch zufriedener werden. Gleichermaßen kann sich Lisa mit ihrem Konstrukt ›angenehm – unangenehm‹, Lena mit ›sich gut fühlen – sich schlecht fühlen‹, Philipp mit ›glücklich – traurig‹, Maria mit ›entspannt – nicht entspannt‹, Paul mit ›mein Ding – nicht mein Ding‹ und Max mit ›glücklich – sauer‹ beschäftigen. Sie erzeugen dadurch neue Geschichten.

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Geschichte Durch die Gliederung von Zeit können die Schüler*innen vermutlich Geschichten hervorbringen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie sind, so die Annahme, in der Lage, sich mit der eigenen sedimentierten Lebensgeschichte zu beschäftigen, einzelne Aspekte aus der eigenen Biografie herauszutrennen, um davon ausgehend bewusste und kognitiv-sprachliche Reflexionsprozesse zu vollziehen. Jede*r Schüler*in findet in seiner/ihrer Lebensgeschichte wohl irritierende Aspekte; er/sie hat Fragen oder Überlegungen, mit denen er/sie sich kognitiv-sprachlich reflexiv bschäftigen kann. Mögliche Reflexionsanlässe lassen sich gemeinsam mit dem/der Schüler*in ergründen, von denen ausgehend sie/er sich erklärend und verstehend der eigenen Lebensgeschichte annehmen kann. Ziel ist es, Zusammenhänge, Verkettungen und Kausalitäten zu erkennen und sie verstehend sowie erklärend zu deuten. Dadurch erhalten die einzelnen Aspekte, ihre Verbindungen und die gesamte Lebensgeschichte tiefergehende, weiterführende oder auch veränderte Sinn-zuweisungen, mit denen der/die Schüler*in seine/ihre Lebensgeschichte und sich selbst noch grundlegender versteht und erklärt. Durch die analytische Trennung der Vergangenheit von der Gegenwart und unterschiedlicher vergangener Zeitpunkte erzeugen sie, so die Annahme, verstehende und erklärende Geschichten. Durch diesen Prozess sind sie in der Lage, erweiterte Zukunftshorizonte zu erzeugen und die Zukunft differenzierter zu erwarten. Aus den Lebensgeschichten lassen sich unterschiedlichste Aspekte herausgreifen und analytisch betrachten. Bei allen Schüler*innen zeigt sich durch das Orientierungspraktikum eine Veränderung ihrer Sinnzuweisungen und sedimentierten Lebensgeschichte, was thematisiert werden kann. Nach dem Praktikum konstruiert Lisa die Arbeitssituationen des Praktikums mit Anstrengungsbereitschaft, Motivation und einer positiven Grundeinstellung. Lena hingegen nimmt die Arbeit im Praktikum generell sehr negativ wahr. Bei Annika zeigt sich, dass sie das Praktikum vor allem mit Anstrengungen und einer eher negativen Sinnzuweisung einordnet. Philipp verbindet mit dem Praktikum überwiegend den Fokus auf die eigene Leistung, was er negativ einschätzt. Maria konstruiert ihre Praktikumserfahrungen mit persönlichem Erfolg und Wohlbefinden, was sie positiv erlebt. Paul konstruiert das Praktikum grundsätzlich recht negativ und Max verbindet mit seinen außerschulischen Erfahrungen Aktivität und eine positive Grundhaltung. Die Schüler*innen können das, was sie biografisch-historisch und leiblich reflexiv erfahren, zusätzlich bewusst und kognitiv-sprachlich reflexiv erkennen. Hier zeigen sich Jeismanns Überlegungen zur Verknüpfung der Zeitebenen anschlussfähig, vorausgesetzt die vorgeschlagenen Veränderungen werden berücksichtigt. Jede*r Teilnehmer*in kann elaboriert-historisch durch den deutenden Rückblick in die eigene Vergangenheit, die jeweilige Gegenwart und sich

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

331

selbst besser verstehen sowie eine Zukunftsperspektive erzeugen. Die Zukunft wird für jede*n Schüler*in dadurch eher erwartbar. Die Überlegung lässt sich auf elaboriert-historischer Ebene umstandslos für alle Teilnehmer*innen anbinden und auf die Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und denen Dritter beziehen. Hintergründe zur eigenen Lebensgeschichte lassen sich kontextualisieren und ergründen; jede*r Schüler*in kann erklären, warum und inwiefern der Praktikumskontext ihre/seine Deutungsmuster prägt. Einzelne Ereignisse sind verstehend und erklärend miteinander zu verbinden und in Bezug zu setzen, sodass dem/der Schüler*in verschiedene Sinnzusammenhänge bewusster werden. Es ist vorstellbar, dass die/der Schüler*in aufgrund dieser Analyse erfahrungsgesättigte und bewusst reflexive Aussagen über die eigene Arbeitszukunft trifft. Es entstehen neue erklärend-verstehende Geschichten. Verschiedene Aspekte der Vergangenheit lassen sich durch Erklären und Verstehen so miteinander und der eigenen Gegenwart verbinden, dass erweiterte Handlungsfähigkeit entsteht. Unterschiedliche Geschichten können zusätzlich zueinander in Bezug gesetzt und auf mögliche Schnittlinien untersucht werden. Die Schüler*innen können sich ihre Geschichten gegenseitig erklären und verstehend versuchen, Sinnzusammenhänge und Bedeutungs-zuweisungen nachzuvollziehen. So entstehen plurale Geschichten über Arbeitserfahrungen, über die sich austauschen lässt: Dialoge über biografische Erfahrungen werden möglich. Davon ausgehend lassen sich Bögen in andere Geschichten schlagen, um noch differenziertere Erkenntnisse für die eigene Zukunft zu gewinnen. Auf elaboriert-historischer Ebene lässt sich die eigene sedimentierte Lebensgeschichte durch das gedankliche Überschreiten der eigenen Lebenszeit mit historiografischen Geschichten verbinden. Jede*r Schüler*in kann alleine – oder alle Teilnehmer*innen können gemeinsam – neue Fragen stellen oder neue Überlegungen hervorbringen, von denen ausgehend sich neuer Sinn als Geschichte erzeugen lässt. Das beeinflusst biografisch-historisch, nicht-bewusst und leiblich reflexiv die sedimentierte Lebensgeschichte, was Anlass zur weiteren elaboriert-historischen und gezielten Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit oder der Vergangenheit Dritter werden kann. 4.3.4 Der Einfluss des Praktikumskontexts Es ist zu untersuchen, ob das Setting eines Praktikums (WfbM, strukturell der WfbM angegliederter Arbeitsplatz oder allgemeiner Arbeitsmarkt) die Sinnbildungsprozesse und Konstruktion eigener Erfahrungen beeinflusst. Die Bedeutungszuweisungen der Teilnehmer*innen werden dafür vor dem Hintergrund des Praktikumssettings analysiert. Sollte sich herausstellen, dass die Settings der Praktika die Deutungsmuster der betroffenen Schüler*innen beeinflussen, ließe

332

Wie aus Erfahrungen Sinn wird – Methodisches Vorgehen

sich das bei Planung, Durchführung und Reflexion von Arbeitsanlässen berücksichtigen. Um aus den Überlegungen der vorliegenden Forschungsarbeit Rückschlüsse auf mögliche Unterschiede in der Konstruktion der Erfahrungen ziehen zu können, werden bei jeder/jedem Schüler*in beispielhaft veränderte der Sinnzuweisungen vor und nach dem Praktikum betrachtet und interpretiert. Dafür lassen sich insbesondere die Konstruktpole betrachten, die vor und nach dem Praktikum mit einer Komponente zusammenhängen. Es gibt sehr viele komplexe Einflussfaktoren, welche auf Sinnbildungsprozesse und mögliche Veränderungen einwirken. Nachstehend wird allgemein auf das gesamte Praktikumssetting geachtet; einzelne Faktoren werden nicht weiter analysiert. Das könnte Ausgangspunkt weiterer Studien sein. Die Praktikumskontexte lassen sich nach drei verschiedenen Settings unterschieden. Die drei Schüler*innen, Lena, Paul und Philipp, absolvieren ihr Praktikum im Arbeitsbereich einer WfbM; zwei Schülerinnen, Maria und Annika arbeiten in einem Betrieb, der strukturell zu einer WfbM gehört und zwei Schüler*innen, Max und Lisa, arbeiten in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts. Lisa absolviert ihr Orientierungspraktikum in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts. Bei ihr sind recht deutliche Sinnveränderungen zu erkennen. So zeigt sie danach besonders große Motivation zum Arbeiten. Ihre Bereitschaft, sich anzustrengen und sorgfältig zu arbeiten, konnte sie wohl durch das Praktikum steigern. All diese Überlegungen lassen sich leistungsbezogen deuten; es ist anzunehmen, dass Lisa durch das Praktikum sehr leistungsorientierte Erfahrungen macht, die ihre Sinnzuweisungen entsprechend verändern. Das Praktikum ist für Lisa vermutlich grundsätzlich überaus positiv. Lena verbringt ihr Praktikum in einer WfbM. Bei ihr zeigen sich weniger stark ausgeprägte Veränderungen in ihren Sinnzuweisungen. Sie verbindet die Komponenten vor und nach dem Praktikum recht stabil mit ähnlichen Deutungsmustern. Dennoch lassen sich einige Veränderungen finden, die darauf hinweisen, dass sie negative Erfahrungen während ihres Praktikums macht. Sie verbindet Arbeitssituationen danach eher mit eigener Befindlichkeit und konstruiert ihr Praktikum deutlich negativer als den schulischen Arbeitskontext. Annika arbeitet während ihres Praktikums in einem Betrieb, der strukturell zu einer WfbM gehört. Ihre Äußerungen im zweiten Interview deuten darauf hin, dass ihre Sinnzuweisungen nach den Erfahrungen im Praktikum recht stabil bleiben. Sie zeigen leichte Veränderungen. Annika konstruiert Arbeitstätigkeiten nach dem Praktikum eher in Bezug auf ihren eigenen Einsatz, Einflussmöglichkeiten sowie die eigene Anstrengung(-sbereitschaft) und Möglichkeiten, sich zu entspannen. Annika konstruiert ihr Praktikum wohl eher negativ. Philipp absolviert sein Orientierungspraktikum in einer WfbM. Er zeigt nach dem Praktikum eine deutlich differenziertere Wahrnehmung von Arbeitskon-

Erhebung persönlicher Konstukte mit der Repertory Grid Methodik

333

texten. Seine Sinnzuweisungen sind insgesamt recht stabil. Grundsätzlich zeigt sich bei ihm ein größerer Leistungsbezug, wobei er Arbeitskontexte stärker auf eigene Befindlichkeiten hin konstruiert. Er bringt das Praktikum insgesamt eher mit negativen Emotionen und Überforderung in Verbindung. Maria verbringt ihr Praktikum in einem Betrieb, der strukturell zu einer WfbM gehört. Sie zeigt im zweiten Interview sehr deutliche Sinnveränderungen. Zwei Komponenten, die vor dem Praktikum jeweils nur mit einem Konstruktpol in Verbindung gebracht wurden, sind im zweiten Interview deutlich differenzierter. Maria konstruiert sie mit einem stärkeren Bezug auf eigene Befindlichkeiten und Erfolg. Die deutliche Veränderung lässt sich mit einem Fokus auf Leistungs in Verbindung bringen. Die anderen beiden Komponenten zeigen sich recht stabil. Insgesamt lässt sich vermuten, dass sie den Praktikumskontext recht positiv konstruiert. Paul absolviert sein Praktikum in einer WfbM. Seine Sinnzuweisungen zeigen sich recht stabil; allerdings lassen sich auch bei ihm kleinere Veränderungen erkennen, die darauf hinweisen, dass andere Personen einen wichtigen Einfluss besaßen. Seine Bedeutungszuweisungen sind nach dem Praktikum stärker negativ gerahmt als zuvor. So konstruert er den schulischen Arbeitskontext in Relation zum Praktikum positiver. Max arbeitet in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarkts. Er zeigt eine sehr deutliche Veränderung seiner Sinnkonstruktionen. So konstruiert er im zweiten Interview Aktivität mit positiven Gefühlen, was im ersten Interview noch mit Passivität verknüpft war. Passivität ist für ihn nun nicht mehr positiv, sondern negativ. Es zeigt sich, dass er Arbeitssituationen deutlich stärker im Hinblick auf Verantwortung und Anstrengung konstruiert – ein zunehmender Leistungsbezug. Pausensituationen werden für ihn positiver als zuvor. Es ist anzunehmen, dass Max sein Praktikum recht positiv konstruiert. Die Überlegungen deuten darauf hin, dass besonders Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu umfassenderen Sinnveränderungen führen. Die beiden Schüler*innen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet haben, zeigen stärkere Veränderungen ihrer Deutungsmuster als die Schüler*innen, die in einer WfbM oder einem Betrieb, der einer WfbM angegliedert ist, gearbeitet haben. Das führt zur Vermutung, dass die Unterschiede weniger davon abhängen, ob das Praktikum in einer WfbM stattfindet oder einem Betrieb, der strukturell dazugehört. Diesen Vermutungen könnten weitere Studien nachgehen. Das folgende Fazit bündelt alle grundlegenden Überlegungen der vorliegenden Arbeit resümierend; ebenfalls lassen sich Ausblicke auf weitere Forschungsdesiderata anstellen.

V

Fazit

5

Schlussfolgerungen und Ausblick

Zusammenfassend werden nun die Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeit dargestellt. Da die Überlegungen rein qualitativ zu betrachten sind, ist von Verallgemeinerungen abzusehen. Es wird zunächst resümiert, ob sich die Repertory Grid Methodik eignete, um persönliche Konstrukte als Ergebnisse von biografisch-historischen Sinnbildungsprozessen von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu erheben. Die gewählten Adaptionen des Interviewverfahrens aus Kapitel 3.5 werden außerdem auf den erfolgreichen Einsatz für die Schüler*innen mit geistiger Behinderung überprüft. Ebenfalls wird überlegt, ob die Interviewmethodik geeignete Hypothesen zu elaborierthistorischen Sinnbildungsprozessen erlaubte. Daran anschließend wird die Einsatzmöglichkeit der Repertory Grid Methodik am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt diskutiert. Abschließende Überlegungen zum Stellenwert und zur Bedeutsamkeit von Orientierungspraktika in dieser Übergangsphase werden angestellt. Ein zusammenfassendes Fazit zum weiteren Umgang mit Geschichtsbewusstsein in der geschichtsdidaktischen Theorie wird auf Grundlage der voranstehenden Überlegungen gezogen. Dabei werden vor allem die Chancen, die sich aus den Vorschlägen zur Veränderung und Erweiterung der geschichtsdidaktischen Theoriebildung ergeben, erörtert. Die Diskussion um eine weitere theoretische Neuorientierung ließe sich an anderer Stelle aufgreifen, um historisches Lernen aus seiner exklusiven Stellung hervorzuholen. Die Trennung in die zwei Bewusstseinsebenen – biografisch-historisch und elaboriert-historisch – wird abschließend begründet. Dabei ist das Potential, das sich für alle Schüler*innen aus der Differenzierung ergibt, zusammenfassend darzustellen. In den folgenden Ausführungen werden die Sinnbildungsprozesse der Forschungsteilnehmer*innen abschließend auf beiden historischen Bewusstseinsebenen eingeordnet. Resümierend wird reflektiert, inwiefern sich in ihren Äußerungen Hinweise auf historische Sinnbildungsprozesse finden ließen. Mit Blick auf

336

Fazit

Kapitel 4.3.3 lässt sich überlegen, ob von historischer Sinnbildung zu sprechen war und sie zu erweitertem historischen Bewusstsein gelangten.

5.1

Welche Chancen die Repertory Grid Methodik bietet…

In der vorliegenden Forschungsarbeit wurde gezeigt, dass es allen Schüler*innen gelang, ihre subjektiven Sinnkonstruktionen mithilfe der Repertory Grid Methodik, Kapitel 3.4, auszudrücken. Die entsprechenden Adaptionsmaßnahmen aus Kapitel 3.5 eigneten sich; sie wurden den individuellen Voraussetzungen aller Teilnehmer*innen gerecht. Da die Repertory Grid Methodik, wie dargestellt, darüber hinaus weitere Adaptionsmöglichkeiten bietet und vielseitig weiterentwickelt werden kann, ist sie für Menschen mit geistiger Behinderung, so die Hypothese, grundsätzlich gut einsetzbar. Es könnten weitere Studien folgen, die zu einer allgemeingültigen Aussage kommen. Auch lassen sich weitere Überlegungen anstellen, ob und inwiefern sie durch geeignete Anpassungen für Menschen, die keine Verbalsprache nutzen und/oder Komplexe Behinderungen haben, geeignet ist. Eine große Stärke der Methode lag in ihrer klaren Strukturiertheit, die sich differenziert an die Bedürfnisse der Teilnehmer*innen anpassen ließ. Nach dem Pretest wirkten alle Schüler*innen sehr kompetent; sie konnten die Methodik problemlos nutzen; der Pretest erwies sich als Übungsund Diagnostikphase für die vorab überlegten Adaptionen als sehr günstig. Es erscheint grundsätzlich empfehlenswert, den Umgang mit der Methodik zu üben und zu überprüfen. So lassen sich Rückschlüsse für weitere Anpassungsmaßnahmen ziehen. Die Methode ist vielfältig mit Visualisierungen unterstützbar, was sich für die Teilnehmer*innen dienlich erwies. Als Visualisierungen lagen ihnen Fotografien eigener Erfahrungen vor, um Erinnerungen an die jeweiligen Situationen auszulösen. Die Fotografien lassen sich als Quellen ihrer eigenen Lebensgeschichte deuten. Die Bilder boten die Möglichkeit, anschaulich Vergleiche der Situationen vorzunehmen. Die Komplexität des Interviews kann durch die Anzahl der Fotografien gesteigert oder reduziert werden. Die Befragungsarten lassen sich, abhängig von den Bedürfnissen der Teilnehmer*innen, verändern. So ist es möglich, fließend von der Dyaden-, auf die Triaden- oder die full-context-Befragung – oder in einer anderen Reihenfolge – zu wechseln. Es ist vorstellbar, die Methodik auch mit anderen Quellen der Lebensgeschichte zu unterstützen; es lassen sich (alternativ oder zusätzlich zu den Fotografien) bspw. Gegenstände als Elemente verwenden. Das ist von den Teilnehmenden, der jeweiligen Forschungsfrage und dem Erkenntnisinteresse abhängig zu machen. Deutlich wird, dass die Methodik sich gut eignet, um Quellen der

Schlussfolgerungen und Ausblick

337

Vergangenheit als Elemente einzubinden. Das verweist auf ihren Nutzen für Untersuchungen zu historischen Sinnbildungsprozessen. Die Rankingskala wurde mit Piktogrammen, die den Schüler*innen aus ihrem Unterricht vertraut waren, und Ganzwörtern unterstützt (Anhang, Kapitel 4). Die fünfstufige, lose Skala zeigte sich sinnvoll. Alle Teilnehmer*innen konnten sie differenziert nutzen. Auch erlaubt eine fünfstufige Skala recht vielschichtige inhaltliche Interpretationen. Ihre Komplexität kann, ebenfalls abhängig von den Lernvoraussetzungen oder der Tagesform der Teilnehmer*innen, spontan reduziert werden. Davon wurde in keinem Interview Gebrauch gemacht. Dennoch erscheint es sinnvoll, das Ranking so zu planen, um flexibel auf die Teilnehmenden und ihre Bedürfnisse reagieren zu können. Alle Schüler*innen waren in der Lage, präzise und vielfältige eigene Konstrukte zu äußern (Anhang, Kapitel 6 und 7). In Abhängigkeit von ihren Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen können die Konstrukte von dem/der Interviewer*in vorgelegt werden. Das mindert allerdings die inhaltliche Reichweite der Interpretation der Ergebnisse. Die Repertory Grid Methodik bot generell den Vorzug, persönliche Konstrukte direkt, ohne Umwege, zu erheben; die subjektiven Sinnzuweisungen mussten nicht erst aus den Äußerungen der Teilnehmer*innen interpretiert werden. Damit zeigte sich die Methode effizient; auch bietet sie gegenüber anderen Interviewverfahren den Vorteil, weniger auf die Interpretation des/der Auswertenden angewiesen zu sein. Das teilstrukturierte Vorgehen erlaubte außerdem, so lässt sich den Transkriptionen im Anhang (Kapitel 6) entnehmen, sehr individuell auf die Äußerungen der Schüler*innen einzugehen. Gleichwohl konnten die Daten so strukturiert werden, dass sich Äußerungen untereinander vergleichen ließen. Das könnte vor allem für Untersuchungen zu elaborierthistorischen Alteritätserfahrungen lohnenswert sein. Die Vergleichbarkeit lässt sich noch steigern, indem bspw. standardisierte Elemente und/oder persönliche Konstrukte Verwendung finden. Die Methode eignete sich, um nicht-bewusste, leiblich reflexive persönliche Konstrukte als Ergebnisse biografisch-historischer Sinnbildungsprozesse zu erheben. Sie erscheint ebenfalls als Ausgangspunkt für elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse geeignet. In der vorliegenden Arbeit wurden biografischhistorische Sinnbildungsprozesse in den Fokus gerückt; davon ausgehend lassen sich zusätzliche Hypothesen über eine mögliche elaboriert-historische Auseinandersetzung der Teilnehmer*innen ziehen. Die Repertory Grid Methodik fand in geschichtsdidaktischen empirischen Studien als teilstrukturiertes Interviewverfahren zweimal Verwendung.1225 Kellys Überlegungen zur Personal Construct Psychology aus Kapitel 3.4 impliziert die Verknüpfung der verschiedenen Zeit1225 Völkel (2007); Völkel (2013).

338

Fazit

ebenen. Persönliche Konstrukte werden durch den Vergleich verschiedener Erfahrungen, die sich von der Gegenwart in manchen Aspekten unterscheiden, in anderer Hinsicht ähneln, gebildet. Sie werden über eine Alteritätserfahrung konstruiert. Durch die Erfahrung von Differenz wird nicht-bewusst, leiblich reflexiv und unabhängig von kognitiver oder sprachlicher Verarbeitung Sinn erzeugt. Die Überlegung verweist auf anschlussfähige Annahmen von Kellys psychologischer und Völkels inklusiver geschichtsdidaktischen Theorie. Die Eignung der Methode, um historische Sinnbildungsprozesse zu erheben, erscheint begründet. Sie liefert Ergebnisse, die den klassischen Kriterien an qualitative Forschung, Objektvität, Reliabilität und Validität1226 entsprechen und könnte in weiteren empirischen Untersuchungen der Geschichtsdidaktik Verwendung finden. In der vorliegenden Forschungsarbeit wurden persönliche Konstrukte von Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die zu verbalsprachlichen Äußerungen in der Lage waren, erhoben. Aussagen über historische Sinnbildung von Schüler*innen, die sich nicht verbalsprachlich äußern können, standen nicht im Fokus. Die Hintergründe dazu wurden erörtert. Die historischen Sinnbildungsprozesse der Schüler*innenschaft, die ihre Deutungsmuster nicht verbalsprachlich in Interviews äußern kann, könnten an anderer Stelle zum Ausgangspunkt für weitere Studien werden. Dadurch ließen sich ihre Deutungsmuster in das Licht empirischer geschichtsdidaktischer Untersuchungen rücken. Hier zeigt sich die Trennung der beiden historischen Bewusstseinsebenen vorteilhaft und zielführend. Insbesondere die biografischhistorische Sinnbildungsebene könnte spannende und aufschlussreiche Erkenntnisse liefern. Es wurde ebenfalls gezeigt, dass alle Teilnehmer*innen ihre sehr vielfältigen Sinnbildungen durch die Forschungsmethodik differenziert ausdrücken konnten. Alle äußerten komplexe Sinnzusammenhänge zu den eigenen biografischen Erfahrungen. Es ist zu vermuten, dass das vielen anderen Schüler*innen mit geistiger Behinderung gelingt, was sich in weiteren Untersuchungen betrachten ließe. Die sehr komplexen Sinnzuweisungen der Teilnehmer*innen dieser Arbeit regen dazu an, den Begriff geistige Behinderung erneut zu überdenken. Er erscheint vor dem Hintergrund der differenzierten Wahrnehmung und Einordnung ihrer Erlebnisse weniger geeignet.

1226 Mayring (2016), 140ff.

Schlussfolgerungen und Ausblick

5.2

339

Wie der Übergang von der Schule in den Beruf gestaltet werden kann…

Je vielfältiger die Erfahrungen von Schüler*innen sind, desto differenzierteren Erfahrungs – und Handlungssinn erzeugen sie. Das erweitert ihre Handlungsfähigkeit und ihre Möglichkeit, sich mit der eigenen Zukunft auseinanderzusetzen; sie können orientierter leben. Die Schüler*innen erzeugten in der leiblich reflexiven und nicht-bewussten Auseinandersetzung mit Erlebnissen orientierte Zeit und komplementär dazu orientierten Raum. Das erlaubte es ihnen, störungsfrei, kompetent und ohne Irritationen zu handeln. So eröffnet sich ihnen ein erfahrungsgesättigter Zukunftshorizont; jede*r Schüler*in konnte, so lässt sich belegen, leiblich reflexiv subjektiven Sinn konstruieren. Durch diese biografisch-historischen Sinnbildungsprozesse können sie, so die Vermutung, erfahrungsgesättigte Entscheidungen für die eigene Zukunft treffen. Den Schüler*innen können sich selbstbewussterer und selbstbestimmterer der Übergangsphase von der Schulphase in die Arbeitswelt zuwenden. Durch die elaboriert-historische Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen kann es jedem/jeder Teilnehmer*in gelingen, sich selbst, die eigene Historizität sowie die Historizität ihrer Umgebung besser zur verstehen und zu erklären. Sie gelangen dadurch zu einer erweiterten Handlungskompetenz. Ihnen gelingt die Orientierung in der Zeit und im Raum. Ein Austausch über die eigene Lebensgeschichte, subjektiv bedeutsame Erfahrungen und persönliche Sinnzuweisungen ist so möglich. Der Dialog lässt sich in verstehenden und erklärenden Geschichten umsetzen. Die Lernenden können sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten, Hintergründe oder Wertvorstellungen erklären. Das bietet zum einen die Chance zu einem offenen Austausch über plurale Geschichten und gegenseitigem Verständnis. Ein Blick das Universum des Historischen, der sich in elaboriert-historischer Auseinandersetzung mit Aspekten der eigenen Lebensgeschichte verknüpfen lässt und somit weitere sinnvolle Erklärungsansätze zulässt, kann zusätzlich bereichern. Die subjektiven Sinnzuweisungen werden durch die weitere Beschäftigung mit ausgewählten Aspekten vielseitiger und differenzierter. Zum anderen können die Schüler*innen die eigene Lebensgeschichte, Bedeutsamkeiten oder subjektiven Urteile bei Entscheidungsprozessen, die ihre eigene Zukunft betreffen, erklären. Die Personen, welche die Lernenden am Übergang dieser Lebensphase begleiten, haben so die Möglichkeit zu einem vertiefteren Verständnis; das kann für die Lebensplanung entscheidend sein. Lena äußerte beim Abschlussgespräch: »Frau Rein, können Sie in meinen Kopf gucken?« Dieser Frage lässt sich entnehmen, dass sie sich verstanden fühlte: es gibt jemanden, der ihre Sinnzuweisungen nachvollziehen kann. Wird den Schüler*innen mit dem Ziel begegnet, ihre Lebensgeschichte, ihre Erklärungshintergründe und sie selbst nachvollziehen zu wollen, eröffnet das Räume zur gegenseitigen Verständigung. Die Schüler*innen fühlen sich wahrgenommen, da

340

Fazit

sie und ihre Sichtweisen wertgeschätzt werden. Vor dem Hintergrund erscheint der Einsatz der Repertory Grid Methodik im wissenschaftlichen und schulischen Kontext möglich; sie steht mit ethischen Überlegungen der vorliegenden Arbeit im Einklang. Der Übergang von der Schule in die Berufswelt ist systematisch an den Bedürfnissen der Schüler*innen und ihnen selbst auszurichten. Biografisch-historische und elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse bieten vielseitige Möglichkeiten zur erfahrungsgesättigten Zukunftsplanung. So lassen sich historische Sinnbildungsprozesse für alle Schüler*innen ermöglichen. Handeln und Denken/ Sprechen wären, wie gezeigt, als komplementär zueinander und gleichwertig zu betrachten. Das Praktikum bot jeder/jedem Schüler*in vielseitige Möglichkeiten, neue Erfahrungen zu sammeln, die sie biografisch-historisch zu Sinn verarbeiteten. Jeder/jede von ihnen kann einzelne Aspekte analytisch herausgreifen und zusätzlich Sinn in einer elaboriert-historischen Auseinandersetzung erzeugen. Alle Forschungsteilnehmer*innen sind zu Recht als Expert*innen für ihr eigenes Leben anzusehen. Daher sollten sie Verantwortung im Rahmen verschiedener Entscheidungsprozesse, so auch am Übergang von der Schule in die Berufswelt, tragen. Der gesamte Prozess ist an den Bedürfnissen und persönlichen Sichtweisen der Schüler*innen auszurichten. Sie und ihre subjektiven Bedeutsamkeiten sind in das Zentrum aller Überlegungen zu stellen. Nur so lassen sich Entscheidungen treffen, die zu ihrer persönlichen Zufriedenheit und ihrem persönlichen Glück beitragen. Durch die Repertory Grid Methodik können die Schüler*innen selbst und ihre subjektiven Sinnzuweisungen in den Mittelpunkt von Entscheidungsprozessen gerückt werden. Persönliche Konstrukte der Lernenden lassen sich im Rahmen der schulischen Begleitung der Persönlichen Zukunftsplanung erheben und können eingehende Erkenntnisse über ihre subjektiven Bedeutsamkeiten und persönliche Zukunftsvorstellungen oder -erwartungen zu. Der Einsatz der Repertory Grid Methodik erscheint für Lehrkräfte angemessen und umsetzbar; vielleicht ließe sich daran orientierend ein Verfahren entwickeln, das im schulischen Kontext Anwendung fände. In einem Prozess von Erklären und Verstehen lassen sich Entscheidungen für die persönliche Zukunft der Schüler*innen treffen. Davon ausgehend sind elaborierthistorische Sinnbildungsprozesse möglich, für welche die persönliche Sinnkonstruktion und unterschiedlichen Erfahrungen aus dem Erlebnisfluss herausgegriffen und isoliert betrachtet werden. Dadurch, so die Vermutung, können sich die Schüler*innen selbst besser verstehen; sie können Motive für Handeln, Gefühle, Ziele und Wünsche besser einschätzen, was zu erweiterter Orientierungsfähigkeit und Handlungskompetenz führt. So lässt sich biografische Kompetenz auf elaboriert-historischer Ebene verfolgen. Die Repertory Grid Methodik erscheint grundsätzlich nicht nur für wissenschaftliche Forschungs-

Schlussfolgerungen und Ausblick

341

anliegen, sondern auch für ihren Einsatz im Rahmen schulischer Zukunftsplanung, geeignet. Den Ergebnissen aus Kapitel 4.3.3 ließ sich entnehmen, dass die Praktika bei allen Teilnehmer*innen erheblichen Einfluss auf die Sinnkonstruktion von Arbeitsprozessen und -zukunft besaßen. Alle Schüler*innen, so die begründete These, wurden durch die neuen Erfahrungen handlungsfähiger; ein differenzierterer Zukunftshorizont eröffnete sich durch ihr Erleben. Sie können nun bspw. selbstbewusster und selbstbestimmter Entscheidungen drüber treffen, welche Arbeitskontexte sie eher favorisieren oder ablehnen. Alle Teilnehmer*innen gelangten durch ihr Praktikum zu differenzierteren und vielfältigeren Sinnzuweisungen, was sich an der Veränderung der Konstrukte nach der außerschulischen Arbeitserfahrung, wie in Kapitel 4.3.1 angeführt, zeigte. Das Praktikum trug dazu bei, dass sie vergangene Kontexte anders oder neu mit Sinn versahen. Sie konnten durch ihre Erfahrungen biografisch-historische Sinnkonstruktionen und einen erfahrungsgesättigten Zukunftshorizont entwickeln. Beim Praktikum handelte es sich, wie der Name schon sagt, um ein Orientierungspraktikum. Es half den Schüler*innen, sich auf unbekanntem Terrain zurechtzufinden. Die Schüler*innen konnten sich eine place identity aufbauen und die eigene Handlungsfähigkeit erweitern. Sie lernten sich selbst, eigene Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen leiblich reflexiv während des Praktikums besser kennen. Es lässt sich annehmen, dass das Praktikum einen entscheidenden Beitrag dazu leistete, dass sie ihre eigene Zukunft eher selbst gestalten und bestimmen könnten (wenn sie die Möglichkeit dazu haben). Das ist für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ein Aspekt, der nicht stark genug gewichtet werden kann; waren sie doch, wie in Kapitel 1.2 diskutiert, jahrzehntelang mit dem Vorurteil konfrontiert, nicht selbst in der Lage zu sein, Entscheidungen zu treffen und ihre eigene Zukunft selbstbestimmt zu gestalten. Diese Haltungen und Vorurteile wirken sich wohl noch immer auf die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung dieser Personengruppe aus. Um die Schüler*innen konsequent dabei unterstützen, sollten ihre Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen im Rahmen der Vorbereitung auf die persönliche Arbeitszukunft aufgegriffen und Ausgangspunkt für Entscheidungsprozesse sein. Die in Kapitel 4.3.4 aufgezeigten Hinweise auf einen Einfluss des Praktikumskontextes auf die Sinnkonstruktion ließen sich in weiterführenden Untersuchungen aufgreifen und näher erforschen. Dadurch lässt sich der Übergangsprozess von der Schule hin zur Arbeitswelt von den Schüler*innen aus denken und gestalten. In weiteren Studien könnten biografisch-historische Erfahrungen von Schüler*innen ins Zentrum gerückt werden, um allgemeingültige Erkenntnisse über den Einfluss auf Sinnbildungsprozesse und ihre zukünftigen Vorstellungen von ihrer Arbeitszukunft zu erhalten. Dabei lassen sich die Hypothesen der vorlie-

342

Fazit

genden Forschungsarbeit überprüfen, um generelle Rückschlüsse zur Gestaltung von Praktika und der deren Reflexion zu ziehen. Ziel sollte immer sein, die Selbst- und Mitbestimmung der Schüler*innen zu fokussieren. Biografiearbeit und Persönliche Zukunftsplanung hängen, wie gezeigt, mit historischen Sinnbildungsprozessen der Schüler*innen zusammen. Um dem Gedanken folgen zu können, muss sich die geschichtsdidaktische Theoriebildung allerdings grundlegend verändern.

5.3

Wie sich die Geschichtsdidaktik verändern kann…

Wie Kapitel 2.1 darstellt, diskutiert die geschichtsdidaktische Theoriebildung Geschichtsbewusstsein konsensual als Ziel historischen Lernens. Das erscheint vor dem Hintergrund einer inklusiven Theorie aus mehreren Gründen problematisch. Die Zusammenfassung resümiert die Grenzen von Geschichtsbewusstsein abschließend. Zum einen birgt die Ausrichtung von Geschichtsbewusstsein mit den Zielen von kultureller Kohärenz, kultureller Identität und kultureller Orientierung schwerwiegende Gefahren für das Zusammenleben einer pluralen und heterogenen Gesellschaft. Folgt man den Überlegungen aus Kapitel 2.1.8.1, dass Kultur und Nation als Komplementärbegriffe verwendet werden, zeigen sich die Schwierigkeiten. Geschichtsbewusstsein verfolgt nationale Orientierung, nationale Identität und nationale Kohärenz. Als Nation begreifen sich, wie dargestellt, ausschließlich die Menschen eines Staatsvolks, welche die eigene Erzählung mit der linearen Geschichte der dominanten Geschichtskultur verknüpfen können. Sie finden sich in der einen Geschichte der Nation wieder. Diese Geschichte als lineare Meistererzählung erscheint unberührt von äußeren Einflüssen, anderen Kulturen, anderen Geschichten und anderen Gruppen. Die Nation als Ethnie bildet eine Gemeinschaft, die sich als ›wir‹ konstruiert. Dem gegenüber stehen ›die Anderen‹, die sich historisch nicht in der Dominanzkultur verorten können. Ihre Geschichten werden nicht erzählt, sie selbst ausgegrenzt und marginalisiert. Exklusion, Diskriminierung, Ethnozentrismus, Xenophobie und Rassismus sind die Folgen. Geschichtsbewusstsein erlaubt es nicht, die Pluralität und Heterogenität von (Einwanderungs-)Gesellschaften abzubilden, wenn es sich auf nationale Meistererzählungen der Dominanzkultur bezieht. Es erscheint unmöglich, Ambiguitätstoleranz zu entwickeln. Die Gefahren der aktuellen Konzepte sind offensichtlich. Zudem ist der Subjektbegriff der geschichtsdidaktischen Theoriebildung zu hinterfragen. Die denkenden Schüler*innen gelten als Träger*innen von Geschichtsbewusstsein als Objekte; dem Geschichtsbewusstsein selbst lässt sich Subjektcharakter zuschreiben. Geschichtsbewusstsein und die Ziele nationaler

Schlussfolgerungen und Ausblick

343

Kohärenz, Identität und Orientierung, stehen im Mittelpunkt. Der Status der Schüler*innen, die Geschichte nicht derart denken und erzählen können, wie es die Didaktik vorsieht, wird prekär. Sie kommen in der Theorie nicht vor und haben dort keinen Platz. Geschichtsbewusstsein orientiert sich am cartesianischen Menschenbild, ist untrennbar mit rationaler Vernunft, Sprache und Kognition verbunden. Es ist dringend zu fragen, ob die Analogie zwischen Geschichtswissenschaft und -didaktik, wie Kapitel 2.1.8 diskutiert, so problemfrei möglich ist und sich an realen Sinnbildungsprozessen (aller Schüler*innen, insbesondere aber denen, mit Anspruch auf sonderpädagogische Unterstützung) orientiert. Völkel kritisiert, Rüsens theoretische Grundlagen hätten nicht die Realität der Schüler*innen im Blick.1227 Der Gedanke wäre weiter zu verfolgen. Außerdem ist die Annahme aus Kapitel 2.1, historische Sinnbildungsprozesse werden erst spezifisch historisch, wenn die Lernenden ihre eigene Lebenszeit gedanklich überschreiten, zu kritisieren. Sie erscheint aufgrund der Überlegungen zum biografisch-historischen und elaboriert-historischen Bewusstsein aus Kapitel 2.4 weder triftig, nötig noch zielführend. Die Einschränkung führt dazu, dass historisches Lernen biografische Sinnbildungsprozesse ausklammert, obwohl ihnen, strukturelle Ähnlichkeit mit elaboriert-historischer Sinnbildung zu attestieren ist. Schüler*innen, welche ihre eigene Lebenszeit nicht gedanklich überschreiten können, werden so grundsätzlich von möglichen historischen Sinnbildungsangeboten aus-geschlossen. Geschichtsbewusstsein geht auch hier an inklusiven Ansprüchen vorbei. Die Geschichtsdidaktik legt Orientierungs- und Handlungsfähigkeit eine historische Narration zugrunde; sie gilt als Basis und Ausdruck historischer Lernprozesse. Damit übersieht sie das Potential biografisch-historischer Sinnbildungsprozesse. Menschen bilden historischen Sinn, ohne ihn vorher zu narrativieren. Ob verbalsprachliche historische Narration überhaupt ein geeignetes Ziel beim historischen Lernen sein kann und soll, wäre an anderer Stelle vertiefend weiter zu diskutieren. Die vorliegende Arbeit schlägt vor, die historische Narration durch Erklären und Verstehen zu ersetzen. Völkels Überlegungen zu erklärenden Geschichten ließen sich in den Fokus rücken. Um von einer historische Narration und andere geschichtsdidaktischen Denkfiguren, so die ›Verknüpfung der Zeitebenen‹, ›Sinnbildung über Zeiterfahrung‹, ›Wahrnehmung, Deutung Orientierung und Motivation‹, ›Alteritätserfahrungen‹ sprechen zu können, benötigen Schüler*innen komplexe Fähigkeiten, die sich in Anlehnung an Ricoeurs Überlegungen in Kapitel 2.1.8.2 erweitern lassen: Sprechen-Können, Sich-Erinnern-Können, Für-sein-HandelnEinstehen-Können, Handeln-Können, Erzählen-Können, Wahrnehmen-Können, Deuten-Können, Kontextualisieren-Können, Analysieren-Können, Urtei1227 Völkel (2017a), 107.

344

Fazit

len-Können, Begründen-Können, Fragen-Können oder Fragen-Verstehen-Können, Erschließen-Können, Interpretieren-Können, Reflektieren-Können und die-eigene-Lebenswelt-gedanklich-verlassen-Können. Zudem müssen die Schüler*innen die einzelnen ohnehin bereits vielschichtigen Fähigkeiten miteinander verschränken. Dazu sind nicht alle in der Lage. Historisches Lernen wird zu einer exklusiven Angelegenheit. Wird an den gegenwärtigen Denkfiguren festgehalten, ist ein inklusives geschichtsdidaktisches Modell, das historische Sinnbildungsprozesse aller Schüler*innen abbildet, unmöglich. Die vorliegende Arbeit belegt aber, dass die Teilnehmer*innen auch ohne historische Narration handeln und orientierter leben können; nämlich durch leiblich reflexive, nicht-bewusste biografisch-historische Sinnbildung. Die geschichtsdidaktische Theorie muss sich erweitern. Geschichtsbewusstsein lässt die Aspekte, die sich auf nicht-bewusste und leiblich reflexive Sinnbildungsprozesse beziehen, vermissen. Es klammert sämtliche Aspekte zur Entstehung zum Zeitbewusstsein aus. Genau hier verbirgt sich aber ein inklusiver Zugang. Würde Zeitbewusstsein in der Didaktik verortet, könnte, so Völkels Vorschlag folgend, dem Denken und der Sprache, das Handeln komplementär an die Seite gestellt werden. Das schafft Raum für eine inklusive Geschichtsdidaktik. In einer inklusiven Konzeption ist das Individuum Zentrum historischer Sinnbildungsprozesse. Historisches Lernen auf biografisch-historischer Ebene wird an seinem Handeln und seinen Erfahrungen ausgerichtet; auf elaborierthistorischer Ebene sind historisch-biografische Erfahrungen aufzugreifen. Diese lassen sich aus dem eigenen Erlebnisfluss der Lebensgeschichte herausgreifen und gezielt betrachten. Die eigene Lebenszeit muss dazu nicht gedanklich überschritten werden. Durch bewusstes und kognitiv-sprachliches Erklären und Verstehen, entsteht ein weiterer historischer Sinnbildungsprozess, der ebenfalls biografisch gerahmt ist. Ziel ist nicht mehr die kulturelle Orientierung, sondern die individuelle Orientierung in sozialen und kulturellen Kontexten als biografische Kohärenz. Das ermöglicht plurale, erklärende Geschichten, die sich im Austausch verstehen lassen. Ausgehend von eigenen biografischen Erfahrungen, die gezielt in den Fokus elaboriert-historischer Sinnbildungsprozesse gerückt werden, lassen sich Bögen in die Geschichtsschreibung schlagen. Das bereichert die eigene Lebenswelt. Durch die Beschäftigung mit eigenen Erfahrungen und Inhalten aus dem Universum des Historischen werden elaboriert-historische Sinnbildungsprozesse im Horizont des eigenen Lebens verortet; in erklärenden und verstehenden Geschichten ließe sich Sinn erzeugen, der sich auf die eigene, individuelle Zukunft bezieht. Ein Zukunftshorizont eröffnet sich. Eine inklusive Theoriebildung muss einerseits die kulturelle Orientierung aufgeben. Institutionell könnten Denkmuster gefördert werden, die Pluralität und Heterogenität als erstrebenswert erkennen. Der Austausch über unter-

Schlussfolgerungen und Ausblick

345

schiedliche Perspektiven sowie Werturteile und das Verfolgen von Ambiguitätstoleranz sind den Tendenzen von Aus- und Abgrenzung vorzuziehen. Dann könnte historisches Lernen Barrieren und Exklusionsmechanismen minimieren und zu einem gelingenden Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft beitragen. Andererseits muss sich die Theorie so erweitern, dass sie alle historischen Sinnbildungsprozesse einschließt; die Orientierung an rein rationaler Vernunft, Sprache und Kognition erscheint dafür nicht zielführend. In historischen Lernprozessen lassen sich biografisch-historisches und elaboriert-historisches Bewusstsein fördern. Biografisch-historisches Bewusstsein bezieht sich auf nicht-bewusste, nichtsprachliche und nichtkognitive Sinnbildungsprozesse. Handeln und die Erweiterung von Handlungsfähigkeit sowie ein orientierteres Leben durch Erfahrungsvielfalt stehen im Vordergrund. Elaboriert-historisches Bewusstsein hingegen basiert auf der bewussten und kognitiv-sprachlich orientierten Auseinandersetzung mit Erfahrungen. Auch der elaboriert-historische Sinnbildungsprozess ist vor dem Hintergrund leiblicher Reflexivität zu verstehen. Es handelt sich nicht um einen rein rationalen und kognitivistischen Reflexionsprozess. In der elaboriert-historischen Auseinandersetzung werden biografische Erfahrungen analytisch aus dem Erlebnisfluss, Aspekte des historischen Universums aus dem Ereignisfluss getrennt und gezielt betrachtet. Einzelne Momente werden zueinander in Bezug gesetzt und mit Bedeutung versehen. Das führt zu einer anderen Qualität von Orientierungs- und Handlungsfähigkeit. Beide Ebenen zeigen eine vergleichbare Struktur, sie verfügen über zentrale historische Begriffe, wie Erfahrung, Sinn, Reflexivität, Alterität, Orientierung und Geschichte. Alle sechs Aspekte lassen sich auf beiden Dimensionen theoretisch ableiten und als spezifisch historisch deuten. Biografisch-historisches und elaboriert-historisches Bewusstsein sind als komplementär und strukturähnlich zu verstehen. Die Trennung historischer Sinnbildungsprozesse in die vorgeschlagenen Ebenen erscheint für alle Schüler*innen geeignet und relevant, so die These. Biografisch-historische Lernprozesse können für alle Lernenden zum einen unabhängig von ihrer kognitiv-sprachlichen und bewussten Auseinandersetzung, rein erfahrungsorientiert, stattfinden. Zum anderen ermöglichen elaboriert-historische Lernprozesse den Bezug zu biografischen Erfahrungen und der eigenen Lebenswelt und Zukunft. Historisches Lernen wäre auf beiden Ebenen sinnvoll und relevant für die eigene Lebensgeschichte.

346 5.4

Fazit

Wie die Forschungsteilnehmer*innen historisch Sinn bilden…

Die Ähnlichkeiten und Unterschiede beider Bewusstseinsebenen konnten theoretisch begründet und mit den Ergebnissen der Interviews verbunden werden. Dadurch ließen sich Rückschlüsse ziehen, inwiefern bei den Schüler*innen von biografisch-historischem bzw. elaboriert-historischem Lernen zu sprechen war. Durch die vielfältigen biografischen Arbeitserfahrungen entwickelt jede*r Schüler*in leiblich reflexiv und nicht-bewusst Sinn. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die Sinnbildungsprozesse von jedem/jeder Schüler*in als biografischhistorisch deuten lassen. Ihre biografischen Erfahrungen tragen zu Sinnbildung und -veränderung bei, was als Entwicklung biografisch-historischen Bewusstseins zu diskutieren ist. Sie konstruieren im wahrnehmenden Erleben orientierte Zeit, orientierten Raum und versetzen sich in die Lage, kompetent und ohne Störungen zu handeln. Jede*r Schüler gelangt zu differenzierterem Erfahrungsund Handlungssinn und weist den einzelnen Erfahrungen sehr komplex Sinn zu; sie/er kann vor dem Hintergrund der neuen Erfahrungen orientierter leben und handeln. Durch Alteritätserfahrungen als Differenzerfahrungen, die mit Bedeutung versehen werden, erzeugt jede*r Schüler*in seine/ihre reichhaltigere Lebensgeschichte und einen erfahrungsgesättigten Zukunftshorizont. Das biografisch-historische Bewusstsein wird erweitert. Dieser Gedanke erweist sich für alle Schüler*innen (bspw. auch mit Komplexer Behinderung) geeignet. Die Trennung der beiden historischen Bewusstseinsebenen ermöglicht eine inklusive geschichtsdidaktische Konzeption. Sie beinhaltet keine Exklusionsmechanismen, die bestimmte Fähigkeiten voraussetzen, und erlaubt allen Schüler*innen historische Sinnbildung im Erleben und Handeln. Jede*r Forschungsteilnehmer*in ist, so die These, zu elaboriert-historischer Sinnbildung in der Lage. Ausgehend von den eigenen biografischen Erfahrungen kann sich jede*r Schüler*in gezielt mit ihren/seinen eigenen Erfahrungen beschäftigen und – zusätzlich zum leiblich reflexiven, nicht-bewussten Sinn – durch einen bewussten und kognitiv-sprachlichen Reflexionsprozess Sinn erzeugen. Dabei werden Alteritätserfahrungen wahrgenommen und mit verstehenden und erklärenden Geschichten mit Bedeutung versehen. Die eigene Lebensgeschichte und der Zugang zur Welt verändern sich dadurch. Jede*r Schüler*in gelangt in der Auseinandersetzung mit Zeitdifferenzerfahrungen, so die Annahme, zu einer erweiterten Qualität von Handlungsfähigkeit und Orientierung. Durch die zusätzliche elaboriert-historische Beschäftigung mit Erfahrungen entwickelt jede*r elaboriert-historisches Bewusstsein und biografische Kohärenz (weiter).

Schlussfolgerungen und Ausblick

5.5

347

Was war und was werden könnte…

Die vorangegangenen Analysen zeigen, dass biografisch-historisches und elaboriert-historisches Bewusstsein strukturell vergleichbar sind. Ausgehend von den sieben Forschungsteilnehmer*innen lässt sich begründet vermuten, dass alle Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Lage sind, im Rahmen biografisch-historischer Erlebensanlässe historisch Sinn zu bilden. Jede*r Teilnehmer*in, so ließ sich erkennen, konnte nicht-bewusst, leiblich reflexiv biografisch-historisch Sinn bilden, was unabhängig von einer kognitiv-sprachlichen Auseinandersetzung stattfand. Dieser erfahrungsbasierte Ansatz ließe sich für alle Schüler*innen verfolgen. Ebenso verwiesen die Ergebnisse darauf, dass jede*r Teilnehmer*in zu einem (darauf aufbauenden) bewussten, kognitiv-sprachlich reflexiven elaboriert-historischen Sinnbildungsprozess in der Lage ist. Es ist anzunehmen, dass viele Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung die elaboriert-historische Ebene nutzen können. Den Vermutungen ist in weiteren Untersuchungen nachzugehen, um umfassende und allgemeingültige Aussagen zu treffen. Das könnte die weitere geschichtsdidaktische Theorie beeinflussen; entsprechende Lernanlässe ließen sich gestalten. Die aufgeführten Denkfiguren zeigen sich auf elaborierthistorischer Ebene in ihrer Essenz anschlussfähig, wenn sie den vorgeschlagenen Veränderungen und Erweiterungen folgen. Wie genau sie sich elaboriert-historischer Bewusstseinsebene einbinden lassen, wäre weiter auszudifferenzieren. Beide Bewusstseinsdimensionen tragen zu einer kohärenten Lebensgeschichte und selbstbestimmten Gestaltung der eigenen Zukunft bei, so die begründete These. Die Ergebnisse und Hypothesen der vorliegenden Studie verweisen darauf, dass einige Aspekte der geschichtsdidaktischer Theorie dringend weiter hinterfragt werden müssen. Die Trennung historischer Sinnbildungsprozesse als biografisch-historisches und elaboriert-historisches Bewusstsein bietet die Chance, alle Schüler*innen in die Theorie aufzunehmen. Die Notwendigkeit, wirklich jedem/jeder Schüler*in gezielte historische Lernangebote zu ermöglichen, erscheint umso dringlicher, denn niemand – auch nicht Menschen mit geistiger Behinderung – führt ein geschichtsloses Leben.

VI

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30:

Elemente und persönliche Konstrukte – Lisa | Interview 1 Biplot – Lisa | Interview 1 Dendogramm – Lisa | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Lisa | Interview 2 Biplot – Lisa | Interview 2 Dendogramm – Lisa | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Lena | Interview 1 Biplot – Lena | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Lena | Interview 2 Biplot – Lena | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Annika | Interview 1 Biplot – Annika | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Annika | Interview 2 Biplot – Annika | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Philipp | Interview 1 Biplot – Philipp | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Philipp | Interview 2 Biplot – Philipp | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Maria | Interview 1 Biplot – Maria | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Maria | Interview 2 Biplot – Maria | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Paul | Interview 1 Biplot – Paul | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Paul | Interview 2 Biplot – Paul | Interview 2 Elemente und persönliche Konstrukte – Max | Interview 1 Biplot – Max | Interview 1 Elemente und persönliche Konstrukte – Max | Interview 2 Biplot – Max | Interview 2

198 200 204 207 209 213 221 222 227 228 237 238 242 243 252 253 257 258 265 267 270 271 278 279 283 284 290 291 295 296

VII

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