Historische Mitteilungen 32: Demokratiestiftung nach dem Großen Krieg. Verfassungsgebung in Deutschen Klein- und Mittelstaaten zwischen Revolution und Weimarer Republik / Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870), Teil 3: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Auswirkungen auf Norddeutschland 3515132953, 9783515132954

Der erste Schwerpunkt der Historischen Mitteilungen befasst sich mit der Rolle der Regionen und Länder im Rahmen des Ver

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Inhaltsverzeichnis
Schwerpunkt I: Demokratiestiftung nach dem großen Krieg. Verfassungsgebung in deutschen Klein- und Mittelstaaten zwischen Revolution und Weimarer Republik
(Michael Kißener / Ulrich Lappenküper) Zur Einführung
(Peter Steinbach) Konflikt und Integration. Verfassungen und Wahlrecht in der Frühgeschichte des Konstitutionalismus
(Michael Kißener) Konstitutionelle „Musterländer“. Baden und Württemberg
(Ferdinand Kramer) Die Genese der bayerischen Verfassung von 1919 als Demokratiegeschichte
(Ulrich Lappenküper) Ein Verfassungsstaat „nicht wie alle anderen“. Hamburg
(Walter Mühlhausen) Vom liberalen Großherzogtum zum demokratischen Freistaat. Die Verfassung des Volksstaates Hessen 1919
(Martin Buchsteiner) „Old-Meklenborg for ever“? Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz
(Joachim Kuropka †) In oldenburgischer Liberalität. Zu Revolutionen und Verfassungen in Großherzogtum und Freistaat Oldenburg
(Ulf Morgenstern) In schlechter Verfassung? Der Freistaat Sachsen als demokratischer Verfassungsstaat in der Weimarer Republik
(Stefan Gerber) Chancen und Grenzen verfassungspolitischer Integration. Thüringen
Schwerpunkt II: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870). Teil III: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Auswirkungen auf Norddeutschland
(Wolf D Gruner) Einleitung
(Detlef Rogosch) „Wie Bismarck über Hamburg siegte". Die Hansestädte und der Norddeutsche Bund
(Frank Möller) Die Debatte zur Gründung und Verfassung des Norddeutschen Bundes
(Reimer Hansen) Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund. Eine historische Episode von langfristiger Bedeutung in übergreifender Perspektive
(Kersten Krüger) Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage
(Albrecht Eckhardt) Oldenburg im Norddeutschen Bund
(René Wiese) Mecklenburgs Weg in Preußens Bund 1840–1867
(Manfred Jatzlauk †) Militärstrategische Konzepte und politische Ansichten. Helmuth von Moltkes in der Reichseinigungszeit
Aufsätze
(Stefan Dixius) Deutschsprachige Missionszeitschriften im 19 Jahrhundert. Entstehung, Verbreitung und Quellenwert
(Kurt Gritsch) Gekommen, um sich zu vernetzen. Südtirols Zeitgeschichte als Migrationsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der migrantischen Netzwerke von 1945 bis heute
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Historische Mitteilungen Band 32 · 2020–2021 Franz Steiner Verlag

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von jürgen elvert matthias asche birgit aschmann markus a. denzel jan kusber sönke neitzel joachim scholtyseck thomas stamm-kuhlmann

Historische Mitteilungen Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. Herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Elvert ( federführend), Prof. Dr. Matthias Asche, Prof. Dr. Birgit Aschmann, Prof. Dr. Markus A. Denzel, Prof. Dr. Jan Kusber, Prof. Dr. Sönke Neitzel, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck und Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Winfried Baumgart, Prof. Dr. Michael Kißener, Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl, Prof. Dr. Christoph Marx, Prof. Dr. Jutta Nowosadtko, Prof. Dr. Johannes Paulmann, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Prof. Dr. Wolfgang Schmale, Prof. Dr. Reinhard Zöllner Redaktion Prof. Dr. Jürgen Elvert, Universität zu Köln, Historisches Institut, Gronewaldstr. 2, D – 50931 Köln, E-Mail: [email protected] https://www.steiner-verlag.de/brand/Historische-Mitteilungen Band 32

Historische Mitteilungen Band 32 (2020–2021) Schwerpunkt I Demokratiestiftung nach dem Großen Krieg. Verfassungsgebung in Deutschen Klein- und Mittelstaaten zwischen Revolution und Weimarer Republik Gastherausgeber Michael Kißener und Ulrich Lappenküper Schwerpunkt II Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870), Teil 3: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Auswirkungen auf Norddeutschland Gastherausgeber Wolf D. Gruner

Franz Steiner Verlag

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Inhaltsverzeichnis Schwerpunkt I: Demokratiestiftung nach dem großen Krieg. Verfassungsgebung in deutschen Klein- und Mittelstaaten zwischen Revolution und Weimarer Republik Michael Ki ß ener / Ulrich Lappenküper Zur Einführung

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Peter Steinbach Konflikt und Integration Verfassungen und Wahlrecht in der Frühgeschichte des Konstitutionalismus

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Michael Ki ß ener Konstitutionelle „Musterländer“ Baden und Württemberg

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Ferdinand Kramer Die Genese der bayerischen Verfassung von 1919 als Demokratiegeschichte

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Ulrich Lappenküper Ein Verfassungsstaat „nicht wie alle anderen“ Hamburg

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Walter Mühlhausen Vom liberalen Großherzogtum zum demokratischen Freistaat Die Verfassung des Volksstaates Hessen 1919

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Martin Buchsteiner „Old-Meklenborg for ever“? Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz

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Inhaltsverzeichnis

Joachim Kuropka † In oldenburgischer Liberalität Zu Revolutionen und Verfassungen in Großherzogtum und Freistaat Oldenburg

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Ulf Morgenstern In schlechter Verfassung? Der Freistaat Sachsen als demokratischer Verfassungsstaat in der Weimarer Republik

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Stefan Gerber Chancen und Grenzen verfassungspolitischer Integration Thüringen

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Schwerpunkt II: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870). Teil III: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Auswirkungen auf Norddeutschland Wolf D Gruner Einleitung

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Detlef Rogosch „Wie Bismarck über Hamburg siegte“ Die Hansestädte und der Norddeutsche Bund

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Frank Möller Die Debatte zur Gründung und Verfassung des Norddeutschen Bundes

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Reimer Hansen Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund Eine historische Episode von langfristiger Bedeutung in übergreifender Perspektive

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Kersten Krüger Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage

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Inhaltsverzeichnis

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Albrecht Eckhardt Oldenburg im Norddeutschen Bund

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René Wiese Mecklenburgs Weg in Preußens Bund 1840–1867

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Manfred Jatzlauk (†) Militärstrategische Konzepte und politische Ansichten Helmuth von Moltkes in der Reichseinigungszeit

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Aufsätze Stefan Dixius Deutschsprachige Missionszeitschriften im 19 Jahrhundert Entstehung, Verbreitung und Quellenwert

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Kurt Gritsch Gekommen, um sich zu vernetzen Südtirols Zeitgeschichte als Migrationsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der migrantischen Netzwerke von 1945 bis heute

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Schwerpunkt I: Demokratiestiftung nach dem großen Krieg Verfassungsgebung in deutschen Klein- und Mittelstaaten zwischen Revolution und Weimarer Republik

Zur Einführung Michael Kißener / Ulrich Lappenküper Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 11–14

Abstract: In 2019, the 100th anniversary of the Weimar Constitution paid tribute to the first successful attempt of establishing a liberal democracy in Germany, but mainly from an all-German, national point of view Less importance was attached to the role of the traditionally strong German regions and states although it is widely known that German constitutional history requires the perspective of the states where – starting from German early constitutionalism – essential constitutional developments took place Therefore, this volume presents a range of similarly designed studies on the constitutional conditions in the German small and medium-sized states It aims at understanding the origin of the first German democracy “from below” and from the states’ perspective The authors focused on three aspects: 1 The creation of the 1919 constitution in the German states (and therefore also in the Reich) did not start from scratch but had a long and many-faceted tradition 2 All articles put emphasis on analyzing the development of political participation opportunities, especially considering regional differences in suffrage 3 The integrative power of the state constitutions and the resulting political cultures is consistently discussed We hope to open a differentiated view on German regional identities which are so important for the national events in Germany in 1919, thus fostering the understanding of German contemporary and constitutional history from a regional perspective

Das 100jährige Gedenken an das Zustandekommen der Weimarer Reichsverfassung hat im Jahr 2019 den ersten erfolgreichen Versuch der Etablierung einer freiheitlichen Demokratie in Deutschland mit vielfältigen Veranstaltungen und Festakten gewürdigt Dabei ist der „Weimarer Verfassung“ nach vielen Jahren der kritischen Betrachtung, ja

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Michael Kißener / Ulrich Lappenküper

Abwertung jene Beachtung zuteil geworden, die ihr in der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung und Zeitgeschichte sicher gebührt Allerdings ist der große Versuch, Deutschland in eine moderne demokratische Ordnung zu überführen, ganz überwiegend aus einer gesamtdeutschen, nationalen Sicht bewertet worden Die Rolle der seit jeher ja starken Regionen und Länder in Deutschland hat weit weniger Beachtung erfahren, obwohl bekanntermaßen die deutsche Verfassungsgeschichte mindestens bis 1871, wenn nicht bis 1919 der Perspektive auf die Länder bedarf, in denen sich, beginnend mit dem deutschen Frühkonstitutionalismus, die wesentlichen verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen ergeben haben Aus diesem Grund möchte der hier vorgelegte „HMRG Schwerpunkt“ anhand einer Reihe von beispielhaften, mit ähnlichen thematischen Schwerpunktsetzungen konzipierten Studien zu den verfassungsrechtlichen Verhältnissen in deutschen Kleinund Mittelstaaten dazu beitragen, dieses Defizit bei der historischen Einordnung der Weimarer Verfassung zu beheben Es geht uns darum, die Entstehung der ersten deutschen Demokratie in der verfassungsgeschichtlichen Chronologie und „von unten“, aus der Perspektive der Länder, zu betrachten In einigen Fällen ging die Verfassungsgebung in den Ländern der Weimarer Reichsverfassung ja sogar voraus, in vielen Fällen waren die Verhandlungen schon weit gediehen und wurden mit Blick auf die Reichsverfassung nur sistiert, um nicht nach deren Erlass „nacharbeiten“ zu müssen So ist manches in den Ländern schon vorgedacht oder modifiziert geregelt worden, was die Weimarer Reichsverfassung schließlich festgelegt hat Und nicht selten fand mit dem Erlass einer demokratischen Verfassung in den Ländern ein jahrhundertlanger Prozess der modernen, liberalen Verfassungsgebung seinen Abschluss Dies alles gilt es unter angemessener Beachtung der regionalen Besonderheiten, die eben die deutsche Verfassungsentwicklung in besonderer Weise auszeichnen, in den Beiträgen zu verdeutlichen und hinreichend zu würdigen Dabei kommt dem „Dachbeitrag“ von Peter Steinbach die Funktion zu, die liberale Verfassungsentwicklung im 19 Jahrhundert im Reich insgesamt einleitend zu würdigen und die Unterschiedlichkeit der durch den Artikel 13 der Wiener Schlussakte angestoßenen Initiativen herauszuarbeiten In diesem Zusammenhang wird auch der Blick auf die Entwicklung in Preußen gerichtet, zu dem kein eigener Beitrag vorgelegt wird, weil bereits große einschlägige Studien dazu publiziert worden sind Hier soll es darum gehen, die besondere Funktion der oft weniger beachteten deutschen Klein- und Mittelstaaten in den Mittelpunkt zu rücken Die nach der Gründung des Kaiserreiches ausbleibende Fortentwicklung auf Reichs- wie auf Länderebene wird ebenso berücksichtigt wie die konkrete verfassungspolitische Situation am Ende des Ersten Weltkrieges mit den in der krisenhaften Situation 1918/19 sich bietenden Handlungsoptionen Die einzelnen Länderbeiträge können so an die hier dargestellten Grundlinien der Entwicklung anknüpfen und sich auf die regionale Verfassungsentwicklung konzentrieren Da es weder wünschenswert ist, den Leser mit allzu vielen Einzelheiten der

Zur Einführung

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jeweiligen Verfassung zu belasten, noch sich in einer Vielzahl denkbarer inhaltlicher Schwerpunktsetzungen zu verlieren, haben sich die Autoren auf drei Gesichtspunkte konzentriert, die in allen Beiträgen systematisch durchgearbeitet werden: 1 Die Verfassungsgebung 1919 erfolgte in den deutschen Ländern und dadurch auch im Reich nicht gleichsam bei einem Nullpunkt, sondern konnte z T auf eine lange Tradition zurückblicken Es wird daher dargelegt, wann und unter welchen spezifischen Umständen im 19 Jahrhundert (und in Vorstufen sogar schon früher) bereits Verfassungsgebungen erfolgt waren und welchen Stand diese bis 1919 erreicht hatten Die Spannbreite zwischen dem als liberales Musterland geltenden Baden, das 1818 seine erste Verfassung erhalten hatte und auch nach dem Ersten Weltkrieg nun sehr schnell eine neue Verfassung vorlegte, und vielen anderen Ländern, die als in dieser Hinsicht „verschlafen“ oder gar „rückständig“ galten, wird so anschaulich Die meist krisenhafte Situation, in der Verfassungen entstanden sind oder gerade nicht gedeihen konnten, wird dabei berücksichtigt So sollte deutlich werden, dass der erste erfolgreiche Versuch der Demokratiestiftung in Deutschland auf sehr unterschiedlichen regionalen Ausgangsbedingungen fußte, die weitreichende Folgen für die Erfolgsaussichten des nationalen Verfassungsversuches hatten 2 Alle Beiträge legen sodann einen thematischen Schwerpunkt auf die Darstellung der Entwicklung der politischen Partizipationsmöglichkeiten Angesichts des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts sowie der Einführung des Frauenwahlrechts in den Länderverfassungen wie in der Weimarer Reichsverfassung ist es zentral wichtig zu beachten, wie regional unterschiedlich sich der Stand des Wahlrechts und der politischen Partizipationsmöglichkeiten in den Ländern entwickelt hat Damit kann eine Vorstellung dafür entstehen, inwieweit die Bevölkerung je nach Region daran gewohnt war, Partizipationsrechte, ohne deren aktive Annahme und Gestaltung keine Demokratie überlebensfähig ist, wahrzunehmen 3 Sodann diskutieren alle Beiträge die Frage nach der integrativen Kraft der Verfassungen und der daraus entstehenden politischen Kultur in den Ländern Bei der badischen Verfassung lässt sich beispielsweise diese integrative Kraft an dem Verfassungsjubiläum 1843 sehr gut ablesen, doch dieser hier feststellbare Stolz auf die Verfassung war keineswegs Allgemeingut in Deutschland Ob die nach dem Ersten Weltkrieg erlassenen Länderverfassungen und die Reichsverfassung eine solche Kraft entfalten konnten oder gerade nicht, ob sie also so etwas wie eine demokratische Kultur beförderten oder nicht, wird in jedem Beitrag in regionaler Perspektivierung geklärt Wir hoffen so einen differenzierten, die so wichtigen regionalen Identitäten in Deutschland berücksichtigenden Blick auf das große Geschehen 1919 zu eröffnen, der mehr ist als die Würdigung einer historisch bemerkenswerten Verfassung, mehr auch

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Michael Kißener / Ulrich Lappenküper

als die Addition meist unterschätzter regionaler Besonderheiten – ein Blick, der deutsche Geschichte, deutsche Zeit- und Verfassungsgeschichte konsequent von „unten“, aus der Perspektive der deutschen Regionen betrachtet und hilft, die nationalen Entwicklungen besser einzuordnen und zu verstehen Michael Kißener, seit 2003 Univ -Prof für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Ulrich Lappenküper, seit 2009 Geschäftsführer, seit 2012 Vorstand der Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, seit 2009 apl Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-SchmidtUniversität der Bundeswehr Hamburg

Konflikt und Integration Verfassungen und Wahlrecht in der Frühgeschichte des Konstitutionalismus Peter Steinbach Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 15–45

Abstract: The modern constitutional state was the result of 19th century political philosophy, transferred into political practice The idea of monarch’s divine right was replaced by the conception of sovereignty of the people The regional sovereigns ‘conceded’ constitutions; the elected representatives cooperated and, as members of regional assemblies, took part in the process of legislation Their competences expanded, their chances of political participation increased, though often attended by conflicts with state administration and jurisdiction The constitutional history of the German “Bund” shaped the frame for the German federation, and later the “Reich” The ensuing development was influenced by political events and constitutional conflicts in the different countries The political parties were at odds in the struggle for a democratic franchise, which for a long time had been differentiated according to social class, income or taxation Expanded rights of election access and a progressive change of the representative system by political parties, associations, pressure groups and mass-media enhanced the democratic development of state and society The constitutional conflicts and election campaigns strengthened the integration of the people ‘Subjects’ became citizens, who formed their own political identities

Die Weimarer Reichsverfassung lässt sich mit guten Gründen als die erste moderne Verfassung der deutschen Geschichte bezeichnen: Gewaltenteilung, demokratisches Wahlrecht mit einer als gerecht empfundenen „verhältnismäßigen“ Stimmengewichtung der Wählervoten, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheitsversprechen, nicht zuletzt liberale und soziale Grundrechte in Verbindung mit der Proklamation eines sozialen Pluralismus finden sich ebenso wie das Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit und zur Anerkennung kirchlicher Autonomie Bewusst knüpften die Verfassungsgeber im Som-

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Peter Steinbach

mer 1919 an die Revolutionsverfassung der Frankfurter Paulskirche an Deren Vorgeschichte verweist auf den Frühkonstitutionalismus Der enge Zusammenhang zwischen den Verfassungen von 1848 und 1919 wird nicht nur in den Symbolen deutlich, etwa in der schwarz-rot-goldenen Nationalflagge und der Nationalhymne, die einen Text von Hoffmann von Fallersleben aufnimmt Bezeichnend für den Konstitutionalismus ist eine durchgängige Diskussion über das Wahlrecht und die Wahlpraxis 1 Konstitutiv ist überdies die niemals in Frage gestellte Anerkennung der Vielfalt der deutschen Bundesstaaten im Gehäuse des Deutschen Bundes2 deutscher Einzelstaaten, die stets ihr dynastisches, landsmannschaftliches und territoriales Sonderbewusstsein betonten 3 Verfassungsgeschichtlich bedeutsam wurden vor allem die Grundrechte4, die sich in ähnlicher Weise in den nachfolgenden Verfassungen der beiden deutschen Staaten von 1949 finden Sie erscheinen in der Nachkriegszeit zwar als eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, der die Gewaltenteilung aufgehoben, den Pluralismus beseitigt, freie Wahlen und die Grundrechte abgeschafft und den Rechtsstaat nicht nur verhöhnt, sondern faktisch abgeschafft hatte Gerade dadurch verweist der Verfassungsbruch von 1933/34 auch auf das 19  Jahrhundert Denn mit der Abschaffung des demokratischen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts wurde der Einparteien- und Führerstaat etabliert und so nicht nur die grundlegende Bedeutung der Volkssouveränität plebiszitär ausgehebelt, sondern das Mitwirkungsrecht der Bevölkerung an gesamtstaatlichen Zielbestimmungen beseitigt Bei den Feierlichkeiten zum 100 Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung wurde betont, mit der Revolution von 1918/19 und den Beratungen in der verfassunggebenden Nationalversammlung hätte die moderne Geschichte der deutschen Demokratie begonnen Diese Annahme ist das Ergebnis historisch verkürzter geschichts- und erinnerungspolitischer Instrumentalisierung Dieser HMRG-Schwerpunkt lenkt den Blick auf verfassungsgeschichtliche Entwicklungen deutscher Länder Damit soll betont werden, dass sich die Bedeutung der Weimarer Reichsverfassung und ihrer Vorgeschichte nicht ohne die Würdigung der frühkonstitutionellen Verfassungskämpfe und Verfassungsentwicklungen ermessen lässt Diese Auseinandersetzungen haben sich in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts in zwei Wellen ereignet – 1818–1820 und um 1830/32 Hamburg erweist sich dabei als 1 2 3 4

Hedwig Richter, Moderne Wahlen Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19  Jahrhundert, Hamburg 2017 Reinhart Koselleck, Bund: Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd  1, Stuttgart 1972, 582 ff , bes 649 ff Ernst Deuerlein, Föderalismus Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips, München 1972 Gerd Kleinheyer, Grundrechte: Menschen- und Bürgerrechte, Volksrechte, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 1047 ff , bes 1070 ff

Konflikt und Integration

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Sonderfall, denn die „allerenglischste Stadt“5, wie man im 19  Jahrhundert sagte, gehörte zu den drei Stadtrepubliken im Deutschen Reich, hatte aber ähnliche Konflikte um die Ausweitung politischer Teilhabe zu bewältigen wie die monarchisch verfassten Bundesstaaten 6 Gegen Veränderungen zeigten sich nicht nur die Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen, sondern sehr lange die beiden Mecklenburg7 und bis in die Mitte der siebziger Jahre auch das Fürstentum Lippe8 immun Der Blick auf „konstitutionelle Musterländer“ wie Baden und Württemberg9 lenkt den Blick auf andere Bundesstaaten, die sich länger gegen den konstitutionellen und demokratischen Verfassungswandel zu behaupten versuchten 10 Erfolgreich durchgestandene Verfassungskämpfe spalteten im 19  Jahrhundert die Gesellschaften weniger als der spätere Kampf gegen Katholiken, Sozialdemokraten und Linksliberale, sondern integrierten diese auf einer neuen Ebene, die sich zwischen Revolution und Gründung des Reiches bewährte Die frühen Verfassungen reagierten auf Veränderungen und ermöglichten so eine politische Integration der sich durch politisch-kulturelle, konfessionelle und sozioökonomische Wandlungen innerhalb weniger Jahrzehnte verändernden Gesellschaft Sie war im Absolutismus durch die soziale Disziplinierung geformt worden Im Frühkonstitutionalismus entwickelten sich nun neue Modi selbstbestimmter politischer Kooperation Die Anerkennung unterschiedlicher Wertvorstellungen ebnete innergesellschaftliche Gegensätze ein, die in der regional differenzierten und konfessionell gespaltenen Gesellschaft bestanden Dies war umso notwendiger, als sich die Bevölkerung im Zeitalter der Industrialisierung und Kommerzialisierung weiter differenzierte, Interessengegensätze deutlicher wurden, die Unterschiede von Stadt und Land, zwischen konfessionellen Gruppierungen und politisch-kulturellen Zielen sich aber zunächst nicht abschwächten Verfassungen offerierten hingegen Sicherheit im Gesetzgebungsverfahren, regulierten den Konfliktaustrag und bereiteten Konfliktlösungen vor, die auch dann tragfähig blieben, wenn sich über die innergesellschaftlichen Gegensätze partielles Vertrauen entwickelte, das Voraussetzung jeder politischen Zusammenarbeit und Gemeinsamkeit war Vertrauen fußte zunehmend auf Verfahren Mochten sich durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 also Grenzen verschoben und die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert haben, mochten sich durch die Säkularisierung konfessionell bedingte Vorbehalte gegenüber den Landesherren verfestigt haben, die umstrittene 5 6 7 8 9 10

Helmut Böhme, Frankfurt und Hamburg Des deutschen Reiches Silber und Goldloch und die allerenglischste Stadt des Kontinents, Frankfurt/M 1968 Vgl den Beitrag von Ulrich Lappenküper Vgl den Beitrag von Martin Buchsteiner Peter Steinbach, Industrialisierung und Sozialsystem im Fürstentum Lippe, Berlin 1976 Vgl den Beitrag von Michael Kißener Vgl den Beitrag von Joachim Kuropka

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Peter Steinbach

und keineswegs allgemein akzeptierte Nutznießer der Auflösung von Kirchenbesitz waren, so bot nur ein durch die Verfassung berechenbar und verlässlich gewordenes Verfahren auf Dauer legitimatorisch abgesicherte Stabilität Selbst wenn sich innerhalb der konfessionell homogeneren Einzelstaaten kulturelle Konflikte zuspitzten, wie sie sich sogar in der Reaktion von Lutheranern und Reformierten auf die staatlich veranlasste Unierung in Preußen zeigten, blieb die Entwicklung von politischen Kooperationsmustern nach dem Abklingen des Kulturkampfes ohne Alternative Dies bedeutete für die Vertreter einer weitsichtigen Bürokratie, legitimatorische Vorbehalte, vor allem in den von Napoleon neu geschaffenen Staaten, durch ein demonstrativ bekundetes verfassungskonformes Verhalten der Landesherrscher zu schwächen Waren Herrscher dazu nicht in der Lage, so gefährdeten sie durch Regelbrüche, die sich in den einzelstaatlichen Verfassungskämpfen manifestierten, die politisch gedeihliche, ruhige Entwicklung Zwischen 1819 und 1849 war vielen der politisch Verantwortlichen die ungesicherte Gesamtsituation bewusst Zensur, Polizeikontrolle, Willkür schufen keine Sicherheit, sondern nährten Proteste, Reserven und Unzufriedenheit unter den Einwohnern Vor allem nach dem endgültigen Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress belasteten nicht allein die territorialen Verschiebungen die Verwaltung der Staaten, mussten sie doch durch den Ausbau einer neuen Staatsverwaltung Voraussetzungen für eine staatliche Integration der Bevölkerung schaffen; auch die konfessionelle Zusammensetzung der Landesbewohner barg diesbezügliche Probleme Zudem erschwerte die Eingliederung von Standesherrschaften und Kirchengut die Anerkennung der territorialen Veränderungen, vor allem auch dann, wenn – wie in Baden – die Legitimitätsgrundlage der Dynastie teilweise angezweifelt wurde Nicht zuletzt verbarg sich in der verweigerten und später nur halbherzig „gewährten“ landständischen Verfassung ein Konfliktpotential, das explizit auf Verfassungsfragen rekurrierte 11 Es waren einige staatliche Vertreter, die sich dem Wandel nicht blind entgegenstemmten, sondern klug agierten; wer immer auf gesellschaftliche und politische Blockade setzte, riskierte eine Steigerung der Unzufriedenheit, die sich durch Disziplinierungs- und Zensurmaßnahmen beseitigen ließen 12 Nach der Revolution von 1848 veränderten sich die politischen Rahmen- und Handlungsbedingungen gravierend, aber nur kurz Mit der preußischen Verfassung wurde das Dreiklassenwahlrecht eingeführt Zwar wurden Beteiligungschancen damit ungleicher, als sie es bei einer Beibehaltung des revolutionären allgemeinen (Männer-)Wahlrechts gewesen wären Dennoch bedeutete die Einführung des Wahlrechts

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Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz Monarchisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied 1968 Rainer Wirtz, „Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale“ Soziale Bewegungen und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815–1848, Berlin u a 1981

Konflikt und Integration

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in der 3 Klasse eine Öffnung der Wahlberechtigung Hinzu kamen gewachsene Partizipationsmöglichkeiten in der städtischen Selbstverwaltung 13 Die wachsende Hoffnung, die ungelösten Repräsentationsprobleme ließen sich durch die Bildung eines deutschen Nationalstaates überwinden, setzte die Kleinsowie vor allem die Mittelstaaten dem Sog einer Bewegung aus, die ihre Bedeutung mit der Reichsgründung verringerte Prägend blieb die Wahlrechts- und Wahlkampfgeschichte Hinzu kommt, dass sich die Partizipationsansprüche in der städtischen Selbstverwaltung manifestieren konnten So wurde der Vormärz14 zur Inkubationszeit zukünftiger revolutionärer Umbrüche Die Zeichen der Zeit wiesen zwischen 1818 und 1850 unübersehbar nicht nur in Richtung Veränderung der Lebensverhältnisse, sondern stellten mit dem Wahlrecht eine grundlegende Voraussetzung für die Bewältigung der krisenhaften Herausforderungen, die politische Legitimation, der Entstehung einer neuen politischen Identität, die Effektivierung der staatlichen Verwaltung dar Öffentliche Auseinandersetzungen machten deutlich, dass es nicht mehr darum ging, politische Veränderungen zu verlangsamen, sondern zu gestalten Obstruktionen und Kammerkonflikte nahmen ab, Gegensätze wurden jedoch argumentativ ausgefochten Mit dem Durchbruch des Wahlrechts war die Gefahr eines Bürgerkriegs erheblich verringert Die Würdigung der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts als Frühgeschichte der deutschen Demokratie erleichtert eine verfassungsgeschichtliche Einordnung der Weimarer Reichsverfassung – nicht aus dem Wunsch, geschichtspolitisch motivierte Akzente zu setzen, sondern um Trends demokratisch-partizipatorischer Entwicklung einschätzen zu können Jedes System hatte spezifische Herausforderungen zu bestehen Die Staatsverwaltung musste effektiviert, Beschränkungen von Macht und Herrschaft mussten durchgesetzt, politische Beteiligung musste ermöglicht werden Dies führte regelmäßig zu krisenhaften Entwicklungen Krisen haben vor allem Sozialwissenschaftler als Impuls zur Erhöhung von Anpassungskapazitäten politischer Systeme interpretiert Deshalb wird der Blick auch im Folgenden auf modernisierungshistorische Fragestellungen gelenkt, die Integration und Identitätsbildung15 thematisieren Und weil die Bedeutung der vorkonstitutionellen Verfassungsgeschichte im Bedeutungswandel von politischen Begriffen deutlich wird, wird häufiger auf die Begriffsgeschichte16 verwiesen

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Hartmut Kaelble, Berliner Unternehmer während der frühen Industrialisierung Herkunft, sozialer Status und politischer Einfluss, Berlin u a 1972 Wilhelm Bleek, Vormärz Deutschlands Aufbruch in die Moderne 1815–1848, München 2019, 300 Vgl dazu insbesondere die Beiträge von Stefan Gerber und Ulf Morgenstern Vgl Hans Joas / Peter Vogt (Hgg ), Begriffene Geschichte Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011

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Peter Steinbach

Verfassungen und Wahlen – ein Scharnier zwischen Staat und Gesellschaft Exakt einhundert Jahre vor der Novemberrevolution wurden in Süddeutschland relativ moderne Verfassungen mit landesherrlicher Billigung „erlassen“ Im Nachklang dieser „Gewährungen“ wurden Prinzipien des Wahlrechts, Strukturen der Öffentlichkeit und der Vereinigungsfreiheit erörtert und stufenweise, nicht selten im Konflikt17, in der politischen Praxis realisiert Das hier zum Ausdruck kommende Verfassungsverständnis war niemals nur verfassungstheoretisch, sondern immer auch regierungspragmatisch begründet; es spiegelte Erfahrungen und zugleich auch den Versuch wider, die fundamentalen sozialen, politischen, kulturellen und konfessionellen Veränderungen des 19  Jahrhunderts in eine Form zu gießen, die sich von den vorangegangenen älteren Verfassungsverständnissen unterschied und in die Zukunft führen sollte und konnte 18 So wie das 18  Jahrhundert unter dem Signum der Aufklärung steht, so könnte das 19   Jahrhundert als eines der Revolutionen, des Kapitalismus und der Verfassungen bezeichnet werden 19 Es wurde durch Nationalstaaten, Imperialismus und Industrialisierung20, nicht zuletzt aber, in einer weit in die Zukunft weisenden politischen Entwicklung, durch nationale Freiheitsbewegungen und -bestrebungen geprägt So bleibt es das Jahrhundert des „freiheitlichen Verfassungsstaates“21 Deshalb stand am Anfang nicht allein Napoleon22, sondern aus der Kritik am absolutistisch-monarchischen System erwuchs eine Krise des alten Staates23, die ein Freiheitsstreben stärkte Der Strukturwandel des politisch reflektierten und bald praktizierten Zusammenlebens eröffnete neue Spielräume des Handelns und veränderte den Rahmen der öffentlichen Debatten grundlegend24, und dies wiederum nicht zuletzt durch Verfassungen, die Begrenzungen von Macht und Herrschaft ermöglichten

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Vgl exemplarisch Ewald Grothe, Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt Das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära Hassenpflug 1830–1837, Berlin 1996 Vgl Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19  Jahrhundert Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, 2  Aufl 1995 Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998; Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005 Vgl Theodor Schieder (Hg ), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1968 (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd  6) Vgl Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19  Jahrhundert, Bd  2: Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg 1933, 123 ff Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866 Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 11 Reinhard Koselleck, Kritik und Krise Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/ München 1959, auch Frankfurt/M 1973 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1962

Konflikt und Integration

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Die Entfaltung der ständischen Gesellschaft25 zur Leistungsgesellschaft setzte ein autonom handelndes, zugleich mit der Verlässlichkeit von Institutionen rechnendes Individuum voraus, das durch den Rechtsstaat in der Gleichheit26 aller anerkannt wurde Arkanpolitik und Willkür standen dem entgegen Wirtschaftliches Handeln verlangte nach institutionalisierten Garantien, mithin nach Sicherheiten, die Folgen des Rechts waren, das Verfahrensnormen begründete und Ausdruck von Gewaltenteilung27 und Unabhängigkeit der Justiz war Diese Strukturen sind heute als Kennzeichen moderner Staatlichkeit anerkannt Im 19  Jahrhundert aber mussten diese Prinzipien durchgesetzt, erstritten, begründet, nicht selten erkämpft werden Das war nicht nur die Leistung von intellektuell führenden Köpfen, sondern das Ergebnis von Debatten, die sich mit Presse und Parlamenten eine neue Arena politischer Auseinandersetzungen schufen Nur wenn es gelang, Rahmenbedingungen berechenbaren staatlichen „polizeilichen“ Verhaltens28 zu beeinflussen und zu kontrollieren, schien der Untertan vor staatlicher Willkür gesichert zu sein, nur dann hatte er die Möglichkeit, seine Persönlichkeit in Würde zu entfalten So hieß es später in Verfassungen, die die Grundrechte proklamierten Berechenbarkeit und Sicherheit garantierten so etwas wie „Freiheit“ 29 Mitwirkungsmöglichkeiten aber machten den ansässigen „Landesbewohner“ zum Bürger30, stärkten sein Selbstbewusstsein und seine Bereitschaft zur Mitverantwortung Teilhabe weitete die politischen Bürgerrechte aus Im Absolutismus hatte staatliches Handeln auf Sozialdisziplinierung31 gezielt, nicht aber Teilhabe vorausgesetzt In der Beteiligungsgesellschaft kam es hingegen auf zivilgesellschaftliche Orientierung an Nur dann war eine auf Teilhabe zielende Kooperation im Sinne gesellschaftlich orientierten Handelns möglich 32 Mit den frühen deutschen Verfassungen des 19  Jahrhunderts setzte sich die mit der Französischen Revolution und in der Napoleonischen Zeit eingeleitete grundlegende, auf Partizipation und Identifikation mit dem Staat gerichtete Veränderung des politischen Lebens auf 25 26 27 28 29 30 31 32

Reinhart Koselleck, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848, in: Werner Conze (Hg ), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, 79–112 Otto Dann, Gleichheit, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 997 ff , besonders 1018 ff Hans Fenske, Gewaltenteilung, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 923–958 Franz-Ludwig Knemeyer, Polizei, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  4, Stuttgart 1978, 875 ff , bes 886 ff Diethelm Klippel, Der politische Freiheitsbegriff im modernen Naturrecht (17 /18  Jahrhundert), in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 469–488; Christoph Dipper, Der Freiheitsbegriff im 19  Jahrhundert, in: ebd , 488–538, besonders 512 ff Manfred Riedel, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  1, Stuttgart 1972, 672–725, besonders 702 ff Vgl Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders , Geist und Gestalt des frühmodernen Staates Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 179–197 Manfred Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 719–800, besonders 783 ff

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eine Weise fort, die eine nachhaltige Aufhebung des bürgerschaftlich Erreichten weder ratsam noch möglich machte Denn nach 1815 bestimmte die Frage, „ob es in den Einzelstaaten zu einer Verfassung kommen würde“33, unüberhörbar die öffentlichen Debatten – selbst in Preußen, wo es lange nicht zu einer ähnlich modernen Verfassung wie in den süddeutschen und manchen mitteldeutschen Bundesstaaten kam, weil im Staat der Hohenzollern eine Verzögerung der auf Beteiligung gerichteten Bestrebungen bestimmend blieb 34 Im Kontrast zur preußischen Entwicklung, die vergleichsweise gut erforscht wurde35, wird die Bedeutung vor allem der süddeutschen Staaten für die deutsche Verfassungsentwicklung vielfach übersehen Dies ist insofern überraschend, als sich vor der Revolution von 1848 nur süddeutsche Staaten als frühkonstitutionelle und deshalb relativ moderne Verfassungsstaaten bezeichnen lassen 36 Ihre Entwicklung zeichnete Wege vor, die manche der Mittelstaaten etwa zehn Jahre später mit Modifikationen übernahmen 37 Die verfassungsoppositionellen Bewegungen im Deutschen Bund orientierten sich in Inhalt und Ziel an diesen Verfassungen und griffen viele der Argumente der Akteure auf, die sie mit Leben füllten Die dabei gemachten Erfahrungen wirkten sich später in den Verfassungsauseinandersetzungen Preußens aus und prägten dadurch die weitere preußisch-deutsche Verfassungsgeschichte im letzten Drittel des 19  Jahrhunderts Franz Schnabel hat die Stoßrichtung der frühen süddeutschen Verfassungsbewegung als einer der wenigen Historiker seiner Generation erfasst 38 Dies erklärt sich zu einem guten Teil aus seiner Kenntnis und seiner Identifikation mit der badischen Geschichte Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftliche Freiheitsrechte bei gleichzeitigem Minderheitenschutz, dies alles sollten Verfassungen durchsetzen und für die Zukunft absichern Aufgrund der territorialen Veränderungen kam ihnen nicht

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35 36 37 38

Nipperdey, Deutsche Geschichte, 272 Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967, 2  Aufl 1975, 560 ff , eine knappe konzeptionelle Präzisierung ders , Die Auflösung der ständischen Gesellschaft und das Aufkommen neuer Klassen im preußischen Vormärz, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg ), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815–1918, Köln 1972, 385–409 Wolfgang Neugebauer (Hg ), Handbuch der preußischen Geschichte, 3 Bde , Berlin 2000–2009 Meinrad Schaab / Hansmartin Schwarzmeier (Hgg ), Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd  3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, Stuttgart 1992 Vgl Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd   1: Reform und Restauration 1789–1830, Stuttgart u a 1967 (2  Aufl ), 314 ff ; ders , Bd  2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart u a 1968 (2  Aufl ), 30 ff Franz Schnabel, Geschichte der Ministerverantwortlichkeit in Baden, Karlsruhe 1922; ders , Sigismund von Reitzenstein Der Begründer des badischen Staats, Heidelberg 1927; ders , Ludwig von Liebenstein Ein Geschichtsbild aus den Anfängen des süddeutschen Verfassungslebens, Karlsruhe 1927; schließlich die vierbändige Deutsche Geschichte im 19  Jahrhundert, die zwischen 1929 und 1937 in Freiburg publiziert wurde

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zuletzt die Aufgabe der Integration der aus konfessionellen und landsmannschaftlichen Gründen vergleichsweise heterogenen Bevölkerung zu Deshalb sollte man bei einer Charakterisierung des 19  Jahrhunderts nicht nur die Neugestaltung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, von Kultur und Wirtschaft betonen, sondern bedenken, dass es darum ging, durch die neuen Verfassungen neue politische Entscheidungsstrukturen zu begründen und überdies das problematisch gewordene dynastische Traditionsverständnis durch Bindungen an die Verfassung zu ergänzen Damit ist nicht angedeutet, dass die süddeutschen Verfassungen die Grundlagen eines Verfassungspatriotismus im Sinne Dolf Sternbergers legen sollten 39 Die damaligen Kritiker der Verfassungspraxis agierten aus den „Volksvertretungen“ heraus, sie verstanden sich als fordernde Kritiker, als Vertreter einer Opposition40 – dies schloss ihre direkte „verfassungspatriotische“ Identifikation mit diesen sich keineswegs kontinuierlich entwickelnden bzw konsolidierenden Verfassungsstaaten41 aus Entscheidend für die Akzeptanz der Verfassung war vielmehr die Beteiligung breiterer Bevölkerungskreise an der „Gestaltung“ ihrer Dinge und damit die Gestaltung des Wahlrechts und die Prägung der politischen Öffentlichkeit Zunächst regelte die Verfassung lediglich den Zugang von Ständen und von den gewählten Vertretern der „Stände“42 zu politischen Entscheidungen unter Reduzierung der Bedeutung der Bürokratie Sie legte eine Art Geschäftsordnung für Gesetzgebung und Regierung fest, ermöglichte perspektivisch durch das Wahlrecht den Untertanen, als Bürger und Staatsbürger in die Richtungsentscheidungen der Regierungen einbezogen zu sein Verfassungen boten so auf längere Sicht individuelle und kollektive politische Einfluss- und Entfaltungsmöglichkeiten Nicht zuletzt entwickelten sie im Zuge grundlegender Reformen berechenbare Zukunftsperspektiven Die politische Begrifflichkeit geriet dabei in Fluss und spiegelte historische Entwicklungen Die Ziele des politischen Prozesses waren ebenso wie die Formalien politischer Mitwirkung wandelbar Deshalb seien sie stets „auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen “43

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40 41 42 43

Vgl allg zur Diskussion über diesen Schlüsselbegriff des gegenwärtigen Verfassungsverständnisses: Jan-Werner Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010 Siehe vor allem die „Tutzinger Akademie-Kurzanalyse“ 2/2020: Thomas Schölderle, Verfassungspatriotismus – Zum 50 Geburtstag einer Wortschöpfung, Tutzing 2020 Wolfgang Jäger, Opposition, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  4, Stuttgart 1978, 469–517, bes 485 ff Vgl Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968 Rudolf Walther, Stand, Klasse, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd   6, Stuttgart 1990, 155–284, bes 257 ff Koselleck an Schmitt, 21 1 1953, in: Jan Eike Dunkhase (Hg ), Reinhart Koselleck Carl Schmitt: Der Briefwechsel 1953–1983, Berlin 2019, 9

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Eine wichtige und nicht zu unterschätzende Grundlage der Mitwirkung an politischen Grundsatzfragen bildete die kommunale Selbstverwaltung 44 Sie ermöglichte die Aktivierung und machte deutlich, welche weit in die erste Hälfte des 19  Jahrhunderts verweisende Vorgeschichte die Demokratisierung des 20   Jahrhunderts aufweist 45 Auch die Würdigung der Weimarer Verfassung kann nicht die Bedeutung der Vorgeschichte kommunaler Demokratie im 19  Jahrhundert übergehen 46 Gerade die lokale Demokratie verweist auf die Relevanz der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung Neben ausgeweiteter Partizipation steht immer die Machtbeschränkung Aber es geht nicht nur um Gewaltenteilung, sondern stets auch um den die Mehrheitsmacht beschränkenden Minderheitenschutz Die Magna Charta von 1215, die Petition of Rights von 1628 und die Glorious Revolution von 1688/89 machten dies deutlich und prägten in der Folgezeit die Rechtfertigung von staatlicher Machtbegrenzung sowohl durch institutionelle Gewaltenteilung als auch lokale Machtbeteiligung47 grundlegend Föderative Strukturen ergänzten die Domestizierung zentralisierter Macht und Herrschaft Vorbehaltsrechte betonten nicht nur die Bedeutung des Eigentums48 als wesentliche Grundlage der Persönlichkeit, sondern bereiteten unter Hinweis auf das Steuerbewilligungsrecht und das sich daraus ableitendende Budgetrecht die Abwehr von Eingriffen des Staates vor, weil Steuern als zustimmungsbedürftiger Eingriff in Besitz und Vermögen begriffen wurden Besteuerungsfragen tangierten zugleich unausweichlich die Legitimation politischer Herrschaft ‚No taxation without representation‘  – die amerikanische Verfassung von 1776 und die Französische Revolution setzten diese Entwicklung fort Sie markierten Essentials weiterer Verfassungsentwicklungen und banden moderne Staatlichkeit endgültig an Konstitutionen, die nicht nur Macht zähmten, sondern auch Rechtsverletzungen der Machthaber sichtbar machten Verfassungsverletzungen, die sich in dieser Inkubationszeit des modernen Verfassungsstaates ereigneten, mündeten in neue Regelungen, definierten Wahlzugangsbedingungen schärfer und machten überdies deutlich, wie wichtig die Machtbegrenzung

44 45 46 47 48

Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19  Jahrhundert Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, 2  Aufl Stuttgart 1969; Paul Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800–1850, Göttingen 1994 Hans Maier / Werner Conze, Demokratie, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  1, Stuttgart 1972, 821–899, besonders 873 ff Exemplarisch die Rede des Bundespräsidenten Hans-Walter Steinmeier in Weimar vom 6 2 2019, http://www bundespraesident de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/ 2019/02/190206-Weimar-100-Jahre-Reichsverfassung html (Aufruf 20 3 2020) Gerhard Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde Die ‚Regierungsformen‘ des 17  Jahrhunderts als konstitutionelle Instrumente, in: Heinz Rausch (Hg ), Grundlagen der modernen Volksvertretung, Bd  1: Allgemeine Fragen und Europäischer Überblick, Darmstadt 1980, 246–277 Dieter Schwab, Eigentum, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  2, Stuttgart 1975, 65 ff , bes 94 ff

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durch eine Periodisierung von Wahlen, durch Legislaturperioden und die Begrenzung der Verbindlichkeit des Staatshaushalts durch das Prinzip der Periodizität waren Verfassungspragmatik: Verfassung in der politischen Praxis des Vormärz Die Entwicklungen der Verfassungskontroversen in den deutschen Einzelstaaten orientierten sich an Grundsatzfragen politischer Beteiligung und blieben geprägt durch konkrete, den Alltag bestimmende Auseinandersetzungen und Erfahrungen Nicht zuletzt standen sie unter dem Eindruck einer Abwehr von Willkür im Zusammenhang der konfessionell bestimmten Kulturkämpfe und der Übergriffe von Regierungen, die vorgaben, monarchische Vorrechte zu verteidigen Manche dieser religions- und konfessionspolitischen Konflikte wurden später überhöht und prägten nachhaltig die politische Kultur49, begründeten bei den Untertanen Misstrauen gegenüber der Obrigkeit oder veranlassten zugleich die Staatsvertreter, massiv gegen die – in ihren Augen – Unbotmäßigkeiten und Begehrlichkeiten der nun nicht mehr nur willigen kontribuablen Untertanen einzuschreiten Im Rückblick bekamen manche dieser Konflikte mit der Obrigkeit exemplarische Bedeutung, wie der Prozess nach der Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue 181950, wie die Vertreibung der Göttinger Sieben51, die Verhängung der Festungshaft gegen Fritz Reuter 183652, das Schicksal der politischen Emigranten nach dem Scheitern der Revolution 1849, der Preußische Verfassungskonflikt, der Hochverratsprozess gegen August Bebel und Karl Liebknecht 187253 oder – viel später – die Debatte über die Aberkennung der Venia Legendi von Leo Arons54 zeigen Mit der Verletzung des Rechtsbewusstseins ging auf längere Sicht eine höhere Wertschätzung der durch die Verfassung gebotenen Sicherheit einher und vertiefte die Einsicht in die Notwendigkeit und die Akzeptanz des Rechts des „Untertanen“, sich gegen Zensur und andere disziplinierende Maßnahmen der Polizei, später auch bei Streiks oder Boykotts gegen unternehmerische und richterliche Willkür zu wehren In diesen Konflikten stärkte sich das politische Selbstbewusstsein der Untertanen, die sich auf ihre Staatsbürger-,

49 50 51 52 53 54

Dies beschreibt das Verhältnis der Bürger untereinander, den Umgang mit staatlichen Institutionen und das gegenseitige Vertrauen der Staatsbürger Hagen Schulze, Sand, Kotzebue und das Blut des Verräters, in: Alexander Demandt (Hg ), Das Attentat in der Geschichte, Darmstadt 2019, 211–219 Miriam Saage-Maaß, Die Göttinger Sieben – demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden?, Göttingen 2007 Fritz Reuter, Ut mine Festungstid (1862) Vgl https://dlib rsl ru/viewer/01004454279#?page=1 (Aufruf 20 3 2020) Hans-A Schwarz, Leo Arons – Politiker zwischen Bürgertum und Arbeiterbewegung, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 51/2000, H  5, 285–296

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Grund- und Menschenrechte55 berufen konnten Einen weithin vernehmbaren Niederschlag fand dieses politisch-fordernde Bewusstsein in der Offenburger Erklärung der „entschiedenen Freunde der Verfassung“ von 1847 56 Die Durchsetzung moderner Verfassungs- und Staatsvorstellungen im 19  Jahrhundert in den Bundesstaaten trieb nach dem Wiener Kongress die weitere Entwicklung trotz aller Retardierungsversuche in der Ära Metternich voran 57 Die frühen Verfassungen von 1816 (Nassau), Bayern und Baden (1818) festigten zwar die Stellung der monarchisch gesinnten Bürokratie, beförderten auch die von ihr erhoffte Festigung des Staatsbewusstseins, initiierten zugleich aber nolens volens eine mehr als lediglich dynastische Bindung an das Herrscherhaus Dies setzte sich in den dreißiger Jahren in der zweiten Welle der mitteldeutschen Verfassungen fort Die Beamten verfolgten mit den Verfassungen ihre eigenen Ziele und lösten die Bürokratie von der unmittelbaren Abhängigkeit vom Landesherrn Mit den Verfassungen wollten sie zunächst nicht die Stellung des Monarchen oder gar das monarchische System schwächen, sondern die Gesellschaft und die Staatsverwaltung den modernen Verhältnissen anpassen Tatsächlich aber banden vor allem die auf die landständische Repräsentation zielenden Verfassungsnormen mittelfristig die Regierungen zunehmend an die Mitwirkung der „Stände“ und schwächten so den Einfluss der Bürokratie Reformbereite Verwaltungsbeamte bereiteten auf diese Weise die Mitgestaltungsmacht vor, die bald aus einer zweiten Kammer, der „eigentlichen Volksvertretung“58, herauswuchs und sich als Opposition verstand Wenn also die bayerische Verfassung die „Weisheit“ der Beratungen ohne Schwächung der Regierung fördern wollte, wie Fritz Hartung annahm59, so erwies sich dies als trügerisch Denn wenn den Ständen und jedem Abgeordneten das verfassungsmäßige Recht zugebilligt wurde, „in Bezug auf alle zu ihrem Wirkungskreise gehörigen Gegenstände“60 dem Monarchen Wünsche und Anträge zu übermitteln oder in der Kammer zur Sprache zu bringen, dann war eine entscheidende Hürde politischer Artikulation genommen61 und die weitere Entwicklung von der Ständeversammlung zum Landtag vorgezeichnet 55 56 57

58 59 60 61

Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968 Sylvia Schraut u a (Hg ), Menschenrechte und Geschichte Die 13 Offenburger Forderungen des Volkes von 1847, Stuttgart 2016; Nolte, Gemeindebürgertum, 297–301 Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15  Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1964 (8  Aufl ), 197 ff , vgl Hans-Peter Becht, Badischer Parlamentarismus 1819–1870 Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution, Düsseldorf 2009; Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870 Anatomie eines deutschen Landtags, Düsseldorf 1987 Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 199 Ebd Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26 5 1818, VII, §§ 19 f , in: Ernst-Rudolf Huber (Hg ), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd  1, Stuttgart 1961, Nr  51 Dirk Götschmann (Hg /Bearb ), Die Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags 1819–1918, München, Bayerischer Landtag 1997

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Konflikte waren weiterhin unvermeidlich, weil die monarchischen Rechte gegenüber den Ständen auf Dauer nicht zu behaupten waren Das machte die Württembergische Verfassung auf subtile Weise deutlich, denn sie hatte die Form eines Vertrags, der sich zwar auf das „alte Recht“ berief, faktisch aber neues Recht vorbereitete Neben der monarchischen „Entschließung“ war bereits in der Präambel die Möglichkeit einer „Gegenerklärung“ der Stände ausgesprochen Damit wurde ein neuer Ausgangspunkt der weiteren Verfassungsentwicklung markiert 62 Mit den dabei lediglich überspielten Gegensätzen zwischen Landesherren und Landständen waren jene Verfassungskonflikte vorgezeichnet, die dann 1848/49 ausbrachen Sie wurden zunächst allerdings auf eine von oppositionellen Kräften in den Ländern des Deutschen Bundes verfolgte Weise in der 2 Kammer des badischen Landtags ausgetragen und fanden ihre Wortführer in dem früh verstorbenen Karl von Rotteck63 und dem bis weit in die sechziger Jahre aktiven Karl Theodor Welcker 64 Beide nutzten die Differenzen zwischen Öffentlichkeit und traditioneller Staatspolitik und konnten die Politisierung und Aktivierung der liberalen Bevölkerung vorantreiben In den Debatten der 2 Kammer der badischen Ständevertretung, die außerhalb des Landes verfolgt wurden, bereitete sich der konstitutionelle Wandel vor65, obwohl die badischen Abgeordneten bis 1904 nicht direkt gewählt wurden Die von Land zu Land unterschiedliche Kupierung des demokratischen Wahlrechts stellte die Bedeutung der Volkssouveränität allerdings nicht grundsätzlich in Frage So konnte sich das für das 19  Jahrhundert prägende Gegensatzpaar – monarchisches Prinzip versus Volkssouveränität – allmählich entwickeln und schärfen, wobei die gewählten Abgeordneten der zweiten Kammer trotz aller Hindernisse das monarchische Prinzip relativieren konnten und schließlich überwölbten Wegen der insgesamt gelungenen Transformation des überkommenen Legitimationstyps bewährte sich das Prinzip der Volksvertretung auf ständischer Grundlage als Faktor gesellschaftlicher Integration Nach dem Wiener Kongress war ja keineswegs geklärt, ob und wie die im Hinblick auf ihre bisherige territoriale Herkunft heterogenen Bevölkerungsgruppen innerhalb der neuen Landesgrenzen integriert werden konnten Auch nach 1830 und vollends nach 1848 spielte die Binnenabgrenzung unterschiedlicher Territorien innerhalb des Staatsgebietes eine wichtige Rolle in den Über-

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64 65

Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v 25 9 1819, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd  1, Nr  54/55, hier 171 Gerhard Göhler, Republikanismus und Bürgertugend im deutschen Frühliberalismus: Karl von Rotteck, in: Michael Th Greven (Hg ), Bürgersinn und Kritik, Baden-Baden 1998, 123–149; Christian Würtz, Karl von Rotteck als Autor und Politiker, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 157/2009, 343–356 Ewald Grothe / Hans-Peter Becht (Hgg ), Karl von Rotteck und Karl Theodor Welcker Liberale Professoren, Politiker und Publizisten, Baden-Baden 2018 Vgl allg Hans Fenske, Der liberale Südwesten Freiheitliche und demokratische Traditionen in BadenWürttemberg, Stuttgart 1981

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legungen der Ministerien, deren Aufgabe neben der Verwaltung des Staates eben die Zusammenführung der Bevölkerung war Zwar konnten durch die Verbesserung der Schul- und bald auch der Universitätsbildung und vor allem durch die Verbesserung der Infrastruktur bemerkenswerte Integrationserfolge erzielt werden Dennoch kam es nicht zuletzt wegen konfessioneller Gegensätze immer wieder zu Auseinandersetzungen im Rahmen territorialer Sonderentwicklungen, umso mehr, als sich diese kulturellen Konflikte mit der Erstarkung des politischen Katholizismus in Parteigegensätzen niederschlugen und so die Verwaltung herausforderten Durch den sich immer wieder einmal zuspitzenden Gegensatz zwischen Regierungen und oppositionellen Abgeordneten wurden die Kammern zur Bühne, auf der konstitutionelle Gegensätze öffentlichkeitswirksam ausgefochten werden konnten Weil manche dieser innergesellschaftlichen Konflikte auf parlamentarischer Ebene ausgetragen wurden und die Wahlauseinandersetzungen brisanter machten, war die Regierungsseite an der Entschärfung der Gegensätze interessiert Auch dies wirkte sich befriedend und integrativ aus Im „Kampf um den Staatsgedanken“, um Wahlrecht und Volksrechte wurde sichtbar, in welchem Umfang der Staat selbst zur Partei66 werden konnte und so die Distanz zwischen den Sphären von Staat und Gesellschaft vergrößerte Das zeigte sich an der Vorbereitung der Wahlen zu den Ständevertretungen durch Behörden, an der Aufstellung der Wählerlisten, an der zögerlichen Durchsetzung des Wahlgeheimnisses, an der lange nur verhaltenen Zurückhaltung der Staatsbeamten im Kampf um Stimmen Intermediäre Praktiken wurden dadurch immer wichtiger, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern und Staat und Gesellschaft zu vermitteln Die institutionelle Klärung des frei praktizierten Wahlrechts der Stimmberechtigten verband Fortschritte in der Durchsetzung der Wahlfreiheit mit der deutschen Demokratie- und Parlamentarisierungs-Geschichte Der Kampf um Autonomie der Volksvertretungen bereitete auch die Akzeptanz des politischen Gegners vor Wenn auch dessen politische Positionen abgelehnt wurden, so waren sie zu tolerieren, um die Volksvertretung zu stärken Die Tolerierung des Gegners mündete in das Verständnis von Pluralität und Respekt und konnte sogar, wie sich in Wahlen zeigte, Vertrauen über Parteigrenzen begründen Vereinzelt wurden so politische Koalitionen und Wahlkampfbündnisse ermöglicht, vor allem, wenn sich ein lagerübergreifendes Handlungsziel herausbilden konnte Wie schwer dieses sein konnte, machten zwar immer wieder konfessionspolitische Kontroversen, aber auch Vorstellungen deutlich, die von der Existenz gegensätzlich sich gegenüberstehender politischer Blöcke ausgingen und deshalb das konfrontative Blockdenken zu stärken suchten Die Konfrontation politischer Wahl-„Blöcke“ ließ sich nur entschärfen, wenn die Kontrahenten Ambivalenzen 66

Peter Steinbach, Die Regierung des Fürstentums Lippe als Partei Zur Rolle des Staates im Wahlprozeß des 19   Jahrhunderts, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 59/1990, 271–287

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ertrugen, Kompromisse akzeptierten und Wertvorstellungen zu relativieren wussten Nur auf dieser Grundlage konnten kooperative parlamentarische Handlungsmuster entstehen Sie entwickelten sich vor dem Hintergrund von Erfahrungen, die in politischen Verhandlungen über Gruppen- und Fraktionsgrenzen hinweg gewonnen worden waren Hinzu kam später aufgrund der Reichstagswahlrechte die Notwendigkeit von Absprachen bei Stichwahlen Selbst wenn „kleinere Übel“ unter Kandidaten zu wählen waren, so war dies ein Hinweis auf abgeschwächte Konfrontationen und der Beginn von Kooperationen Noch in den politischen Auseinandersetzungen in Weimarer Reichstagsverhandlungen wurde die prägende Nachwirkung mancher der früheren Erfahrungen aus den weit zurückliegenden Verfassungs- und Volksrechtskämpfen des 19  Jahrhunderts sichtbar Demokratisierung – bereits im Obrigkeitsstaat Vor dem Hintergrund verfassungs- und parlamentshistorischer Verwerfungen ist es fragwürdig, die Verfassungsgeschichte des 19 und 20   Jahrhunderts als Fortschrittsgeschichte zu schreiben Dafür spricht, dass sich in der Fortschrittserzählung zugleich Vorstellungen von Kontinuität und Umbruch, Freiheit und Diktatur, Rechts- und Unrechtsstaat niederschlagen Dagegen sprechen Rückschritte und Rückschläge, die sich im Geschichtsverlauf zeigen und schließlich nach 1933 die Geschichte der Demokratie plebiszitär mit der Zustimmung vieler enden lassen Im 18  Jahrhundert wurde mit dem Vertragsgedanken der Weg gebahnt, der gestattete, den Herrscher auf einen Vertrag zu verpflichten Verletzte er die Verfassung, so war diese Abweichung kritisierbar geworden 67 Dass dies möglich war, hatte sich in England im 17  Jahrhundert gezeigt Die Stärkung des englischen Parlaments und die Entwicklung eines ebenso repräsentativen wie parlamentarischen Regierungssystems68 wurde von oppositionellen Anhängern einer konstitutionell geprägten Monarchie in Deutschland im 19  Jahrhundert aufgegriffen Charakteristischer für die deutsche Entwicklung war allerdings, dass mit der Trennung von Verwaltung und Rechtsprechung der Rechtsstaat69 durchgesetzt werden konnte Er setzte die Gleichheit der Bürger vor Gesetz und Gericht voraus und eröffnete die Möglichkeit, gerichtlich gegen Entscheidungen staatlicher Institutionen vorzugehen

67 68 69

Jörg Fisch, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  6, Stuttgart 1990, 901 ff , besonders 942 zum Kontraktualismus Klaus von Beyme, Repräsentatives und parlamentarisches Regierungssystem Eine begriffsgeschichtliche Analyse, in: Heinz Rausch (Hg ), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung, Bd  2: Reichsstände und Landstände, Darmstadt 1974, 396–417 Fritz Loos / Hans-Ludwig Schreiber, Recht, Gerechtigkeit, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  5, Stuttgart 1984, 287 ff

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Mit dem Wahlrecht begann die Demokratisierung der Gesetzgebung und damit der Staatsverwaltung Zwar sicherte sich der Staat mit dem Ausnahmerecht und dem Belagerungszustand70 autoritative und diktatorische Möglichkeiten71, die gegen Demokratisierung und Gewaltenteilung gerichtet werden konnten, weil sie weiterhin die Exekutive und das militärische Vorrecht des Monarchen stärken sollten Letztlich aber konnten die ständischen Körperschaften, die in den Kammern an der Gesetzgebung mitwirkten, nicht ausgeschaltet werden Das bedeutet nicht, dass in den demokratischen Bewegungen nicht auch populistisch-destruktive Tendenzen angelegt waren Sie schlugen oft in einem elitenkritischen Grundton durch, in dem das „gute“ Volk72 einer übergriffigen Regierung73 bzw Verwaltung74 gegenübergesetzt wurde Die höhere Moralität wurde dem Volk zugesprochen Wer Wahlen zu bestehen hatte, musste populistisch und zugleich antielitär agitieren Diese Tendenz steigerte sich in ihrer ganzen Destruktivität dann in den dreißiger Jahren des 20  Jahrhunderts in den plebiszitär zugespitzten Wahlauseinandersetzungen, die zur Zerstörung der Weimarer Verfassungsordnung beitrugen Nicht zu bestreiten ist andererseits, dass die Demokratie zwar die Durchsetzung des Sozialstaats75 begünstigte, indem sie Verteilungskämpfe stimulierte Darauf wies Kurt Schumacher in seiner Dissertation über den Staatsgedanken der deutschen Sozialdemokratie hin, die weit in das 19   Jahrhundert zurückführte 76 Sein positives Staatsverständnis gründete auf der Möglichkeit einer Veränderung von Lebensverhältnissen in Staat und Gesellschaft durch politische Beteiligung Diese relativ optimistische Sicht eines Sozialdemokraten, die im 19  Jahrhundert und in der Revolution 1918 gründete, war allerdings in den fünfziger Jahren des 20  Jahrhunderts nicht mit dem damaligen Selbstverständnis der SPD in Einklang zu bringen Dies erklärt, weshalb Schumacher die Veröffentlichung seiner Arbeit stets ablehnte Diese Episode zeigt, wie sich in der Verfassungsgeschichtsschreibung immer wieder Zukunftsvorstellungen niederschlugen 77 70 71 72 73 74 75 76 77

Hans Boldt, Zum Strukturwandel des Ausnahmezustandes im 1 Weltkrieg, in: Böckenförde (Hg ), Verfassungsgeschichte, 323–337, besonders 325 f Vgl Horst Rabe, Autorität, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  1, Stuttgart 1972, 396 ff Reinhart Koselleck, Volk, Nation, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  7, Stuttgart 1992, 357 ff Volker Sellin, Regierung, Regime, Obrigkeit in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  5, Stuttgart 1984, 361 ff Bernd Wunder, Verwaltung, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  7, Stuttgart 1992, 69 ff Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart/München 2003 Kurt Schumacher, Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, Stuttgart 1973 Gabriele Metzler, Der Staat der Historiker Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945, Berlin 2018

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Auf lange Sicht sind drei Aspekte zu betonen: 1) Zum einen muss verstanden werden, wie es zur Wertschätzung einer Verfassung als Mittel politischer und gesellschaftlicher Integration kam In den rasch berühmt gewordenen „Ideen über Landstände“ hatte Rotteck geschrieben: „Wir waren Baden-Badener, Durlacher, Breisgauer, Pfälzer“, durch die Verfassung aber sei „ein Volk“ mit einem „Gesamtwillen“ und einem „Gesamtleben“ entstanden Die intendierte integrierende Wirkung trat mithin überraschend schnell ein 78 Offen blieb 2), ob Verfassungen in Konflikten mit der Bürokratie oder heftig ausgetragenen Verfassungskämpfen, die auch die Kammern zu spalten vermochten, in der Lage waren, die intendierte integrierende Wirkung zu entfalten Bei der Bewältigung der häufigen Konflikte zwischen Regierung und Landständen bzw der Volksvertretung kam den Wahlen eine ambivalente Funktion zu Denn in den Wahlauseinandersetzungen konnten sich die Konflikte, die die Debatten in den Volksvertretungen geprägt hatten, noch einmal zuspitzen – oder die Regierung konnte gestärkt aus Wahlen hervorgehen, die gleichsam als ein gouvernementaler „Appell“ angelegt worden waren Wahlen konnten die Regierung oder das Parlament stärken, aber auch die Regierung motivieren, ihren parlamentarischen Gegenspieler zu schwächen Auf jeden Fall kam 3) aber der politischen Beteiligung der Wähler als einem Teil der politisch bewussten, gebildeten Öffentlichkeit eine Rolle zu, die die Aktivierung und Politisierung der Stimmungen vorantrieb Vor allem durch die 2 Kammer wurde über das Steuerbewilligungsrecht unmittelbar auf Staatsetats eingewirkt Damit boten sich der Opposition die Möglichkeit zur Verknüpfung politischer Forderungen mit der Bereitschaft, der Regierung in Finanzfragen entgegenzukommen, sie aber auch mit Forderungen unter Druck zu setzen Die Ablehnung ihrer Forderungen konnte in die Ankündigung eines Boykotts wie in Preußen unmittelbar vor der Revolution von 1848 münden Es ging nicht darum, ob in Geldfragen die Gemütlichkeit aufhöre, wie Hansemann im Preußischen Landtag im Sommer 1847 angedeutet hatte, sondern es ging um die Frage, ob und wie sich politische Forderungen der „Gesellschaft“ angesichts der Notwendigkeit staatlicher Finanzierung von Forderungen des Monarchen durchsetzen ließen Das Ergebnis war eine zunehmende Verschränkung der zuvor als getrennt gedachten Sphären von Staat79 und Gesellschaft durch intermediäre Institutionen80, die wie Scharniere wirkten Vor allem nach der Revolution von 1848 wuchs diesen intermediären Institutionen mit den Wahlen, Parteien, Vereinen, Verbänden und der Presse wachsende Bedeutung

78 79 80

Karl von Rotteck, Ideen über Landstände, Karlsruhe 1819, https://books google de/books?id=FEE KAAAAIAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage &q&f=false (Aufruf 20 3 2020) Hans Boldt, Staat und Souveränität IX, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  6, Stuttgart 1990, 138 ff zur „konstitutionellen Souveränität“ Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg ), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976

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zu Über bevorstehende Abstimmungen in den Kammern wurde zunehmend in der Presse81 und in den Assoziationen82 vorausdebattiert, die somit den Gesetzgebungsprozess der Volksvertretungen flankierten Heute werden diese Institutionen als Teil der „Zivilgesellschaft“ verstanden Im 19  Jahrhundert wurden sie zu entscheidenden Faktoren des politischen Formwandels durch gesellschaftliche Beteiligung Mit der Ausweitung der Partizipation begann also nicht nur eine sich in der Zahl der Wahlberechtigten und in wachsender Wahlbeteiligung niederschlagende Demokratisierung, sondern setzte eine qualifizierte inhaltliche Debatte über Politik ein Mit der Öffentlichkeit intensivierte sich im Gleichlauf mit der intensiveren Demokratisierung die politische Kommunikation und stärkte die Versammlungs- und Meinungsfreiheit Zuvor begrenzten Grundrechte als „Abwehrrechte“ staatliche Willkür Nachdem mit der Beschwörung von „Freiheiten“ auch die Entfaltungsrechte hervorgehoben wurden, entwickelte sich im Wechselbezug von Vereinen bzw Fraktionen und Parteien einerseits, von Presse andererseits ein neuer politischer Resonanzraum Innerhalb von vier Jahrzehnten wurde so im Vorfeld der Revolution von 1848 das „monarchische Prinzip“ in immer breiter werdenden Kreisen der Bevölkerung durch das Axiom der Volkssouveränität ersetzt Die Diskussionen über Ziele und Grenzen staatlicher Einflüsse wirkten nicht, wie Konservative befürchteten, zersetzend, sondern integrierend Denn im Zuge der Debatten formte sich gemeinsamer Grundkonsens heraus und schlug sich in gemeinsamen Wertvorstellungen nieder Politische Debatten verlangten überdies Information, manifestierten sich also nicht nur in Petitionen83, sondern in Denkschriften, die sich an die Regierung richteten und in den Industrie-, Handels- und Handwerkskammern Wortführer gesellschaftlicher Interessen- und Bedürfnisartikulation fanden Wahlen klärten Gegensätze und befriedeten eine sich im Zuge der Industrialisierung pluralisierende Gesellschaft, die auch durch Protestbewegungen84 nicht mehr massiv in Frage gestellt werden konnte So gesehen war es geradezu tragisch, dass die integrierende und abklärende Funktion von Wahlen nicht von den gesellschaftlichen „vorindustriellen“ Kräften erkannt wurde, die daran interessiert blieben, Privilegien zu verteidigen Im wilhelminischen Kaiserreich wurde später immer deutlicher, dass Kreise des Adels und auch des Bürgertums durch ihren Beharrungswillen die Voraussetzungen für den Systemwechsel schufen, den sie in der Furcht vor dem „großen Kladderadatsch“ befürchtet hatten 81 82 83 84

Franz Schneider, Presse, Pressefreiheit, Zensur, in: Otto Brunner u a (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd  4, Stuttgart 1978, 899 ff , bes 909 ff Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im 18 und 19   Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann (Hg ), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19  Jahrhundert Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, 1–44 Heinrich Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49 Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980 Heinrich Volksmann (Hg ), Sozialer Protest Studien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen 1986

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Sie konnten in den Wahlkämpfen eigentlich nur innergesellschaftlichen Zerfall erkennen, sahen aber nicht, welche entlastenden Wirkungen der konstitutionelle Parlamentarismus entfaltete, und zudem die Selbststeuerung der Gesellschaft erleichterte Zu spät wurde begriffen, dass Wahlen Proteste und Widerstand, Rebellion und Aufmüpfigkeit nicht nur abschwächten, sondern zu domestizieren vermochten Denn erst jetzt konnten sich gegensätzliche Interessen in der neuen politischen parlamentarischen und publizistischen Arena politischer Kommunikation artikulieren und bündeln Politische Kräfte konnten gemessen werden, Zukunftsentwürfe konfrontativ entwickelt werden Deshalb ließen sich Wahlkämpfe nicht als Manifestation politischer Selbstbezogenheit oder verlorener Gemeinwohlorientierung verzeichnen Viel zu lange litten Wahlen ebenso wie Parteien, die per definitionem als „pars“ oder „factio“ gedeutet wurden, unter abschätzigen Beurteilungen Die Verteidigung des Dreiklassenwahlrechts wurde zur Belastung Um ihre Position zu behaupten, akzeptierten selbst Liberale das Klassenwahlrecht Sie verdrängten unter Berufung auf Besitz und Bildung, dass es liberalen Gleichheitsvorstellungen widersprach und die Spaltung der Gesellschaft vertiefen musste Wenn es auf Reichsebene selbst nach 1871 eine geraume Zeit brauchte, bis die positive Wirkung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts akzeptiert wurde, dann wirkten sich in dieser Hinsicht auch Erfahrungen mit dem Klassenwahlrecht in den Landtagen der Einzelstaaten aus Noch negativer wirkten sich kommunale Interessenkonflikte aus, denn in den Kommunen prallten gegensätzliche Interessen  – etwa zwischen Hausbesitzern und Einwohnern – aufeinander „Minderbürgern“ wurde das Stadtbürgerrecht verweigert, etwa wenn sie nicht Grund- und Hausbesitzer waren Sie waren oftmals nicht einmal wahlberechtigt 85 In den Einzelstaaten entfaltete hingegen oft eine reformbereite Bürokratie, die sich mit Hegel als „allgemeiner Stand“ begriff, eine modernisierende Wirksamkeit Ohne eine Unterstützung durch Vertreter der Bürokratie hätte ein Gelehrter wie Ernst Abbe keine Möglichkeit gehabt, einen weit in die Zukunft weisenden Stiftungsplan zu entwickeln86, und hätte auch der „heimliche preußische Kulturminister“ Friedrich Theodor Althoff87 keine in die Zukunft weisende Forschungs- und Berufungspolitik entwickeln können Hier zeigt sich: Politische Entwicklungen waren immer häufiger das Ergebnis einer pragmatischen politischen Kooperation von Regierungs- und Volksvertretern Jede „konstruktive“ Auflösung von Gegensätzen verdeutlichte, dass Gesellschaft kei-

85 86 87

Peter Steinbach, Lippische Kommunalverwaltung im 19   Jahrhundert, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 42/1973, 58–90 Sebastian Demel / Peter Steinbach, „Keine Wohltaten – besseres Recht“ Ernst Abbe als Wissenschaftler, Unternehmer und Stifter, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 26/2014, 271–293 Bernhard vom Brocke, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutsche Kaiserreich 1882–1907 Das „System Althoff“, Stuttgart 1980; Franz Schnabel, Friedrich Theodor Althoff, in: Neue Deutsche Bibliographie, Bd  1, Berlin 1953, 222–224

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neswegs als hochexplosiver Dampfkessel zu verstehen war, vor allem, wenn Ventile ermöglichten, den politischen Überdruck entweichen zu lassen So gesehen bedurfte es nicht nur eines national-, sondern eines verfassungs- und gesellschaftsgeschichtlichen „Narrativs“ des 19  Jahrhunderts, das sich von der Beschreibung der Verfassungsnormen löste und die Dynamik des Verfassungswandels erfassen wollte Zurückliegende Verfassungskämpfe und Verfassungskonflikte der Vormärzzeit lassen sich dann als entscheidende Stufen demokratischer Fortschrittsgeschichte des 19  Jahrhunderts deuten Sie begünstigten die Kristallisierung neuer parlamentarischer Praktiken und Strukturen Dies bot die Möglichkeit, erfolgreiche und gelungene evolutionäre Veränderungen in das Zentrum zu rücken Damit wurde ein vor allem in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung gepflegtes konkurrierendes Narrativ in den Hintergrund gedrängt, denn ebenso wichtig wie die Pflege der Kampf- und Revolutionserfahrungen könnte die gelungene Bewältigung der möglicherweise drohenden, immer aber als bedrohlich empfundenen revolutionären und evolutionären Entwicklungen des 19  Jahrhunderts sein So würde die evolutionäre und integrierende Wirkung von Verfassungen zunehmend anerkannt, wie es selbst Friedrich Engels in der Einleitung zur Neuauflage der Broschüre von Karl Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich einräumte, als er konstatierte, durch das Wahlrecht stünde ein Instrument des politischen und sozialen Wandels zur Verfügung, das Aufstände wie die der Pariser Kommune als zum Scheitern verurteilt und somit als aus der Zeit gefallen erweise 88 Politische Partizipation durch das Wahlrecht In dem nicht nur im Reich, sondern auch in den Einzelstaaten demokratisch ausgeweiteten Wahlrecht liegt ein wesentlicher Kern des deutschen Konstitutionalismus Wie tief die Wurzeln reichten, zeigen die Untersuchungen zur Vorgeschichte des revolutionären Umbruchs von 1918/19 in der nachfolgenden Aufsatzsammlung In der Regel wurde der Blick zu konzentriert auf das Verhältnis zwischen Volksvertretung und Regierung gerichtet, um zu ermessen, wie weit der liberale, westlich geprägte Parlamentarismus im 19  Jahrhundert vorangeschritten war Die Bedeutung des Wahlrechts wurde dabei erstaunlich gering eingeschätzt und ggf auf die Appellfunktion im Falle eines Konflikts verwiesen 89 Die Frage nach den inneren Reformpotentialen des im Urteil Wehlers halbparlamentarischen und „zeitwidrigen monarchischen Semiabsolutismus“90, wie sie Nipperdey, Zmarzlik und vor allem Rauh betonten, wurde aus 88 89 90

Friedrich Engels, Einleitung (1895), in: Marx-Engels Werke 22, Berlin 1963, 509–527 Vgl Ernst-Wolfgang Böckenförde u a (Hg ), Probleme des Konstitutionalismus im 19  Jahrhundert (Der Staat, Beiheft 1), Berlin 1979 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, 63

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diesem Blickwinkel unterschätzt Erst in den sechziger Jahren hatten Historiker begonnen, den angeblichen „deutschen Sonderweg“ der deutschen Verfassungsgeschichte zum Thema zu machen 91 Zunächst wurden dabei politisch-pädagogische Ziele einer politischen Erziehung zur Demokratie verfolgt Später knüpften Historiker an sozialwissenschaftliche Fragestellungen an und übernahmen soziologische Modelle der Modernisierungsforschung 92 Allerdings gehörte es dabei zu den verbreiteten Topoi, den vorindustriellen Eliten ein Versagen anzulasten Historiker unterstellten den Politikern des 19  Jahrhunderts Versäumnisse, schließlich Versagen und schrieben ihnen die Verantwortung dafür zu, dass der „Weg nach Westen“ so spät eingeschlagen wurde 93 Vor allem in der deutschen Geschichtswissenschaft galt der Konstitutionalismus als Ausdruck eines verweigerten und selbst um den Preis eines Präventivkrieges verteidigten Bollwerks gegen den westlichen Parlamentarismus Die sich am Konzept des Nationalstaates orientierenden Deutungen der deutschen Geschichte als eines angeblich „unvollendeten“94 und „verspäteten“95 Nationalstaats (Plessner) wurden erschüttert, als in der Auseinandersetzung mit der preußisch dominierten Reichsgeschichte, wie sie noch Hans-Ulrich Wehler vertrat, regionalspezifische „Sonderentwicklungen“ nicht mehr als Abweichung von einem normativ überhöhten „preußischen“ Entwicklungskonstrukt, sondern als regional- und landesspezifische historische Variation akzeptiert wurden, die ihre Rechtfertigung in den unterschiedlichen und zuvörderst süd- und mitteldeutschen landesgeschichtlichen Verfassungsentwicklungen fand 96 In dieser Debatte wurde Anfang der achtziger Jahre deutlich, dass die preußische Geschichte von der borussisch-deutschen Geschichtsschreibung zu lange ebenso überschätzt worden war 97 Dies war Ausdruck der traditionellen Orientierung an der preußisch-deutschen Reichsgeschichte 98 Die Erosion dieses Grundverständnisses hatte Konsequenzen für die einzelstaatliche Verfassungsgeschichte Nun erschlossen sich landeshistorische Entwicklungsalternativen, die sich nicht mehr als Abweichun-

91 92 93 94 95 96 97 98

Karl Dietrich Bracher (Hg ), Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität?, München 1982 (= Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte) Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975 Besonders programmatisch schlug sich dies in einem Sammelband nieder: Michael Stürmer (Hg ), Das kaiserliche Deutschland Politik und Gesellschaft 1870–1918, Düsseldorf 1970 Theodor Schieder, Das Deutsche Reich von 1871 als Nationalstaat, Köln/Opladen 1961 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959 Dieses Buch erschien zuerst Zürich 1935 unter dem Titel Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche David Blackbourn / Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung, Berlin 1980 Margaret Lavinia Anderson, Ein Demokratiedefizit? Das Deutsche Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 44/2018, 367–398 Exemplarisch Fritz Hartung, Deutsche Geschichte vom Frankfurter Frieden bis zum Vertrag von Versailles, 3  Aufl Bonn/Leipzig 1930, veränderte (und angepasste) 6  Aufl Berlin 1952

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gen oder Sonderentwicklungen bezeichnen ließen, sondern belegten, welche verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen bisher übersehen worden waren Normgebend blieb so nur unter Einschränkungen bis weit in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine letztlich auf Preußen bezogene nationalstaatliche Grundkonzeption, die zuvor in den sechziger Jahren durch die britische Entwicklung idealtypisch überhöht worden war Thomas H  Marshall99 etwa vertrat die These, innergesellschaftliche Konflikte hätten sich in den europäischen Gesellschaften und Systemen vor allem verschärft, wenn der Anspruch breiter Bevölkerungskreise auf die Zuerkennung eines weitgehenden Bürgerrechts umstritten gewesen sei, deren Partizipation von den weiterhin dominierenden Eliten abgelehnt wurde Die Ansprüche der Kreise, die auf eine Ausdehnung des Wahlrechts hindrängten, hätten sich dabei auf Rechtsgleichheit, auf die Ermöglichung weitgehender politischer Beseitigung von Vorrechten und schließlich die Durchsetzung sozialer Sicherheit bezogen Kern der Ansprüche sei dabei die expandierende Vorstellung einer weitergehenden Volkssouveränität gewesen, deren Institutionalisierung auch im Deutschen Bund durch das Wahlrecht, die Gesetzgebungskompetenz der gewählten Repräsentativkörperschaften und schließlich im Zuge der Etablierung einer Regierung in der Staatslehre des Vormärz100 erfolgt sei Erst die Institutionalisierung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung und Parlamentarisierung hätten in Verbindung mit dem Wahlrecht eine politische Konsensbildung der Gesellschaften im Übergang vom monarchischen Prinzip zur vollen Anerkennung der Volkssouveränität ermöglicht 101 Abgeschlossen wurde diese Entwicklung erst mit der Einführung des Frauenwahlrechts 102 Neben dem die britische Entwicklung betonenden Entwicklungskonzept Marshalls ist weiterhin das von Ernst-Wolfgang Böckenförde vorgeschlagene, auf Deutschland konzentrierte Problemtableau zu beachten Es richtet den Blick allerdings weiterhin vor allem auf die preußische103, weniger auf die vielfältigen einzelstaatlichen deutschen Entwicklungen Böckenförde, der sowohl von Franz Schnabel wie von Carl Schmitt geprägt war104, sah in der Lösung der nationalen, der konstitutionellen und der sozialen Frage die wichtigste Voraussetzung für die preußisch-deutsche Entwicklung der verfassungsgeschichtlichen Moderne, die sich durch die Trias von National-, Verfas-

99 Thomas Humphrey Marshall, Class, Citizenship, and Social Development, New York 1964 100 Vgl Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975 101 Peter Graf Kielmansegg, Volkssouveränität Eine Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität, Stuttgart 1977 u 1994 102 Hedwig Richter  / Kerstin Wolff (Hgg ), Frauenwahlrecht Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018 103 Vgl etwa exemplarisch Rainer Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt und das konstitutionelle System des Kaiserreichs, in: Böckenförde (Hg ), Verfassungsgeschichte, 208–231 104 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht Aufsätze von Ernst-Wolfgang Böckenförde Biographisches Interview von Dieter Gosewinkel, Berlin 2011, 333 ff und 359 ff

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sungs- und Sozialstaat charakterisieren lässt 105 Diese bei ihm sichtbar werdende Fokussierung auf Preußen wird durch die Einzelstudien dieses Schwerpunktes korrigiert Dennoch stellt sich die Frage, wie Einzelbefunde vergleichend einzuordnen sind Eine Interpretation darf nicht nur durch Einzelstudien bestimmt werden, sondern gewinnt durch eine vergleichende Einordnung Dies setzt allerdings einen qualitativen Vergleichsmaßstab voraus Bei dessen Entwicklung kann sich ein Blick auf sozialwissenschaftlich-historische Entwicklungskonzeptionen als sinnvoll erweisen Die Realisierung der von Böckenförde akzentuierten Herausforderungen und Ziele bildete in ähnlicher Weise den Kern eines Ansatzes, den historisch orientierte Sozialwissenschaftler um eine amerikanische Forschergruppe am MIT „political development“ nannten Sie konzentrierten sich auf die Erforschung der entstehenden modernen Gesellschaft und untersuchten gesellschaftliche Sektoren, die den transitorischen Wandel der traditionalen, als „vormodern“ bezeichneten Gesellschaft im Zuge ihrer Modernisierung zur ‚Leistungsgesellschaft‘ erklärten Political Development und Modernisierung wurden in den sechziger Jahren synonym verwendet Gegenüber dem Konzept einer Orientierung von Entwicklungskonzepten am westlichen Modell einer Modernisierung wurden die Ansätze von Sozialwissenschaftlern seit den 70er Jahren modifiziert, handelt es sich bei diesem Ansatz doch um ein gleichsam amerikanisiertes Entwicklungsmodell Diese Kritik hatte eine Modifikation zur Folge Man sprach neutral von sozialem Wandel 106 Inhaltlich betrachtet aber hatte der Versuch, konzeptionell den Übergang zur „modernen“ Leistungs- und Beteiligungsgesellschaft zu erfassen, seine bisherige Erklärungskraft nahezu vollständig verloren Wenn wir heute in verfassungsgeschichtlichen Analysen auf die Bedeutung von Bildung, von Parteien und Massenmedien, auf die Rolle der Bürokratie und des Militärs als Modernisierungsfaktoren blicken, so zeigt sich, dass die kritischen Diskussionen über das Modernisierungskonzept dessen Bedeutung nicht grundlegend erschüttern konnten 107 Unter dem Einfluss von Stein Rokkan108 und Charles Tilly109 intensivierte sich sogar noch einmal das Interesse an Prozessen des politisch-sozialen Wandels So wurden nicht nur Entwicklungsmodelle konzipiert und Theorien formuliert, sondern historische Entwicklungen kleinräumig betrachtet und typisiert Im Zuge einer vergleichenden Analyse wurden „Sonderwege“ und „Pfadabhängigkeiten“ nicht mehr allein 105 106 107 108 109

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Einführung – Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19  Jahrhunderts, in: ders (Hg ), Verfassungsgeschichte, 13–26, hier 15 Hans-Peter Müller / Michael Schmid, Sozialer Wandel, Frankfurt/M 1995 Mario Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland als historisch-soziologisches Problem, in: ders , Demokratie in Deutschland Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, 11–24 Vgl Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora, Frankfurt/M 2000 Charles Tilly, The formation of national states in Western Europe, Princeton 1975

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nationalstaatlich, sondern auch regional differenzierend erfasst Diesem Ansatz kam entgegen, dass „politische Kultur“ nicht mehr kategorial ‚definiert‘, sondern genetisch und kleinräumig analysiert wurde Dabei zeigt sich, in welchem Maße politische (Teil-)Kulturen historisch geprägt waren Ältere Konfliktstrukturen ließen sich jederzeit, etwa in Wahlkämpfen, neu beleben Für versteinert gehaltene Konflikte wurden so wieder aktualisiert In ihnen schlugen sich nicht selten zurückliegende, jederzeit neu zu belebende Verfassungskonflikte und Erfahrungen nieder 110 Der norwegische Sozialwissenschaftler Stein Rokkan entwickelte in den fünfziger und sechziger Jahren des 20  Jahrhunderts ein Schwellenmodell politischer Entwicklung, entdeckte das Spannungsverhältnis zwischen Peripherien und Zentren und formulierte zugleich ein wichtiges Grundmuster für das Verständnis von politischen Trennungslinien („cleavages“) und damit von politischen Konfliktstrukturen Sie waren durch vergangene Konflikte zwischen Konfessionen, dem Spannungsverhältnis von Stadt (Zentrum) und Land (Peripherie) und durch den Gegensatz von Arbeit und Kapital geprägt 111 Rokkan kombinierte sein Stufenmodell im Austausch mit historisch orientierten Sozialwissenschaftlern wie Reinhard Bendix, Karl W Deutsch und Talcott Parsons mit Krisenmodellen, die darauf zielten, die Erhöhung von Anpassungskapazitäten von Staat und Gesellschaft im Prozess historischer Modernisierung zu erklären 112 Grundlegende Konfliktstrukturen waren nicht nur durch die erwähnten Stadt-Land-Gegensätze oder durch konfessionelle und soziale Ausgangsbedingungen geprägt, sondern auch durch die Erfahrungen, die fast immer in Verfassungskonflikten entstanden waren und sich sogar in „partiellen Modernisierungen“113 niederschlagen konnten Die Vorstellung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erlaubte es, Entwicklungsverzögerungen nicht mehr als Abweichungen, sondern als Tatsachen hinzunehmen, die zu erklären, weniger zu bewerten waren Die flexibleren Ansätze historisch orientierter Sozialwissenschaftler erlaubten schließlich, vergangene Konflikte mit gegenwärtig nachweisbaren politischen Gegensätzen zu verbinden Dabei zeigten insbesondere konfessionelle Konflikte, dass politisch-kulturelle Gegensätze noch lange nach den eigentlichen Auseinandersetzungen virulent bleiben konnten und jederzeit neu zu beleben waren Diese Nachgeschichte vergangener Konflikte war nicht selten die Folge früherer Unrechtserfahrungen, die im Bewusstsein der Zeitgenossen und ihrer Nachfahren unvergessen blieben Gerade im Konflikt mit

110 111 112 113

Peter Steinbach, Die Zähmung des politischen Massenmarktes Wahlen und Wahlkämpfe im Bismarckreich im Spiegel der Hauptstadt- und Gesinnungspresse, 3 Bde , Passau 1990; ders , Die Politisierung der Region Reichstags- und Landtagswahlen im Fürstentum Lippe 1866–1881, 2 Bde , Passau 1989 Vgl Stein Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten und Nationenbildung Modelle und Methoden, in: Wolfgang Zapf (Hg ), Theorien des sozialen Wandels, Köln/Berlin 1970, 228–252 Vgl Reinhard Bendix, Die vergleichende Analyse historischer Wandlungen, in: ebd , 177–187; Karl W Deutsch, Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung, in: ebd , 329–350 Dietrich Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: ebd , 382–396

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dominierenden Obrigkeiten wurde erinnert, wie wichtig die Verteidigung politischer Zugangsrechte gewesen war Konsolidierung von Demokratie und Parlamentarismus Von zentraler Bedeutung blieben in den folgenden Jahrzehnten die auf kommunaler Ebene und in den deutschen Ländern umkämpften Wahlrechtsbestimmungen Besonders deutlich wurde dies in Sachsen Wenn es richtig ist, dass „der Kampf um die Repräsentation immer ein Kampf um die politische Macht ist“114, dann wird verständlich, weshalb der Kampf um das Wahlrecht immer neu entbrennen musste Denn es ging nicht nur um die Partizipation, sondern auch um Bewahrung von Besitzständen Das Wahlrecht regelte den Zugang zum unmittelbaren politischen Einfluss, mithin die Mitbeteiligung immer breiterer Bevölkerungskreise an gesamtstaatlicher Zielbestimmung und beeinflusste deshalb die Machtverteilung innerhalb der Kommunen und Provinzen, spektakulär in den Landtagen Zugleich aber blieb das Wahlrecht fragmentiert, denn immer wurden durch unterschiedliche Zugangsschwellen Gruppen ausgeschlossen: die Mittellosen, die angeblich Ungebildeten, die Soldaten, die Frauen, die Jüngeren, ganz zu schweigen von den Verzerrungen des Stimmgewichtes durch die unverändert gebliebenen Wahlkreise, die das Gewicht der Wählerstimmen beeinflussten und die Forderung des Verhältniswahlrechts begründeten In den preußischen Wahlrechtsdebatten wurde nach der Jahrhundertwende deutlich, welche Brisanz diese Frage barg 115 Denn aus der Kritik am Dreiklassenwahlrecht entwickelte sich die Massenstreikdebatte und eine Boykottforderung, die nicht zuletzt die Legitimationsfrage aufwarf und zuspitzte In den Einzelstaaten wurde bis 1918 nach einem Dreiklassenwahlrecht gewählt, das Einkommen, Steuerlast und Bildung, in einzelnen Staaten auch Standeszugehörigkeit berücksichtigte Noch verwickelter war das kommunale Wahlrecht, denn es war an das Bürgerrecht, an den Ausschluss von Bedürftigkeit, zudem oftmals an Steuerkraft und Eigentum gebunden 116 Heeresangehörige, die unter der Fahne standen, hatten kein aktives Wahlrecht Wie die Konflikte um die Ausweitung der Wahlrechte auf kommunalen Ebenen, die Wahlrechtskonflikte in den Einzelstaaten und die Verteidigung des an Einkommen Steuerkraft u a gekoppelten Privilegien aufgelöst wurden, wie schließlich die weniger von Bildung als von der Klassenzugehörigkeit abhängige Wahlrechtsausweitung zeigte, genügte es nicht, die Untertanen durch dynastische Anhänglichkeit

114 115 116

Carl Schmitt, Verfassungslehre, 5 Aufl , Berlin 1970, 212 Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009 Allg Richter, Moderne Wahlen

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zu integrieren Irgendwann waren Zugeständnisse wichtiger als wie auch immer geschürte Emotionen der Staatsgesinnung Ebenso wichtig wie das stets umstrittene und umkämpfte Wahlrecht war nach 1870/71 die allmähliche Herausbildung der Parlaments- und der Verfassungspraxis Dabei ging es nicht wie in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik um das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsnorm, Verfassungsanspruch und Verfassungspraxis, sondern um die nicht selten sich pragmatisch ergebende Verschiebung politischer Kräfteverhältnisse innerhalb der Vertretungskörperschaften Immer wieder versuchte in der Bismarckzeit die Regierung, das Haushaltsbewilligungsrecht als das parlamentarische Königsrecht zu beschränken oder durch Dehnung der eigentlich auf jährliche Bewilligung angelegten allgemeinen Haushalte die Konflikte durch die Einführung eines speziell durch Rüstungsfinanzierung und Ersatzbedarf bestimmten Septennats und Quinquennats zu verschieben Neben die manipulative Schwächung des Einflusses der Wahlberechtigten und die Disziplinierung der Abgeordneten bis hin zur Andeutung eines Staatsstreichs117 und einer damit zusammenhängenden Wahlrechtsänderung trat der Versuch, dem Parlament Verfügungsrechte zu entziehen, ggf  – wie im preußischen Verfassungskonflikt – sogar ohne Haushalt zu regieren und die Pattsituation durch den Appell an die Wählerschaft im Zuge von Neuwahlen aufzulösen Eine Folge dieser Konflikte zwischen Opposition und Regierung lag in der Aktivierung der Wähler auf der einen, in der Politisierung der Staatsverwaltung auf der anderen Seite Die staatliche Bürokratie verlor in diesen Auseinandersetzungen zunehmend ihren Nimbus der Überparteilichkeit Die Gegner der Regierung wurden im Zuge des „innenpolitischen Kampfkurses“118 als Staatsfeinde, als Ultramontane, als Anarchisten diffamiert Innenpolitische Frontstellungen prägten das Wahlverhalten, das nun auch die Möglichkeit des politischen Protestes eröffnete Liberale, Katholiken, Sozialdemokraten, aber selbst die Konservativen oder die Vertreter spezieller Interessen wie Schutzzöllner, Anhänger des Freihandels, später dann Befürworter des Mittellandkanals oder Gegner einer Hochseeflotte oder Gegner der Kolonialpolitik wurden als antigouvernementale Kräfte bekämpft und aus dem national-gouvernementalen Konsens ausgeschlossen, entwickelten zugleich aber auch neues politisches Selbst- und Machtbewusstsein Das geschah jedoch nicht ohne Gegenwirkungen Wolfgang Sauer nennt die durch Konflikte forcierte „sekundäre Integration“ geradezu einen „Kern der Verfassungswirklichkeit des Bismarckreiches“119 Diese überraschende Formulierung sieht in der gelungenen Integration unterschiedlichster politischer Bestrebungen und Kräfte in

117 118 119

Michael Stürmer, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: HZ 209/1969, 566–615 Wolfgang Sauer, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg ), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln/Berlin 1966, 407–436, hier 432 Ebd , 435

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die Willensbildung des Reichstags als der Repräsentation der Nation einen Ausdruck der Bewältigung von Identifikations- und Partizipationskrisen Im Reichstag erfolgte, ebenso wie Jahrzehnte zuvor in den südwestdeutschen Landtagen, die Herausbildung einer alltäglichen Praxis politischer Diskussion, Kommunikation und Abklärung von differierenden Positionen im Zuge einer Willensbildung Dies ermöglichte politische Entscheidungen mit gesamtgesellschaftlicher Verbindlichkeit und gesamtstaatlicher Bedeutung Damit war am Vorabend des Weltkrieges die Grundlage eines gemeinsamen politischen Wollens und Handelns gelegt Mit der Beteiligung von mehr als 80 % der Wahlberechtigten mussten sich stufenweise neue Vorstellungen von Legalität und Legitimität herausbilden und stellte sich eine Identifikation mit Staat und Gesellschaft ein Hatte sich damit aber wirklich, wie Sauer vermutet, die „Reichsgründung“ als „Prozeß der Zähmung“ herausgestellt? Nicht erst nach dem Krieg, sondern in den Kriegsjahren zeigte sich, dass sich neue politische Praktiken entwickelten, die sich primär nicht mehr gegen den Staat richteten, sondern staatliche Institutionen zur Daseinsgestaltung nutzen konnten, weil staatliche Strukturen beeinflussbar geworden waren Dieser Anspruch schlug sich in der Verbreitung des „Volksbegriffs“ nieder, der sich in vielen Zeitungstiteln manifestierte, mit dem antielitären Anspruch immer aber auch den der Selbstermächtigung und Selbstbeteiligung an politischen Grund- und Gestaltungsfragen in sich barg Nun zeigte sich, dass es sich im Kern bei vielen Verfassungs- und Wahlrechtskonflikten um eine Transformation auf eine Demokratisierung von Staat, Verwaltung und Gesellschaft hin gehandelt hatte Mit der Entstehung von Volksvertretungen in den deutschen Ländern war seit der ersten Hälfte des 19   Jahrhunderts der Wandel des deutschen Konstitutionalismus nicht mehr aufzuhalten gewesen Demokratisierung und Parlamentarisierung schritten, wie Max Weber betonte, fort Diese Veränderungen waren niemals allein Folge der „Revolution von oben“120, sondern zugleich landeshistorischer Konflikte In Sachsen verlor die dortige Regierung durch Wahlrechtskämpfe, die sie defensiv und engherzig führte, an Rückhalt Sozialdemokraten setzten sich hingegen in den Reichstagswahlen durch und eroberten viele Sitze Sie machten dadurch deutlich, dass die Nationalliberalen einen auf lange Sicht vergeblichen Kampf um die Verteidigung von Besitz und Einfluss führen mussten 121 In Bayern zeichneten sich Tendenzen einer konservativen Parlamentarisierung ab 122 Baden blieb durch einen heftig ausgetragenen Kulturkampf geprägt, in Württemberg gelang es den Monarchen nicht, ihre Autorität zu festigen und in Gestaltungs-

120 Ebd , 423 ff 121 Vgl dazu den Beitrag von Ulf Morgenstern 122 Vgl dazu den Beitrag von Ferdinand Kramer

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einfluss zu verwandeln 123 Die Anerkennung der preußischen Monarchie wurde durch den Starrsinn des konservativen Adels, durch eine kaum verhohlene Bereitschaft zur Sozialdefensive der alten Eliten und schließlich durch die nicht von allen nachvollziehbare imperiale Proklamation von „herrlichen Zeiten“ durch Wilhelm II behindert Aber auch in den mitteldeutschen Staaten war zuvor eine Mischung aus Bewegung und Beharrung spürbar Mit der Revolution von 1848 trat ein geradezu rapider Wandlungsschub ein, der anschließend wieder ausgebremst wurde, aber nicht völlig zurückgedreht werden konnte 124 Ähnliche Oszillationen zwischen Verharren und Fortschritt charakterisierten die hessischen Ausgangsbedingungen der republikanischen Demokratisierung und markieren einen Grundzug dieser Epoche 125 Der wichtige Schub ging dann vom Deutschen Reichstag aus, um den sich die Erfahrungen mit dem Parlamentarismus im Bismarck- und wilhelminischen Reich konzentrierte Nachdem Bismarck entlassen worden war, genossen dessen Nachfolger kein vergleichbares Ansehen und konnten die Reichstagsverhandlungen von Legislaturperiode zu Legislaturperiode weniger prägen Immer deutlicher wurde überdies der Einfluss der Interessenverbände Auch nahm die Zahl der Fraktionen zu Kooperation verlangte lediglich das Wahlrecht, denn in der wachsenden Anzahl von Stichwahlen mussten sich Wähler immer häufiger zwischen „kleineren Übeln“ entscheiden Auf der parlamentarischen Ebene fanden eine regierungskritische Politisierung und Konfrontation statt Debatten kritisierten mit wachsender Heftigkeit die Tendenzen wilhelminischer und imperialistischer Politik, wie die Zabern-Krise126, die Kolonialdebatten und sogar die Kritik an Interviews zeigten, die Wilhelm II unbedacht britischen Presseorganen gewährt hatte Nicht zuletzt trugen die Fortsetzung des antisozialdemokratischen Kampfkurses und die Unterscheidung zwischen Reichsfeinden und regierungstragenden Kräften weiterhin zur Delegitimierung des Kaiserreichs bei, das durch Schlagworte wie Byzantinismus, Cäsarismus und Bonapartismus charakterisiert wurde127 und schließlich sogar Ludwig Quidde veranlasste, seine Kritik am wilhelminischen Byzantinismus durch einen Vergleich zwischen dem cäsarenwahnsinnigen römischen Kaiser Caligula128 und Wilhelm II anschaulich zu machen

123 124 125 126

127 128

Vgl dazu den Beitrag von Michael Kißener Vgl dazu den Beitrag von Stefan Gerber Vgl dazu den Beitrag von Walter Mühlhausen Hans-Ulrich Wehler, Der Fall Zabern Rückblick auf eine Verfassungskrise des wilhelminischen Kaiserreichs, in: Die Welt als Geschichte 23/1963, 27–46 Vgl ders , Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems  – Der Fall Zabern von 1913/14, in: ders (Hg ), Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918 Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, 65–83 Frank Bösch, Grenzen des „Obrigkeitsstaates“ Medien, Politik und Skandale im Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hgg ), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2008, 136–152 Ludwig Quidde, Caligula Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, Leipzig 1894

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Auch hier schliffen sich die Grenzen ab, zum einen als Folge des wirtschaftlichen Wandels, der räumliche und soziale Mobilität forcierte, zum anderen durch das Überschreiten der Barrieren, die das Klassenwahlrecht bildete Denn um die Jahrhundertwende wurden immer häufiger Sozialdemokraten in die Landtage der deutschen Länder gewählt, zuweilen sogar in der 2 Klasse Als 1908 erstmals ein Sozialdemokrat in den preußischen Landtag gewählt wurde, hatten sich im Reichstag längst in Ausschüssen pragmatische Kooperationen über Fraktionsgrenzen hinweg herausgebildet Gerade der Blick auf die Verfassungsgeschichte der Jahrzehnte bis zur Gründung des Deutschen Reiches macht deutlich, dass sich sowohl Kontinuitäten als auch politische Umbrüche auswirkten Das zeigte sich sogar im November 1918, als die Frage debattiert wurde, ob der deutsche Reichstag im Zuge der Novemberrevolution außer Funktion gesetzt worden sei oder ob es ersatzweise andere Ansatzpunkte für eine Übertragung der ursprünglichen Legitimität der Nationalvertretung gäbe Das monarchische Prinzip wurde nur noch von Legitimisten beschworen Ihre Vorbehalte belasteten die Republik, weil sie nach wie vor entschlossen das bereits im 19  Jahrhundert weitgehend anerkannte neue Legitimitätsprinzip ablehnten, die „Volkssouveränität“ Sie konnten nicht akzeptieren, dass sich der Grundsatz, dass alle politische Gewalt vom Volke ausginge, sich mit der Revolution von 1918 endgültig als bestimmendes Prinzip für die Anerkennung politischer Legitimität durchgesetzt hatte Es bekam Verfassungsrang und manifestierte so den endgültigen Untergang der Dynastien Der politische Umbruch, der sich mit der Novemberrevolution ereignete, mündete erstaunlich schnell in eine verfassungspolitische Konsolidierung Die Einführung eines neuen, als gerecht empfundenen Verhältniswahlrechts vollzog sich nach der Kritik an der Wahlkreiseinteilung bei den Reichstagswahlen und nach der Infragestellung des Dreiklassenwahlrechts in Gemeinden und Landtagswahlen aller Bundesstaaten ebenso selbstverständlich wie die Einführung des Frauenwahlrechts Die neue Selbstverständlichkeit drückte sich in den erstaunlich niedrigen Wahlbeteiligungsraten bei den Landtagswahlen aus, die das neue Verhältniswahlrecht übernahmen Deshalb wurden die neuen Landtage aber nicht bedeutungslos Zum einen bewahrten sie viele der politischen Erfahrungen, die auf das 19  Jahrhundert verwiesen, zum anderen manifestierte sich in ihnen auf nicht zu übersehende Weise eine Kontinuität, die von den retrospektiven Kritikern der Weimarer Reichsverfassung aufgegriffen, nicht selten aber, wie in Preußen, in Baden und Württemberg, Hessen und in den Hansestädten als Grundlage der politischen Stabilität praktiziert und verteidigt wurde Die heftigen reichspolitischen Gegensätze wurden in den Ländern nicht selten entschärft Die neue Reichsverfassung war zu einem guten Teil auch das Ergebnis gemachter Erfahrungen, die auf die regionale Geschichte der Verfassungskonflikte und der Verfassungspraxis verwiesen Die Stabilität der ersten deutschen demokratischen Republik hing in wesentlichem Maße von der politischen Stabilität der Verhältnisse in den Ländern ab Dass Preußen einmal zum Bollwerk der Demokratie hätte werden können, war im 19  Jahrhundert nicht vorstellbar, so wenig, wie die Rolle, die kleine Länder wie Thü-

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ringen, Braunschweig oder Oldenburg in der Endphase des Übergangs von der Republik in die nationalsozialistische Diktatur spielten Dass die demokratische Basis in den Ländern widerstandsfähiger war, als es dann später in der Geschichtsschreibung herausgearbeitet werden konnte, ist hingegen nicht zu bestreiten Das zeigte sich in der Debatte über die Reichsreform, über die Versuche, Preußens Gewicht im Reich neu auszutarieren Dass nach 1945 die Demokratie neu von unten nach oben vordringend begründet werden konnte, machte deutlich, dass die demokratische und partizipatorische Substanz Wirkung zu entfalten vermochte und Voraussetzung für eine föderative Neuordnung schuf Nicht vorstellbar war, dass das demokratische Prinzip plebiszitär ausgehöhlt werden könnte, wie es dann nach 1933 geschah Damit war zugleich auch der Rechts- und Verfassungsstaat zerstört worden So endete ein langer Weg, den Verfassungshistoriker mit der Magna Carta von 1215 beginnen ließen Dieser Prozess ist niemals beendet Und auch heute ist er nicht an seinen Endpunkt gekommen, denn inzwischen wird debattiert, wie sich Verfassungsnormen und -deutungen auf die informationelle Selbstbestimmung oder das Recht zum Suizid, auf Kinder- und Tierrechte129 oder die menschenwürdige Gestaltung der Umwelt (Art 20a GG) auswirken Verfassungsdebatten klären also weiterhin das politische Grund- und Selbstverständnis eines Staates und einer Gesellschaft Deshalb bleiben sie dynamisch, brisant, grundsätzlich unabgeschlossen Seit dem 18  Jahrhundert zeigt sich: Immer wurde das Verfassungsrecht politisiert, immer begründeten Revolutionen neue Ordnungsvorstellungen; immer schufen und zerstörten Umbrüche bestehende Regierungssysteme Immer veränderten sie Wertvorstellungen Sie rückten, um noch einmal an Reinhard Koselleck anzuknüpfen, Erfahrungs- und Erwartungshorizonte immer in neue spannungsgeladene und politisch fruchtbare Konflikte, die sowohl die Deutung der Vergangenheit als auch die Konturierung der Zukunft betrafen Mochten sich Ziel und Wertvorstellungen dabei auch wandeln, so wurde doch immer wieder deutlich: Verfassungen zielten niemals allein auf eine Geschäftsordnung des Regierens und der Gesetzgebung, sondern sie dienten der Stabilität eines Gemeinwesens im Wandel und der Berechenbarkeit politischer Verfahren durch Effektivierung der Verwaltung und durch Integration Waren Leistungsverwaltung und Daseinsvorsorge gesichert, boten Partizipation und Integration Möglichkeiten einer Identifikation der Bevölkerung mit dem politischen System Dies zeigte sich zuletzt noch einmal 1990 nach dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung Integration sichert gesellschaftliche Rahmenbedingungen des sozialen Wandels, ermöglicht die Modernisierung von Staat und Gesellschaft und hat nur dann Bestand, wenn es gelingt, die Optimierung einer politischen und gesellschaftlichen Steuerung durch die Anpassung an neue Herausforderungen zu befördern Vor

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Elke Diehl / Jens Tuider (Hgg ), Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-TierBeziehung, Bonn 2019

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der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 fand im Sommer 1990 die Neubildung fünf neuer Länder auf dem Gebiet der ehemaligen DDR statt Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung zeigte sich, welche Beharrungskraft landeshistorische Traditionen bewahren und wie rasch diese wiederbelebt werden konnten Peter Steinbach, geb 1948, Studium der Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft in Marburg, Staatsex 1972, Promotion (bei G Oestreich) 1973 (Marburg), Doppel-Habilitation 1978 (FU Berlin) für Neuere Geschichte und Politikwissenschaft, 1980 Heisenberg-Stipendiat der DFG, 1982–92 Professor für Historische und theoretische Grundlagen der Politik an der Universität Passau, seit 1983 wissenschaftlicher Leiter der ständigen Ausstellung „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ in Berlin, seit 1989 wiss Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin, 1992–2001 ord Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Freien Universität Berlin und Leiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte an der FU Berlin, seit dem Wintersemester 2001 ord Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Karlsruhe (TH), 2007–2013 Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II (Zeitgeschichte) Universität Mannheim

Konstitutionelle „Musterländer“ Baden und Württemberg Michael Kißener Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 47–65

Abstract: The southwest of Germany, especially the states of Baden and Württemberg, were considered as “liberal model states” for more than a hundred years, already granting their population a high level of political participation in the 19th century Looking at their regional constitutional history might therefore help to understand why the transition into a new democratic order in 1919 took place in these states in quite an uncomplicated way despite the end of World War  I and revolutionary turmoil all over Germany Baden’s territorial growth during the Napoleonic era had required modernization and reform in order to integrate the new regions and inhabitants and to meet the state’s financial problems caused by more than a decade of war Limiting his own sovereignty, grand duke Charles Frederick imposed a liberal constitution in 1818 under which two chambers were constituted and their assent declared necessary for legislation and taxation Being more self-confident than its counterpart in Baden, the Württemberg diet did not accept the constitution imposed by king Frederick I and fiercely fought for negotiating the constitution In 1819, Frederick’s successor William I and the diet finally agreed on a constitution which ensured civil rights and reflected the liberal spirit of the age Both constitutions did neither mean parliamentary government nor democracy as we understand them today However, they were a historic political turning point, indicating the transition to modernity while creating the modern constitutional state with its essential features In the course of the 19th century, the opportunities of political participation for the citizens of Baden and Württemberg increased, making elected deputies no longer representatives of their estates but representatives of the whole people After a constitutional revision in 1905, Baden had the most modern male suffrage (universal, direct, secret) in Germany Their liberal constitutions had a deep impact on the political culture of Baden and Württemberg in the 19th century, resulting in high voter turnouts, constitution day celebrations, and the foundation of liberal clubs and associations The constitutions of 1919 were the result of a revolution following Germany’s humiliating defeat in World War I While the situation escalated at the national level, responsible politicians of all parties managed to prevent revolutionary

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radicalization in Baden, jointly drafting a new constitution in November 1918 In March 1919, the people of Baden adopted the constitution by a large majority, thus establishing a parliamentary government In Württemberg, the government was able to quell a short Spartacist uprising in Stuttgart In April 1919, the constitutional assembly agreed on a modern, democratic constitution Their constitutions made Baden and Württemberg modern, parliamentary, and democratic republics Due to these constitutions, both states had considerable influence on the national Weimar Constitution In 1919, the liberal dream of the 19th century became true in Baden and Württemberg Both modern constitutions, taking up the ideas of their predecessors of the 19th century, were never seriously questioned, making Baden and Württemberg stable states that remained loyal to the Weimar Constitution until the end Being associated with the defeat in World War I, even the successful constitutions of Baden and Württemberg were not suitable as fierce founding narratives of a democracy, though In addition to that, political extremism at the national level and the missing support of relevant social groups led to the disintegration of political culture In the years of crisis, the new democratic order of the year of 1919 lost more and more adherents even in Baden and Württemberg However, relevant remnants of the liberal and democratic culture even remained there during the time of the “Third Reich”, as can be seen in direct comparison with the situation in northern Germany Therefore, it seems to be a historical “injustice” that the constitutions of Baden and Württemberg nearly fell into oblivion after the end of the Nazi dictatorship and were hardly used for a new democratic beginning

Über Verfassungen und Verfassungsrecht als Grundlage des modernen Staates, als Integrationsinstrument für die Gesellschaft und Voraussetzung für eine breite politische Teilhabe der Bevölkerung brauchte man in Baden und Württemberg 1919 wohl kaum einen verantwortlichen Politiker zu belehren 1 Über ein ganzes Jahrhundert hinweg hatte der Südwesten des Reiches und namentlich Baden als das „liberale Musterland“ gegolten, in dem die Verfassung einen außerordentlichen Stellenwert besessen hatte Wer verstehen will, warum es 1919 hier schon früh und vor Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung relativ unkompliziert und rasch trotz aller Belastungen durch das Kriegsende und revolutionärer Wirren im Reich einen Übergang zu einer neuen demokratischen Ordnung gegeben hat, wird gut daran tun, sich die regionale Verfassungsgeschichte des 19  Jahrhunderts, das hohe Maß an politischer Partizipation, das dort schon länger gewährt worden ist, und die generelle Wertschätzung von Verfassungsinstrumenten insgesamt vor Augen zu führen

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Der vorliegende Aufsatz stellt eine umfängliche Weiterbearbeitung eines Beitrages unter dem Titel „Verfassungen als politische Zäsur“ dar, den der Autor in Nicole Bickhoff / Ernst Otto Bräunche / Martin Furtwängler  / Konrad Krimm (Hgg ), Verfassungen und Verfassungsjubiläen in Baden und Württemberg 1818/1819–1919–2019, Stuttgart wohl 2020 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen Nr  229) veröffentlicht hat

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Länder mit Verfassungstradition Der Beginn der für 1919 relevanten regionalen Verfassungstradition liegt für Baden nicht anders als für Württemberg in einer Krisensituation an der Wende vom 18 zum 19  Jahrhundert 1818/19 hatten beide Staaten zwei Jahrzehnte einer stürmischen territorialen Entwicklung hinter sich, die bis zum Wiener Kongress noch völlig unsicher gewesen war und zu einem Staatsvolk geführt hatte, das noch relativ wenig verband Baden hatte im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 eine so große rechtsrheinische Entschädigung für die linksrheinisch an Frankreich verlorenen Gebiete bekommen, dass sein Territorium sich ebenso wie die Einwohnerzahl mehr als vervierfacht hatte Auch Württemberg hatte profitiert: Hier hatten sich Staatsgebiet und Einwohnerschaft etwa verdoppelt Hans Fenske nennt diesen Vorgang mit einigem Recht eine „territoriale Revolution“ 2 In Baden hatte man daraufhin schon vor 1818/19 versucht, durch Verwaltungsreformen und Modernisierungsansätze auf verschiedensten Gebieten die neuen territorialen Einheiten verwaltungsmäßig in den Griff zu bekommen und zusammenzuführen Die liberal gesonnene Beamtenschaft bereitete auf diesem Weg der späteren Verfassung organisatorisch gleichsam den Boden 3 Solche Reformen gab es auch in Württemberg, doch hier lief das Ganze hinter und mit einem Verfassungskampf ab, weil die seit dem Tübinger Vertrag von 1514 Mitbestimmung gewohnte Landschaft bei der Neugestaltung des Landes und der Ausübung der Regierung mitreden wollte, was ein absolutistisch regierender Landesherr wie Friedrich I nicht zuließ und es daher zwischen 1805 und 1815 zu einem Machtkampf kam, bei dem etliche Jahre die Opposition der Landschaft aufgrund der für den König günstigen politischen Rahmenbedingungen unterdrückt werden konnte 4 Eigentlicher Motor der Entwicklung war die erfolgte „territoriale Revolution“ Sie verlangte Maßnahmen zur Integration der neuen Gebiete und der neuen Einwohner Diese Maßnahmen orientierten sich geradezu zwangsläufig an dem durch Frankreich gesetzten Standard, nicht nur, weil Baden, nicht anders als Württemberg, Mitglied im Rheinbund wurde und damit einer gewissen Pression seitens Napoleons ausgesetzt war, sondern auch und vor allem, weil eine Modernisierung von Verwaltung, Wirtschaft und politischem Leben nach französischem Vorbild nachweislich positive Effekte hatte und Energien freisetzte, die man im Ancien Régime nie hatte wecken 2 3 4

Hans Fenske, Allgemeine Geschichte Südwestdeutschlands im 19   Jahrhundert, in: Hansmartin Schwarzmaier u a (Hg ), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd  3, Stuttgart 1992, 1–23, hier 2 Frank Engehausen, Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918, Leinfelden-Echterdingen 2005, 19–28 Bernhard Mann, Württemberg 1800 bis 1866, in: Schwarzmaier u a (Hg ), Handbuch Bd  3, 235– 331, hier 245–262

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können Hinzu kam ein weiteres: Territoriales Wachstum bedeutet nicht unbedingt auch finanzielle Stärke Die neuen Gebiete waren nicht ohne Schulden zu Baden und Württemberg gekommen Im Rheinbund musste man für die privilegierte Behandlung durch den französischen Kaiser zahlen, mit Soldaten und mit Geld Und das trieb die Verschuldung in astronomische Höhen Aus dieser Misere war nur mit einer geordneten Steuerpolitik herauszukommen, doch Steuererhöhungen ließen sich nicht so einfach mehr in absolutistischer Manier verordnen, sie bedurften des Einverständnisses zumindest der mächtigen Akteure im Land, jener, die im Alten Reich als Ständevertreter gegolten hatten Nicht unwichtig war für den Fall Baden auch das Hintergrundproblem der dynastischen Stabilität, denn eine nicht ganz unproblematische Erbfolge hätte etwa Bayern Vorwände liefern können, ehemals kurpfälzische Gebiete zurückbekommen zu wollen, und auch im Breisgau gab es noch Orientierungen Richtung Österreich 5 Es war also eine historische Notwendigkeit, in die Richtung eines das Land einenden und die zahlreichen Problemlagen lösenden Fundamentalgrundgesetzes zu denken Eben deshalb gab der badische Großherzog Karl Friedrich schon im Juli 1808 ein erstes Verfassungsversprechen, an das ihn die Badener gelegentlich erinnerten Dabei konnten sie sich auf die Deutsche Bundesakte berufen, die in ihrem Artikel 13 vorgesehen hatte, dass in allen Ländern des Deutschen Bundes, dem sich ja auch Württemberg und Baden angeschlossen hatten, „landständische Verfassungen“ zu erlassen seien Was darunter genau zu verstehen war – ob diese „Verfassungen“ die alten Ständeversammlungen wiederbeleben oder neue, moderne Repräsentativorgane schaffen sollten – blieb freilich umstritten In Baden führte das jedenfalls zu der am 29 August 1818 im Regierungsblatt veröffentlichten und damit wirksamen liberalen Verfassung, die der Großherzog seinem Volke gewährte, die er nicht mit ihm verhandelte – deshalb wird diese wie vergleichbare Dokumente anderer Länder des Deutschen Bundes auch als „oktroyiert“ bezeichnet Die liberale Beamtenschaft unter Führung von Karl Friedrich Nebenius hatte darin allerdings so viele staatsbürgerliche Freiheitsrechte verankert und in einem Zweikammersystem sowie einem zwei Drittel aller badischen Männer Wahlrecht zusprechenden Wahlgesetz Partizipationsrechte gewährt, dass man mit Recht von einem sehr fortschrittlichen Instrument sprechen konnte, das in seiner Zeit einem Vergleich im internationalen Rahmen standhielt Nach § 5 der Verfassung vereinigte der Großherzog „in sich alle Rechte der Staatsgewalt“, er hatte diese aber gemäß „den in dieser Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen auszuüben“ Er schränkte also damit

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Engehausen, Kleine Geschichte, 11, 33, Hartwig Brandt, Der lange Weg in die demokratische Moderne Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945, Darmstadt 1998, 73 f ; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  1, 2  Aufl , Stuttgart u a 1960, 323–334; s dazu auch vergleichend Otto Franke, Die Entstehung der frühkonstitutionellen Verfassungsurkunden Süddeutschlands Motive – Einflüsse – Ergebnisse, Diss phil , Frankfurt a M 2012

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seine eigene Souveränität freiwillig zugunsten der Partizipation der Badener ein, deren Vertreter in der Zweiten Kammer Immunität und freies Mandat besaßen Auch seine Minister und alle Staatsdiener sollten an diese Verfassung gebunden sein Aber er sollte mit dieser Verfassung auch viel erreichen: Nach dem berühmten Liberalen Karl von Rotteck war sie so etwas wie die „Geburtsurkunde des badischen Volkes“ 6 Württemberg hatte einen etwas anderen Weg eingeschlagen, der allerdings am Ende zum gleichen Ziel geführt hatte 7 Hier hatten die traditionellen Mitwirkungsrechte der Landschaft vor allem bei der Steuerbewilligung ein großes Selbstbewusstsein gegenüber dem König hervorgebracht, das in der Krise 1800/1801, als der König auf die „falsche“ Koalition gesetzt und die Landschaft den Kurswechsel hin zu Frankreich bewirkt hatte, wirksam geworden war Bernhard Mann sieht daher in diesen Monaten des durch äußere Umstände erzwungenen Exils Friedrichs I „den Ursprung des modernen Württemberg“ 8 Nur mit Gewaltmaßnahmen hatte Friedrich nach seiner Rückkehr und nach seinem Einschwenken auf die französische Linie im Rheinbund die Partizipation der Ehrbarkeit unterdrücken können Und so kann es kaum verwundern, dass sein Verfassungsentwurf, den er im Gefolge des Artikels 13 der Wiener Schlussakte dann fertigen ließ, um äußerer Einmischung in württembergische Verhältnisse zu begegnen, erst einmal auf Widerstand stieß Obwohl dieses Verfassungsdokument ebenfalls einen sehr liberalen Geist atmete und in vielem der badischen Verfassung in nichts nachstand, wollten die politisch einflussreichen alten Ständevertreter in Württemberg sich das nicht einfach aufoktroyieren lassen und kämpften vier ganze Jahre um Mitsprache und Beteiligung bei einer auszuhandelnden, zu „paktierenden“ Verfassung Oft schon ist gesagt worden, dass also weniger die Inhalte als vielmehr die Form der Verordnung von oben im eigentlichen Sinn Anstoß erregt haben So richtig das ist, so richtig ist aber auch, dass die württembergischen Stände auch ihre altständischen Rechte insbesondere in der Finanzverwaltung nicht einfach aufgeben wollten 9 Das ist nach Sabine Koch allerdings nicht als rückwärtsgewandte Verweigerungshaltung modernisierungsverweigernder Stände zu verstehen, sondern als konstruktiver Beitrag zu einer aus Erfahrungen schöpfenden, sich aber als fortschrittlich und langfristig trag-

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Engehausen, Kleine Geschichte, 33–37, 44; Frank Engehausen, Die Badische Verfassung von 1818 „Die Grundfeste badischer Freiheit und Ordnung“, in: Reinhold Weber / Peter Steinbach / HansGeorg Wehling (Hgg ), Baden-württembergische Erinnerungsorte, Stuttgart 2012, 147; Hans Fenske, 175 Jahre badische Verfassung, Karlsruhe 1993, 23–28 Zitat nach Elisabeth Fehrenbach, Bürokratische Reform und gesellschaftlicher Wandel Die badische Verfassung von 1818, in: Ernst Otto Bräunche / Thomas Schnabel (Hgg ), Die badische Verfassung von 1818 Südwestdeutschland auf dem Weg zur Demokratie, Ubstadt-Weiher 1996, 13–24, hier 19 Grundlegend zum württembergischen Fall Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870 Anatomie eines deutschen Landtags, Düsseldorf 1987 Mann, Württemberg, 246 Ebd , 262–276 Zu Einzelheiten des Verfassungsstreits s Joachim Gerner, Vorgeschichte und Entstehung der württembergischen Verfassung im Spiegel der Quellen (1815–1819), Stuttgart 1989

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fähig erweisenden Lösung 10 Im September 1819 kam man nach langen Verhandlungen mit dem Nachfolger Friedrichs I , Wilhelm I , und nachdem dieser die Landschaft an einer Revision der Verwaltungsreformen beteiligt hatte, ja auch ein gewisses Vertrauen bei der Bekämpfung der Hungerkatastrophe von 1816/17 entstanden war, dann endlich überein und einigte sich auf die seitdem geltende Verfassung Im Hintergrund ließen es die liberale Bestrebungen unterdrückenden Karlsbader Beschlüsse durch den Deutschen Bund den liberalen Kreisen ohnehin angeraten erscheinen, sich bald zu einigen Auch hier wurde also ein Instrument geschaffen, das die Bürgerrechte sicherte und den liberalen Zeitgeist widerspiegelte und zudem, wie man in Württemberg meinte, eine Art Abschluss einer nie dagewesenen „Revolution“ brachte 11 In Baden wie in Württemberg waren diese Verfassungen Anfänge, sie sicherten weder parlamentarisches Regieren noch waren sie ein Durchbruch zur Demokratie im heutigen Verständnis Aber der moderne Rechtsstaat war in den Grundzügen geschaffen und die Verfassungen entfalteten eine eigene Dynamik Neue Akteure erschienen auf der politischen Bühne, vor allem das Bürgertum drängte auf Fortentwicklung 12 Dagegen regte sich Widerstand der Monarchen, aber auch seitens der Beamtenschaft, die Wege gebahnt hatten, aber letztlich doch nicht wollten, dass diese in letzter Konsequenz weiter begangen würden Rund ein Vierteljahrhundert währten in Baden z B die Verfassungskämpfe zwischen Zweiter Kammer und Regierungen, die die bürgerliche Partizipation in den 1820er und 30er Jahren wieder einschränken wollte Besonders heftig wurde um den Militäretat, um die Pressefreiheit und die Gemeindeordnungen gestritten Mit der Revolution 1848/49 nahm die liberale Erneuerung und Freiheitsbewegung wieder Fahrt auf und fiel auch nach 1849 nicht wieder einer reaktionären Gegenbewegung zum Opfer Unter Großherzog Friedrich I , der liberale Geister in die Ministerverantwortlichkeit berief und zu erkennen gab, dass er die liberale Kammermehrheit respektierte, entwickelte Baden sein besonderes liberales Gepräge 13 Für Württemberg ist oft schon konstatiert worden, dass gerade die breite, geradezu schon demokratische Beteiligung der Bürger auf der Gemeindeebene einen besonderen freiheitlichen Geist entwickelt hat 14 So wird man festhalten müssen, dass

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Sabine Koch, Kontinuität im Zeichen des Wandels Verfassung und Finanzen in Württemberg um 1800, Stuttgart 2015 Mann, Württemberg, 262–276 Franz Mögle-Hofacker, Zur Entwicklung des Parlamentarismus in Württemberg Der „Parlamentarismus der Krone“ unter König Wilhelm I , Stuttgart 1981 analysiert die Entwicklung im Lichte kommunikationstheoretischer Methoden und zeigt damit einen beachtenswerten Wandel im Verhältnis Wilhelms I zu seinen „Untertanen“ auf Mann, Württemberg, 279 Zur Bedeutung des badischen Konkordatsstreits für die Entwicklung des Verfassungsrechts und des Liberalismus s Hans H  Klein, Die Lückentheorie im Großherzogtum Baden, in: Klaus Grupp  / Ulrich Hufeld (Hgg ), Recht, Kultur, Finanzen Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70  Geburtstag am 26 Oktober 2005, Heidelberg 2005, 673–692 Klaus Koziol, Badener und Württemberger Zwei ungleiche Brüder, Stuttgart 1987, 38–40, 89

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diese Verfassungen in Baden nicht anders als in Württemberg eine entscheidende politische, historische Zäsur im Übergang zur Moderne markieren, indem sie die Bürger beständig mehr zur Teilnahme am Staatswohl anleiteten 15 Politische Partizipation im 19. Jahrhundert Das zeigt insbesondere die vielleicht auffälligste, unmittelbare Folge der Verfassungsgebungen von 1818/19, die deutliche Erweiterung politischer Partizipationsmöglichkeiten für verbreiterte Wählerschichten und jene, die sich politisch engagieren wollten In Baden wurden 63 Abgeordnete der Städte und Ämter in die Zweite Kammer gewählt, wobei die Wahlkreiseinteilung die Städte bevorzugte und das Wahlverfahren über Wahlmänner lief, die ihrerseits die Abgeordneten wählten Gewählt werden durfte, wer 30 Jahre alt, einer der christlichen Konfessionen angehörte und ein beachtliches Vermögen nachweisen konnte, so dass am Ende eine Art Honoratiorenparlament besitzender Kreise entstand Wählen durfte jeder Badener ab 25 Jahren, der einen allerdings niedrigen Zensus nachweisen konnte Zwei Drittel aller volljährigen Männer in Baden erreichten diesen, das waren 17 % der Badener – ein vergleichsweise hoher Wert, bedenkt man, dass die französische Deputiertenkammer oder das britische Unterhaus zu dieser Zeit von nur knapp 3 % der Bevölkerung bestimmt wurde 16 In Württemberg waren es 14 %, die teils direkt, teils indirekt je nach Steueraufkommen die Zweite Kammer wählen durften, die noch keine reine Volkskammer war, sondern auch noch privilegierte Honoratioren umfasste aus Kirchen, Ritterschaft und Universität 17 Die gewählten Abgeordneten waren jetzt Repräsentanten des ganzen Volkes und nicht mehr nur Vertreter ihres Standes Ihr Kompetenzbereich blieb noch eingeschränkt auf, wie es in der badischen Verfassung hieß, Gesetze, die „die Freyheit der Personen oder das Eigenthum des Staatsangehörigen“ betrafen Das war noch nicht viel, aber das daraus resultierende Steuerbewilligungsrecht erwies sich doch schnell als Hebel, um weitere Rechte einzufordern oder sich auch mitentscheidend in weitere Politikbereiche einzuschalten 18 Es waren nun eben nicht mehr nur die Großen eines Landes, die über die Geschicke bestimmten, es waren da Beamte, Handwerker, Fabrikanten und auch Wirtshausbesitzer, die ein Wort mitzureden hatten, wohin es 15

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Fenske, 175 Jahre, 28–66 S zu dieser Entwicklung zusammenfassend Dieter Langewiesche, Liberale und Demokraten in Württemberg im 19  Jahrhundert, in: Dieter Langewiesche / Peter Steinbach (Hgg ), Der deutsche Südwesten Regionale Traditionen und historische Identitäten Hans-Georg Wehling zum Siebzigsten, Stuttgart 2008, 15–27, und Peter Steinbach, Fürstenrevolution und Verfassungsstaat: Baden in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts, in: Langewiesche/Steinbach (Hgg ), Der deutsche Südwesten, 29–44 Fenske, 175 Jahre, 24, 27, 28; Brandt, Parlamentarismus, 84 Mann, Württemberg, 279; Brandt, Parlamentarismus, 84 Brandt, Parlamentarismus, 85 f ; Fenske, 175 Jahre, 24

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politisch gehen sollte, was man dem Landesherrn erlauben wollte und wo man ihm politisch entgegentrat Und diese Wähler und Abgeordneten konnten auf verbriefte Rechte pochen, die ihnen diese Verfassung auch gewährte, wenngleich deren Durchsetzung noch jahrzehntelang heftig erkämpft werden musste Aber die Entwicklung ließ sich nicht aufhalten: In Württemberg wurde nach 1868, bedingt durch eine große Reform, die II Kammer nach einem neuen Wahlgesetz in allgemeiner, geheimer, gleicher und direkter Wahl gewählt Alle männlichen Württemberger waren fortan ab dem 25 Lebensjahr und ohne Zensus wahlberechtigt Über weitere Verfassungsreformen wurde diskutiert, auch wenn sie nach der Reichsgründung, die viele Gesetzgebungsmaterien nun auf das Reich übertrug,19 auch zunächst nicht vorankamen Man diskutierte über die Einführung eines Einkammersystems und die Gestaltung der II Kammer als reiner „Volkskammer“ unter Ausschluss der Privilegierten, die die Verfassung 1819 noch vorgesehen hatte Das gelang endlich 1906, als im Zuge einer Verfassungsreform dann auch das Wahlrecht so geändert wurde, dass immer mehr mitbestimmen konnten und auch Minderheiten eine parlamentarische Repräsentation erfahren durften 20 Ganz ähnlich die Entwicklung in Baden: Auch hier gab es 1869/70 eine Wahlrechtsreform, die bereits das gleiche, geheime, aber indirekte Wahlrecht für alle erwachsenen männlichen Badener brachte Dann trat nach der Reichseinigung in den 1870er bis 1890er Jahren eine verfassungspolitische Stagnation ein, obwohl vor allem auch von Katholiken dringlich eine Änderung des Wahlrechts und die Abschaffung der indirekten Wahl gefordert wurde, und zwar gegen den Widerstand der Liberalen, die bei einer Abschaffung der indirekten Wahl Verluste von Abgeordnetenmandaten im Landtag erwarteten und mit ihrer Verweigerungshaltung ihren eigenen alten Prinzipien widersprachen 1905 fanden sich dann endlich Mehrheiten für eine Verfassungsrevision in der II Kammer: Die 73 Abgeordneten dieser Kammer wurden nun in allgemeiner, unmittelbarer und geheimer Wahl gewählt, das Wahlrecht auf 25 Jahre für alle männlichen Badener festgesetzt Wahlkreise mit etwa gleicher Bevölkerungszahl wurden definiert und die absolute Mehrheitswahl eingeführt Damit hatte Baden wohl das modernste Wahlrecht in Deutschland zu dieser Zeit 21

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Zur Bedeutung des Reichsrechts stellte die Staatsbürger-Bibliothek 1912 mit Bezug auf die badische Verfassung lapidar fest: „Die Bedeutung der badischen Verfassung hat durch die Errichtung des Deutschen Reiches eine wesentliche Einschränkung erfahren“; s Verfassung und Verwaltung des Großherzogtums Baden (Staatsbürger Bibliothek, Bd  29), Mönchen-Gladbach 1912, 47 Eberhard Naujoks, Württemberg 1864 bis 1918, in: Schwarzmaier u a (Hg ), Handbuch Bd  3, 333– 432, hier 348, 374 f , 393–395 Fenske, 175 Jahre, 66–80 Zu Einzelheiten der Entwicklung s Renate Ehrismann, Der regierende Liberalismus in der Defensive Verfassungspolitik im Großherzogtum Baden 1876–1905, Frankfurt a M 1993 Interessante Beobachtungen zur Rolle des Adels bei diesen Debatten zeigt am Beispiel Württembergs Daniel Menning, Noblemen, Democratisation and Mass Politics in Württemberg (1860s-1918), in: Journal of Modern European History 11/2013, 533–553

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Das alles hatte enorme Folgen für die Entwicklung einer Bürgergesellschaft, zumal auch die Verfassungen sich weiterentwickelten Nur die parlamentarische Regierungsform fehlte zu Beginn des 20  Jahrhunderts in Baden und Württemberg noch, was freilich von den meisten kaum als erheblicher Mangel angesehen wurde 22 Entwickelte sich daraus auch eine entsprechende politische Kultur, wirkte die Verfassung in die Gesellschaft hinein, und wurden die erworbenen Freiheiten und Rechte auch wahrgenommen und genutzt? Denn nach Hans Vorländer sind Verfassungen eigentlich symbolische, keine feststehenden Ordnungen, sie stellen Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüche auf, können sie aber von sich aus nicht einlösen Verfassungen sind auf symbolische Darstellungsformen angewiesen, die ihnen Geltung, das heißt Akzeptanz und Anerkennung verschaffen Symbolizität und Funktionalität lassen sich deshalb nicht trennen […] Erst wenn die Verfassung durch Erlebnis, Erfahrung, Praktiken und Interpretation repräsentiert oder vergegenwärtigt werden kann, kann sie die strukturierende, handlungsleitende und gemeinschaftsstiftende Wirkung erzielen, die von ihr erwartet wird 23

Politische Kultur im 19. Jahrhundert Für die Verfassungen von 1818/19 kann man das, von wenigen Einschränkungen abgesehen, wohl behaupten Es dauerte zwar einige Jahre, aber dann „entwanden“ „liberale Oppositionen […] den Konstrukteuren [der Verfassungen] das Instrument, das diese geschaffen hatten“ 24 Man wusste in Baden, was man an diesen Fundamentalgesetzen hatte 25 Die Verfassungsgebung rief zahlreiche Dankadressen an den Monarchen hervor, der Zuschauerraum im Karlsruher Ständesaal war meistens gut gefüllt Eine Abschrift der Verfassungsurkunde sollte den Kindern in der Schule als Leseübungsbuch dienen Die Rückkehr vom Landtag eines besonders eifrigen Abgeordneten in seinen Wahlkreis brachte ihm Feiern und festliche Begrüßungen ein Als die Verfassung 1843 25 Jahre alt wurde, beging man überall in Baden Jubelfeste mit großen öffentlichen Feiern, Feuer22

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S etwa Rosemarie Menzinger, Verfassungsrevision und Demokratisierungsprozeß im Königreich Württemberg Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland, Stuttgart 1969, 178, die 190 eine zeitgenössische Stimme aus dem Jahr 1919 über die Zufriedenheit der Württemberger mit ihrer Verfassung wiedergibt: „Es war, so wie es war, viel schöner, viel leichter und schließlich kam man auch zum Ziel “ Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: Hans Vorländer (Hg ), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, 9–40, hier 19 f Brandt, Parlamentarismus, 91 Zu einer differenzierten Gesamtwürdigung der politischen Wirkung der badischen Verfassung s Hans-Peter Becht, Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870 Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution, Düsseldorf 2009

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werk, Volksbelustigungen und Umzügen, bei denen die Verfassungsurkunde auf rotem Samt gebettet durch die Straßen getragen wurde Bisweilen scheuten liberale Blätter sich nicht, bei solchen Anlässen die badische Verfassung als „unser politisches Evangelium“ zu bezeichnen, das jeder kennen müsse Der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben reimte zu diesem Anlass gar: Es blüht im Lande Baden Ein Baum gar wunderbar Hat immer grüne Blätter Und blüht trotz Sturm und Wetter Schon fünfundzwanzig Jahr Die Früchte, die er bringet, Die sind Gesetz und Recht, Gemeinsinn, Bürgertugend, Für uns und uns’re Jugend, Für’s künftige Geschlecht26

Die badische Verfassung von 1818 wurde mithin zu einem regelrechten „Erinnerungsort“ 27 Ähnliches ist auch für die Verfassungsfeier in Württemberg 1844 überliefert 28 Selbst wenn zum 50 oder 75 Geburtstag der Verfassung die Feiern bescheidener ausfielen, weil die Zeitumstände dies verhinderten, die Verfassung blieb doch ein geachteter Bezugspunkt bis zu ihrem Ende 29 Schon bei der ersten Wahl in Baden 1819 beteiligten sich über 90 % der Urwähler Der erste Landtag 1819 verlief stürmisch, weil so viele Petitionen eingereicht wurden und ein regelrechter gesellschaftlicher Aufbruch sich entwickelte 30 So blieb die Verfassung im Bewusstsein, sie wurde im Laufe des 19   Jahrhunderts mehr und mehr adaptiert, auch von Regierungskreisen und dem Großherzog selbst Deshalb war es keine Floskel, wie Karl Siegfried Bader, einer der besten Kenner der badischen Rechts26 27

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Zit nach dem Faksimiledruck bei Frank Engehausen, Die badischen Verfassungsfeiern (1843, 1868, 1918), in: Badische Heimat 92/2012, 376–387, hier 379 Engehausen, Badische Verfassung, 147, 149 f Zur Festkultur um die Verfassung s v a Bernhard Wien, Politische Feste und Feiern in Baden 1814–1850 Tradition und Transformation: Zur Interdependenz liberaler und revolutionärer Festkultur, Frankfurt a M a 2001, 61–206, hier 132, 160 und Paul Nolte, Die badischen Verfassungsfeste im Vormärz Liberalismus, Verfassungskultur und soziale Ordnung in den Gemeinden, in: Manfred Hettling / Paul Nolte (Hgg ), Bürgerliche Feste, Göttingen 1993, 63–94 Hans-Georg Wehling, Was Badener und Württemberger prägte Aspekte der politischen Kultur Baden-Württembergs, in: Beiträge zur Landeskunde 2 / April 1992, 7–12 Die Behauptung einer seit dem Ende der 1830er Jahre sich abschwächenden Verfassungskultur, wie sie Reinhard Blänkner, Integration durch Verfassung? Die „Verfassung“ in den institutionellen Symbolordnungen des 19  Jahrhunderts in Deutschland, in: Vorländer (Hg ), Integration durch Verfassung, 213–236, hier 228 formuliert, kann für das badische und württembergische Beispiel nicht bestätigt werden S Engehausen, Die badischen Verfassungsfeiern, 376–387 Fenske, 175 Jahre, 29

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und Verfassungsgeschichte, meinte, wenn man in Baden an der Wende vom 19 zum 20  Jahrhundert stolz sagte: „In Baden […] sei das Volk liberal, liberaler die Verwaltung, am liberalsten aber doch der Großherzog“ 31 Wichtiger noch: Die Aneignung der Verfassung durch Abgeordnete und Wähler wirkte seit den 1820er Jahren weit in die Gesellschaft hinein, sichtbar etwa in der Entstehung des breit gefächerten Assoziationswesens Berufsständische Zusammenschlüsse, Landwirtschaftsvereine, Genossenschaften, Witwen- und Waisenkassen, ja auch Musik-, Turn- und Geschichtsvereine entstanden, die man als „bürgerlich-private Aneignungen einer vormals höfisch-ständisch geprägten Kultur, ständisch bestimmter Lebensformen“ interpretieren kann 32 Gegen diese Politisierung machten die Obrigkeiten mobil, ohne allerdings das Phänomen generell unterdrücken zu können Über die Vereine hinaus entwickelten sich die Kommunen zu Zentren des politischen Lebens, wo in Bürgerausschüssen praktische Politik mitbestimmt wurde, Pressefreiheit eingefordert, im Gericht Mitwirkung angestrebt werden konnte 33 Die Verfassung wurde damit zum Motor einer stärkeren bürgerlichen Partizipation an den öffentlichen Dingen – eben deshalb hielt man sie auch in Württemberg hoch und achtete, wie noch zu zeigen sein wird, darauf, die neue Verfassung im Jahre 1919 in eine Traditionslinie zu jener von 1819 zu stellen 1919 1919 waren es nun erneut eine Krise und revolutionäre Ereignisse, die die Verfassungsgebung veranlassten, freilich ganz anderer Art als ein Jahrhundert zuvor Die Verfassungen des Jahres 1919 entstanden aus einer längst nicht von allen gesellschaftlichen Kreisen begrüßten Revolution, die im Gefolge einer demütigenden Kriegsniederlage entstanden war 34 Diese Fundamentalgesetze wurden nicht wie 100 Jahre zuvor gemeinsam erkämpft oder gegen Widerstände der Mächtigen verteidigt, sie waren aus verantwortungsvoller politischer Arbeit in einer riskanten Umbruchssituation ent-

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Karl Siegfried Bader, Die badische Verfassung von 1818 und ein Jahrhundert badischer Verfassungswirklichkeit, in: Alfons Schäfer (Hg ), Oberrheinische Studien, Bd  2, Karlsruhe 1973, 49–60, hier 60 Zu den Auswirkungen der liberalen Verfassung im Justizbereich s Michael Kißener, Zwischen Diktatur und Demokratie Badische Richter 1919–1952, Konstanz 2003, 33–46 Brandt, Parlamentarismus, 92 Ebd , 92 f Einzelheiten des Entstehungsprozesses in vergleichender Analyse über 5 Länderverfassungen hinweg bei Frank Lechler, Parlamentsherrschaft und Regierungsstabilität Die Entstehung staatsorganisatorischer Vorschriften in den Verfassungen von Baden, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen und Württemberg, 1918–1920, Frankfurt a M u a 2002

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standen, waren zugleich aber doch auch das Symbol einer von vielen als schmachvoll empfundenen Zeitenwende 35 Denn nach dem von der Obersten Heeresleitung (OHL) ultimativ am 29 September 1918 geforderten Waffenstillstandsangebot an die Entente war es am 3 Oktober 1918 zur Ernennung des Prinzen Max von Baden zum Reichskanzler gekommen, eines Mannes, der für innere Reformen und Frieden ohne Annexionen stand – eines Mannes allerdings auch, der am 22 August 1918 bei der 100-Jahrfeier der badischen Verfassung Reformen und mehr Demokratie abgelehnt, ja die westlichen Demokratien als „Mobherrschaft“36 eingestuft hatte, obwohl sich seit Februar/März bei Streikaktionen in Mannheim schon erste Anzeichen revolutionärer Gärung eingestellt hatten, Parlamentarisierung und Frauenwahlrecht öffentlich in Baden gefordert wurden 37 Im Laufe des Monats Oktober begann die Umbildung der politischen Ordnung hin zu einem parlamentarischen System – die badische Regierung unterhielt Konsultationen mit dem Landtag und konnte noch am 2 November 1918 einen Gesetzentwurf zur Einführung des Verhältniswahlrechts vorlegen Doch Anfang November wurden die Versuche zur Weiterentwicklung der Verfassung durch eine revolutionäre Gärung in einen radikaleren Zustand überführt, verstärkt durch einen völlig sinnlosen Befehl an die Hochseeflotte, sich in der Kriegsniederlage nochmals in einen aussichtslosen Kampf mit der britischen Flotte zu stürzen Viele glaubten nicht mehr an eine evolutionäre Weiterentwicklung der Verfassungen und beurteilten den im Laufe des Oktober erreichten Zustand als nicht ausreichend Am 7 November eskalierte die Situation in München, und die Wittelsbacher wurden gestürzt, am Folgetag übernahm ein Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat unter Kurt Eisner die Regierung Am 9 November rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus, um einer Revolution der radikalen Linken zuvorzukommen 38 In Baden allerdings gelang es schon am 10 November, die sich konstituierenden Räte auf die Bildung einer provisorischen Regierung unter Führung des Mehrheitssozialdemokraten Anton Geiß festzulegen, in die fast alle wichtigen Parteien, auch das Zentrum, eintraten Der amtierende Großherzog Friedrich II erhob dagegen keinen Widerspruch, verzichtete am 14 November auf die Ausübung der Regierungsgewalt und am 22 November auf den Thron und entband die badischen Beamten von ihrem

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Klaus-Dieter Weber, Verfassungsfeiern in der Weimarer Republik, in: Gerhard Henke-Bockschatz (Hg ), Geschichte und historisches Lernen Jochen Huhn zum 65 Geburtstag, Kassel 1995, 181–208, hier 183 Wortlaut der Ansprache Max von Badens vom 22 August 1918, in: Wilhelm Stahl (Hg ), Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender Vierunddreißigster Jahrgang 1918, München 1922, 261–264, hier 263 Gerhard Kaller, Baden in der Weimarer Republik, in: Schwarzmaier u a (Hg ), Handbuch Bd  4, 23–72, hier 24 Sönke Neitzel, Weltkrieg und Revolution 1914–1918/19, Berlin 2008, 154–157, Karl Stiefel, Baden 1648–1952, Bd  1, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage 1977, Karlsruhe 2001, 325

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Treueeid So schaffte es Baden durch verantwortungsbereite Politiker aus allen Parteien, revolutionären Radikalisierungen zu entgehen und bereits ab Mitte November 1918 die Ausarbeitung einer neuen badischen Verfassung anzugehen 39 Am 5 Januar 1919 fanden unter 88,1 % Wahlbeteiligung die Wahlen zur verfassunggebenden badischen Nationalversammlung statt, die in einem Ausschuss einen Verfassungsentwurf erarbeiten ließ, in dem die Vorstellungen des sozialdemokratischen Karlsruher Stadtrats und Rechtsanwalts Eduard Dietz40 ebenso diskutiert wurden wie die Ideen des Oberlandesgerichtspräsidenten Dr Johann Zehnter (Zentrum), des Verwaltungsgerichtspräsidenten Dr Karl Glockner oder von Dr Friedrich Weill, der für die Fortschrittliche Volkspartei (FVP) im Karlsruher Stadtrat saß Bei der zweiten Lesung der badischen Verfassung lag am 21 Februar 1919 schon der Regierungsentwurf der Weimarer Reichsverfassung vor, die erst im August 1919 ausgefertigt wurde Das Ergebnis der Beratungen in Form der badischen Verfassung vom 21 März 1919 wurde dem badischen Volk am 13 April 1919 zur Abstimmung vorgelegt – das gab es sonst nirgends im Reich Die Verfassung wurde vom badischen Volk mit großer Mehrheit angenommen Baden war so das erste größere Flächenland mit einer neuen Verfassung 41 Das Land wurde mit dieser kurzen, nur 69 Paragraphen umfassenden Verfassung eine demokratische Republik, in der nach § 2,1 „Träger der Staatsgewalt […] das badische Volk“ war Die neue Verfassung, die alle Momente eines modernen Fundamentalgesetzes zeigte, garantierte den Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Grundrechte in einem eigenen Katalog, sie ließ Volksabstimmungen zu und stärkte überhaupt die Volkssouveränität nun in einem Maß, dass hin und wieder von einem badischen „Parlamentsabsolutismus“ die Rede war, der diesem modernen demokratischen Rechtsstaat ein besonderes Gepräge gab Die jüngere verfassungsgeschichtliche Forschung zollt diesem Versuch bemerkenswert hohen Respekt 42 Hans Fenske hat nicht anders als Karl Siegfried Bader schon früher darauf hingewiesen, dass viele Paragraphen dem 1818 erreichten Verfassungsstand in Baden entsprachen, so etwa bei den Grundrechten, und dass hinsichtlich der Ministeranklage der alte § 67 der Verfassung von 1818 praktisch übernommen wurde Das parlamentarische Regierungssystem war neu, aber in vielem konnte man an Früheres anknüpfen, denn hier wie in Württemberg war wohl

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Kaller, Baden, 25–27 Zu Dietz siehe die Biographie von Detlev Fischer, Eduard Dietz (1866–1940) Vater der badischen Landesverfassung von 1919, Karlsruhe 2008 Kaller, Baden, 30; Fenske, 175 Jahre, 84–87; Stiefel, Baden, Bd  1, 326 Siehe zu den Abläufen und Hintergründen auch die vorzügliche Edition Martin Furtwängler (Bearb ), Die Protokolle der Regierung der Republik Baden Erster Band Die provisorische Regierung November 1918  – März 1919, Stuttgart 2012 Fenske, 175 Jahre, 88–93; Richard Gräbener, Verfassungsinterdependenzen in der Republik Baden Inhalt und Bedeutung der badischen Landeskonstitution von 1919 im Verfassungsgefüge des Weimarer Bundesstaates, Baden-Baden 2014, 358

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die Mehrheit der Bevölkerung zufrieden gewesen mit dem bis zur Revolution gültigen Verfassungszustand 43 In vergleichsweise ruhigen Bahnen vollzog sich auch in Württemberg der Übergang zur Republik Dort hatte der beliebte König Wilhelm II noch am 8 November 1918 eine parlamentarisch basierte Regierung berufen, der MSPD, Gewerkschaften und USPD tags darauf aber eine provisorische Landesregierung unter Führung des Sozialdemokraten Wilhelm Blos entgegenstellten, die auch vom Militär Unterstützung erfuhr Daraufhin empfahl der um Ruhe und Ordnung besorgte Monarch einigen seiner Minister den Übertritt in die provisorische Regierung, die daraufhin schon am 11  November die politischen Umwälzungen in Württemberg für beendet erklärte Der Monarch entsagte am 30 November dem Thron und entband ähnlich wie in Baden die Beamten ihrer Treuepflicht Gegen kurzzeitige spartakistische Unruhen in Stuttgart konnte sich die Regierung durchsetzen und am 12 Januar 1919 Wahlen zur verfassunggebenden württembergischen Landesversammlung durchführen Sie brachten bei einer Wahlbeteiligung von 90,9 % gemäßigte Politiker und bereits 13 Frauen in die Versammlung, die einen Verfassungsentwurf des Tübinger Juristen Wilhelm von Blume diskutierte Am 26 April 1919 stimmte die verfassunggebende Versammlung einem modernen, demokratischen Verfassungsentwurf zu, der am 23 Mai 1919 im Regierungsblatt verkündet wurde 44 Württemberg war damit nach Baden das zweite südwestdeutsche Land, das eine neue Verfassung nach der Revolution erhalten hatte Einige Änderungen mussten nach dem Beschluss der Weimarer Reichsverfassung noch eingearbeitet werden, u a verzichtete man bei dieser Gelegenheit auch auf einen eigenen Grundrechtekatalog, so dass die endgültige Fassung am 25 September 1919 in Kraft gesetzt werden konnte Dieser Termin war bewusst gewählt, hatte man doch am Vortag noch der württembergischen Verfassung von 1819 gedacht, die genau 100 Jahre zuvor in Kraft getreten war 45 Damit sollte die fortschrittliche Kontinuität der württembergischen Verfassungsgebung und staatliche Stabilität demonstriert werden  – eine neuere Untersuchung schlussfolgert daraus, sie habe „keine eigenständige Neufassung“ dargestellt, sondern sich vielmehr lediglich als „Fortführung einer hundertjährigen Verfassungstradition“ verstanden 46 Dafür spricht in der Tat auch eine vom Ständischen Ausschuss des alten Landtages in Auftrag gegebene und noch 1919 publizierte Untersuchung zur 100-jährigen Geschichte der Verfassung von 1819, deren Verfasser betonte, dass die Geschichte 43 44 45 46

Fenske, 175 Jahre, 91; Karl Siegfried Bader, Die badische Verfassung von 1818 und ein Jahrhundert badischer Verfassungswirklichkeit, Karlsruhe 1969, 2, 18 Zu Württemberg s Menzinger, Verfassungsrevision, 190 und das oben (Anm  21) bereits wiedergegebene Zitat Paul Sauer, Württemberg in der Weimarer Republik, in: Schwarzmaier u a (Hg ), Handbuch Bd  4, 73–149, hier 74–81, 83 Sauer, Württemberg, 81 Tobias Erdmann, Die Verfassung Württembergs von 1919 Entstehung und Entwicklung eines freien Volksstaates, Baden-Baden 2013, 202

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der württembergischen Verfassung ohnehin „die Geschichte einer stetig fortschreitenden Demokratisierung des Staates gewesen“ und die Verfassung von 1819 auch durch die neue von 1919 „nicht förmlich beseitigt worden“ sei 47 Die frühe Erarbeitung der badischen und württembergischen Verfassung48 ermöglichte im Übrigen auch eine beträchtliche Einflussnahme aus diesen beiden Ländern auf die Ausgestaltung der Weimarer Reichsverfassung Diese wird insbesondere in den Weimarer Verfassungsberatungen zu Volksabstimmungen fassbar, bei denen die Weimarer Verfassungsväter nachweislich auf die Verfassungsdiskussionen in Baden und Württemberg zurückgriffen, die wiederum maßgeblich von den wissenschaftlichen Arbeiten des Heidelberger Rechtsanwaltes Dr Julius Curtius beeinflusst waren Die Sozialdemokraten und unter ihnen insbesondere der württembergische Abgeordnete Wilhelm Keil, der auch die württembergische Verfassung mitverhandelt hatte, sorgten für die Rezeption der Schriften von Curtius wie der badischen und württembergischen Diskussionsergebnisse und erreichten die Aufnahme entsprechender Regelungen in die Reichsverfassung 49 Politische Partizipation in den südwestdeutschen Volksstaaten Wer in die südwestdeutschen Landtage einzog, bestimmten alle vier Jahre allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen, an denen nun alle mündigen Bürgerinnen und Bürger teilnehmen konnten, die revolutionären Forderungen nach Frauenwahlrecht und Abschaffung jeder Form von Klassenwahl waren mithin in vollem Umfange umgesetzt Wählen durfte jede Badenerin und jeder Badener ab dem 20 Lebensjahr Eine Besonderheit des Wahlrechts war in Baden das sogenannte automatische Verfahren bei der Sitzverteilung im Landtag, d h jede Partei erhielt auf 10 000 in einem Wahlkreis für sie abgegebene Stimmen einen Sitz im Parlament, was zu wechselnden Zahlen an Landtagssitzen führte, weil deren Zahl folglich von der Wahlbeteiligung abhing Zunächst wurden nur vier Wahlkreise vorgesehen, die allerdings allmählich bis 1927 auf 22 verkleinert wurden Stimmenabgaben unterhalb der Grenze von 47 48 49

Albert Eugen Adam, Ein Jahrhundert Württembergischer Verfassung, Stuttgart 1919, 229, 232 Ein Vergleich der Verfassungen bei Otto Koellreuter, Die neue badische und die neue württembergische Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 39/1920, 437–455 Einen direkten Vergleich der beiden Verfassungen mit der preußischen Verfassung von 1920 unternimmt Karl-Heinz Boehringer, Die badische Verfassung vom 21 März 1919, Diss jur , Freiburg 1950, insbes 278 ff Reinhard Schiffers, Badische Einflüsse auf die Reichsverfassung von 1919, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 12/1972, N F 81, 433–447, hier 433 f , 440 f , 442 Weitere Einflüsse der badischen Verfassung auf die Reichsverfassung führt Gräbener, Verfassungsinterdependenzen, 424 ff auf, wertet sie insgesamt aber als überschaubar Der gelegentlich geäußerten Vorstellung, die angeblichen Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung stammten aus dem badischen Vorbild, tritt er entschieden entgegen

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10 000  Wählern wurden zusammengerechnet und die Mandate gemäß einer vorher aufzustellenden Landesliste der Parteien verteilt Das führte dazu, dass auch Abgeordnete im Parlament sitzen konnten, deren Partei nirgendwo die Marke von 10 000 Sitzen erreicht hatte, die zusammengenommen aber dann doch über die Landesliste ihre Ansichten im Landtag vertreten konnten Die Artikulation der Meinungen auch von Minderheiten war damit niedrigschwellig abgesichert, nur ausgesprochene Splitterparteien blieben außen vor 50 Als Vorbild für die Verfassungsgebung diente die Verfassung von 1818, für die plebiszitären Elemente standen die Verfassungen in den Schweizer Kantonen Pate 51 Auch Württemberg wurde mit der Verfassung von 1919 ein moderner, parlamentarischer, demokratischer Volksstaat, in dem wie in Baden alle Macht vom Volke ausging Altständische Relikte der Verfassung von 1819 waren nun eliminiert, alle vier Jahre wählten die Württembergerinnen und Württemberger in gleicher, geheimer und unmittelbarer Weise ihren Landtag Und auch in Württemberg wurden plebiszitäre Elemente in der Verfassung vorgesehen und stärker als in der Reichsverfassung die repräsentative Demokratie im Parlament ausgeformt 52 Neben der Ausweitung des Wahlrechts für den Landtag fällt in Württemberg die fast gleichzeitige Überarbeitung des Kommunalwahlrechts auf, das mit dem Gesetz vom 15 März 1919 neu geordnet wurde Anders als zuvor, stand nun allen Männern und Frauen über 20 Jahren das Recht der Teilnahme an Gemeinderatswahlen zu, nur die württembergische Staatsbürgerschaft musste man besitzen und mehr als sechs Monate seinen Wohnsitz in der wählenden Gemeinde haben 1922 dehnte man das Wahlrecht einfach auf alle in der Gemeinde wohnenden Deutschen über 20 Jahre aus Auch auf dieser Ebene war man also bemüht, die politische Partizipation umgehend den neuen demokratischen Verhältnissen anzupassen und die Bürger am Staatsleben auf allen Ebenen zu beteiligen 53 Politische Kultur in den südwestdeutschen Volksstaaten Mit dem Jahr 1919 war in den südwestdeutschen Ländern Baden und Württemberg gleichsam der liberale Traum des 19  Jahrhunderts Wirklichkeit geworden Eben deshalb bemühte man sich bei der Verfassungsgebung um Anknüpfung an die erfolgreichen Vorgängerverfassungen Die Inkraftsetzung der württembergischen Verfassung 1919 genau an einem 25 September, an dem auch ihre Vorgängerin 100 Jahre zuvor Gültigkeit erlangt hatte, ist in dieser Hinsicht wohl außerordentlich aussagekräftig Und tatsächlich haben beide Verfassungen auch eine hohe Kontinuität in den stür50 51 52 53

Kaller, Baden, 29; Fenske, 175 Jahre, 88; Stiefel, Baden, Bd  1, 326 Stiefel, Baden, Bd  1, 326 Sauer, Württemberg, 82 Ebd , 81

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mischen Weimarer Jahren entfaltet, sie wurden nie grundsätzlich in Frage gestellt, so dass die Länder Baden und Württemberg fraglos noch zu jenen Gegenden des Reiches gehörten, in denen die verfassungstragenden Parteien der Weimarer Koalition bis zum Ende stabil regieren und in denen die verfassungsfeindlichen Parteien von links wie von rechts noch 1933 nur vergleichsweise schlechte Wahlerfolge erringen konnten Die Staatspräsidenten Josef Schmitt in Baden und Eugen Bolz in Württemberg haben gleichsam bis zur letzten Minute die Verfassung und den Rechtsstaat verteidigt 54 Für die badische Zentrumspartei in langjähriger Regierungsverantwortung hat Michael Kitzing ein hohes Maß an Republikbejahung, ja Verfassungspatriotismus nachweisen können 55 Für das badische Beispiel hat Michael Braun überzeugend darlegen können, wie konflikt- und konsensfähig zugleich die Parteien der sog „Weimarer Koalition“ hier über lange Zeit gewesen sind, wie die über ein Jahrhundert aus der Verfassung von 1818 heraus erwachsene politische Kultur als stabilisierender Faktor auch in der neuen Republik gewirkt hat, wie klar, entschieden und auch erfolgreich hier gegen den politischen Extremismus von links wie von rechts vorgegangen wurde In Baden entwickelte sich in breiteren gesellschaftlichen Kreisen sogar so etwas wie ein echter „Verfassungspatriotismus“ 56 Das zeigt sich auch auf dem Gebiet der symbolischen Repräsentation Die jährlichen Verfassungsfeiern, in deren Zentrum nunmehr die Weimarer Reichsverfassung, nicht die Länderverfassungen standen, weil eben das Reich viel mehr Einfluss auf das Verfassungsleben hatte, fanden gerade in Baden eine positive Aufnahme Waren sonst die politischen Parteien tief zerstritten über die Sinnhaftigkeit einer Verfassungsfeier und brachte die Reichsregierung oft den Mut zu einer öffentlichen Kundgebung zugunsten der umstrittenen Demokratie nicht auf,57 erklärte man in Baden bereits 1923 den 11 August zum Feiertag der Weimarer Verfassung, ja man hielt 1926 sogar einen eigenen Republikanischen Tag in Konstanz ab Württemberg war in dieser Hinsicht allerdings weit weniger entschieden: Hier pochte man wie in Bayern auf die Rechte der Länder bei der Einführung von Feiertagen und führte wenig überzeugend gegenüber der Reichsregierung an, dass Verfassungsfeiern für die Landesverfassung von 1819 wie auch für die neue von 1919 in Württemberg keine Tradition hätten Wenn der Tag

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Fenske, 175 Jahre, 93; Kißener, Zwischen Diktatur und Demokratie, 133; Thomas Schnabel, „Die Republik dem Volke nahebringen, ohne große Worte zu machen“ – Eugen Bolz als württembergischer Minister und Staatspräsident, in: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg ), „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ Eugen Bolz 1881–1945, Ubstadt-Weiher 2017, 12–42, hier 31 Michael Kitzing, Für den christlichen und sozialen Volksstaat Die badische Zentrumspartei in der Weimarer Republik, Düsseldorf 2013, 91–100 Michael Braun, Der Badische Landtag 1918–1933, Düsseldorf 2009, 466, 469, 488, 503, 517 Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt a M 1990, 166, 174, 198 S zusammenfassend, Weber, Verfassungsfeiern Am Verfassungstag gehaltene Reden dokumentiert Ralf Poscher (Hg ), Der Verfassungstag Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999

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in Stuttgart begangen wurde, fiel er eher bescheiden aus 58 Gerade Baden und seine Verfassung hätten folglich so etwas wie ein ausstrahlendes Vorbild für das neue demokratische Deutschland werden können, zumal die Unterschiede der badischen zur Reichsverfassung nicht so gravierend waren Der badische Fall ist daher besonders interessant für die Frage nach dem Scheitern der Republik Woran lag es, dass die Verfassung von 1919 nun nicht jene Strahlkraft und Wirkung erzielen konnte wie ihr Vorläufer von 1818? Schon die schwache Wahlbeteiligung von 34 % bei der Abstimmung über die Verfassung in Baden deutet Problemlagen auf ganz anderen Ebenen an Im Übergang von Kriegsende und Revolution zur Demokratie war den Menschen auch in Baden anderes wichtig als die Wertschätzung der neuen, ein demokratisches System gründenden Verfassung 59 Ebenso ein schlechtes Omen war die in der Folgezeit festzustellende Wahlmüdigkeit, die sich besonders auch in Württemberg zeigte 60 Dies verweist auf das, was schon Theodor Heuß im Hinblick auf den 11 August als Verfassungstag hellsichtig formuliert hat: „Dem 11 August fehlt die Erschütterung durch einen eindrucksvollen Geschichtsvorgang, der Zeitgenossen einmal getroffen hatte und in eine wuchernde Legende einging“ Die Revolution blieb eben verbunden mit dem großen Makel der Weltkriegsniederlage und taugte daher als „kämpferische Gründungserzählung“ mit „symbolischer Strahlkraft“ nicht, auch nicht in Baden 61 Dies gilt umso mehr, als die Verfassungsgebung und die neue demokratische Kultur zu wenig Unterstützung von gesellschaftlichen Großgruppen erhielt Während etwa die katholische Kirche die Feiern zum Verfassungstag bereitwillig unterstützte, distanzierte sich die evangelische Kirche, der auch in Baden und in Württemberg ja die meisten Menschen angehörten, ausdrücklich Die Verfassung galt vielen evangelischen Kirchenoberen als ein Dokument revolutionärer, also in ihrer Sicht unrechtmäßiger Entwicklung, das man nicht feiern wollte 62 Hinzu kamen zersetzende politische Entwicklungen: Was half es, dass man in Baden den politischen Extremismus konsequent bekämpfte, wenn auf Reichsebene doch nur viel zaghafter und unsicher mit dieser existentiellen Gefährdung umgegangen wurde? Der Zentralismus der Weimarer Verfassung wirkte sich gerade auf diesem Gebiet ungünstig aus 63

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Schellack, Nationalfeiertage, 201, 203, 210 f , 215, 255; Kitzing, Volksstaat, 93 Kißener, Zwischen Diktatur und Demokratie, 55 Sauer, Württemberg, 84 f Nadine Rossol, Repräsentationskultur und Verfassungsfeiern der Weimarer Republik, in: Detlef Lehnert (Hg ), Demokratiekultur in Europa Politische Repräsentation im 19 und 20   Jahrhundert, Köln u a 2011, 261–279, hier 279, Zitat Heuss nach 267; s a Braun, Der Badische Landtag, 505 Klaus Fitschen, Staatliche Verfassungsfeiern und ihre Resonanz in der Evangelischen Kirche der Weimarer Republik, in: Michael Maurer (Hg ), Festkulturen im Vergleich Inszenierungen des Religiösen und Politischen, Köln u a 2010, 259–273, hier 263–271 Braun, Der Badische Landtag, 488

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Nicht zu übersehen sind aber auch negative regionale Entwicklungen: Den badischen Parlamentariern der Weimarer Jahre ging trotz aller erfolgreicher Sacharbeit der Bezug zum Wahlvolk mehr und mehr verloren, wie der badische Landtagspräsident Josef Duffner einmal konstatierte 64 Gerade dies hatte aber im 19  Jahrhundert die Wirkmächtigkeit der Verfassung und jene Lebendigkeit der politischen Kultur ausgemacht Hinzu kam mit dem Auftreten der extremistischen Parteien, vor allem der Nationalsozialisten, eine gerade auch in Baden spürbare Zersetzung der altgewohnten hohen parlamentarischen Debatten- und politischen Kultur, die zur Verhetzung breiter Bevölkerungskreise durch die Extremisten verkam 65 Die neue demokratische Ordnung des Jahres 1919 verlor so in den Krisenjahren der Republik auch in Baden und auch in Württemberg mehr und mehr ihre Anhänger Am Ende gab es dann auch hier nicht mehr genügend mutige Demokraten, die die 1919 gewährten Freiheiten wirklich schätzten und bereit waren, für diese freiheitlichen Verfassungen notfalls mit Leib, Leben und Gut einzutreten Relevante Reste der zu Beginn des 19  Jahrhunderts begründeten liberalen, dann mehr und mehr demokratischen Kultur blieben aber auch noch in der Zeit des „Dritten Reiches“ übrig und unterschieden den deutschen Südwesten von anderen Teilen des Reiches, wie ein direkter Vergleich etwa mit der Situation im Norden Deutschlands zeigt 66 Insofern mag man es gleichsam als ein historisches „Unrecht“ ansehen, dass die badische nicht anders als die württembergische Verfassung von 1919 nach dem Ende der NS-Diktatur mehr oder minder in Vergessenheit geriet und für den demokratischen Neuanfang in Baden praktisch gar nicht und in Württemberg nur bedingt genutzt wurde Sie hatten, anders als jene von 1818/19, keine Strahlkraft über ihr Ende hinaus entwickeln können 67 Michael Kißener, seit 2003 Univ -Prof für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

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Ebd , 516 Ebd , 483 f S dazu auch die Studie von Alexander Mohr, „Ein gebildet sein wollender Mensch“ Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags, in: Michael Kißener  / Joachim Scholtyseck (Hgg ), Die Führer der Provinz, 2  Aufl , Konstanz 1999, 311–332, hier 332 S Michael Kißener  / Michael Ruck, Die Erforschung des Nationalsozialismus aus landesgeschichtlicher Sicht: Baden / Schleswig-Holstein, in: Werner Freitag u a (Hg ), Handbuch Landesgeschichte, Berlin u a 2018, 613–645 Gräbener, Verfassungsinterdependenzen, 465 f ; Erdmann, Die Verfassung Württembergs, 247

Die Genese der bayerischen Verfassung von 1919 als Demokratiegeschichte Ferdinand Kramer Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 67–87

Abstract: The democratic Bavarian constitution of 1919, deliberated and adopted in Bamberg, was preceded by a lengthy reform discourse and process of the monarchical constitution in force since 1818 In the context of the crisis at the end of World War I, the reform efforts led to the democratization of the political system in Bavaria in the form of a parliamentary monarchy by a unanimous resolution of the Bavarian Parliament in early November 1919 Kurt Eisner’s revolution, which followed shortly thereafter, and then his assassination in February 1919 initially delayed the establishment of parliamentary democracy in Bavaria once again Nevertheless, the January 1919 elections produced a clear result: While the Independent Social Democrats (USPD) of Eisner, the leader of the revolutionary government, received only 2 5 percent of the vote, the centrist parties, the conservative Bavarian People’s Party (BVP), the Majority Social Democrats (MSPD) and the German Democrats (DDP), received more than 80 percent of the votes cast, with a turnout of over 80 percent This was a clear vote for parliamentary democracy from the middle of Bavarian society Strengthened by this election result, the three parties drew up a new constitution, which was passed by a large majority in the state parliament in August 1919 and came into force in September 1919 For a long time, the Bamberg constitution received less attention; it was too much overshadowed by the crises of war, revolution and the Weimar Republic This article argues for more attention to be paid to preceding longer-term reform processes, to the genesis of the constitution, and to the forces of the political center responsible for its drafting Their willingness to cooperate and the consensus reached in the development of the Bavarian Constitution of 1919 should be seen more from the perspective of a history of democracy

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Genese der Verfassung als Demokratiegeschichte Anfang November 1918 beschloss der Bayerische Landtag mit den Stimmen aller Parteien, voran dem Zentrum, den Sozialdemokraten, dem Bauernbund und den Liberalen eine Reform der seit 1818 gültigen bayerischen Verfassung hin zur vollen Demokratisierung in Form einer parlamentarischen Monarchie Selbst die neuen Minister, erstmals auch Sozialdemokraten, waren bereits bekannt gegeben worden, als die Revolution vom 7 auf den 8 November die Demokratisierung des politischen Systems in Bayern zunächst noch einmal verzögerte Am 12 Januar 1919 fanden dann allgemeine Wahlen zum bayerischen Landtag statt, der auch eine neue Verfassung erarbeiten sollte Sie erbrachten eine klare Mehrheit für die Parteien, die ohne Einschränkung für die parlamentarische Demokratie eintraten: die Bayerische Volkspartei in der Nachfolge des Zentrums, die Mehrheitssozialdemokraten und die Deutschen Demokraten Am 21 Februar, im Vorfeld der Konstituierung des Landtags, wurde der Revolutionsführer Kurt Eisner von einem Offizier auf dem Weg zum Landtag, wo er in einem Akt demokratischer politischer Kultur seinen Rücktritt erklären wollte, rücklings ermordet Wieder waren es in der Folge die Parteien der Mitte, die dann am 17 März im Landtag die Wahl einer demokratisch legitimierten Regierung unter dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann als Vorsitzendem des Ministerrats ermöglichten Und noch einmal, nach Ausrufung der Räterepubliken seit dem 7 April 1919 in Bayern und deren militärischer Niederschlagung schufen diese Parteien im Mai 1919 mit einem parteiübergreifenden Abkommen die Voraussetzungen für die Erarbeitung der demokratischen Verfassung des neuen Freistaats, die am 14 August 1919 vom Landtag mit großer Mehrheit beschlossen wurde und dann im September 1919 in Kraft trat Die erste demokratische Verfassung Bayerns ist demnach aus einem breiten, freilich nicht selbstverständlichen Grundkonsens der bayerischen Parteien der Mitte entwickelt worden, analog zur „Weimarer Koalition“ auf Reichsebene Gleichwohl hat diese Tatsache wie die Verfassung selbst lange Zeit kaum Aufmerksamkeit gefunden, zu sehr trat die Entwicklung von Verfassung, Parlamentarismus und Demokratie 1918/1919 angesichts des Endes der Wittelsbacher Monarchie, der Revolution Kurt Eisners und seiner Ermordung, der Räterepubliken und des Bürgerkrieges zu ihrer Niederschlagung in den Hintergrund Überlagert wurde der Blick auf die demokratische Verfassung und ihre Genese auch von der späteren krisenhaften Entwicklung bis hin zum Aufstieg und zur Machtübernahme der Nationalsozialisten Im Folgenden soll deswegen versucht werden, im Zusammenhang mit der inzwischen größeren Beachtung der Bamberger Verfassung1 die Rolle der politischen Mitte und die Fähigkeit zum demokratischen 1

Wolfgang Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie Die Entstehung der Bamberger Verfassung vom 14 August 1919, München 2013; Werner Wagenhöfer / Robert Zink (Hgg ), Räterepublik oder parlamentarische Demokratie Die „Bamberger“ Verfassung 1919 Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Staatsarchivs Bamberg und des Stadtarchivs Bamberg vom 23 September bis

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Grundkonsens bei deren Entwicklung gleichsam als Demokratiegeschichte stärker in den Blick zu rücken 2 Dafür hat die Forschung in den letzten Jahren auch in Zusammenhang mit der Edition der bayerischen Ministerratsprotokolle der Jahre 1918–19193 und komplementär angelegten Studien insbesondere von Wolfgang Ehberger4 sowie mit rechtshistorischen Arbeiten5 deutlich erweiterte Grundlagen geschaffen Konstitutionalismus und Entwicklung zur parlamentarischen Monarchie Wenn hier zunächst auf Vortraditionen der Bamberger Verfassung verwiesen wird, dann auch deswegen, weil maßgebliche Protagonisten der Verfassungsgebung von 1918/19 dezidiert in einer bayerisch-staatsrechtlichen Tradition an den Universitäten München, Erlangen oder Würzburg ausgebildet worden waren, dann als hohe Ministerialbeamte oder als Abgeordnete im staatsrechtlichen Gefüge der älteren Verfassungstradition ge-

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19  November 1999 im Stadtarchiv Bamberg (Veröffentlichung des Stadtarchivs Bamberg 10), Bamberg 1999 Orte der Demokratie in Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 81/2018, H  1–2), München 2018; Heidrun Kämper / Peter Haslinger / Thomas Raithel (Hgg ), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte Diskurse der frühen Weimarer Republik, Berlin 2014; Thomas Hertfelder / Ulrich Lappenküper / Jürgen Lillteicher (Hgg ), Erinnern an Demokratie in Deutschland Demokratiegeschichte in Museen und Erinnerungsstätten der Bundesrepublik, Göttingen 2016; Steven Levitsky  / Daniel Ziblatt, Wie Demokratien sterben, München 2018 Franz Josef Bauer (Bearb ), Die Regierung Eisner 1918/19 Ministerratsprotokolle und Dokumente, Düsseldorf 1987; Wolfgang Ehberger / Johannes Merz (Bearb ), Das Kabinett Hoffmann I 17  März – 31 Mai 1919, München 2010; Wolfgang Ehberger u Mitarbeit von Matthias Bischel (Bearb ), Das Kabinett Hoffmann II, Teil 1: 31 Mai-1 September 1919, München 2017; Walter Ziegler (Bearb ), Das Kabinett Held IV: Mai 1932 – März 1933, München 2010 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie; Markus Schmalzl, Erhard Auer Wegbereiter der parlamentarischen Demokratie in Bayern, Kallmünz 2013; Andrea M Müller, Die französische Gesandtschaft in München in den Jahren der Weimarer Republik Französische Politik im Spiegel der diplomatischen Berichterstattung, München 2010; Michael Weigl, Das Bayernbild der Repräsentanten Österreichs in München 1918–1938, Frankfurt a M 2005; Lydia Schmidt, Kultusminister Franz Matt (1920–1926), München 2000; Maria M Bäuml, Kulturpolitik gegen die Krise der Demokratie Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus 1926–1933, München 2018; Elina Kiiskinen, Die Deutschnationale Volkspartei (Bayerische Mittelpartei) in der Regierungspolitik des Freistaats während der Weimarer Zeit, München 2005; Georg Köglmeier, Die Zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19 Legitimation  – Organisation  – Funktion, München 2001; vgl Ferdinand Kramer, Feuchtwangers Erfolg und neue Forschungen zu den Weimarer Jahren in München und Bayern, in: https://histbav hypotheses org/3554 (28 2 2020) Christian G Ruf, Die Bayerische Verfassung vom 14 August 1919, Baden-Baden 2015; Horst Gehringer / Hans-Joachim Hecker / Hans-Georg Hermann (Hgg ), Demokratie in Bayern Die Bamberger Verfassung von 1919, Bamberg 2019; Ariane Mittenberger-Huber, Das Plebiszit in Bayern Eine rechtshistorische Bestandsaufnahme, Bayreuth 2000; Thomas Bock, Das Grundrechtsverständnis des Bayerischen Staatsgerichtshofs nach der Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern vom 14 August 1919 und das zeitgenössische Schrifttum, Regensburg 2001; Fabian Wittreck (Hg ), Weimarer Landesverfassungen Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918–1933, Tübingen 2004

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arbeitet hatten und in den 1918/1919 anstehenden Arbeiten an einer neuen Verfassung immer wieder auf diese Vorerfahrungen Bezug genommen haben Der Verweis auf die eigene Verfassungstradition diente zudem in der Regel als Legitimation für die Staatlichkeit Bayerns unter den veränderten Rahmenbedingungen seit November 1918 6 Die jüngere Geschichte von Parlamentarismus und Verfassung Bayerns7 setzte spätestens im Jahr 18088 an, als im Gefolge von Revolutions- und Napoleonischen Kriegen9 nach dem massiven Umbruch der politischen und staatsrechtlichen Verhältnisse mit der Erhebung Bayerns zum souveränen Königreich und dem Ende des Alten Reichs 1806 König Max I Joseph und sein leitender Minister Maximilian von Montgelas zentrale Reformedikte, die sie seit 1799 ausgearbeitet und verkündet hatten, in einer Verfassung zusammenführten Vorangegangen war eine Verfassungsdiskussion in Bayern, die sich aus den Veränderungen nach der Vereinigung von Kurpfalz und Kurbayern seit 1778, aus der Wahrnehmung der Revolution in den USA und Frankreich und schließlich durch die Revolutions- und Koalitionskriege und auch durch die Erhebung zum Königreich sowie die Erlangung der vollen Souveränität entwickelt hatte Nachdem in Folge von Säkularisation, Mediatisierung und dem Ende des Alten Reiches die bisherigen landständischen Vertretungen obsolet geworden waren, verfügte die Verfassung von 1808 nicht nur deren Auflösung Sie sah gleichsam als Ersatz und Fortentwicklung auch eine „Nationalrepräsentation“ bzw „Reichsversammlung“ für das ganze Königreich vor 10 Diese wurde allerdings nicht realisiert, zu sehr überlagerten Außenpolitik und Kriege die Verhältnisse im Inneren Zudem waren die territorialen Gegebenheiten immer wieder im Fluss, gehörten doch zeitweise noch Tirol, Salzburg und Vorarlberg zu Bayern Erst mit dem Wiener Kongress und den darauf folgenden Verträgen von 1816 wurde Bayern mit schwäbischen und fränkischen Landesteilen sowie mit der Pfalz um Speyer11 territorial verfestigt Zudem sah die Bundesakte des Deutschen Bundes vom 8  Juni 1815 in Art XIII landständische Verfassungen vor Die bayerische Regierung arbeitete seit 1814 an einer neuen Verfassung, die dann 1818 von König Max I Joseph erlassen wurde, die konstitutionelle Monarchie in Bayern festigte und im Kern trotz mancher Reformen bis zur Revolution von 1918 Gültigkeit haben sollte 12 6 7 8 9 10 11 12

Wolfgang Ehberger, Robert Piloty und die Entstehung der Bamberger Verfassung, in: Gehringer/ Hecker/Hermann (Hgg ), Demokratie in Bayern, 141–163, hier 147–148 Alfons Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden Dokumentation zur bayerischen Verfassungsgeschichte, 3 erg Auflage Stamsried 2000 Michael Stephan (Hg ), Bayerns Anfänge als Verfassungsstaat Die Konstitution von 1808, München 2008; Alois Schmid (Hg ), Die bayerische Konstitution von 1808 Entstehung – Zielsetzung – Europäisches Umfeld, München 2008 Markus Junkelmann, Napoleon und Bayern, Regensburg 2014, 78–90 Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 11–17; Eberhard Weis, Montgelas, Bd  2: Der Architekt des modernen Bayerischen Staates 1799–1838, München 2005, 374–387, hier 380 Karsten Ruppert (Hg ), Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert, Berlin 2017 Michael Doeberl, Ein Jahrhundert bayerischen Verfassungslebens, München 1918; Weis, Montgelas, 780

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Das Jahrzehnt der Verfassungsgebung zwischen 1808 und 1818 lässt wiederkehrende Motive der bayerischen Regierung erkennen 13 Zum einen ging es nach den Revolutionen in den Vereinigten Staaten von Amerika und vor allem in Frankreich um die Konsolidierung monarchischer Herrschaft In Bayern wirkten auch die existenzbedrohenden Erbfolgekonflikte mit dem Nachbarn Österreich nach, als 1778 die Pfälzer, dann 1799 die Zweibrückische Linie der Wittelsbacher die Herrschaft in Bayern übernehmen konnte und an der Seite Napoleons mit dem Frieden von Preßburg 1805 die volle Souveränität Bayerns erreichte Die Verfassung von 1808 sollte die neue Königswürde und die gewonnene Souveränität absichern, auch gegenüber dem Rheinbund, dem Bayern auf Druck Napoleons beitrat 14 Eine ähnliche Motivlage spielte seit 1814 eine Rolle, als es galt, die Souveränität von Land und Monarchie im entstehenden, neuen internationalen System in Europa und insbesondere im Deutschen Bund zu behaupten 1808 und 1818 war auch von Bedeutung, dass nach Aufklärung und Revolution das Verhältnis zwischen Monarch und Untertanen neu zu justieren war, um monarchische Herrschaft erweitert zu legitimieren 15 Insofern kam schon 1808 und wieder 1818 der Formulierung von Grundrechten, der Schaffung eines Repräsentationsorganes und der Ausgestaltung des bis 1848 stark an ständische Elemente und Zensus gebundenen Wahlrechtes ein hoher Stellenwert zu In der Verfassung von 1808 war nun nicht mehr von „Untertanen“, sondern von „Staatsbürgern“ die Rede 16 Die Verfassung von 1818 sprach in der Präambel noch von „Untertanen“, dann aber überwiegend von „Staatsbürgern“ und auch von „Staatsbürger-Recht“ bzw „staatsbürgerlichen Rechten“ 17 Schließlich stand die Frage im Raum, wie es gelingen konnte, das territorial mehrfach neu formierte und dann konsolidierte Land, in der Verfassung von 1818 nun meist als „Reich“ bezeichnet, zu einer Einheit zusammenzuführen 18 Die Verfassungen mit Grundrechten und Repräsentationsorganen sollten entsprechend der Landesintegration und „zur Erreichung der vollen Gesamtkraft“19 des Staates dienen Allerdings räumte die Regierung in München „Rheinbayern“, ab 1838 in „Pfalz“ umbenannt, nach Jahren französischer Verwaltung und Geltung des Code Civil einen Sonderstatus ein, was in der Pfalz durchaus willkommen war und auch von der Verfassung von 1818 unberührt blieb 20 Integration 13 14 15 16 17 18 19 20

Karl Möckl, Der moderne bayerische Staat Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, München 1979, 94–97; Weis, Montgelas, 380–387, 778–786 Michael Doeberl, Rheinbundverfassung und bayerische Konstitution, München 1924 Vgl auch Proklamation der Königswürde vom 1 Januar 1806, Ferdinand Kramer, Bayerns Erhebung zum Königreich Das offizielle Protokoll zur Annahme der Königswürde am 1 Januar 1806 (mit Edition), in: ZBLG 68/2005, 815–834, hier 833 Verfassung 1808, § VII, VIII, in: Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 11–17 Verfassung 1818, Präambel, Titel III § 4, Titel IV § 2, § 9, in: Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 23–41 Vgl Präambel der Konstitution von 1808, in Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 11 Ebd Hans Fenske, Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49, in: Ruppert (Hg ), Wittelsbach, 33–46, hier 36–37

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erfolgte also durch Verfassung mit Grundrechten und ständischer bzw frühparlamentarischer Vertretung sowie gleichermaßen mit Rechtseinheit und -pluralität Fragt man danach, inwieweit die Ziele der Verfassungsgeber erreicht werden konnten, dann fällt der Befund ambivalent aus 1824 feierte man in Bayern allenthalben das 25 Regierungsjubiläum von König Max I Josef Dabei fällt auf, dass vor allem in bürgerlichen Kreisen der bayerischen Städte die Verfassung von 1818 als eine wesentliche Errungenschaft seiner Regierung hervorgehoben wurde 21 Andererseits zeigen die Auseinandersetzungen im Vormärz auch in Zusammenhang mit Verfassungsfeiern22 und besonders 1848/49 in der Pfalz, in Teilen Frankens und Schwabens doch auch, dass die innere Konsolidierung der wittelsbachischen Herrschaft und die Integration des Königreiches weiter und zum Teil neu vor erheblichen Herausforderungen stand In der Hinwendung zur deutschen Nation zeigte sich in den neuen Landesteilen auch eine Distanzierung zu Bayern Auch der Anspruch auf erweiterte Partizipation kam dabei deutlich zur Geltung 23 Vor allem die aus der Verfassung von 1818 hervorgegangene Ständeversammlung bzw der Landtag mit zwei Kammern brachten eine beachtliche Dynamik in das politische System Bayerns Der Kammer der Reichsräte gehörten von Geburt wegen Vertreter des vormals reichsständischen Adels, dann ausgewählte Amtsträger und vom König berufene Mitglieder an Die ständisch orientierte Kammer, ein bewusst konservatives Element in der Verfassung, sollte bei allen Diskussionen um eine Reform der Verfassung im Fokus stehen und wurde nach dem Ende der Monarchie bei der Verfassungsgebung in Bayern immer wieder als negatives Beispiel zur Abwehr eines Zweikammersystems herangezogen 24 In der Kammer der Abgeordneten fanden sich nach indirekter und an einen Zensus gebundener Wahl25 zu je einem Viertel adelige Grundbesitzer mit Gerichtsbarkeit, Geistliche beider christlicher Konfessionen, Vertreter der Städte und Märkte sowie sonstige Landeigentümer zusammen Die ständische Zusammensetzung der Kammern, das eingeschränkte Wahlrecht, fehlende Gesetzesinitiative und notwendige Zustimmung beider Kammern zeigten dem neuen Parlament Grenzen auf bzw soll21 22

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Baiern am 16 Februar 1824 nach offiziellen Berichten, 2 Bde , München 1824, VII; Hubertus Büschel, Untertanenliebe Der Kult um deutsche Monarchen 1770–1830, Göttingen 2006 Michael Kißener, Das Hambacher Fest 1832 Ein Ort der Demokratie? Ein bayerischer Erinnerungsort?, in: Orte der Demokratie in Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 81/2018, H  1), München 2018, 121–128; Georg Seiderer, Gaibach Vom Verfassungs- zum Freiheitsfest, in: ebd , 105–120 Günter Dippold / Ulrich Wirz (Hgg ), Die Revolution von 1848/49 in Franken, Bayreuth 2  Aufl 1999; Ulrich Klinkert, Revolution in der Provinz Kaufbeuren in den Jahren 1848 und 1849, Thalhofen 2004; Barbara Lochbihler (Hg ), Es lebe die Freiheit Revolution im Allgäu 1848/49, o O 2018 Bernhard Löffler, Die Bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918 Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996 Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818–1845), Göttingen 1996

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ten einen konservativen Kurs sicher stellen Allerdings, das ab 1818 neue Budget- und Petitions- sowie Beschwerderecht für Staatsbürger und Gemeinden als Partizipationsmöglichkeit26 und die Öffentlichkeit der Landtagssitzungen wurden zu Hebeln, die die monarchische Herrschaft zwar nicht in Frage stellten, aber doch in bis dahin unbekannter Form herausforderten Zudem förderten sie – mehr als die Wahlen27 – die Entwicklung einer wachsenden politischen Öffentlichkeit Schließlich erwiesen sich die Ständevertreter und Grundbesitzer keineswegs als jeweils homogene Gruppen, vielmehr bildeten sich in beiden Kammern in vielen Kontoversfragen noch vor einer Parteienbildung ganz unterschiedliche Koalitionen 28 Die Landtagssessionen 1819, 1822, 1825, 1827/28, 1831, 1834, 1837, 1840, 1842/43, 1845/ 46, 1847 und 1848 führten regelmäßig zu Konflikten zwischen königlichem Ministerium oder König und Vertretern im Landtag, wobei auch die beiden Kammern immer wieder divergierende Positionen einnahmen Wiederholt sah sich der König auch wegen der Verhältnisse im Landtag veranlasst, Minister zu wechseln und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu beschränken Frühe Protagonisten des Landtages, wie der Würzburger Bürgermeister Wilhelm Joseph Behr29, erlitten mit Haftstrafen zum Teil schwere Repressionen Auch in Sachen der Finanzen des Königs kam es bisweilen zu scharfen Auseinandersetzungen 30 Die Spannungen des „Vormärz“ und die Märzrevolution kulminierten in ein Reformpaket des Jahres 1848, als dem Landtag das Recht auf Gesetzesinitiative zugebilligt wurde; zudem sollte die vom König berufenen Minister mit der Unterschrift auf königlichen Verfügungen künftig auch verantwortlich sein Wichtig wurde die Reform des Wahlrechts, das mit der starken Reduzierung des Zensus und von ständischen Elementen substantiell auf größere Personenkreise erweitert wurde Als Einschränkung blieb: Wahlberechtigt waren volljährige Männer, soweit sie überhaupt eine Steuer entrichteten Zusammen mit den neuen Regeln zur Wahlkreiseinteilung begünstigte dies liberale bürgerliche Kräfte in den Städten Mit der erweiterten Pressefreiheit und dem Vereinsrecht wurden schließlich die Voraussetzungen für eine neue Qualität der Entfaltung der Zivilgesellschaft ermöglicht, die im vorpolitischen Raum in Verbindung mit einer expandierenden Publizistik bald stark wachsende Bedeutung bekommen sollte 31

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Dirk Götschmann, Bayerischer Landtag: Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten in den Jahren von 1818 bis 1918, in: www bayern landtag de/parlament/parlamentsgeschichte/beschwer den-an-die-kammer-der-abgeordneten (1 12 2020) Leeb, Wahlrecht, 670 Götschmann, Bayerischer Parlamentarismus, 883–884 Götschmann, Bayerischer Parlamentarismus, 347, 354–355 Hannelore Putz, Für Königtum und Kunst Die Kunstförderung König Ludwigs I von Bayern, München 2013, 263–265 Dieter Albrecht, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1871–1918), in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd  IV,1, begr v Max Spindler, neu hg v Alois Schmid, München 2  Aufl 2003, 318–438

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Mit den Möglichkeiten, die Vereine boten und durch die Gruppierungen, die sich im Landtag formierten, entwickelten sich seit den 1860er Jahren auch in Zusammenhang mit den freien, direkten und geheimen Wahlen zum Zollparlament 186832 die Parteien in Bayern: mit den bayerischen Patrioten (später Bayerisches Zentrum) im konservativ-katholischen Spektrum, mit den Liberalen bzw Nationalliberalen vor allem im städtischen Bürgertum und in evangelischen Landesteilen und später mit den Sozialdemokraten und ihrem Fundament in der wachsenden Arbeiterschaft insbesondere in Augsburg, Nürnberg und München Nach der Reichseinigung trug auch das moderne Reichstagswahlrecht zu einer weiteren Dynamisierung der politischen Kultur und zu weiteren Debatten über die Fortentwicklung des Wahlrechts in Bayern bei 33 In der Perspektive des Landesparlamentes hat sich mit der Reichseinigung eine ambivalente Position entwickelt, wenn man so will ein fortan grundlegendes Strukturproblem des Länderparlamentarismus Einerseits war spätestens seit 1848 mit der Ausweitung des Wahlrechts die demokratische Legitimation des Landtags deutlich gewachsen, was sich mit weiteren Wahlrechtsreformen, ab 1881 geheimes Wahlverfahren, bis 1905/06 verstärkte Andererseits verlor der Landtag mit der Verlagerung von Kompetenzen von Bayern an das Reich aber auch an Bedeutung, wenngleich die Zuständigkeiten für die eigene Armee und für die Zukunftstechnologien Bahn und Post bis 1919 doch beträchtlich blieben Gleichzeitig versuchten gerade auch die Kräfte, die auf die Eigenstaatlichkeit Bayerns bedacht waren, entsprechend im Zollparlament und im Reichstag Einfluss zu nehmen 34 Die nach 1848 durch die Ausweitung der Wählerbasis und auch durch die Entfaltung der politischen Öffentlichkeit wachsende Legitimation des Landtags stieß an die Grenze des monarchischen Prinzips der Verfassung, während gleichzeitig die Legitimation der Monarchie wegen des exzentrischen Ludwig II , der folgenden königslosen Prinzregentenzeit und der umstrittenen Übernahme der Königswürde 1913 durch Ludwig III schwächer wurde Die daraus resultierenden Spannungen erfuhren insofern eine Zuspitzung, als die Bayerischen Patrioten bzw das Zentrum, dann auch der seit den 1890er Jahren etablierte Bauernbund und die Sozialdemokraten immer stärker im Landtag vertreten waren, während der anachronistischen Monarchie-Vorstellungen verfallene König Ludwig II bzw der später die Monarchie durchaus, wenngleich zaghaft modernisierende Prinzregent bis 1912 liberal orientierte Minister beriefen 35

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Angelika Fox, Die wirtschaftliche Integration Bayerns in das Zweite Deutsche Kaiserreich, München 2001, 174–178 Albrecht, Reichsgründung, 318–438 Löffler, Bayerische Kammer der Reichsräte, 440–452 Albrecht, Reichsgründung, 318–438; Hermann Rumschöttel, Bayerische Innen und Verfassungspolitik 1912–1918 Chancen und Scheitern, in: Günter Kronenbitter / Markus Pöhlmann (Hgg ), Bayern und der erste Weltkrieg, München o J , 189–200

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Dynamisierung des Reformprozesses Vor allem drei Vorgänge brachten die Verfassung und das politische System Bayerns von 1905 bis 1913 in Bewegung Mit den zunehmend erfolgreichen Sozialdemokraten etablierte sich eine politische Kraft, die entschieden eine Parlamentarisierung anstrebte Da die bayerische SPD unter Georg von Vollmar einen dezidiert bayerisch-reformerischen Kurs verfolgte, war sie auch fähig zu einer Kooperation mit dem bayerischen Zentrum, was entscheidend zu Wahlrechtsreformen 1906 und damit zu einer erweiterten demokratischen Legitimation des Landtags beitrug 36 Die Abgeordneten des Landtags wurden fortan direkt nach relativer Mehrheit gewählt Die Wahlbezirke wurden gesetzlich eingeteilt und fortlaufend an die aktuellen Bevölkerungszahlen angepasst, was angesichts des starken Wachstums der Städte von erheblicher Bedeutung war Andererseits blieb das Wahlrecht auf Männer begrenzt, das Mindestalter für die Wahlberechtigung wurde von 21 auf 25 Jahre angehoben Zudem blieb das Wahlrecht an die Zahlung von direkten Steuern, mindestens über ein Jahr, gebunden 37 Es entwickelte sich demnach in Bayern eine von breiteren Wählerschichten getragene politische Mitte mit der partiellen Kooperationsfähigkeit von Zentrum und SPD Zum anderen berief Prinzregent Luitpold 1912 mit Georg von Hertling einen Vertreter des bayerischen Zentrums aus der Mehrheitsfraktion im Landtag zum Vorsitzenden des Ministerrats Auch wenn er und Hertling damit den Druck in Richtung Parlamentarisierung der Monarchie eigentlich dämpfen wollten, so war doch die symbolische Wirkung dieser Berufung nicht zu unterschätzen; zum Dritten ließ sich nach dem Tod des Prinzregenten 1912 und trotz des legitimen, aber wegen Krankheit nicht regierungsfähigen Königs Otto, der inzwischen 69-jährige Sohn des Prinzregenten 1912 zum König, Ludwig III , erheben Dies war letztlich nur durch die Zustimmung des Landtags zu einer Verfassungsänderung realisierbar 38 Trotz mancher Widerstände39 deutete die Entwicklung zu Beginn des 20  Jahrhunderts auf einen letztlich breit getragenen Verfassungswandel hin zu einer parlamentarischen Monarchie in Bayern 40

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Joachim Lilla, Landtagswahlkreise (1906–1933), publiziert am 31 07 2008; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www historisches-lexikon-bayerns de/Lexikon/Landtagswahlkreise_ (1906-1933) (1 12 2020) Bayerisches Landtagswahlgesetz vom 9 4 1906, in: www bavarikon de/object/GDA-OBJ-00000 BAV80000822?lang=de (28 2 2020) Dirk Götschmann, Wahlrecht (Weimarer Republik), publiziert am 22 11 2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: https://www historisches-lexikonbayerns de/Lexikon/Wahlrecht_(Weimarer_Republik) (1 12 2020) Stefan März, Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013, 27–34 Karl Möckl, Die Prinzregentenzeit Gesellschaft und Politik während der Ära des Prinzregenten Luitpold in Bayern, München 1972, 491–534 Löffler, Bayerische Kammer der Reichsräte, 550–551; ders , Stationen parlamentarischen Wandels in Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 58 (1995), 959–989; Karl Heinrich Pohl,

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Der Erste Weltkrieg hat diesen Prozess zunächst retardiert, ihm dann aber mit der zunehmenden Krise ab 1917 auch eine neue Dynamik gegeben, wobei vor allem die Sozialdemokraten mit den Abgeordneten Erhard Auer und Max Süßheim auf einen weitreichenden Wandel der Verfassung drängten Sie forderten mit einem dann gescheiterten Antrag im Landtag die Abschaffung der ständisch zusammengesetzten Kammer der Reichsräte, des Adels und der Fideikommisse, der Vorrechte des Königs und der Religionsgemeinschaften, außerdem das Verhältniswahlrecht für alle Volljährigen, auch Frauen, und eine einjährige Finanzperiode Damit gaben sie einerseits dem Diskurs um die Reform der Verfassung einen kräftigen Anstoß, gleichzeitig behinderte die Radikalität der Forderungen zunächst auch die weitere Entwicklung 41 Immerhin griff die königliche Regierung die Frage der Reform des Wahlrechtes und der Kammer der Reichsräte auf und entwickelte ihrerseits gemäßigte Reformvorschläge Im Königshaus selbst ließen vor allem die Prinzen Rupprecht und Franz Reformbereitschaft erkennen 42 Bei den offiziellen Reden zur Hundertjahrfeier der Verfassung im Mai 1918 wurde die Parlamentarisierung zwar angemahnt 43 Doch von Seiten der Regierung wurde auf Reformen nach dem Krieg verwiesen bzw vertröstet Erst angesichts der sich zuspitzenden Krise bei Kriegsende und der anstehenden Änderungen im Reich gewann dann der Reformprozess im Oktober 1918 eine weiter verstärkte Dynamik, die am 2 November in eine breit von Zentrum, Liberalen und Sozialdemokraten im Landtag getragene und von König sowie Regierung gebilligte Übereinkunft zur Demokratisierung des politischen Systems in Form einer parlamentarischen Monarchie mit allgemeinem Wahlrecht auch für Frauen mündete Selbst die künftigen Minister wurden von den Landtagsparteien schon designiert, erstmals auch zwei Sozialdemokraten 44 Die in der Nacht vom 7 auf den 8 November vom Unabhängigen Sozialdemokraten Kurt Eisner initiierte und mit bewaffneten Soldaten keineswegs gewaltfrei, aber ohne Blutvergießen erfolgreich durchgeführte Revolution retardierte zunächst noch einmal die Demokratisierung des politischen Systems in Bayern

41 42 43 44

Die Münchener Arbeiterbewegung Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992, 467–494 Willy Albrecht, Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918 Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912–1918, Berlin 1968, 259–269 Gerhard Immler, Residenz und Demokratie Bayerns Weg zur parlamentarischen Monarchie und sein plötzliches Ende, in: Orte der Demokratie in Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 81/2018), München 2018, 161–176 Doeberl, Jahrhundert; Ehberger, Robert Piloty, 147 Schmalzl, Erhard Auer, 221–226; Albrecht, Landtag und Regierung, 377–393

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Revolution, allgemeine Wahlen und Verfassungsgebung Der Revolutionsführer Kurt Eisner45 hatte für eine künftige Verfassung nur insofern eine vage Vorstellung, als der bayerische Staat als „demokratische und soziale Republik“46 organisiert sein sollte Er kündigte in seinen ersten Proklamationen an: „Eine konstituierende Nationalversammlung, zu der alle mündigen Männer und Frauen das Wahlrecht haben, wird so schnell wie möglich einberufen werden “47 Tatsächlich fand sich zunächst am 8 November eine nicht durch Wahlen legitimierte Räteversammlung als „provisorischer Nationalrat“ in München zusammen Er bestellte Eisner in der bisherigen Verfassungstradition zum Minister des Äußeren, der wie gehabt das Präsidium im Ministerrat einnehmen sollte 48 Gleichzeitig lehnte Eisner jede Verantwortung gegenüber „dem jetzigen improvisierten Parlamente“ ab, seine Regierung beanspruchte also „eine Art revolutionärer Diktatur“ 49 Akzeptanz erlangte die Revolutionsregierung Eisner zunächst auch dadurch, dass sie bekannte Mehrheits-Sozialdemokraten, insbesondere deren Vorsitzenden Erhard Auer als Innenminister in die Regierung aufnahm 50 Damit bekamen die Kräfte in der Revolutionsregierung eine zunehmend starke Stellung, die seit 1917 auf eine Reform der Verfassung im Sinne einer Parlamentarisierung, nach der Revolution auf eine Schwächung der Position der Räte und auf rasche allgemeine Wahlen, Einberufung des daraus hervorgehenden Landtags und auf Verfassungsgebung drängten 51 Am 18 November 1918 fasste die Regierung Eisner den Entschluss, eine Kommission aus Experten zur Ausarbeitung einer bayerischen und einer Reichsverfassung einzuberufen Erklärtes Ziel war es, den Umbruch zu Republik und Demokratisierung in einer neuen Verfassungs- und Rechtsordnung sowie die Staatlichkeit Bayerns im neu und föderal bzw bundesstaatlich zu organisierenden Reich abzusichern 52 Deswegen dachten die Verantwortlichen sowohl an eine Landes- als auch eine Reichsverfassung Maßgebliche Persönlichkeiten der Verfassungskommission wurden der Staatsrechtsprofessor der Universität Würzburg, Robert Piloty, der im Januar 1919 für die DDP auch zum Landtagsabgeordneten gewählt wurde, und der hohe Ministerialbeamte im 45 46 47 48 49 50 51 52

Grau, Kurt Eisner; ders , Kurt Eisner, die Verfassungsvorstellungen der Sozialdemokratie und der demokratische Neuanfang 1918/19, in: Gehringer u a (Hg ), Demokratie in Bayern, 63–82 An die Bevölkerung Münchens, in: Münchner Neueste Nachrichten, 8 Nov 1918; Grau, Kurt Eisner, 381 An die Bevölkerung Münchens, in: Münchner Neueste Nachrichten, 8 Nov 1918 Verhandlungen des provisorischen Nationalrates des Volksstaates Bayern im Jahre 1918/1919 Stenographische Berichte Nr  1–10, 1 Sitzung am 8 November bis zur 10 Sitzung am 4 Januar 1919, München 1919, 2 Bauer, Regierung Eisner, LIV Ebd , XXX–LV, LXI; Schmalzl, Erhard Auer, 269 Schmalzl, Erhard Auer, 291–292 Bauer, Regierung Eisner, 43; Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 78; Grau, Kurt Eisner, 421

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Verkehrsministerium und Protokollführer im Ministerrat, Josef von Graßmann Die Studienkollegen Piloty und Graßmann waren geprägt von der wichtigsten wissenschaftlichen Autorität im bayerischen Staatsrecht, Max von Seydel (†1901) Sie führten dessen Grundlagenwerk fort und galten entsprechend als anerkannte Spezialisten 53 Mit weiteren Vertretern in der Kommission repräsentierten sie in hohem Maße die Tradition der liberalen, höheren Beamtenschaft Bayerns Strittig blieben in der Regierung Eisner vor allem zwei Fragen: einerseits der Zeitpunkt von ersten allgemeinen Wahlen, andererseits die Rolle der Räte in einer künftigen staatlichen Ordnung Eisner, der zwar im ersten Aufruf nach der Revolution eine Nationalversammlung für Bayern angekündigt und auch später ein „demokratisches Parlament“ befürwortet hatte54, versuchte dann aber allgemeine Wahlen hinauszuschieben;55 zuvor wäre eine Demokratisierung der Verhältnisse notwendig, die er vor allem als eine Aufgabe der Räte sah Er äußerte zudem immer wieder starke Vorbehalte gegen einen in seinen Worten „bürgerlichen Parlamentarismus“ 56 Mit seinem Vorhaben, Wahlen zu einer Nationalversammlung in Bayern und im Reich auf längere Zeit zu verschieben, scheiterte Eisner aber sowohl in München und als auch in Berlin 57 Am 5 Dezember 1918 beschloss der bayerische Ministerrat nach scharfer Kontroverse und auf Drängen der Minister der Mehrheitssozialdemokraten, allen voran Erhard Auer, allgemeine Wahlen für den 12 Januar 1919 anzusetzen 58 Zwei Tage später erging eine Wahlordnung, die allgemeine Wahlen im Verhältniswahlrecht vorsah und wonach der zu wählende Landtag auch eine Verfassung ausarbeiten sollte 59 Schon am 10 Dezember legte die Verfassungs-Kommission einen Bericht über „Grundzüge einer neuen bayerischen und einer neuen Reichsverfassung“ vor Nach wiederholten Beratungen im Ministerrat kam die Arbeit der Verfassungskommission zu Jahresende 1918 zu einem vorläufigen Abschluss 60 Überraschend ergriff nun Eisner nach dem Jahreswechsel, wohl auch mit Blick auf seine Wahlchancen, die Initiative und schlug letztlich im Ministerrat ein vorläufiges „Staatsgrundgesetz für die Republik Bayern“ vor, das dieser nach kontroverser Diskussion tatsächlich am 4 Januar beschloss 61 Es sollte einerseits die revolutionären Errungenschaften einer sozialen Republik absichern, andererseits für eine Über-

53 54 55 56 57 58 59 60 61

Max v Seydel, Bayerisches Staatsrecht Auf Grundlage der 2  Aufl neu bearbeitet von Dr J von Graßmann und Dr R Piloty, Bd  1: Die Staatsverfassung von Piloty, Bd  2: Die Staatsverwaltung von Graßmann, Tübingen, 1913 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 118 Schmalzl, Erhard Auer, 291 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 107 Ebd , 106 Bauer, Regierung Eisner, 118–131; Schmalzl, Erhard Auer, 291–292 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 110–111 Ebd , 121–123 Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 49–50

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gangszeit bis zu einer neuen Verfassung Rechtssicherheit schaffen und der Regierung Eisner weitreichende Handlungsmöglichkeiten erhalten Im Vorfeld der Wahlen löste das Staatsgrundgesetz erhebliche Kritik aus, wonach die revolutionäre, nicht demokratisch legitimierte Regierung, dem kommenden gewählten Landtag gleichsam vorgreifen und dessen Wirkungsmöglichkeiten einschränken wolle 62 In der Tat wurde die Verfassungsfrage dann auch Gegenstand des Wahlkampfes 63 Für Eisner mündete die Wahl in ein Desaster Seine USPD erreichte nur 2 5 % der Stimmen, während die konservative, erst im November gegründete Bayerische Volkspartei64 mit 35 % die Wahlsiegerin war, gefolgt von der MSPD mit 33 % und den Deutschen Demokraten mit 14 % Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 86 % erreichten demnach die Parteien, die klar für die parlamentarische Demokratie und eine entsprechende Verfassung eintraten, 82 % der Stimmen Es waren im Wesentlichen die politischen Kräfte und Strömungen, die schon Ende Oktober / Anfang November 1918, vor der Revolution, die Parlamentarisierung und Demokratisierung des politischen Systems in Bayern im Landtag beschlossen hatten Die Fachleute der Verfassungskommission, allen voran Robert Piloty und Josef von Graßmann, arbeiteten nun verstärkt am Entwurf der künftigen Verfassung, der am 15 Februar vorlag Die Verfassung sollte vom bald zusammentretenden Landtag verhandelt und beschlossen werden Für eine unvermeidliche Übergangszeit sollte der gewählte Landtag ein zweites vorläufiges Staatsgrundgesetz mit deutlich erweiterten Kompetenzen für den Landtag beschließen 65 Der Boden für den Übergang zur parlamentarischen Demokratie schien nun erneut bereitet Eskalation politischer Gewalt und Versuch der Stabilisierung Als am 21 Februar der neu gewählte Landtag in München zusammentrat66, war Eisner bereit, dem Wahlergebnis Rechnung zu tragen und die Macht abzugeben Auf dem Weg zum Landtag wurde er von dem jungen Offizier Graf Arco ermordet Eine daran anschließende, von einem Mitglied der radikalen Linken ausgelöste Schießerei im Landtag forderte zwei weitere Menschenleben Erhard Auer, Vorsitzender der MSPD und seit 1917 wichtiger Protagonist im Prozess der Parlamentarisierung und Demokratisierung des politischen Systems, wurde schwer verletzt und fiel für die kommenden 62 63 64 65 66

Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 134–135 Ebd , 136 Claudia Friemberger, Sebastian Schlittenbauer und die Anfänge der Bayerischen Volkspartei, St Ottilien 1998; Klaus Schönhoven, Die Bayerische Volkspartei 1924–1932, Düsseldorf 1972 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 152–153 Verhandlungen des bayerischen Landtags Ordentliche und außerordentliche Tagung 1919 Stenographische Berichte Nr  1–27, 1 Sitzung am 21 Februar bis zur 27 Sitzung am 24 Oktober 1919, Bd  I, München 1919, 1–2

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Monate aus 67 Diese Katastrophe führte zu einer Wiedererstarkung und Radikalisierung der durch das Wahlergebnis in die Defensive gebrachten Rätebewegung, die nun faktisch in München die Macht an sich riss Erst nach zähen Verhandlungen zwischen Rätekongress und Vertretern der in den Landtag gewählten Parteien wurde der Landtag am 17 und 18 März nach erneuter Einberufung für kurze Zeit handlungsfähig, um eine neue Regierung demokratisch zu legitimieren 68 Vereinbarungsgemäß wählte der Landtag auch mit den Stimmen der stärksten Fraktion, der konservativen Bayerischen Volkspartei, nun den Sozialdemokraten und bisherigen Kultusminister Johannes Hoffmann69 zum Vorsitzenden des Ministerrats, der mit Ministern aus Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängigen Sozialdemokraten und Bauernbund ein Links-Kabinett bildete 70 Hoffmann war in der angespannten politischen Lage als Kompromisskandidat vermittelbar, weil er einerseits zum linken Flügel der MSPD gerechnet wurde, andererseits als ein Verfechter des parlamentarischen Systems galt Insofern war auch klar, dass die Arbeit an der Verfassung fortgeführt würde Der Landtag beschloss ebenfalls einstimmig das vorbereitete zweite Staatsgrundgesetz als vorläufigen staatsrechtlichen Handlungsrahmen, nun mit einem gestärkten Landtag 71 Gleichzeitig verabschiedete er ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung Hoffmann in der Krisen- und Übergangssituation weitreichende Kompetenzen übertrug 72 Als Hoffmann sich daran machte, den Landtag für den 8 April wieder einzuberufen und ihm einen Verfassungsentwurf vorzulegen, führte dies am 7  April in München zur Ausrufung der Räterepublik, die am 14 April von einer kommunistischen Räterepublik abgelöst wurde Bedroht von bewaffneten Räten, wichen die Regierung Hoffmann und der Landtag von der Landeshauptstadt nach Bamberg aus Die Regierung leitete schließlich die militärische Niederschlagung der Räterepublik samt Rudolf Egelhofers Roter Armee ein, was Anfang Mai in München zu einem Bürgerkrieg mit rund 1000 Toten führte und mit Hilfe von Reichswehrtruppen und Freikorps die Autorität der gewählten Landesregierung durchsetzte Erst am 15 Mai konnte der Landtag nun in Bamberg wieder zusammentreten Die eskalierende Krise in Bayern zwischen dem 21 Februar bzw dem 7 April und den ersten Maitagen 1919 hat die Bemühungen um die Ausarbeitung einer bayerischen

67 68 69 70 71 72

Schmalzl, Erhard Auer, 216–298 Verhandlungen des bayerischen Landtags Ordentliche und außerordentliche Tagung 1919 Stenographische Berichte Nr  1–27, 1 Sitzung am 21 Februar bis zur 27 Sitzung am 24 Oktober 1919, Bd  I, München 1919, 1–28 Diethard Hennig, Johannes Hoffmann Sozialdemokrat und Bayerischer Ministerpräsident Biographie, München 1990 Ehberger/Merz (Bearb ), Kabinett Hoffmann I , 6–21 Wenzel, Bayerische Verfassungsurkunden, 53–54 Johannes Merz, Auf dem Weg zur Räterepublik Staatskrise und Regierungsbildung in Bayern nach dem Tode Eisners (Februar/März 1919), in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 66/2003, 541–564

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Verfassung in hohem Maße überlagert 73 Sie hatte auch zur Folge, dass der Einfluss Bayerns auf die Entwicklung der Reichsverfassung in Weimar denkbar schwach wurde, zumal Johannes Hoffmann stärker unitarisch dachte74 als etwa zuvor Kurt Eisner oder maßgebliche Protagonisten der Bayerischen Volkspartei wie ihr Gründer Georg Heim Die Regierung Hoffmann stimmte der Reichsverfassung zu, ohne den Landtag damit zu befassen Faktisch war dann die zu entwickelnde bayerische Verfassung in das von der Weimarer Nationalversammlung beschlossene Verfassungsgefüge des Reiches einzupassen, was Vertreter der BVP und der SPD im Landtag gleichermaßen kritisierten 75 Die ursprüngliche Absicht, im bayerischen Verfassungsgebungsprozess nach der Revolution die Staatlichkeit Bayerns und komplementär eine ausgeprägte föderale Struktur des Reiches durch die zügige Ausarbeitung einer Landes- und Reichsverfassung abzusichern, konnte nicht mehr realisiert werden Vielmehr verlor Bayern alle bisherigen Sonderrechte über Eisenbahn, Post und Armee in Friedenszeiten Daraus sollte sich eine der wesentlichen Belastungen für die Weimarer Republik in Bayern76 und im Reich entwickeln Parteien der politischen Mitte und Verfassungskompromiss Regierung und Landtag konzentrierten sich in der Folge zunehmend auf die Ausarbeitung einer neuen bayerischen Verfassung Die Arbeit dazu wurde seit dem 7 Mai im Kabinett77 und seit dem 28 Mai im Landtag78 wieder aufgenommen Parallel liefen Verhandlungen zwischen den Mehrheitsparteien im Landtag, was dann am 30 Mai zu einer Koalitionsvereinbarung (Bamberger Abkommen) und am 31 Mai zu einer zweiten Regierung unter Johannes Hoffmann führte, jetzt mit Vertretern der breiten Mitte aus Mehrheitssozialdemokraten, der Bayerischen Volkspartei und der DDP sowie einem parteilosen Verkehrsminister 79 Das Ermächtigungsgesetz vom März wurde aufgehoben, ein „normales“ parlamentarisches Leben sollte ermöglicht werden Eine zentrale Aufgabe der Koalition sollte neben der Behebung von wirtschaftlichen und sozialen Nöten in Folge des Krieges die Ausarbeitung einer Verfassung für eine parlamentari73 74 75 76 77 78 79

Ehberger/Merz (Bearb ), Kabinett Hoffmann I , 117, Anm  8 , 145 Anm  14 Hennig, Johannes Hoffmann, 248–252 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 198–203, 206–207 Matthias Bischel / Franz Menges, Bayern in der Weimarer Republik, in: Manfred Treml, Geschichte des modernen Bayern (4  Aufl München 2020, im Druck), 169–365 Ehberger/Merz (Bearb ), Kabinett Hoffmann I , 179, 205, 209 Verhandlungen des bayerischen Landtags Ordentliche und außerordentliche Tagung 1919 Stenographische Berichte Nr  1–27, 1 Sitzung am 21 Februar bis zur 27 Sitzung am 24 Oktober 1919, I Bd, München 1919, 1–28 Ehberger/Bischel, Kabinett Hoffmann II, 6–19 Bernhard Löffler, Kabinett Hoffmann II, 1919/20, publiziert am 28 09 2006; in: Historisches Lexikon Bayerns, www historisches-lexikon-bayerns de/ Lexikon/Kabinett_Hoffmann_II,_1919/20 (1 12 2020)

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sche Demokratie und Republik sein, wobei man die Ziele aus dem zweiten vorläufigen Staatsgrundgesetz vom 17 März zur Grundlage nehmen wollte 80 Nach der Eskalation politischer Gewalt in der Zeit vom 21 Februar bis Anfang Mai war der Druck groß, mit einer parteiübergreifenden Vereinbarung und Regierungsbildung eine Konsolidierung und Stabilisierung der Verhältnisse zu erreichen Dies führte auch in den innerparteilichen Diskussionen um die Bildung einer Koalition und bei der Ausarbeitung der Verfassung zu einer höheren Kompromissbereitschaft Die neue Verfassung und das damit geregelte politische Leben in Bayern sollten auf einem breiten Fundament gründen Die Arbeit an der Verfassung verlagerte sich ab Juni dann vor allem in den Verfassungsausschuss des Landtages, der bis zum 11 August in 21 Sitzungen beriet Wesentliche Grundlage des Regierungsentwurfes der Verfassung war die Ausarbeitung, die die beiden Spezialisten Josef von Graßmann und Robert Piloty bis Februar 1919 vorgelegt hatten Zudem nahmen die Diskussionen im Verfassungsausschuss immer wieder Bezug auf die Verfassungsgebung im Reich sowie in den Nachbarländern Baden und Württemberg, in Fragen der plebiszitären Elemente auch der Schweiz Im Kern verliefen die Verhandlungen im Verfassungsausschuss entlang der unterschiedlichen parteipolitischen Positionen von BVP, MSPD und DDP sowie unter Berücksichtigung der fachlichen Argumente insbesondere von Robert Piloty, der zugleich für die DDP Abgeordneter im Landtag und Berichterstatter im Verfassungsausschuss war Für die BVP wurde der Fraktionsvorsitzende Heinrich Held Berichterstatter81, für die MSPD Friedrich Ackermann, der als der Berater und Schwager von Johannes Hoffmann das Vertrauen des Regierungschefs genoss Die Berichterstatter der Parteien sowie der Vertreter der Regierung, Josef Graßmann, konnten in sorgfältiger Zusammenarbeit alle wesentlichen Fragen vorab klären und ermöglichten damit den letztlich großen Konsens im Landtag bei der Verabschiedung der Verfassung 82 Im Wissen um die starke unitarische Ausrichtung der kommenden Reichsverfassung, die im Verfassungsausschuss und später im Plenum wiederholt kritisiert wurde, betonten die bayerischen Verfassungsgeber die Staatlichkeit des Landes insofern, als sie in nach Diskussion weitreichendem Konsens eine bayerische Staatbürgerschaft etablierten und die traditionellen Farben „weiß-blau“ als Landessymbole definierten 83 Auch die Interpretation des Begriffes „Freistaat“ reichte nun offensichtlich über die ursprüngliche Übersetzung von „Republik“ hinaus Dagegen verzichtete man nach kontroverser Diskussion vor allem auf Betreiben der Sozialdemokraten auf die traditionelle Form einer personalen Staatsspitze in Form eines vom Volk gewählten Staatspräsidenten Er hätte nach Vorstellung der Bayerischen Volkspartei die Staatlichkeit Bayerns im 80 81 82 83

Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 181 Richard Keßler, Heinrich Held als Parlamentarier Eine Teilbiographie 1868–1924, Berlin 1971 Ehberger, Robert Piloty, 157 Ruf, Bayerische Verfassung, 654–655

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Besonderen repräsentieren können 84 Ein später von der Bayerischen Volkspartei in der Sache initiiertes Volksbegehren zur Verfassungsänderung scheiterte 1924 85 Bei der Verfassungsgebung war nach der Niederschlagung der Räterepublik eine frühere zentrale Kontroversfrage, die nach der Rolle der Räte, deutlich entspannt Die vorangegangenen Überlegungen, mit Rücksicht auf die Räte in die Verfassung ein berufsständisches Element etwa in Form einer zweiten Kammer des Parlamentes einzufügen, wurden fallen gelassen Immerhin sollten per Gesetz „berufsständische Vertretungen“ ermöglicht werden Vor allem die Sozialdemokraten wollten eine Einschränkung der Kompetenzen des vom Volk gewählten Landtags in Erinnerung an die frühere ständisch zusammengesetzte Kammer der Reichsräte nicht akzeptieren Letztlich sah die bayerische Verfassung dann nur eine Kammer vor Intensiv wurde dagegen die Problematik plebiszitärer Elemente in der Verfassung beraten und letztlich durch Volksbegehren und Volksentscheid etabliert Allerdings wurden in Abweichung von früheren Vorstellungen der Linken zahlreiche Einschränkungen und hohe Quoren festgelegt, was dazu führte, dass dieses Instrument in der Geschichte Bayerns bis 1933 kaum eine Bedeutung spielen sollte 86 Eine starke Stellung, stärker als der Regierungsentwurf vorsah, sollte auf Drängen der Abgeordneten aller Parteien der Landtag im Verfassungsgefüge bekommen 87 Er wählte den Ministerpräsidenten und bestätigte die von diesem berufenen Minister Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen sowie Staatsverträgen sollten gemeinsam von Landtag und Ministerpräsident erfolgen Der Landtag erhielt zum traditionellen Haushaltsrecht ein weitreichendes Selbstorganisationsrecht Hohe Hürden bei plebiszitären Elementen der Verfassung etwa zur Auflösung des Landtags sollten nach dem Willen der Verfassungsgeber diesen schützen 88 Auch bei der Gestaltung der Regierungskompetenzen kam deutlich zum Ausdruck, dass die Verfassungsgeber vor allem im deutlich gestärkten Landtag die Demokratisierung des politischen Systems verankert sehen wollten Dies hat später zur Charakterisierung als „Parlamentsabsolutismus“ beigetragen Auf Regierungsseite wurde das kollegial organisierte Gesamtministerium89 als „oberste vollziehende und leitende Behörde des Staates“ definiert Erstmals in der bayerischen Verfassungsgeschichte wurde das Amt eines „Ministerpräsidenten“ geschaffen, allerdings ohne Richtlinienkompetenz 90 Der Ministerpräsident sollte ein Ministerium leiten, traditionell das des Äußeren Er sollte dem Gesamtministerium vorstehen 84 85 86 87 88 89 90

Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 255 Otto Altendorfer, Fritz Schäffer als Politiker der Bayerischen Volkspartei 1888–1945, München 1993, 243–258 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 227–230 Ebd , 232–239; Ruf, Bayerische Verfassung, 101–213 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 226–227 Ruf, Bayerische Verfassung, 214–322 Ebd , 303–322

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Bei Stichentscheiden würde seine Stimme den Ausschlag geben Nach kontroverser Diskussion wurde ihm das Recht zugebilligt, den Rat der Beamten aller Ministerien einzuholen Zudem sollte er den Vollzug der Beschlüsse des Gesamtministeriums kontrollieren Der Ministerpräsident wurde somit „primus inter pares“ im Gesamtministerium In den Verfassungsberatungen stellte sich unter anderem Heinrich Held von der BVP, später von 1924 bis 1933 Ministerpräsident, gegen eine stärkere Stellung des Ministerpräsidenten 91 Angesichts der Vehemenz vorangegangener politischer Auseinandersetzungen entwickelte sich die Debatte im Verfassungsausschuss und Plenum zu den Problembereichen Kirche-Staat und Schule92 erstaunlich wenig kontrovers 93 Ähnlich wie bei den Grundrechten, die seit 1808 zur bayerischen Verfassungstradition gehörten und wieder verankert wurden94, war den bayerischen Verfassungsgebern bewusst, dass diese Elemente der Landesverfassung in hohem Maße von der kommenden Reichsverfassung überlagert werden würden 95 Bevor die Verfassung im Plenum des Landtages am 12 August mit großer Mehrheit von 165 gegen 3 Stimmen beschlossen wurde, betonten die Vertreter aller Parteien zum einen noch einmal eigene Positionen, dann aber auch den Kompromisscharakter der Verfassung Während die Bayerische Volkspartei noch einmal die Verfassungsentwicklung seit 1818 würdigte, hoben die Sozialdemokraten die Errungenschaften seit der Revolution hervor Jede Partei, so die Hauptredner der Fraktionen, hätte Abstriche von ihren Idealvorstellungen akzeptiert, um eine neue tragfähige staatsrechtliche Grundlage für Bayern zu schaffen 96 Soweit bekannt97 wurde die Bamberger Verfassung in den Jahren der Weimarer Republik in Bayern von offizieller Seite nicht gefeiert oder im Besonderen erinnert, anders als dies zuvor regelmäßig für die Verfassung von 1818 geschehen war, zuletzt noch zum Hundertjährigen Jubiläum im Mai 1918, wobei in Reden deren Reformbedürftigkeit in Richtung Parlamentarisierung und Demokratisierung thematisiert wurde 98 Als Kompromiss aus einer Krisensituation entstanden, fand die Bamberger Verfassung insbesondere bei der Bayerischen Volkspartei zwar Akzeptanz, aber wenig Zuneigung Entsprechend wurden bald Forderungen nach einer Verfassungsänderung begrün-

91 92 93 94 95 96 97 98

Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 254–255 Ruf, Bayerische Verfassung, 513–616 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 262–263 Ruf, Bayerische Verfassung, 492–512 Ehberger, Bayerns Weg zur parlamentarischen Demokratie, 269–276 Ebd , 280–286 Vgl Sabine Freitag, Realer Ort und symbolischer Sinn Die Bamberger Harmonie als Ort der Demokratie in Bayern, in: Orte der Demokratie in Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 81/2018, H  1), München 2018, 177–189 Doeberl, Jahrhundert; Ehberger, Robert Piloty, 147

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det 99 Dagegen wurde auch in Bayern an die Weimarer Reichsverfassung erinnert, allerdings nicht von Seiten der von der Bayerischen Volkspartei geführten Bayerischen Staatsregierung oder gar als „allgemeine Landesfeier“100, vielmehr von den Sozialdemokraten und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold101, aber ebenso in Universitäten, wo dann bisweilen auch die Bamberger Verfassung Erwähnung fand 102 Die Reichsbehörden in München begingen im August 1929 eine Feier zum zehnjährigen Jubiläum der Weimarer Reichsverfassung mit dem Münchner Rechtshistoriker Konrad Beyerle, der einst Mitglied der Weimarer Nationalversammlung war und deren Ergebnis verteidigte, wenn er auch gleichzeitig angesichts der unitarischen Dynamik um Verständnis für die bayerischen Positionen warb 103 Die Bamberger Verfassung würdigte er dabei nicht Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Verfassungsentwicklung in Bayern ausgehend von den Verfassungsdiskussionen seit 1778 sowie den Verfassungen 1808 und 1818, verstärkt seit 1848 und dynamisiert durch die Parteienentwicklung seit den 1860er Jahren  – nicht ohne Widerstände und Rückschläge  – auf dem Weg zu einer Demokratie in Form einer parlamentarischen Monarchie war Dies verstärkte sich seit 1905/06 und 1912 durch eine Kooperation von Zentrum und Sozialdemokraten bei Wahlrechtsreformen und durch die Berufung des leitenden Ministers aus der Mehrheitsfraktion, dem Zentrum Zum Durchbruch kam die Entwicklung aber erst, als seit 1917 die Krise des Ersten Weltkrieges den gesellschaftlichen und vor allem von den Sozialdemokraten aufrecht erhaltenen politischen Druck in Richtung einer Parlamentarisierung des politischen Systems weiter forcierte Diese wurde schließlich Anfang November 1918 im Konsens aller Parteien des Landtags beschlossen und vom König gebilligt Es folgte unmittelbar darauf die Revolution Kurt Eisners, die die Demokratisierung und Parlamentarisierung zunächst noch einmal retardierte Die Revolutionsregierung setzte zwar bald die Arbeit an einer demokratischen Verfassung für Bayern in Gang, beschloss am 4 Januar 1919 ein freilich umstrittenes vorläufiges Staatsgrund-

99 Altendorfer, Fritz Schäffer, 243–258 100 Konrad Beyerle, 10 Jahre Reichsverfassung Festrede zur Münchener Verfassungsfeier der Reichsbehörden am 11 August 1929, München 1929, 9; Bäuml, Kulturpolitik, 249–251 101 Schmalzl, Erhard Auer, 490 102 Ralf Poscher, Der Verfassungstag Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999; Hans-Andreas Kroiß, 22 Reden und Aufsätze zum Verfassungstag (11 August) der Weimarer Republik: ein Beitrag zur politischen Kultur der Zeit, 2 Bde , Augsburg 1985 103 Beyerle, 10 Jahre Reichsverfassung, 32–33; Karl Schwend, Bayern zwischen Monarchie und Diktatur Beiträge zur bayerischen Frage in der Zeit von 1918 bis 1933, München 1954, 100–103

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gesetz und ermöglichte schließlich auf Druck des Vorsitzenden der Mehrheitssozialdemokraten und Innenministers Erhard Auer allgemeine Wahlen am 12 Januar 1919 Sie blieb aber, vor allem der Vorsitzende der Revolutionsregierung Kurt Eisner, unklar bei der Rolle der seit der Revolution erstarkten Räte in der künftigen Verfassungsordnung Unstrittig wollte die Regierung Eisner ein Verfassungsgefüge im Reich, das den Einzelstaaten eine starke Stellung zuwies und damit auch der Staatlichkeit Bayerns Mit dem politischen Mord an Eisner am 21 Februar 1919 und der weiteren Eskalation der politischen Gewalt trat der Prozess der Verfassungsgebung in Bayern und die Einflussnahme der bayerischen Regierung auf den komplementären Prozess in Weimar bis Mai 1919 in den Hintergrund Doch ermöglichten die klaren Gewinner der Landtagswahlen, vor allem die Parteien der Mitte, Sozialdemokraten und Bayerische Volkspartei sowie DDP, im März die Bildung einer aus dem neu gewählten Landtag legitimierten Regierung unter dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann, die dann den Verfassungsgebungsprozess wieder aufgreifen konnte Diese Parteien waren es auch, die nach der militärischen Niederschlagung der Räterepublik in Bayern eine Koalitionsvereinbarung trafen, gemeinsam eine neue Regierung bildeten und dann zügig eine Verfassung ausarbeiteten Die politischen Kräfte, die schon vor der Revolution die Parlamentarisierung des politischen Systems in Bayern beschlossen hatten, drängten während der Revolutionsregierung Eisner auf baldige Wahlen, Parlamentarisierung und entsprechende Demokratisierung, sie versuchten nach der Eskalation der Gewalt durch Regierungsbildung aus dem neu gewählten Landtag und dann durch eine breit getragene Koalitionsregierung das Land zu stabilisieren, dann auch mit einer neuen, am 14 August in Bamberg beschlossenen Verfassung Insofern hatten Republik und Demokratie eine Chance Wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, hat die schwere Krise mit der Eskalation der politischen Gewalt seit Februar 1919 in Bayern aber auch zu einer Veränderung der politischen Kultur im Land geführt Wie schon die Kommunalwahlen im Juni 1919 und dann die Landtagswahlen im Juni 1920 zeigten, gewannen nun die Parteien auf der Linken mit den Unabhängigen Sozialdemokraten und auf der Rechten mit der Bayerischen Mittelpartei / Deutschnationalen Volkspartei deutlich an Zuspruch Zwar konnte sich die Bayerische Volkspartei zunächst noch verbessern, doch die Mehrheitssozialdemokraten und die DDP verloren stark an Zustimmung 104 Zu einer gemeinsamen Regierungsbildung fanden Bayerische Volkspartei, Mehrheitssozialdemokraten und DDP dann nicht mehr zusammen Die Ambivalenz der in der Bamberger Verfassung angelegten Möglichkeiten zeigt sich schließlich in den folgenden Regierungsbildungen Von 1919 bis 1924 zählte Bayern in kurzen Abständen vier Ministerpräsidenten

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Dirk Götschmann, Landtagswahlen (Weimarer Republik), in: www historisches-lexikon-bayerns de (2 12 2020)

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Dann konnte sich Heinrich Held von der Bayerischen Volkspartei, einer der Väter der Verfassung, bis 1933 behaupten, auch wenn er 1930 den Koalitionspartner Bauernbund und damit die Mehrheit im Landtag verlor und nur noch geschäftsführend wirken konnte Ferdinand Kramer, Vorstand des Instituts für Bayerische Geschichte der LMU München Lehrstuhl für Bayerische Geschichte am Historischen Seminar der LMU sowie Vorsitzender Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Ein Verfassungsstaat „nicht wie alle anderen“ Hamburg Ulrich Lappenküper Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 89–111

Abstract: As in the other federal states of the Weimar Republic, the Free and Hanseatic City of Hamburg underwent far-reaching changes to its constitutional system in the early 1920s The essay illuminates Hamburg’s constitutional development starting in the 15th century, and describes the conditions under which the new state constitution that came into force on 7 January 1921, was created It examines the opportunities for political participation opened up by the constitution and sheds light on its consequences for the development of Hamburg’s political culture and identity as a state until 1933 It concludes that it was not the constitution of 1921 that was responsible for the end of democracy in the metropolis on the Elbe after the National Socialists seized power, but the lack of political culture and democratic convictions

„Mit der Verkündung dieser Verfassung beginnt in der Geschichte Hamburgs ein neues Buch Es läge nahe, in den Büchern der Vergangenheit zu blättern, um den Fäden, die das Neue mit dem Alten verbinden, nachzugehen“ 1 Der Appell, mit dem der sozialdemokratische Bürgerschaftspräsident Rudolf Roß Ende 1920 den Abschluss der Beratungen über die am 7 Januar 1921 in Kraft tretende Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg bekanntgab, könnte als Leitlinie des vorliegenden Aufsatzes kaum besser formuliert werden Indes, die Studie will nicht bloß „den Fäden, die das Neue mit dem Alten verbinden, nachgehen“, sondern diese ‚Fäden‘ um einige weitere ergänzen Verpflichtet fühlt sie sich dabei der seit einigen Jahren intensiv betriebenen Forschung

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Rede von Rudolf Roß, 29 12 1920, in: Heinrich Erdmann (Bearb ), Verfassunggebende Bürgerschaft Verfassungsentwürfe und Verfassungsberatungen 1919 und 1920 Dokumentation, Hamburg 1993, 228

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über die Landesverfassungsrechte in der Weimarer Republik im Allgemeinen wie auch jener über die Hamburger Verfassung im Besonderen Nachdem bereits zeitgenössisch von Max Mittelstein und Otto Ruthenberg wichtige Materialsammlungen zur Entstehung der Hamburger Konstitution von 1921 vorgelegt worden waren2 und Hans Peter Ipsen Mitte der 1950er-Jahre eine Monographie über die Verfassung und Verwaltung der Elbmetropole „Von Weimar bis Bonn“ mit einem kurzen Abschnitt über Hamburg „unter der Weimarer Verfassung“3 veröffentlicht hatte, präsentierte Heinrich Erdmann 1993 eine wegweisende Dokumentation zu den Verfassungsentwürfen und -beratungen der Verfassunggebenden Bürgerschaft von 1919/20 4 Unter Auswertung dieser Textsammlungen und auf der Basis breiter Archivforschungen publizierte Tilman Lütke dann 2016 eine rechtswissenschaftliche Dissertation, die die Hamburger Verfassung im Spannungsbogen von Tradition und Umbruch untersucht 5 Auf einem solchermaßen festen Fundament geht es in dieser Abhandlung nun konkret darum, 1 die Reform der Hamburger Verfassung von 1921 unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Entstehungsbedingungen wie auch der historischen Wurzeln zu analysieren, 2 die Erweiterungen der durch sie eröffneten politischen Partizipationsmöglichkeiten in der Zwischenkriegszeit auszuleuchten und 3 die Folgen der Verfassungsänderung von 1921 für die Entwicklung der politischen Kultur und der Landesidentität Hamburgs bis zur Beseitigung der Konstitution 1933 zu erörtern Historische Wurzeln Die altständisch-patrizische Verfassung der „Rezesse“ Seit dem 15  Jahrhundert wurden der Aufbau, das Zusammenwirken sowie die Rechte und Pflichten der staatlichen Organe in der Stadtrepublik Hamburg in einer Reihe von Rechtsnormen geregelt 6 Den Auftakt zu dieser vormodernen Verfassungsentwicklung bildete ein 1410 zwischen Rat und Bürgerschaft geschlossener „Rezeß“, in

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Max Mittelstein, Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7 Januar 1921 nebst den ergänzenden Gesetzen über ihre Einführung, Bürgerschaftswahl, Senat und Volksentscheid sowie der Geschäftsordnung der Bürgerschaft, 2  Aufl , Hamburg 1924; Otto Ruthenberg (Hg ), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, Berlin 1926 Hans Peter Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung Von Weimar bis Bonn, Hamburg 1956, 13 Erdmann (Bearb ), Verfassunggebende Bürgerschaft Tilman Lütke, Hanseatische Tradition und demokratischer Umbruch Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 7 Januar 1921, Baden-Baden 2016 Vgl im Überblick: Jürgen Bolland, Die hamburgische Bürgerschaft in alter und neuer Zeit, Hamburg 1959, 13–22 u 145–151

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dem den Bürgern ein gewisses Maß an Mitbestimmungsrechten eingeräumt wurde Im Langen Rezeß von 1529 justierten Rat und Bürgerschaft das Verhältnis der Machtverteilung zwischen Rat und den neu geschaffenen, mit einer Ersten Kammer vergleichbaren „bürgerlichen Kollegien“ Das einer Zweiten Kammer entsprechende Vertretungsorgan der Stadtbevölkerung, die Bürgerschaft, bestand aus den „Älterleuten“ und den „Erbgesessenen“ 7 Nur sie besaßen als Eigentümer von unbelastetem und frei vererbbarem Grundbesitz in der Stadt das für die Zulassung zu Wahlen unabdingbare Bürgerrecht Im Hauptrezess von 1712 verständigten sich Rat und Bürgerschaft nach langen internen Streitigkeiten im Nachgang zum Dreißigjährigen Krieg darauf, dass die höchste Herrschaft der Stadtrepublik im gemeinsamen Zusammenwirken beider Gremien ausgeübt werden soll Die im Langen Rezeß fixierte Begrenzung der politischen Mitbestimmung auf privilegierte Schichten und die Einschränkung der Bürgerrechte blieben unangetastet Nachdem der Stadtstaat an der Elbe seine Unabhängigkeit 1810 im Kaiserreich Napoleons I eingebüßt hatte, wurde die altständisch-patrizische Verfassung nach der Befreiung aus der napoleonischen Fremdherrschaft am 27 Mai 1814 wieder in Kraft gesetzt Wenngleich die Bundesakte des Deutschen Bundes vom 8 Juni 1815 Hamburg wie auch die übrigen deutschen Staaten gemäß Artikel 13 dazu ermächtigte, eine „Landständische Verfassung“ einzuführen8, verhallte der Ruf nach einer Reform bis auf Weiteres ungehört Zwar berief der Rat- und Bürgerkonvent einen Verfassungsausschuss ein, doch dauerte es 45 Jahre, bis die Hansestadt eine Verfassung bekommen sollte, die dem modernen Sinn des Wortes entsprach, wie er von Dieter Grimm definiert worden ist: als Begründung einer umfassenden und universal, nicht nur partiell und partikular wirkenden legitimen Herrschaftsgewalt 9 Die Revolutionsverfassung von 1849 Neu entfacht wurde der in den 1820er-Jahren weitgehend eingeschlafene verfassungspolitische Reformgeist nach dem Ausbruch der Pariser Revolution von 1848, als die liberale und die radikale Bewegung in Hamburg sich in zahlreichen Vereinen zu organisieren begannen und gegen den Traditionalismus des Rats, der Kollegien und der Erbgesessenen Bürgerschaft protestierten 10 Unter dem Druck einer sich neu formie7 8 9 10

Vgl Michael Hundt, Artikel „Erbgesessene Bürgerschaft“, in: Franklin Kopitzsch / Daniel Tilgner (Hgg ), Hamburg Lexikon, Hamburg 2010, 207–209 Text in: Ernst Rudolf Huber (Hg ), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd  1, 3 , neubearb  Aufl Stuttgart u a 1978, 84–90, hier 88 Vgl Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866 Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main 1988, 10–13 Zum Folgenden grundlegend Dirk Bavendamm, Von der Revolution zur Reform Die Verfassungspolitik des hamburgischen Senats 1849/50, Berlin 1969

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renden Öffentlichkeit wurde Anfang September 1848 die Berufung einer Verfassunggebenden Versammlung nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht beschlossen Während bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im April ausschließlich konservative und liberale Politiker das Rennen machten, obsiegten bei dem Ende 1848 stattfindenden Urnengang zur Hamburger Konstituante die Demokraten 11 Entsprechend fortschrittlich fiel der von dem 188-köpfigen Gremium am 11 Juli 1849 verabschiedete Entwurf einer „Verfassung des Freistaates Hamburg“ aus 12 Er sah nicht nur einen Grundrechtekatalog vor, sondern bestimmte außerdem, dass alle Staatsgewalt von den Bürgern unmittelbar oder mittelbar ausgeübt werden solle Die gesetzgebende Gewalt oblag einer durch allgemeine, direkte und geheime Wahlen gebildeten, 300-köpfigen Bürgerschaft, der überdies das Recht zustand, den Rat als oberste Verwaltungsbehörde auf sechs Jahre zu bestellen Das Wahlrecht stand allen volljährigen Staatsbürgern mit Ausnahme von jenen zu, die eine regelmäßige Unterstützung der Armenanstalten erhielten Wie die Frankfurter Reichsverfassung sollte auch die Hamburger Stadtverfassung nicht in Kraft treten Kaum war sie beschlossen, baten fast 17 000 Bürger in einer Petition um eine Abänderung des Textes Nach langen Auseinandersetzungen verständigten sich die beiden maßgeblichen Körperschaften im September 1849 auf die Einsetzung einer aus vier Mitgliedern des Rats und fünf der Bürgerschaft zusammengesetzten Kommission, die gemeinsam mit der Konstituante einen Weg aus dem Verfassungskonflikt suchen sollte Wenn auch unter Protest ließ die Verfassunggebende Versammlung diese Entwicklung nicht nur zu, sie vertagte sich sogar Anfang Mai 1850 auf unbestimmte Zeit und überließ das Feld damit der „Neunerkommission“ Der Kampf um die „Neuner-Verfassung“ 1850 bis 1860 Nur wenige Wochen später, am 23 Mai, verabschiedete der Neunerausschuss eine neue Verfassung, die eine „kunstvolle Brücke zwischen organischem Korporativdenken älterer Tradition und rationalem Individualismus neuer Prägung“ schlagen sollte 13 Diese sog Neuner-Verfassung übertrug in althamburgischer Manier dem nun Senat genannten Rat und der Bürgerschaft die Gesetzgebungskompetenz gemeinsam, hielt aber an der lebenslänglichen Amtszeit der Senatsmitglieder fest Zugleich tauschte sie die bisherige Selbstergänzung durch ein Wahlverfahren aus, das der Bürgerschaft

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Vgl Bolland, Bürgerschaft, 27 f Text der Verfassung in: Die Verfassung des Freistaats Hamburg nebst den dazugehörenden organischen Gesetzen, hg unter Aufsicht des Bureaus der constituirenden Versammlung, Hamburg 1849; vgl zusammenfassend Bavendamm, Revolution, 33–36 Ebd , 6

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einen bestimmten Einfluss auf den Senat gewährte Das wohl wichtigste Reformelement war die Ersetzung der Erbgesessenen- durch eine repräsentative Bürgerschaft, die allerdings nicht ausschließlich aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgehen, sondern einen Teil der Sitze für die Erbgesessenen und Notabeln vorbehalten sollte 14 Wenngleich von einer demokratischen Verfassung keine Rede sein konnte, ging den Hamburger Altkonservativen, den „Oberalten“, die Ausweitung der Partizipationsrechte viel zu weit 15 Um ihre Positionen in den Hamburger Körperschaften durchzusetzen, suchten sie in einem sehr eigenwilligen Verständnis von der politischen Kultur der Elbmetropole Hilfe in Frankfurt und trachteten danach, die Einführung der Verfassung mithilfe des Deutschen Bundestags zu torpedieren Damit lösten sie einen jahrelangen Machtkampf aus, den am Ende weder sie noch die Verfechter der NeunerVerfassung pur et simple für sich entscheiden konnten Denn vor dem Hintergrund einer durch die Hamburger Wirtschaftskrise 1857 und den Anbruch der Neuen Ära in Preußen 1858 geänderten Lage ertönte Anfang 1859 in der Bürgerschaft der Ruf, die Neuner-Verfassung endlich einzuführen Um der von der öffentlichen Meinung unterstützten Position entgegenzukommen, ohne ihren Forderungen de facto nachzugeben, entschloss sich der Senat, die Lösung des Problems einer nach den Bestimmungen der Neuner-Verfassung zu wählenden repräsentativen Bürgerschaft zu übertragen Gemäß dem Wahlgesetz vom August 1859 sollte die Versammlung 192 Sitze umfassen, von denen 48 den Grundeigentümern und 60 den Notabeln vorbehalten bleiben sollten Wahlberechtigt für die restlichen 84 Mandate waren alle über 25 Jahre alten Männer, die das Bürgerrecht besaßen, d h regelmäßig Steuern zahlten und eine Gebühr für den Erwerb des Bürgerbriefes zu entrichten bereit waren 16 Auch dank ihres Präsidenten Johannes Versmann vermochte die am 6 Dezember konstituierte Bürgerschaft die Arbeit im Plenum wie auch innerhalb einer im April 1860 gebildeten gemischten Kommission so voranzutreiben, dass der Text am 28 September 1860 verkündet werden konnte 17

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Text der Verfassung vom 23 05 1850, in: Wolfgang Schwarz, Hamburgische Verfassungskämpfe in der Reaktionszeit (1850–1852), Karlsruhe 1974, 158–177; vgl Hans-Wilhelm Eckardt, Von der privilegierten Herrschaft zur parlamentarischen Demokratie Die Auseinandersetzungen um das allgemeine und gleiche Wahlrecht in Hamburg, 2 , überarb u erg  Aufl , Hamburg 2002, 22 f Vgl zum Folgenden grundlegend Schwarz, Verfassungskämpfe; Hubertus-Heinrich Behncke, Kleinstaatliche Verfassungspolitik im Zeitalter der Reaktion Hamburgische Verfassungskämpfe 1852–1856, Diss jur Kiel 1974 Vgl Bolland, Bürgerschaft, 32; Werner Jochmann, Handelsmetropole des Deutschen Reiches, in: ders  / Hans-Dieter Loose (Hgg ), Hamburg Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd  2: Vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, Hamburg 1986, 15–129, hier 81 Text in: Bolland, Bürgerschaft, 151–166

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Die Verfassung von 1860 Hamburgs neue Verfassung verwirklichte nicht alle, aber doch zahlreiche Forderungen der Reformkräfte 18 Wenngleich sie am Grundsatz einer Teilung der höchsten Gewalt zwischen Senat und Bürgerschaft festhielt, gestaltete sie deren Verhältnis durchaus neu Aus der ehedem Erbgessenen Bürgerschaft wurde in Anlehnung an die NeunerVerfassung eine Versammlung von gewählten Repräsentanten, die zur einen Hälfte von allen (männlichen) Bürgern, zur anderen von Grundeigentümern und Notabeln bestimmt wurden 19 Die Senatsmitglieder wurden zwar weiterhin auf Lebenszeit, aber nicht mehr allein vom Senat, sondern unter Beteiligung der Bürgerschaft gewählt Hatte das Gremium bisher „in einer gottähnlichen Abgeschlossenheit über den Bürgern“ gethront, bahnte sich durch den Einfluss der Bürgerschaft auf die Zusammensetzung des Senats wie durch dessen Teilnahme an deren Verhandlungen eine „viel intimere“ Verbindung zwischen beiden Instanzen an 20 Die Gewaltenteilung, das Repräsentativsystem, eine stärkere Mitwirkung der Bürgerschaft bei der Selbstergänzung des Senats, die Freiheit des Glaubens und des Gewissens wie auch die Pressefreiheit und das Vereins- und Versammlungsrecht waren nun konstitutionell verankert Freilich: Auf einen Grundrechtekatalog hatten die Verfassungsgeber verzichtet, und auch das Demokratieprinzip hatte keinen Eingang in die Verfassung gefunden Aufgrund der Einschränkungen beim aktiven und passiven Wahlrecht blieb der in modernen Verfassungen übliche Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ebenso unerfüllt wie jener der Gleichheit Obschon die politische Partizipation der Stadtbevölkerung mithin mehrfach eingeschränkt und das Ordnungssystem „oligarchisch-polyarchisch“ konturiert war, gilt die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 28 September 1860 als die erste „modern[e]“ des Landes 21 Verfassungsrevision und Wahlrechtsänderungen 1860 bis 1918 Mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund 1867 bzw zum Deutschen Reich 1871 sollte die Freie und Hansestadt Hamburg ihre jahrhundertealte Souveränität weitgehend einbüßen Durch den Zollanschluss von 1888 verlor sie auch das Recht auf eine selbstständige Wirtschafts- und Zollpolitik Die Entscheidungsmöglichkeiten des Senats 18

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Vgl Udo Schäfer, Die hamburgische Verfassung von 1860: Wegmarke des Verfassungswandels zwischen 1712 und 1921, in: Joachim W Frank / Thomas Brakmann (Hgg ), Aus erster Quelle Beiträge zum 300-jährigen Jubiläum des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 2013, 145–172 Vgl Jürgen Bolland, Senat und Bürgerschaft Über das Verhältnis zwischen Bürger und Stadtregiment im alten Hamburg, Hamburg 1977, 54; Eckardt, Herrschaft, 27–33 Ernst Baasch, Geschichte Hamburgs 1814–1918, Bd  2: 1867–1918, Gotha/Stuttgart 1925, 75 Schäfer, Verfassung, 169 u 168

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wie auch der Bürgerschaft waren seither auf all’ jene Gebiete beschränkt, die nicht dem Bund resp Reich vorbehalten waren Veränderungen der Bundes- bzw Reichsgesetzgebung konnten folglich erhebliche Auswirkungen auf die Hamburger Staatsordnung haben Dies zeigte sich erstmals 1879, als sich die Hansestadt aufgrund der Reichsgesetze zur Justizverfassung genötigt sah, eine Verfassungsrevision vorzunehmen 22 Neben der Beseitigung hamburgischer Gerichte betrafen die Änderungen vor allem die Bürgerschaft, die von 192 auf 160 Mandate reduziert wurde, von denen 80 aus allgemeinen direkten Wahlen hervorgehen sollten und je 40 Sitze für die Grundeigentümer und Notabeln vorgesehen waren Über den Wert dieser Novellierung herrscht in der Literatur ein gewisser Dissens Bedeutete die Reform aus Sicht von Jürgen Bolland „eine Stärkung der aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Abgeordnetengruppe und eine stärkere Politisierung der Bürgerschaft“23, misst Werner Jochmann der Beseitigung der Vorherrschaft der Notabeln und Grundeigentümer „kaum Bedeutung“ zu, weil etliche von ihnen als direkt gewählte Abgeordnete in die Bürgerschaft zurückkehrten 24 Wie dem auch sei; festzuhalten bleibt die Tatsache, dass die Bereitschaft zur politischen Partizipation in Hamburg seither sank Da der Erwerb eines Grundstückes und der Betrieb eines Geschäfts nicht mehr vom Besitz des Bürgerrechts abhängig waren, nahm die Zahl der Staatsangehörigen, die den Bürgereid leisteten, in den folgenden Jahren ab Besaßen 1875 von 388 000 Einwohnern 33 700 das Bürgerrecht (mit 28 000 Bürgerschaftswählern), waren es 1880 bei 454 000 Einwohnern nur 30 500 (mit 19 800 Bürgerschaftswählern), wohingegen 103 000 Hamburger bei den Reichstagswahlen 1881 zur Urne gehen durften 25 Um dem negativen Trend Einhalt zu gebieten, entschloss sich der Senat Mitte der 1890er-Jahre, den Erwerb des Bürgerrechtes zu erleichtern Durch das Gesetz betreffend die hamburgische Staatsangehörigkeit und das hamburgische Bürgerrecht vom 2 November 1896 wurde die Grenze des zu versteuernden Einkommens herabgesetzt und auf die Zahlung des Bürgergeldes verzichtet Verfügten 1894 26 000 Einwohner über einen Bürgerbrief (4,3 % der Bevölkerung), waren es 1904 58 000 (8 %) 26 Parallel zu dieser wichtigen Maßnahme für mehr politische Partizipation setzte der Senat gemeinsam mit der Bürgerschaft ein nicht minder wichtiges Signal für ein sich änderndes Selbstverständnis 1897 verließen beide Institutionen ihre bisherigen Tagungslokale im Waisenhaus bzw im Gebäude der Patriotischen Gesellschaft und wechselten in das neue Rathaus Um ihre Gleichberechtigung zum Ausdruck zu bringen, bezogen sie dort korrespondierende Räume und unterstrichen so ihr trotz ge-

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Text der Verfassung vom 13 10 1879 in: Fabian Wittreck (Hg ), Weimarer Landesverfassungen Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918–1933, Tübingen 2004, 198–221 Bolland, Bürgerschaft, 45 Jochmann, Handelsmetropole, 81 Vgl Bolland, Bürgerschaft, 61, u Jochmann, Handelsmetropole, 81 Vgl Bolland, Bürgerschaft, 63–65

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legentlicher Verstimmungen cum grano salis gutes Verhältnis 27 Zur Stimulierung des nachlassenden öffentlichen Interesses an ihren Sitzungen beschloss die Bürgerschaft noch im selben Jahr außerdem, stenographische Berichte anfertigen zu lassen Der überlieferte Diskussionsstil blieb davon jedoch unberührt Applaus der linken oder die Titulierung eines oppositionellen Antrags als „leichtfertig“ durch einen rechten Abgeordneten fanden vor dem gestrengen Auge der Präsidenten keine Gnade 28 Nicht jede Form der Politisierung war den Stadtoberen und -vertretern also recht Skepsis, ja Misstrauen löste gar die Tatsache aus, dass die im letzten Jahrzehnt des 19  Jahrhunderts entstehenden Bürgerinitiativen, Vereinsgründungen und Stiftungen eine gesellschaftliche Dynamik erzeugten, die auf den Wandel des politischen Systems zutrieb; insbesondere dort, wo sie einem Aufstieg der Sozialdemokratie Vorschub leistete 29 1901 gelang es mit Otto Scholten erstmals einem Sozialdemokraten, nach dem Erwerb der Bürgerrechte auch ein Mandat in der Bürgerschaft zu gewinnen Nur drei Jahre später hatte die SPD mit 13 Abgeordneten bereits Fraktionsstärke erreicht Um den unaufhaltsam wirkenden Anstieg ihrer Mandate einzudämmen, sannen Senat und Bürgerschaft nach Gegenmitteln Anfang 1906 einigten sie sich auf eine Wahlrechtsänderung, die als „Wahlrechtsraub“ in die Hamburger Annalen einging 30 Technische Manipulationen wie die nun beschlossene Gruppenwahl führten zu einer eklatanten Verzerrung des Bürgerwillens Während die unteren Einkommensbezieher in einer Gruppe insgesamt 24 Abgeordnete wählen durften, bestimmten die übrigen in einer zweiten Gruppe 48 Abgeordnete Leidtragende dieser Bestimmung waren nicht zuletzt die Sozialdemokraten, die zwar ihre Mandatszahl erhöhen konnten, nicht aber in dem Umfang, der ihrem Stimmenzuwachs entsprach Mitte 1908 wurde der Öffentlichkeit bekannt, dass eine gemischte Senats- und Bürgerschaftskommission seit einem Jahr über eine Verfassungsreform beriet, ohne aber einen Durchbruch zu erzielen Bürgermeister Johann Heinrich Burchard nahm daher die Feier zum 50-jährigen Bestehen der Verfassung im Dezember 1909 zum Anlass, eine Wahlrechtsreform einzufordern, weil der Zeitgeist nicht mit Zwangsmaßnahmen bekämpft werden dürfe 31 Da den Worten abermals keine Taten folgten, kam es zu einer weiteren Politisierung der Bürgerschaft, die der Senat eigentlich hatte vermeiden wollen Bei dem nach dem Gruppenwahlsystem durchgeführten letzten Urnengang vor dem Ersten Weltkrieg 1913 gewannen die Rechten 40 der 160 Sitze, die Linken 39, das Linke Zentrum 29, die Vereinigten Liberalen 30 und die Sozialdemokraten 20 32

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Vgl ebd , 76 Zitiert nach: ebd , 78 Vgl Jochmann, Handelsmetropole, 105 f Eckardt, Herrschaft, 54; s a Lütke, Tradition, 60–65 Vgl Bolland, Bürgerschaft, 86 f Vgl Eckardt, Herrschaft, 53

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Die Verfassung von 1921 Genese Mochte die verfassungsmäßige Ordnung der Freien und Hansestadt sich auch in charakteristischen Punkten von der der monarchischen Fürstenstaaten des Kaiserreiches unterscheiden, bedeutete die Novemberrevolution 1918 doch da wie dort eine tiefe verfassungsrechtliche Zäsur Bereits drei Tage vor der Ausrufung der Republik in Berlin hatten sich in Hamburg Soldaten und Arbeiter die Basis für eine Neugestaltung des Systems erkämpft 33 Am 12 November erklärte der aus den drei Fraktionen der Mehrheitssozialdemokraten (MSPD), der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und der „Linksradikalen“ bestehende Arbeiter- und Soldatenrat Hamburgs (ASR) die Verfassung von 1879 für aufgehoben 34 Nur sechs Tage später veröffentlichte der ASR in der ostentativen Erkenntnis der Unverzichtbarkeit der bisher maßgeblichen Akteure eine Bekanntmachung, derzufolge Senat und Bürgerschaft bis zu einem demnächst nach allgemeinem, gleichem, geheimem und direktem Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechts durchgeführten Urnengang wieder eingesetzt würden 35 Die Einführung des Frauenwahlrechts hatte insbesondere bei der SPD schon seit langem auf der politischen Agenda gestanden Doch erst das Ende des Weltkriegs sollte den Weg für eine rechtliche Verankerung in Hamburg wie im Reich frei machen 36 Die ersten hamburgischen Bürgerschaftswahlen nach dem Untergang des Kaiserreichs standen unter einem schlechten Stern Heftige Auseinandersetzungen zwischen der Linken und den Mehrheitssozialdemokraten bargen die stete Gefahr einer revolutionären Explosion Der Erfolg eines von der MSPD ausgerufenen Generalstreiks am 11 Januar und das magere Ergebnis der USPD bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19 Januar 1919 trugen zu einer gewissen Klärung der Lage bei Nach kontroversen Debatten mit dem Senat und der Bürgerschaft setzte der ASR die Wahl der Verfassunggebenden Versammlung Mitte Februar auf den 16 März fest Der erstmals in der Geschichte Hamburgs nach dem Verhältniswahlrecht für Männer und Frauen über 20 Jahre stattfindende Urnengang sollte die Machtverhält-

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Vgl dazu mit weiterführender Literatur Lütke, Tradition, 68–104, sowie die voluminöse Edition von Volker Stalmann (Bearb ), Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat 1918/19, Düsseldorf 2013 Text der Verordnung des ASR vom 12 11 1918, in: Walter Lamp’l, Das groß-hamburgische Revolutionsrecht, Hamburg 1921, 33 Text der Bekanntmachung des ASR vom 18 11 1918, in: ebd , 35 f Zur historischen Entwicklung vgl Richard Evans, Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin/Bonn 1979; Ute Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, Baden-Baden 2018; in Bezug auf Hamburg vgl den knappen Abriss von Karen Hagemann, „Endlich auch das Frauenwahlrecht!“ Über die Anfänge des Kampfes um die „staatsbürgerliche“ Gleichberechtigung der Frauen, in: Manfred Asendorf u a (Hg ), Geschichte der Hamburgischen Bürgerschaft 125 Jahre gewähltes Parlament, Berlin 1984, 135–144

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nisse fundamental verändern Denn die MSPD, die vor der Revolution nie mehr als 20 der 160 Mandate errungen hatte, erhielt nun mit 50,5 % der gültigen Stimmen 82 Sitze und damit die absolute Mehrheit Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) gewann 20,5 % der Stimmen (33), der Hamburger Wirtschaftsbund und die Deutsche Volkspartei (DVP) je 9 % (9 bzw 13), die USPD 8,1 % (13) und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 2 % (4) 37 Beträchtliche Unterschiede zu ihrer Vorgängerin aus dem Jahre 1913 wies die Bürgerschaft auch in der sozialen Zusammensetzung auf; zum einen durch die erstmalig gewählten 17 weiblichen Mitglieder, zum anderen wegen des Anstiegs der Zahl der Partei- und Gewerkschaftsangestellten bei gleichzeitiger dramatischer Minderung des Anteils der Kaufleute Mit der veränderten Personalstruktur stellte sich bald ein Wandel des Debattenstils ein, der gewiss nicht nur positiv zu bewerten war: Männer, die in vielen Jahren die gemäßigte Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner gepflegt hatten, machten jetzt bisweilen Abgeordneten Platz, die „an den politischen Kampf in Massenversammlungen gewöhnt“ waren 38 Wenngleich mit dem Wahltag die revolutionäre Phase in Hamburg zu Ende ging, blieben die beiden folgenden Jahre von heftigen wirtschaftlichen wie politischen Turbulenzen geprägt Mithilfe der ihnen nunmehr qua Verfassung zugebilligten Partizipationsmöglichkeiten versuchten linke wie rechte Gegner der Stadtrepublik die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungskreise für ihre Interessen auszunutzen, ja bis zum Umsturz voranzutreiben Kurz nach der Konstituierung der Verfassunggebenden Bürgerschaft trat der Senat zurück, um den Weg für die Bildung eines Übergangskabinetts freizumachen Obwohl die SPD über die absolute Mehrheit verfügte, verzichtete sie unter der Führung von Otto Stolten auf eine Alleinregierung In der Überzeugung, dass Arbeiterschaft und Bürgertum gemeinsam die Geschicke der Handelsstadt lenken müssten, bildete sie einen Senat mit der DDP und parteilosen Politikern Diese Entscheidung wurde zu einer „wichtigen Grundlage für die innere Festigkeit des Hamburger Staates“, führte aber an der Basis der SPD zu wachsender Missstimmung und Vertrauensverlusten, zumal sie mit dem Verzicht auf das Amt des Ersten Bürgermeisters verbunden war 39 Anstatt sich ihrer eigentlichen Aufgabe der Verabschiedung einer neuen Verfassung zuzuwenden, verabschiedete die Bürgerschaft aufgrund der prekären Lage Ende März ein „Gesetz über die vorläufige Staatsgewalt“40, für das sich rasch der Begriff „Notver-

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Zu den Ergebnissen und Mandatsverteilungen der Hamburger Bürgerschaftswahlen von 1919 bis 1933 vgl Jochmann/Loose (Hgg ), Hamburg, 474 f ; zu den Wahlbeteiligungen vgl Ursula Büttner, Politische Gerechtigkeit und Sozialer Geist Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, Hamburg 1985, 288 Bolland, Bürgerschaft, 96; vgl grundlegend Ursula Büttner, Politischer Neubeginn in schwieriger Zeit: Wahl und Arbeit der ersten demokratischen Bürgerschaft 1919–21, Hamburg 1994 Ebd , 46 Text des Gesetzes vom 26 03 1919, in: Wittreck (Hg ), Landesverfassungen, 221–224

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fassung“ einbürgerte 41 Gemäß § 1 des notabene von den Deutschnationalen und den Unabhängigen Sozialisten abgelehnten Gesetzes wurde die bisher vom ASR wahrgenommene „Ausübung der höchsten Staatsgewalt“ der Bürgerschaft übertragen Gestärkt wurde deren Macht überdies durch die Bestimmung, dass der Senat von ihrem Vertrauen abhängig und nicht mehr an der Gesetzgebung beteiligt sei Da der Senat allerdings in der Regel von der Bürgerschaft um Vorlage der Gesetze gebeten wurde und außerdem die Stadt nach außen vertrat, behielt er neben seinen exekutiven und repräsentativen Funktionen wichtige legislative Kompetenzen Der ASR hingegen beschränkte sich fortan auf die Wahrnehmung wirtschaftlicher Aufgaben Im Gegensatz zu manch anderem Land der Weimarer Republik wählte Hamburg mit der Übergangsverfassung einen Ansatz, der das zukünftige Staatswesen evolutionär „auf dem Wege der Fortentwicklung der Verfassungsordnung der Kaiserzeit begründen“ sollte 42 Wenn dabei sogar entgegen dem Beschluss des ASR vom 12 November 1918 an Teilen des Systems von 1879 festgehalten wurde, geschah dies ausdrücklich mit der Perspektive einer demnächst in Kraft tretenden neuen Konstitution Obwohl zu deren Ausarbeitung bereits am 28 März 1919 ein Ausschuss gebildet worden war, benötigte Hamburg für den Erlass der Verfassung fast zwei Jahre 43 Dies lag zum einen an der Tatsache, dass die Kommission Rücksicht auf die Debatten in Weimar über die neue Gesamtstaatsverfassung nehmen musste, der gemäß dem Prinzip „Reichsrecht bricht Landesrecht“ eine „Vorbild“-Funktion44 beigemessen wurde Zum anderen belasteten die Vielfalt der anstehendenen Aufgaben, die im Hintergrund schwebende „Groß-Hamburg-Frage“ und die labile politische Lage in der Stadt wie im Reich die Arbeit des Ausschusses Mitte Juni stand die wehrhafte Demokratie vor ihrer ersten schweren Bewährungsprobe Massive Unruhen infolge eines Lebensmittelskandals nötigten den Senat mangels Hamburger Ordnungskräfte, Reichswehrtruppen zu Hilfe zu holen Erst am Vorabend des Jahreswechsels war die Lage wieder so gefestigt, dass Reichspräsident Friedrich Ebert den von ihm ausgerufenen Belagerungszustand aufheben konnte 45 Dass der Verfassungsausschuss seine Arbeit in der Zwischenzeit eher wie ein „juristisches Problem“ denn wie eine politische Aufgabe behandelt hatte, trug ebenfalls nicht zur Forcierung seiner Tätigkeit bei 46 So dauerte es bis zum 29 Dezember 1920, dass die Bürgerschaft einen Ende 1919 vom Senat vorgelegten und vom Verfassungsausschuss von Januar bis Mitte September 1920 beratenen Entwurf nach intensiven, 41 42 43 44 45 46

Lütke, Tradition, 105 Wittreck (Hg ), Landesverfassungen, 6 Zu den Beratungen vgl Erdmann (Bearb ), Verfassunggebende Bürgerschaft; Lütke, Tradition, 151– 162 Ebd , 160 Zu den „Sülzeunruhen“ vgl Ursula Büttner, Der Stadtstaat als demokratische Republik, in: Jochmann/Loose (Hgg ), Hamburg, 131–264, hier 177–182 Büttner, Stadtstaat, 168

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mitunter stürmischen Diskussionen und mannigfachen Veränderungen endlich verabschieden konnte 95 Abgeordnete der SPD und der DDP stimmten dafür, 40 Abgeordnete der äußersten Linken, der DVP, des Hamburger Wirtschaftsbundes und der DNVP dagegen Während die USPD und die DNVP das demokratische System grundsätzlich, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen ablehnten, begründete die DVP ihr Votum mit der Kritik an Art  66, durch den ein Arbeiter- und ein Wirtschaftsrat eingerichtet wurden Der HWB wiederum sah seine Vorstellungen zu Wahl und Bestand der Bürgerschaft und des Senats nicht hinreichend berücksichtigt Des ungeachtet trat die „Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg“ zwei Tage nach der Ausfertigung am 9 Januar 1921 in Kraft 47 Inhalte Da alle Fragen, die unmittelbar durch die Weimarer Konstitution geregelt waren, nicht mehr in der Hamburger Verfassung behandelt werden durften, die Reichsverfassung also einem „Korsett“ gleichkam48, wirkte die Landesverfassung auf einige Akteure wie deren bloßes „Anhängsel“ 49 So verzichteten die Hamburger Verfassungsgeber auf einen Grundrechtekatalog wie auch auf einen Abschnitt über die Judikative Statt eines ausdrücklichen Bekenntnisses zur Demokratie als Verfassungsprinzip, wie es die Verfassung von 1849 vorgesehen hatte, begnügte sich die Urkunde in Art  2 mit der Hervorhebung des Prinzips der Volkssouveränität, nachdem „der hamburgische Staat“ in Art  1 als „Republik“ definiert worden war Als Vertretung des Volkes amtierte die wie schon 1919 auf drei Jahre nach dem Verhältniswahlrecht in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl ernannte Bürgerschaft als höchstes politisches Organ (Art   3 u 13) Wahlberechtigt waren indes nicht mehr nur die Bürger, sondern alle deutschen Staatsangehörigen Die Amtszeit der Bürgerschaft konnte durch Selbstauflösung (Art  14) oder durch Volksentscheid (Art  36) beendet werden Der von der Bürgerschaft als Landesregierung auf unbestimmte Zeit gewählte Senat (Art  34, 36 u 37) büßte seine bisherige überlegen-unabhängige Stellung ein, weil seine Mitglieder vom Vertrauen der Bürgerschaft abhängig waren Allerdings konnte er einen Volksentscheid über die Frage herbeiführen, ob er tatsächlich zurücktreten müsse oder eine Neuwahl der Bürgerschaft stattfinden solle (Art   36) Im bewussten Gegensatz zur Weimarer Verfassung wurde dem Senat indes das Recht verwehrt, durch die Vertrauensfrage eine politische Grundsatzdiskussion auszulösen

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Text in: Wittreck (Hg ) Landesverfassungen, 225–238; eine ausführliche inhaltliche Wiedergabe in: Lütke, Tradition, 186–345 Wittreck (Hg ), Landesverfassungen, 4 Das Urteil des volksparteilichen Experten Max Mittelstein wird zitiert nach: Büttner, Neubeginn, 57

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Ohne weitgehende Veränderung aus der Verfassung von 1879 übernommen wurde das Organ des Bürgerausschusses, der aus der Mitte der Bürgerschaft zur Erledigung spezieller Aufgaben rekrutiert werden sollte (Art  27–31) Wesentlich modifiziert wurden hingegen die Aussagen über die Legislative Sie oblag der Bürgerschaft, wobei die Gesetzesinitiative auch vom Senat wahrgenommen werden konnte, der gegen ein von der Bürgerschaft beschlossenes Gesetz Einspruch erheben durfte, der wiederum nur durch eine qualitative Mehrheit der Bürgerschaft zu überwinden war (Art  51 u 53) Überdies eröffnete die Verfassung den Weg der Volksgesetzgebung durch Volksentscheid oder Volksbegehren (Art  58) Dieses plebiszitäre Element fand allerdings bis 1933 keine Anwendung, war überdies anders als in der Reichsverfassung auch nicht mit weitreichenden Befugnissen eines von Regierung und Parlament unabhängigen Präsidenten verknüpft Eine im Verfassungssystem der Weimarer Republik singuläre Bestimmung war die nach Einrichtung eines Arbeiterrates und eines Wirtschaftsrates, die bei der Erfüllung der wirtschaftlichen Aufgaben und der Sozialisierungsgesetze mitwirken, aber auch Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse wahrnehmen sollten (Art  66) Über ihre Bedeutung herrscht in der Literatur erheblicher Dissens Für Tilman Lütke kam Art  66 einem „Taschenspieltrick“ gleich und verfehlte „als lediglich äußerliche Verankerung des Rätegedankens“ seine Wirkung, weil er die Arbeiterschaft nicht zufriedenstellte und zugleich die DVP verprellte 50 Demgegenüber betont Manfred Botzenhart, dass keine andere Landesverfassung „dem Rätegedanken weiter entgegengekommen“ sei als die Hamburger 51 In partizipatorischer Hinsicht nicht unwichtig waren die Ausführungen des Abschnitts VIII zum Verhältnis von Staat und Gemeinden Um die Rechte der Landgemeinden zu sichern, hatte die Konstituante von 1849 ein besonderes Gemeindebürgerrecht vorgesehen, das auch von der „Neuner-Verfassung“ beibehalten worden war Die Verfassung von 1860 hingegen sah kein derartiges Organ vor, hielt aber wie jene von 1879 an der Existenz der Stadtgemeinde fest Gemäß der Verfassung von 1921 bestand der „hamburgische Staat“ (Art  1) aus der Stadt Hamburg, die als „eine besondere Gemeinde“ definiert wurde (Art  67) und den übrigen Städten und Landgemeinden „in ihren Angelegenheiten das Recht der Selbstverwaltung“ einräumte (Art  68) 52 Nicht wesentlich voran brachte die Verfassung hingegen eine andere, zur Demokratieabsicherung wichtige Aufgabe: die Demokratisierung der Verwaltung Aus Furcht, in einer innenpolitisch prekären Zeit die Arbeit des erfahrenen Beamtenapparats zu stören, hatte die Verfassunggebende Bürgerschaft auf einschneidende Maßnahmen verzichtet 50 51 52

Lütke, Tradition, 335 Manfred Botzenhart, Deutsche Verfassungsgeschichte 1806–1949, Stuttgart u a 1993, 146 Anfang 1924 kam es zur Verabschiedung einer Städte- und einer Landgemeindeordnung, durch die die Verwaltung dieser Gebiete auf eine neue Basis gestellt wurde; vgl Lütke, Tradition, 383–393

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Politische Partizipation, politische Kultur und Entwicklung der Landesidentität 1921 bis 1933 Mit der Reform von 1921 war an die Stelle der „oligarchisch-polyarchischen Mischverfassung“53 des 19  Jahrhunderts eine in ihren wesentlichen Grundsätzen noch heute gültige Konstitution getreten, die einen Übergang von der „plutokratisch-oligarchischen zur demokratisch-parlamentarischen Republik“ vollzog 54 Dass die damit verbundenen neuen Möglichkeiten politischer Partizipation keineswegs eo ipso zur Stärkung des Systems führen würden, zeigte sich bereits bei den Wahlen zur Bürgerschaft am 20  Februar 1921 Die SPD verlor 15 Sitze und damit ihre absolute Mehrheit; auch die DDP büßte 10 Mandate ein; die USPD sackte mit 1,4 % zu einer Splitterpartei ab Gewinner waren die Kommunisten mit 6, die DVP mit 10 und die DNVP mit 14 Sitzen Offenbar gingen zahlreichen Anhängern der früher privilegierten Schichten die Reformen zu weit, wohingegen sie den ehedem Benachteiligten nicht weit genug reichten Eine Absage an die Demokratie war das Wählervotum gleichwohl nicht, wenngleich die Wahlbeteiligung von 80,6 % auf 70,9 % gesunken war Noch immer hatten sich knapp 55 % der Bürger für SPD und DDP entschieden und erlaubten es ihnen, mit 90 Mandaten den Senat zu stützen Anders als im Reich erlagen beide Parteien im Stadtstaat auch nicht der Versuchung, die „Bürde der Macht“ abzuwerfen Ungeachtet ihres Selbstverständnisses als politische Repräsentanten bestimmter Bevölkerungsgruppen blieben sie von den Vorteilen der Zusammenarbeit überzeugt Demgegenüber nutzten die Feinde der Verfassung von rechts wie von links die ihnen gegebenen Rechte hemmungslos aus, was in der Bürgerschaft zu zahlreichen Tumulten führen sollte 55 Noch schwerer wog für das Ansehen der Demokratie der Schaden, den die von den Kommunisten nun initiierten Straßenkämpfe auslösten 56 Aus einem bewaffneten Umsturzversuch Ende März 1921, der 18 Hamburgern das Leben kostete, leitete die extreme Rechte in ihrer nicht selten antisemitisch unterfütterten Fundamentalopposition die Befugnis zu einer Gewalt-gegen-Gewalt-Strategie ab, die Mitte 1922 zu einer Serie von Sprengstoffanschlägen führte Wenngleich die Hamburger Bürgerschaft umgehend etliche Vereine der extremen Rechten wie auch die Deutschvölkische Freiheitspartei und die NSDAP verbot, blieb die Gefahr latent vorhanden Um die Attacken auf den Straßen im Zaun zu halten und dabei nicht wie anlässlich der „Sülzeunruhen“ 1919 von Reichstruppen abhängig zu sein, genehmigte die Bürgerschaft die Bildung einer hamburgischen Polizeitruppe Zur Eindämmung der

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Schäfer, Verfassung, 171 Eckardt, Herrschaft, 64 Vgl Axel Schildt / Arnold Sywottek, Die Bürgerschaft in der Weimarer Republik (1919–1933), in: Asendorf u a (Hg ), Geschichte, 80–98 Zum „Kampf um die Straße“ in der Weimarer Republik grundlegend: Dirk Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001

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Arbeitslosigkeit unterstützte der Senat ferner die Wirtschaft mit staatlichen Aufträgen Überdies förderte er das Bildungs- und Erziehungswesen durch die Gründung der Universität und die Reform des Bildungsbereichs Doch all’ diese Maßnahmen reichten nicht aus, um die erhitzte politische Atmosphäre in der Stadt abzukühlen Im Oktober 1923 entlud sich der durch die grassierende Inflation und die wirtschaftliche Not aufgeputschte Linksradikalismus in einem schweren Aufstand, der abermals nur mit militärischen Mitteln des Reichs überwunden werden konnte Da sich die Bevölkerung nicht in dem von den Aufständischen erwarteten Maße solidarisiert hatte, kam es in der KPD zu einer schweren innerparteilichen Krise, aus der der linke Flügel als Sieger hervorging Wenngleich die Extremisten von Links wie von Rechts nach dem Scheitern des Hitler-Putsches in München auf weitere Umsturzversuche verzichteten, gewann die Stadtrepublik trotz des Abebbens der Hyperinflation nur einen sehr begrenzten Zuwachs an Stabilität So war es kaum verwunderlich, dass bei den Wahlen vom 26 Oktober 1924 die beiden Koalitionäre ihre Mehrheit verloren Der Anteil der SPD ging von 50 % auf 32,4 % zurück, die DDP fiel mit 13,2 % auf den fünften Platz Demgegenüber hatten die DNVP 17,0 %, die DVP 14,0 % und die KPD 14,7 % errungen Nicht nur im Ergebnis des Urnenganges, auch im Rückgang der Wahlbeteiligung zeigte sich ein schwindendes Interesse der Hamburger Bevölkerung an der parlamentarischen Demokratie Mit 66,1 % erreichte sie ihren Tiefpunkt während der gesamten Weimarer Republik Hatten 1919 rund drei Viertel der Bürger die neue Repubik bejaht, unterstützten nun 44 % jene Parteien, die ihr feindlich begegneten Das hohe Maß der Wechselwähler bot den Regierenden indes die Chance, die Abgewanderten durch eine erfolgreiche Politik für die demokratische Ordnung zurückzugewinnen Aufgrund der neuen parlamentarischen Kräfteverhältnisse erweiterten die SPD und die DDP die Koalition im März 1925 um die DVP Wenngleich weite Teile der Deutschen Volkspartei der neuen Ordnung insbesondere in Bezug auf die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, arbeiteten ihre Senatoren weitgehend loyal mit Senat und Bürgerschaft konzentrierten sich nicht zuletzt auf den Ausbau des Hafens als wirtschaftlicher Herzkammer Hamburgs Die Verabschiedung des Gesetzes über den Aufbau der Verwaltung vom 10 November 1926 sollte außerdem einer stärkeren Demokratisierung der Behörden Vorschub leisten Doch echte Fortschritte blieben aus Zwar erhielt die Elbmetropole nun einen rational gegliederten, funktionsfähigen Beamtenapparat, von einer Neuorientierung im Sinne des freiheitlichen Sozialstaates konnte aber kaum die Rede sein Auch die Sozialisierung der Wirtschaft ließ auf sich warten, was in den folgenden Jahren zu einer weiteren Radikalisierung von Teilen der Arbeiterschaft führen sollte Ungeachtet des ökonomischen Aufschwungs blieb die politische Lage an der Elbe prekär Gefahr drohte inzwischen auch von den Splitterparteien, denen das reine Verhältniswahlrecht die Möglichkeit bot, extremen Gruppierungen in der Bürgerschaft zu Mehrheiten zu verhelfen Um dieser Tücke des Systems vorzubeugen, beschloss

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die Bürgerschaft Mitte 1927, die Zulassung der Parteien zu den nächsten Wahlen von 3 000 Unterschriften und der Stellung einer Kaution abhängig zu machen Zwar änderte der Urnengang vom 9 Oktober nichts an der parlamentarischen Machtverteilung, löste aber dennoch ein politisches Erdbeben aus Denn der Reichsstaatsgerichtshof erklärte das Ergebnis für ungültig, weil das Hamburger Wahlrecht seines Erachtens gegen die Reichsverfassung verstieß – für die politische Kultur der stolzen Hansestadt wahrlich kein Ruhmesblatt 57 Das Wahlvolk blieb davon erstaunlich unberührt Bei der Wiederholungswahl vom 19 Februar 1928 verschob es zwar die Mehrheitsverhältnisse, bestätigte aber die seit 1925 amtierende Dreier-Koalition aus Sozialdemokraten, Deutschdemokraten und Deutscher Volkspartei Die SPD sackte von 38,2 % auf 35,9 % ab, verfügte indes noch immer über 60 Mandate; die DDP gewann mit 12,8 % 2,7 % hinzu und errang wie zuvor 21 Sitze; die DVP stieg von 10,1 % auf 12,5 % und entsandte 20 Abgeordnete in die Bürgerschaft Die Deutschnationale Volkspartei büßte von ehedem 15,2 % 1,5 % ein, erhielt aber dennoch 22 Mandate, wohingegen die Kommunisten mit 16,8 % der Stimmen über 27 Mandate besaßen Als „drollige Erscheinungen“ belächelt, zogen auch drei Nationalsozialisten ins Hamburger Stadtparlament ein 58 Insgesamt schien die Demokratie in Hamburg nach vier Jahren der Ruhe und Erfolge „Stabilität und Dauer“ gewinnen zu können 59 Das Ergebnis und die hohe Wahlbeteiligung von 79,4 % zeugten davon, dass weite Kreise der Gesellschaft die Anstrengungen des Staates anerkannten Der Einbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 machte all’ diese Hoffnungen jedoch zunichte Gerade für die vom Handel abhängige Elbmetropole wirkte sich die schwere Wirtschaftsdepression geradezu katastrophal aus 60 Vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Verelendung der Bevölkerung kam es zu massiven Zusammenstößen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten Bei der Strafverfolgung der Extremisten rächte sich, dass die Demokratisierung der Justiz über bescheidene Ansätze nicht hinausgelangt war Noch gravierender für die weitere Entwicklung der Hamburger – wie der Weimarer – Republik aber war die schwindende Affinität der Bürger zu ihrer Verfassung „Die tausendjährige Verfassungsgeschichte Hamburgs“, so frohlockte ein mit „Spectator“ unterzeichnender Redakteur des „Hamburger Anzeigers“ im August 1929, „sollte auch alle Diktaturgelüste von ganz links oder

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Vgl ausführlich Lütke, Tradition, 393–406 Zitiert nach: Eckardt, Herrschaft, 69 Büttner, Stadtstaat, 236 Vgl grundlegend Ursula Büttner, Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise 1928–1931, Hamburg 1982; eine kompakte Kurzfassung dies , Das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Hamburg, in: dies  / Werner Jochmann, Hamburg auf dem Weg ins Dritte Reich Entwicklungsjahre 1931–1933, 4 unver  Aufl , Hamburg 1993, 7–37

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ganz rechts als unmögliche Machtbestrebungen dartun “61 Des Journalisten Optimismus erwies sich schon bald als irrig Dass in Demokratien das Fehlen von sozialer Homogenität und Konsens die Norm, nicht die Ausnahme darstellen, dürfte gemeinhin bekannt sein Damit aber die üblichen sozialen Konflikte im Ergebnis nicht zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung führen, müssen sie „durch eine Rechtsordnung und den Verfassungsstaat eingehegt werden“ 62 Integration bzw Identitätsbildung durch Verfassungen ist freilich ebensowenig eine Selbstverständlichkeit wie die Hervorbringung einer „politische[n] Kultur des Verfassungspatriotismus“ durch Konstitutionalismus 63 Denn Verfassungen waren und sind, wie Hans Vorländer prägnant formuliert hat, „symbolische, keine feststehenden Ordnungen“, und deshalb auf symbolische Darstellungeformen angewiesen, die ihr Akzeptanz und Anerkennung verschaffen „Erst wenn die Verfassung durch Erlebnis, Erfahrung, Praktiken und Interpretation repräsentiert oder vergegenwärtigt werden kann, kann sie die strukturierende, handungsleitende und gemeinschaftsstiftende Wirkung erzielen, die von ihr erwartet wird “64 Im Bewusstsein um diese Problematik hatte die Weimarer Reichsregierung nach der feierlichen Unterzeichnung der Reichsverfassung am 11 August 1919 beschlossen, diesen Tag als Datum der Verfassung des Deutschen Reiches zu benennen Wenngleich der damit einhergehende Versuch, den 11 August gesetzlich reichsweit zum Nationalfeiertag zu erheben, bis zum Ende der ersten deutschen Republik nicht umgesetzt werden konnte, entwickelte sich der Verfassungstag nach seiner Premiere 1921 nicht nur in der Reichshauptstadt, sondern auch in der Elbmetropole aus „impovisierten Anfängen zu […] beachtlichen Massenkundgebungen“65, die allerdings ab 1930/1 rapide an Wirkung verloren 66

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Hamburger Anzeiger, 10 08 1929, in: Staatsarchiv Hamburg, 731–8_A 411, Hamburgische Verfassungsfragen Wolfgang Becker, Wie viel Konsens braucht die Demokratie? Theodor Heuss und die Zukunft des Grundgesetzes, Stuttgart 2019, 29 Reinhard Blänkner, Integration durch Verfassung? Die „Verfassung“ in den institutionellen Symbolordnungen des 19  Jahrhunderts in Deutschland, in: Hans Vorländer (Hg ), Integration durch Verfassung, Wiesbaden 2002, 213–236, hier 229 Hans Vorländer, Integration durch Verfassung? Die symbolische Bedeutung der Verfassung im politischen Integrationsprozess, in: ders (Hg ), Integration durch Verfassung, 9–40, hier 19 u 20 Peter Reichel, Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung Nationalsymbole in Reich und Republik, Göttingen 2012, 162–173, hier 168; s a die Presseausschnittssammlung in Staatsarchiv Hamburg, 731–8_ A 411, Verfassungs-Feiern Vgl Bernd Buchner, Um nationale und republikanische Identität Die deutsche Sozialdemokratie und der Kampf um die politischen Symbole in der Weimarer Republik, Bonn 2001, 318–360; Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland von 1871 bis 1945, Frankfurt am Main u a 1990, 133–276; Klaus-Dieter Weber, Verfassungsfeiern in der Weimarer Republik, in: Gerhard Henke-Bockschatz (Hg ), Geschichte und historisches Leben Jochen Huhn zum 65 Geburtstag, Kassel 1995, 181–208; Klaus Weber, Werbung für die Republik? Verfassungsfeiern in Hamburg während der Weimarer Zeit, Magisterarbeit Univ Hamburg 2003

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Dass die für die Ausrichtung der Feiern zuständigen Hamburger Instanzen sich nicht nur der nationalen, sondern auch der regionalen Identitätsbildung verpflichtet fühlten, verdeutlicht die gemeinsame Feier von Senat und Bürgerschaft zum zehnjährigen Bestehen der Hamburger Verfassung am 7 Januar 1931 Der seit 1929 als Zweiter Bürgermeister amtierende Senatspräsident Rudolf Roß hatte dazu alle Mitglieder und Mitarbeiter wie auch sämtliche ehemaligen Mitglieder und Mitarbeiter des Senats in den Kaisersaal des Rathauses eingeladen 67 Von den ehemaligen 25 Bürgermeistern, Senatoren, Senatssyndici und Staatsräten sagten nur vier ab68: Senator i R Brandt wegen „leichten Unwohlsein[s]“69, Senator Sander wegen seines nicht näher beschriebenen „Gesundheits-Zustandes“70, Senator Wiesinger, weil er die Hauptversammlung der Hamburger Sparkasse von 1827 zu leiten hatte71, und Syndikus Kiesselbach wegen der Feier des 91 Geburtstages seiner Mutter 72 Die übrigen nahmen die Einladung „mit großem Vergnügen“73 oder als Ausdruck der ihnen zuteilgewordenen „Ehre“74 an Mit großer Freude registrierte Roß, dass der Beamtenrat die Feier zum Anlass genommen hatte, die hamburgischen Beamten und Angestellten dazu aufzurufen, ihre Arbeitskraft weiterhin in Treue zur Vaterstadt einzusetzen 75 Sieben Monate später stand in Hamburg wie im ganzen Reich die Feier des deutschen Verfassungstages an 76 Im Vorfeld hatte Reichsinnenminister Wirth den Obersten Reichsbehörden, Präsidenten des Reichsgerichts, des Reichsfinanzhofes des Rechnungshofes wie auch den Präsidenten der Landesfinanzämter außerhalb Berlins in einem Rundschreiben mitgeteilt, dass es sich „angesichts der in der gegenwärtigen Zeit gebotenen Beschränkungen in der Veranstaltung von Festlichkeiten“ empfehle, die Verfassungsfeiern „unter voller Wahrung ihres Charakters entsprechend zu gestalten“ und dabei auf „strenge Überparteilichkeit“ zu achten 77 Für den Festakt am 11 August sah der in Hamburg zuständige Senatausschuss eine Ansprache von „Frau Oberschulrat“ Emmy Beckmann über das Thema „Die Frau im Volksstaat“ vor 78 Kurz vor der Vollendung ihrer Rede wandte sich die Pädagogin und Abgeordnete der Deut67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Staatsarchiv Hamburg, 131–4_1931 A IX/1, Einladungsschreiben von Senatspräsident Roß, 03 01 1931; Einladungsschreiben der Staatskanzlei, 03 01 1931 Ebd , Liste der Anfragen und Absagen, o D Ebd , Brandt an Roß, [07] 01 1931 Ebd , Sander an Roß, 04 01 1931 Ebd , Wiesinger an Roß, 05 01 1931 Ebd , Kiesselbach an Roß, 04 01 1931 Ebd , Senator Cohn an Roß, 05 01 1931 Ebd , Bürgermeister a D Sthamer an Roß, 05 01 1931; in derselben Diktion ebd , Senator Vering an Roß, 5 1 1931; ebd , Senator Schaefer an Roß, 05 01 1931 Ebd , Aufruf des Beamtenrats Hamburg, 05 01 1931; Ross an den Beamtenrat Hamburg, 07 01 1931; in der Presseausschnittssammlung des Staatsarchivs hat die Feier keinen Niederschlag gefunden: ebd , 731–8_A 411, Verfassungs-Feiern Vgl Weber, Werbung?, 117–124 Staatsarchiv Hamburg, 131–4_1931 A 2, Rundschreiben Wirths, 24 06 1931 Ebd , Ergebnis der Sitzung des Senatsausschusses vom 29 05 1931

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schen Staatspartei an den Ersten Bürgermeister Carl Petersen und warnte vor einem „Fehlschlag“ Da ihr ein Erfolg der Verfassungsfeier mit dem ihr zugesprochenen Redethema „in der gegenwärtigen Katastrophe […] fast ausgeschlossen“ schien, dachte sie laut darüber nach, ob die Veranstaltung nicht besser abgesagt würde 79 Beckmanns Sorgen waren nicht unbegründet Da die Stadt aufgrund einer horrenden Auslandsverschuldung im Frühsommer an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs geraten war, hatte der Senat ein Sparprogramm verabschiedet, das im Bürgertum Zweifel aufkommen ließ, ob die parlamentarische Demokratie die materielle Existenz zu sichern imstande sei Für den Zweiten Bürgermeister Roß kam ein Verzicht auf die Feier jedoch nicht in Frage, weil den politischen Gegnern nicht das Signal gesendet werden durfte, dass man nicht mehr wie bisher zur Verfassung stehe Deshalb bekniete er Beckmann, den Vortrag in jedem Fall zu halten 80 Allerdings glaubte auch er offenbar dem unruhigen Zeitgeist Tribut zahlen zu müssen Wie einer Notiz des Senats für die Presse entnommen werden kann, hielten es die Organisatoren für ratsam, die Veranstaltungen am Verfassungstag „mit Rücksicht auf die Zeitverhältnisse gegenüber dem Vorjahre“ zu beschränken So fand am 11 August keine gemeinsame Feier der Hamburger Schulen statt81, und der Aufmarsch des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, einem politischen Wehrverband zum Schutz der Demokratie82, wurde am Abend auf dem Rathausmarkt ohne Fackelzug durchgeführt Auch die in den Vorjahren vom Hamburger Ausschuss für Leibesübungen organisierten Sportveranstaltungen fielen aus 83 In einer Hinsicht blieb es jedoch bei den Planungen: Bei der staatlichen Feier im Großen Saal der Musikhalle hielt Emmy Beckmann nach der „Tragischen Ouvertüre“ von Brahms, einer Rede des Senatspräsidenten und der dritten Strophe des Deutschlandsliedes ihre Festansprache über „Die Frau im Volksstaat“ Mit Beethovens „Ouvertüre Leonore III“ endete der Festakt 84 Tags darauf bedankte sich Roß bei Beckmann für den „von hohem Ethos“ getragenen Inhalt wie auch für die „vollendete“ Form ihres Vortrags, mit der sie „der Sache der Frau“ einen großen Dienst geleistet habe 85

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Ebd , Beckmann an Petersen, 18 07 1931 Ebd , Ross an Beckmann, 21 07 1931 Ob die Tatsache, dass die Schulbehörde die Gestaltung der Feier den Schulen in die eigenen Hände gegeben hatte, tatsächlich als Zeichen einer „wirksame[n] republikanische[n] Staatserziehung“ gedeutet werden kann, scheint doch eher zweifelhaft: Hildegard Milberg, Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890–1935, Hamburg 1970, 344 Vgl die kompakte Studie von Benjamin Ziemann, Die Zukunft der Republik? Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold 1924–1933, Bonn 2011, und jüngst: Sebastian Elsbach, Das Reichsbanner SchwarzRot-Gold Republikschutz und Gewalt in der Weimarer Republik, Stuttgart 2019 Staatsarchiv Hamburg, 131–4_1931 A 2, Notiz für die Presse, 28 07 1931 Ebd , Programm der Verfassungsfeier vom 11 08 1931; ebd , Ansprache von Ross, 11 08 1931; ebd , Ansprache von Beckmann, 11 08 1931 Ebd , Ross an Beckmann, 12 08 1931

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Im Parlament wie in der Bevölkerung waren breite Kreise für „die Sache der Frau“ offenbar weniger empfänglich Aus Enttäuschung über sinkende Mandatzahlen und den abnehmenden Einfluss in der Bürgerschaft wurde in der bürgerlichen Frauenbewegung seit langem lebhaft über die Gründung einer Frauenpartei diskutiert, mit der sie sich der auch in bürgerlichen Parteien immer mehr Gehör findenden Parole zur Wehr zu setzen hoffte, die Politik sei Männersache Zwar kam es am Ende nicht zur Bildung einer Frauenpartei, wohl aber zur Gründung der „Frauenfront 1932“, die von leitenden Funktionärinnen der SPD, der DVP und der 1931 in Deutsche Staatspartei umbenannten DDP „zur Verteidigung der Frauenrechte in Staat, Familie und Beruf “ initiiert wurde 86 Wie der Frauenbewegung blies auch den Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten und Senatoren der politische Wind im Zeichen wachsender Verzweiflung und Radikalisierung heftig ins Gesicht Bei den Wahlen vom 27 September 1931 erzielten die Kommunisten mit fast 22 % ihr bestes Ergebnis während der Weimarer Republik und erhöhten die Zahl ihrer Sitze von 27 auf 35 Die NSDAP gewann mit 26,3 % der Stimmen 43 Mandate und wurde zweitstärkste Kraft nach der SPD mit 46 Sitzen Die demokratische Fraktion besaß nur noch 14 Sitze, die DVP büßte 13 von 20 Mandaten ein und fiel von 13,8 % auf 4,8 % Damit verfügte die Senatskoalition nur noch über 69 der 160 Bürgerschaftssitze Bei einer enorm hohen Wahlbeteiligung von 83,8 % hatten sich offenbar viele Bürger von der Demokratie abgewandt Im Angesicht einer negativen absoluten Mehrheit von Kommunisten, Nationalsozialisten und Deutschnationalen erklärte der Senat am 3 Oktober seinen Rücktritt, um einer größeren Koalition den Weg zu ebnen Der scharfe Gegensatz zwischen den beiden Arbeiterparteien schloss eine Kooperation jedoch aus Eine Erweiterung des Senats nach rechts wiederum zerschellte an der Haltung der DNVP Die Hamburger Verhältnisse spiegelten die trostlose politische Lage des Deutschen Reiches getreulich wider „Die politische Kultur der Jahre 1930 bis 1933 mit ihren uniformierten Aufmärschen“, so lautet der treffende Befund von Axel Schildt und Arnold Sywottek, „konnte den Eindruck eines bevorstehenden Bürgerkriegs erwecken, erinnerte aber kaum noch an die parlamentarische Demokratie “87 Zwar hatte es in Teilen des Bürgertums und seinen Eliten Misstrauen gegen die parlamentarische Demokratie seit dem Umbruch von 1918/19 gegeben Den Vorbehalten zum Durchbruch verhalf aber erst die Hilflosigkeit der Staatsorgane in der Weltwirtschaftskrise Unter dem unerträglich wirkenden wirtschaftlichen Druck glaubten breite Schichten der Bevölkerung Hilfe nur in der Überwindung des Systems finden zu können Anders als im Reich scheuten sich die demokratischen Parteien in Hamburg jedoch weiterhin nicht vor der Regierungsverantwortung Die DVP kündigte zwar die

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Satzung der „Frauenfront 1932“ vom Juni 1932, zitiert in: Hagemann, Frauenwahlrecht, 142 Schildt/Sywottek, Bürgerschaft, 94

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Koalition auf und ging im Reich Anfang Oktober zur Opposition über, konnte aber ihre Repräsentanten in Hamburg nicht einfach aus dem Senat zurückziehen, weil das Gremium gemäß Art  37 der Verfassung geschäftsführend weiter amtierte Die fehlende parlamentarische Mehrheit ersetzte der Senat durch Anwendung eines Notverordnungsrechts, das die „Dietramszeller Verordnung“ des Reichspräsidenten vom 24  August 1931 den Landesregierungen zur Verfügung stellte 88 Da der Senat der Wirtschaftsnöte nicht Herr wurde, beschloss die Bürgerschaft am 23 März 1932 die Selbstauflösung, doch die Bevölkerung konnte sich bei den Neuwahlen vom 24 April zu keiner fundamentalen Veränderung der Machtverhältnisse aufraffen Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von 80,5 % wurde die NSDAP mithilfe des von der Parteiführung eingeschlagenen Legalitätskurses mit 31,2 % der Stimmen und 51 Sitzen stärkste Fraktion; die Große Koalition aus SPD, DVP und der Deutschen Staatspartei blieb ohne Mehrheit, auch wenn die SPD mit 27,8 % der Stimmen von 46 auf 49 Sitze und die Demokraten mit 11,3 % von 14 auf 18 stiegen Die in den letzten Jahren fast aufgeriebene DVP errang nur noch 3,2 % und suchte ihr Heil in einem Rechtskurs; auch die KPD fiel mit 16 % hinter die Resultate von 1927/28 zurück Beide Wahlen, die von 1931 wie die von 1932, dürfen getrost als „Indikator für den entscheidenden Stimmungsumschwung“ in der Hamburger Bevölkerung weg von der „demokratischen Republik und den sie repräsentierenden politischen und moralischen Werten“ angesehen werden 89 Rechnerisch möglich wäre nun eine von der DVP ins Spiel gebrachte bürgerliche Mehrheitsregierung unter Einschluss der NSDAP gewesen Doch die Staatspartei lehnte es ab, das Bündnis mit der SPD gegen eines mit der NSDAP einzutauschen So blieb der geschäftsführende Senat unter dem Ersten Bürgermeister Petersen im Amt, regierte aber ohne parlamentarische Mehrheit Ohnmächtig musste er mit ansehen, wie die demokratischen Kräfte im „Zweifrontenkrieg gegen NSDAP und KPD“ aufgerieben wurden 90 Am 17 Juli 1932 kulminierte der Kampf der Links- und Rechtsextremisten in Hamburgs preußischer Nachbarstadt Altona im berüchtigten „Blutsonntag“ An der Feier des Reichsverfassungstages am 11  August hielt das „ganze offizielle Hamburg“ zwar fest, wie die Presse zu berichten wusste 91 Er mutete aber „wie eine Götterdämmerung“ an 92 Aus Furcht vor der eigenen Absetzung durch die Reichsregierung nach dem Vorbild des „Preußenschlags“ begann der Senat aber eine „Defensivpolitik“93, die ihn vor dem Untergang indes nicht bewahren konnte Am 3 März 1933, gut vier Wochen nach der Machtübernahme Hit88 89 90 91 92 93

Vgl Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  6: Die Weimarer Verfassung, Stuttgart u a 1981, 486 Lütke, Tradition, 422 Ebd , 427 Hamburger Fremdenblatt, 11 08 1932, in: Staatsarchiv Hamburg, 731–8_A 411, Verfassungs-Feiern; s a Weber, Werbung?, 128–132 Schellack, Nationalfeiertage, 259 Lütke, Tradition, 427

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lers, traten die sozialdemokratischen Senatoren mit Rudolf Roß an der Spitze zurück Zwei Tage später legte auch der Rumpfsenat unter Carl Petersen sein Amt nieder, nachdem die Nationalsozialisten das Rathaus gestürmt hatten Am 8 März wählte die im April 1932 gebildete Bürgerschaft einen Nachfolgesenat mit sechs Nationalsozialisten, vier Deutschnationalen und je einem Mitglied der Deutschen Volkspartei und der Staatspartei Drei Wochen später wurde sie infolge des Gesetzes über die „Gleichschaltung der Länder“ vom 31 März gemäß dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5  März neu zusammengesetzt Bis zu ihrer Auflösung am 14 Oktober tagte die aus nunmehr 128 Abgeordneten bestehende Bürgerschaft noch dreimal, freilich ohne jegliche Macht Am 28 Oktober wurden ihre Befugnisse durch den Reichsstatthalter in Hamburg, Karl Kaufmann, auf den Senat übertragen 94 Damit waren die seit März bestehenden Reste der in der Verfassung vom 9 Januar 1921 verankerten demokratischen Staatsordnung de facto beseitigt De jure aufgehoben wurde sie mit der Verabschiedung des Groß-Hamburg-Gesetzes vom 26 Januar 1937 und dem „Gesetz über die Verfassung und Verwaltung der Hansestadt Hamburg“ vom 9 Dezember 95 „Die Politik eines deutschen Bundesstaates, der nicht einer wie alle anderen ist, sondern das weltwirtschaftliche Ausfallstor des Reiches, ist eine hundertfach verantwortliche Aufgabe “ So hatte die Alterspräsidentin der Hamburger Bürgerschaft, Helene Lange, in der konstituierenden Sitzung des erstmals frei gewählten Parlaments am 24  März 1919 dessen Aufgaben beschrieben und dann hinzugefügt: „Wir bedürfen zu unserm Werk […] der nüchteren, unverblendeten Erfassung der Tatsachen, die dieses Volk der Wasserkante immer ausgezeichnet hat, der phrasenlosen, besonnenen Sachlichkeit des Urteils über die Verhältnisse, mit denen wir zu rechnen haben “96 Mochte das von Lange artikulierte, ökonomisch begründete Sonderbewusstsein auch ein weit verbreitetes Selbstverständnis der Hamburger Bevölkerung widerspiegeln, entsprach es doch im Laufe der 1920er-Jahre immer weniger der Realität, weder ökonomisch noch politisch Dies galt auch und gerade in Bezug auf die Einstellung des „Volkes der Wasserkante“ zu seiner Verfassungsordnung Für das Ende der Demokratie in der Elbmetropole 1933 zeichnete freilich nicht die Verfassung verantwortlich, die in Analogie zu einem Buchtitel von Christoph Gusy über die Weimarer Konstitution durchaus als „eine gute Verfassung in schlechter Zeit“ benannt werden kann97, sondern der Mangel an politischer Kultur und demokratischer Gesinnung Wenn auch kein Zweifel daran bestehen kann, dass Demokratie Konflikt im öffentlichen politischen Raum braucht, muss er seine Grenzen doch in den Grundlagen des Verfassungs- und Rechtstaates

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Text des Gesetzes in: Wittreck (Hg ), Landesverfassungen, 243 f Vgl Lütke, Tradition, 452–475 Rede Langes in der konstituierenden Sitzung der Hamburger Bürgerschaft, 24 03 1919, in: Büttner, Neubeginn, 78 f , hier 79 Christoph Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung Eine gute Verfassung in schlechter Zeit, Tübingen 2018

Ein Verfassungsstaat „nicht wie alle anderen“

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wie auch in der Anerkennung der pluralen Interessen beteiligter Parteien finden Beide Grenzen waren in Hamburg seit der Einführung der parlamentarischen Demokratie nur sehr bedingt beachtet worden; im Zuge der Wirtschaftskrise sollten sie ihre Festigkeit dann vollends verlieren Ulrich Lappenküper, seit 2009 Geschäftsführer, seit 2012 Vorstand der Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh, seit 2009 apl Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Helmut-SchmidtUniversität der Bundeswehr Hamburg

Vom liberalen Großherzogtum zum demokratischen Freistaat Die Verfassung des Volksstaates Hessen 1919 Walter Mühlhausen Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 113–128

Abstract: The Constitution of the Volksstaat Hessen of 1919 replaced the Constitution of the Grand Duchy of Hessen of 1820, which had hardly been amended until then Hessian politics in the 19th century was characterized by the coexistence of government and parliament, although the state parliament had only limited rights of participation A change of throne in 1830 caused an open power struggle; the reforms introduced in 1848 were partially revised starting in 1850 While the constitution essentially remained in place until 1918, the electoral process underwent several changes, alternating between reform and regression A final half-hearted reform of electoral law took place in 1911 The Grand Duke Ernst Ludwig’s will to reform, which manifested itself at the end of the World War, came much too late Like all princes, he lost power The revolution and the seizure of power by the Social Democrats on November 9 was inevitable Together with the Center Party and the liberal DDP, the SPD paved the way for the republic Unlike the neighboring countries, which were forging ahead with constitutions, the constituent People’s Chamber elected on January 26, 1919, waited for the outcome of the National Assembly In view of the provisions in the Reich Constitution, fundamental rights provisions were not included in the constitution of the Land of Hessen adopted in December 1919 The central features were the state structure with a unicameral system, a three-year legislative period and direct citizen participation via referendums Overall, the constitution, which was later amended in three central points, laid the foundation for a stable democratic people’s state Under the leadership of the SPD, which provided the prime minister for more than 14 years, Hessen developed into a democratic bastion The high degree of continuity distinguished the state from many others in the Republic of Weimar

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In cooperation between the social democratic movement and the democratic bourgeoisie, it was possible to lay the foundation for the republic without fundamental disputes The fact that the Grand Duchy was not characterized by such class tensions as other territorial states of the German Empire before the First World War certainly contributed to this

Am 29 Oktober 1918 versammelte sich die Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen in Darmstadt erstmals seit Mitte Juli In den letzten drei Monaten hatte sich die Lage dramatisch verändert Der Krieg war verloren, die Niederlage öffentlich eingestanden worden; der am 2 Oktober zum Reichskanzler berufene Prinz Max von Baden führte die erste parlamentarisch gestützte Regierung, der auch zwei Sozialdemokraten angehörten; soeben waren grundlegende Verfassungsreformen in Richtung einer Demokratisierung der Monarchie erlassen worden; immer lauter erklang seitens der ausgemergelten Bevölkerung und der kampfesmüden Soldaten der Ruf nach Frieden, Freiheit und Brot Angesichts der Dramatik der Lage muss es erstaunen, dass die gewählten hessischen Volksvertreter erst jetzt wieder nach einer überlangen Sommerpause zusammenkamen Darauf spielte der SPD-Fraktionsführer Carl Ulrich an, als er zum sofortigen Handeln mahnte, um die notwendige Parlamentarisierung des Großherzogtums in möglichst ruhigen Bahnen zu vollziehen: „Schieben wir das alles hinaus, […] so weiß man nicht, was kommen kann “ Man habe des Öfteren Entscheidungen viel zu spät gefällt: „Wären gewisse Entschlüsse früher eingetreten, so hätten wir höchst wahrscheinlich das Trübe und Traurige nicht erlebt, das wir leider im Reiche jetzt vor uns haben“ 1 Solche Prophezeiung bewahrheitete sich Wie das Reich, so kam auch Hessen zu spät Die Revolution spülte die Hoffnung auf einen allmählichen Übergang in die parlamentarisch-demokratische Monarchie fort Aus dem Großherzogtum wurde ein Freistaat, der sich allerdings erst mehr als ein Jahr nach der Novemberrevolution von 1918 eine Verfassungsgrundlage geben sollte Anders als die mit Verfassungen voranpreschenden Nachbarn Baden und Württemberg warteten die Hessen zunächst das Ergebnis der in Weimar tagenden Nationalversammlung ab Die hessische Verfassung trat vier Monate nach der Reichsverfassung in Kraft Sie löste damit die fast 100 Jahre alte und bis dato kaum geänderte Verfassung des Großherzogtums vom 17 Dezember 1820 ab 2 1

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Verhandlungen der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen in den Jahren 1914/1918 Sechsunddreißigster Landtag, Protokolle Zweiter Bd , Darmstadt 1918 (künftig: VLGH Prot ), 1530 Kurz vor Drucklegung des Bandes erschien zu unserem Thema: Walter Mühlhausen, Hessen in der Weimarer Republik Politische Geschichte 1918–1933, Wiesbaden 2021 Verfassung in: Eckhart G Franz / Karl Murk (Hgg ), Verfassungen in Hessen 1807–1946 Verfassungstexte der Staaten des 19  Jahrhunderts, des Volksstaats und des heutigen Bundeslandes Hessen, Darmstadt 1998, 168–186 Sie wurde praktisch mit der Revolution 1918 außer Kraft gesetzt und dann durch die neue Verfassung 1919 (dort Art 65) auch formell aufgehoben

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Die (fast) 100-jährige Verfassungstradition zwischen Verharren und Fortschritt 1806 wurde die Landgrafschaft Hessen zum Großherzogtum, das mit territorialen Erweiterungen davor und danach, auch infolge des Wiener Kongresses, zu einem veritablen Mittelstaat mit einer von 300 000 (um 1800) auf 630 000 Köpfe angewachsenen Bevölkerung aufstieg Er gliederte sich in drei Provinzen: Links des Rheins lag Rheinhessen; die beiden rechtsrheinischen Starkenburg und Oberhessen trennte eine Schiene der preußischen Provinz Hessen-Nassau Das vom Großherzog am 18 März 1820 erlassene, von der Opposition als unzulänglich empfundene Konstitutionsedikt befeuerte eine Verfassungsdiskussion des Regenten mit der Ständeversammlung, vor allem auch mit der nach der Verordnung vier Tage später gewählten Zweiten Kammer 3 Heraus sprang schließlich eine Verfassung, die sich liberaler als manch andere der konstitutionellen Frühzeit zeigte Damit komplettierte Hessen neben Baden, Bayern und Württemberg das Band der süddeutschen Verfassungsstaaten In der nun fest verankerten monarchischen Ordnung lag die Macht beim Großherzog, der die Gesetzesinitiative besaß und jederzeit die Stände berufen, ausschalten und schließen konnte, während den parlamentarischen Körperschaften nur begrenzte Mitwirkungsrechte in der Budgetfrage und in der Gesetzgebung zugebilligt wurden Es blieb die nächsten 100 Jahre dabei, dass der „Monarch stets das letzte Wort hatte“ 4 Der Landtag setzte sich nach englischem Vorbild aus zwei Kammern zusammen: Die Erste bestand aus erblichen (adligen) Vertretern, daneben weiteren, die kraft Amt einen Sitz hatten, sowie aus den vom Großherzog ernannten Mitgliedern Die 50 Vertreter der Zweiten Kammer wurden in einem zunächst dreistufigen indirekten Verfahren gewählt, und zwar von den ortsansässigen (männlichen) Staatsbürgern ab 25 Jahren, die mindestens 20 Gulden direkte Steuern im Jahr entrichtet hatten Es wählten: der nicht in der Ersten Kammer vertretene niedere Adel sechs, die größeren Städte zehn und alle übrigen Orte 34 Abgeordnete Selbst beim späteren zweistufigen System

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Edikt und Wahlordnung in: ebd , 155–167; im Überblick: Peter Fleck, Die Verfassung des Großherzogtums Hessen 1820–1918, in: Bernd Heidenreich / Klaus Böhme (Hgg ), Hessen Verfassung und Politik, Stuttgart 1997, 86–107; detailliert die Einleitungen zu: Eckhart G Franz / Peter Fleck (Hgg ), Der Landtag des Großherzogtums Hessen 1820–1848 Reden aus den parlamentarischen Reformdebatten des Vormärz, Darmstadt 1998; Klaus-Dieter Rack / Bernd Vielsmeier (Hgg ), Hessische Abgeordnete 1820–1933 Biografische Nachweise für die Erste und Zweite Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen 1820–1918 und den Landtag des Volksstaats Hessen 1919–1933, Darmstadt 2008; auch Eckhart G Franz  / Peter Fleck  / Fritz Kallenberg, Großherzogtum Hessen (1800) 1806–1918, in: Walter Heinemeyer (Hg ), Handbuch der hessischen Geschichte, Bd   4: Hessen im Deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815–1945 Zweiter Teilbd : Die hessischen Staaten bis 1945, Marburg 2003, 667–884, hier 742 ff passim Manfred H W Köhler / Christoph Dipper (Hgg ), Einheit vor Freiheit? Die hessischen Landtage in der Zeit der Reichseinigung 1862–1875, Darmstadt 2010, 76

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blieben mitunter die sozialdemokratischen Wahlmänner wegen Aussichtslosigkeit der entscheidenden Abgeordnetenwahl fern 5 Die hessische Landesgeschichte war zunächst von einem gedeihlichen Miteinander von Regierung und Parlament geprägt, bis sich nach dem Thronwechsel 1830 Konflikte zu einem offenen Machtkampf ausweiteten 1848 sorgte für einen Schub an Reformen, die in der nachfolgenden Phase des Rückbaus ab 1850, als es in die „Bahnen eines Krypto-Absolutismus“6 zurückging, jedoch nicht in Gänze revidiert wurden Während die Verfassung in ihren Grundfesten bis 1918 bestehen blieb, unterlag das Wahlverfahren mehreren Veränderungen 7 Die fortschrittlichsten Neuerungen kamen infolge der Revolution von 1848 mit der Direktwahl der 25-köpfigen Ersten und der 50-köpfigen Zweiten Kammer Der Wahlrechtsfrühling währte jedoch nur kurz: 1850 erfolgte per Verordnung (nicht über ein Gesetz) ein Rückschnitt, indem die Erste Kammer wieder aus ernannten oder qua Amt berufenen Mitgliedern bestand und das Wahlverfahren für die Zweite verfassungswidrig an das preußische Dreiklassenwahlrecht angelehnt wurde,8 ehe im September 1856 die vollkommene Rückkehr zum Zensussystem mit indirektem (zweistufigem) Wahlmodus vollzogen wurde Gleichwohl schritt die Parlamentarisierung in Fragen der Etatangelegenheiten voran Nach einer Reform von 1872 saßen in der Zweiten Kammer zehn Vertreter aus den größeren Städten und 40 aus den neu abgegrenzten ländlichen Wahlbezirken Der grundbesitzende niedere Adel wechselte nun in die Erste Kammer Das Wahlrecht war jetzt lediglich an die Zahlung der neuen Einkommenssteuer geknüpft Zudem wurde die Steuerbarriere für Wahlmänner erheblich gesenkt („Normalsteuerkapital von 40 Gulden“9) Zugleich wurde die mündliche Wahl durch Stimmzettelabgabe ersetzt Die Hälfte des Parlaments, deren Mitglieder auf sechs Jahre zu wählen waren, wurde ab diesem Zeitpunkt alle drei Jahre neu bestimmt Wählbar war man jetzt mit 25 Jahren (vorher 30) Stimmberechtigt waren bei den Reichstagswahlen 1898 22,6 Prozent der Bevölkerung, bei den Landtagswahlen zwischen 1884 bis 1899 zwischen 17 und 18 Prozent Die Wahlbeteiligung unterschied sich frappierend: Bei den Wahlen zum Reichstag von 1871 bis 1898 lag sie zwischen 60 und 70 Prozent, bei denen für den Landtag 1884/1887 bei 16,4 und 1897/1899 bei 31,8 Prozent 10

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Als Beispiel: Im rheinhessischen Nieder-Olm erschien 1899 nur einer von 15 gewählten sozialdemokratischen Wahlmännern zur Stimmabgabe bei der Abgeordnetenkür; Albrecht Eckhardt, Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie im Großherzogtum Hessen 1860–1900, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde 34/1976, 171–493, hier 439 So Franz/Murk (Hgg ), Verfassungen, 154 Die diesbezüglichen Gesetze alle ebd , 186–220 Siehe die Einleitung zu: Peter Fleck / Eckhart G Franz (Hgg ), Die nachrevolutionären Landtage des Großherzogtums Hessen 1849–1856 Reden aus den parlamentarischen Debatten, Darmstadt 2008, 34 Verordnung 8 November 1872 in: Franz/Murk (Hgg ), Verfassungen, 203 Rack/Vielsmeier (Hgg ), Hessische Abgeordnete, 30

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Zwei Jahre nach der Reform des Landtagswahlrechts traten eine neue Städteordnung und eine neue Landgemeindeordnung in Kraft In den größeren Städten (mindestens 10 000 Einwohner) wählten daraufhin alle mehr als zwei Jahre am Ort ansässigen Einwohner eine Stadtverordnetenversammlung, die ihrerseits den Bürgermeister (auf zwölf Jahre) und mindestens zwei Beigeordnete kürte Die Hälfte der Stadtverordneten war aus dem höchstbesteuerten Drittel der Wähler zu bestimmen Also existierte auch hier eine Bevorzugung nach Einkommen Die Bürgermeister der kleineren Städte und der Gemeinden wurden direkt gewählt 11 Auf die ersten sozialdemokratischen Stadtverordneten reagierten die bürgerlichen Mehrheiten mit Reserve Das erfuhr der im Dezember 1895 als erster Sozialdemokrat in das Offenbacher Stadtparlament gewählte Carl Ulrich, als die bürgerlichen Mandatsträger bei der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung dafür sorgten, dass für den „Umstürzler“ kein Platz frei war und er erst nach lautstarkem Protest einen Stuhl zugewiesen bekam 12 Offenbach sollte dann – soweit bekannt – die einzige größere Stadt im Reich sein, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine absolute sozialdemokratische Mehrheit in der städtischen Vertretung besaß 13 Ab Januar 1914 verfügte die SPD in der Lederwarenstadt über 34 der insgesamt 42 Sitze Endpunkt der Novellierungen des Landtagwahlrechts war der Juni 1911 Ein Schritt nach vorn war es, dass an die Stelle der bisherigen indirekten Wahl die direkte und geheime Wahl mit Stichwahl bei fehlender absoluter Mehrheit eines Kandidaten im ersten Wahlgang trat Zudem passte man durch Erhöhung der Anzahl der Abgeordneten für die überproportional expandierenden größeren Städte die Wahlkreiseinteilung den demographischen Verschiebungen an (von 50 auf 58 Abgeordnete) und gewährte allen (männlichen) Steuerzahlern ab dem 25 Lebensjahr das Wahlrecht Dennoch waren jetzt nur etwas mehr als 20 Prozent der Bevölkerung stimmberechtigt Dieser unzureichende Versuch einer Modernisierung sicherte darüber hinaus den über 50-jährigen Wählern eine zusätzliche Stimme Doch die Honorierung der „Lebenserfahrung“ kaschierte die antisozialistische Intention nur dürftig Denn die auch in Hessen ausgegrenzte Sozialdemokratie war vor allem eine Bewegung der jungen Arbeiter, die eine solche Zusatzstimme nicht erhielten Zudem wusste der Gesetzgeber wohl, was 1919 ein Abgeordneter der liberalen DDP(!) in seiner Kritik an der Novellierung 1911 hervorhob, dass vor dem Krieg die durchschnittliche Lebenserwartung eines Arbeiters 11 12

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Eckhart G Franz, Volksstaat Hessen 1918–1945, in: Heinemeyer (Hg ), Handbuch, 4 Bd , 885–933, hier 851 f „Offenbacher Abendblatt“ vom 11 Januar 1896 in: Karl Storck, Staatspräsident Carl Ulrich Aus seinem Leben und Wirken, Darmstadt 1928, 58; vgl Carl Ulrich, Erinnerungen des ersten hessischen Staatspräsidenten, hg von Ludwig Bergsträsser, Offenbach 1953, 63; s a das Heft von Walter Mühlhausen, Carl Ulrich  – vom sozialdemokratischen Parteiführer zum hessischen Ministerpräsidenten (1853–1933), Wiesbaden 2003 So Georg Fülberth, Konzeption und Praxis sozialdemokratischer Kommunalpolitik 1918–1933 Ein Anfang, Marburg 1984, 20

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bei 46 Jahren gelegen habe – damit weit unter dem anderer Bevölkerungskreise – und er im Schnitt gar nicht das Alter für die Zweitstimme erreichte 14 In der Tat blieb diese Reform unvollendet und wurde mit gutem Grund rückschauend mit dem Stempel „zeitblinde Veränderungen“ versehen 15 An den Kompetenzen der parlamentarischen Vertretung änderte sich nichts Der Landtag besaß zwar Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung und bei der Budgetbewilligung, aber die Gesetzesinitiative lag bei der großherzoglichen Regierung Die beiden Kammern konnten nur über Petitionen die Regierung zum Gesetzeshandeln auffordern: Das Großherzogtum war eben „eine konstitutionelle Monarchie, keine parlamentarische“ 16 Das verfassungsrechtliche Gewicht lag eindeutig bei der vom Monarchen ernannten Regierung, dem „Gesamt-Ministerium“ als Spitze der Verwaltung, wie es in der diesbezüglichen Verordnung von 1874 hieß Die Minister waren in Teilbereichen auf eine Zusammenarbeit mit der gewählten Volksvertretung angewiesen, nicht aber aus dieser erwachsen Insgesamt zeigte sich Hessen liberaler als Preußen Die gemeinhin praktizierte rigorose Politik gegenüber der aufstrebenden sozialistischen Arbeiterbewegung, die ihren Ausdruck im reichsweiten „Sozialistengesetz“ (1878–1890) fand, kam im Großherzogtum nicht in solcher Schärfe zur Anwendung, wenngleich später, ab dem Wahlkampf 1884, auch dort unter dem Druck von Preußen die Behörden stärker gegen die „Umsturzbewegung“ vorgingen Auch nach Ablauf des Sozialistengesetzes wurde die Sozialdemokratie stigmatisiert, überwacht und ausgegrenzt, wiederum in Hessen gewiss in geringerer Intensität als im benachbarten nassauischen und kurhessischen Preußen Mit gutem Grund hielt der aus dem preußischen Kassel stammende Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der einige Zeit auch im großherzoglichen Offenbach tätig gewesen war, in seinen Erinnerungen fest, dass Hessen in der zweiten Hälfte des 19  Jahrhunderts das „freieste deutsche Land“ im Reich gewesen sei 17 Im März 1885 wurden die ersten beiden Sozialdemokraten in den Landtag gewählt, neben Franz Jöst Carl Ulrich, der als Revolutionsführer 1918 und dann als erster Regierungschef die Geschicke des Volksstaates für fast zehn Jahre bestimmen sollte Die bis zum Kriegsausbruch stetig wachsende sozialdemokratische Fraktion (sechs Mandate ab 1899 und acht ab 1911) sollte von der dominierenden nationalliberalen Parlaments14 15 16 17

Reinhard Strecker am 20 Februar 1919; Verhandlungen der Volkskammer der Republik Hessen im Jahre 1919 Erster Landtag, Protokolle Erster Bd , Darmstadt 1919 (künftig: VVK Prot ), 50 So Karl E Demandt, Geschichte des Landes Hessen, Kassel 2  Aufl 1972, 602 Es verwundert schon, dass in der gängigen Verfassungs- und Wahlrechtsliteratur, dieser schon von Zeitgenossen wahrgenommene antisozialdemokratische Aspekt der „Zweitstimme“ nicht gesehen wird Golo Mann in seinem einleitenden Essay zu: Eckhart G Franz (Hg ), Erinnertes Aufzeichnungen des letzten Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein, Darmstadt 1983, 12 Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd   2, Dresden 1928, 86; s a Eckhardt, Arbeiterbewegung, 351 ff

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mehrheit ausgegrenzt bleiben Die Nationalliberalen okkupierten als großbürgerlichindustriell und agrarisch ausgerichtete Partei weithin auch die Funktion der Konservativen, die keine Rolle spielten Im antisozialistischen Kampf trat auch die Kirche hervor Für Aufsehen weit über Hessen hinaus sorgte der Fall des Pfarrers Adolf Korell, der bei der Reichstagsnachwahl 1906 im Wahlkreis Darmstadt/Groß-Gerau als Kandidat eines linksliberalen Bündnisses im ersten Wahlgang scheiterte Das Bündnis rief in der Stichwahl zur Stimmabgabe für den Sozialdemokraten und nicht für den Nationalliberalen auf Korell unterließ es, vor einem Votum für den Sozialdemokraten zu warnen Nachdem der SPD-Kandidat einen knappen Sieg davongetragen hatte, wurde Korell vom Oberkonsistorium, der obersten evangelischen Kirchenbehörde, gemaßregelt 18 In einem hohen Maße prägend für die politische Kultur seit dem Beginn des 20  Jahrhunderts war der seit 1892 amtierende Großherzog Ernst Ludwig Er ersetzte 1898 den von seinem Vater Ludwig IV übernommenen 73-jährigen Staatsminister Jakob Finger durch Karl Rothe, in dessen Amtszeit einige liberale und soziale Reformen fielen Nach Rothes Tod 1906 folgte Carl von Ewald, der bis zum Untergang 1918 das Großherzogtum zu einem liberalen monarchischen Staat formte Um 1900 vollzog sich mit Blick auf die Herkunft der Minister ein Umbruch Von den bis 1918 regierenden Ministern kamen vier nicht mehr aus alteingesessenen Beamten- und Akademikerfamilien, aus denen die Regierungsmitglieder aus der Zeit davor nahezu ausnahmslos stammten 19 Ernst Ludwig selbst war geleitet von einem modernen monarchischen Amtsverständnis Der Fürst müsse die Interessen seines Volkes kennen lernen und sich an diesen orientieren, um mit den Ministern zeitgemäße und zukunftsträchtige Politik zu betreiben Dabei dürfe er sich nicht scheuen, rückständige Traditionen über Bord zu werfen 20 In solche verbale Offenheit fügte es sich ein, wenn Ernst Ludwig bei einem Parlamentarischen Abend 1901 sich auch mit dem führenden SPD-Abgeordneten Ulrich unterhielt Nicht nur der Großherzog wurde nach der Zusammenkunft mit dem Reichsfeind scharf angegriffen, auch der Sozialdemokrat musste sich Vorwürfe seiner (Berliner) Genossen gefallen lassen 21 Es kam insgesamt zu drei solcher Begegnungen, wobei die letzte 1908 nicht mehr in angenehmer Atmosphäre verlief, weil der Sozialdemokrat die Massendemonstrationen seiner Partei in Preußen für ein demokratisches Wahlrecht verteidigte Dennoch: Bei aller attestierten sozialen und kulturellen Modernität blieb der Großherzog, dem durchaus ein „eigenständiges Herrscherprofil“ bescheinigt worden ist, 18 19 20 21

Karl Holl, Die Darmstädter Reichstagsnachwahl von 1906 und der „Fall“ Korell, in: Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde 27/1962/67, 119–161 Eckhart G Franz, Hessen-Darmstadt 1820–1933, in: Klaus Schwabe (Hg ), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815–1933, Boppard a Rh 1983, 103–112, hier 111 1907 niedergelegt in seinen „Grundideen für einen konstitutionellen Fürsten und jeden Prinzen“; in: Franz (Hg ), Erinnertes, 165 ff Ulrich, Erinnerungen, 91 (auch für das Folgende)

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ein politisch die Zeichen der Zeit ignorierender Landesfürst, der seine Privilegien nicht freiwillig aufgeben wollte 22 Dazu bedurfte es einer Revolution Die Revolution als Wegweiser in die Demokratie Die kaiserliche Osterbotschaft von 1917 mit der vagen Ankündigung von Reformen nach „Heimkehr unserer Krieger“ fachte das Reformfeuer in Hessen an: So unternahmen SPD und liberale Fortschrittspartei eine jede für sich in der Zweiten Kammer im April und Mail 1917 einen Vorstoß zur Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts auf allen Ebenen 23 Die Regierung blockte ab, hatte aber keine Einwände gegen die Einsetzung eines 14-köpfigen Ausschusses, der nach dem Willen der Parlamentarier „die gesamte staatsrechtlich-politische Gesetzgebung“ einer Prüfung unterziehen und Änderungsvorschläge entwickeln sollte 24 So geschah es im Oktober 1917 Doch der von allen Fraktionen beschickte Ausschuss sollte auf die weitere verfassungsrechtliche Entwicklung keinen nachhaltigen Einfluss ausüben Als im Oktober 1918 die innenpolitische Lage kippte, hatte die Kommission nicht einmal einen Bericht vorgelegt Ein ganzes Jahr war verstrichen, als am 26  Oktober 1918 Staatsminister Ewald, herausgefordert durch das Drängen der SPD, vor dem Verfassungsausschuss eine demokratische Fortentwicklung ankündigte,25 die auch die Einführung der Verhältniswahl und die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung umfassen sollte Zu diesem Zeitpunkt war die Kriegsniederlage öffentlich eingestanden worden Die Bereitschaft zur Reform sollte das sich am Horizont abzeichnende Unbill verhindern, letztlich die Monarchie – in demokratisierter Form allerdings – am Leben erhalten Der sich nun in konkreten Planungen ausdrückende Reformwille des hessischen Großherzogs kam viel zu spät, als dass er in der kriegsmüden und ausgehungerten Bevölkerung noch irgendeinen nennenswerten positiven Widerhall finden konnte In

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Vgl das doch etwas überzogene Urteil von Lothar Machtan, Die Abdankung Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2008, 332 f Machtan prägt gar die Charakterisierung „bundesfürstlicher Paradiesvogel“ Ungeachtet dessen wird man den Großherzog als politisch wenig einsichtig zu charakterisieren haben, eine Wertung, die gegen die gängige hessische Literatur steht, die sich nach wie vor in Lobeshymnen übt; stellvertretend Eckhart G Franz, Das Haus Hessen Eine europäische Familie, Stuttgart 2005; Bernd Heidenreich  / Eckhart G Franz (Hgg ), Kronen, Kriege, Künste Das Haus Hessen im 19 und 20  Jahrhundert, Frankfurt a M 2009 VLGH Sechsunddreißigster Landtag, Drucksachen Zweiter Bd , Darmstadt 1918 (künftig: VLGH Drucks ), Nr   355 und Nr   371 Zum Folgenden der Überblick bei Hans Gmelin, Verfassungsentwicklung und Gesetzgebung in Hessen von 1913 bis 1919, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechtes IX/1920, 204–217, hier 205 f Ausschussbericht vom 8 Oktober 1917; VLGH Drucks Nr  445 Hierzu der Berichterstatter des Ausschusses, der Nationalliberale Karl Stephan, vor der Zweiten Kammer am 29 Oktober; VLGH Prot , 1528 f

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getrennten Anträgen präsentierten SPD und Fortschritt in Darmstadt nun ihre nicht in allem kongruenten Vorstellungen 26 Übereinstimmung herrschte in den grundlegenden Fragen: parlamentarische Bindung der Regierung, Verhältniswahl, Frauenwahlrecht, Aufhebung aller Vorrechte durch Geburt sowie Beseitigung des großherzoglichen Sanktionsrechts Während die SPD die Abschaffung der Ersten Kammer forderte, wollten die Freisinnigen diese durch eine berufsständische Vertretung ersetzen Die Anträge zur Reform kamen aber nicht mehr in die Beratung Es war zu spät Die Chance für eine entschlossene und rechtzeitige Reformpolitik unter monarchischen Vorzeichen war verspielt Auf Regierung und Landesherrn lastete der Vorwurf der politischen Fehleinschätzung Denn auch in Hessen formierten sich flächendeckend Arbeiter- und Soldatenräte als Vertreter einer breiten Volksbewegung und rissen die Macht an sich 27 Sie bildeten später als Zentrale für Hessen den revolutionären Volksrat der Republik Alles verlief ohne Kämpfe, nahezu geschäftsmäßig Und keine Hand rührte sich für den Großherzog, der sich dem Ratschlag von Carl Ulrich verweigerte, auf den Thron zu verzichten, so dass ihn die Massenbewegung faktisch absetzte Dabei blieb es, auch wenn er keine Abdankungsurkunde unterschrieb Nach der Entmachtung des alten großherzoglichen Staatsrats füllte die provisorische Regierung unter Carl Ulrich das exekutive Machtvakuum Dabei setzte die dominierende SPD auf eine Zusammenarbeit mit dem demokratischen Bürgertum Auf das Angebot zur Mitwirkung gingen nur die freiheitlichen Demokraten, die sich in der später gegründeten DDP sammelten, und die katholische Zentrumspartei ein, während die Nationalliberalen, die spätere DVP, und der (im Vergleich zu dieser noch konservativere) Hessische Bauernbund diesen Weg nicht mitgehen wollten Die Übergangsregierung entsprach der im Reich erst im Februar 1919 nach den Wahlen zur Nationalversammlung installierten Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum Sie hatte nicht nur die dramatische Situation zu bewältigen, sondern möglichst bald die mit dem Umsturz geschaffenen Verhältnisse durch Wahlen zu legitimieren, um so den Weg zur Republik zu planieren Die am 3 Dezember 1918 erlassene „Verordnung über die Wahlen für die verfassunggebende Volkskammer der Republik Hessen“, die das Wahlalter auf 20 Jahre senkte, enthielt als wesentliche Neuerungen Frauenwahlrecht und Verhältniswahlsystem, wobei das Land einen einzigen Wahlkreis bildete 28 Die Legislaturperiode wurde auf drei Jahre begrenzt (Art 7) Mit der Demokratisierung des Wahlrechts stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf fast 59 Prozent der Bevölkerung, knapp drei Mal so viel wie nach der halbherzigen Wahlrechtsreform von 1911 Am 26 Januar 1919, eine Woche nach den 26 27 28

VLGH Drucks Nr  630 und 633 (Anträge Fortschritt) sowie Nr  635 (Antrag SPD) Zur Revolution: Tobias Haren, Der Volksstaat Hessen 1918/1919 Hessens Weg zur Demokratie, Berlin 2003 Hessisches Regierungsblatt Nr  29 vom 10 Dezember 1918, 245 ff

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Wahlen für die Nationalversammlung, bestimmten die Hessen ihre Abgeordneten der verfassunggebenden Volkskammer Ursprünglich sollte das Wahlgesetz auch eine Wahlpflicht enthalten; das wurde gestrichen, wohl „weil die Sozialdemokraten keine Veranlassung hatten, die erhoffte Lauheit der bürgerlichen Wähler abzuschwächen“ 29 Die SPD wusste, dass ihre Wähler zur Urne gehen würden, während viele im Bürgertum sich in einer an Apathie grenzenden Orientierungslosigkeit befanden Die SPD sollte mit dieser Einschätzung Recht behalten Denn bei einer Wahlbeteiligung von 81 Prozent kam sie auf 44,5 Prozent Die USPD, die sich 1917 aus Gegnerschaft zu der von der Mehrheit der SPD verfolgten Burgfriedenspolitik von dieser abgespalten hatte, war mit 1,5 Prozent eine bedeutungslose Splittergruppierung An zweiter Stelle rangierte mit 18,9 Prozent die DDP, die sich als Erbin der Fortschrittlichen Volkspartei verstand, gefolgt vom Zentrum mit 17,6 Prozent Die rechtsliberale DVP erreichte 10,1 Prozent und die Hessische Volkspartei als Landesverband der republikfeindlichen DNVP 7,4 Prozent Die Zusammensetzung des nun 70-köpfigen Landtages veränderte sich erheblich Nach den letzten Vorkriegswahlen 1911 stellten die Nationalliberalen 17, die Hessische Volkspartei (vom Bauernbund gestützt) 14, das Zentrum neun sowie Fortschrittliche Volkspartei und SPD je acht Abgeordnete Nun verteilten sich die Mandate folgendermaßen: SPD 31, DDP und Zentrum je 13, DVP sieben, Hessische Volkspartei/DNVP fünf; die USPD war mit einem Mann vertreten Das Regierungslager verfügte mit über 80 Prozent der Stimmen über eine satte Mehrheit von 57 der 70 Mandate Die drei Parteien setzten ihre Zusammenarbeit unter Ministerpräsident Ulrich fort Mit der Auflösung des revolutionären Volksrats als Vertretung der Arbeiter- und Soldatenräte und der Übertragung seiner Rechte auf das Parlament endete der Dualismus von provisorischer Regierung und revolutionärer Macht 30 Mit der demokratischen Legitimation im Rücken konnten die Volksvertreter an Aufbau und Fundamentierung der Demokratie gehen Die verfassungsrechtliche Zementierung der neuen Ordnung erfolgte in Stufen und mit Zeitverzögerung Verfassungsschöpfung ohne Öffentlichkeit Die Entwicklungen im Reich und im Volksstaat unterschieden sich nicht, wenn sie zeitlich auch weit auseinanderklafften Die Hessen arbeiteten zunächst auf der Basis des zehn Artikel umfassenden „Gesetzes über die vorläufige Verfassung für den Freistaat (Republik) Hessen“ vom 20 Februar 191931, das wie das für das Reich gel29 30 31

Gmelin, Verfassungsentwicklung, 208 Schreiben des Volksrats verlesen in der Sitzung der Volkskammer am 14 Februar; VVK Prot , 7 Franz/Murk (Hgg ), Verfassungen, 387–389; vgl Gmelin, Verfassungsentwicklung, 209; zur Verfassungsberatung: Eckhart G Franz, „Alle Staatsgewalt im Volksstaat Hessen geht vom Volke aus“

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tende „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ vom 10 Februar lediglich Eckwerte der politischen Ordnung formulierte Die Hessen beschränkten sich auf Regelungen zur staatlichen Organisation, der Gesetzgebung und der Regierung Mit Artikel  1  – „Der Freistaat (Republik) Hessen ist ein selbständiger Bundesstaat des Deutschen Reichs“ – wurde der Wandel vom November 1918 verfassungsrechtlich verankert Das vorläufige Grundgesetz sollte bis zur Verabschiedung einer Landesverfassung Gültigkeit besitzen, spätestens aber zum 1 Januar 1920 außer Kraft gesetzt werden (Art 10) Die hessischen Verfassungsschöpfer hatten also Zeit und sie nahmen sich diese auch Ein erster Verfassungsentwurf lag im April vor, entwickelt durch eine von der Regierung Ulrich am 5 März eingesetzte Kommission aus Experten der Ministerialbürokratie Hierzu lieferte der Gießener Staatsrechtler Hans Gmelin ein Gutachten, das in Teilen Berücksichtigung fand Die Hessen orientierten sich an den bereits vorliegenden Verfassungen von Baden und Württemberg, so dass „wenigstens die süddeutschen Staaten in den Grundlagen ihrer Existenz möglichste Übereinstimmung“ zeigen 32 Erst am 9 Oktober, kurz vor dem Ende der Sommerpause, ging der Entwurf der Landesregierung, die zunächst die Verabschiedung der Reichsverfassung – dies geschah am 31  Juli – abwarten wollte, an die Volkskammer Mit Blick auf die Reichsverfassung verzichteten die Hessen freiwillig auf eine zusätzliche Verankerung der dort bereits niedergelegten Regelungen So fand nichts Berücksichtigung, was sich auf „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen bezog“ 33 Im Verfassungsausschuss wurden nur noch wenige Änderungen vorgenommen 34 So fiel die vorgesehene, sich an badische und württembergische Regelungen orientierende Bestimmung, nur „hessische Staatsangehörige“ seien bei Wahlen stimmberechtigt Denn die Reichsverfassung legte in Artikel 17 fest, dass die Landtage von allen reichsdeutschen Männern und Frauen zu wählen waren Der vom Ausschuss entwickelte Entwurf wurde dann im Dezember in nur drei Tagen im Plenum beraten Die wenigen Diskussionen drehten sich um das Alter für das aktive und passive Wahlrecht, das auf 20 bzw 25 Jahre festgelegt wurde Die Rechtsparteien brachten zudem aus überzogener Furcht vor einer Parteienherrschaft über das Parlament nochmals eine berufsständisch zusammengesetzte Zweite Kammer ins

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Die Hessische Verfassung von 1919, in: Hans Eichel  / Klaus Peter Möller (Hgg ), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen Eine Festschrift, Wiesbaden 1997, 38–46; Manfred Köhler, „Im Sinne der allgemeinen Gerechtigkeit“ Die Verfassung des Volksstaates Hessen von 1919, in: Heidenreich/ Böhme (Hgg ), Hessen Verfassung, 223–257 „Entwurf einer hessischen Verfassung unter Berücksichtigung der von Herrn Professor Gmelin zu dem Kommissionsentwurf gemachten Abänderungsvorschlägen und der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11 August 1919“; VVK Drucksachen Erster Bd , Darmstadt 1919 (künftig: VVK Drucks ), Nr  237 mit den Anlagen, 10; vgl Hans Gmelin, Die hessische Verfassung und Gesetzgebung von 1920, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts X/1921, 301–320 VVK Drucks , Nr  237, 9 Bericht in VVK Drucks Nr  253

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Spiel, wofür sich die Mehrheit aber nicht begeistern konnte Das Prinzip der absoluten Volkssouveränität sollte nicht über das Hintertürchen Zweite Kammer beschnitten werden Es blieb beim Einkammersystem Obwohl die Mehrzahl der Artikel ohne Kontroversen das Plenum passierte, verweigerten DVP und Hessischer Volksbund letztlich die Zustimmung – aus nichtigem Grund In beinahe trotziger Haltung quittierten beide die Ablehnung ihrer Forderung, nicht erst in zwei Jahren, im November 1921 – wie Artikel 64 bestimmte –, sondern schon im Frühjahr des kommenden Jahres einen neuen Landtag wählen zu lassen, mit Ablehnung der Gesamtverfassung Man begründete das Verlangen damit, dass die ersten Wahlen im Januar 1919 „unter der Einwirkung der Revolution“ stattgefunden hatten 35 Unausgesprochen verbarg sich dahinter die Erwartung, dass man als bürgerlich-konservative Parteien nun besser abschneiden würde, nachdem sie sich seinerzeit noch in der Findungsphase befunden hatten und das eigene, dem Untergang der Monarchie lange nachtrauernde Klientel über den Umbruch politisch konsterniert und apathisch gewesen war Da sie mit einem früheren Wahltermin nicht durchdrang, votierte die rechte Seite des Hauses mit Nein 36 Ungeachtet dessen trat die am 9 Dezember verabschiedete Landesverfassung drei Tage später in Kraft Sie untergliederte sich in neun Abschnitte, wobei der letzte lediglich Übergangsbestimmungen enthielt Artikel 1 erklärte den „Volksstaat“ Hessen als selbständiges Land zu einem „Bestandteil des Deutschen Reichs“ 37 Man bekannte sich zum Prinzip der Volkssouveränität, schuf eine voll ausgeprägte parlamentarische Demokratie ohne blockierende Nebeninstitutionen Der Landtag war alle drei Jahre zu wählen Der allgemeinen Stimmung der Zeit entsprechend räumte die Verfassung der Bevölkerung weitere direkte Mitbestimmungsrechte ein, setzte für den Erfolg eines Referendums jedoch nicht so hohe Hürden wie die Reichsverfassung So hatte nach Artikel 12 ein Referendum stattzufinden, wenn fünf Prozent der Wahlberechtigten in einem Volksbegehren ein solches unterstützen würden  – das galt als sachgerechtes Quorum;38 die Reichsverfassung sprach hingegen von zehn Prozent Zur Annahme reichte in Hessen die einfache Mehrheit der Abstimmenden, bei verfassungsändernden Gesetzen war jedoch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich (Art 14) Wie im Reich so war auch in Hessen keine Volksabstimmung erfolgreich Ein von der Rechtsopposition auf den Weg gebrachtes Volksbegehren für die Auflösung des Landtages erreichte zwar im September 1926 trotz offensichtlicher massiver Fälschung von Einschreiblisten mit schließlich anerkannten 62 000 Unterschriften das verfassungsmä-

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So der DVP-Abgeordnete Eduard Dingeldey; VVK Prot , 1039 VVK Prot , 1057 Verfassung in: Franz/Murk (Hgg ), Verfassungen, 389–400, und: Weimarer Landesverfassungen Die Verfassungsurkunden der deutschen Freistaaten 1918–1933 Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung von Fabian Wittreck, Tübingen 2004, 252–264 Einleitung zu: Weimarer Landesverfassungen, 17

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ßig vorgeschriebene „Zwanzigstel“ der Stimmberechtigten (Art 12) – das wären rund 42 000 gewesen –, doch scheiterte die Volksabstimmung am 5 Dezember mit 48 Prozent Ja-Stimmen denkbar knapp 39 In der hessischen Verfassung fanden mit Blick auf die Regelungen in der Reichsverfassung Grundrechtsbestimmungen keine Erwähnung Auch nicht aufgenommen wurden die von dem einzigen USPD-Vertreter schon bei der Notverfassung eingeforderten wirtschaftspolitischen Sofortmaßnahmen wie die Sozialisierung von Industrieunternehmen Hessen lehnte wie jedes andere Land einen rein auf repräsentative Funktionen ausgerichteten Staatspräsidenten neben einem Ministerpräsidenten ab Man wählte aber als Amtsbezeichnung für den Regierungschef den Terminus „Staatspräsident“ (Art  37), „um sein Ansehen und seine Würde in der Bevölkerung zu heben“ 40 Ulrich wurde dann am 16 März 1920 als Staatspräsident auf die Verfassung vereidigt Die Minister, deren Anzahl vom Landtag festzulegen war, benötigten zu ihrer Bestätigung das Vertrauen des Landtages Dieser konnte auch dem Gesamtministerium oder einzelnen Ressortchefs das Misstrauen aussprechen und sie so zur Demission zwingen Ein zurückgetretenes Kabinett blieb jedoch bis zur Wahl eines neuen Staatspräsidenten geschäftsführend im Amt (Art 38) Anmerkungen zur Verfassungskultur Die Verfassung legte insgesamt die staatsrechtliche Grundlage für die Entwicklung Hessens zu einem demokratischen Volksstaat Sie wurde der Bevölkerung jedoch nicht zur Abstimmung vorgelegt, vielleicht vor dem Hintergrund der Erfahrung in Baden, wo die Verfassung am 13 April als einziges Staatsgrundgesetz seiner Zeit über einen Volksentscheid – dem ersten in Deutschland überhaupt – angenommen wurde, mit überragenden 94,6 Prozent, allerdings bei einer geringen Wahlbeteiligung von nur 34 Prozent In Hessen wusste man zudem, dass die Verfassungsschöpfung draußen im Lande nur auf mäßiges Interesse gestoßen war Der Bevölkerung erschien anderes wichtiger, weil es als existentieller begriffen wurde An erster Stelle belastete die ein Viertel des hessischen Territoriums und mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung umfassende französische Besatzung, die das linksrheinische Rheinhessen und auch Gebiete rechts des Rheins bis in die Darmstädter Peripherie umfasste Und der als Knebelung empfundene Versailler Vertrag dominierte den öffentlichen Diskurs, wo die Arbeit an der Verfassung des Reiches mehr als die an der des Landes auf Aufmerksamkeit stieß So erfüllte sich die von der Regierung mit der Publizierung des Entwurfs am 39 40

Vgl Eckhart G Franz / Manfred Köhler (Hgg ), Parlament im Kampf um die Demokratie Der Landtag des Volksstaats Hessen 1919–1933, Darmstadt 1991, 380–396 So die Begründung des Entwurfs; VVK Drucks Nr  237, 10

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8  Mai verknüpfte Hoffnung auf eine intensive Verfassungsdiskussion der Bevölkerung auch später nicht 41 Dennoch gelang es in Hessen, in Zusammenarbeit von demokratischer Arbeiterbewegung und demokratischem Bürgertum – ohne fundamentale Auseinandersetzungen – den Grundstein für die Republik zu legen Dazu trug sicherlich auch bei, dass das Großherzogtum vor dem Krieg nicht von solchen Klassenspannungen geprägt war wie andere Territorialstaaten und eine stabile konstitutionelle Tradition besaß Bei der Verabschiedung der Verfassung mahnte der Präsident der Volkskammer Bernhard Adelung, dass man zwar eine verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen habe, diese aber nun mit Leben zu erfüllen sei: „Eine Form ist geschaffen Ihr den rechten Geist und die rechte Kraft zu geben, das muss Aufgabe des Volkes und seiner Vertreter sein Das Volk ist souverän und alleiniger Träger der Staatsgewalt Möge es die Gewalt in gutem Sinne und für es segensreich gebrauchen “42 Die Republik auszubauen und zu festigen, war Auftrag der demokratischen Organe Die Verfassung wurde in drei wichtigen Punkten (neben einigen weniger bedeutungsvollen) geändert 43 1924 erhielt der Landtag das Recht und die Pflicht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen 1930 wurde die Möglichkeit der Landtagsauflösung durch Zweidrittelmehrheit im Landtag eingeführt Gleichzeitig dehnte das Parlament die Legislaturperiode von drei auf vier Jahre aus, und zwar bereits für die laufende, um so den drohenden Einzug der aufstrebenden NSDAP in den Landtag zu vermeiden Verhindern konnte man ihn schließlich nicht Man verschaffte sich lediglich eine „Galgenfrist“ von einem Jahr 44 Denn bei den Landtagswahlen im November 1931 erhielt die NSDAP 37,1 Prozent Bis dahin hatte sich Hessen unter seinen beiden einzigen Staatspräsidenten Carl Ulrich und (ab 1928) Bernhard Adelung, beide SPD, zu einer demokratischen Bastion entwickelt, die konsequent gegen antirepublikanische Auswüchse vorging Markantes Beispiel war die Aufdeckung der Boxheimer Dokumente, einer wirren nationalsozialistischen Notstandsplanung aus der Feder von Werner Best, die vom hessischen Innenminister Wilhelm Leuschner gemeinsam mit seinem preußischen Kollegen zur Diskreditierung der Hitler-Bewegung ausgenutzt wurde 45

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VVK Drucks Nr  237, 9 VVK Prot , 1057 Franz/Köhler (Hgg ), Parlament, 34–35 Wortlaut der Änderungen in: Weimarer Verfassungen, 264–267 Franz, Volksstaat Hessen, 912 Martin Loiperdinger, „Das Blutnest vom Boxheimer Hof “ Die antifaschistische Agitation der SPD in der hessischen Hochverratsaffäre, in: Eike Hennig u a (Hgg ), Hessen unterm Hakenkreuz Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, 2  Aufl Frankfurt a M 1984, 433–468; Ulrich Herbert, Best Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, 3  Aufl Bonn 1996, 112–119

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Zum aktiven Verfassungsschutz kamen vereinzelte Versuche einer symbolpolitischen republikanischen Traditionsbildung Besonders gefeiert haben die Hessen ihre eigene Verfassung jedoch nicht, auch wenn – wie im Reich die Reichsverfassung durch die Reichszentrale für Heimatdienst – die hessische durch deren Landesabteilung flächendeckend zur Verteilung kam, auch in den Schulen 46 Der geringe Nachhall der hessischen Verfassungsschöpfung zeigt sich auch daran, dass sie selbst in den Memoiren Ulrichs und in denen seines Nachfolgers, des seinerzeitigen Präsidenten der Volkskammer Adelung, nahezu verschwiegen wird 47 Demgegenüber feierten die Hessen jedes Jahr die Reichsverfassung Ab deren 10 Jahrestag 1929 wurde der 11 August sogar als ein gesetzlicher Feiertag begangen Das hatte das Parlament im Juni beschlossen Die Abschaffung des Verfassungstages als Feiertag im Juli 1932 aufgrund einer Initiative der NSDAP war symptomatisch für die nunmehr auch in Hessen bedrängte Republik 48 Auch der Volksstaat geriet in eine Schockstarre Der Landtag war mit den Novemberwahlen 1931 weitgehend lahmgelegt, weil nun eine zur Gestaltung unfähige Negativmehrheit der antirepublikanischen Parteien von NSDAP (27 Mandate) und KPD (10 Mandate) dominierte So blieb auch das Kabinett von Staatspräsident Adelung weiter geschäftsführend im Amt In dem weitgehend handlungsunfähigen Parlament forderte nach Hitlers Übernahme der Kanzlerschaft die NSDAP die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen 49 Ihr Antrag verfehlte jedoch am 6 Februar deutlich die erforderliche Zweidrittelmehrheit, wie sie der per Gesetz vom März 1930 geänderte Artikel 24 der Landesverfassung vorschrieb 50 Nach den Reichstagswahlen vom 5 März 1933 holte die im Reich am Ruder befindliche NSDAP zum Stoß gegen die sozialdemokratische Regierung in Darmstadt aus: Am 13 März wählte der Landtag den Nationalsozialisten Ferdinand Werner zum Staatspräsidenten Für ihn stimmten neben der NSDAP und den rechtsbürgerlichen Vertretern auch die Zentrumsabgeordneten Die Republik, die in Hessen mit der Verfassung im Dezember 1919 staatsrechtlich verankert worden war, wurde zertrümmert; die Demokraten wurden verfolgt, verhaftet, außer Landes getrieben oder ermordet Die hessische Verfassung konnte den Untergang der Republik nicht verhindern Ihre

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Die hessische Verfassung vom 12 Dezember 1919 Nach der amtlichen Handausgabe von 1921, hg von der Landesabteilung Hessen der Reichszentrale für Heimatdienst, Frankfurt a M 1921; Vorbild war: Die deutsche Reichsverfassung vom 11 August 1919 Textausgabe und Register mit einem Vorwort von Reichsminister a D Prof Dr Hugo Preuß, hg von der Reichszentrale für Heimatdienst, Berlin 1919 Ulrich, Erinnerungen; Bernhard Adelung, Sein und Werden Vom Buchdrucker in Bremen zum Staatspräsidenten in Hessen Bearb von Karl Friedrich, Offenbach 1952 Franz/Köhler (Hgg ), Parlament, 412–427 Ebd , 63 Franz/Murk (Hgg ), Verfassungen, 393 (dort Anm  7); Gesetz vom 28 März in: Hessisches Regierungsblatt Nr  6 vom 24 April 1930, 49 f

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Strahlkraft blieb begrenzt Als die Hessen 1946 an die Schöpfung einer neuen Verfassung gingen – diesmal für das aus hessen-nassauischen und volksstaatlichen Gebietsteilen neu gebildete „Groß-Hessen“ –, spielte die hessen-darmstädtische als Vorbild kaum eine Rolle Walter Mühlhausen (* 1956), Historiker, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte (Heidelberg), apl Professor an der TU Darmstadt; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Arbeiterbewegung (insbes Persönlichkeiten), der Weimarer Republik und des Landes Hessen

„Old-Meklenborg for ever“?1 Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz Martin Buchsteiner Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 129–143

Abstract: Hardly any other constitution of the German Empire was as popular in the so-called long 19th century as that of the Mecklenburg (grand-)duchies The constitution owed its popularity not so much to its age, but to its polarizing effect It brought Mecklenburg-Schwerin and Mecklenburg-Strelitz the reputation – with its positive and negative connotations – of being “half a century back” With a view to the changes, that the constitutions of the German and European neighboring states underwent, this assessment is without question correct For more than 700 years, the Mecklenburg Corporate state withstood attempts at its elimination that were motivated by different aims and used different means The cause of this development, however, lies not manly, but to a large extent in the importance that other states, especially Prussia, attached to the Mecklenburg constitution in the interests of their own restorative efforts Interpreting the development of the Mecklenburg constitution up to its abolition in 1918/19 as the result of domestic political decisions of the neighboring states does not do justice to the influence of the Mecklenburg reformers and furthermore ignores the – so far neglected – development of local self-government, that can be read as a compensation and as a corrective for reform efforts at state level

Kaum eine Verfassung des Deutschen Reiches war im sogenannten langen 19  Jahrhundert2 so populär wie die der mecklenburgischen (Groß-)Herzogtümer Die Bekanntheit verdankte die landständische Verfassung nicht so sehr ihrem Alter, sondern ihrer

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Neue Lieder von Hoffmann von Fallersleben, in: Mecklenburgisches Volksbuch für das Jahr 1846 Vgl Eric Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, 3 Bde , Frankfurt 1989, Bd  1, 15–18

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polarisierenden Wirkung. Den einen galt sie als „Erb-Weisheit ohne gleichen“,3 den anderen als zutiefst reaktionär.4 Gleichermaßen brachte sie Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz den sowohl positiv als auch negativ konnotierten Ruf ein, sie seien „ein halbes Jahrhundert zurück“.5 Diese Einschätzung trifft mit Blick auf den Wandel, den die Verfassungen der deutschen und europäischen Nachbarstaaten durchliefen, ohne Frage zu. Über 700 Jahre widerstand der mecklenburgische Ständestaat unterschiedlich motivierten und unterschiedliche Mittel nutzenden Versuchen seiner Beseitigung und war damit nie zeitgemäß, sondern stets  – ob nun im Sinne von reaktionär oder innovativ verstanden – anachronistisch. Die Ursache dieser Entwicklung liegt jedoch nicht in der Anpassungsfähigkeit der seit dem 16. Jahrhundert und letztmalig im Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755 fixierten Regelungen zwischen den Ständen und den Landesherren,6 sondern zu einem großen Teil in der Bedeutung, die andere Staaten, insbesondere Preußen, der mecklenburgischen Verfassung im Interesse ihrer eigenen restaurativen Bestrebungen beimaßen.7 Die Entwicklung der mecklenburgischen Verfassung bis hin zu ihrer Beseitigung 1918/19 als Ergebnis innenpolitischer Entscheidungen der Nachbarstaaten zu deuten, wird freilich dem – gern herausgestellten – Einfluss der mecklenburgischen Reformer/-innen nicht gerecht und ignoriert darüber hinaus die – bislang wenig beachtete – Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung, die sich als Kompensation und Korrektiv der Reformbemühungen auf Landesebene lesen lässt. „… ein wunderliches, aus Altem und Neuem gemischtes Gebilde“8 Bis zur Einführung der repräsentativen Demokratie war Mecklenburg im Grunde „kein Staat, sondern ein Nebeneinander ständischer Gebilde“.9 Staatsrechtliche Befugnisse leiteten sich aus dem Eigentum an Grund und Boden ab.10 Als vollwertige 3 4 5 6 7 8 9 10

Eröffnungsrede Sr. Maj. des Königs an den auf den 11. April zum ersten Male zusammenberufenen Vereinigten Landtag, in: Friedrich Wilhelms IV. Königs von Preußen Reden, Proclamationen, Botschaften, Erlasse und Ordres seit seiner Thronbesteigung, Berlin 1861, 25–34, hier 27. Vgl. u. a. Otto Büsing, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1903/05, 17 Bde., Berlin 1904/05, Bd. 5, 126. Sitzung, 24.1.1905, 4000. Für einen der ersten Belege vgl. Kurze Nachricht von dem Zustande der Schulen in Mecklenburg, 1788, in: Monatsschrift von und für Mecklenburg 2/1789, H. 1, 13–22, hier 13. Vgl. Matthias Manke / Ernst Münch (Hgg.), Verfassung und Lebenswirklichkeit. Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, Lübeck 2006. Vgl. Beitrag von René Wiese, Mecklenburgs Weg in Preußens Bund 1840–1867, in diesem Band S. 361–378. Max Wenzel, Mecklenburg, in: Fritz Stier-Somlo (Hg.), Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Berlin 1926, 22–29, hier 23. Mecklenburgische Zeitung, 28.3.1919. Vgl. Erich Schlesinger, Staats- und Verwaltungsrecht des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, Schwerin 1908, 29–30. Auf die „Verwechslung und Vermischung der Begriffe Staatsgewalt und

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Grundherren galten die beiden Landesherren, die in der Ritterschaft zusammengeschlossenen Besitzer/-innen der ca 1000 landtagsfähigen Güter11 und die Obrigkeiten der 49 mecklenburgischen Städte,12 die in ihrer Gesamtheit als Landschaft bezeichnet wurden In den jeweiligen Territorien, dem als Domanium bezeichneten landesherrlichen Besitz, der Ritter- und der Landschaft entwickelten sich eigenständige kommunale Verwaltungsstrukturen In der Landschaft besaß ein Teil der männlichen Bevölkerung das Recht, die jeweilige städtische Obrigkeit und damit die Vertretung auf dem ständischen Landtag zu wählen Dies galt jedoch nicht für alle Städte gleichermaßen, da deren Verfassungen hinsichtlich des landesherrlichen Einflusses, der Be- und Zusammensetzung der Stadtvertretungen sowie deren Rechte variierten 13 Einheitlichkeit herrschte auch nicht im Gebiet der Landesherren Mit dem Hamburger Vergleich, der 1701 den dynastischen Streit beendete, entwickelten sich nicht nur zwei eigenständige Staaten, sondern wurden insbesondere in Bezug auf die sozialen und politischen Verhältnisse in den Dörfern eigene Akzente gesetzt In Mecklenburg-Schwerin übertrug 1865/69 eine Gemeinde-Ordnung den Land besitzenden Einwohnern der Domanialdörfer das Recht, eine Dorfversammlung zu wählen und Aufgaben der Selbstverwaltung wahrzunehmen Auf den domanialen Pachthöfen oblag die Verwaltung einzig dem Besitzer bzw der Besitzerin Die kommunale Aufsicht führten jeweils die landesherrlich besetzten Domanialämter In der Ritterschaft fehlte – mit Ausnahme von sieben Ortschaften –14 eine Gemeindeorganisation und damit für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung die Möglichkeit der Partizipation Eine freie Selbstverwaltung bestand allerdings

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Eigentum“ hinweisend heißt es dort, die ständische Verfassung betrachte das „öffentliche Recht […] wie ein Privatrecht […], dessen Übung oder Nichtübung dem Berechtigten freisteht und dessen Veräußerung erlaubt ist “ Vgl Traugott Mueller, Handbuch des Grundbesitzes – Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, Rostock 1888, 187 Auf die Unterscheidung zwischen Allodial- und Lehngütern wird verzichtet Auf sieben Rittergütern, die im Eigentum von Bauernschaften standen, oblagen die staatsrechtlichen Befugnisse einer gewählten Obrigkeit und nicht der/dem Besitzer/-in Vgl Fritz Brinker, Die Entstehung der „ritterschaftlichen Bauernschaften“ in Mecklenburg, Diss , Ms Rostock 1940 Bei Frauen, die ein Rittergut übernahmen, ruhte das Recht, am Landtag teilzunehmen, andere obrigkeitliche Rechte indes wurden durch sie wahrgenommen Vgl Antje Strahl, Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin im Ersten Weltkrieg Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft, Köln 2015, 27–28 Zur Gliederung der Städte vgl Martin Buchsteiner, Rostock und seine „Nachbarn“ in Ständestaat und parlamentarischer Demokratie Kontinuität und Wandel einer verfassungsrechtlichen Sonderstellung, in: Matthias Manke (Hg ), Rostock und seine Nachbarn in der Geschichte, Lübeck 2018, 71–93, hier 73 In zehn Städten erfolgte eine freie Wahl der Bürgermeister und Magistratsmitglieder Vgl Friedrich Hacker, Stadtverfassung und Bürgerrecht Tabellarische Übersicht über die Stadtverfassungen mecklenburgischer Städte, Flecken und Ortsgemeinden, in: Mecklenburgische Bürgerzeitung, 1 5 1910 Zu den landesherrlichen Versuchen, eine allgemeine Städteordnung einzuführen, vgl Martin Buchsteiner, Von Städten, Gütern und Dörfern Kommunale Strukturen in MecklenburgSchwerin 1918–1945, Köln 2012, 69–70 Vgl Anm  11

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auch auf den Gütern nicht Die Eigentümer/-innen waren aus ihrer Mitte heraus gebildeten ritterschaftlichen Ämtern und seit 1821 zusätzlich ritterschaftlichen Polizeiämtern und Gerichtsverbänden für Zivil- und Kriminalsachen zugeordnet Im Zuge der Reichseinigung wurde Mecklenburg zur Errichtung zusätzlicher Institutionen und Behörden verpflichtet Erwähnt seien die Amtsgerichte, die Aushebungskommissionen des Militärs, einzelne Medizinalbehörden und nicht zuletzt die Wahlkommissionen für die Reichstagswahl Da sich diese Institutionen und Behörden bzw ihre Aufgaben nicht einzelnen Ständen zu- und damit auch nicht in die bestehende territoriale Verwaltungsgliederung einordnen ließen, entstand „ein immer komplizierter und undurchsichtiger werdender Verwaltungsaufbau“, der dadurch, dass auch „bei der Zusammensetzung der Mittelbehörden […] das ständische Prinzip wieder zur Anwendung“ kam, noch „verworrene[r]“ und „insgesamt wahrscheinlich auch kostenaufwendige[r]“ wurde 15 (K)eine Verfassung setzt sich durch Während die Partizipationsmöglichkeiten im kommunalen Bereich erheblich variierten und von absoluter politischer Rechtlosigkeit der Landlosen in Domanium und Ritterschaft bis zum aktiven und passiven Wahlrecht einzelner Bevölkerungskreise in den domanialen und städtischen Gemeinden reichte, blieb auf Landesebene dem Gros der Mecklenburger/-innen jegliche politische Mitsprache verweigert Das Recht, am Landtag teilzunehmen, besaßen die Eigentümer der Rittergüter,16 die Obrigkeiten der Städte und die – im Unterschied zu den Ständen nicht stimmberechtigen – Landesherren 17 „Alle Landtagsmitglieder waren also kraft ihres Besitzes oder Amtes tätig, niemand [von ihnen] war von der Bevölkerung gewählt “18

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Heinz Koch, Funktion und Entwicklung des bürgerlichen Parlamentarismus in Mecklenburg-Schwerin 1917–1923, 2 Bde , Diss B, Ms Rostock 1986, hier Bd  1, 22–24 Da sich häufig mehrere Rittergüter in einer Hand befanden, entsprach die Zahl der landtagsfähigen Güter nie der Zahl der Landtagsberechtigten Um 1900 lag diese bei ca 600 Eine Untersuchung, die nach den Besitzverhältnissen und ihrer Auswirkung auf die Zusammensetzung des Landtages fragt, steht noch aus Für einen ersten Ansatz vgl Martin Buchsteiner / Gerhard Heitz, Personale Strukturen im Ständestaat Überlegungen zu einer Datenbank der Deputierten von Ritter- und Landschaft, in: Mario Niemann u a (Hg ), Von Drittfrauen und Ehebrüchen, uniformierten Fürsten und Pferdeeinberufungen, Hamburg 2014, 301–315 Zur Struktur des ständischen Landtages vgl Michael Busch, Machtstreben – Standesbewusstsein – Streitlust Landesherrschaft und Stände in Mecklenburg von 1755 bis 1806, Köln 2013, 51–127 Hermann Brandt, Das Staatsgrundgesetz für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin 10  Oktober 1849 im Lichte der mecklenburgischen Verfassungsbemühungen des 19   Jahrhunderts, in: Stiftung Mecklenburg und das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Hg ), Modernisierung und Freiheit Beiträge zur Demokratiegeschichte in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1995, 497–521, hier 497

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Im Zuge der Revolution von 1848 forderten in vielen Orten Mecklenburgs Volksversammlungen und Reformvereine eine Änderung der kommunalen Verfassungen und die Einführung einer Volksvertretung Unterstützung erhielten sie von 159 Rittergutsbesitzern, die erklärten, auf ihre politischen Sonderrechte verzichten zu wollen und vom Schweriner Großherzog Friedrich Franz II , der dem außerordentlichen Landtag im April 1848 die Auflösung des ständischen Gremiums und die Durchführung von freien, geheimen und gleichen Wahlen im ganzen Land vorschlug Am 31 Oktober 1848 traten in Schwerin 103 gewählte Abgeordnete, darunter Gutsbesitzer, Handwerker, Beamte und Tagelöhner, als verfassunggebender Landtag zusammen Im Frühjahr 1849 legte der vom Parlament gebildete Ausschuss dem Plenum und den Landesherren einen Verfassungsentwurf vor Während der Schweriner Großherzog verhandelte, verfügte der Strelitzer Großherzog für seinen Landesteil die Auflösung des gewählten Landtages Das Parlament beschloss daraufhin die Aufhebung der Union der Länder Wenige Tage später unterzeichnete Friedrich Franz II das ausgehandelte Staatsgrundgesetz Mecklenburg-Schwerin war damit zu einer konstitutionellen Monarchie geworden, die – anders als etwa in Baden, Bayern, Hessen, Württemberg oder England – als Einkammersystem konzipiert war und allen männlichen Staatsbürgern ab 25 Jahren das aktive Wahlrecht zugestand Das Staatsgrundgesetz garantierte dem Einzelnen Grundrechte, bekannte sich zur Zivilehe und forderte den Aufbau einer flächendeckenden kommunalen Selbstverwaltung, die der Bevölkerung auch eine Beteiligung bei der Besetzung der mittleren Ebene der Landesverwaltung garantieren sollte 19 Neben diesen innovativen Elementen findet sich eine Bewahrung des ständischen Prinzips: Von den 60 Abgeordneten des Parlaments sollten nur 40 aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, acht waren seitens des ländlichen Grundbesitzes, also sowohl des Domaniums als auch der Ritterschaft, und zwölf durch städtische Kaufleute und Gewerbetreibende zu wählen Nur zehn Tage nach Veröffentlichung des Staatsgrundgesetzes reichte der Strelitzer Großherzog wegen Verletzung der landständischen Union Klage beim Erfurter Schiedsgericht des Drei-Königs-Bündnisses ein Grundlage dafür bildete die Patentverordnung vom 28 November 1817, die bei Verfassungsstreitigkeiten zwischen dem mecklenburgischen Landtag und den Landesherren das Urteil einer Kompromissinstanz forderte Das 1815 begründete mecklenburgische Oberappellationsgericht hatte es – wie auch in den folgenden Jahren – allerdings abgelehnt, als Verfassungsgericht zu fungieren und den Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich auszulegen Fast parallel zu den Sitzungen des Gerichts tagte in Schwerin der erste nach dem neuen Staatsgrundgesetz gewählte Landtag Es sollte der einzige bleiben Am 11 September 1850 verfügte das Schiedsgericht in Freienwalde an der Oder die Wiederherstellung

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Vgl Staatsgrundgesetz für Mecklenburg-Schwerin vom 10 October 1849 Von der Centralcommitte der Mecklenburgischen Reformvereine vertheilt, Rostock 1849 Berichte des Verfassungsausschusses und des Gemeindeordnung-Ausschusses der Mecklenburgischen Abgeordnetenkammer 1848/49, Schwerin 1849

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der ständischen Verfassung in Mecklenburg 20 Nachdem Anfang des 18  Jahrhunderts eine Reichsexekution die Durchsetzung des Absolutismus verhindert hatte,21 war es nun Mitte des 19  Jahrhunderts erneut eine Entscheidung auf Reichsebene, die eine Verfassungsänderung verhinderte Die Mehrheit der Abgeordneten trat kurz nach dem Schiedsspruch noch einmal in Schwerin zusammen Da der Landtag jedoch – nach einer dreimonatigen Vertagung im April – bereits im Juli aufgelöst und die für Ende August angekündigten Neuwahlen mit Blick auf das bevorstehende Urteil abgesagt worden waren, hatte die Versammlung nur eine und dazu auch noch sehr geringe symbolische Bedeutung Versuche des Schweriner Großherzogs, mit den Ständen zu verhandeln, scheiterten im Herbst 1851 In den folgenden Monaten und Jahren durchzog Mecklenburg eine Welle von Strafprozessen, die sich gegen jegliche Kritik am Ständestaat richteten und wie im Falle des Rostocker Hochverratsprozesses mit mehrjährigen Haftstrafen für eine Reihe ehemaliger Abgeordneter des 1848er Parlaments endete Die in Mecklenburg erscheinenden Zeitungen „verkümmerten mit Ausnahme des regierungsnahen ‚Norddeutschen Korrespondenten‘ zu farblosen Annoncenblättern“ 22 Gleichzeitig gewährte die großherzogliche Regierung mit der Einführung der „Gemeinde-Ordnung“ am 31   Juli 1865 erstmalig einem Teil der Bevölkerung politische Mitspracherechte Dass im Vorfeld die Zusammenlegung einzelner Domanialdörfer mit benachbarten Pachthöfen zu einem Gemeindebezirk erfolgte, verweist auf den Wunsch, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit der Partizipation zu gewähren Als Organe der kommunalen Verwaltung wurden 1865 der Gemeindevorstand und die Dorfversammlung eingeführt Den Vorsitz des Gemeindevorstands, der landesherrlich bestätigt werden musste, übernahm der Schulze, dem zwei Gemeindeangehörige der vorhandenen „Haupt-Classen des Grundbesitzes“ als Schöffen beigeordnet wurden 23 Eine Beschränkung auf den Grundbesitz erfolgte auch in Bezug auf die Dorfversammlung, der neben den Mitgliedern des Gemeindevorstands die Eigentümer der Zeit- bzw Erbpachthöfe sowie Delegierte der Büdner und Häusler angehörten Im Gremium vertreten waren darüber hinaus die ortsansässigen Geistlichen, die landesherrlichen Forstbeamten und die Schullehrer Ausdrücklich von der politischen Partizipation ausgeschlossen wurden alle, die, wie etwa Tagelöhner, über kein eigenes Heim verfügten 24 Die Kommunalverfassung griff damit auf das zentrale Prinzip des mecklenburgischen Ständestaates, politische Partizipationsrechte zu gewähren, 20 21 22 23 24

Vgl Brandt, Staatsgrundgesetz, 508–511 Vgl Peter Wick, Versuche zur Errichtung des Absolutismus in Mecklenburg, Berlin 1964 Anke John, Land der Erbweisheit Mecklenburg zwischen zwei Revolutionen 1848–1918, Schwerin 1997, 8 Schröder, Franz Wilhelm Ferdinand, Betrachtungen über die Mecklenburg-Schwerinsche Gemeindeordnung für Domanial-Ortschaften vom 31 Julius 1865, Rostock 1866, IX–XX Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 113–115 Ausgeschlossen waren ferner Frauen, unter Vormundschaft stehende Personen und solche, die rechtskräftig verurteilt worden waren Ebd

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zurück, ergänzte dieses aber zugleich durch die im Staatsgrundgesetz von 1849 vorgesehene berufsständische Vertretung Fast zeitgleich mit der Einführung der kommunalen Selbstverwaltung bemühten sich die mecklenburgischen Liberalen um eine Reform der Landesverfassung Sie präsentierten allerdings keinen eigenen Entwurf, sondern versuchten in der Bundesversammlung und dann im Reichstag eine Ergänzung der Bundes- bzw Reichsverfassung durchzusetzen, mit der die Bundesstaaten verpflichtet werden sollten, eine gewählte Volksvertretung einzuführen 1871 und 1874 nahm der Reichstag die entsprechenden Anträge an und widersprach damit der Position der Bundesstaaten, die im Mai 1869 – auf Drängen der mecklenburgischen Regierungen – die ständische Landesverfassung noch einmal bestätigt hatten Der Bundesrat stimmte dementsprechend gegen die geforderte Ergänzung der Reichsverfassung Friedrich Franz II indes nutzte die Initiative und begann 1872 erneut Verhandlungen mit den Ständen Die Teilung des Landes in unterschiedliche Rechtsbezirke nicht antastend, schlug er vor, das Domanium, als einem dritten Stand, Vertreter auf den Landtag entsenden zu lassen Friedrich Franz II erweiterte damit das mit der Gemeinde-Ordnung Teilen der Domanialbevölkerung gewährte Mitspracherecht und trug gleichzeitig der Veränderung der Eigentumsverhältnisse im Domanium, die sich aus der 1867 begonnenen Vererbpachtung einzelner Höfe ergab, Rechnung 25 Eine Annährung zwischen Landesherren und Ständen erfolgte nicht 1874 und nochmals 1879 schlug Friedrich Franz II , nun wieder wie 1848 ein allgemeines Wahlrecht im Blick und zugleich an der 1872 gegebenen Garantie der ständischen Einteilung des Landes festhaltend, vor, die Bevölkerung einen Teil der Landtagsmitglieder der Ritterschaft, der Landschaft und des Domaniums wählen zu lassen 26 Ganz in der Tradition der Zusammensetzung des Engeren Ausschusses, der dem ständischen Landtag präsidierte, sollten ferner herausgehobene Mitglieder der Ritterschaft und der Landschaft sowie, ebenfalls an den ständischen Landtag anknüpfend, Vertreter der Landesherren dem Parlament angehören Mit dem Tod des Schweriner Großherzogs 1883 endeten die schleppenden Verhandlungen endgültig Wie sicher sich die Stände in Bezug auf ihren Einfluss und ihre Bedeutung waren, zeigte zehn Jahre später eindrucksvoll die Eröffnung des imposanten Verwaltungsgebäudes der Stände in Rostock, dessen Bau die Landesherren mitfinanziert hatten Der liberale Reichstagsabgeordnete Hermann Pachnicke kritisierte 1905 – nicht ohne Ironie –, „das höchste Recht hängt in Mecklenburg am Rittergut, es kann mit ihm erworben und veräußert werden Wer sonst eine Wahlstimme kauft, verfällt der Strafe, hier aber ist der Kauf einer Wahlstimme, eines

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Vgl ebd , 17 Für die einzelnen Verhandlungen vgl Anke John: Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten im Spannungsfeld von Landesgrundgesetzlichem Erbvergleich und Bundes- bzw Reichsverfassung vom Norddeutschen Bund bis zur Weimarer Republik, Rostock 1997, 160–201

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Sitzes im Landtag von Rechts wegen erlaubt“ 27 Industrielle, Bankiers und Kaufleute, insbesondere aus Hamburg, erkannten die sich damit bietenden Möglichkeiten und erwarben Güter in Mecklenburg 28 Während sich zu Beginn und Mitte des 19   Jahrhunderts viele der neuen, bürgerlichen Eigentümer für Mitspracherechte engagierten, die bis dato nur adeligen Eigentümern zugestanden worden waren und darüber hinaus wirtschaftliche und auch soziale Reformen einleiteten, standen sie Ende des 19 und zu Beginn des 20  Jahrhunderts „nahezu geschlossen hinter der adeligen Führungselite“ 29 In der Bevölkerung indes wuchs – das legen die Ergebnisse der Reichstagswahlen nahe – der Einfluss der Liberalen und der Sozialdemokraten Ihnen fehlte jedoch eine Strategie die mecklenburgische Verfassung zu ändern; die Sozialdemokratie beschränkte sich auf plakative Kritik und die Liberalen wiederholten erfolglos und nur noch nach außen Einigkeit demonstrierend ihre Gesetzesinitiative auf Ergänzung der Reichsverfassung Einen tatsächlichen Druck übte indes der in Mecklenburg-Schwerin drohende Staatsbankrott aus Während der Schweriner Großherzog die Stände immer wieder bitten musste, Gelder zu bewilligen, verlangten diese mit Verweis auf den Strelitzer Großherzog, der durch rigide Sparmaßnahmen Überschüsse generierte, die aber in Börsengeschäfte zugunsten der großherzoglichen Familie investierte,30 eine Senkung der Steuern Für Mecklenburg-Schwerin wurde die Abschaffung des freien Steuerbewilligungsrechts der Stände zu einer existenziellen Frage 31 Die geplante Einführung eines Budgetrechts indes machte, wollten sich die Landesherren nicht in eine noch größere Abhängigkeit von den Ständen begeben, wenigstens eine Ergänzung der auf dem Landtag vertretenen Gruppen und damit eine Verfassungsänderung notwendig Anfang des 20   Jahrhunderts standen mit Friedrich Franz IV und Adolf Friedrich IV den Ständen erstmals (wieder) zwei Landesherren gegenüber, die sich in der Abschaffung der ständischen Institutionen einig waren Günstig erschien die Situation zudem dadurch, dass sich neben der sozialdemokratischen und liberalen nun auch die 27 28

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Hermann Pachnicke, in: Stenographische Berichte, Bd  5, 126 Sitzung, 24 1 1905, 4016 Vgl Mario Niemann, Land und Leute Zum Gutserwerb in Mecklenburg durch Hamburger Industrielle, Bankiers und Kaufleute vom 18 bis zum 20  Jahrhundert, in: Ernst Münch u a (Hg ), Land – Stadt – Universität Historische Lebensräume von Ständen, Schichten und Personen, Hamburg 2010, 251–316 John, Land der Erbweisheit, 15 John, Entwicklung, 210–215 Ablesbar ist dieser Wandel auch an der Mecklenburgischen Landwirtschaftsgesellschaft, die sich vom elitären Agrarier-Klub über eine liberale Denkfabrik zum Lobbyverband protektionistisch ausgerichteter Agrarier entwickelte Vgl Martin Buchsteiner, Mittel der „Heilung“, „Uebel“ oder „nationale Tat“? Die Amerika-Auswanderung in den Diskussionen des Mecklenburgischen Patriotischen Vereins 1850–1934, in: Matthias Manke (Hg ), Kapitäne, Konsuln, Kolonisten Beziehungen zwischen Mecklenburg und Übersee, Lübeck 2015, 255–294 Vgl Karl August Endler, Geschichte des Landes Mecklenburg-Strelitz, Hamburg 1935, 89–90, 96–97 Vgl Rudolf Tiedemann, Beitrag zu der Frage, ob in Mecklenburg das freie ständische Steuerbewilligungsrecht eine Schranke findet in der Pflicht, dem Landesherrn für unbedingt notwendige, aber auf andere Weise nicht zu bestreitende Staatsaufgaben die erforderlichen Mittel nicht zu versagen, in: Mecklenburgische Zeitschrift für Rechtspflege und Rechtswissenschaft 30/1910, H  1, 57–86

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konservative Partei, das Credo „konservative politische Überzeugung und ständische Gesinnung sind zwei unvereinbare Gegensätze“ entwickelnd,32 für eine Verfassungsreform einsetzten Der 1908 den Ständen vorgelegte Entwurf sah, wie 1872, die Ergänzung des Landtages um einen dritten Stand vor, der diesmal jedoch nicht nur die Bevölkerung des Domaniums, sondern aller Landesteile umfassen sollte Allerdings war kein allgemeines Wahlrecht vorgesehen, sondern orientierte sich die Vorlage am Dreiklassenwahlrecht Preußens Gewählt werden sollten, wie schon 1874 und 1879 vorgeschlagen, auch die Vertreter der Ritter- und Landschaft, allerdings nicht mehr durch die Bevölkerung, sondern innerhalb der Kooperationen Modifiziert wurde ferner die damals vorgeschlagene Delegierung einzelner Personen Statt Angehöriger der Stände und Vertreter der Landesherren sollten nun – wie in der Gemeinde-Ordnung von 1865 vorgesehen – Berufsgruppen auf dem Landtag repräsentiert sein Für die mecklenburgischen Verhältnisse war die Verfassungsvorlage, die wie die vorangegangenen einen Bruch mit dem Grundsatz, politische Mitbestimmung aus dem vollwertigen Eigentum an Grund und Boden abzuleiten bedeutete, revolutionär Tatsächlich jedoch stand sie „weit hinter den Forderungen ihrer Gegenwart“ zurück33 und provozierte nicht nur zahlreiche kritische Zeitungsartikel und Denkschriften, sondern löste auch eine umfassende Petitionsbewegung aus Anders als 1871, als die liberalen Reichstagsabgeordneten im Domanium ca 2 300 Unterschriften zur Unterstützung ihrer Gesetzesinitiative sammelten,34 unterzeichneten nun knapp 39 000 Personen, darunter angesehene Vertreter der Ritterschaft und des Bürgertums, die direkt an die Landesherren gerichtete Initiative Die Großherzöge reagierten mit Drohungen gegen die Stände, die von der Oktroyierung einer Verfassung über eine Reichsintervention bis zur Auflösung der landständischen Union reichten Parallel dazu brachten die Liberalen erneut ihren Antrag auf eine Ergänzung der Reichsverfassung ein Eine Zustimmung des Bundesrates war allerdings ausgeschlossen; Preußen lehnte – mit Blick auf eine stärker werdende Kritik an der eigenen Verfassung – ein Eingreifen des Reiches kategorisch ab 35 Mit dem spektakulären Wahlerfolg der SPD 1912 begann das Ende der Verfassungsverhandlungen Vertreter der Ritterschaft schürten Ängste und forderten die Vorlage eines neuen 32 33 34

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Adolf Steinmann, Konservativ oder ständisch? Ein offenes Wort zur mecklenburgischen Verfassungsfrage, Wismar 1911, 15 Manfred Botzenhart, Staatsbankrott oder Verfassungsoktroi? Das Dilemma der Großherzogtümer Mecklenburg am Ende des Deutschen Kaiserreiches, in: Jürgen Kocka u a (Hg ), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat, München 1994, 375–390, hier 385 Vgl Wolf Karge, Mecklenburg zwischen liberalen Verfassungsbemühungen und ritterschaftlichem Beharren Ansätze zu einer Verfassungsreform in den Großherzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im letzten Drittel des 19  Jahrhunderts, in: Stiftung Mecklenburg und das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Hg ), Modernisierung, 708–721, hier 709 Vgl Suzanne Nicholas, Parlamentarische Repräsentanz oder Ständevertretung? Der Verfassungskampf in Mecklenburg 1908–1918, in: Stiftung Mecklenburg und das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern (Hg ), Modernisierung, 722–743, hier 728–735

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Verfassungsentwurfes Nachdem im Frühjahr 1913 der Bundesrat beschlossen hatte, einer Initiative des Reiches, selbst wenn die mecklenburgischen Staaten es wünschten, nicht zuzustimmen, blieb den Landesherren nur noch die Oktroyierung, die von Mecklenburg-Strelitz beschworen, von den Ständen jedoch schon bald als Mimikry erkannt wurde Parallel zu den Verhandlungen gelang es der Regierung von Mecklenburg-Schwerin die Einführung einer kommunalen Selbstverwaltung in den Gebieten der ehemaligen Klöster, die der gemeinsamen Kontrolle der Stände und Landesherren unterstanden, durchzusetzen Die 1912 erlassene Ordnung entsprach fast wörtlich derjenigen, die seit 1865/69 im Domanium galt 36 Vier Jahre später, 1916, legte Friedrich Franz IV dem Landtag erneut eine Kommunalverfassung vor, die – mit Ausnahme des Domaniums – für das gesamte platte Land gelten sollte Der Entwurf verlangte, wie 1865, zunächst die Schaffung von Gemeindebezirken und fokussierte dabei eine Auflösung der ritterschaftlichen Güterkomplexe Dort, wo fünf oder mehr Besitzstellen vorhanden waren, sollten diese eine selbstständige Dorfgemeinde bilden Wie sehr es um eine politische Entmachtung der Ritterschaft ging, zeigt auch die geplante Zusammensetzung der unteren Aufsichtsbehörden, die in der Ritterschaft jeweils aus einem Regierungsvertreter und zwei landesherrlich bestätigten Gutsbesitzern bestehen sollten Die Ritterschaft widersprach und schob damit dem Versuch des Schweriner Großherzogs, den 1914 durch das Reich begonnenen Umbau der Friedens- zur staatlich organisierten Kriegswirtschaft für den Aufbau einer einheitlichen Landesverwaltung zu nutzen, einen Riegel vor 37 Mitte Juni 1917 berief Friedrich Franz IV als Reaktion auf die Preußische Wahlrechtsreform und die Osterbotschaft des Kaisers Vertreter der Stände, der Wirtschaftskammern und – ebenso ein Novum – der in den Reichstag gewählten politischen Parteien des Landes zu einer dreitägigen Verfassungsversammlung nach Schwerin Auf Grundlage der Entwürfe der Vorkriegszeit sollte sie Ideen für eine neue Landtagsvorlage liefern Der Freitod des Strelitzer Großherzogs beendete im Februar 1918 die Initiative, die von Anfang an wohl mehr symbolischen Charakter gehabt hatte Da Adolf Friedrich VI unverheiratet war, drängte die Schweriner Regierung auf den Anschluss des Strelitzer Landesteils, dem Friedrich Franz IV als Landesverweser vorstand, und erklärte die Vereinigung der beiden Großherzogtümer zur Voraussetzung für die Einführung einer neuen Verfassung Konkret wurde nun von zwei gleichberechtigten Kammern gesprochen, von denen eine ständisch organisiert, die andere aus allgemeinen Wahlen mit einem abgeschwächten Mehrstimmenrecht hervorgehen sollte Am 19  Oktober 1918 protestierten die Stände beim Großherzog ein letztes Mal gegen eine Reform der Verfassung und wurden die auf die Oktroyierung einer demokratischen

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Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 116–118 Vgl ebd ; Strahl, Großherztogtum Mecklenburg-Schwerin, bes 26–38

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Verfassung drängenden mecklenburgischen Reichstagsabgeordneten vom Schweriner Staatsminister erneut auf den für den 25 November ausgeschriebenen ständischen Landtag verwiesen 38 Traditionslinien Dass die beiden Mecklenburg trotz landständischer Union und gemeinsamer Verfassung ganz eigene Entwicklungen vollzogen, dokumentiert sich auch in der Reaktion auf die Novemberrevolution In Mecklenburg-Schwerin löste sie als Prozess von unten – vor allem in der Ritterschaft – den Aufbau lokaler Organe der Selbstverwaltung aus, die sich nicht zuletzt auf Anregung der staatlichen Kreisbehörden für Volksernährung miteinander vernetzten und demokratische Wahlen zunächst in den Kommunen und dann auf Landesebene erzwangen 39 In Mecklenburg-Strelitz versuchte das vom Landesverweser eingesetzte Volksministerium die Revolution auszusperren und die Selbstständigkeit zu erlangen, die von den Strelitzer Reichstagsabgeordneten im Frühjahr und Sommer 1918 als Chance für eine Verfassungsreform jenseits der konservativen Vorstellungen der Schweriner Regierung angesehen und gefordert wurde und nun im Spätherbst 1918 ebenjenen vom großherzoglichen Landesverweser ernannten Ministern die Gewähr dafür zu bilden schien, eine Entmachtung der staatlichen Gewalt zu verhindern 40 Die Entmachtung der Stände, die erstaunliche Parallelen zu 1848 aufweist,41 und die Auflösung der landständischen Union vollzogen sich in dieser Zeit fast geräuschlos 42 Bei allen Unterschieden zwischen den Transformationsprozessen lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten finden Sowohl auf Landes- als auch auf kommunaler Ebene änderte sich die Grundlage politischer Herrschaft An die Stelle des Eigentums an Grund und Boden trat das allgemeine, gleiche und unmittelbare Wahlrecht Erstmals war 1918 – den Wahlgrundsätzen zur Nationalversammlung folgend – nun auch Frauen das politische Mitspracherecht

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Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 23–24 Vgl ebd , 342, 21–67 Bernd Kasten, Die große Meuterei Soldatenräte in Mecklenburg im November 1918 bis April 1919, in: Matthias Manke u a (Hg ), Novemberrevolution Sturz der Monarchie und demokratischer Neubeginn in Mecklenburg 1918/19, Lübeck 2019, 59–100 Vgl Martin Buchsteiner, Revolution und Staatsumwälzung in Mecklenburg-Strelitz, in: Manke (Hg ), Novemberrevolution, 137–182 Vgl Matthias Manke, Sie weichen jetzt der Gewalt Die Auflösung der mecklenburgischen Ritter- und Landschaft 1918, in: Manke (Hg ), Novemberrevolution, 101–135, bes 108–112, 132–133 René Wiese, 300 Jahre Hauptstadt Rostock als Sitz des Engeren Ausschusses der mecklenburgischen Ritter- und Landschaft, in: Manke (Hg ), Rostock und seine Nachbarn, 95–111, hier 103–105 Während der Abbau der gemeinsamen Behörden schnell und unkompliziert verlief, führte die Aufteilung der Klöster und ihres Vermögens zu einem längeren Rechtsstreit Vgl Buchsteiner, Revolution und Staatsumwälzung, 161–178

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gewährt worden 43 Die These, es habe in den Ländern „keine generelle Veränderung“ stattgefunden,44 ist daher abwegig Dass zwischen der alten und den neuen Verfassungen „eine Lücke“ klaffte, „die keine verbindende Brücke überspannt“,45 trifft jedoch ebenso wenig zu Dabei handelte es sich nicht nur um „Feudalreste“, wie etwa die Spanndienste, die sich auf kommunaler Ebene erhielten,46 oder Amtsstrukturen, die in der mittleren Verwaltungsebene längere Zeit von Bestand blieben 47 Tatsächlich lassen sich auch grundlegende Entscheidungen in der Phase des Aufbaus der mecklenburgischen Freistaaten auf Erfahrungen des 19  Jahrhunderts zurückführen Die Deutung, die Weimarer Demokratie sei in Mecklenburg „ohne eine langfristige und planvolle Umgestaltung des monarchischen Obrigkeitsstaates durchgesetzt“ worden,48 ist mit Blick auf die Spontanität einer Revolution sicher nicht ganz von der Hand zu weisen, sie unterschätzt jedoch die personelle Kontinuität in der Verwaltung und die politische Sozialisation der Akteure In Mecklenburg-Strelitz zeigt sich dies zum einem im Festhalten des Volksministeriums an der Autorität des Großherzogs 49 Der Hoffnung, wie 1848 gemeinsam eine Verfassung auszuhandeln, die Friedrich Franz IV hegte, wurde jedoch ebenso wie dem Wunsch der Strelitzer Regierung nach einer Integrationsfigur durch den Thronverzicht, der auf Druck des Schweriner Arbeiter- und Soldatenrates erfolgte, alsbald ein Ende gesetzt Kontinuitäten finden sich zum anderen auch in der – nicht nur mit Blick auf den Erhalt der Selbstständigkeit und die damit verbundene Sicherung des gerade erworbenen riesigen Vermögens der großherzoglichen Familie, sondern auch vor dem Hintergrund sich artikulierender revolutionärer Forderungen in den Nachbarstaaten – eiligst verabschiedeten Verfassung Sie trägt, wohl eher angelehnt an das Schweriner Staatsgrundgesetz von 1849 als die Tatsache eingestehend, dass eigentlich keine Verfassung, sondern vielmehr Richtlinien für eine solche verabschiedet worden waren, die Bezeichnung Landesgrundgesetz Noch deutlicher angelehnt an die meck43 44 45 46 47 48 49

Bernd Kasten: 100 Jahre Frauenwahlrecht in Mecklenburg, in: Zeitgeschichte regional 23/2019, H  1+2, 5–11 Kurt Müller, Zum Wesen und zur Funktion der militaristischen und völkischen Verbände bei der Erhaltung und Festigung der imperialistischen Macht während der revolutionären Nachkriegskrise Dargestellt am Beispiel Mecklenburg-Schwerin, Diss Rostock, Ms 1972, 12 Manfred Hamann, Das staatliche Werden Mecklenburgs, Köln 1962, 169 Jürgen Burkhardt, Bauern gegen Junker und Pastoren Feudalreste in der mecklenburgischen Landwirtschaft nach 1918, Berlin 1963 Vgl Koch, Parlamentarismus, Bd  1, 4 John, Entwicklung, 251 Neben dem Bestehen darauf, nicht vom Schweriner Volksministerium, sondern vom Großherzog eingesetzt und mit fest definierten Kompetenzen betraut worden zu sein, dokumentiert sich der Wunsch nach – wenn nicht gar das Beharren auf – monarchische/-r Zustimmung auch in der Verfassung von 1919 Dort findet sich die im Deutschen Reich einmalige Festlegung, in Ermanglung eines von der Revolution entmachteten Fürsten, den Erben des im Februar 1918 verstorbenen Strelitzer Großherzogs eine Abfindung zu zahlen Vgl Buchsteiner, Revolution und Staatsumwälzung, 145, 166

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lenburgische Verfassungstradition ist die Entscheidung für einen Ständigen Ausschuss des Landtages, der – freilich anders zusammengesetzt – wie der Engere Ausschuss des ständischen Landtages zwischen den Verhandlungen die Geschäfte führt und quasi eine Nebenregierung darstellt Bewahrt wurden auch Strelitzer Besonderheiten So wurden im Ratzeburger Landesteil bis zur Einführung einer neuen Verfassung 1923 die politischen Verhältnisse von 1869 konserviert und beschränkte sich die Einführung einer Kommunalverfassung  – wie in Mecklenburg-Schwerin Mitte des 19   Jahrhunderts – auf das Gebiet des früheren Domaniums, während in den ehemals ritterschaftlichen Territorien die Gutsbesitzer/-innen Ortsobrigkeit blieben In Mecklenburg-Schwerin engagierten sich Volksministerium und Verfassunggebender Landtag – an Erfahrungen des 19  Jahrhunderts anknüpfend – für die Einführung einer kommunalen Selbstverwaltung, deren Bestimmungen zu den progressivsten im Deutschen Reich gehörten 50 Viele der in der Städte- und Landgemeindeordnung festgeschriebenen plebiszitären Elemente finden sich in der Landesverfassung wieder Mit aufgenommen wurde auch die schwache Position der Exekutive gegenüber der Legislative In der Landesverfassung wurden die Befugnisse der Regierung allerdings nochmals reduziert, so dass von ihr beinahe als einem Hauptausschuss des Landtages gesprochen werden kann 51 Diese Entscheidung gilt als Ausweis einer besonderen Treue der mecklenburgischen Sozialdemokratie – im Vergleich etwa zur preußischen – gegenüber dem „Ideal einer selbstverantwortlichen Demokratie“ 52 Sie lässt sich aber auch als „Treue“ der mecklenburgischen Konservativen deuten Sie lehnten freilich die Demokratie ab, die starke Stellung des Landtages gegenüber der Regierung indes wurde von ihnen nie – auch nicht im Zusammenhang mit ihrem unerfüllt gebliebenen Wunsch nach einem vom Volk zu wählenden Präsidenten – kritisiert Sie entsprach zu sehr der durch den ständischen Landtag geprägten Vorstellung eines autonomen, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Parlaments Uneinigkeit indes herrschte in Bezug auf die geplante Neuordnung der territorialen Verwaltungsstruktur, die seitens des Volksministeriums ebenso wie 1865 und 1916 sei-

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Formen direkter Demokratie finden sich  – allerdings erst zwischen 1922 und 1927 eingeführt  – auch in den Kommunalverfassungen von Baden, Bayern, Oldenburg, Sachsen und Thüringen Eine Besonderheit bestand ferner in der oberen Kommunalaufsicht, die nicht, wie sonst üblich, dem Ministerium des Innern, sondern dem Landesverwaltungsrat und damit einem vorwiegend aus Landtagsabgeordneten zusammengesetzten Gremium übertragen worden war Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 355–356 Vgl ebd , 343–345 Edgar Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung des Amtshauptmannes in Mecklenburg in verwaltungs- und staatsrechtlicher Bedeutung, in: Mecklenburgische Zeitschrift für Rechtspflege, Rechtswissenschaft und Verwaltung 47/1931, H  31, 105–119, 159–175, hier 162 So auch Heinz Koch, Freie Wahlen und Verfassung Der Übergang zu einem demokratischen Staat in Mecklenburg-Schwerin, in: Manke (Hg ), Novemberrevolution, 191–201, hier 199 Fred Mrotzek, Die Verfassung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin vom 17 Mai 1920, in: Wolf D Gruner (Hg ), Jubiläumsjahre – Historische Erinnerung – Historische Forschungen, Rostock 1999, 77–95

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tens der großherzoglichen Regierung als Voraussetzung für die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung auf dem Lande angesehen wurde Das Ziel war ebenfalls identisch; durch die Bildung von Gemeinden aus unterschiedlich sozial strukturierten Ortschaften sollte der Einfluss des Großgrundbesitzes reduziert werden 53 Der „Einführung formaldemokratischer Strukturen“ folgte freilich in keinem der beiden mecklenburgischen Freistaaten automatisch eine „politische und ideologische Veränderung“ 54 In Mecklenburg-Strelitz entwickelte sich als Hypothek der Selbstständigkeitsbewegung statt eines Bewusstseins für die erste der nach der Revolution von 1918/19 verabschiedeten Verfassung des Deutschen Reiches55 ein diffuses Regionalbewusstsein Tiefe Regierungskrisen, die aus den eiligst verabschiedeten Bestimmungen der Verfassung resultierten, und die dramatische Geldentwertung, die das 1918 so wohlhabende Land bereits 1927 an den Rande des Staatsbankrotts führte, begünstigten den Aufstieg nationalistischer Parteien 56 In Mecklenburg-Schwerin sorgte die Verfassung  – trotz Minderheitsregierungen, der Abwahl einzelner Minister und vorzeitiger Beendigungen der Legislaturperiode  – für stabilere Verhältnisse Forderungen, die Grundsätze der Kommunal- und Landesverfassung zu ändern, fanden in den gewählten Landtagen keine Mehrheit Das Bekenntnis zur Landes- und Reichsverfassung verweigerten aber auch hier sowohl die linksextremen als auch die konservativen Parteien Feierstunden in den Schulen, die ab 1926 von der DDP zu etablieren versucht wurden, verschwanden nach dem Regierungswechsel Ende 1929 wieder aus der Öffentlichkeit 57 Dass sich die Verfassungsfeiern nicht etablierten, mag auch daran gelegen haben, dass es keine Tradition derartiger symbolischer Handlungen gab Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich wurde lediglich im Jahr seiner Unterzeichnung in Rostock mit einem „Danck-Fest“ begangen,58 dem Staatsgrundgesetz von 1849 blieb ein Festakt gänzlich verwehrt Gefeiert haben sich stattdessen die Stände, die ihre poli-

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Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 113–118 Koch, Parlamentarismus, Bd  1, 148 Vgl Matthias Manke, Anmerkungen zur Rezeption des Landesgrundgesetzes für MecklenburgStrelitz vom 29 Januar 1919, in: Manke (Hg ), Novemberrevolution, 183–190 Vgl Buchsteiner, Revolution und Staatsumwälzung, 182 Eine erste Verfassungsfeier erfolgte 1923 in Ausführung der Verordnung des Reichspräsidenten Vgl Regierungsblatt für Mecklenburg-Schwerin, Nr  102, 11 8 1923, 591 Für die vom Unterrichtsministerium angeordneten Feiern vgl ebd , Nr  54, 30 7 1926; Nr  40, 17 6 1927, 129; Nr  45, 26 7 1928, 308; Nr  37, 2 7 1929, 202 Eine Untersuchung, inwieweit die Feiern der Reichsverfassung – über die Beflaggung der Dienstgebäude mit der Reichs- und Landesflagge hinaus – auch eine Würdigung der Verfassung des Freistaates darstellten, steht noch aus Besondere Festakte konnten nicht ermittelt werden Kersten Krüger, Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich in seiner Zeit, in: Matthias Manke / Ernst Münch (Hgg ), Verfassung und Lebenswirklichkeit Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, Lübeck 2006, 11–22, hier 12

„Old-Meklenborg for ever“?

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tische Macht u a mit der Eröffnung ihres Verwaltungsgebäudes 1893 in Rostock auch symbolisch zu setzen verstanden 59 In den Kommunen schwand nach 1918 – so lässt sich aus der mangelnden Bereitschaft vieler Menschen, politische Verantwortung zu übernehmen, schlussfolgern  – das Vertrauen in die Gestaltungsmöglichkeiten der durch die Verfassung geschaffenen Institutionen Die Versuche der SPD, die Bevölkerung „zu gemeindebürgerlicher Betätigung“60 zu bewegen, griffen eine Aktion aus dem Jahr 1848 auf Wie damals wurden die zentralen Rechtsvorschriften in einem Band veröffentlicht und in großer Stückzahl verteilt 61 Den Rechtsschwenk der Wähler/-innen, die den konservativen und nationalistischen Parteien zwischen 1919 und 1932 einen Stimmenzuwachs von 47 Prozent bescherten,62 konnte dies nicht verhindern Ein Grund für die schwindende Akzeptanz der Verfassung scheint auch in der gescheiterten Dotierung der Kommunen mit Land, die – wieder ganz in der Tradition des 19  Jahrhunderts – den Gemeinden und damit der Selbstverwaltung die nötige Unabhängigkeit und politische Handlungsfähigkeit geben sollte, zu liegen 63 Blickt man auf die ersten Demokratien, die sich nach 1918 in den beiden Mecklenburg durchsetzten, so lässt sich mit Verweis auf die Verfassungsentwicklung in Deutschland ohne Zweifel davon sprechen, dass die beiden Länder „unter Überspringung des 19  Jahrhunderts de[n] Übergang vom Ancien Régime in die parlamentarische Demokratie zu bewältigen“ hatten 64 Aus landesgeschichtlicher Perspektive indes zeigt sich, dass das 19  Jahrhundert keineswegs übersprungen wurde sondern seinen Widerhall auch in den Verfassungen nach 1918 fand Martin Buchsteiner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Fachdidaktik des Historischen Instituts der Universität Greifswald (Domstraße 9a, 17487 Greifswald; martin buchsteiner@ uni-greifswald de)

59 60 61

62 63 64

Vgl Julis v Maltzahn, Die feierliche Eröffnung des Ständehauses, in: Der Mecklenburger, Nr  28, 7 10 1893 Mecklenburgische Zeitung, 7 6 1919 Vgl Das Buch des Mecklenburgers Ein Nachschlagewerk für alle mecklenburgischen Volksvertreter in Staat und Kommunen, Schwerin 1920 Zwischen 1920 und 1922 erschienen fünf Auflagen, die sechste folgte 1927 Insgesamt wurden ca 50 000 Exemplare gedruckt Für den „Vorläufer“ vgl Wilhelm Benque, Beiträge zur Kenntniß des platten Landes Den Volksvertretern Mecklenburgs gewidmet, Schwerin 1848 Vgl Koch, Freie Wahlen, 200 Vgl Buchsteiner, Kommunale Strukturen, 249–266, 358–359 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 2002, 143

In oldenburgischer Liberalität Zu Revolutionen und Verfassungen in Großherzogtum und Freistaat Oldenburg Joachim Kuropka † Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 145–159

Abstract: Even in times of revolution, public turmoil was rather unusual in the Grand Duchy of Oldenburg This was not only due to the cautious and considerate mentality of Oldenburg’s population but also to structural reasons Oldenburg being one of the least densely populated German territories, its inhabitants mostly lived on agriculture, the lesser part on handcraft and small trade Oldenburg did not have a constitution until 1849, mainly because of the then grand duke’s delaying tactic In the course of the revolution of 1918, grand duke Frederick August of Oldenburg abdicated A constituent assembly was established in June 1919, passing a new constitution, which largely followed the models of the constitutions of Baden and Württemberg and of the Reich Until the beginning of the 20th century, the population of Oldenburg did not show a keen interest in questions of suffrage The indirect electoral system was not abolished before 1909, and the universal, equal, and direct suffrage for all citizens – including women – was introduced as late as in 1919 Oldenburg has rightly been called a “liberal model state” with an efficient, people-oriented, and corruption-free administration, no censorship, and an apparent harmony between the state and the church However, there was a special structural feature in Oldenburg’s politics and political culture: the existence of sharp confessional boundaries between the Protestant north and the Catholic south, with 90 per cent of the respective populations belonging either to the Protestant or the Catholic Church This made the Centre Party a significant political factor with a comparably strong parliamentary group in Oldenburg In the 1920ies, the fractions in parliament blocked each other, preventing the building of a coalition between the Centre Party on the one hand and the social democrats and the left-liberals on the other hand This resulted in a unique development in 1923: a government composed of three officials who could not rely on the majority of the parliament Thus, the national political constellation of 1930 – a series of presidential governments – was anticipated in Oldenburg With regard to party politics, Oldenburg was also a precursor to future developments, the National Socialists having their first success on

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the occasion of the referendum against the Young Plan in 1929 Still, the results varied enormously: In the Protestant north, the National Socialists saw outstanding results, whereas the Catholic south voted strongly against them The confessional structure of the Free State of Oldenburg had far-reaching political consequences On the national level, the Centre Party worked with the Social Democratic Party in the so-called Weimar Coalition, while this did not happen in Oldenburg Obviously, confessional boundaries went much deeper than visible

Im Oldenburgischen hatte man es noch nie besonders eilig und wollte demzufolge auch nicht unbedingt an der Spitze des Fortschritts stehen Das hat zu manchem Spott geführt, etwa dem des Schriftstellers Ludwig Börne, der 1846 in einem seiner Briefe aus Paris schrieb: Oldenburger! … Könnt ihr’s nicht mit Freundschaft anhören, was ich euch mit Freundschaft sage, dass ihr alle wie die Oldenburger Herren seid? Diese arbeiten jetzt an guten Kommunalschulen, und sind diese fertig nach hundert Jahren, stecken sie die Füße hinein; und nach hundert Jahren stellen sie den Leib auf die Füße, und nach hundert Jahren stellen sie den Hals auf den Leib, und nach hundert Jahren den Kopf auf den Hals, und nach hundert Jahren setzen sie den Freiheitshut auf den Kopf, und dann hat Oldenburg eine Konstitution, so gut und so schön wie eine! O Oldenburger!1

Man lebte eben ruhig im Großherzogtum und war mit den Verhältnissen im Ganzen durchaus zufrieden So schrieb der Oldenburger Stadtrat am 2 März 1848 in einer Adresse an den Großherzog mit dem Wunsch nach einer Verfassung: „Der Oldenburger liebt und ehrt mit unerschütterlicher Treue sein angestammtes Fürstenhaus, er weiß, welchen Schatz er darin vor vielen voraushat … und erkennt mit größter Dankbarkeit, dass Ew Königliche Hoheit unablässig für das Wohl der Untertanen bemüht sind“ 2 Kein Wunder, dass darüber gespottet wurde, wenn es etwa in den Jeverländischen Nachrichten hieß, stellte man vor den Oldenburger „ein Seidl Bayrisch Bier und die Freiheit“, so liebäugelt [er] sicher damit, allein in Glacéhandschuhen Mehr dürfen Sie nicht verlangen Wohin ich auch gehorcht, wie oft ich diese Seite angeschlagen, die durch ganz Deutschland so mächtig klingt, in Oldenburg gibt sie höchstens einen matten und siechen Ton Nie sah ich die Wange von dem Hauche wahrer Freiheit gerötet, nirgends eine frische kräftige Bewegung, … nirgend einen kühnen Sprung über die alte abgesteckte Grenze 3

1 2 3

Zit nach Monika Wegmann-Fetsch, Die Revolution von 1918 im Großherzogtum Oldenburg, Oldenburg 1974, 22 Zit nach ebd , 28 Jeverländische Nachrichten v 4 6 1848, zit nach ebd , 145

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Wenn es in den revolutionären Zeiten in Oldenburg kaum zu großer öffentlicher Erregung kam, so hat dies sicher mit der bedachtsamen Mentalität der Bevölkerung zu tun, hatte aber auch strukturelle Ursachen So gehörte Oldenburg zu den am dünnsten besiedelten deutschen Territorien, die Einwohner lebten ganz überwiegend von der Landwirtschaft, nur wenige von Handwerk und Kleinhandel Abgesehen von der Stadt Oldenburg und bis zu einem gewissen Grade von der Stadt Jever gab es nur kleine Landstädtchen, lediglich in Varel und den Hafenstädtchen Brake und Elsfleth gab es um die Mitte des 19  Jahrhunderts auch Arbeiter ‚Großherzogtum‘ war ein Titel, der erst 1829 durch eine landesherrliche Verfügung vom Haus Oldenburg auf das Territorium bezogen wurde 4 ‚Groß‘, genauer ‚größer‘ war das Herzogtum erst durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 geworden Als Entschädigung für den Wegfall des Weserzolls bei Elsfleth hatte Oldenburg das Bistum Lübeck als Erbfürstentum, das hannoversche Amt Wildeshausen sowie aus dem Hochstift Münster die Ämter Vechta und Cloppenburg erhalten 5 Der russische Zar hatte 1813 die Herrschaft Jever der Oldenburgischen Verwaltung unterstellt und Jever 1818 an Oldenburg abgetreten 1817 war infolge des Wiener Kongresses das Fürstentum Birkenfeld, an der oberen Nahe am Südrand des Hunsrücks gelegen, zu Oldenburg gekommen 6 So hatte das Großherzogtum gewissermaßen drei ‚Standorte‘ und weitere Gebiete mit eigenen Rechtstraditionen Dazu ist besonders bemerkenswert, dass der Großherzog seiner Verpflichtung aus § 13 der Wiener Bundesakte, eine landständische Verfassung zu gewähren, nicht nachkam, so dass Oldenburg bis 1848 ohne Verfassung geblieben ist Zwar hatten die beiden ehemals münsterschen Ämter Vechta und Cloppenburg im Hochstift Münster eine landständische Verfassung gehabt, die jedoch mit der Inbesitznahme durch den Großherzog ausdrücklich aufgehoben worden war Dass es nicht zu einer landständischen Verfassung für das Großherzogtum kam, hat mehrere Gründe Zum einen war ein gemeinsamer Landtag für die drei weit voneinander liegenden Landesteile damals schwer vorstellbar Zum anderen konnten sich die Herrscherhäuser in Russland und Dänemark, die durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen involviert waren, nicht dazu verstehen Entscheidend war aber wohl, dass der Großherzog selbst im Zuge der durch die Pariser Juli-Revolution von 1830 ausgelösten politischen Bewegung zwar versprach, „alles, was durch die Bundesverfassung zuge-

4 5

6

Vgl Georg Sello, Die territoriale Entwicklung des Herzogtums Oldenburg, Neudruck Osnabrück 2005, 233 Vgl Friedrich-Wilhelm Schaer  / Albrecht Eckhardt, Herzogtum und Großherzogtum Oldenburg im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus (1772–1847), in: Albrecht Eckhardt / Heinrich Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg Ein Handbuch, Oldenburg 1987, 271–331, hier 282 f Vgl H  Peter Brandt, Der Landesteil Birkenfeld, in: Eckhardt/Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, 591 f

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sichert ist, auch gewissenhaft erfüllen“ zu wollen7, in der Sache jedoch auswich, indem er zunächst eine Gemeindeordnung erarbeiten lassen wollte von einer Kommission unter dem verschleiernden Titel „Kommission zur Beratung und Ausarbeitung einer die Einführung einer landständischen Verfassung im Herzogtum Oldenburg und in der Herrschaft Jever vorbereitenden Gemeindeordnung“ Die Kommission kam auch tatsächlich zustande und wurde am 7 Januar 1832 einberufen, allerdings nur für das Herzogtum Oldenburg, nicht für die Fürstentümer Lübeck und Birkenfeld und auch nicht für die Städte, die teilweise entsprechende Ordnungen besaßen Dennoch bedeutete die dann erlassene Landgemeindeordnung einen erheblichen Fortschritt, brachte sie doch den Einwohnern eine vergleichsweise große Beteiligung an der Gemeindeverwaltung8 und führte auch zu einer Beruhigung in der Verfassungsfrage So blieb das Großherzogtum Oldenburg unter den 41 Staaten des Deutschen Bundes ein Land, in dem die Bestimmung des Art 13 der Bundesakte von 1815 nicht ausgeführt wurde Die Bevölkerung fügte sich in ihre bescheidenen Lebensverhältnisse, ein selbstbewusstes Großbürgertum gab es nicht, ebenso wenig einen ständisch organisierten Adel und seit etwa den 1830er Jahren bildete die zunehmende Auswanderung nach Amerika auch ein gewisses Ventil für Unzufriedene Lediglich in der zahlenmäßig kleinen Gruppe der höheren Beamten wuchs die Einsicht, dass eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willensbildung auf die Dauer nicht zu umgehen war Doch schrieb der Geheime Hofrat Ludwig Starklof noch im Jahre 1841, „in Oldenburg … kein Fortschritt, kein Ansporn, keine Entwicklung der Staatskraft, kein guter Wille dazu von Oben, keine Anregung von Unten“ 9 Endlich eine Verfassung: Das Staatsgrundgesetz von 1849 1847 begann die Verfassungsfrage in der Öffentlichkeit wieder eine Rolle zu spielen und Eingaben an den Großherzog forderten immer noch eine landständische Verfassung, neuerdings jedoch auch eine Landesverfassung und nach der Februarrevolution in Paris 1848 wurden die Eingaben drängender Der Großherzog sagte am 10 März 1848 der Einberufung einer Versammlung von 34 Männern zur Beratung eines Verfassungsentwurfs zu Diese 34 sollten von den Stadtvertretungen und den Amtsausschüssen bestimmt werden 10 Je drei Mitglieder des 34er-Gremiums entsandten die Fürsten-

7 8 9 10

Zit nach Schaer/Eckhardt, Herzogtum und Großherzogtum, 317 Vgl Gerhard Kohnen, Die Entwicklung des Gemeindeverfassungsrechts in Oldenburg seit dem Ausgang des 18  Jahrhunderts, Jur Diss Köln 1960, 102 f , hier 134 f Zit nach Wegmann-Fetsch, Revolution, 24 Zur weiteren Entwicklung vgl Albrecht Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (1848–1918), in: Eckhardt/Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, 333–402, hier 333 f

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tümer Lübeck und Birkenfeld Es handelte sich bei der Bestimmung der 34 um eine reine Persönlichkeitswahl durch die Mitglieder der Stadträte und Amtsausschüsse Das Gremium lehnte den ihm vorgelegten Verfassungsentwurf einstimmig ab, nahm aber einen neuen Entwurf einer Regierungskommission an, der sich an die liberale Verfassung Kurhessens von 1831 anlehnte Das Wahlgesetz für den „Vereinbarenden Landtag“ wurde von der Regierung ohne Mitwirkung der 34er-Versammlung erlassen und von dieser scharf kritisiert, denn auch hier sollte indirekt gewählt werden, und es war ein Zensus für die Wahlmänner vorgesehen Inzwischen gab es eine merkliche Politisierung in der Öffentlichkeit, veranlasst durch die Verhandlungen des Frankfurter Paulskirchenparlaments, durch akute soziale und wirtschaftliche Probleme und nicht zuletzt durch das einengende Wahlgesetz Im Juli 1848 fand die erste Landtags-Wahl im Großherzogtum Oldenburg statt und im September trat der sog „Vereinbarende Landtag“ zusammen, der den Verfassungsentwurf beriet und am 18 Februar 1849 mit dem Staatsgrundgesetz die erste Verfassung des Großherzogtums beschloss Die Verfassung wird als „eine sehr liberale“11 eingeordnet Die Exekutive lag beim Großherzog, jedoch bedurften die Regierungserlasse der Gegenzeichnung durch ein Mitglied des Staatsministeriums, das damit die Verantwortlichkeit übernahm Die Legislative übte der Großherzog zusammen mit dem Landtag aus Die Verfassung enthielt die Grundrechte des Volkes im Sinne der Beschlüsse der Frankfurter Nationalversammlung Die Staatskirche war aufgehoben und die Trennung von Kirche und Schule festgelegt Neben den Mitwirkungsrechten bei der Gesetzgebung lag das Steuerbewilligungsrecht und das Recht zur Ministeranklage beim Landtag Die drei Landesteile Herzogtum Oldenburg, Fürstentum Lübeck und Fürstentum Birkenfeld erhielten eigene Provinziallandtage, während der in Oldenburg tagende Landtag des Großherzogtums für die Angelegenheiten des Gesamtstaates zuständig war Die Landtage wurden nach indirektem Wahlrecht gewählt Wahlberechtigt waren die Männer über 25 Jahre, soweit sie nicht von öffentlicher Armenunterstützung lebten und einen eigenen Haushalt führten, konkret bedeutete dies, dass dem Gesinde das Wahlrecht vorenthalten wurde 12 Durch die Verfassung von 1849 war das Großherzogtum Oldenburg zum konstitutionellen Staat geworden, jedoch führte die nachfolgende Reaktionsperiode auch im Großherzogtum Oldenburg zu retardierenden Elementen in Bezug auf Verfassung und Wahlen So wurden durch das Revidierte Staatsgrundgesetz von 1852 die drei Provinziallandtage wieder abgeschafft, sie waren nie zusammengetreten Aufgrund entsprechender Beschlüsse des Deutschen Bundes hatten die Bundesstaaten ihre

11 12

Ebd , 341 Text des Staatsgrundgesetzes für das Großherzogtum Oldenburg vom 18 2 1849 bei Albrecht Eckhardt / Rudolf Wyrsch, Oldenburgischer Landtag 1848–1933/1946 Biographisch-historisches Handbuch zu einem deutschen Landesparlament, Oldenburg 2014, 584–590; Text des Wahlgesetzes für das Großherzogtum Oldenburg vom 18 2 1849, ebd , 591–594

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Verfassungen dem vorrevolutionären Bundesrecht wieder anzupassen Zwar gehörte Oldenburg zu den wenigen deutschen Staaten, in denen die Reaktion in eher milden Formen zum Tragen kam, doch wurde das Staatsgrundgesetz auch in anderer Hinsicht einer Revision unterzogen 13 Dies geschah in einer Phase, die in Deutschland allgemein von politischer Ermattung in der Öffentlichkeit gekennzeichnet war 14 Die wichtigste Änderung des Staatsgrundgesetzes betraf die Übernahme des preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts Jedoch kam diese das Besitzbürgertum bevorzugende Bestimmung mit Zustimmung der Landtagsmehrheit zustande Das Drei-Klassen-Wahlrecht wurde durch ein neues Wahlgesetz vom 21 7 1868 abgeschafft und durch Änderung des Staatsgrundgesetzes vom 17 4 1909 wurden die Abgeordneten „durch allgemeine unmittelbare und geheime Wahlen berufen“ 15 Die Revolution von 1918 hatte ihren Ausgangspunkt im ehemals oldenburgischen Jadegebiet Im sog Jade-Vertrag hatte das Großherzogtum am 20 7 1853 eine größere Fläche westlich der Jade an Preußen abgetreten, das dort einen Kriegshafen baute, ein Handelshafen war nach den vertraglichen Bestimmungen ausgeschlossen Im Laufe der Jahre entstand südlich des Hafens eine kleine Stadt, die 1873 die Bezeichnung Stadt Wilhelmshaven erhielt 16 Hier nun kam es auf der Kriegsflotte am 30 /31 Oktober 1918 zu einer Meuterei, ausgelöst durch ein beabsichtigtes Flottenunternehmen gegen England Nach der Ende Oktober noch erfolgten Parlamentarisierung des Reiches forderte der Landtag diese am 5 November 1918 durch einstimmigen Beschluss auch für das Großherzogtum Am Tag darauf gaben der Großherzog und seine Regierung die Zustimmung zur Änderung des Staatsgrundgesetzes, zu der es aber nicht mehr kam Am 11  November dankte Großherzog Friedrich August ab Am 7 November 1918 war in Wilhelmshaven ein Soldatenrat gebildet worden, der neben der militärischen auch die zivile Befehlsgewalt in Anspruch nahm Dieser sog 21er Rat beschloss am 9 /10  November das Gebiet der Marine-Station und des Großherzogtums zu einer „Sozialistischen Republik“ zu erklären Im Oldenburger Landtag wurde über die Bildung einer neuen Regierung verhandelt, die zunächst aus Vertretern von SPD, FVP und Zentrum bestehen sollte, dann aber durch zwei Räte-Mitglieder erweitert wurde und an deren Spitze der Revolutionär Kuhnt trat 17 Die Regierung führte die Bezeichnung „Landesdirektorium“

13 14 15 16 17

Vgl Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, 348 f Vgl Klaus Peter Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg im Jahrzehnt vor der Reichsgründung, Oldenburg 1979, 26 f Gesetz für das Großherzogtum, betreffend Änderung des Staatsgrundgesetzes vom 17 4 1909 bei Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag, 612 Vgl Waldemar Reinhardt, Die Stadt Wilhelmshaven in preußischer Zeit, in: Eckhardt/Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, 637–660, hier 637 f Vgl Wolfgang Günther, Freistaat und Land Oldenburg (1918–1946), in: Eckhardt/Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, 403–489, hier 404 f

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Einzigartig im Deutschen Reich war die Tatsache, dass der Landtag nicht aufgelöst wurde, sondern weiter amtierte und seine Funktionen bis zur Wahl der Verfassungsgebenden Landesversammlung am 23 Februar 1919 wahrnahm Der Landtag beschloss auch ein neues Wahlgesetz, das dem Wahlgesetz für den Reichstag entsprach Die Verfassunggebende Landesversammlung konstituierte sich durch Beschluss vom 18 Juni 1919 als ordentlicher Landtag, und die erste verfassungsmäßige Regierung nach der neuen Landesverfassung wurde am 21 Juni 1919 gewählt Die Verfassung für den Freistaat Oldenburg vom 17. Juni 1919 Der Verfassunggebenden Landesversammlung und der von ihr erarbeiteten Verfassung des Freistaates Oldenburg sind im Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg gerade einmal elf Zeilen gewidmet 18 Das muss umso mehr verwundern, als die Verfassung auf einem durchaus ungewöhnlichen Wege durch eine Verfassunggebende Landesversammlung zustande kam Sie wurde gewählt nach einem Wahlgesetz, das der aus der vorrevolutionären Zeit weiter amtierende Landtag beschlossen hatte und das gegenüber dem oldenburgischen Wahlgesetz von 1909 wesentliche Neuerungen enthielt, so das Frauenwahlrecht, die Herabsetzung des Wahlalters auf 20 Jahre und die Abschaffung der Zweitstimme für Ältere An der Wahl zur Verfassunggebenden oldenburgischen Landesversammlung hatten sich 67,2 % der Wahlberechtigten beteiligt und das Ergebnis lautete: SPD 33,44 %, DDP 31,08 %, Zentrum 21,97 %, DVP 11,38 %, DNVP 2,13 %, was zur folgenden Sitzverteilung führte: SPD 16 (davon zwei USPD), DDP 15, Zentrum 11, DVP 5, DNVP 1 Damit hatte die aus dem Reichstag bekannte sog Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum 40 Landtagsmandate erhalten Den ersten Entwurf für die am 17 Juni 1919 durch die Verfassunggebende Landesversammlung beschlossene Landesverfassung für den Freistaat Oldenburg hatte der durch das Landesdirektorium beauftragte Geheime Oberregierungsrat Eugen von Finckh erstellt 19 Von Finckh lag der Verfassungsentwurf für die Nationalversammlung vor sowie Verfassungsentwürfe anderer deutscher Staaten, insbesondere Badens und Württembergs Von Finckhs endgültiger Entwurf wurde vom Direktorium beraten und als Regierungsentwurf in die Beratungen der Landesversammlung eingebracht Die inhaltliche Diskussion erfolgte dort im Verwaltungsausschuss, dessen Vorsitzender der Präsident der Verfassunggebenden Landesversammlung, der Abgeordnete 18 19

Vgl ebd , 412 f Zum folgenden vgl die juristische Dissertation von Benedikt Beckermann, Verfassungsrechtliche Kontinuitäten im Land Oldenburg Entstehung, Strukturen und politische Wirkungen der Verfassung des Freistaats Oldenburg vom 17 Juni 1919, Baden-Baden 2016, 85 ff ; zum Vorgehen von Finckhs vgl Frank Lechler, Parlamentsherrschaft und Regierungsstabilität Die Entstehung staatsorganisatorischer Vorschriften in den Verfassungen von Baden, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Sachsen und Württemberg 1918–1920, Frankfurt a M 2002, 112 f

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Tantzen (DDP) war Die parteipolitischen Auseinandersetzungen über die Verfassung fanden also im Wesentlichen in diesem Verwaltungsausschuss statt, weniger in den Verhandlungen der Landesversammlung In der 13 Sitzung der Landesversammlung am 17 Juni 1919 wurde der Entwurf beschlossen und durch Präsident Theodor Tantzen verkündet Auf einige wichtige Aussagen und auf einige Besonderheiten der Verfassung sei hier hingewiesen: Ausdrücklich formuliert die Verfassung in § 3 „Die Staatsgewalt liegt beim Volke Sie wird dieser Verfassung gemäß durch die Gesamtheit der Stimmberechtigten ausgeübt “20 Es folgen die Grundrechte und die Bestimmungen über die Gesetzgebung, die „vom Volke entweder unmittelbar im Wege der Volksabstimmung oder mittelbar durch den Landtag und das Staatsministerium ausgeübt“ wird (§ 34) In § 45 wird der Landtag als „Die berufene Vertretung des Volkes“ bezeichnet Der Landtag konnte aufgelöst werden durch eigenen Beschluss mit Zweidrittel-Mehrheit, durch Volksabstimmung und  – einmalig unter den deutschen Länderverfassungen  – durch das Staatsministerium, wenn der Landtag diesem das Vertrauen versagte Nach § 65 konnten 20 000 Stimmberechtigte Vorschläge einbringen (wenn auch nicht auf Steuer-, Gehalts- und Staatshaushaltsgesetze) und bei Ablehnung durch den Landtag war darüber durch eine Volksabstimmung zu entscheiden Umstritten war die Konfessionalität des Schulwesens, die bei den Volksschulen erhalten blieb Auch die Lehrerausbildung sollte nach Konfessionen getrennt beibehalten werden, „soweit nicht die Ausbildung der Lehrer auf Universitäten erfolgt“ 21 Bei seinem Verfassungsentwurf berücksichtigte von Finckh die in Arbeit befindliche Weimarer Reichsverfassung Aus den Verfassungen bzw Verfassungsentwürfen anderer Länder orientierte er sich vor allem am badischen und am württembergischen Verfassungsentwurf Für nicht weniger als drei Viertel der Verfassungsbestimmungen lassen sich direkte Bezüge zu den Entwürfen Badens, Württembergs und eben des Reiches identifizieren Darüber hinaus war von Finckh bestrebt, das bisherige oldenburgische Verfassungsrecht zu erhalten, soweit dies unter den Rahmenbedingungen der neuen Verhältnisse möglich war 22

20 21 22

Text der Verfassung bei Beckermann, Kontinuitäten, 495–516 Vgl dazu Joachim Kuropka, Die akademische Lehrerausbildung und ihre Umgestaltung in der NS-Zeit, in: Alwin Hanschmidt / Joachim Kuropka (Hgg ), Von der Normalschule zur Universität 150 Jahre Lehrerausbildung in Vechta 1830–1980, Bad Heilbrunn 1980, 175–257, hier 180 f Vgl Lechler, Parlamentsherrschaft, 115

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Zur Entwicklung der politischen Partizipation An den Fragen des Wahlrechts zeigte sich die oldenburgische Bevölkerung bis zum Beginn des 20  Jahrhunderts wenig interessiert Da in dem weitgehend agrarisch geprägten Land die Kirchspiels- und Amtsausschüsse über eine vergleichsweise hohe Selbstständigkeit verfügten, wurde der Mangel an Mitwirkungsmöglichkeiten auf der Landesebene nicht als sonderlich drängend empfunden In der Wahrnehmung der Bevölkerung lag es eher nahe, dass bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen zum Frankfurter Vorparlament nur die Amtsausschüsse und Stadträte je einen Abgeordneten wählten 23 Auch die Wahl der 34 Vertreter zur Beratung des Verfassungsentwurfs fand auf der Grundlage der Gemeindeordnung statt, also wiederum durch Stadtrat und Magistrat bzw durch Kirchspielsausschüsse und Kirchspielsvögte, und fand kaum öffentliches Interesse Allerdings bildeten die Stadt Eutin und das Herzogtum Birkenfeld eine gewisse Ausnahme, besonders weil in letzterem auch Stimmen für eine Trennung Birkenfelds vom Großherzogtum laut geworden waren Von Seiten des Großherzogs und seines Ministeriums bestand schon gar kein Interesse an einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerung, was besonders deutlich wurde bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung Zwar waren vom Bundestag für alle deutschen Staaten „Volkswahlen“ angeordnet und deren Modus festgelegt worden, dass nämlich jeder volljährige selbständige Staatsbürger wahlberechtigt sein sollte, ohne Bindung an einen Zensus Darüber ging das oldenburgische Wahlgesetz hinweg, nach dem die Wahl auf indirektem Wege über Urwahlen und nachfolgende Wahlmännerwahlen vollzogen werden sollte Danach waren nur die volljährigen Einwohner, die eine direkte Gemeinde- oder Landsteuer zahlten, als Urwähler wahlberechtigt Nach entsprechenden Direktiven des Bundestages ließ man in Oldenburg die Zensus-Bestimmung fallen Die Urwahlen zwischen dem 12 und 17 April 1848 benachteiligten auch durch die praktische Umsetzung die unteren Schichten, die Wahlbeteiligung war sehr gering, genaue Zahlen dazu liegen nicht vor Nach dem Wahlgesetz für die Wahlen zum konstituierenden Landtag, die ebenfalls in indirekter Form stattfanden, waren alle großjährigen männlichen Staatsangehörigen stimmberechtigte Urwähler, jedoch mit der Einschränkung, dass sie über einen eigenen Haushalt verfügen mussten und nicht Armenunterstützung erhielten Diesmal regte sich öffentlicher Protest, in der Stadt Oldenburg gab es zwei große Versammlungen, aus denen Eingaben mit Veränderungswünschen an den Großherzog gerichtet wurden, denen man jedoch nicht nachkam Die Urwahlen fanden zwischen dem 17 und 22  Juni 1848 statt, die Wahlbeteiligung war ausgesprochen gering und hat nach begründeten Schätzungen zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmberechtigten gelegen 24

23 24

Vgl hier und zum folgenden Wegmann-Fetsch, Revolution, 92 f Vgl ebd , 151

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In den folgenden 60 Jahren blieb das indirekte Wahlverfahren bestehen In einer Wahlrechtsnovellierung im Jahre 1852 wurde der Vorschlag der Staatsregierung auf Einführung eines Drei-Klassen-Wahlrechts nach dem Vorbild Preußens vom Landtag beschlossen 25 Durch eine Wahlrechtsneuregelung im Jahre 1868 wurde die Proportion von 300 Einwohnern je Wahlmann und auf 6 000 Einwohner ein Abgeordneter auf 500 Einwohner pro Wahlmann und 10 000 Einwohner pro Abgeordneter verändert, um die Anzahl der Abgeordneten nicht weiter anwachsen zu lassen Auch nach der Reichseinigung war die Diskrepanz in der Wahlbeteiligung zwischen Reichstagswahlen und Landtagswahlen erheblich Während bei den Reichstagswahlen sich meist über 50 % der wahlberechtigten Oldenburger beteiligten, lag die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen unter 20 % 26 Seit den Landtagswahlen von 1902, als die Sozialdemokraten sechs Mandate errangen, aktualisierte sich die Wahlrechtsfrage und war bei den Wahlen im Jahre 1908 eines der wichtigsten Wahlkampfthemen Mit dem 1909 beschlossenen Wahlgesetz wurde die indirekte Wahl abgeschafft, wahlberechtigt waren nun alle Männer ab dem 25  Lebensjahr, die seit mindestens drei Jahren ihren Wohnsitz im Großherzogtum hatten Darüber hinaus erhielt jeder Wahlberechtigte, der das 40 Lebensjahr vollendet hatte, eine weitere Stimme Wirksam wurde das neue Wahlrecht erstmals bei der Wahl zum 32 Landtag im Jahre 1911 mit einer Wahlbeteiligung von 70,7 %, die höchste, die jemals bei einer Landtagswahl erreicht wurde 27 Es war ein langer Weg zum allgemeinen, gleichen, unmittelbaren Wahlrecht, der sich über 70 Jahre hinzog und erst 1919 zum Wahlrecht für alle Staatsbürger, also auch die Frauen, führte Es war dann Maria Brand aus der katholischen Zentrumspartei, die als erste Frau in den Oldenburgischen Landtag einzog Sie hatte mit elf anderen Frauen zur Wahl der Verfassunggebenden Landesversammlung kandidiert, von denen jedoch keine direkt gewählt wurde Vielmehr rückte Frau Maria Johanna Elisabeth Brand, geb Renschen, Ehefrau des Textilkaufmanns Heinrich Brand und Mutter von acht Kindern, noch 1919 für den ausgeschiedenen Gemeindevorsteher Griep nach 28

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26 27 28

Zum folgenden vgl Ellen Mosebach-Tegtmeier, Die Wahlrechtsentwicklung im Großherzogtum Oldenburg zwischen Beharrung und Fortschritt (1848–1909), in: Wolfgang Günther (Hg ), Parteien und Wahlen in Oldenburg Beiträge zur Landesgeschichte im 19 und 20  Jahrhundert, Oldenburg 1983, 117–131, hier 122 f Ebd , 124 Vgl ebd , 173 Vgl Christina Neumann, Maria Brand, in: Maria Anna Zumholz (Hg ), Starke Frauen Lebensbilder von Frauen aus dem Oldenburger Münsterland im 19 und 20  Jahrhundert, Münster 2010, 85–89; Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag, 675, siehe auch: Michael Hirschfeld, Wählerwerbung durch Berufsvielfalt Zur Sozialstruktur der oldenburgischen Landtagsabgeordneten der Zentrumspartei in der Weimarer Republik, in: Franz Bölsker / Michael Hirschfeld / Wilfried Kürschner / Franz Josef Luzak (Hg ), Dona historica Freundesgaben für Alwin Hanschmidt zum 80  Geburtstag, Berlin 2017, S 287–306

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Angesichts der seit den 1830er Jahren in der Öffentlichkeit erhobenen Forderungen nach einer Verfassung und einer Volksvertretung mag es erstaunen, dass die an der Wahlbeteiligung gemessene politische Partizipation außerordentlich gering war Für die ersten Landtagswahlen liegen keine entsprechenden statistischen Erhebungen zur Wahlbeteiligung vor, doch hatte sie offenbar bis zum Beginn des 20  Jahrhunderts „nie 10 % überstiegen“ 29 Im Herbst 1856 waren es im gesamten Herzogtum Oldenburg gerade einmal 4,6 % gewesen, wobei noch zu berücksichtigen ist, dass lediglich 17–19 % der Bevölkerung wahlberechtigt zu den Landtagswahlen waren Diese geringe Wahlbeteiligung wurde vor allem auf das indirekte Wahlrecht zurückgeführt, wobei wohl auch die praktischen Hindernisse in einer vornehmlich durch Einzelhöfe geprägten Siedlungsstruktur eine Rolle spielten sowie die für die Urwahlen angesetzten Zeiträume von einer Woche und mehr Wichtig war noch ein anderer Gesichtspunkt, der sich an der Wahlbeteiligung in konfessionsverschiedenen Gebieten beobachten lässt 1874 erreichte die Beteiligung in den katholischen Gemeinden 78 %, 1907 sogar 86 %, 1912 lag die Beteiligung in den katholischen Gemeinden bei 85 %, in den evangelischen Gemeinden bei 48 % 30 Die hohe Beteiligung hing zwar auch mit Ansprache der Wähler in den Kirchen und Kirchengemeinden zusammen, doch gab es auch konkrete kulturpolitische Interessen der Katholiken, insbesondere im Schulwesen 1899 kam erstmals ein sozialdemokratischer Abgeordneter in den Landtag Bei der Wahl im Herbst 1902 konnte die SPD sechs Mandate erringen Das führte zu einiger Beunruhigung und 1903 brachte der DVP-Abgeordnete Alhorn einen Antrag zur Einführung des direkten Wahlrechts in den Landtag ein, der mit knapper Mehrheit von 20 zu 19 Stimmen an die Staatsregierung weitergeleitet wurde31 und 1909 zur Änderung des Wahlrechts führte Wie vorauszusehen war, legten Linksliberale und Sozialdemokraten stark zu, letztere verdreifachten ihre Mandatszahl, von zuvor vier auf nun 12 Sitze Die starke Zunahme der SPD wurde auch darauf zurückgeführt, dass ein Großteil dieser Wähler aus den bisher wahlabstinenten Bevölkerungsteilen des Gesindes und der unterbäuerlichen Schicht stammte, die nun SPD gewählt hatten Auch dies wird man als eine von konkreten Interessen geleitete Entscheidung ansehen können Politische Kultur eines ‚liberalen Musterstaats‘? Der Begriff des ‚liberalen Musterstaats‘ findet sich in einer Kapitelüberschrift im Handbuch der Oldenburgischen Geschichte, die da lautet: „Oldenburg im Deutschen

29 30 31

Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, 389 Vgl Wolfgang Günther, Wahlen, Wahlsystem und politische Partizipation Die Wahlen von 1912 und 1919 in Oldenburg, in: ders (Hg ), Sozialer und politischer Wandel in Oldenburg Studien zur Regionalgeschichte vom 17 bis 20  Jahrhundert, Oldenburg 1981, 113–137, hier 115 Vgl Mosebach-Tegtmeier, Wahlrechtsentwicklung, 125 f

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Reich – ein liberaler Musterstaat?“32 Für diese Einordnung lässt sich schon einiges vorbringen So galt die oldenburgische Verwaltung als effizient, bürgernah und korruptionsfrei In der Reaktionszeit spielte die staatliche Zensur so gut wie keine Rolle und in der Kulturkampfzeit gab es im Großherzogtum keine speziellen Kulturkampfgesetze, wenn auch Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche, die jedoch zwischen den Amtsinhabern schriftlich ausgetragen wurden, ohne dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis erhielt, so dass rein äußerlich das Bild vertrauensvollen Zusammenwirkens zwischen Staat und Kirche entstand 33 Hinzu kam die deutlich gewordene oldenburgische Gelassenheit der Bevölkerung in einem industriell rückständigen Agrarland, in dem der Zentrumsabgeordnete Driver „einen idealen Zustand“ sah, stehe doch der oldenburgische Steuerzahler „im Vergleich zu seinen Leidensgenossen in anderen Ländern noch günstig da“ 34 So wird verständlich, wenn Großherzog Paul Friedrich August für eine Verfassung „ein inneres Bedürfnis“ nicht sah und erklärte, „Es steht ja alles trefflich bei uns, Sie werden mir recht geben“ 35 Bei anderer Gelegenheit erklärte der Großherzog, er sei „durchaus nicht links, aber es gäbe manche, die sich viel weiter ‚rechts‘ befänden als recht sei“ 36 Solche Grundeinstellungen führten hinsichtlich der Beteiligung des Volkes an den Staatsgeschäften zu einer bedächtigen evolutionären Entwicklung, die sich zeitgemäßen Notwendigkeiten nicht verschloss, wenn auch allmählich und mit retardierenden Momenten, wie der zeitweisen Einführung des Drei-Klassen-Wahlrechts Allerdings spielte in der oldenburgischen Politik und in der oldenburgischen politischen Kultur ein spezifisches Strukturmerkmal eine wichtige Rolle, nämlich die scharfe Konfessionsgrenze zwischen dem protestantisch geprägten Norden und den aus dem Hochstift Münster stammenden Ämtern Vechta und Cloppenburg Die Bevölkerung gehörte jeweils zu weit über 90 % der evangelischen bzw katholischen Kirche an Die daraus resultierende Distanz war nicht leicht zu überwinden und wurde immer wieder einmal öffentlich sichtbar, wenn etwa 1848 im Norden befürchtet wurde, dass doch die Katholiken im Süden einen Priester in die Frankfurter Nationalversammlung wählen könnten 37 Oder wenn Minister Willich den späteren Minister Dr Franz Driver nicht zum Regierungspräsidenten in Eutin ernennen wollte, weil er katholisch war  – und wegen „dieser konfessionellen Taktlosigkeit“ sein Ministeramt aufgeben musste und

32 33 34 35 36 37

Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, 363 Vgl Joachim Kuropka, Die katholische Kirche Katholisches Leben in einem protestantischen Staat, in: Rolf Schäfer / Joachim Kuropka / Reinhard Rittner / Heinrich Schmidt (Hgg ), Oldenburgische Kirchengeschichte, Oldenburg 1999, 473–522, hier 493 Zit nach Joachim Kuropka, Was bleibt nach 900 Jahren? Überlegungen zur politischen Kultur Oldenburgs anlässlich der 900-Jahr-Feier der Stadt Oldenburg, in: Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland 2010, 84–106, hier 91 Zit nach Harry Niemann (Hg ), Ludwig Starklof 1789–1850 Erinnerungen, Oldenburg 1986, 171 Zit nach Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, 343 Vgl Wegmann-Fetsch, Revolution, 141

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als Regierungspräsident nach Birkenfeld „abgeschoben“ wurde 38 Vor allem aber bildete das Zentrum eine feste, nicht übersehbare politische Größe mit einer relativ starken Fraktion im Landtag, die sich in ihrer Entscheidungsbildung und in Koalitionsfragen vornehmlich an für den katholischen Bevölkerungsteil wichtigen kulturpolitischen Gesichtspunkten orientierte Weil die Landtagsfraktionen sich gegenseitig blockierten und aus dieser Konstellation eine Koalition zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen auf der einen Seite und Zentrum auf der anderen nicht zustande kommen konnte, führte dies in den 1920er Jahren zu einer politischen Blockade und zu einer einzigartigen Entwicklung, nämlich zu einer Regierung aus drei Beamten, die sich nicht auf eine Mehrheit im Landtag stützten Damit war 1923 ein Zustand eingetreten, den man aus dem konstitutionellen Staat gewöhnt war und das noch unter einem Ministerpräsidenten Eugen von Finckh, der die Verfassung von 1919 wesentlich mitgestaltet hatte Durch die Verfassung wurde eine vom Parlament unabhängige Regierung durchaus gestützt, konnte sie doch nach einem Misstrauensvotum den Landtag auflösen – wie 1925 tatsächlich geschehen Die Unabhängigkeit der Regierung vom Parlament wurde auch durch die Inkompatibilität von Ministeramt und Landtagsmandat begünstigt sowie durch die Verfassungsbestimmung, nach der eine Neuwahl des Landtages nicht zum Rücktritt der amtierenden Regierung führte und weiterhin Gesetze nur in Übereinstimmung von Landtag und Regierung zustande kommen konnten So war die politische Konstellation, die auf Reichsebene 1930 mit den Präsidialregierungen eingetreten war, in Oldenburg bereits 1923 gegeben Auch in parteipolitischer Hinsicht war der Freistaat Oldenburg ein Vorreiter, denn hier war zuerst der Aufstieg der NSDAP zu beobachten, die bereits 1929 beim Volksbegehren gegen den Young-Plan ihren ersten Triumph feiern konnte, als Oldenburg mit 23,1 % Zustimmung die „unrühmliche Ausnahme“ in Deutschland bildete und in der Reichstagswahl vom 14  September 1930 in Oldenburg „ihr bestes Landesergebnis“ mit 27,3 % (Reichsdurchschnitt 18,3 %) erzielte 39 Bei der Landtagswahl am 29 Mai 1932 kamen die Nationalsozialisten auf 48,4 %, womit sie die absolute Mehrheit der Mandate im Oldenburgischen Landtag gewannen Umgehend begannen diktatorische Maßnahmen Bei der politischen Mobilisierung war der NSDAP die Verfassungsbestimmung über Volksvorschlag und Volksabstimmung zugute gekommen, indem sie in Zusammenarbeit mit der KPD eine Volksabstimmung über die Auflösung des Landtages einbrachte, für die lediglich das geringe Quorum von nur 20 000 Unterschriften notwendig war In der sich daraus ergebenden Landtagswahl vom 29 Mai 1932 erreichte die NSDAP

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Zit nach Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, 370, auch: Michael Hirschfeld, Die Zentrumspartei in der Frühphase des Freistaats Oldenburg, in: Oldenburger Jahrbuch, Bd 120 (2020), S 95–116 Klaus Schaap, Die Endphase der Weimarer Republik im Freistaat Oldenburg 1928–1933, Düsseldorf 1978, 106

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die genannten 48,4 % der gültigen Stimmen 40 Damit kam im Freistaat Oldenburg die erste nationalsozialistische Alleinregierung ins Amt In der landesgeschichtlichen Literatur wird als Ursache für diese Entwicklung die Wirtschaftskrise angegeben, die im Agrarland Oldenburg besonders tiefgreifende Folgen für die Bevölkerung gehabt habe Das ist natürlich ein wichtiges Erklärungsmoment, das auch durch die mediale Popularisierung eines speziellen Ereignisses weite Aufmerksamkeit fand 41 Allerdings wird dabei übersehen, dass das katholisch geprägte Oldenburger Münsterland, die Landkreise Vechta und Cloppenburg, unter der Agrarkrise ebenso gelitten haben, dort aber die NSDAP ihre reichsweit schlechtesten Wahlergebnisse verzeichnen musste, während sie im protestantischen Norden ihre besten Ergebnisse erzielte Der Zusammenhang von Konfession und Wahlablehnung bzw Zustimmung zur NSDAP ist in der Forschung längst bekannt 42 Bei den in Oldenburg besonders weit auseinanderklaffenden Verhältnissen zwischen Zustimmung und Resistenz darf die Situation der evangelischen Kirchengemeinde und Gemeindemitglieder offenbar nicht außer Acht gelassen werden Dazu hier nur ein kurzer Hinweis im Anschluss an die Untersuchungen von Karl-Ludwig Sommer, wonach insbesondere jüngere evangelische Pfarrer „hinter der formal noch weitgehend intakten Fassade traditioneller ländlicher Kirchlichkeit immer deutlicher das ‚geistige Niemandsland‘ erkennen, in dem sich Freikirchen, Sekten und nicht zuletzt der Kommunismus etablierten“43 In diesem „seelischen Niemandsland“44 hatte dann das innerweltliche Sinnangebot des Nationalsozialismus eine gewisse Faszination für formal der evangelischen Kirche angehörende Mitglieder und nicht zuletzt auch evangelische Pfarrer, von denen nicht wenige NSDAP-Mitglieder wurden 45 Aus der Konfessionsstruktur des Freistaats Oldenburg ergaben sich also weitreichende politische Folgen Während im Reich Zentrum und SPD in der sog Weimarer Koalition zusammenarbeiteten, kam es in Oldenburg nicht dazu Die Konfessionsgrenze reichte offenbar weitaus tiefer als dies sichtbar wurde 1930 hatte es bei den politischen Auseinandersetzungen offene Angriffe auf den „Katholischen Süden“ gegeben46 und liberale Abgeordnete hatten nach Presseveröffentlichungen geäußert, „dass ein katholischer Ministerpräsident – gemeint war Dr Driver – für das evangeli-

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Vgl ebd , 172 f Vgl Maria Anna Zumholz (Hg ), Krach um Jolanthe Krise und Revolte in einer agrarisch-katholischen Region 1929–1930, Münster 2012 Vgl Jürgen W Falter, Hitlers Wähler, München 1991, 175 f Karl-Ludwig Sommer, Bekenntnisgemeinschaft und bekennende Gemeinden in Oldenburg in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft Evangelische Kirchlichkeit und nationalsozialistischer Alltag einer ländlichen Region, Hannover 1993, 241 Ebd Vgl Reinhard Rittner, Die evangelische Kirche in Oldenburg im 20  Jahrhundert, in: Schäfer/Kuropka/Rittner/Schmidt (Hgg ), Oldenburgische Kirchengeschichte, 643–787, hier 697, 707, 710 Schaap, Endphase, 127

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sche Land Oldenburg untragbar sei“ 47 Bemerkenswert ist dabei die Bezeichnung das ‚evangelische Land Oldenburg‘, offenbar eine im evangelischen Norden verbreitete Empfindung, die subkutan ein nicht unwesentliches Element der politischen Kultur des Freistaates war Hinzu kamen in der konkreten Situation taktische Ungeschicklichkeiten der Zentrumspartei, so dass die Weichenstellung, die mit der Ausweitung des Wahlrechts hinsichtlich der Integration der Unterschichten im Jahre 1909 gelungen war, in Bezug auf die Katholiken 1923 nicht zum Tragen kam Darüber hinaus bot der Protestantismus dem politischen Liberalismus keine weltanschauliche Stütze gegenüber den Totalitären, so dass in Oldenburg DDP und DVP zur Bedeutungslosigkeit zusammenschmolzen, eine Entwicklung, die sich auch auf Reichsebene beobachten lässt48, in Oldenburg jedoch besonders drastisch verlief 49 Joachim Kuropka †, geb 1941 in Namslau/Schlesien, gest, 2021 in Borken/Westfalen, 1982 bis 2006 Prof für Neueste Geschichte an den Universitäten Osnabrück bzw Vechta Arbeitsschwerpunkte: Deutschland – Großbritannien in und nach dem 1 Weltkrieg, Deutschland – Polen im 20 Jhdt , westfälische und oldenburgische Regionalgeschichte im 20 Jhdt , Katholische Kirche und NSRegime

47 48 49

Ebd Vgl Falter, Hitlers Wähler, 110 f Vgl Joachim Kuropka, Die ‚dritte Revolution‘ ist vergessen Eine Erinnerung an die Oldenburger Revolutionen, in: Land-Berichte Beiträge zu ländlichen und regionalen Lebenswelten 22/2019, H  2, 73–84, hier 81 f

In schlechter Verfassung? Der Freistaat Sachsen als demokratischer Verfassungsstaat in der Weimarer Republik Ulf Morgenstern Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 161–180

Abstract: The Electorate and Kingdom of Saxony was one of the oldest territories of the Holy Roman Empire that had been continuously ruled by one and the same dynasty In 1831, a young member of the House of Wettin early in his reign was forced to grant a constitution Under the modernizer Frederick Augustus III a number of other reforms followed His successors ruled along more conservative principles and even introduced an outdated three-class franchise at the end of the 19th Century to combat the rise of social democrats – to no avail, as Saxony, a densely populated industrial location, came to be known as the ‘Red Kingdom’ Further reforms before the outbreak of World War One were overtaken by the revolutionary events of November 1918 After prolonged debates a new state constitution following in the footsteps of the Weimar Constitution was introduced in Saxony in 1920 While it made democratic government by the state-carrying parties possible, it did not prevent hostilities from the extreme left and right After the communist government crisis of 1923 a consolidation phase followed This was only a superficial development, though, as celebrations of the constitution for example were of marginal appearance Following 1931 the NSDAP rose to strength, having developed a strong rooting amongst the disintegrated working class and civil servants, and would eventually deliver a death blow the Free State of Saxony in 1933

Zur Einführung: Friedrich August der Letzte Nach Paragraph 4 der Sächsischen Verfassung vom 4 September 1831 war in Sachsen der König „das souveraine Oberhaupt des Staats, [er] vereinigt in sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie unter den durch die Verfassung festgesetzten Bestimmungen

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aus Seine Person ist heilig und unverletzlich “ In Paragraph 5 hieß es anschließend: „Der König kann, ohne Zustimmung der Stände, weder zugleich Oberhaupt eines anderen Staats werden […], noch seinen wesentlichen Aufenthalt außerhalb Landes nehmen “1 Die dem letzten Träger der Krone nachgesagte, im Dialekt seiner Heimat eingefärbte Resignation: „Na dann macht doch eueren Dreck alleene“2 war also ein Verfassungsbruch durch das Staatsoberhaupt höchstselbst Denn auch in den an die zitierten Paragraphen anschließenden Bestimmungen war eine Abdankung nicht vorgesehen Und doch sah sich Friedrich August III am 13 November 1918 genau dazu gezwungen, und zwar in der für ihn typischen, lakonischen Art mit nur einem Satz: „Ich verzichte auf den Thron “ Damit beugte sich der Regent aus dem seit mehr als 800 Jahren regierenden Hause Wettin den politischen Realitäten, die drei Tage zuvor der fast gleichaltrige, 1865 nur wenige Wochen vor ihm in der sächsischen Landeshauptstadt geborene Sozialdemokrat Hermann Fleißner3 mit der Ausrufung der „sozialen Republik Sachsen“4 geschaffen hatte Nachdem bereits 1902 die Flucht von Friedrich Augusts Gattin einen Skandal verursacht hatte, der geeignet war, „die Grundfesten des monarchischen Prinzips [zu] erschüttern“5, wurden diese durch die Novemberrevolution vollends zum Einsturz gebracht Mit seiner Thronbesteigung im Jahr 1904 hatten sich für den Kronprinzen die Umstände zwar noch einmal zum Besseren gewandelt Der zweite Worst Case in der Biographie des Hochadligen wirkte sich hingegen nun nicht mehr nur auf das gesellschaftliche Prestige seiner Person aus, sondern schaffte 14 Jahre später gleich den Beruf des Erbmonarchen der in 22 von 25 deutschen Bundesstaaten regierenden Standesgenossen Friedrich Augusts III ab Er selbst verließ mitsamt seinem Hofstaat fluchtartig die Residenz seiner Vorfahren und lebte bis zu seinem Tod auf seinen persönlichen Besitzungen im schlesischen Sibyllenort – und damit außerhalb Sachsens Zwar ging er damit nicht ins Exil außerhalb der Reichsgrenzen, auch nicht kurzzeitig, wie dies nicht 1 2

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Zitiert nach: Suzanne Drehwald / Christoph Jestaedt, Sachsen als Verfassungsstaat, Leipzig 1998, 141 So wahrscheinlich (ein Dementi ist nicht überliefert) am Ende eines die Beamten und Offiziere vom Treueid entbindenden Telefongesprächs mit dem Finanzminister Max Otto Schröder, zitiert nach der sozialistischen „Dresdner Volkszeitung“ Nr  29 vom 22 November 1918 Vgl dazu zuletzt umfassend den Katalog Iris Kretschmann / André Thieme (Hgg ), „Macht euern Dreck alleene!“ Der letzte sächsische König, seine Schlösser und die Revolution 1918 Sonderausstellung im Schlossmuseum Pillnitz vom 28 April bis 4 November 2018, Dresden 2018 Die Sozialisation Hermann Fleißners (vgl Andreas Reichel, Fleißner, Hermann, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e V (Hg ), Sächsische Biografie, Online-Ausgabe: http:// www isgv de/saebi/ (21 1 2020)) war freilich eine andere als die des gleichaltrigen Prinzen (vgl Reiner Pommerin, Friedrich August III , in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e V (Hg ), Sächsische Biografie (21 1 2020)) Hermann Müller, Die Novemberrevolution, Berlin 1928, 85 Frank Lorenz Müller, Die Thronfolger Macht und Zukunft der Monarchie im 19  Jahrhundert, München 2019, 124

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wenige deutsche Fürsten für notwendig erachteten 6 Aber trotz gelegentlicher Reisen durch und nach Sachsen blieb der Rückzug über die preußischen Landesgrenzen (gerade für einen Wettiner!) Ausdruck einer dauerhaften Entfremdung gegenüber dem Stammland seiner Vorfahren Lebensweltlich nicht minder gravierend waren die Veränderungen für seine in die parlamentarische Demokratie entlassenen Landeskinder Denn auch die 88 Jahre in Geltung befindliche Verfassung des Königreichs Sachsens wurde im November 1918 vom Gang der Ereignisse praktisch aufgehoben Es dauerte zwei Jahre, bis in dem bedeutenden Mittelstaat7 eine neue, in ihrem Kern weniger als 13 Jahre gültige Verfassung verabschiedet wurde 8 Konstitutionelle Monarchie im Deutschen Bund und „rotes Königreich“ im Kaiserreich Die Möglichkeit des Thronverzichts als König von Sachsen verdankte der aus einer Dynastie von Markgrafen, Herzögen und Kurfürsten stammende Friedrich August III Napoleon Dieser hatte den verbündeten sächsischen Kurfürsten Friedrich August III (geb 1750, reg 1763–1827) 1806 zum König (Friedrich August I ) erhoben und damit dem Haus Wettin in dessen Stammländern einen Titel verliehen, den es bereits im 18  Jahrhundert für einige Jahrzehnte in Polen getragen hatte Die Königswürde blieb Friedrich August I nach dem Ende der Napoleonzeit erhalten, auch wenn er nach 1815 für seine Treue zu Frankreich bestraft wurde und nur noch über die Hälfte seines ererbten Territoriums gebot Gleichgültig, ob man als kursächsischer Untertan in der neuen preußischen Provinz Sachsen lebte oder Landeskind der Wettiner blieb: Die in Artikel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815 in allen Bundesstaaten garantierten landständischen Verfassungen wurden auch in den diesbezüglichen Abschnitten der Wiener Schlussakte von 1820 (Artikel 53–61) nicht in Bestimmungen moderner Repräsentationen umformuliert Weder in Berlin noch in Dresden gewährten die Monarchen ihren Untertanen Verfassungen Friedrich August I , der in den 1820er Jahren das 70 Lebensjahr hinter sich gelassen hatte, stammte aus dem Ancien Régime – seine Kindheit hatte er noch im sächsischen und polnischen Rokoko-Zeitalter unter der Regierung seines Großvaters König August III verbracht 9 Das Gewähren einer Verfassung, wie es in Württemberg (1819) oder Bayern (1818) stattgefunden hatte, lehnte er kategorisch ab In dem Grafen Detlev 6 7 8 9

S den Überblick bei Torsten Riotte, Der Monarch im Exil Eine andere Geschichte von Staatswerdung und Legitimismus im 19  Jahrhundert, Göttingen 2018, 382 Nach der Fläche war Sachsen nach 1866 mit 14986 Quadratkilometern auf Platz 4 zurückgefallen, mit 5 Millionen Einwohnern (1925) stand es hingegen auf Platz 2 Sächsisches Gesetzblatt (im Folgenden SächsGBl) 1920 Nr  26 S 445 vom 4 November 1920 Als Kurfürst führte dieser Sohn Augusts des Starken die Ordnungszahl II , als polnischer König die III Thomas Niklas: Friedrich August II (1733–1763) und Friedrich Christian (1763), in: Frank-Lo-

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von Einsiedel (1773–1861) hatte er diesbezüglich seit 1813 einen Kabinettsminister ganz nach seinem Geschmack 10 Allen Reformen des Staatswesens ablehnend gegenüberstehend, wirkte dieser einstige Wittenberger Kommilitone und Freund von Novalis im Königreich Sachsen der 1820er Jahre im Wortsinn als Reaktionär 11 Zwar förderte er das Gewerbe und die Kunst, aber Neuerungen wie die Öffentlichmachung von Landtagssitzungen oder die Vorlage eines Staatshaushalts lehnte er ab12, und generell sollten jegliche Änderungen „auf das Unerläßliche beschränkt“13 bleiben König und Minister waren Kinder ihrer Zeit mit Sozialisationen lang vor den Umbrüchen des Jahres 1789 Einsiedels Grundausrichtung änderte sich auch nicht, als nach dem Tod Friedrich Augusts 1827 dessen Bruder Anton auf den Thron kam Politisch unsicher, blieb jener auf den Spin Doctor Einsiedel angewiesen, der Reformbestrebungen weiterhin abwehrte Der Unmut über dieses zusammen 126 Lebensjahre zählende Paar aus Unerfahrenheit und Reaktion14 war umso größer, als Einsiedel zuvor seinen Rückzug bei einem etwaigen Thronwechsel angekündigt hatte Bis in das Revolutionsjahr 1830 hinein glaubte sich Einsiedel hingegen fest im Sattel und widersetzte sich dem Vorschlag, den Prinzen Friedrich August (1797–1854) zum Mitregenten zu ernennen Dieser Sohn des immerhin schon 71jährigen präsumtiven Thronfolgers Maximilian erfreute sich eines Maßes an Beliebtheit, das es dem Hof und der Regierung in Folge der auch auf Mittelstädte Sachsens übergreifenden Julirevolution ratsam erscheinen ließ, ihn öffentlichkeitswirksam König Anton an die Seite zu stellen und ihn in der Thronfolge dem Vater Maximilian vorzuziehen Um dem Druck der Straße Reformbereitschaft entgegenzu-

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thar Kroll (Hg ), Die Herrscher Sachsens Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2005, 192–222 Auch wenn Parallelen zur Rolle Metternichs in Wien auf der Hand zu liegen scheinen, sollten Urteile über konservative Staatsmänner und Monarchen des Vormärz spätestens seit Siemanns grundlegender Studie über den traditionell übel beleumundeten Reaktionär der Habsburger nicht allzu holzschnittartig im Stil einer Whig-History ausfallen Ein sehr bedenkenswertes Plädoyer für eine Beurteilung Friedrich Augusts III /I von Sachsen (und am Rande auch Einsiedels) aus den Horizonten ihrer Erfahrungswelten liefert Winfried Halder, Friedrich August III /I 1763/1806– 1827, in: Kroll (Hg ), Die Herrscher Sachsens, 203–222 (in einer Kurzform: ders , Gerechtigkeit für Friedrich August den Gerechten (1750–1827), in: Dresdner Hefte 114/2013, H  2, 34–43) Differenzierte Bewertungen und Literaturverweise finden sich bei Michael Wetzel, Einsiedel, Detlev Graf von, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e V (Hg ), Sächsische Biografie (23 1 2020); ders , Überlegungen zu einer Biografie des sächsischen Kabinettsministers Detlev von Einsiedel (1773–1861), in: Lars-Arne Dannenberg / Kai Wenzel (Hgg ), Zwischen mächtigen Fürsten: Der Adel der Oberlausitz in vergleichender Perspektive (16 –19  Jahrhundert), Görlitz/Zittau 2016, 237–244 Michael Wetzel, Einsiedel, Detlev Graf von, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e V (Hg ), Sächsische Biografie Karlheinz Blaschke, Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd   2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, hrsg von Kurt G A Jeserich / Hans Pohl, Stuttgart 1983, 629 „Anton, ein Kapitän ohne Kompaß“ heißt der betreffende Abschnitt bei Walter Fellmann, Sachsens Könige 1806–1918, München/Berlin 2000, 65–98

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halten, musste schließlich am 13 September 1830 auch Einsiedel seine Ämter niederlegen Ihm folgte der diplomatisch versierte Bernhard von Lindenau (1779–1854) nach Diesem und dem bald an Stelle König Antons die Zügel übernehmenden Prinzen Friedrich August verdankte Sachsen seine erste Verfassung Sie trug die Handschrift des im Staatsdienst in Altenburg und Weimar erfahrenen Lindenau Nach dortigen Vorbildern sah sein innerhalb eines Jahres zur Umsetzung gebrachter Entwurf etwa eine Ständeversammlung mit zwei gleichberechtigten Kammern vor15, deren zweite nach einem strikten Zensuswahlrecht gewählt werden sollte 16 Ihr Inkrafttreten am 4 September 1831 bedeutete „mit der Aufhebung der Standesunterschiede und einer Ausweitung der politischen Partizipation“17 nichts Geringeres als einen Kurswechsel von einem rückständigen Mittelstaat hin zu einem modernisierende Tendenzen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kultur offenstehenden Gemeinwesen 18 Ein hohes Lob dieses „Epochenwechsels“ findet Christoph Jestaedt, wenn er formuliert: „In wenigen Jahrzehnten wurde so aus einem zurückgebliebenen, schlecht regierten kleinen deutschen Mittelstaat eine ihrer Wirtschaftskraft und kulturellen Blüte wegen bewunderte und beneidete deutsche Region, die ihresgleichen in Deutschland suchte “19 Auch wenn dieser Wertung ihre Ex-post-Perspektive deutlich anzumerken ist, bleibt sie doch im Kern richtig; zu denken ist etwa an die Agrargesetze von 1832, das Schulgesetz von 1835, die Armenordnung von 1840, den Beitritt zum deutschen Zollverein 1834 und die Steuerreform von 1843, die die Abgabenfreiheit von Rittergütern beendete 20 Das für die nächsten drei Jahrzehnte von Kriegen und Besetzungen unbehelligte Kö15

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Paragraph 61, Absatz 1 Bei ihrem Zusammentreten wurden sie als Landtag bezeichnet (Paragraph 115) Die Erste Kammer setzte sich aus Honoratioren zusammen (Volljährige Prinzen des königlichen Hauses, Rittergutsbesitzer, Bürgermeister großer Städte, Vertreter der Landesuniversität, kirchliche Würdenträger) Die Zweite Kammer änderte die Zusammensetzung ihrer 75 Mitglieder zwischen 1832 und 1918 grundlegend: Zunächst folgten auf 20 Abgeordnete aus dem Kreis der Rittergutsbesitzer 25 Abgeordnete der Städte, 25 des Bauernstandes und 5 aus Handel und Industrie 1868 wurden durch Verfassungsänderung daraus 35 Abgeordnete der Städte und 45 aus ländlichen Wahlkreisen, nach nochmaliger Änderung im Jahr 1909 waren es 43 Abgeordnete aus Städten und 48 aus ländlichen Wahlkreisen Vgl Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 28 Das änderte sich moderat mit einer Verfassungsreform im Jahr 1868 1896 sah sich die monarchischkonservative Obrigkeit gezwungen, dem Wachstum der Sozialdemokratie mit einem Dreiklassenwahlrecht zu begegnen Erst 1909 wurde ein Pluralwahlrecht eingeführt Vgl dazu grundlegend James Retallack, Red Saxony Election Battles and the Spectre of Democracy in Germany 1860–1918, Oxford 2017 Vgl mit sozialdemokratischer Tendenz Simone Lässig, Wahlrechtskampf und Wahlreformen in Sachsen 1895–1909, Weimar u a 1996 Oliver Werner, Lindenau, Bernhard August von, in: Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e V (Hg ), Sächsische Biografie (24 1 2020) Zugespitzt formuliert, enthält die Verfassung bereits die Menschenrechte, etwa die Freiheit der Person (Paragraph 27), die freie Berufswahl (Paragraph 28), die Freizügigkeit (Paragraph 29), das Eigentumsrecht (Paragraph 27 und 31), die Gewissensfreiheit und eine bedingte Glaubensfreiheit (Paragraph 32), eine eingeschränkte Pressefreiheit (Paragraph 35) und ein breites Beschwerdeund Petitionsrecht (Paragraph 36) Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 15 Frank-Lothar Kroll, Geschichte Sachsens, München 2014, 82 f

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nigreich Sachsen überstand die Revolution im Jahr 1848, bei der sich immerhin eines der berühmtesten Landeskinder in Dresden auf die Barrikaden warf, nur um ein Menschenleben später im bayerischen Exil zu dem Komponisten aller nationalromantisch gestimmten Deutschen und damit auch wieder auf sächsischen Bühnen wohlgelitten zu werden 21 Richard Wagners Heimatstadt Leipzig stand in diesen Jahrzehnten für zwei vermeintlich gegenläufige Tendenzen: Der Treue gegenüber dem Landesherrn und der monarchischen Verfasstheit Sachsens einerseits sowie dem Streben nach einer staatlichen Unifikation Deutschlands unter dem bestimmenden Staat nördlich der Mainlinie andererseits – der Verlags- und Industriestandort war von einer Hass-Liebe gegenüber Preußen bestimmt 22 Der Antagonist Kursachsens gab in den Kriegen der Jahre 1864, 1866 und – dann bereits unter Beteiligung sächsischer Truppen und des wettinischen Thronfolgers – 1870 den deutschlandpolitischen Ton an 1871 fand sich das Königreich Sachsen schließlich als ein Bundesstaat unter vielen in einer neuen, von preußischer Dominanz zusammengehaltenen Reichsverfassung wieder Innerhalb Sachsens galten auch nach dieser Zäsur die 154 Paragraphen der sächsischen Verfassung des Jahres 1831 Sie besaß, trotz moderner Elemente, einen die konstitutionelle Monarchie garantierenden, in seinem altständischen Denken vergleichsweise konservativen Charakter 23 Die zentrale Rolle des Königs wurde nach weitgehend übereinstimmender Einschätzung sowohl der Zeitgenossen wie auch der späteren historischen Forschung vor allem von Friedrich August II (1836–1854) und dessen jüngerem Bruder, Johann (1854–1873), ausgefüllt Sie standen für ein in der Rückschau gelegentlich „liberal“ genanntes, in das Verfassungsleben ihrer Länder integriertes Kulturkönigtum nach skandinavischem oder britischem Vorbild Diese post-absolutistischen Monarchen waren an die Expertise eines ihnen verantwortlichen Ministeriums gebunden Auch die drei Nachfolger Friedrich Augusts II und Johanns, die viel stärker „ins Reich“ integrierten Könige Albert, Georg und Friedrich August III , regierten ihr Königreich als alleinige Gesetzgeber zwar mit Zustimmung der Stände, auf die sie durch Ernennung eines Teils der Ersten Kammer oder die Einberufung, Beendigung, Auflösung und die Anordnung von Neuwahlen der Zweiten Kammer starken Einfluss 21 22

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Franz-Peter Opelt, Richard Wagner Revolutionär oder Staatsmusiker, Frankfurt a M 1987 Vgl Ulf Morgenstern, „Whether ’tis nobler in the mind to suffer […] Or to take arms against a sea of troubles “ Das Jahr 1866 in der sächsischen Geschichte, in: Winfried Heinemann / Lothar Höbelt  / Ulrich Lappenküper (Hgg ), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 209–239 In Paragraph 78 hieß es über die Stände, diese seien „das gesetzmäßige Organ der Gesammtheit der Staatsbürger und Unterthanen, und als solches berufen, deren auf der Verfassung beruhende Rechte in dem durch selbige bestimmten Verhältnisse zur Staatsregierung geltend zu machen und das unzertrennliche Wohl des Königs und des Landes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsätze der Verfassung möglichst zu befördern “ Sie waren die „verfassungsmäßige Vertretung des Volkes “ Otto Fischer, Das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Deutschen Reiches und des Königreiches Sachsen, 14  Aufl , Leipzig 1912, 120

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hatten Aber immer stärker waren sie eingebunden in durch die aus Fraktionen oder besser Parteiungen der Stände gebildete politische Lager, aus denen sich das jeweilige Gesamtministerium zusammensetzte Karlheinz Blaschke spricht hier zutreffend von einer „Beust-Mannschaft“ in der Regierungszeit Johanns, der weitere unter Richard von Friesen und dessen Nachfolgern folgten 24 Nachdem die Gestaltungsspielräume sächsischer Politik nach der Reichsgründung auf innenpolitische oder besser: verwaltungstechnische Bereiche beschränkt wurden, bildete sich als „besonderer Typus“ nunmehr der des „sächsischen Beamtenministers“ aus 25 Ihnen arbeiteten wiederum Spitzenbeamte zu, die den kleinen Staat wie ein Uhrwerk am Laufen hielten und durchaus nicht reformunwillig waren – allerdings nur, wenn es sich mit den Bedürfnissen der monarchisch-konservativen bzw bürgerlich-nationalliberalen Oberschicht in Einklang bringen ließ 26 Hätte es sich um eines der beiden Mecklenburgs gehandelt, könnten dem Verfassungs- und Verwaltungsleben Bestnoten ausgestellt werden Da die Regierung in Dresden aber einem pulsierenden Industriestaat27 vorstand, dessen Arbeiterschaft und Mittelschichten nicht nur nach gesellschaftlicher, sondern immer stärker auch nach politischer Partizipation drängten, die ihnen bis zur Wahlrechtsreform des Jahres 1909 und der wie im Reich bis 1918 viel zu lang vermiedenen Parlamentarisierung vorenthalten wurden, lagen die Dinge am Ende des vierten Kriegsjahres 1918 freilich anders Nun rächte sich, dass die „konservativ-liberale Mehrheit im Dresdner Landtag“28 in der ausgehenden Regierungszeit König Alberts in Anlehnung an die rigiden Sozialistengesetze gewissermaßen eine Bismarcksche Notbremse après-la-lettre gezogen hatte: Als bei den Landtagswahlen 1895 (nach dem für alle Bürger mit einem festen Steuereinkommen ab einer geringen Höhe geltenden Wahlrecht von 1868) der Stimmenanteil der Sozialdemokratie auf 32,5 Prozent gestiegen war, setzte man 1896 mit unverhohlener Absicht ein Dreiklassenwahlrecht in Kraft Damit wurde eine Schere aufgemacht zwischen den Landtagswahlen, bei denen die SPD im Jahr 1901 ihre Sitze verlor, und den nach Pluralwahlrecht abgehaltenen Reichstagswahlen, bei denen sie 1902 22 der 23 sächsischen Wahlkreise gewann Man muss mit Blick auf die Schnellig-

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Karlheinz Blaschke, Das Königreich Sachsen 1815–1918, in: Klaus Schwabe (Hg ), Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten 1815–1933, Boppard 1983, 81–102, hier 96 Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 26 Vgl zur Gerichts- und Verwaltungsreorganisation Kroll, Geschichte Sachsens, 92 ff Vgl Werner Bramke, Industrieregion Sachsen Ihre Herausbildung und Entwicklung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: ders , Freiräume und Grenzen eines Historikers Aus Anlaß seines 60  Geburtstages, Leipzig 1998, 289–312; Holger Starke, Von der Residenzstadt zum Industriezentrum Die Wandlung der Dresdner Wirtschaftsstruktur im 19 und frühen 20  Jahrhundert, in: Dresdner Hefte 61/2000, H  1, 3–15; Rainer Karlsch / Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig 2006; Ralf Haase, Wirtschaft und Verkehr in Sachsen im 19  Jahrhundert Industrialisierung und der Einfluss Friedrich Lists, Dresden 2009 Kroll, Geschichte Sachsens, 95

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keit und Dichte der medialen Berichterstattung der Jahre um 190029 nur einmal mit der Langzeitperspektive des Zeithistorikers von den (west-)fernsehöffentlichen Fälschungen bei den DDR-Kommunalwahlen des Jahres 1989 auf die Wahlrechtsarithmetik des mittleren Kaiserreichs zurückschauen, um das Unbehagen der Mehrheit der Sachsen zu verstehen, deren Stimmen anders als bei Egon Krenz zwar gezählt, aber eben höchst ungleich gewertet wurden Die 1909 unter Friedrich August III erfolgte Einführung eines Pluralwahlrechts kam – vorsichtig formuliert – zu spät 30 „Freistaat“ in der Weimarer Republik Auch wenn sich, wie eingangs erwähnt, der Umut der Bevölkerung nicht gegen den Monarchen oder die Dynastie per se richtete, konnte sich der König in der Dynamik der Ereignisse Anfang November nicht mehr halten 31 Freilich, was nach Ausrufung der Republik folgte, war keineswegs parlamentarisch-demokratisch legitimiertes Regieren, sondern revolutionäre Willkür Wie in anderen Orten Deutschlands besetzten auch in Sachsen selbstermächtigte „Arbeiter- und Soldatenräte“ Amtsgebäude und andere infrastrukturelle Schlüsselstellungen 32 Sechs von ihnen bildeten einen paritätisch aus SPD- und USPD-Vertretern bestehenden, jedoch wegen der Grundsatzentscheidung zwischen dem Modell der Rätediktatur nach sowjetischem Vorbild oder einer repräsentativen Demokratie fragilen „Rat der Volksbeauftragten“ 33 Er zerbrach noch vor den ersten Wahlen zu einer „Volkskammer“ für Sachsen, bei denen am 2 Februar 1919 erstmals auch Frauen wählen durften Von den 96 Sitzen erhielt mit 42 Mandaten für die Mehrheitssozialisten und 15 für die USPD die politische Linke eine klare Ma29 30 31

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Vgl grundlegend Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009; und Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005 Maria Görlitz, Parlamentarismus in Sachsen Königtum und Volksvertretung im 19 und frühen 20  Jahrhundert, Berlin 2011 Vgl zum Ereignisverlauf der Revolution in Sachsen aus zeitgenössischer Perspektive Richard Lipinski, Der Kampf um die politische Macht in Sachsen, Leipzig 1926, 12–17; Walter Fabian, Klassenkampf um Sachsen Ein Stück Geschichte 1918–1930, Löbau 1930, 14–27, und aus der Perspektive der Forschung Claus-Christian Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum Sachsen in der Weimarer Republik, Dresden 2000, 14–21, Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890–1930, Göttingen 2003, 225–237, Siegfried Hoyer, Der Leipziger Bürgerausschuß Messestädtisches Bürgertum und revolutionäre Krise 1918/19, in: Leipziger Kalender 1999, 235–254 Mike Schmeitzner / Michael Rudloff, Geschichte der Sozialdemokratie im Sächsischen Landtag Darstellung und Dokumentation 1877–1997, Dresden 1997, 57 ff Johannes Frackowiak, Verfassungsdiskussionen in Sachsen nach 1918 und 1945, Köln 2005, 26 Vgl zu Friedrich August III den erst nach dem Satz dieses Aufsatzes erschienenen Text von Erik Lommatzsch, Friedrich August III , der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchie in Sachsen, in: Dirk Reitz / Hendrik Thoß (Hgg ), Sachsen, Deutschland und Europa im Zeitalter der Weltkriege, Berlin 2019, 97–111 Kroll, Geschichte Sachsens, 103 f

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jorität Aber die sächsischen Wähler votierten noch immer erstaunlich bürgerlich: Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erhielt 13, die Deutsche Volkspartei (DVP) 4 und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) 22 Sitze (zusammen 39) 34 Ruhe kehrte nach den Wahlen und der Bildung einer SPD-Minderheitsregierung jedoch nicht ein, denn in Flügelkämpfen zwischen der USPD und den Spartakisten radikalisierte sich die äußerste Linke im April 1919 in einem Maße, das sie nicht vor dem Lynchmord am sächsischen Kriegsminister Gustav Neuring35 zurückschrecken ließ 36 Neuring hatte zwar selbst jenen Aufruf vom 14 November 1918 mitunterzeichnet, in dem die Arbeiter- und Soldatenräte der drei sächsischen Metropolen Leipzig, Dresden und Chemnitz dem sächsischen Volk mitteilten, dass nach der „Liquidierung des sächsischen Staates“ nunmehr die „sozialistische deutsche Republik“37 errichtet werde Nur Monate später galt der Mehrheitssozialdemokrat wegen seiner pragmatischen Zusammenarbeit mit dem „Bund aktiver Unteroffiziere“ als Vertreter der Reaktion und wurde ermordet Auch vor dem Hintergrund des Landfriedensbruchs entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Regierung Georg Gradnauers (1866–1946)38 nach diesem Blutzoll mit einer auf dem „Gesetz betreffend das Verfahren bei Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 19 Mai 1851“ beruhenden Maßnahme ein staatliches Mittel aus jener lang zurückliegenden Reaktionszeit in Anwendung bringen musste, in deren Folge die Sozialdemokratie in Sachsen entstanden war Nun verhängte sie selbst den Belagerungszustand über Dresden und Sachsen! Die Reichsregierung tat ein Übriges für den Zusammenbruch des Rätesystems, als sie Truppen des Generals Maercker in Leipzig einrücken ließ Das Kräfteverhältnis fiel klar zu Gunsten der legitimen Ordnung aus, jedoch führten beiderseitige Exzesse zu einer Verlängerung des Konflikts zwischen linksradikalen Rätetruppen und den (nicht selten) rechtsradikalen Freikorps und Zeitfreiwilligenverbänden bis in den Sommer des Jahres 1919 39 Im 34 35

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Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 47; Szejnmann, Vom Traum zum Albtraum, 142 Gustav Neuring (1879–1919), ehemaliger Vorsitzender des Dresdner Arbeiter- und Soldatenrats, unternahm im April 1919 in seiner Funktion als Kriegsminister den Versuch, mit einem eigens dafür zusammengestellten Regiment den radikalisierten Arbeiter- und Soldatenrat in Pirna aufzulösen Derart zum roten Tuch geworden, reichten Gerüchte über Pensionskürzungen für Kriegsbeschädigte, um ihn in die Elbe zu werfen Holger Starke, Hauptstadt des Freistaats Sachsen, in: ders (Hg ), Geschichte der Stadt Dresden, Bd  3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, 263–272 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg ), Dokumente und Materialien zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung, Bd  2, Berlin 1957, 386 Mike Schmeitzner  / Georg Gradnauer, Der Begründer des Freistaates (1918–1920), in: Mike Schmeitzner / Andreas Wagner (Hgg ), Von Macht und Ohnmacht Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, 52–88 Vgl zuletzt den ausführlichen Abschnitt bei Ulrich von Hehl, Räterepublik Leipzig?, in: ders (Hg ), Geschichte der Stadt Leipzig Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd  4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, Leipzig 2019, 89–98, und ders , Novemberrevolution und Kapp-Putsch Geburtswehen der Weimarer Republik in Leipzig 1918–1920 Ein Drama in drei Akten, in: Ulrich

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Herbst trat die DDP in die Regierung Gradnauer ein und damit war der Weg hin zu einer republikanischen Nachkriegsverfassung in Sachsen durch eine parlamentarische Regierungsmehrheit gesichert 40 Die Volkskammer beschloss bereits am 28 Februar 1919 ein 21 Paragraphen umfassendes „vorläufiges Grundgesetz“, das den Geist der Zeit auffing und mit plebiszitären Elementen klare Regelungen zum Verhältnis zwischen Parlament und Regierung traf: Die Volkskammer unterstand nicht nur beim Ablauf einer Legislaturperiode der Kontrolle des Volkes, vielmehr konnten die sächsischen Staatsbürger im Parlament bereits beschlossene Gesetze bestätigen oder kippen, wenn die Regierung diese zur Abstimmung stellte Je nach Ergebnis der Abstimmung konnten auf diesem Wege mittels eines „Misstrauensvotums“ sowohl ein Regierungsrücktritt als auch eine Parlamentsauflösung ausgelöst werden 41 Volksbegehren und Volksentscheidungen blieben auch wichtige Teile der Verfassung des Landes Sachsen vom 1 November 1920 (Art 3, 9, 36–38) Mit 56 Artikeln war sie länger als die Übergangsbestimmungen des Vorjahrs, aber auch erheblich kürzer als die des Jahres 1831 Ein wesentlicher Grund lag darin, dass etliche Befugnisse auf die Reichsebene gezogen wurden, wo seit dem 31 Juli 1919 eine viel stärker unitarische Verfassung schon in ihrem ersten Artikel festlegte, dass das Deutsche Reich eine Republik sei und in Artikel 17 bestimmte, dass die Landesverfassungen „freistaatlichen Charakter“ haben sollten Die Zeit des Nebeneinanders von Monarchien und Republiken war damit vorbei und auch in der Sächsischen Verfassung hieß es gleich einführend: „Sachsen ist ein Freistaat im Deutschen Reich “ Das Prinzip der Volkssouveränität folgte in Artikel 2, wo ausgeführt wurde, dass die Staatsgewalt von eben jenem Volk, dem von ihm gewählten Landtag und den „Behörden“ ausgehe – die Judikative fehlte Diese und andere Bestimmungen wurden in Sachsen erst nach dem Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung diskutiert Das bedeutete freilich nicht, dass nicht schon seit dem November 1918 permanent über verfassungsrelevante Fragen der Staats- und Regierungsform debattiert worden wäre Pars pro toto sei die einflussreiche Schrift „Einheitsstaat oder Bundesstaat“42 des Leipziger Staatsrechtlers Erwin Jacobi genannt, die er mit eindeutiger Wertung als Beobachter der Sitzungen der Nationalversammlung in Weimar verfasste („In diesen Zeiten bleibe uns Preußen erhalten “) 43 Im Grunde kreisten nahezu alle gesellschaftlichen Diskussionen um Kernthemen wie das Ver-

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Brieler / Rainer Eckert (Hgg ), Unruhiges Leipzig Beiträge zur Geschichte des Ungehorsams in Leipzig, Leipzig 2016, 307–332, und Dieter Kürschner, Leipzig als Garnisonsstadt 1866–1945/49, aus dem Nachlass hrsg v Ulrich von Hehl / Sebastian Schaar, Leipzig 2015, 276–287 („Das Übergangsheer, der Einmarsch der Maercker-Truppen und die Bildung von Freiwilligenverbänden“) Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 48; Szejnmann, Vom Traum zum Albtraum, 24 Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 48 Erwin Jacobi, Einheitssaat oder Bundesstaat, Leipzig 1919 Martin Otto, Erwin Jacobi (1884–1965), in: Gerald Wiemers (Hg ), Sächsische Lebensbilder, Bd  6, Teilbd  1, Leipzig 2009, 365–375

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hältnis des Reichs zu den Ländern, mögliche Sozialisierungen44, eine Schulreform und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche45, mithin allesamt elementare Verfassungsfragen Da die Reichsverfassung wesentliche Eckpfeiler des gesellschaftlichen Lebens (Grundrechte, Kulturpolitik, Sozial- und Wirtschaftsordnung usw ) auch für die Länder vorgab, wartete man in Sachsen bis in die zweite Jahreshälfte 1919 mit eigenen konkreten Entwurfsarbeiten, weshalb das Gesamtministerium erst im April 1920 mit einem Entwurf einer Landesverfassung an die Volkskammer herantrat 46 Zuvor waren in dem hochindustrialisierten Land, in dem der Anteil der Industriearbeiter mit 60 Prozent höher als anderswo im Reich war und wo folgerichtig die „Hauptbasis einer auf Sozialismus orientierten organisierten Arbeiterbewegung“47 lag, Bestrebungen nach der Enteignung von „Privateigentum an Grund und Boden, Berg- und Hüttenwerke[n], Rohstoffe[n], Banken, Maschinen, Verkehrsmittel usw “ überwunden worden, wie sie die sächsischen Arbeiter- und Soldatenräte in den Revolutionsschäumen des Novembers 1918 noch gefordert hatten 48 Nach der Vorlage diesbezüglicher Gutachten setzte der MSPD-Wirtschaftsminister Heldt bereits am 19 Februar 1919 mit Erfolg auf Zeit (d h auf mögliche Beschlüsse auf Reichsebene), und machte unmissverständlich klar, dass es „keine Sondersozialisierung in Sachsen“ geben werde 49 Freilich bedeutete ein Ministerwort nicht das Ende der Debatte, die weiterhin hitzig geführt wurde Eingängig war etwa die Formulierung des USPD-Politikers Lipinski, der eine „Abwanderung der Maschinen und der Geldsäcke“ zwar hinnehmen, Grundund Bodenschätze hingegen vergemeinschaften wollte 50 Die MSPD-Minderheitsregierung hielt die radikalen Sozialisierungspläne, die von ganz links vorgelegt wurden, für nicht umsetzbar und legte sie im Frühjahr 1919 bis auf weiteres „ad acta“; der Chronist der sächsischen Sozialdemokratie spricht nicht ohne wertenden Unterton von „einer Beerdigung zweiter Klasse “51 Dennoch wurde die Debatte um Privat- und Grundeigentum, Eigentum an Produktionsmitteln und die Organisation der Wirtschaft im althergebrachten Sinne des freien Spiels der Kräfte oder unter Fortführung der kriegsbedingten Bewirtschaftung einzelner oder aller Wirtschaftsbereiche durch staatliche

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Johannes Frackowiak, Verfassungsdiskussionen in Sachsen nach 1918 und nach 1945, Köln u a 2005, 48–58 Ebd , 64–77 Frackowiak, Verfassungsdiskussionen, 32 Ebd , 48 Vgl die „Proklamation an das sächsische Volk“ vom 14 November 1918, zitiert nach ebd , 49 Ebd , 50 Verhandlungen der Sächsischen Volkskammer in den Jahren 1919/1920, Bd  1, 3 Sitzung, 28 Februar 1919, 44 ff Michael Rudloff, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik 1871–1923, Weimar u a 1995, 221 Das Reichssozialisierungsgesetz vom 23 März 1919 enthob die Dresdner Abgeordneten dann ihrer diesbezüglichen Verantwortung

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Aufsicht in Sachsen durch die gesamten 1920er Jahre hindurch intensiv geführt52; zuletzt vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise noch einmal mit neuer Vehemenz durch eine erstarkende KPD und die sich hier besonders sozialistisch gebende NSDAP und deren das Thema auf die Straßen tragenden Schlägertruppen 53 Bis dahin war es noch ein langer Weg, an dessen Beginn Verhandlungen über die sächsische Verfassung standen Verfolgt man die Debatten in der Grundsatzkommission und dem Verfassungsausschuss der Sächsischen Volkskammer54, so findet man sämtliche Problemlagen der Weimarer Republik hier bereits in einem Brennglas der Jahre 1919 und 1920 Das Bild war in wechselnden Konstellationen geprägt von Unversöhnlichkeit oder Kooperationsbereitschaft zwischen dem marxistischen Parteiflügel der Sozialdemokratie und den sächsischen „Altsozialdemokraten“ einerseits sowie pragmatischer Zusammenarbeit oder weltanschaulicher Fundamentaldistanz zwischen den moderaten Sozialdemokraten und dem in liberal-demokratische und rechtskonservative Kräfte zerfallenden Bürgertum Es darf den Ministerpräsidenten Gradnauer und Buck als hohe Leistung angerechnet werden, dass sie trotz des durch Putsche, wirtschaftlichen Niedergang und allgemeine Verunsicherung geprägten Alltags eine konstruktive Verfassungsfindung ermöglichten 55 Die Lager einigten sich auf eine funktionsorientierte Verfassung, der ohne die an die Reichsverfassung gebundenen grundrechtlichen Bestimmungen jegliches Pathos fehlte 56 Neben Details über die Staatsgewalt (I ), den Landtag (II ), die Regierung (III ), die Gesetzgebung (IV ) und das Finanzwesen (V ) konnte der politisch Interessierte seit dem 1 November 1920 noch wenige Schluss- und Übergangsbestimmungen (VI ) nachlesen, die fortan das staatliche Leben rahmen und regeln sollten In der für die Bürger am direktesten zu spürenden Ausprägung bedeutete die Verfassung freie, geheime und gleiche Wahlen Die Wahlen zu dem 96 Abgeordnete umfassenden Landtag sollten alle vier Jahre stattfinden Tatsächlich wurde zwischen 1919 und 1932 jedoch sechsmal gewählt: am 2 Februar 1919, am 14 November 1920, am

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Volker Titel, Zur Konstruktion von Wirtschaftsräumen Debatten um die Gründung des Wirtschaftsverbandes Mitteldeutschland (1920/21), in: Hartmut Zwahr u a (Hg ), Leipzig, Mitteldeutschland und Europa Festgabe für Manfred Straube und Manfred Unger zum 70 Geburtstag, Beucha 2000, 503–509 Vgl Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004, 105–115 Vgl Frackowiak, Verfassungsdiskussionen, 78–145, wo die Behandlung einzelner Punkte (plebiszitäre oder repräsentative Demokratie, Staatspräsident oder Ministerpräsident, Einsetzung und Abberufung der Regierung, Auflösung des Landtags, Wahlablauf und -prüfung, Budgetrecht, Berufsbeamtentum und Justiz) eingehend nachgezeichnet wird Kroll, Geschichte Sachsens, 104, verweist auf die vor allem kommunistischen Störfeuer in der Anfangsphase der Republik in Sachsen, zu denen seit dem Ende der 1920er Jahre noch solche vom nationalsozialistischen rechten Rand kamen Einen konzisen Überblick bieten Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 52 Im Wortlaut ist der Verfassungstext dort wiedergegeben auf 153–156

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5  November 1922, am 31 Oktober 1926, am 12 Mai 1929 und am 22 Juni 1930 Die stabilsten Ergebnisse erzielte die SPD – in Prozent der Stimmen und Anzahl der Sitze: 41,6 (40); 28,3 (27); 41,8 (40); 32,1 (31); 34,2 (33); 33,4 (32), gefolgt von der DNVP: 14,3 (13); 21,0 (20); 19,0 (19); 14,5 (14); 8,0 (8); 4,8 (5) Dieser auf den Versen war die DVP mit 3,9 (4); 18,6 (18); 18,7 (19); 12,4 (12); 13,4 (13) und 8,7 (8) Es folgte die DDP mit 22,9 (22); 7,7 (8); 8,4 (8); 4,7 (5); 4,3 (4); 3,2 (3) Die USPD erzielte 1919 16,3 (15) und 1920 13,9 (13), wobei da schon die KPD antrat und 5,7 (6) erzielte In der Folge erreichte die KPD 10,5 (10); 14,5 (14); 12,8 (12); 13,6 (13) Da Zentrum errang nur 1920 mit 1,1 Prozent der Stimmen einen Sitz, wogegen die Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (VRP) ab 1926 im Landtag saß: 4,2 (4); 2,6 (3); 1,7 (2), ebenso wie die Wirtschaftspartei (WP) mit 10,1 (10); 11,3 (11); 10,6 (10) 1929 zog das Sächsische Landvolk (SLV) mit 5,2 (5); 4,6 (5) in den Landtag ein Und 1930 errangen die Volksnationale Reichsvereinigung (VNR) mit 1,5 Prozent der Stimmen und der ChristlichSoziale Volksdienst mit 2,2 jeweils 2 Sitze Der unterschätzte Aufsteiger war ab 1926 die NSDAP mit 1,6 (2); 5,0 (5) und 14,4 (14) 57 SPD und KPD hätten abgesehen von zwei Ausnahmen stets eine gemeinsame Mehrheit gehabt, wenn sie denn je zusammengegangen wären und wenn die SPD nicht bis zur Sezession zerstritten gewesen wäre Die mehrheitssozialdemokratische „Altsozialdemokratische Partei Sachsens“ (ASPS) ging sogar eine große Koalition mit den bürgerlichen Parteien ein 58 Auf eine in den frühen Krisenjahren insgesamt stabilisierend wirkende dreijährige Regierung unter dem mehrheitssozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johann Wilhelm Buck59 folgte ein linkes Bündnis, in dem 1923 SPD und KPD der Verwirklichung des Sozialismus näherkommen wollten und schließlich durch eine Reichsexekution aufgehalten wurden 60 Der in der DDR verklärte Jurist Erich Zeigner61 war für einen Tiefpunkt der sächsischen Geschichte verantwortlich, ersparte er es doch seinem Parteigenossen Ebert nicht, zu einem der äußersten präsi57 58

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Alle Ergebnisse nach Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum, 142 1926 erzielte diese Splitterpartei mit 4,2 Prozent der Stimmen 4 Sitze und 1929 mit 1,5 Prozent nochmals 2 Vgl zur sächsischen Parteienlandschaft Michael Richter, Die Geschichte der Parteien in Sachsen bis 1990, in: Christian Demuth / Jakob Lempp (Hgg ), Parteien in Sachsen, Dresden/ Berlin 2006, 37–57 Vgl die grundlegenden biographischen Studien Mike Schmeitzners, etwa Johann Wilhelm Buck (1869–1945) Politiker und Staatsmann des „Neuen Sachsens“, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 66/1995, 249–271 Szejnmann, Vom Traum zum Alptraum, 39–46 Die Reichsexekution als „weißen Terror“ bezeichnet in sozialistischer Perspektive Bernd Rüdiger, Freistaat in der Weimarer Republik (1918–1933), in: Karl Czok (Hg ), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, 444–446 Mike Schmeitzner, Erich Zeigner Der Linkssozialist und die Einheitsfront (1923), in: Schmeitzner/Wagner (Hgg ), Von Macht und Ohnmacht, 125–158 Ein Zeichen geschichtspolitischer Gleichgültigkeit und verfassungshistorischer Hemdsärmeligkeit ist die anhaltende unkommentierte Präsenz Zeigners als Namensgeber im öffentlichen Raum in Sachsen, prominent etwa in Leipzig Zum Heldenreservoir des realen Sozialismus gehörte der zeitweilig im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftierte Kurzzeitministerpräsident, der 1945 sowjetisch geduldeter Oberbürgermeister

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dialen Mittel zu greifen und ein deutsches Land besetzen und dessen Regierung absetzen zu lassen Als Zeigner62 KPD-Minister in sein Kabinett holte, wusste er sehr wohl, dass diese Partei die parlamentarisch-demokratische Grundlage der sächsischen Verfassung ablehnte und 1921 aus ihrer Mitgliederschaft linksextremistische Sprengstoffanschläge auf öffentliche Gebäude in verschiedenen Städten Sachsens verübt worden waren 63 Nun schikanierten sogenannte proletarische Hundertschaften Besitzbürger, Geistliche und Bauern – das durch den Hitlerputsch, die eskalierende Hyperinflation und die Ruhrbesetzung ohnehin schon gesamtdeutsche Krisenjahr 1923 hatte in Sachsen mithin noch schrillere Töne Sechsmal stellte die SPD den Ministerpräsidenten, einmal die DVP, einmal die DNVP Keiner von ihnen amtierte länger als fünf Jahre In den Jahren von 1918 bis 1933 gab es mithin acht Regierungen Im Vergleich zu lediglich 14 Kabinetten in den 88 Jahren der Gültigkeit der Verfassung der Königreichs Sachsen war das ein behänder Ausdruck von Unrast und Kurzlebigkeit des politischen Lebens des Weimarer Republik 64 Die Erweiterungen der Partizipationsmöglichkeiten durch das Frauenwahlrecht wurden weder als emanzipatorischer Gewinn wahrgenommen noch intensiv genutzt Von den insgesamt 346 Abgeordneten65 der Jahre 1919 bis 1933 waren lediglich 19 weibliche Mandatsträger 66 Unter ihnen befanden sich zwar mit der Regierungsrätin im Innenministerium und DDP-Abgeordneten Else Ulich-Beil (1886–1965)67 und mit Julie Salinger (1863–1942)68 gleich zwei herausragende Frauenrechtlerinnen und zentrale Figuren der liberal-demokratisch emanzipatorischen Verbandsarbeit Aber obwohl ihre Mühen bei der Ausgestaltung der Zivilgesellschaft und einem bürgerlichen Miteinander nicht zu unterschätzen sind, erreichten diese linksliberalen, (im Falle Salingers gar jüdischen) Akteurinnen im protestantisch-atheistischen Sachsen keine Breitenwir-

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von Leipzig geworden war, weil er in der Sache notorisch blieb: Er gehörte zu den wichtigsten Verfechtern der Vereinigung von SPD und KPD Mike Schmeitzner, Erich Zeigner, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hg ), Sächsische Justizminister 1831–1950, Dresden 1994, 91–116 Vgl Kroll, Geschichte Sachsens, 104 Drehwald/Jestaedt, Sachsen, 53 Vgl zu den Landtagsabgeordneten Janosch Pastewka, Koalitionen statt Klassenkampf Der sächsische Landtag in der Weimarer Republik (1918–1933), Ostfildern 2018, 123–150, bes 132–136 Und zuletzt die betreffenden Abschnitte bei Uwe Israel  / Josef Matzerath, Geschichte der sächsischen Landtage, Ostfildern 2019, 263–278 Nicht grundlegend anders sah das Geschlechterverhältnis einige hundert Meter weiter in Dresdner Rathaus aus: Von den insgesamt 269 Mitgliedern des Stadtverordnetenkollegiums der Jahre 1919 bis 1933 waren nur 29 Frauen Anita Maaß, Politische Kommunikation in der Weimarer Republik Das Dresdner Stadtverordnetenkollegium 1918–1933, Leipzig 2009, 103 Die lesenswerte Autobiographie der Ehefrau des langjährigen Hochschulreferenten im sächsischen Ministerium für Volksbildung Robert Ulich (1890–1977) ist ein Spiegel Sachsens in der Weimarer Republik Else Ulich-Beil, Ich ging meinen Weg Lebenserinnerungen, Berlin 1961 Vgl den Eintrag in der Sächsischen Biographie (http://saebi isgv de/biografie/Julie_Salinger_ (1863-1942)

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kung – erst recht keine über das Jahr 1933 hinausreichende 69 Der Lebensweg dieser beiden Abgeordneten steht für die ambivalente Entwicklung der politischen Kultur in Sachsen Dessen Verfassung ermöglichte und begünstigte zwar gesellschaftliche Reformen, für die die Mehrheitssozialdemokraten, die DDP und in Ansätzen auch die in Sachsen besonders konservative DVP standen Aber auch der Reaktion und den Anhängern der bolschewistischen Revolution garantierte die Verfassung Freiräume, die diese wie jene bis an die Grenzen des juristisch Möglichen ausreizten Die Suche nach einer besonderen, auf die Verfassung des Jahres 1920 gegründeten Landesidentität ist daher schwer Denn außer im Dialekt, der gemeinsamen Vergangenheit im Königreich Sachsen und einem gelegentlich ohnmächtigen Gefühl der Überforderung durch die Offenheit der erlebten Gegenwart70 verband radikale Proletarier im Umfeld der KPD (und später changierend auch der NSDAP), moderatere Arbeiterkreise im Vorhof der SPD, bildungsbürgerliche Eliten in den Städten mit Neigungen für die DDP, wirtschaftsbürgerliche Kreise als Anhänger von Stresemanns DVP und zuletzt beinharte konservative Landbesitzer in erzprotestantischen Refugien wenig Verfassungsfeiern waren denn auch Minderheitenveranstaltungen von und für die SPD und die Vertreter des Linksliberalismus Dass 1927 mit der zentralen Verfassungsfeier des Reiches in Leipzig eine besonders publikumswirksame Veranstaltung durchgeführt wurde, ändert nichts daran, dass die im Wesentlichen vom Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold getragene Erinnerung an das Inkrafttreten der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 bei Anhängern von Parteien jenseits von SPD und DDP71 auf wenig Interesse stieß Stichwortsuchen in den Beständen des Sächsischen Hauptstaatsarchivs in Dresden verweisen lediglich auf das dortige Sammeln von Informationen zu einzelnen Feiern der Reichsverfassung 72 Einzelüberlieferungen in sächsischen Staatsarchiven finden sich etwa zu einer „Verfassungsfeier zur Würdigung des Verfassungstages am 11 August 1927 an der Lessingschule in Kamenz“73, zu Feiern anlässlich der „Verfassung des Deutschen Reiches“ in Wurzen (1919–1932)74, zu Feiern in Trebsen (1922–1929)75, in Markranstädt (1923–1934)76, in der Amtshauptmannschaft Zittau

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Else Ulich-Beil erhielt Berufsverbot, Julie Salinger wurde 1942 in Theresienstadt ermordet Vgl zu den Gefühlslagen das stoffreiche, wenn auch gelegentlich etwas erratische Buch von Freya Klier, Dresden 1919, Freiburg 2018 Vgl zum Reichsbanner in Sachsen und der unter dem Motto „Ein Volk, ein Reich, ein Recht“ durchgeführten Verfassungsfeier des Jahres 1927 Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen 1924–1933, Köln u a 2009 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 10702 Staatskanzlei, Nachrichtenstelle, Nr   0014 (1921– 1924) und Nr  0015 (1925–1928) Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 50014 Amtshauptmannschaft Kamenz, Nr  15 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20629 Stadt Wurzen, Nr  0092 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20627 Stadt Trebsen, Nr  1151 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20612 Stadt Markranstädt, Nr  0075

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(1922–1943 sic!)77, in der Amtshauptmannschaft Annaberg (1923–1933)78, in der Amtshauptmannschaft Borna (1923–1933)79 und in Chemnitz 1926 80 Und auch in einzelnen Stadtarchiven finden sich Dokumente, die Feiern des Verfassungstages81 oder das Verteilen der Reichsverfassung durch Schulämter belegen 82 Die Tagespresse dokumentierte Verfassungsfeiern, wobei die Kommentare je nach der politischen Ausrichtung des Mediums ganz unterschiedlich ausfielen 83 Entscheidend bei den Hinweisen auf und Berichten über die Feiern ist aber stets das Datum im August: Es handelte sich um die Reichs-, nicht um die sächsische Landesverfassung vom 4 November 1919 Auch wenn letzterer hier und da gedacht worden sein mag, fehlte ihr das integrative Moment, das der Reichsgründungstag, der Sedantag oder auch Bismarcks Geburtstag in liberal-konservativen Kreisen noch immer hatten und dem SPD und DDP mit dem Feiern der Reichsverfassung nur in Ansätzen begegnen konnten Der hier deutlich werdenden Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit standen einigende traditionelle Unterströme im Vereinswesen, der kulturellen Vergesellschaftung in der Region und – kaum verwunderlich – in den beharrlichsten Milieus des staatlichen Lebens gegenüber: in der Verwaltung, der Justiz84, dem Militär, dem Verbandswesen und den Hochschulen 85 Ihre Strukturen blieben bei allen republikanischen Neuerungen eigentümlich unberührt vom tagespolitischen Trubel In Artikel 54 der Sächsischen Verfassung wurde bestimmt, dass königliche Gesetze und Verordnungen in Kraft blieben, wenn sie mit den republikanischen Verfassungen in den Ländern und im Reich vereinbar waren So kam es neben etlichen Novellierungen nur zu we-

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Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Staatsfilialarchiv Bautzen, 50016 Amtshauptmannschaft Zittau, Nr  51 Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz, 30041 Amtshauptmannschaft Annaberg, Nr  95 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20025 Amtshauptmannschaft Borna, Nr  0018 Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 12785 Personennachlass Richard Seyfert, Nr  804 In der Landeshauptstadt etwa für den Zeitraum 1929–1933 (Stadtarchiv Dresden 2 3 1–826) Wiederum in Dresden (Stadtarchiv Dresden, 2 3 20–0013) Die SPD-nahe „Leipziger Volkszeitung“ berichtete am 12 August 1926 über die Feiern der Beamten und Angestellten der sächsischen Regierung Die liberalen „Dresdner Neuesten Nachrichten“ dokumentierten am 12 August 1927 eine Rede des sächsischen DDP-Politikers Wilhelm Külz („Dr Külz zum Verfassungstag“) Die nationalsozialistische Presse forderte 1932 das Ende der staatlich organisierten Verfassungsfeiern an Schulen (Art : „Antwort, Herr Ministerpräsident Hinweg mit den Verfassungsfeiern!“, in: „Der Freiheitskampf “ vom 1 Juli 1932, 4) Als Beispiel ungebrochener Kontinuität sei hier lediglich die Übernahme des Richteramts beim Oberverwaltungsgericht in Dresden durch den kaiserlichen Karrierejuristen und zeitweiligen Diplomaten, (sächsischer Bevollmächtigter beim Bundesrat) Gottfried von Nostiz-Drzewiecki genannt, der von 1920 bis 1928 amtierte Christoph Jestaedt, Das sächsische Oberverwaltungsgericht von 1901 bis 1941 im Spiegel seiner fünf Präsidenten, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hg ), Sächsische Justizgeschichte, Bd  1: Das Sächsische Oberverwaltungsgericht Verwaltungsgerichtsbarkeit in Sachsen 1901 bis 1993, Dresden 1994, 14–21 Vgl als Beispiel dieser verbreiteten institutionellen Longue durée pars pro toto Ewald Frie, Wohlfahrtsstaat und Provinz Fürsorgepolitik des Provinzialverbandes und des Landes Sachsen 1880–1930 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd  8), Paderborn 1993

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nigen neuen Gesetzen, etwa bei dem hochumstrittenen Thema gemeinsamer Volksschuljahre für alle Kinder86 oder im Polizeiwesen Auch die Landesuniversität Leipzig legte Wert auf ihre überkommene, tief in der Monarchie verwurzelte Dignität, der von Seiten fortschrittlicher Ministeriumskreise nur schwer beizukommen war87, so lange aus den Reihen des Mittelbaus und der Studenten kein diesbezügliches Echo kam Die Passivität der nichtorganisierten Studenten, d h das Verstreichenlassen der am ehesten zur Festigung des republikanischen Gedankens geeigneten Gelegenheit beklagte 1927 der einstige Leipziger Student und Promovend Erich Kästner in einer auch auf das übrige politische und gesellschaftliche Leben Sachsens zutreffenden Weise: Alle jene Studenten, die dem Schulzwang erleichtert entrannen und die auf eine beruflich geordnete Zukunft, um der augenblicklichen Freiheit willen, mit Schrecken blicken; alle jene heimlichen Künstler und Weltverbesserer, alle jene Eigenbrötler und Grübler – also die wirklich Werdenden und Arbeitsamen, die Nichtorganisierten […] wollen von Studentenschaft und Zugehörigkeit nicht wissen Sie pfeifen, mehr oder weniger hörbar, auf ihre akademischen Bürgerrechte Sie wählen nicht Und werden darum in ihrem Verwaltungsparlament kaum oder gar nicht vertreten So kam in der Deutschen Studentenschaft (D St ) eine gleichförmige Majorität zu Stande, deren Ideale in der Vergangenheit liegen, in der Reaktion, im Nationalismus, im Deutschtümeln […] Wenn sich aus diesen Kreisen einmal der größte Teil republikanischer Lehrer, Richter, Diplomaten und Minister rekrutieren, so ist das deutsche Volk berechtigt, schon heute ernste Sorgen auszustehen Einzig die studentischen Republikaner können hier helfen […] Was von ihnen zu fordern ist, lautet: Es ist vorbei mit dem Zeitalter des abseitigen, selbstgefälligen Studententums […] Der freie, sozial fühlende Student von heute gehört in politische Veranstaltungen genau so gut wie in den Hörsaal, an die Wahlurnen so gut wie vor echte Rembrandts, in staatsbürgerliche Kollegs so gut wie ins Theater Der republikanische Student halte es nicht für unter seiner Würde, über Demokratie und Diktatur zu diskutieren 88

Wie wenig Kästners Warnungen verfingen, ist allgemein bekannt Er äußerte sie immerhin in einer Zeit der Hoffnung Das weithin als Konsolidierungsphase der Weimarer Republik bezeichnete Jahrfünft von 1924 bis 1929 machte sich in Sachsen beson-

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Vgl dazu Ulf Morgenstern, „Der Kaiser dankt ab!“ Demokratisierungsansätze des Schul- und Hochschulwesens in der Weimarer Republik, in: Sonderband 7 zum Theodor-Litt-Jahrbuch („1918– 2018: Demokratie und Bildung – Anspruch und Wirklichkeit“, hrsg v Peter Gutjahr-Löser / Jürgen Ronthaler / Dieter Schulz), Leipzig 2019, 31–48 Vgl zu dieser in sich als Übungsfläche für Demokratie prädestinierten, oft aber elitärer Ordinarien-Beharrung und reaktionärer studentischer Minderheitenpolitik ausgelieferten Institution Beatrix Dietel, Die Universität Leipzig in der Weimarer Republik Eine Untersuchung zur sächsischen Hochschulpolitik, Leipzig 2015 Erich Kästner, Die Deutsche Studentenschaft ist eine Zwangsorganisation aus der Rätezeit, in: Neue Leipziger Zeitung vom 9 Januar 1927

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ders im Handel spürbar, weniger in der Industrie, wo der Ausfall Österreichs, die neue tschechische Konkurrenz und mangelnde Innovationen für Stagnation sorgten Gerade die Leitbranche, die Textilindustrie, zeigte dieses Manko auf alarmierende Art und Weise: Die Radikalisierung der Arbeiterschaft auf der extremen Linken und der frühe Aufstieg des Nationalsozialismus gediehen angesichts dieser sozialen Verwerfungen Der aus dem sächsischen Vogtland, einer traditionellen Heimstatt von Spitzen-, Weberei- und Strickfabriken, stammende spätere Gauleiter Martin Mutschmann (1879– 1947) personifiziert geradezu die besonders nach der Weltwirtschaftskrise unverhohlen zum Ausdruck kommende mangelnde Loyalität nicht weniger Sachsen gegenüber der Republik Früh arbeitete er aktiv in der (1923 auch in Sachsen verbotenen) NSDAP mit, wo seine Plauener Ortsgruppe neben denen in Zwickau und Chemnitz zu den aktivsten zählte 89 1930 stellte die NSDAP mit 14 Abgeordneten die zweistärkste Fraktion im Landtag, gefolgt von der ebenfalls auf das Ende der parlamentarischen Demokratie hinarbeitenden KPD mit 13 Sitzen 90 Die Beamtenregierung unter dem seit Mai 1930 in Brüningscher Manier eine strikt deflationistische Politik betreibenden letzten demokratischen Ministerpräsidenten Walther Schieck (1874–1946) hatte dieser Radikalisierung der Wählerschaft wenig entgegenzusetzen Das als stoisches Handlungsmotto ausgegebene Bewahren der Ruhe verhalf der Gültigkeit der Verfassung noch zu einer knapp dreijährigen Verlängerung Inzwischen tobten als szenische Begleitung der Weltwirtschaftskrise im „Roten Sachsen“ Straßenkämpfe zwischen den beiden unter dieser Farbe marschierenden Parteien In der Erinnerung der aus Chemnitz stammenden Journalistin Gudrun Tempel heißt es dazu: „Straßenschlachten wüteten in ganz Sachsen mit seinen vielen Millionen Arbeitslosen und in jeder Woche gab es Morde, Nazis, von den Kommunisten erstochen, Kommunisten, von den Nazis umgebracht “91 Allein von Jahresbeginn 1933 bis Mitte Februar wurden in Sachsen 117 politisch motivierte Schlägereien mit zahlreichen Toten verzeichnet 92 Wirtschaftliche Verunsicherung mündete in offener Brutalität, die zum Kalkül von KPD und NSDAP gehörte 93 Ein anderes Mittel war die permanente antiparlamentarische Propaganda, deren Wirkung auf die Dauer die Verfassungstreue der Bürger nicht eben bestärkte: Wenn aus NS-Kreisen behauptet wurde, die nach einem Misstrauensvotum im Mai 1930 kommissarisch amtierende Regierung Schieck repräsentiere nicht den politischen

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Andreas Wagner, Martin Mutschmann Der braune Gaufürst (1935–45), in: Schmeitzner/Wagner (Hgg ), Von Macht und Ohnmacht, 279–308, zum Aufstieg s bes 284–290 Szejnmann, Vom Traum zum Albtraum, 142 Gudrun Tempel, Deutschland Aber wo liegt es? Wiederbegegnung mit einem Vaterland, Reinbek 1962, 52 Erika von Bose, Carl Emil Mannsfeld (1865–1945) Sächsischer Justizminister vom Juli 1929 bis März 1933 – eine biographische Skizze, in: Sächsisches Staatsministerium der Justiz (Hg ), Sächsische Justizgeschichte, Bd  7: Von Weimar bis zur Gegenwart, Dresden 1998, 63 Benjamin Lapp, Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Sachsen, in: Reiner Pommerin (Hg ), Dresden unterm Hakenkreuz, Köln u a 1998, 1–24

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Willen der Sachsen, so mochte das den Stimmungen des rechten Lagers entsprechen, verfassungsrechtlich war der Anwurf unhaltbar 94 Gleichwohl verfingen die Parolen bei immer mehr sächsischen Wählern, auch wenn es hier für die NSDAP im November 1932 kurzzeitig zu jenen Einbrüchen kam, die sich auch anderswo im Reich zeigten 95 Derlei parlamentarisch-demokratische Grundregeln wurden allerdings binnen weniger Monate obsolet, da nach der Berliner Machtergreifung im März 1933 auch in Dresden ein Staatsstreich stattfand, in dessen Folge der DVP-Ministerpräsident durch einen vom Reichsinnenminister auf Grundlage der „Reichstagsbrandverordnung“ eingesetzten Polizeikommissar ersetzt wurde Schieck demissionierte am 10 März 1933 96 Fazit Wenn im größten deutschen Land bereits 1932 der sogenannte Preußen-Schlag ein eigenständiges Verfassungsleben außer Kraft setzte, geschah dies in Sachsen erst durch das „Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31 März 1933“ 97 Die Tradition eigener staatlicher Verfasstheit wurde dann vollends abgerissen mit dem „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30 Januar 1934“ 98 Bei den halbfreien Reichstagswahlen am 5 März 1933 votierten 45 Prozent der sächsischen Wähler für die NSDAP und damit absehbar und offen gegen die demokratische Verfassung aus dem Jahr 1920 Damit war die von Krisen geplagte Republik am Ende Lag es an der Verfassung? Wohl kaum, denn schließlich hatte sie zwölf Jahre erfolgreich den Rahmen des politischen Lebens im Freistaat Sachsen garantiert, auch wenn sie von einer starken KPD und seit etwa 1927 auch von der NSDAP unter Dauerfeuer genommen wurde Die spezifische Bevölkerungsstruktur des hochindustrialisierten Mittelstaats mit einer vormals mehrheitlich evangelisch-lutherischen, inzwischen stark kirchenfernen Bevölkerung war ein fruchtbarer Nährboden für das Erstarken der politischen Extreme Hier war nach dem Ende der Monarchie etwas ins Rutschen geraten, das eine vor allem von den Sozialdemokraten getragene Verfassung nicht auffangen konnte Die von mehr als einer halben Million Menschen besuchte Beerdigung Friedrich Augusts III war – abgesehen von ihren nostalgisch-rührseligen Zügen und dem unzweifelhaften

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Vgl den Zeitungsartikel „Kampf dem Zentralismus“ in: „Der Freiheitskampf“ vom 30 April 1932 Gunda Ulbricht, Die Wahlen in Dresden 1932/33, in: Pommerin (Hg ), Dresden unterm Hakenkreuz, 25–42 Andreas Wagner, Walther Schieck Der Ministerpräsident der Krise (1930–1933), in: Schmeitzner/ Wagner (Hgg ), Von Macht und Ohnmacht, 241–256 Vgl Ulrich von Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft, München 1996, 7 Vgl dazu eingehend Andreas Wagner, „Machtergreifung“ in Sachsen NSDAP und staatliche Verwaltung 1930–1935, Köln 2004; ders , Mutschmann gegen von Killinger Konfliktlinien zwischen Gauleiter und SA-Führer während des Aufstiegs der NSDAP und der „Machtergreifung“ im Freistaat Sachsen, Beucha 2001

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Event-Charakter – ein Sinnbild für das Hadern mit der auf eine nüchterne Verfassung gegründeten parlamentarischen Demokratie Um beim Visuellen zu bleiben: Die Sehgewohnheiten der Sachsen knüpften beim Aufmarsch für den verstorbenen Ex-König 1932 an Bekanntes an, das in der bürgerliche Zivilität produzierenden Republik aus dem Straßenbild gewichen war 99 Der parlamentarischen Demokratie fehlten offenkundig der zustimmungsfähige Pomp und die Attraktivität durch Inszenierungen, Rituale und – nicht zuletzt – auch die exekutive Effektivität Die SPD, die zurecht als „die“ sächsische Partei100 bezeichnet wird, und nach ihr die konservative Beamtenregierung Walther Schiecks, legten sich zwar staatsmännisch in die Riemen, aber sie erzeugten bei den sächsischen Wählern nicht das, was das aus der Sprechakttheorie entlehnte Konzept der Performativität als „performative Wahrheit“101 bezeichnet Beileibe nicht nur in Sachsen und auch nicht nur in Deutschland gelang es demokratischen Regierungen der „Krisenzeit der klassischen Moderne“102 nicht, die Bürger einerseits und die konservativen Institutionen (Verwaltung, Justiz, Hochschulen, Kirchen usw ) andererseits vom verfassungsrechtlich geregelten Wettbewerb der politischen Ideen zu begeistern, zu vereinnahmen, ja sie notfalls sogar zu überrumpeln Dies gelang – horribile dictu – den Feinden der Verfassung und der Wahrheit Ulf Morgenstern, 2005–2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter und wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Leipzig, seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung, seit 2014 Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg

Vgl dazu den Sammelband von Hans Vorländer (Hg ), Zur Ästhetik der Demokratie Formen der politischen Selbstdarstellung, Stuttgart 2003, und dort besonders die Einführung des Herausgebers 11–26 100 Thomas Mergel, Milieu und Region Überlegungen zur Ver-Ortung kollektiver Identitäten, in: James Retallack (Hg ), Sachsen in Deutschland Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000, 273 101 Vgl dazu den an einem alttestamentarischen Beispiel argumentierenden Jan Assmann, Exodus: Die Revolution der Alten Welt, München 2015, 389 f 102 Vgl dazu eingehend Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder deutscher „Sonderweg“? Überlegungen zum Projekt Faktoren der Stabilität und Instabilität in der Demokratie der Zwischenkriegszeit Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Horst Möller / Udo Wengst (Hgg ), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte Eine Bilanz, München 1999, 365–381 99

Chancen und Grenzen verfassungspolitischer Integration Thüringen Stefan Gerber Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 181–195

Abstract: During the early modern period and in the “long” 19th century, the Thuringian region was characterized by territorial and dynastic diversity and fragmentation Eight small Thuringian states existed since 1826; in addition, “Prussian Thuringia” made up a third of the region In the small states of Thuringia, a lively political and constitutional life developed in the first half of the 19th century: A process of constitutionalization in the Grand Duchy of Saxony-Weimar-Eisenach since 1809 ended in 1816 with one of the first German constitutions By 1848/49 almost all other Thuringian states received modern representative constitutions In the state parliaments developed early political parties Besides some conservative-agrarian strongholds, moderate and left wing liberalism dominated In the German Empire, the Social Democrats gained more and more influence The last Reichstag election before the First World War in 1912 made them the by far strongest party in the area Regardless of all political and social tensions, a broad-based constitutional culture had developed in Thuringia in the German Confederation and in the German Empire The political system had demonstrated its potentials and its capability of development The revolution of 1918/19 after the lost World War broke off this development The small-state monarchies quickly capitulated The revolutionaries initially wanted to achieve rapid consolidation The founding a state of Thuringia, which finally came to its goal in 1920 through the unification of almost all of the small states of Thuringia, was understood as a republican reform project Nevertheless, the founding of the state in 1920 did not lead to new political integration and a viable republican constitutional culture The left formed by the SPD, USPD and KPD and the bourgeois parties quickly faced each other irreconcilably In 1923 a state government supported by the anti-republican communists was ended by the intervention of the Reich This early fragmentation of political culture contributed to the fact that Thuringia already received a National Socialist-led state government in 1932 So Thuringia was both at the same time: An example of a successful foundation of democracy after the First World War and an example of the limits of political integration in the Weimar Republic from its very beginning

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Der thüringische Raum stellte im Rahmen der deutschen Demokratiestiftung nach dem Ersten Weltkrieg insofern einen Sonderfall dar, als sich hier 1919/20 die einzige erfolgreiche Länderneubildung der jungen Weimarer Republik vollzog 1 Von ihren Protagonisten wurde dieser Prozess dezidiert als republikanisches Reformprojekt verstanden, das modellbildend für die Entwicklung der gesamten deutschen Republik sein könne und müsse: Die von der Revolution auf die politische Tagesordnung gesetzte Überwindung der kleinstaatlichen Struktur Thüringens, so die linksliberale „Weimarische Landeszeitung Deutschland“ schon im November 1918, sei eine „bedeutsame Probe für die staatsgestaltende Kraft des neuentstehenden deutschen Volksstaates“ 2 Der Schöpfer der ersten Thüringer Landesverfassung von 1921, der Jurist und DDPPolitiker Eduard Rosenthal3, formulierte als Ziel, „im Herzen Deutschlands einen modernen Einheitsstaat zu schaffen“4, von dem Reformimpulse für den – vor allem durch die ungelöste Preußen-Frage belasteten  – Föderalismus der ersten deutschen Republik ausgehen sollten Freilich geriet das „Projekt“ Thüringen staats- und verfassungspolitisch schnell ins Schlingern: Der ab 1921 eingeschlagene Linkskurs der dominierenden MSPD und USPD, der im Oktober 1923 zu einer förmlichen Regierungsbeteiligung der KPD und, wie im benachbarten Sachsen, zur Reichsexekution gegen das neugegründete Land führte, hatte für die politische Kultur Thüringens in der Weimarer Republik gravierende Folgen: Der Linksliberalismus war schon zu Beginn der 1920er Jahre parteipolitisch nahezu aufgerieben; der politische Katholizismus fiel in der konfessionell vollständig protestantisch geprägten Region als Ausgleichskraft aus; ein Linksblock und das bürgerliche Lager standen sich  – ungeachtet verschiedener Kooperationen – prinzipiell konfrontativ gegenüber Dass Thüringen schon im Januar 1930 als erstes deutsches Land eine zunächst nur vorübergehende Regierungsbeteiligung der NSDAP in Gestalt des Innenministers Wilhelm Frick erlebte und bereits ab Sommer 1932 von der ersten nationalsozialistisch geführten Landesregierung unter

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An Territorialreformen kam es in der Weimarer Zeit sonst nur zur Bildung von Groß-Berlin (1920), dem im Zusammenhang der Thüringer Landesgründung stehenden Anschluss des Freistaates Coburg an Bayern (1920) und dem Anschluss von Waldeck-Pyrmont an Preußen (1922/1929) Felix Pischel, Zur Frage der Grenzen und inneren Gliederung des künftigen einheitlichen Staatsgebietes Thüringen, in: Weimarische Landeszeitung Deutschland, 21 November 1918 Zu ihm vgl Gerhard Lingelbach, Eduard Rosenthal (1859–1926) Rechtsgelehrter und „Vater“ der Thüringer Verfassung von 1920/21, Erfurt 2006 Verhandlungen des Volksrates von Thüringen 1919/20, Stenographische Berichte, 1 Sitzung, 16  Dezember 1919, Weimar 1920, 3

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Gauleiter Fritz Sauckel regiert wurde, hat in diesen „zwei Radikalisierungen“5 von links und rechts eine wesentliche Ursache 6 Dass Thüringen so in ganz anderer Weise zum politischen „Laboratorium“ wurde, als Rosenthal und viele Verfassungsschöpfer von 1920/21 es erhofft hatten, war im späten Kaiserreich allerdings kaum absehbar gewesen Nimmt man die Landesgründung und Verfassunggebung von 1920/21 in den Blick, ist es daher unabdingbar, zunächst auf Verfassungssysteme und politische Kultur der thüringischen Staaten im „langen“ 19  Jahrhundert zu schauen Anschließend muss der Revolutionsprozess von 1918/19 selbst thematisiert werden, der – auch in verfassungs- und staatspolitischer Perspektive  – in den acht thüringischen Staaten z T divergent verlief Schließlich gilt es in einem dritten Schritt die Landesbildung und die Entstehung der ersten Thüringer Verfassung vom 11 März 1921 zu betrachten und die Frage nach den politischen Integrationspotenzialen zu stellen, die dieser verfassungsrechtliche Rahmen bot Zwischen Frühkonstitutionalismus und Neokorporatismus – Verfassungsentwicklung und politische Kultur im „langen“ 19. Jahrhundert Die konstitutionelle Tradition der thüringischen Staaten reicht deutlich vor die Gründung des Deutschen Bundes 1815 zurück Im größten thüringischen Staat, dem Herzogtum (seit 1815 Großherzogtum) Sachsen-Weimar-Eisenach war 1809 mit der „Konstitution der vereinigten Landschaft“ in schwieriger finanzieller Lage angesichts der Forderungen des napoleonischen Systems an den kleinen Rheinbundstaat eine einheitliche Ständevertretung für das Land geschaffen worden Sie besaß ein obligatorisches Beratungsrecht des (nun einheitlichen) Staatsetats sowie der Landesgesetze und leitete in Sachsen-Weimar einen Konstitutionalisierungsprozess ein, der zur ersten Verfassung des mit dem Wiener Kongress auch territorial vergrößerten Großherzogtums vom 5 Mai 1816 führte Sie schuf einen in drei Wählerklassen von allen männlichen Einwohnern mit Bürgerrecht oder Haus- und Grundbesitz zu wählenden Landtag, der als Gesamtvertretung des Landes konzipiert war und dessen Befugnisse sich denen

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So Helge Matthiesens Deutung der Prozesse am Beispiel Gothas Vgl Helge Matthiesen, Zwei Radikalisierungen – Bürgertum und Arbeiterschaft in Gotha 1918–1923, in: Geschichte und Gesellschaft 21/1995, 32–62; ders , Bürgertum und Nationalsozialismus in Thüringen Das bürgerliche Gotha von 1918 bis 1930, Jena 1994 Diese Deutung ist auch im Lichte der Differenzierungen, die Timo Leimbach in seiner Studie zum Thüringer Landtag in der Weimarer Republik herausarbeitet hat und die von Karsten Rudolph aufgegriffen worden sind, grundsätzlich noch immer plausibel Vgl Timo Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20–1933, Düsseldorf 2016; Karsten Rudolph, Die Aufgabe der Staatsbildung Die Thüringer Sozialdemokratie zwischen Revolution und Gegenrevolution 1918–1930, in: Stefan Gerber / Werner Greiling / Marco Swiniartzki (Hgg ), Thüringen im Industriezeitalter Konzepte, Fallbeispiele und regionale Verläufe vom 18 bis zum 20  Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2019, 277–289

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eines im vollen Sinne konstitutionellen Parlamentes annäherten: Ein Steuerbewilligungs- und Finanzkontrollrecht, das in der Verfassungspraxis der Jahre vor 1848 weiter in Richtung eines Budgetsrechts entwickelt wurde; ein Recht zur „Gesetzes-Motion“, das „einem förmlichen Gesetzesinitiativrecht nahekam“7, die Ministeranklage und das Gegenzeichnungsrecht der Minister Auch wenn diese Verfassung damit noch hinter dem konstitutionellen Ideal zurückblieb, fand sie in der liberal-nationalen Öffentlichkeit Deutschlands (z B auf dem Wartburgfest von 1817) doch recht breiten Widerhall, besonders, weil Großherzog Carl August in ihrem letzten Abschnitt versicherte, ein „Recht auf Freiheit der Presse, hierdurch ausdrücklich anerkennen und gesetzlich begründen“ zu wollen 8 Auch eine Reihe anderer thüringischer Staaten erhielt in den Jahren bis 1830 ähnliche Repräsentativverfassungen: Sachsen-Hildburghausen 1818, Sachsen-Meiningen 1824 und 1829 (nach der territorialen Neuordnung der thüringischen Staaten 1826, die zu einer wesentlichen Vergrößerung des Herzogtums führte), Sachsen-Coburg-Saalfeld (wo es 1807 bereits den Versuch der Einführung einer rheinbündischen Verfassung nach dem Modell des Königreichs Westphalen gegeben hatte) 1821 Die zweite „Verfassungswelle“ im Gefolge der Revolution von 1830 brachte dem 1826 gebildeten Herzogtum Sachsen-Altenburg 1831 eine Verfassung, die einen Grundrechtskatalog und verhältnismäßig weitegehende Mitwirkungs- und Kontrollrechte des Landtages über den Staatshaushalt enthielt Das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, dessen „Landtständische Verfassungsurkunde“ von 1831 noch ein Ständestatut alten Zuschnitts gewesen war, trat mit der Verfassunggebung von 1841 in die Reihe der konstitutionellen Staaten ein In Schwarzburg-Rudolstadt hatte Fürst Friedrich Günther in Erfüllung von Artikel 13 der Deutschen Bundesakte bereits am 8 Januar 1816 eine „neue Organisation der ständischen Verfassung“ erlassen, die dem Ständelandtag das Recht der Steuerbewilligung übertrug und 1821 durch einen Landtagsabschied in konstitutioneller Richtung ausgebaut wurde 9 Dass sich auf dieser Grundlage in den meisten thüringischen Staaten während der ersten drei Jahrzehnte des Deutschen Bundes ein konstitutionelles Leben und eine wachsende Differenzierung der politischen Kräfte entwickelt hatte10, zeigte sich in den 7 8 9 10

Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, 2 Tl , Frankfurt a M u a 1979, hier Tl 1, 113 Grundgesetz einer Landständischen Verfassung für das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, 5 Mai 1816, in: Michael Kotulla (Bearb ), Thüringische Verfassungsurkunden Vom Beginn des 19  Jahrhunderts bis heute, Berlin/Heidelberg 2015, 811–832, hier 832 Vgl zum Überblick über diese Vorgänge und zur Spezialliteratur: Thüringer Landtag (Hg ), 175 Jahre Parlamentarismus in Thüringen (1817–1992), Erfurt 1992; Thüringer Landtag (Hg ), Thüringische Verfassungsgeschichte im 19 und 20  Jahrhundert, Erfurt 1993 Am besten untersucht ist hier der sachsen-weimarische Landtag bis 1848: Henning Kästner, Der Weimarer Landtag 1817–1848 Kleinstaatlicher Parlamentarismus zwischen Tradition und Wandel, Düsseldorf 2014

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Vormärzjahren: Neben Ansätzen zu einer koordinierten liberalen Kammeropposition, deren bekanntester Vertreter der sachsen-weimarische Abgeordnete Oskar von Wydenbrugk war, vermittelten vor allem die Thüringer Sängerfeste 1843–1847 einen Eindruck von der Popularität liberaler und nationaler Reformforderungen für Einzelstaaten und Bund Auf dem Eisenacher Liederfest im August 1847 forderte Wydenbrugk vor fast 20 000 Teilnehmern energisch solche Reformen des politischen Systems ein 11 In der Märzbewegung des Jahres 1848 avancierten die Landtage schnell zu Zentren der einzelstaatlichen Politik und leiteten teilweise weitgehende Verfassungs- und Wahlrechtsänderungen ein Am weitesten gingen sie in Sachsen-Altenburg und in dem (erst 1848 aus drei bis dahin bestehenden Fürstentümern zusammengefügten) Fürstentum Reuß jüngerer Linie, wo bisher noch keine Repräsentativverfassung existiert hatte Das noch im Dezember 1849 in Kraft getretene „Staatsgrundgesetz für das Fürstentum Reuß jüngere Linie“ sah einen von allen über 25jährigen, ökonomisch selbständigen Steuerzahlern gewählten Landtag vor, der prinzipiell über die Feststellung des Staatshaushaltes sowie über Steuern und Abgaben zu entscheiden hatte und das Recht zur Gesetzesinitiative und zur Ministeranklage besaß Dem Fürsten räumte die Konstitution nur noch bei Verfassungsänderungen ein absolutes, im übrigen Gesetzgebungsverfahren ein lediglich aufschiebendes Veto ein 12 Bereits parlamentarischen Charakter nahm die Verfassung Sachsen-Altenburgs an, wo die Demokraten den Revolutionsprozess dominierten: Der nach allgemeinem, gleichem und direktem Männerwahlrecht gewählte Revolutionslandtag nahm eine Verfassungsreform in Angriff, deren Kernstück ein am 21  Oktober 1848 in Kraft getretenes Gesetz war, das dem Landtag das Initiativrecht in der Gesetzgebung verlieh und dem Herzog in der gesamten Legislative nur noch die Möglichkeit eines einmaligen suspensiven Vetos zugestand 13 Obgleich die in den Jahren 1848 und 1849 entstandenen Verfassungen und Wahlgesetze in den thüringischen Staaten, wie in vielen Staaten des Deutschen Bundes, während der 1850er Jahre Revisionen erfuhren, die insbesondere die Rückkehr zu verschieden ausgestalteten Klassenwahlrechten brachten, wurde der Konstitutionalismus doch keineswegs „zurückgerollt“ In Sachsen-Coburg und Gotha z B , blieb die Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit auch in der Verfassung von 1852 bestehen, so dass das Herzogtum – auch aufgrund der Signale Herzog Ernst II , seine Vollmachten „liberal“ handhaben zu wollen – in den 1850er und 1860er Jahren zu einem 11

12 13

Vgl Hans-Werner Hahn, Die „Sängerrepublik“ unter der Wartburg: Das Liederfest des Thüringer Sängerbundes in Eisenach im August 1847 als Beitrag zur kulturellen Nationsbildung, in: Dieter Hein  / Andreas Schulz (Hgg ), Bürgerkultur im 19   Jahrhundert Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, 195–215 Vgl Reyk Seela, Landtage und Gebietsvertretungen in den reußischen Staaten 1848/67–1923, Jena u a 1996, besonders 34–48 Vgl zum Überblick und besonders zu Sachsen-Altenburg: Gerhard Müller, Die thüringischen Landtage in der Revolution von 1848/49, in: Thüringer Landtag (Hg ), Parlamente und Parlamentarier Thüringens in der Revolution von 1848/49, Weimar 1998, 34–124

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Reorganisationsraum des Nationalliberalismus wurde: Die Linie reichte hier von der Gothaer Versammlung der Liberalen („Nachparlament“) 1849 bis zur Verlegung des Sitzes des Nationalvereins nach Coburg 1859 und seiner Generalversammlungen der 1860er Jahre in Coburg und dem sachsen-weimarischen Eisenach Auch für den eng mit der nationalliberalen Bewegung verknüpften „Kongress deutscher Volkswirte“, der 1858 in Gotha begründet wurde und den „Deutschen Abgeordnetentag“ (Weimar 1862) wurden die thüringischen Kleinstaaten mit ihrer vergleichsweise gemäßigten nachrevolutionären Politik (freilich auch geringer staatlicher Durchsetzungskraft) in der Reichsgründungszeit eine organisatorische Basis Neben Sachsen-Coburg und Gotha galt das besonders für Sachsen-Meiningen und Sachsen-Weimar-Eisenach, mit der Universität Jena, wo einige führende liberale Protagonisten aus dem nun wieder dänisch verwalteten Schleswig-Holstein akademisch Fuß fassen konnten 14 Obwohl all dies neben politischen Faktoren sicher mit der geographischen Mittellage der Region und dem hier bereits recht gut ausgebauten Eisenbahnnetz zusammenhing, war es doch auch Ausdruck und Verstärkung einer politischen Kultur Regional zeigte sich das auch in der selbstbewussten Verfassungskultur, die sich in den Kleinstaaten öffentlich äußerte So besaß z B die Feier des 50-jährigen Jubiläums der sachsen-weimar-eisenachischen Verfassung im Frühjahr 1866 mehrere politische Dimensionen: Kennzeichnend für die konstitutionellen Kleinstaaten Thüringens wurde das Dynastielob vor allem über die historische Parallelisierung zwischen der Reformation als religiösem „Freiheitsstreben“ und „gesetzlicher Entwickelung“15 der Freiheit in der Gegenwart ganz in den politischen Deutungshaushalt des gemäßigten Liberalismus integriert Die weimarische Konstitutionalisierung von 1816 reihte sich damit in eine Linie ein, die von der Protektion der ernestinischen Dynastie für Luther und ihr Eintreten für die Reformation bis zum Verfassungsstaat reichte Bestimmte dieser Tenor den Empfang des Großherzogs Carl Alexander, die Rede des Landtagspräsidenten Hugo Fries und die Toasts der Festmähler, mit denen in den Städten des Großherzogtums das Jubiläum gefeiert wurde, ließ die Verfassungsfeier der Weimarer Turner („bei Rostbratwürsten und Bier“) kämpferische Töne hören Der demokratische Publizist Heinrich Jäde erinnerte daran, dass ein Land nicht „durch eine bloße Verfassungsurkunde“ seine politische Freiheit sichern könne „Der Fürst, der sie unterschrieb, darf sie nicht als ein bloßes Blatt Papier ansehen, das er im Ärger zerknittert, durchlöchert,

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Vgl Stefan Gerber, „Dieses Bethlehem unter den Universitäten …“ Johann Gustav Droysens Berufung nach Jena 1851, in: Klaus Ries (Hg ), Johann Gustav Droysen Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010, 11–30 So der sachsen-weimarische Landtagspräsident Hugo Fries 1866 So zit in Gerhard Müller, Landtagsfeste und -zeremonien in Sachsen-Weimar-Eisenach 1750–1866, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 51/1997, 140–143, hier 141

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wenn nicht zerreißt Und das Volk, das solche Rechte erhalten, muß sie lebendig handhaben und trotzig verteidigen, wenn man sie angreift “16 Noch fast fünfzig Jahre später wurde in Gotha 1902 mit großem Aufwand das Jubiläum der Verfassung für die Herzogtümer Sachsen-Coburg und Sachsen-Gotha von 1852 gefeiert Der 1893 gestorbene Herzog Ernst II wurde dezidiert als konstitutionellliberaler Monarch herausgestellt 17 Inzwischen standen Politik und politische Kultur der thüringischen Kleinstaaten freilich vor ganz neuen Herausforderungen18: Hatten in den Jahrzehnten zwischen der Reichsgründung und 1900 vor allem nationalliberale und gemäßigt-linksliberale sowie (besonders in Sachsen-Weimar und SchwarzburgSondershausen) konservativ-agrarische Kräfte die Landtage dominiert, konnten im frühen 20  Jahrhundert trotz der Klassenwahlrechte fast überall zunehmend die Sozialdemokraten reüssieren Das traf besonders für Sachsen-Meiningen, Sachsen-Gotha und Schwarzburg-Rudolstadt zu Im letztgenannten Fürstentum errang die SPD bei den Wahlen von 1911 und 1912 die absolute Mehrheit der Landtagsmandate, was dazu führte, dass hier mit Franz Winter (1860–1920) erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte ein Sozialdemokrat Präsident eines Landtages wurde In Gotha hatte ab 1901 bereits der SPD-Politiker Wilhelm Bock als Landtagsvizepräsident amtiert Bock stand exemplarisch für die politische Prägung, welche die SPD in den thüringischen Kleinstaaten des späten Kaiserreichs weit überwiegend aufwies: Er steuerte einen dezidiert revisionistischen Kurs und strebte die Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium an, so dass das bürgerliche „Gothaische Tageblatt“ 1901 vorschlug, man solle Bock doch den Titel eines „Herzoglich-Sächsischen Hofsozialdemokraten“ beilegen19 Dem Aufstieg der Sozialdemokratie auf der Ebene der Einzelstaaten versuchten die Regierungen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg u a durch Wahlrechtsänderungen Grenzen zu setzen: Nach dem neuen sachsen-weimarischen Wahlgesetz vom April 1909 gingen zwar 23 der 38 Landtagsabgeordneten aus direkten Wahlen der über 25jährigen männlichen Staatsbürger hervor, doch erhielt das Wahlrecht durch die Ausweitung der privilegierten Wahlen einen neokorporatistischen Zug: Neben den größeren Grundbesitzern und den Höchstbesteuerten, die jeweils 5 Abgeordnete bestimmten, wählten nun auch der Senat der Universität Jena, die Handels-, Handwerks-, Landwirtschafts- und Arbeitskammern des Großherzogtums je einen Abgeordneten In Reuß jüngerer Linie wurde 1913 nach dem Vorbild der sächsischen Wahlrechtsreform von 1909 ein (auch von den Konservativen in Weimar ursprünglich favorisiertes) Pluralwahlrecht eingeführt, das Zusatzstimmen für Einkommen, Grundbesitz, die Vollendung des 50 Lebensjahrs, einen Fachschul- oder Meisterabschluss einführte, so dass

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Weimarische Zeitung, Nr  106, 8 Mai 1866 Vgl auch Adelheid von Schorn, Das nachklassische Weimar Zweiter Teil: Unter der Regierungszeit von Karl Alexander und Sophie, Weimar 1912, 137 f Vgl z B Die Woche 4/1902, Nr  19, 10 Mai 1902, 834 Vgl dazu v a Ulrich Heß, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914, Weimar 1991 Ebd , 474

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ein Einzelwähler auf bis zu fünf Stimmen kommen konnte 20 Auf Reichsebene, wo das gleiche Männerwahlrecht uneingeschränkt galt, konnten solche Maßnahmen nicht greifen: Bei der letzten Reichstagswahl des Kaiserreiches im Januar 1912 lagen 8 der 12 Reichstagswahlkreise des kleinstaatlichen Thüringen sicher in der Hand der Sozialdemokratie Auch in Thüringen wurden die Reichstagswahlkämpfe, die im 20  Jahrhundert mit deutlich wachsendem organisatorischen Aufwand geführt wurden, zu den eigentlichen Kristallisationspunkten der Fundamentalpolitisierung in diesen „Lehrjahren der Demokratie“ 21 Zwar waren Verfassungsreformen hin zum Parlamentarismus auf einzelstaatlicher Ebene blockiert, doch konnte die wachsende organisatorische Stärke der SPD, die 1875 in Gotha gegründet worden war und ihre Reichsparteitage 1896, 1905, 1911 und 1913 im kleinstaatlichen Thüringen abhielt22 mittelfristig nicht ohne Folgen für die regionale politische Kultur bleiben Der revisionistische Weg, den die Sozialdemokraten, die in den thüringischen Staaten nach 1900 mehrheitlich immer weniger als „Systemopposition“ agierten, hier eingeschlagen hatten, wurde allerdings durch Weltkrieg und Revolution abgebrochen Zwischen Parlamentarismus und Räterepublik – Die Revolution 1918/19 in den thüringischen Staaten Entscheidend für das schnelle und zunächst überwiegend konfliktfreie Verschwinden der einzelstaatlichen Monarchien 1918 war die Verbindung zwischen Reichsmonarchie und „Verfall des Kaisergedankens“23 im Ersten Weltkrieg Das seit der Wende vom 19 zum 20  Jahrhundert immer stärker sichtbare Hineinwachsen Wilhelm II in die Rolle eines „Reichsmonarchen“ ließ besonders die kleinstaatlichen Monarchien, aber letztlich alle Bundesfürsten, mehr und mehr als „abgeleitete“ Monarchien erscheinen So wurde der massive Legitimitätsverlust der Reichsmonarchie in der Gestalt des Kaisers, der sich während des Weltkrieges rapide vollzog, mittelbar auch ein Legitimitätsverfall der einzelstaatlichen Monarchie, die vielfach nur noch als „Teilmenge“ der Reichsmonarchie erschien 20 21

22 23

Vgl Gesetzsammlung für das Fürstentum Reuß jüngerer Linie, Nr  817, 22 Januar 1913, 3–26 So die prägnante Kennzeichnung (im englischen Original „Practicing Democracy“) in: Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie Wahlen und politische Kultur in Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009 Die Wahlbewegung zu den Reichstagswahlen in den thüringischen Staaten ist nur ansatzweise untersucht; eine erste umfassende Studie zu Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen wird noch 2020 im Druck erscheinen: Andreas Schulz, An Wipper, Ilm und Saale – Reichs- und Landtagswahlen in den beiden schwarzburgischen Fürstentümern im Kaiserreich, Diss phil , Jena 2019 1896 in Gotha; 1905, 1911 und 1913 in Jena; zudem 1891 in Erfurt im „preußischen Thüringen“ So die prägnante Formulierung bei Bernd Sösemann, Der Verfall des Kaisergedankens im Ersten Weltkrieg, in: John C G Röhl (Hg ), Der Ort Kaiser Wilhelms II in der deutschen Geschichte, München 1991, 145–170

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Zwar hatten sich während des Weltkrieges, vor allem in der Organisation von Kriegswirtschaft und Ernährung, zunehmend die Grenzen der infrastrukturellen Leistungsfähigkeiten der thüringischen Staaten gezeigt, doch schien ihr Ende – ungeachtet der auch im Kaiserreich nie verstummenden Kleinstaaten-Kritik24 – bis in den Oktober 1918 hinein nicht unmittelbar bevorzustehen Die politischen Streiks, die in Thüringen im Februar 1918 einsetzten und sich die Forderungen des Berliner Januarstreiks zu eigen machten, gingen vielfach weiterhin mit Subsistenzprotesten ohne explizite staatspolitische Forderungen Hand in Hand, die von den staatlichen Autoritäten geduldet wurden Tausenden streikenden Arbeitern in den Streikzentren Jena, Gotha und dem preußischen Erfurt, den Arbeiterräten, die auf Forderung der kleinen aber aktiven linksradikalen Gewerkschaftsopposition („Revolutionäre Obleute“) gewählt wurden, standen noch im Februar und März 1918 tausende Arbeitswillige gegenüber Das Kaiserreich war auch in Thüringen im Sommer und Herbst 1918 zwar in einer tiefgreifenden, an Spannung vielerorts zunehmenden Systemkrise, aber noch keineswegs „am Ende“: Es gab auch im thüringischen Raum keine Einbahnstraße in die Revolution Erst als die Wirkungen der kriegsbedingten Versorgungskrise, der dadurch verursachte Legitimitätsverfall des Staates und der nur langsame Fortschritt bei politischinstitutionellen Reformen nach der Waffenstillstandsbitte des 4 Oktober von der für Viele schockierenden Einsicht überrollt wurden, dass der Krieg mit all seinen Opfern verloren war, wurde die Revolution auch in den thüringischen Staaten unvermeidlich Sie vollzog sich zunächst weitgehend unspektakulär25: In Weimar, Meiningen, Altenburg und Greiz richteten die ab dem 8 November zumeist aus der Vereinigung der Soldatenräte örtlicher Einheiten mit den lokalen Arbeiterräten entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte die Aufforderung an die Monarchen, umgehend abzudanken Treibende parteipolitische Kraft war neben der MSPD eine gut organisierte, allerdings mit Ausnahme Sachsen-Gothas mehrheitlich ebenfalls zentristisch orientierte USPD, die in den thüringischen Kleinstaaten seit 1917 vielfach eine starke Position gewonnen hatte Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzog Bernhard III von Sachsen-Meiningen, Herzog Ernst II von Sachsen-Altenburg und Fürst Heinrich XXVII Reuß jüngerer Linie (der seit 1908 wegen der Regierungsunfähigkeit

24 25

Vgl z B die weitverbreitete Schrift des meiningischen und schwarzburgischen SPD-Politikers Arthur Hofmann, Thüringer Kleinstaatenjammer Ein Weckruf an alle Thüringer ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit, Saalfeld 1906 Vgl dazu v a Mario Hesselbarth, „Gegen das Hissen der roten Flagge auf dem Rathaus erheben wir keinen Einspruch“ Novemberrevolution 1918 in Thüringen, Jena 2018; Manuel Schwarz, „Die Throne brachen, und Dynastien […] sind vom Schauplatz ihres Daseins verschwunden “ Zeitenwende in den Thüringer Fürstentümern 1900–1918, in: Stefan Gerber (Hg ), Das Ende der Monarchie in den Kleinstaaten Vorgeschichte, Ereignis und Nachwirkungen in Politik und Staatsrecht 1914–1939, Weimar/Köln/Wien 2018, 181–198; Bernhard Post, Von der Fürstenzeit zur Weimarer Republik, in: Jördis Frank / Konrad Scheurmann (Hgg ), Neu entdeckt Thüringen Land der Residenzen Essays, Mainz 2004, 524–543, hier 537–543

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von Erbprinz Heinrich  XXIV auch die Regentschaft über Reuß älterer Linie innehatte) entsprachen diesem Ansinnen schnell Nicht immer – auch das spricht für den spontanen Charakter der Revolutionsbewegung  – war damit eine sofortige Machtübernahme der Arbeiter- und Soldatenräte verbunden In Sachsen-Meiningen z B , blieb das herzogliche Staatsministerium nach der Abdankung des Herzogs am 10  November bis zur Bildung einer Übergangsregierung am 12 November zunächst im Amt Sichtlich waren die Beteiligten um einen schnellen und reibungslosen Übergang bemüht, um die angespannte wirtschaftliche und soziale Situation, die sich durch das zu erwartende Zurückfluten der Soldaten von den Fronten verschärfen musste, nicht eskalieren zu lassen „Ruhe und Ordnung“ ist deshalb ein allgegenwärtiges Leitwort, wenn man die ersten Aufrufe der thüringischen Arbeiter- und Soldatenräte durchgeht Herzog Ernst II von Sachsen-Altenburg organisierte diesen Übergang regelrecht: In Abstimmung mit dem Arbeiter- und Soldatenrat setzte er eine linksliberal geführte Übergangsregierung ein, bevor er am 13 November 1919 abdankte Diese zwar – wie z B in Weimar – oft von Demonstrationszügen begleiteten, aber weitgehend gewaltfreien Machtübergänge trugen nur in Gotha und Rudolstadt ein besonderes Gepräge, das auch für die nachfolgenden verfassungspolitischen Entwicklungen von Bedeutung war In Sachsen-Gotha26, dem Zentrum der USPD-Linken, das in den folgenden Wochen ein Beispiel für einen konfliktreichen und polarisierenden Revolutionsverlauf sein sollte27, kam es als einzigem thüringischen Staat am 9 November 1918 zu einer Absetzung des Monarchen ohne vorherige Abdankung: Herzog Carl Eduard dankte auch in der Folge weder für Sachsen-Gotha, noch für Sachsen-Coburg ab, sondern übermittelte dem gemeinschaftlichen Landtag der beiden in Realunion verbundenen Herzogtümer lediglich eine am 12 November unterzeichnete Erklärung, er habe aufgrund der Umwandlung Deutschlands in eine „auf sozialistischer Grundlage ruhende Republik“ „aufgehört“ in den Herzogtümern zu regieren 28 So meinten der Herzog und die beiden Staatsminister eine staatsrechtlich günstige Ausgangsposition bei Ausgleichsverhandlungen oder gar einer möglichen Restauration bewahren zu können Am anderen Ende der Skala standen die seit 1909 in Personalunion regierten schwarzburgischen Fürstentümer, wo das Ende der Monarchie letztlich nicht die Form einer Revolution, sondern einer gesetzlichen Transformation annahm – Eduard Rosenthal, der Thüringer Verfassungsschöpfer von 1921, bezeichnete den Vorgang rückblickend 26 27 28

Vgl dazu Stefan Gerber, Hort des Radikalismus? Die Revolution 1918/19 in Sachsen-Gotha, in: Gerber (Hg ), Ende der Monarchie, 199–240 Hier kam es schon im Februar 1919 zur Besetzung durch Reichswehrtruppen Zu Hergang und Diskussion der Ereignisse vgl Gerber, Hort des Radikalismus, 227–231 Vgl den Wortlaut in: Ulrich Hess, Vorbereitung und Durchführung der Novemberrevolution 1918 im Lande Gotha Eine Quellenpublikation, in: Der Friedenstein Monatsblätter des deutschen Kulturbundes Kreisleitung Gotha 1958, 221–225; 1959, 13–20, 42–47, 61–67, 88–91, 133–135, 148–154, 171–176, hier 172 f

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als Systemübergang in „verfassungsmäßiger Form“ 29 Die beiden alten Landtage setzen ihre Arbeit zunächst fort und Fürst Günther Viktor blieb im Amt Einem vom Arbeiterund Soldatenrat berufenen Volkskommissar wurden Übergangsgesetze zur Kontrolle und Gegenzeichnung vorgelegt Am 15 November erklärte Staatsminister Franz Freiherr von der Recke in einer außerordentlichen Sitzung des Landtags, dass der Fürst auf den Thron verzichten werde Als Voraussetzung sollte allerdings ein Gesetz zum Übergang der Regierungsgewalt verabschiedet werden, das der Fürst am 22 November unterzeichnete Dieses Gesetz wurde am 23 November rechtskräftig und Günther Viktor dankte damit als Fürst von Schwarzburg-Rudolstadt ab In Schwarzburg-Sondershausen übernahm am 19 November ein vom Landtag eingesetzter „Landesrat“ die Regierung Dann beschloss der Landtag ein Gesetz zur Änderung der bestehenden Verfassung, das Günther Viktor am 25 November 1918 verkündete und damit auch für Schwarzburg-Sondershausen abdankte Er war zu diesem Zeitpunkt der letzte noch regierende Monarch in Deutschland Zwischen republikanischem Reformprojekt und politischer Fragmentierung – Landesgründung und Verfassunggebung 1919–1921 Mit dem Ende der Monarchien in allen acht thüringischen Staaten stand die „Thüringer Frage“ unweigerlich wieder drängend im Raum – wie schon nach dem Ende des Alten Reiches, in der Umbruchssituation von 1815 und vor allem in der Revolution von 1848/49 mit ihren Mediatisierungsdiskussionen 30 Das Problem der verfassungsrechtlichen Neuordnung in den neu entstandenen thüringischen „Freistaaten“ war von der Frage der Landesgründung nicht zu trennen 31 Die beiden reußischen Staaten hatten durch die schnelle Bildung einer Verwaltungsgemeinschaft (21 Dezember 1918) und die Vereinigung zum „Volkstaat Reuß“ (17 April 1919) deutlich gemacht, dass die bestehende thüringische Territorialstruktur keinen Bestand haben konnte Zwar fanden in allen nunmehr republikanischen Einzelstaaten Thüringens vom Januar bis März 1919 Wahlen zu Landtagen bzw Landesversammlungen statt (nach einem Verhältniswahlrecht, das sich am Wahlgesetz für die Nationalversammlung orientierte) Aber die politischen Energien richteten sich zunächst nicht auf die einzelstaatliche Verfassunggebung, sondern auf Form und Prozess der Bildung eines gesamtthüringischen 29 30 31

Eduard Rosenthal, Die Entwicklung des Verfassungsrechts in den thüringischen Staaten seit November 1918 und die Bestrebungen zur Bildung eines Staates Thüringen, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 9/1920, 226–244, hier 226 Zum Überblick vgl Hans-Werner Hahn, Vom „Thüringer Kleinstaatenjammer“ zum Land Thüringen, in: Robert Kretzschmar / Anton Schindling / Eike Wolgast (Hgg ), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19 und 20  Jahrhundert, Stuttgart 2013, 125–152 Vgl dazu Beate Häupel, Die Gründung des Landes Thüringen Staatsbildung und Reformpolitik 1918– 1923, Weimar/Köln/Wien 1995

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deutschen Gliedstaates Lediglich Sachsen-Altenburg gab sich als erster der Thüringer Freistaaten am 27 März 1919 ein „Gesetz über die vorläufige Regelung der Verfassung“ 32 Am 1 April 1919 folgte Schwarzburg-Sondershausen mit einem „Landesgrundgesetz“, das den Kleinstaat als einen „unteilbaren, freien und selbständigen Volksstaat im Deutschen Reiche“ definierte, einen in Verhältniswahl gewählten Landtag und ein parlamentarisches Regierungssystem vorsah 33 Ähnliche Bestimmungen enthielt die gleichfalls als reines Organisationstatut angelegte „Verfassung für den Freistaat Sachsen-Weimar-Eisenach“ vom 19 Mai 1919 34 Alle drei Grundgesetze  – und das zeigte ihren politischen Kontext überdeutlich  – enthielten in ihrem zweiten Paragraphen Bestimmungen über einen möglichen Zusammenschluss mit anderen thüringischen Staaten Sachsen-Gotha, wo der linke USPD-Flügel 1919 zur bestimmenden politischen Kraft geworden war, versuchte einen eigenen Weg einzuschlagen Im April und modifiziert im Juli 1919 legte die absolute USPD-Mehrheit in der Landesversammlung Verfassungsentwürfe vor, die zwar kein reines Rätesystem einführen wollten, aber die parlamentarische Form der Räteverfassung unterordneten Sie konzipierten damit ein letztlich dysfunktionales Nebeneinander von Instanzen, bei dem in der Endkonsequenz die Machtfrage eindeutig zugunsten der Räte entschieden und politische Partizipation nicht als Bürger-, sondern als „Klassen“-Recht betrachtet wurde Streit zwischen linksradikaler Mehrheit und gemäßigter Minderheit der Gothaer USPD und Druck der Reichsregierung, vor allem aber die inzwischen absehbare Bildung eines Landes Thüringen führten dazu, dass man sich schließlich mit der Vorlage eines knappen „Gesetzes für die vorläufige Regierungsgewalt in der Republik Gotha“ begnügte, das bis Ende 1919 schließlich in eine Form gebracht wurde, die mit der bereits geltenden Reichsverfassung zu vereinbaren war und noch am 10 Januar 1920, wenige Monate vor der thüringischen Landesgründung verkündet wurde 35 Dieses Streben nach der Bildung eines Landes Thüringen sah sich vor drei entscheidenden Herausforderungen Zum einen war zu klären, ob es zu einer „großthüringischen“ Lösung (dem Zusammenschluss der thüringischen Kleinstaaten, des preußischen Regierungsbezirkes Erfurt und des preußischen Kreises Schmalkalden) kommen konnte, oder ob sich die Landesgründung auf das „Kleinthüringen“ der seit dem Zusammenschluss der beiden Reuß sieben Kleinstaaten beschränken würde Die Protagonisten der Landesgründung in den beiden sozialdemokratischen Parteien, aber auch die organisierte regionale Wirtschaft waren nicht nur bestrebt ein „Großthüringen“ zu schaffen, sondern dieses auch – so formulierte es eine Tagung der Arbei-

32 33 34 35

Vgl Vgl Vgl 159 Vgl

Sachsen-Altenburgische Gesetzsammlung Stück II, 26 April 1919, 25–30 Gesetz-Sammlung für Schwarzburg-Sondershausen 6 Stück vom Jahre 1919, 41–53, hier 41 Regierungs- und Nachrichtenblatt für Sachsen-Weimar-Eisenach Jahrgang 1919 Nr  22, 149– Gesetz-Sammlung für den Staat Gotha 1920 Nr  3, 10 Januar 1920, 5 f

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ter- und Soldatenräte des bereits „großthüringisch“ zugeschnittenen neuen Reichstagswahlkreises Thüringen am 10 Dezember 1918 in Erfurt – als „Provinz Thüringen“ in eine „Einheitsrepublik Deutschland“ einzufügen 36 Am Anfang des thüringischen Landesbildungsprozesses stand also nicht die Haltung eines nur erweiterten „Landespartikularismus“, sondern ein deutlich unitarischer Impetus – und gerade dies wurde als modellhaft und innovativ an den Thüringer Zusammenschlussplänen betrachtet, auch wenn die Weimarer Republik dann, trotz ihres „unitarischen Föderalismus“, keine „Einheitsrepublik“ werden sollte Schnell zeigte sich allerdings, dass die „großthüringische Lösung“ keine Realisierungschancen hatte: Preußen war zu den notwendigen Gebietsabtretungen nicht bereit und bot den thüringischen Kleinstaaten seinerseits die Angliederung an die preußische Provinz Sachsen an 37 Aber auch in „Kleinthüringen“ zeigten sich zentrifugale Kräfte Die Freistaaten Coburg und Sachsen-Meiningen stimmten der Ausarbeitung des Gemeinschaftsvertrages, der ab März 1919 zur Landesgründung ausgearbeitet wurde, nur unter Vorbehalt zu Während das südthüringische Meiningen durch die Gewährung von Sonderrechten bei Thüringen gehalten werden konnte, setzte sich in Coburg, das sich bereits mit einem Vertrag vom April 1919 aus der Verbindung mit Gotha gelöst hatte, die Option des Anschlusses an Bayern durch: Nachdem bei einer Volkbefragung am 30 November 1919 mehr als 88 Prozent der Wähler gegen einen Beitritt Coburgs zum Thüringer Gemeinschaftsvertrag gestimmt hatten, erfolgte dieser Anschluss zum 1 Juli 1920 38 Die dritte Herausforderung war die Schaffung einer auf der Basis der disparaten Ausgangslage politisch integrierenden Verfassungsordnung für das angestrebte Land Auf der Grundlage des im Mai/Juni 1919 von den Einzelregierungen und -landtagen gebilligten Gemeinschaftsvertrages, der offiziell am 4 Januar 1920 in Kraft trat, wurden im Sommer 1919 ein Staatsrat als vorläufige, von den Einzelregierungen beschickte Regierung und ein Volksrat als vorläufiges Parlament gebildet, das von den Landtagen der beteiligten Freistaaten aus ihrer Mitte gewählt wurde Der Staatsrat beauftragte den schon erwähnten linksliberalen Jenaer Juristen und Politiker Eduard Rosenthal, der bereits das sachsen-weimarische Grundgesetz vom Mai 1919 entworfen hatte, mit der Ausarbeitung einer Verfassung Rosenthal legte eine knappe, nur staatsorganisatorische Bestimmungen enthaltende Konstitution vor, die nach einer heftig umkämpften Änderung des Gemeinschaftsvertrages vom Volksrat ohne die zunächst vor36

37 38

Vgl den Protokollauszug über die Tagung der Arbeiter- und Soldatenräte des 36 Reichstags-Wahlkreises zur Vereinheitlichung Thüringens am 10 Dezember 1918 in Erfurt, in: Bernhard Post / Volker Wahl (Hgg ), Thüringen-Handbuch Territorium, Verfassung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, Weimar 1999, 78–82, hier 80 Vgl Häupel, Gründung; Post/Wahl (Hgg ), Thüringen-Handbuch, 21–32 Vgl Rainer Hambrecht, Nicht durch Krieg, Kauf oder Erbschaft Ausstellung des Staatsarchivs Coburg anläßlich der 75 Wiederkehr der Vereinigung Coburgs mit Bayern am 1 Juli 1920, München 1995, 81–189; ders , Die Vereinigung des Freistaates Coburg mit Bayern, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 58/1998, 371–390

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gesehene Wahl einer Landesversammlung am 12 Mai 1920 provisorisch beschlossen wurde39 – wenige Tage, nachdem am 1 Mai 1920 die Gründung des Landes Thüringen durch ein von der Nationalversammlung am 23 April 1919 verabschiedetes Reichsgesetz vollzogen worden war Sie etablierte ein parlamentarisches Regierungssystem auf der Grundlage eines durch Verhältniswahl allgemein, frei und gleich zu wählenden Landtages und sah, wie die Weimarer Reichsverfassung, plebiszitäre Elemente (Volksbegehren und Volksentscheid über die gesamte Gesetzgebung außer Staatshaushalt, Abgaben und Besoldungen) sowie einen Staatsgerichtshof zur Anklage der Mitglieder der Landesregierung vor Reichlich hundert Jahre nach dem Beginn des konstitutionellen Zeitalters trat Thüringen damit in die Ära des demokratischen Parlamentarismus ein Der am 20 Juni 1920 gewählte erste reguläre thüringische Landtag verabschiedete auf dieser Grundlage dann die definitive Landesverfassung, die am 11 März 1921 in Kraft trat 40 Schon diese erste Landtagswahl hatte allerdings gezeigt, dass die Einlösung der hohen politischen Erwartungen, die sich bei vielen Landesgründern aus dem sozialdemokratischen und linksliberalen Spektrum mit der Schaffung des thüringischen Staates und der Verfassunggebung verbanden, unter keinem guten Stern stand Weder das sozialistische Lager von MSPD und USPD, noch das bürgerliche Lager hatte eine eindeutige Mandatsmehrheit erzielt, auch wenn beim Zusammenschluss aller Bürgerlichen (DDP, DVP, DNVP und der starken agrarisch-konservativen Regionalpartei „Thüringer Landbund“) eine Regierungsmehrheit von einer Stimme möglich gewesen wäre Die DDP, die nur 7,3 Prozent erreicht hatte und bei allen folgenden Wahlen unaufhaltsam marginalisiert werden sollte, bildete schließlich mit MSPD und USPD eine instabile, schon nach reichlich acht Monaten scheiternde Regierung, in die die USPD keine Minister entsandte Nach den vorgezogenen Wahlen von 1921 bildeten MSPD und USPD dann ihre erste Landesregierung, die besonders durch eine forcierte, ohne Rücksicht auf Vermittelbarkeit in den bürgerlichen Mittelschichten betriebene Bildungs- und Gesellschaftspolitik zur weiteren scharfen Polarisierung im Land führen sollte und schließlich in Abhängigkeit von der republikfeindlichen KPD geriet Das neue Land wurde kein republikanisches Experimentierfeld, es erwies sich schnell als „Schlachtfeld“ eines latenten, 1920, 1923 und 1930–32 offenen Bürgerkriegs Eine Verfassungskultur, wie sie das konstitutionelle Leben der thüringischen Kleinstaaten zwischen 1816 und 1918 bestimmt hatte, konnte sich unter diesen Vorzeichen nicht ausbilden Die Bemühungen der Linksregierung ab 1921, über politische Bildung und die Thüringer Volkshochschulbewegung einen (links-)„republikanischen Verfassungspa-

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Vgl v a Jürgen John, Verfassungsdebatten und Landesgründung 1918 bis 1921, in: Thüringer Landtag (Hg ), 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung 1919–1999, Weimar 1998, 67–122 Vgl Gesetzsammlung für Thüringen Jahrgang 1921, Nr  10, 57–64

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triotismus“ zu schaffen41, liefen ins Leere, weil sie weithin nicht als Integrationsangebot, sondern als Ausdruck einer fragmentierten politischen Kultur wahrgenommen wurden Und tatsächlich hatten sie stellenweise den Charakter einer provokativen, kämpferisch-laizistischen Symbolpolitik, so wenn die Abschaffung des Reformationstages und die Einführung des 9 November als staatlicher Feiertag per Notverordnung durchgeführt oder versucht wurde, staatliche Zahlungen für die evangelische Landeskirche auf geringfügige Leistungen zu beschränken42 Erreicht wurde dadurch nicht eine Öffnung, sondern eine Abschottung der Lager; den staatlichen Verfassungsfeiern am 11 August standen im Thüringen der Weimarer Republik die Reichsgründungsfeiern – z B der Landesuniversität Jena – am 18 Januar gegenüber Zweifellos waren die Thüringer Landesgründung und Verfassung von 1920/21 ein „Aufbruch“, der sich auf die durchaus breite Verfassungstradition und -kultur des Raumes stützen konnte Insofern gehören auch sie gewiss zum Projektionsraum einer „Zukunft der Weimarer Republik“43, die retrospektive Betrachtungen nicht vorschnell unter ihrem Wissen um das schließliche Scheitern der ersten deutschen Republik begraben dürfen Gerade Thüringen, das in der Weimarer Zeit eine erneuerte politische Kultur letztlich nicht konsolidieren konnte, bleibt aber auch ein Beispiel für die Grenzen, die der „belagerten Civitas“ Weimar44 von Beginn an gesetzt waren Stefan Gerber, Studium der Geschichte, Germanistik und Erziehungswissenschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2001–2004 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes; 2004 Promotion zur Geschichte von Universitätsverwaltung und Wissenschaftsorganisation im 19   Jahrhundert in Jena; 2003–2013 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte des 19 und 20  Jahrhunderts in Jena, 2009–2010 Förderstipendiat des Historischen Kollegs in München; 2013 Habilitation zur Geschichte des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik; 2013–2015 Vertretungsprofessuren an den Universitäten Mainz und Bonn; 2015 Leiter der Forschungsstelle für Moderne Regionalgeschichte Thüringens an der Universität Jena; seit 2019 Leiter des Universitätsarchivs und der universitätsgeschichtlichen Forschungsstelle in Jena

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Vgl dazu Jürgen John, „Land im Aufbruch“ Thüringer Demokratie- und Gestaltungspotenziale nach 1918, in: Justus H  Ulbricht (Hg ), Weimar 1919 Chancen einer Republik, Köln/Weimar/Wien 2009, 17–46, hier 36 Vgl v a Herbert Gottwald, Kirchenpolitik im Thüringer Landtag von 1920 bis 1933, in: Thüringer Landtag (Hg ), Kirchen und kirchliche Aufgaben in der parlamentarischen Auseinandersetzung in Thüringen vom frühen 19 bis ins ausgehende 20  Jahrhundert, Weimar/Jena 2005, 133–154 Vgl Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008 Michael Stürmer, Die Weimarer Republik Belagerte Civitas, 2 , erweiterte Aufl , Königstein/Ts 1985

Schwerpunkt II: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) Teil III: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Auswirkungen auf Norddeutschland

Einleitung Wolf D Gruner Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 199–253

Abstract: This volume contains the last series of essays presented at the 2017 Berlin Conference on the North German Confederation, namely on the Grand Duchy of Oldenburg, on the Grand Duchies of Mecklenburg-Strelitz and Mecklenburg-Schwerin, the Hanseatic Cities of Lübeck, Bremen and Hamburg All small states were asking for changes of the Constitution of the North German Confederation, like a two chamber system and a Government for the Confederation, or rights to negotiate commercial treaties and to send consuls or to establish freeports outside the customs line Their efforts had minimal success Among the Prussian annexation after 1866 were the Free City Francfort, the Duchy of Nassau, the Electorate of Hesse and the Kingdom of Hanover The annexation and integration of the Duchies of Slesvig and Holstein had been the casus belli They became a Prussian province after 1867 An important essay is dealing with the national movements in Denmark, Slesvig and Holstein and its historical background from Scandinavianism to Danish nationalism in Slesvig and German nationalism in Holstein There was no referendum in Slesvig as ruled in the Prague Peace Treaty of 1866 that the population should vote on either staying with Prussia or returning to Denmark During the German Empire this issue was postponed and finally given up for “security reasons” Therefore a referendum only took place in 1920 after the Peace Treaty of Versailles North Slesvig returned to Denmark In 1955 the Bonn-Copenhagen agreement settled the minority rights of the Danes in Germany and the Germans in Denmark A special contribution is dealing with Helmuth von Moltke as a military leader, intellectual and a member of the North German and Imperial Diet until his death One essay is discussing the role of the impact of the unexpected changes of 1866 on the question of establishing a national state of the Germans and the role of the National Liberals There are also some considerations on the problem of two “parliaments” in Prussia, the Prussian House of Deputies and the Herrenhaus on one hand and the Diet of the North German Confederation / Imperial Diet on the other with different electoral systems and the question which role is assigned to the Prussian House of Deputies and the Imperial Diet There were voices in Prussia to annex all states of Northern Germany and to establish a North German Prussian Kingdom There were also Polish members of the North German and Imperial Diet who considered themselves not to be Germans

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but from their identity, culture and language as Poles Therefore they demanded in the debates on the North German Constitution in 1867 that the former territories of Poland are not part of the North German Confederation The same discussion came up when the Constitution of the German Empire was discussed in 1871 The Poles emphasized their right as a nation with an ancient culture which were guaranteed by the treaties of 1815 The Polish Members of the Diet discussed this topic almost in all sessions of the Imperial Diet They were fighting all attempts to Prussianize and Germanize the Poles As long as a Polish State was not re-established they considered themselves, however, as Prussian citizens

Das preußische Abgeordnetenhaus erörterte am 7 September 1866 den Antrag der Kommission über die Annexionen von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt 1 Der Abgeordnete Kannengießer als Berichterstatter leitete seinen Bericht mit den Worten ein: Durchdrungen von dem Ernst der Stunde in welcher das Haus der Abgeordneten mit beschließen soll über die Erweiterung des Preußischen Staatsgebietes um nahe an 1000 Quadratmeilen, über die Entthronung dreier Deutscher Dynastien und über die Beseitigung eines Freistaates, über die staatliche Zukunft von mehr als drei Millionen Deutscher Brüder erbitte ich mir Ihre Aufmerksamkeit für einige Augenblicke 2

Die Abgeordneten seien hier nicht um viele Worte zu machen, „sondern, um politische Thatsachen zu thun, das heißt, Beschlüsse zu fassen, einig, schneidig, weittragend für des Vaterlandes Selbständigkeit und Größe“ 3 Kannengießer merkte auch an, dass für längere Zeit die neuen Landesgenossen gekränkt sein würden Der preußische Staat müsse jedoch „die ethisch-politische Pflicht“ übernehmen „diesen neuen Staatsgenossen ein Vaterland wiederzugeben, wohnlicher, reicher, freier als das, welches sie verloren“ 4 Der Abgeordnete Kirchmann bemängelte in der Aussprache, dass die „Regierung als Resultat des Krieges dem Lande zu wenig bietet“ Er glaube, „daß die Resultate des Friedens mit den ungeheuren Erfolgen des Krieges nicht in genügender Uebereinstimmung stehen, daß sie zurückgeblieben sind gegen Das, was das Land erwarten konnte“ 5 Die Mittel- und Kleinstaaten seien von Preußen zu sehr geschont worden

1

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Preußisches Haus der Abgeordneten (in der Folge H d A Preußen), Bd   2, Prot 15 Sitzung v 7 9 1866, S 251–275 Vgl zur Debatte über die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt auch: Heinrich Schulthess (Hg ) Europäischer Geschichtskalender 1866 (in der Folge: Schulthess, Geschichtskalender), Nördlingen 1867, 188–193 H d A Preußen, 251 (Kannengießer) Ebd Ebd Ebd , 255 (v Kirchmann)

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und werden zur Sicherung ihrer Existenz Feinde Preußens und Freunde Österreichs sein Preußen sei aus dem Kriege nicht stark genug hervorgegangen Es hätte größere Resultate erreichen können […] eine größere Ausdehnung seiner Grenzen Wir haben […] zu schnell und voreilig den einzelnen kleinen Staaten und freien Städten Deutschlands, welche an dem Kriege mit- und theilnehmen wollten ihren Territorialbestand zugesichert Die Hülfe, welche jene kleinen Staaten geleistet haben, ist ja, wie wir alle wissen, höchst unbedeutend geblieben […] das ist im Interesse der Einheit Deutschland sehr zu beklagen, und es würde für die Macht Preußens gewiß außerordentlich wohlthätiger sein, wenn ganz Norddeutschland, einschließlich Sachsens, zu einem Preußischen Staate hätte gehoben werden können Man tröstet uns in dieser Beziehung damit, daß ein Norddeutscher Bundesstaat errichtet werden solle, der dieselben Ziele erreichen könne, welche ich in Preußen zunächst allein gewahrt finde

Ein Norddeutscher Bundesstaat sei aber ein höchst bedenkliches Unternehmen Er werde sich nur „als die Karrikatur eines Bundesstaates“ darstellen 6 Kirchmann sprach etwas an, das später als das „preußische Problem“ in der deutschen Geschichte angesehen wurde, nämlich: Wenn ein Bund geschlossen wird, in welchem der eine Staat beinahe 24 Millionen hat, die anderen aber nur circa 5 Millionen, so ist von vornherein die Majorität stets auf der einen Seite, und ich weiß wirklich nicht, was jene kleinen Länder durch die 40 bis 50 Vertreter, welche sie etwa in das Parlament schicken, für ihre besonderen Wünsche etwa noch erreichen können Es ist also klar, daß dieser Norddeutsche Bundesstaat nur ein Schein ist, und nichts kann meines Erachtens nachtheiliger sein für die parlamentarischen Institutionen, als ein solches Parlament, welches als Bundes-Parlament nur als eine Täuschung sich darstellen wird 7

Der Abgeordnete Gneist sah in den Annexionen, „wohlberechtigte, legitime Reunionen“ 8 Die „Klein-Souveränität und Majestät der Einzel-Staaten“ sei künstlich, Deutschland vom Westen „aufgedrungen“ und Ergebnis der napoleonischen Zeit, des Rheinbundes und der „Fremdherrschaft“ und des stetigen Eingreifens „der fremden Mächte in die Deutschen Verhältnisse“ Sie sei unhistorisch Ein Rückgängigmachen der willkürlichen Schöpfungen aus dieser Zeit sei daher keine Annexion, sondern „Reunion“ 9 In den Debatten des Abgeordnetenhauses wurde immer wieder auf das Ende des Reiches, den Rheinbund, die napoleonische Fremdherrschaft, die Rolle Preußens und die „nationale Entwicklung“ eingegangen So betonte der Abgeordnete von Kirchmann,

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Ebd Ebd Ebd , 257 (Gneist) Ebd

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dass das „Recht der Existenz Preußens und die nationalen Ziele Deutschlands“ seit fünfzig Jahren bestanden hätten und dessen ungeachtet haben wir uns nie erlaubt, in die Territorialbestände anderer Staaten Deutschlands einzugreifen Wenn wir das jetzt thun, so sind daher diese Gründe nicht zureichend, sondern es ist ein ganz anderes Moment eingetreten, und das ist die Eroberung Lassen Sie uns in dieser Beziehung ganz offen es aussprechen: Wir können nur auf Grund der Eroberung die jetzige Einverleibung vornehmen, und alle anderen Gründe sind eher dazu geeignet, dies Recht zu schwächen, als es zu stärken 10

In der Generalaussprache wurde verschiedentlich betont, dass mit einem Parlament im Norddeutschen Bundesstaat die Rolle der Preußischen Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden würden So wies der Abgeordnete Kirchmann darauf hin, mit Blick auf ein zu schaffendes Norddeutsches Bundesparlament, „daß auch für unsere eigene Freiheit, für unsere eigene Landesvertretung ein solches Norddeutsches Parlament mit den größten Nachtheilen verknüpft sein dürfte“ 11 Es würden dann im Wesentlichen zwei „Preußische Landesvertretungen“ nebeneinander existieren, „die aus verschiedenen Wahloptionen und Wahlgrundsätzen hervorgehen“ 12 Es würde sich auch die Kompetenzfrage stellen Dies spielte bei den Überlegungen alle norddeutschen Staaten mit Preußen zu vereinigen durchaus eine Rolle, denn dann würde es nur ein preußisches Parlament geben Der Gesetzentwurf zu den Annexionen wurde mit großer Mehrheit bei wenigen Gegenstimmen und der Enthaltung der polnischen Abgeordneten angenommen 13 Ministerpräsident Graf Bismarck legte dem Haus den Gesetzentwurf über die Annexion von Schleswig-Holstein vor und forderte „rasche Erledigung derselben, etwa durch summarische Behandlung in der Schlußberathung“ 14 In der Sitzung vom 20 Dezember 1866 nahm das Abgeordneten Haus das Gesetz über die Annexion Schleswig-Holsteins an 15 Die Regierung hatte dem Haus der Abgeordneten den Gesetzentwurf über

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Ebd , 253 (v Kirchmann) Ebd , 255 (v Kirchmann) Ebd Ebd , 273 (272 Ja – 14 Nein – 16 Enthaltungen) Ebd , Bd  4: Anlage Nr  29 Vereinigung des Königreichs Hannover, des Kurfürstenthums Hessen, des Herzogthums Nassau und der Freien Stadt Frankfurt mit der Preußischen Monarchie, 118–119 In einer Schrift lehnte Ernst-Ludwig von Gerlach 1866 die Annexionen in Norddeutschland und das Hinausdrängen Österreichs aus Deutschland ab: Ernst-Ludwig von Gerlach, Die Annexionen und der Norddeutsche Bund September 1866, Berlin 1866 (Reprint: Leopold Classic Library 2017) ; Hans-Christof Kraus, Auf dem Weg zur deutschen Vormacht – Preußens Vergrößerungen 1848 und 1866, in: Robert Kretschmar / Anton Schindling / Eike Wolgast (Hgg ), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19 und 20  Jahrhundert, Stuttgart 2013, 75–99 Ebd , Bd  2, Prot 15 Sitzung v 7 9 1866, 251 Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866, 193 Ebd , Bd  3, Prot 47 Sitzung v 20 12 1866, 1293 ff

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die Annexion Schleswig-Holsteins am 7 September übergeben 16 Das Haus hatte die Regierung aufgefordert dem Landtag bei seiner nächsten Zusammenkunft einen Gesetzentwurf über die Vereinigung Lauenburgs mit Preußen vorzulegen 17 Das von Bismarck eingereichte Wahlgesetz für die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag18 wurde eingehend diskutiert Es wurden zahlreiche grundlegende Änderungsanträge eingebracht Als Berichterstatter verwies der Abgeordnete Twesten darauf hin, dass nach der Zustimmung des Hauses zu der „unmittelbaren Vereinigung einiger Deutscher Länder mit dem Preußischen Staate“ der die „verfassungsmäßige Bekräftigung ertheilt“ wurde, sich nun als zweite große Frage „die Begründung eines weiteren Bundesverhältnisses zwischen dem Preußischen Staate in seinem neuen Umfang und einigen benachbarten Norddeutschen Staaten“ stelle 19 Das Wahlgesetz wurde in Preußen und in Deutschland öffentlich diskutiert Die einen befürchteten die Entstehung eines Einheitsstaates „Großpreußen“, andere kritisierten, dass ein Norddeutscher Reichstag nicht der angestrebte Deutsche Reichstag sei Jetzt hat der Krieg große, durchgreifende Ergebnisse geschaffen; wir haben das Unsrige zu thun, um diese Ergebnisse zu sichern, zu erweitern und zu vollenden, und dazu soll der Norddeutsche Reichstag über dessen Einleitung wir jetzt beschließen sollen, die Vorbereitungen treffen […] Wir würden es als ein nationales Unglück beklagen müssen, wenn wir denken könnten, daß die Trennung des nördlichen und südlichen Deutschlands eine dauernde sein sollte; ich würde glauben, daß die Deutsche Kultur und ihre Geltung auf dem Erdboden schwer gefährdet werden würde, wenn eine solche Trennung eine dauernde wäre 20

Der Liberale Twesten war überzeugt, dass „eine Ausdehnung des Norddeutschen Bundes über das südliche Deutschland in nicht gar zu langer Zeit“ geschehen werde Süddeutschland könne dann in eine unveränderte Verfassung eintreten Der Nordbund, ein festgefügter großer Teil Deutschlands, sei mehr als ein loses, zerbröckeltes Deutschland Der alte Bund war keine Einheit, deren Fall wir bedauern können! Er ist 50 Jahre lang ein Zeichen Deutscher Schwäche und Deutscher Zerrissenheit gewesen Er ist Deutschland auferlegt worden von dem mißgünstigen Auslande, um Deutschland schwach zu halten Wir können unmöglich seinen Fall bedauern 21

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Ebd , 275 Ebd , Bd  4 Anlage, Nr  73 Bericht der XIII Kommission über den Gesetz-Entwurf, betreffend die Vereinigung der Herzogthümer Holstein und Schleswig mit der Preußischen Monarchie (Nr  52 der Drucksachen), 347–354 Ebd , Bd  2, Prot 17 Sitzung v 11 9 1866, 277 ff Ebd , 278 Ebd , 279 Ebd

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Der Berichterstatter war davon überzeugt, dass er „eine wirkliche Einheit Deutschlands immer nur durch Preußen und unter Preußen für möglich gehalten“ habe 22 Die Beratungen zum Wahlgesetz seien „nicht ein Abschluß, sondern ein Anfang für das künftige Deutschland“ 23 In der Generalaussprache wurde bemängelt, dass das Haus über ein Wahlgesetz abstimmen solle für eine Institution, einen Norddeutschen Bund, für den es noch keine Verfassung und Organisationsform gebe Die preußische Regierung beabsichtige mit dem Reichstagswahlgesetz, so der Abgeordneter Groote, „der Preußischen Landesvertretung die wichtigsten Theile ihrer Entscheidung zu nehmen, um sie dafür auf eine machtlose Versammlung zu übertragen“ 24 Es sei auch ein Fehler gewesen den Annexionen von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt zuzustimmen, denn dadurch habe das Abgeordnetenhaus „über das Schicksal der gegenwärtigen Frage mit entschieden“ 25 Hätte man ihnen den Status von Reichsländern belassen, wäre das Übergewicht Preußens im Norddeutschen Bund nicht so dominant gewesen Andere Abgeordnete begrüßten, dass die Preußische Regierung durch den Norddeutschen Bund so stark sei, „daß ihr gegenüber die übrigen Norddeutschen Staaten ein kein solches Gewicht ausüben können, um dem Preußischen Staat ein andres Gesicht zu geben, und das ist der große Segen dieser neuen Einrichtung Also von diesem Gesichtspunkte aus kann ich das Norddeutsche Bündniß nur mit Freuden begrüßen“,26 so der Abgeordnete Strosser In der Debatte wurde auch vorgeschlagen für den Norddeutschen Reichstag und den Preußischen Landtag ein einheitliches Wahlgesetz zu schaffen, doch diese Idee stieß auf Widerspruch Nach einer emotionalen und hitzigen Diskussion im Haus der Abgeordneten für und wider das Wahlgesetz, über die Rolle Preußens in Deutschland, über die deutsche Einheit in Freiheit, über Süddeutschland und Österreich im Zusammenhang mit dem Wahlgesetz wurde es schließlich am 12 September 1866 mit „großer Mehrheit“ angenommen 27 Im Mai 1867 behandelter das Haus der Abgeordneten die Verfassung des Norddeutschen Bundes 28 Das Haus sollte sofort in die Schlussberatung eintreten – es könne aber eine „General- und Spezialdiskussion stattfinden“, da der Reichstag des Norddeutschen Bundes diese schon beraten habe, „ferner mit Rücksicht darauf, daß die Vorlage eine Aenderung der Preußischen Verfassung involvirt“ 29 Dagegen gab es Widerspruch Es solle eine Kommission eingesetzt werden „um auf die gründlichste und 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd Ebd Ebd , 282 (Groote) Ebd , 283 Ebd , 285 (Strosser) – vgl auch ebd , 307 ff Ebd , 17 Sitzung v 12 9 1866, 340 H d A Preußen 1867 Anlagenband 1, Stück 5: Verfassung des Norddeutschen Bundes, 2–10 Ebd , Änderungsanträge Nr  8, 9 H d A Preußen Prot 3 Sitzung v 1 5 1867, 12 (v Forckenbeck)

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ernstlichste Prüfung der Vorlage zu dringen Eine so gründliche Prüfung ist meiner Ueberzeugung nach in der Weise nicht möglich, daß wir in einer Schlußberathung das Wichtigste beschließen, was jemals dem Preußischen Landtage zur Beschlußnahme vorgelegen hat“ 30 Zwar würde eine eingehende Beratung wünschenswert sein argumentierte der Abgeordnete Twesten, doch könne es sich der Natur der Sache nach nur handeln um eine Annahme oder Ablehnung; jedes Amendiren der Verfassung würde so gut sein, wie eine Ablehnung, weil sämmtliche Staaten des Norddeutschen Bundes nur gebunden sind durch die Regierungen und die Volksvertretung, so weit sie ihren Ausdruck im Reichstage des Norddeutschen Bundes gefunden hat, an die Verfassung, wie sie aus den Berathungen der Regierungen und des Reichstags hervorgegangen ist Die Grundlage würde wegfallen, so wie ein Staat eine Abänderung an dem einmal beschlossenen und vereinbarten Werke treffen wollte In der That wird es sich also nur um Annehmen oder Ablehnen handeln 31

In einer lebhaften, kontroversen, oft hoch emotionalen Generaldebatte in die der Präsident immer wieder eingreifen musste, nahm das Haus der Abgeordneten die Verfassung des Norddeutschen Bundes am 31 Mai 1867 mit „großer Mehrheit“ (227 Ja und 93 Nein Stimmen) an 32 Alle Anträge zur Ablehnung der Verfassung und der Aufforderung zu Nachverhandlungen wurden abgelehnt, so der Antrag des Abgeordneten Dr  Waldeck und Genossen, nämlich, daß eine so mangelhafte, die Volksrechte beschränkende und gefährdende Bundes-Verfassung für eine weitere Ausbildung im Sinne freiheitlicher Entwicklung keine Aussicht gewährt, daß vielmehr das Nebeneinander bestehen zweier Verfassungen und Volksvertretungen das verfassungsmäßige Leben in Preußen zu beeinträchtigen und den besonders im Gemeinwesen so nothwendigen Ausbau der Preußischen Verfassung in weite Ferne zurückzudrängen droht; daß alle diese Opfer an Volksrechten die Einigung Deutschlands eher hindern

könne das Haus der Abgeordneten dem Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes die „Zustimmung nicht geben“ 33 Im Preußischen Abgeordnetenhaus wurde kritisiert, dass nicht alle norddeutschen Klein- und Mittelstaaten mit der preußischen Monarchie als Ergebnis des Krieges und des Endes des Deutschen Bundes vereinigt wurden Dies wäre nützlich und sinnvoll

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Ebd , 13 (Frhr v Hoverbeck) Ebd  (Twesten) H d A Preußen Prot 9 Sitzung v 31 5 1867, 186 Ebd , 182–184, 184 Ebd , Anlagenband Nr  18, 68–69 (Antrag zur Schlußberathung über die Verfassung des Norddeutschen Bundes (Nr  5 der Drucksachen) Zweite Abstimmung, Dr Waldeck, Dr Virchow, Freiherr von Hoverbeck und Genossen)

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gewesen und würde nicht zu Problemen und Kompetenzfragen zwischen dem preußischen Landtag und dem zu wählenden Norddeutschen Reichstag führen Wenn die norddeutschen Klein- und Mittelstaaten das Herzogtum Braunschweig,34 das Großherzogtum Oldenburg, die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, das Fürstentum Lippe,35 das Königreich Sachsen sowie die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg nicht annektiert wurden so spielten hierbei neben dynastischen Gründen auch deutsche und europäische Überlegungen eine Rolle Eine Karte von Mitteleuropa mit den Staaten des Norddeutschen Bundes, den süddeutschen Staaten und der Österreich-Ungarischen Monarchie verdeutlicht das Übergewicht Preußens mit seiner Bevölkerung von 24 Millionen Einwohnern und den 5 Millionen der anderen Bundesmitglieder bereits vor der Gründung des deutschen Kaiserreiches das preußische Problem

Abb. 1 Europa Central: Spanische Karte von Mitteleuropa 1870, Belgica Holanda y Alemania (Privatbesitz)

34 35

Zum Herzogtum Braunschweig vgl den Beitrag von Klaus-Erich Pollmann in HMRG 31/2020 (2019), 145–160; Horst Rüdiger Larck / Gerhard Schildt (Hgg ), Die braunschweigische Landesgeschichte Jahrtausendrückblick einer Region, Braunschweig 2000, 751 ff Wolfgang J Neumann, Der lippische Staat Woher er kam – wohin er ging, Lemgo 2008

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Anlässlich des 150 Jahrestages der Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes durch die Hamburger Bürgerschaft am 15 Mai 1867 und dem damit vollzogenen Beitritt zum Norddeutschen Bund erschien im Hamburger Abendblatt ein Artikel von Josef Nyary mit der reißerischen nicht sachgerechten Überschrift „Wie Bismarck über Hamburg siegte“ 36 Die Bürgerschaft hatte mit 136 Stimmen, bei 4 Enthaltungen und einer Gegenstimme für die Verfassung gestimmt und trat zum 1 Juli 1867 dem Norddeutschen Bund bei Detlef Rogosch untersucht in seinem Beitrag den Weg in und die Stellung zum Norddeutschen Bund 37 Der Hamburger Senat stand seit dem Ende des Deutschen Bund und der Neuordnung Deutschlands nördlich dem Mains vor der Frage, ob er dem Norddeutschen Bund beitreten und damit seine traditionelle Eigenständigkeit, Freiheit und Autonomie aufgeben sollte Nach den Napoleonischen Kriegen in denen Hamburg und die beiden anderen verbliebenen Hansestädte Lübeck und Bremen ihren Status als Neutrale nicht bewahren konnten und schließlich zwischen 1810 und 1814 Teil des französischen Empire wurden, konnten sie bei der deutschen und europäischen Neuordnung, auch dank des bremischen Vertreters, des Senators Johann Smidt, in den Verhandlungen zum Pariser Frieden und auf dem Wiener Kongress die Selbständigkeit der Hansestädte sichern Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass die Hansestädte als Häfen eine wichtige Funktion für das deutsche Mitteleuropa hatten und nicht unter die Herrschaft eines deutschen Staates kommen sollten 38 Für die Hansestädte bot seit 1814/15 die Föderativordnung des Deutschen Bundes ihnen Sicherheit und vertrag36 37

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Josef Nyary, Vor 150 Jahren Wie Bismarck über Hamburg siegte, in: Hamburger Abendblatt v 14 5 2017 Detlef Rogosch, ‚Wie Bismarck über Hamburg siegte‘ Die Hansestädte und der Norddeutsche Bund Vgl auch ders , Hamburg im Deutschen Bund 1859–1866 Zu einem Kleinstaat in einer mitteleuropäischen Föderativordnung, Hamburg 1990; ders , Der Krieg vor der Haustür Die Hansestädte und der Konflikt um Schleswig und Holstein 1864, in: Oliver Auge / Ulrich Lappenküper / Ulf Morgenstern (Hgg ), Der Wiener Frieden 1864 Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016, 85–98; Hans-Dieter Loose, Hamburg Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner Bd  1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, bes 491 ff Vgl Wolf D Gruner, Hamburg und die Hansestädte in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes (1815–1825): Zwischen internationaler Neutralität und deutschem Sonderbund, in: HMRG 2/1988, 73–115; ders , Gerettete Selbständigkeit: Überlegungen zur Geschichte der Hansestadt Bremen in den europäischen Integrationsprozessen seit dem ausgehenden 18   Jahrhundert; in: Thomas Stamm-Kuhlmann / Jürgen Elvert / Birgit Aschmann / Jens Hohensee (Hgg ), Geschichtsbilder Festschrift für Michael Salewski zum 65 Geburtstag, Stuttgart 2003, 60–84; ders , Johann Smidt (1773–1857): Eine Würdigung anläßlich seines 150 Todestages, in: Johann Smidt Stiftung (Hg ), Familientag am 150 Todestag von Bürgermeister Dr Johann Smidt, Bremen 2007, 6–27; Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen Bd  II: Von 1810 bis zum Ersten Weltkrieg (1918), Bremen 1976, bes 278 ff ; Adolf Krieger, Bremische Politik im Jahrzehnt vor der Reichsgründung, Bremen 1939; Konrad Elmshäuser (Hg ), Bremisches Jahrbuch 87/2008 (Beiträge der Tagung zum 150 Todestag von Bürgermeister Johann Smidt „Die Hansestädte und der Deutsche Bund Innerdeutsche Diplomatie und die Rolle der Stadtstaaten bis zur Revolution von 1848“); Fritz Endres, Geschichte der Hansestadt Lübeck, Lübeck 1926 (Reprint Frankfurt a M 1981); Antjekathrin Grassmann, Lübeckische Geschichte, Lübeck 42008 (1988)

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lich abgesicherte Existenzsicherung Als wichtige Häfen für den deutschen Handel mit Europa und Übersee waren sie ein wichtiges Tor zur Welt Als souveräne Staaten konnten sie Handels- und Schifffahrtsverträge abschließen und ihre Interessen als „Sonderbund“ vertreten 39 In Krisen des Bundes geriet auch die Rechtsgrundlage der Hansestädte in Gefahr und nicht immer konnten sie sich in den Status eines Neutralen retten Im Krieg gegen Dänemark 1864 wurden Handelsschiffe der Hansestädte aufgebracht und Österreich versprach im Februar 1864 ein kaiserlich-österreichisches Kriegsgeschwader zum Schutz gegen dänische Schiffe auszurüsten 40 Als sich das Verhältnis zwischen Österreich und Preußen Anfang 1866 wegen der Schleswig und Holstein Frage dramatisch verschlechterte fragten beide Großmächte an wie die Hansestädte sich in einem militärischen Konflikt verhalten würden Würden sie bundestreu an der Seite Österreichs bleiben oder würden sie mit Preußen gehen? Alle drei Städte beriefen sich auf das Bundesrecht und wollten alles tun um einen militärischen Konflikt zu vermeiden und alles für die Aufrechterhaltung des Bundesrechtes zu unternehmen Sie gaben keine Option für Österreich oder Preußen ab und wären am liebsten neutral geblieben Als Lübeck und Bremen schließlich Ende Juni 1866 ein Bündnisangebot Preußens annahmen, zögerte Hamburg und nahm schließlich unter Druck das Angebot an 41 Die geographische Lage und das militärische Potential Preußens aber auch die Gefahr einer Besetzung Hamburgs führten nach kontroversen Diskussionen im Senat und in der Bürgerschaft zur Zustimmung Damit waren die Hansestädte aus dem Deutschen Bund ausgetreten Im Unterschied zu anderen Mitgliedstaaten, die bis zum Ende des Bundes diesen verließen hatten die Hansestädte ihren Austritt den Bundesorganen formell nicht mitgeteilt Nach dem Sieg Preußens traten die Hansestädte einem Bundesvertrag bei, der eine Verfassung für den zu gründenden Bund ausarbeiten sollte Ihre Vorstellungen über die Gestaltung eines staatenbündischen neuen Bundes und die Wahrung ihrer Interessen konnten die Hansestädte nur teilweise durchsetzen 42 In der Anlage zum Schlussprotokoll hielt der

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Jürgen Prüser, Die Handelsverträge der Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit überseeischen Staaten im 19  Jahrhundert, Bremen 1962 BUNDESARCHIV BERLIN  – DEUTSCHER BUND (in der Folge BAB-DB) Protokolle der Bundesversammlung (in der Folge Prot BV) 11 Sitzung Prot BV v 18 2 1864, §§ 27, 28 – ebda , 12  Sitzung v 25 2 1864 Sep Prot BV § 30 – ebd , 13 Sitzung v 3 3 1864 Sep Prot BV § 38 (Wegnahme deutscher Schiffe) Verhandlungen des Norddeutschen Reichstages (in der Folge NdRT) Anlagen Band 1867, Anlage a zu Actenstück 10: Abschluss eines Bundesvertrages v 16 6 1866, S 27 f Für die drei Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg unterzeichnet v Hanseatischen Minister-Residenten am Königlich Preußischen Hofe Dr jur Friedrich Heinrich Geffcken; vgl auch Krieger, Bremische Politik (wie Anm  38), 58 ff Vgl hierzu u a NdRT Anlagenband 1867, Actenstück Nr  8, Nr  9, Nr  10, 10–36 mit Verfassungsentwurf der Bevollmächtigten der Bundesstaaten v 15 12 1866, Beratungsprotokollen und Entschließungen sowie Anlagen a–g

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hamburgische Bevollmächtigte Kirchenpauer fest: Um materielle Nachteile zu vermeiden werden den einzelnen Staaten ihre bisherigen Flaggen so lange belassen werden, bis nicht nur die völkerrechtliche Anerkennung der neuen Bundesflagge, sondern auch die Uebertragung aller vertragsmäßigen und sonstigen Rechte völlig sicher gestellt sein wird; es werden also vorher die erforderlichen Notificationen zu erlassen, die bestehenden Schiffahrtsverträge zu revidiren und die nöthigen gesetzlichen Bestimmungen über das Recht zur Führung der Bundesflagge zu führen sein 43

Mit Blick auf das Bundeskonsularwesen forderte Kirchenpauer, es müsse den einzelnen Regierungen das Recht vorbehalten bleiben […] den Bundes-Consuln direct Weisungen und Aufträge zu ertheilen und direct Berichte von ihnen einzuziehen Wie auf die Beibehaltung dieses Rechtes, so wird Hamburgischer Seits auch darauf großer Werth gelegt, daß den vorzugsweise den transatlantischen Handel Deutschlands vermittelnden Hansestädten bei der Frage der Errichtung von Consulaten an außereuropäischen Plätzen, über die Besetzung derselben und über die Befugung derselben zur Erhebung von Gebühren, eine maßgebende Stimme eingeräumt werde 44

Bis zum Jahresende 1866 hatte Preußen die Annexionen als Folge des Krieges auch durch den Preußischen Landtag absegnen lassen Mit dem 1 Januar 1867 wurden Schleswig und Holstein zu Preußischen Provinzen Damit wurden die an Hamburg grenzenden holsteinischen Städte Altona und Wandsbek preußisch 45 Hamburg stand am Scheidewege Bislang war Hamburg eine „wirklich noch Freie und Hansestadt“ Die Stadtväter selbst hatten über das Wohl und Wehe ihrer Stadt zu befinden So dachte man Anfang 1867 in den politisch und gesellschaftlich tonangebenden Hamburger Familien Für die Nostalgie gab es einen handfesten Grund: Die Stadt stand vor schwerwiegenden Entscheidungen Und deren logische Konsequenz würde sein, dass Hamburg, dieses reiche, prosperierende und stolze Gemeinwesen, auf seine traditionelle Eigenständigkeit, seine Autonomie würde verzichten müssen 46

Gustav Heinrich Kirchenpauer, der Bismarck aus seiner Zeit als Hamburgischer Bevollmächtigter beim Deutschen Bund in Frankfurt kannte und seinerzeit immer auf der Seite Österreichs gestanden hatte, wurde im Dezember zu Verhandlungen über 43 44 45

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Ebd , Anlagenband 2, Schlußprotocoll, v 7 2 1867, 25 f und ebd , Anlage zu dem Schlußprotocoll v 15 1 1867 Für das Schlußprotocoll, 26 Ebd , 26 Uwe Bahnsen, Als Altona und Wandsbek preußisch wurden Hamburg historisch: Der Senat stand vor 150 Jahren vor der Frage, ob Hamburg dem Norddeutschen Bund beitreten sollte In: Die WELT v 21 1 2017 (https://www welt de/print/die_welt/hamburg/artikel161382030/Als-Altonaund-Wandsbek-preussisch-wurden html (Zugriff 22 8 2020) Ebd

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eine Bundesreform nach Berlin entsandt Er erkannte schnell, dass der neu zu gründende Staat statt eines Staatenbundes „ein relativ festgefügter Bundesstaat“ werden sollte 47 Was in Berlin geschah sah er als „Imperialismus nach allen Richtungen“ 48 Von allen norddeutschen Staaten hat sich keiner „so hartnäckig dagegen gesträubt“ dem neuen Bund beizutreten wie Hamburg Hätte Bismarck den Hamburgern übel gewollt, hätte er genug Gründe für die Annexion der Stadt gegeben Moralische Bedenken hielten ihn davon sicher nicht ab, denn schließlich ist er auch vor dem Sturz von Königsthronen nicht zurückgeschreckt Eher war es wohl die Erkenntnis, daß Hamburg seine Aufgaben als deutscher Haupthafen als selbständiger Bundesstaat besser erfüllen würde, denn als preußische Kommune 49

Ein Beitritt zum preußisch dominierten Norddeutschen Bund bedeutete den Verlust zentraler Souveränitätsrechte wie das Recht Handelsverträge abzuschließen, eine eigene Handelsflagge zu führen, Konsulate zu unterhalten, eine interessenorientierte Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik zu verfolgen sowie die Post- und Telegraphenhoheit Hamburg musste auch sein Bürgermilitär auflösen und damit seine seit dem 13  Jahrhundert bestehende Wehrhoheit aufgeben Für die traditionsbewussten Kaufmannsfamilien war dies nur „schwer zu akzeptieren“ Eine von 14000 Bürgern unterzeichnete Petition gegen die Abschaffung des Bürgermilitärs blieb erfolglos In den ersten Monaten des Jahres 1867 stand der Senat vor der schwierigen und zugleich grundsätzlichen Frage ob Hamburg dem Nordbund beitreten sollte Bürgermeister Nicolaus Ferdinand Haller war für den Beitritt, denn Hamburg könne einen Konflikt mit Bismarck nicht gewinnen Kirchenpauer und Merck als Mitglieder der Senatskommission für Auswärtige Angelegenheiten und Gegenspieler des Bürgermeisters wollten bei den Verhandlungen über eine Verfassung des Norddeutschen Bundes – den Entwurf bezeichneten sie als „abscheulich“ und als „Machwerk“ – mehr Souveränitätsrechte sichern und Sonderrechte durchsetzen Ähnlich wie Bremen wollte man im Bereich von Handel und Schifffahrt einen Sonderstatus erhalten 50 Für die Zukunft von Wirtschaft und Handel konnte Hamburg bei den Verhandlungen mit

47

48 49 50

Zur Verfassung des Norddeutschen Bundes vom Entwurf bis zur Annahme durch den Norddeutschen Reichstag vgl Gustav Stockmann, Die Verfassung des Norddeutschen Bundes, wie sie aus der Schlussberathung des Reichstages am 16 April 1867 hervorgegangen Mit dem Entwurfe Unter Angabe der Betreffenden Amendements, Leipzig 1867 (Reprint Forgotten Books 2018); ders , Verfassung des Deutschen Reichs mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes, zusammengestellt von Dr Gustav Stockmann, Leipzig 1871; E Hiersemenzel, Die Verfassung des Norddeutschen Bundes erläutert mit Hilfe und unter vollständiger Mittheilung ihrer Entstehungsgeschichte, Berlin 1867 Ekkehard Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich 1860–1888, in: Loose, Hamburg, Bd  I (wie Anm  37), 491–500 Zitat Kirchenpauer 499 Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich (wie Anm  43), 497 Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm 39), 288 f

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Bismarck jedoch keine entscheidenden Zugeständnisse erreichen Allein ein Freihafengebiet wurde Hamburg und den beiden anderen Hansestädten zugestanden 51 In seiner Neujahrsansprache 1867 machte der Bremer Bürgermeister Duckwitz sich Gedanken über „die Zukunft unseres Freistaates“ Skeptisch blicke er nach „50 goldenen Jahren“ in die bremische Zukunft Ob Sturm und Regen oder „heiterer Sonnenschein“ bestehen werden sei noch nicht absehbar „Sicher aber ist, daß recht vieles, was uns lieb und teuer gewesen ist, was unser Stolz war, uns verloren gehen wird und daß wir uns in das Unvermeidliche werden finden müssen“ Ob die Zukunft Bremen „freundlich anlächle und die Vergangenheit vergessen mache“ darüber könne mit „Sicherheit“ noch keine Auskunft gegeben werden: „Was wir gehabt haben, das wissen wir; was wir wieder erhalten, das wissen wir nicht“ 52 In seiner Ansprache schilderte er die historische Entwicklung Bremens und dessen Emanzipation Nach 1847/48 konnte Deutschland keine Einigung zustande bringen 1863 wäre eine „friedliche Einigung ermöglicht gewesen“ Diese Chance wurde vertan, da die Mittelstaaten „den fernen Kaiser von Österreich nicht fürchteten, wohl aber den nahen viel gefährlicheren König von Preußen“ 53 Duckwitz merkte an, dass „in Deutschland keine Einigung zustande zu bringen ist, ohne einen unwiderstehlichen Druck von unten oder von oben, war damals so klar wie jetzt“ 54 Resigniert stellte der Bürgermeister fest, dass Bremen im Reichstag nur „eine einzige Stimme abzugeben hat“ und dass es wichtige Funktionen der Regierungsgewalt wie das Militärwesen, die Außenpolitik, die Handelsgesetzgebung, das Post- und Telegraphenwesen und den Betrieb der Eisenbahnen an die Bundesgewalt verloren habe Es stelle sich daher die Frage „was denn für die Regierung einer Handelsrepublik noch übrig bleibe“ 55 Man müsse sich mit der neuen Zeit und den neuen Verhältnissen arrangieren und versuchen „aus der neuen Gestaltung der Dinge nach dem Maße unserer Kräfte zu machen, was wir können“ Wenn Bremen Initiativen ergreife „wo wir völlig sattelfest und im Rechte sind […] wird es auch nicht ausbleiben, daß wir im Bunde als Vertreter des Seehandels uns eine angemessene Stellung sichern“ 56 Beim Verfassungsentwurf hoffe Bremen manche Artikel „zu präzisieren und klarer festzustellen, wie weit die Einwirkung der Bundesregierung in die inneren Landes51

52 53 54 55 56

NdRT Anlagenband 1867 Actenstück 10 Verfassungsentwurf v 15 12 1866, Art 31 : „Die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem Zwecke entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebiets bleiben als Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Einschluß in dieselbe beantragen“ – dieser Passus ist in der vom Norddeutschen Reichstag verabschiedeten Fassung vom 16 4 1867 Art 34 (Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1867, 1–23, 10) Neujahrsrede von Bürgermeister Duckwitz vom 2 Januar 1867, gedruckt bei Krieger, Bremische Politik (wie Anm  38), Anlage B, 123–131, 123 Ebd , 126 Ebd Ebd , 128 Ebd , 129

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angelegenheiten sich erstrecken werde“ 57 Der Norddeutsche Bund sei nur pro forma ein Bund Der Oberherr sei Preußen Bremen müsse vermeiden, dass der Oberherr es „als Stiefkind behandelt“ Als Trost für den Verlust der Selbständigkeit könnte Bremen finden, „daß wir zunächst dreißig Millionen Deutsche zu einem Einheitsstaat vereinigt sehen, zu einem Einheitsstaate, an dessen Möglichkeit niemand bisher gedacht hatte und der auch nur durch Waffengewalt und Druck von oben herab, wodurch allem Widerspruch Schweigen auferlegt wurde, ins Leben geführt werden konnte“ 58 Abschließend gab Duckwitz der Hoffnung Ausdruck, dass Bremen in der „bevorstehenden neuen Ära“ die uneingeschränkte Leitung der inneren Angelegenheiten, auch für „Handel und Schiffahrt ungeschmälert erhalten bleibe“ Mit Blick auf die süddeutschen Staaten hoffte er, „daß die Süddeutschen den neuen Staat nicht zu straff finden mögen, um sich ihm anschließen zu können, auf das unser schönes Nationallied: ‚Was ist des Deutschen Vaterland?‘ wieder zu Ehren komme“ 59 Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde schließlich von den Bevollmächtigten der norddeutschen Staaten am 7 Februar 1867 als Kompromiss noch vor den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag und der Eröffnung des konstituierenden Reichstages angenommen Die Hansestädte konnten nur wenige Änderungen erreichen (Abb 2) In den Verfassungsberatungen des Norddeutschen Reichstages60 – die Hansestädte stellten insgesamt 4 Abgeordnete – wurde die Frage einer Marine von den Vertretern der Hansestädte bewertet 61 Für Bremen argumentierte der nationalliberale Abgeordnete Konsul Hermann Henrich Meier, der Gründer des Norddeutschen Lloyd, eine Marine sei eine „kostspielige Sache“ Sie sei aber nur „eine kostspielige Spielerei […] wenn sie schwach hergestellt wird, eine Marine, die nichts leisten kann, die höchstens den Feind im Fall eines Krieges reizt, sei ohne viele Mühe und Aufwand wegzunehmen“ Er sei überzeugt, dass „eine nachhaltige, tüchtige Marine ein unbedingtes Erforderniß der Großmachtstellung eines Staats“ ist Sie sei in dieser Beziehung „noch wichtiger als zum Schutz des Handels und der Schiffahrt“ 62 Es sei ein Vorteil, dass sich der Kriegsschiffbau derzeit in „einem Uebergangsstadium“ befinde Meier warb dafür eine Marine zu schaffen, die „den nordischen Mächten, Rußland selbst nicht ausgenommen, die Spitze bieten könnte, die so mächtig wäre, daß, wenn die beiden Großmächte in Krieg gerathen durch den Zutritt Deutschlands nach der einen oder der 57 58 59 60 61 62

Ebd Ebd , 130 Ebd , 131 Vgl auch: Erich Pollmann (Bearb ), Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867–1870 Historische Photographien und biographisches Handbuch, Düsseldorf 1989 NdRT Prot 25 Sitzung v 2 4 1867, Abg Meier (Bremen) zu Titel IX (Marine und Schiffahrt), S  520 f , S 528 f ; Abg de Chapeaurouge (Hamburg), S 521 f  – allgemeine Diskussion über Marine und Konsularwesen ebd , 515–534 Ebd , 520

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Abb. 2 KLADDERADATSCH Dezember 1866: Die friedliche Familie Parlament Fremder (Napoleon III ): „Ich traue mich doch nicht recht; wenn sie meine rothen Hosen sehen, werden sie ganz wild!“ Einheimischer: „Fürchten Sie sich nicht, lieber Herr So lange Sie sich ruhig verhalten, thun sie Ihnen nichts“ (http://digi ub uni-heidelberg de/diglit/kla1866/0248 Zugriff 27 8 20)

andern Seite hin den Ausschlag gegeben werden würde“ 63 Eine Marine könne „ohne unsere finanziellen Kräfte zu übersteigen“ geschaffen werden Durch die neuen Mitglieder würde der preußische Marineetat um ein Fünftel vergrößert werden „Fasse ich alle Voraussetzungen, Verhältnisse und Umstände zusammen, so bin ich der Ansicht, daß Deutschland in der günstigsten Lage ist, um eine seiner Machtstellung entsprechende Marine zu schaffen“ 64 Meier vertrat diese Auffassung als Nationalliberaler, „weil er mit der Einigung Deutschlands bereits Großmachtvorstellungen verband“ 65

63 64 65

Ebd , 521 Ebd Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  38), 290

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Der Hamburgische Abgeordnete Charles Ami de Chapeaurouge, Mitbegründer der Nationalliberalen Partei, Mitglied der Bürgerschaft, Mitglied der Deputation für Handel, Schifffahrt und Gewerbe und Vorstand der Handelskammer argumentierte aufgrund seiner langjährigen Auslandserfahrung als Kaufmann, als Banker und als Politiker, dass „der Schutz des Handels durch die Marine sowohl in Friedens- als in Kriegs-Zeiten äußerst problematischer Natur“ sei 66 Er gehe nicht so weit, dass Deutschland keine Flotte haben solle, „im Gegentheil ich bin für eine Flotte, aber für eine Flotte, wie sie angemessen ist“ Für jeden Staat sei der Maßstab gegeben in dem Verhältniß der Ausdehnung seiner Küsten zum Binnenlande […] Wir werden eine Flotte haben müssen, welche genügt zum Schutze unserer Küsten, und ich bitte Sie nicht gar zu sehr den etwas kühnen Calculationen meines Herrn Vorredner zu vertrauen, welcher mit einem Betrage von ca 10 Millionen eine Flotte herstellen will, welche ungefähr die dritte im Range sein soll 67

Chapeaurouge appellierte an die Abgeordneten „dahin zu wirken, daß wir uns eine Flotte beschaffen, welche einen Schutz für unsre Küsten liefert, aber uns nicht zum Ruin gereicht, in finanzieller wie in volkswirthschaftlicher Sicht“ 68 Die Marinefrage und das Verhältnis zwischen Kriegsmarine und Handelsflotte wurden kontrovers diskutiert 69 Kriegsminister von Roon vertrat dabei die Auffassung, dass „die Ansicht, wir sollten eine Flotte gründen, nur um die Küsten zu schützen, ist nach meiner Auffassung offenbar etwas zu enge“ 70 Verschiedentlich wurde in den Diskussionen um die Verfassung des Norddeutschen Bundes von „binnenländischen“ Abgeordneten gefordert, die Hafen- und Schifffahrtseinrichtungen in die Regie des Bundes zu stellen 71 Es war schwer vermittelbar, „daß Handel und Schiffahrt nicht nur hohe Einkünfte erbrachten, sondern beträchtliche Investitionen erforderlich machten Auch über den Zollanschluß wurde debattiert“ 72 Bremen und Hamburg hielten an dem Sonderstratus in Zollfragen fest, während Lübeck im August 1868 den Antrag auf „Einschluß“ in die gemeinschaftliche Zollgrenze beantragte Das Einfügen in den Norddeutschen Bund, in die neuen staatlichen Verhältnisse, gestaltete sich vielfach schwierig, aber brachte auch Vorteile Während Bremen sich – auch wegen eigener Interessen mit Blick auf Bremerhaven und Geestemünde – mit dem Norddeutschen Bund und später dem Deutschen Reich arrangierte, tat sich Hamburg schwer Die Vorbehalte gegen Preußen verstärkten sich u a dadurch, dass 66 67 68 69 70 71 72

NdRT Prot 25 Sitzung v 2 4 1867, 522 Ebd Ebd Ebd , 522 ff Ebd , 526 Ebd , 6 Sitzung v 4 3 1867 ff , 41 ff Schwarzwälder, Geschichte der Hansestadt Bremen II (wie Anm  38), 290

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Hamburg durch Preußen häufig seine Interessen verletzt sah und gekränkt war als ein geplantes Oberhandelsgericht nicht in der wichtigsten Handelsstadt eingerichtet wurde, sondern in Leipzig Kirchenpauer beklagte diese Entwicklung und sah die alte „hanseatische Selbständigkeit“ Stück für Stück abbröckeln 73 So lange die Handelspolitik Preußens und des deutschen Reiches freihändlerisch orientiert war, gab es für den Handel und die Wirtschaft der Hansestädte keine Probleme 74 Der Konflikt verschärfte sich in den 1870er Jahren als Bismarck vom Freihandel zu einer Schutzzollpolitik überging Die Zollanschlussfrage sollte dann von grundlegender Bedeutung werden Es waren die Jahre 1881 und 1888, nicht der Beitritt zum Norddeutschen Bund und der Weg in das Kaiserreich, die Schicksalsjahre für Hamburg 75 Als Ausgleich für den Anschluss Hamburgs an das deutsche Zollgebiet entstand zwischen 1886 und 1896 mit der Speicherstadt der modernste und weltweit größte Lagerhauskomplex Bis zur Bildung des Europäischen Binnenmarktes zum 1 Januar 1993 konnte Hamburg dieses Privileg bewahren Während Lübeck 1937 mit dem Groß Hamburg Gesetz seine Eigenständigkeit verlor und Teil der preußischen Provinz Schleswig-Holstein wurde arrondierte sich Hamburg um seinen Kern und gliederte u a Altona, Wandsbek und Harburg in sein Stadtgebiet ein Bremen konnte bei der Länderneugliederungsdiskussion in der Weimarer Republik seine Selbständigkeit retten und nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der amerikanischen Besetzungszone seine staatliche Unabhängigkeit bewahren 76 Auslöser für die Zerschlagung des Deutschen Bundes durch Preußen waren 1866 nach der Bundesexekution gegen Dänemark 1863, dem Krieg gegen Dänemark wegen der Herzogtümer, dem Wiener Frieden von 1864 mit Dänemark77 und der gescheiterten Gasteiner Konvention zwischen Österreich und Preußen von 1865 der Status und die Zukunft der Elbherzogtümer Holstein und Schleswig Es ist jüngst die Rolle Bismarcks in der Krise um Schleswig und Holstein differenziert und entpersonalisiert worden 78 In den preußischen Eliten der 1860er Jahre gab es vier verschiedene relevante politische Richtungen Neben der nationalen, liberalen Opposition finden sich auf staatlicher Seite die „konservativ-reaktionäre, die konservativ-liberale und

73 74 75 76 77 78

Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich (wie Anm  37), 502 Vgl hierzu: Peter Borowsky, Hamburg und der Freihafen Wirtschaft und Gesellschaft 1888–1914, in: ders , Schlaglichter historischer Forschung Studien zur deutschen Geschichte im 19 und 20  Jahrhundert, aus dem Nachlass hrsg v Rainer Hering und Rainer Nicolaysen, Hamburg 2005, 109–137 Heinrich Reincke, Hamburg Ein Abriß seiner Stadtgeschichte, Bremen 21926, 263 Vgl hierzu Gruner, Gerettete Selbständigkeit (wie Anm  38), 18 ff  – ders , Länderneugliederungen in Deutschland nach 1945 – internationale, europäische und deutsche Rahmenbedingungen, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 153(2017), 1–45, 24 ff Auge/Lappenküper/Morgenstern, Der Wiener Friede 1864 (wie Anm  37), 101 ff Vgl hierzu: Frank Möller, ‚Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat‘ Die preußischen Ziele im Deutsch-Dänischen Krieg 1864, in: Auge/Lappenküper/Morgenstern, Der Wiener Friede 1864 (wie Anm  37), 141–161

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die konservativ-machtpolitische Richtung 79 In diesem Spannungsfeld entschied sich 1863 das Verhältnis zum schleswig-holsteinischen Konflikt 80 Bei der Diskussion in der preußischen Regierung wie diese auf den Schleswig-Holstein Konflikt reagieren sollte kämpfte die „reformkonservative Position mit der machtstaatlichen von Bismarck und Roon um den Einfluss beim König“ 81 In der Auseinandersetzung mit dem reformkonservativen preußischen Gesandten in Paris, Robert Heinrich Graf von der Golz, lehnte Bismarck eine Zusammenarbeit mit den Mittelstaaten und der Beteiligung am „nationalen Aufbruch“ ab Von den Alternativen Großmacht oder Bundesstaat plädierte er für eine Großmachtpolitik Preußen könne seine aufgrund einer falschen Politik verlorene Stellung in Deutschland und Europa nur dadurch zurückgewinnen, „daß wir fest auf eigenen Füßen stehen und zuerst Großmacht, dann Bundesstaat sind“ 82 Diese Aussagen Bismarcks wurden für die preußische Politik 1864 und danach zur Leitlinie: Es war die klare Umsetzung des machtstaatlich-konservativen Programms: Ignorieren des Deutschen Bundes, Zusammengehen mit Österreich, unter der Voraussetzung, dass man Österreich vor den eigenen Karren spannen könne, Übergehen der deutschen Nationalbewegung, indem man gleichzeitig die nationalen Wünsche befriedigte, im Ergebnis also der Vorrang preußischer Machtpolitik innerhalb Deutschlands Das Ziel einer Annexion Schleswigs und Holsteins musste hier schon gar nicht mehr angesprochen werden, es ergab sich aus der Ablehnung des Augustenburgers von selbst 83

Ein neuer Mittelstaat aus Schleswig und Holstein unter dem Haus Augustenburg, den die deutschen Mittelstaaten im Bund favorisierten, hätte aus der Sicht Bismarcks in der Bundesversammlung des Deutschen Bundes aus Gründen der Existenzsicherung immer gegen Preußen gestimmt In seinem Beitrag über die Gründung und die Verfassung des Norddeutschen Bundes verfolgt Frank Möller wie die bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland „den Umschwung in der nationalen Einigung durch den Sieg Preußens 1866 und die anschließende Organisation Deutschlands betrachtete“ Aus seiner Sicht mussten 1866/67 diese Debatten aufgrund von drei Anlässen geführt werden: 1 In der Diskussion um die Frage der Integration der annektierten Staaten in die preußische Monarchie „wurde in der Frage der Legitimität und Ausgestaltung der Annexio-

79

80 81 82 83

Ausführlicher zu den Zielen und Positionen innerhalb und außerhalb der Regierung vgl ebd , 149 ff ; vgl auch Ernst-Ludwig von Gerlach, Gottesgnadentum und Freiheit Ausgewählte politische Schriften aus den Jahren 1863 bis 1866, hrsg mit einem Nachwort versehen von Hans-Christof Kraus, Wien 2011; Hans-Christof Kraus, Ernst-Ludwig von Gerlach, politisches Denken und Handeln eines preussischen Altkonservativen, 2 Bde , Göttingen 1994 Möller, Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat (wie Anm  78), 143 Ebd , 154 Bismarck zitiert nach Möller, Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat (wie Anm  78), 156 Ebd , Möller, Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat (wie Anm  78), 156

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nen die nationale und gleichzeitig föderale Ordnung verhandelt“ Die vereinnahmten Gebiete konnten nur „als Deutsche“ in den preußischen Staat integriert werden 2 1867 die Gründung des Norddeutschen Bundes, die nördlich des Mains einen Bundesstaat unter preußischer Führung schuf und 3 1867 die Reform und Neuorganisation des Zollvereins mit einem Zollparlament zu einem Zollbundesstaat unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten 84

Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht die liberale Nationalbewegung Diese wurde als Ergebnis der Zerschlagung des Deutschen Bundes plötzlich mit der Verwirklichung eines Nationalstaates konfrontiert Quellengrundlage sind vor allem Reden auf dem konstituierenden Reichstag im März und April 1867 sowie der von Gustav Freytag herausgegebene „Grenzbote“ Geschildert wird in einem ersten Schritt die Entstehung des Norddeutschen Bundes, in einem zweiten die Reaktion von Liberalen und Konservativen auf die ‚Revolution von oben‘ und schließlich die konkrete Ausgestaltung der Verfassung des Norddeutschen Bundes Der Krieg von 1866 und sein überraschendes Ergebnis wurden tatsächlich schon „um einen deutschen Bundesstaat geführt!“ Dabei argumentiert Möller, dass Preußen seine Machtstellung in Norddeutschland direkt bedroht sah und sich entschloss die Schleswig-Holstein-Frage zum Anlass für einen Krieg zu benutzen 85 Aus taktischen Überlegungen musste der Krieg als „nationaler Krieg inszeniert werden“, denn ein Waffengang, um die Hegemonialstellung in Norddeutschland abzusichern, verbunden mit territorialen Zugewinnen, war für die deutsche und europäische Öffentlichkeit nicht akzeptabel Der bismarcksche Bundesreformplan wurde zur Grundlage der preußischen Kriegführung, zum Kriegszielprogramm Durch ihn versuchte Bismarck „seine nationalen Ziele zu beweisen“ und die norddeutschen Staaten für seinen Plan und gegen Österreich und den Deutschen Bund zu gewinnen Die Hinwendung zum nationalen Programm durch Bismarck führte zum Bruch mit den Hochkonservativen, vor allem mit ihrem Führer Ernst Ludwig von Gerlach Der schnelle Sieg gegen Österreich und die Unterstützer der Bundesexekution gegen Preußen bewirkte, dass die Liberalen die „Ereignisse als Revolution von oben begriffen“ Die „deutsche Revolution in Kriegsform“ – so bezeichnete den Vorgang der Staatsrechtler und das Mitglied der badischen Ersten Kammer Johann Caspar Bluntschli – entsprach durchaus den Erwartungen der Liberalen seit 1848 für eine kleindeutsche Lösung der deutschen Frage mit einem allgemeinen Wahlrecht und einem Nationalparlament Der schließlich Anfang Februar 1867 mit den Regierungen der Mitgliedstaaten des Norddeutschen Bundes abschließend abgestimmte

84 85

Vgl hierzu den Beitrag von Hans-Werner Hahn, Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat: Der Deutsche Zollverein 1866–1871, in: HMRG 31/2020 (2019), 45–66 Ausführlicher hierzu: Frank Möller, Preußens Entscheidung zum Krieg 1866, in: Winfried Heinemann / Lothar Höbelt / Ulrich Lappenküper (Hgg ), Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 19–37

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Verfassungsentwurf, den Anfang März 1867 Bismarck dem Norddeutschen Reichstag vorgelegte, wurde von den verschiedenen liberalen Strömungen im Reichstag unabhängig davon ob sie sich für oder gegen die Verfassung positionierten eingehend diskutiert und Defizite aufgezeigt Kritisiert wurde, dass der neue Bund noch zu stark föderative Elemente aufwies und nicht ein echter Einheitsstaat sei Entscheidend und von höchster Priorität aber war für die Liberalen „die endgültige Einigung Deutschlands zu einem kleindeutschen Nationalstaat“ Der Norddeutsche Bund wurde als ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem deutschen Nationalstaat gesehen, der offen sein müsse für die Süddeutschen Staaten

Abb. 3 Organigramm des Norddeutschen Bundes aus: Wolf D Gruner, Bündische Formen deutscher Staatlichkeit: Die Deutsche Hanse – Das Alte Reich – Der Deutsche Bund – Der Norddeutsche Bund – Die Bundesrepublik Deutschland – Die Europäische Gemeinschaft Katalog zur gleichnamigen Ausstellung Duderstadt 1990, 61

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Abb. 4 „Karte der Herzogthümer Schleswig- Holstein und Lauenburg und des Königreichs Dänemark“ 12 12 1863 Illustrirte Zeitung 41/1863, 433: https://www dhm de/ lemo/bestand/objekt/karte-der-herzogtuemer-schleswig-holstein-und-lauenburgund-des-koenigreichs-daenemark-1863 html (Zugriff 23 7 21)

Die Herzogtümer Schleswig und Holstein wurden im Januar 1867 in den preußischen Staat einverleibt Reimer Hansen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund,86 mit den historischen Voraussetzungen der Zugehörigkeit Schleswigs zu Dänemark in Personalunion und Holsteins als Herzogtum im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und im Deutschen Bund in Personalunion mit dem König von Dänemark, der Integration der Herzogtümer, der Integration als Provinzen in das Gesamtstaatsgefüge der preußischen Monarchie, der Borussifizierung Schleswig-Holsteins als integraler Bestandteil der preußischen Monarchie,

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Reimer Hansen, Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund Eine historische Episode von langfristiger Bedeutung in übergreifender Perspektive

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der Grenzen der Borussifizierung und Nationalisierung im kleindeutschen Kaiserreich, der Sprachen- und Minderheitenproblematik sowie der Langzeitwirkung der Annexion als preußische Provinz bis zum Ende der Monarchie und darüber hinaus Nach den Bestimmungen des Friedensvertrages von Prag wurde festgelegt, „daß die Bevölkerung der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen“ 87 Im Sommer 1867 richtete Dänemark an Preußen eine Note in der es Preußen ersuchte die Bedingungen zu benennen und bereit sei in Verhandlungen einzutreten „sofern sie der dänischen Unabhängigkeit keinerlei Abbruch thun“ Preußen ließ mitteilen, dass es den Artikel V des Prager Friedens bzgl Nordschleswig „loyal und ohne Hintergedanken“ ausführen wolle 88 Zwischen 1867 und 1869 wurde die Nordschleswigfrage diskutiert, doch durch die Reichsgründung war dieses Thema zunächst überholt Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kam es zu keiner Abstimmung der dänisch-sprachigen Bevölkerung über ihre nationale und staatliche Zugehörigkeit 89 Aufgrund der Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles 1919 kehrte das mehrheitlich dänischsprachige Nordschleswig 1920 zu Dänemark zurück Die Grenze zwischen Dänemark und Deutschland […] wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt Zu diesem Zweck wird die Bevölkerung derjenigen Gebiete des Deutschen Reiches, die nördlich einer von Osten nach Westen verlaufenden […] durch einen braunen Strich kenntlich gemachten Linie gelegen sind […] berufen, ihren Willen durch eine Abstimmung kundzutun 90

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der britischen Besatzungszone 1947 das Land Schleswig-Holstein gegründet Den Antrag Süd-Schleswigs an den Ausschuss für die Neugliederung des Bundesgebietes ein eigenes Bundesland zu bilden wurde ab-

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88 89 90

Friedensvertrag von Prag v 23 8 1866, Art V (abgedruckt in: Philipp Anton Guido von Meyer / Heinrich Zöpfl (Hg ), Corpus Iuris Confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und Öffentliches Recht des Deutschen Bundes (in der Folge CJCG), 3 Bde , Frankfurt a M 1858–1869 (Reprint Aalen 1978), Bd  III: 668–670, 669 BAYERISCHES HAUPTSTAATSARCHIV MÜNCHEN (in der Folge BHStAM) MA 632 (Nordschleswigfrage 1867) Bay Ges Berlin – Ludwig II 21 7 1867 und ebd , Bay Ges Berlin – Ludwig II v 22 7 1867; ebd  Hohenlohe – Ges Berlin 2 1 1869 Vgl hierzu auch: Wolf D Gruner, Der Deutsche Bund, das ‚Dritte Deutschland‘ und die deutschen Großmächte in der Frage Schleswig und Holstein zwischen Konsens und Großmachtarroganz, in: Auge/Lappenküper/Morgenstern, Der Wiener Friede 1864 (wie Anm  37), 101–140, 136–140 Auswärtiges Amt (Hg ), Der Vertrag von Versailles Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten nebst dem Schlußprotokoll und der Vereinbarung betr die militärische Besetzung der Rheinlande Amtlicher Text der Entente und amtliche deutsche Übertragung, Berlin 1924, Abschnitt XII, Schleswig, Art 109–114, 67–71, Art 109, 67; vgl auch Jan Schlürmann, 1920 Eine Grenze für den Frieden Die Volksabstimmungen zwischen Deutschland und Dänemark, Kiel 2019 Die „braune Linie“ war auf einer anliegenden Karte eingezeichnet

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gelehnt, da es nicht lebensfähig sein würde 91 Mit dem Bonn-Kopenhagener Abkommen vom 29 März 1955 vereinbarten Dänemark und die Bundesrepublik Deutschland Schutzrechte für die jeweilige Minderheit Bis heute gelten die Vereinbarungen als Modell Minderheitenfragen einvernehmlich zu regeln 92 Mit Patent vom 21 Januar 1867 hatte der König von Preußen sich zum rechtmäßigen Landesherren erklärt und die Herzogtümer von Provinzen des dänischen Gesamtstaates de jure konstitutionell-administrativ in eine Provinz des preußischen Staates transformiert Damit endete die über vier Jahrhunderte währende Personalunion mit dem Königreich Dänemark Beide Herzogtümer waren durch eine natürliche Grenze zwischen Nord- und Ostsee getrennt Die Grenze zwischen den Herzogtümern war seit dem Mittelalter die Nordgrenze des Karolingerreiches, dann des Ostfränkischen Reiches, des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und schließlich des Deutschen Bundes zu Dänemark und zum dänischen Gesamtstaat Für Holstein hatte der König von Dänemark ein Reichslehen, für Schleswig ein dänisches Lehen Beide Herzogtümer gehörten in Personalunion zum dänischen Königshaus und durften nicht geteilt werden und „somit nicht an weitere dynastische Erben oder Sekundogenituren verliehen werden“ (Hansen) 93 Beide Territorien waren staats- und völkerrechtlich unterschiedlich Sie gehörten zu verschiedenen Rechtsgebieten Und die Eidergrenze blieb bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 eine „markante Rechtsgrenze“ Die verkürzte, irreführende politische Devise des 19  Jahrhunderts „auf ewig ungeteilt“ war eine Instrumentalisierung Die historische Skizze der beiden Herzogtümer in der Zeit ihrer Personalunion mit Dänemark verdeutlicht, dass es in der Zeit der Union kein homogenes oder gar einheitlich gewachsenes Verfassungs-, Verwaltungs- und Justizwesen gab Bei der Anpassung der Herzogtümer an die preußische Verfassung sollten möglichst Gesetze und Eigentümlichkeiten erhalten bleiben Durch Einordnung in die Verfassungsordnung und durch Anpassung erfuhren die Herzogtümer tiefgreifende Veränderungen und Neuerungen, die nach der vorherigen Eigenentwicklung im dänischen Staat letztlich zu einer Mediatisierung der neuen preußischen Provinz führten Bei den Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes erlaubte das Wahlgesetz eine Wiedergabe des politischen Wählerwillens in der Provinz Sie waren Ausdruck einer Ablehnung der Annexionspolitik Gewählt wurden in 91 92

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BHStAM St K 10095 Prot Ausschuss Ländergrenzen v 27 8 1948 Text Bonn-Kopenhagener Abkommen verfügbar: http://www wahlrecht de/doku/doku/19550329 zuletzt aufgerufen 28 8 20; Jürgen Kühl, Ein nachhaltiges Minderheitenmodell Deutsche und Dänische Minderheiten jenseits der Grenze Bundeszentrale für Politisches Bildung 12 11 2004 (http://www bpb de/apu/27965/ein-nachhaltiges-minderheitenmodell?p=all zuletzt aufgerufen 28 8 20 Vgl zu diesem Komplex ausführlicher: Reimer Hansen, Die Bestimmung und die Bedeutung der Unteilbarkeitsformel des Ripener Privilegs 1460, in: Oliver Auge / Burkhard Büsing (Hgg ), Der Vertrag von Ripen und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa, Ostfildern 2012, 73–100

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Schleswig dänische Abgeordnete, in Holstein wurden sieben Nationalliberale gewählt Bei den Wahlen zum Reichstag im Juli 1867 – die Wahlkreise wurden zu Ungunsten der dänischen Bevölkerung verändert – setzte sich im Norden nur ein dänischer Abgeordnete durch In Holstein wurden erneut sieben Liberale gewählt 94 Zwischen 1868 und 1870 hatten sich die Liberalen gespalten Als „Landespartei“ gewann sie zum ersten Reichstag noch zwei Mandate büßte jedoch bis Ende der 1870er Jahre ihre politische Bedeutung ein Somit verlor die deutsch-schleswig-holsteinische Bewegung auf Dauer in der öffentlichen Meinung und der Parteienlandschaft der Herzogtümer als politische Kraft ihren früher bestimmenden Einfluss, blieb jedoch vor dem Hintergrund der „Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung“ ein virulenter und zählebiger Faktor Die Mehrheit der Bevölkerung der Herzogtümer schien sich im Wesentlichen innerhalb gut einer Dekade mit der Annexion und Inkorporation der Herzogtümer abgefunden zu haben Ein wichtiger und gewinnbringender Aspekt im Beitrag von Reimer Hansen sind die Geschichtsbilder aus preußisch-kleindeutscher und dänischer Sicht Frühzeitig setzte die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbildes ein und Hansen geht in diesem Zusammenhang ausführlich auf Uwe Jens Lornsen ein 95 Offenbar wird in diesem Zusammenhang die „Frühphase der ideologischen Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung der Geschichte Schleswig-Holsteins“ Sie löste das „aufgeklärt-gesamtstaatliche Geschichtsbild“ der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung ab und bewirkte einen bemerkenswerten „Verlust der eigenen Geschichte“ 96 Die Borussifizierung und kleindeutsche Nationalisierung profitierte, wie Reimer darlegt mittel- und langfristig von der deutsch-schleswig-holstein Bewegung seit den 1830er Jahren Als Landespartei in Preußen und im Norddeutschen Bund verlor sie

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Vgl A Phillips (Hg ), 1883 Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1883 Statistik der Wahlen zum Konstituierenden Norddeutschen Reichstage, zum Zollparlament sowie zu den fünf ersten Legislatur-Perioden des Deutschen Reichstages, Berlin 1883 (Reprint 2018 Creative Media); Bearbeitet von Valentin Schröder 2011nach der amtlichen Statistik: (https://www wahlen-in-deutschland de/kuKarte1867-I htm und https://www wahlen-in-deutschland de/kuKarte18671868 htm/ Zugriff 23 7 21) sowie https://www wahlen-in-deutschland de/kuPrSchlehol htm (Zugriff 23 7 21) – Ergebnisse zu den Reichstagswahlen auch: KAISERLICH STATISTISCHES AMT (Hg ), Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1/1881, 140–142 Vgl hierzu: Karl Jansen, Uwe Jens Lornsen Ein Beitrag zur Geschichte der Wiedergeburt des deutschen Volkes, Kiel 1872; Reimer Hansen, Uwe Jens Lornsen jenseits der historischen Realität, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (in der Folge ZSHG) 139/2014, 77– 121; Carsten Jahnke, Die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbewußtseins 1866–1889, in: ZSHG 130/2005, 161–191 Carsten Jahnke, Die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbewusstseins in den Volksschulen, in: ders  / Jens Fabricius Møller (Hgg ), 1864 – og historiens lange skygger – 1864 – und der lange Schatten der Geschichte Den dansk-østrigks-preusiske krig i 1864 og dens betydning i dag  – Der dänisch-österreichisch-preußische Krieg und seine Geschichtsgegenwartbedeutung, Husum 2011, 279–304, 249

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schnell den staatlichen Rückhalt und ihre Dominanz in der Öffentlichkeit Ihr „politisches Potential konnte“, so argumentiert Reimer Hansen, indes aufgrund weitgehender Übereinstimmung in der nationalen Orientierung zu einem großen Teil von der Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung der neuen Provinz Preußens aufgesogen werden, sich ihr assimilieren und in ihr aufgehen Dieser Wandel im Mainstream lässt sich nicht nur allgemein, sondern vielfach auch bis in die persönliche Biographie bekannter Persönlichkeiten zurückverfolgen

Im nördlichen Herzogtum Schleswig stieß jedoch bei der dänischen Bevölkerung die Borussifizierung an ihre Grenzen Die dänische Bevölkerung erwies sich dabei als immun und widerstandsfähig Eine Abtretung von Territorien mit ethnischen Minderheiten, wie Nordschleswig an Dänemark Elsass und Lothringen an Frankreich oder die Aufgabe polnischsprachiger preußischer Provinzen kamen für Bismarck, wie er im Reichstag feststellte, nicht in Frage So wurde 1879 im Zweibundvertrag der Hinweise auf Artikel V des Prager Friedens gestrichen In der Reichstagsdebatte über die Kolonialpolitik und die Förderung von Dampfschiffverbindungen nahm Bismarck erneut Stellung zur Nordschleswigfrage Die im Reichstag immer wieder in den Parteien geäußerten „Zweifel an der Beständigkeit des Friedens“ erschüttern den Frieden: Es ist deshalb die Taktik aller derjenigen, deren Parteiprogramm oder deren Bestrebungen überhaupt nur durch Unterbrechung des Friedens, nur durch Krieg verwirklicht werden können, stets Zweifel an der Sicherheit des Friedens auszusprechen [… W]ir haben bei uns ja im Reiche Fraktionen, deren offen aufgestellte Ideale nur durch Krieg, und zwar einen unglücklichen Krieg Deutschlands erreicht werden können Die Herstellung des Königreichs Polen, die Loßreißung der polnisch redenden Provinzen von Preußen ist doch nur möglich, durch einen unglücklichen Krieg Preußens Die Wiederabtretung von Nordschleswig an Dänemark, die Wiederherstellung des Königreichs Hannover in seinem alten Umfange, die Wiederabtretung von Elsaß-Lothringen an Frankreich – das alles sind Dinge, die nur nach einer großen Niederlage Deutschlands erreichbar sind, nur wenn gewissermaßen das Königreich Preußen wieder ausgeschlachtet wird, das Königreich, so wie es jetzt Mitglied des deutschen Reiches ist Es ist deshalb nicht unnatürlich, wenn strebsame Mitglieder solcher Fraktionen eine gewisse Ungeduld empfinden, daß der Friede sich immer mehr zu befestigen scheint Diese die Sicherheit in Zweifel ziehenden Ziele können doch „nur erreicht werden, nachdem Deutschland, Preußen in einem unglücklichen Kriege der Ausschlachtung, der fremden Willkür preisgegeben sind “97

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Reaktion Bismarcks auf die Reden Richters und Windthorsts: DRT Sten Ber , VI Leg I Session 1884/85, Bd  3, 67 Sitzung v 14 3 1885, 1825 (Postdampfschifffahrtsverbindungen mit überseeischen Ländern, Beihilfen)

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Wie schon 1863/64 war der Erwerb von Schleswig und Holstein aus macht- und sicherheitspolitischen Überlegungen für Bismarck von zentraler Bedeutung wie sich dieses in seinen Memoranden und Gesprächen nachlesen lässt Frank Möller hat dies in seinem Beitrag die machtpolitische Dimension anschaulich dokumentiert Kersten Krüger geht in seinem Beitrag auf die Frage der nationalen Frage mit Blick auf Dänemark, Schleswig und Holstein ein Einleitend definiert er den Nationsbegriff, der für das 19  Jahrhundert als Grundsatz feststellte: „Das unnatürlich getrennte vereinen, das unnatürlich vereinte trennen“ Der späte Skandinavismus formulierte diesen Grundsatz, der inhaltlich seit dem 19  Jahrhundert bei allen Nationalbewegungen „galt und gilt“ 98 Er kennzeichnete den „Übergang vom pluralistisch-toleranten Nationsbegriff “ Herders zum „verengten intoleranten Nationalismus“ u a Ernst Moritz Arndts Damit gerieten, so stellt Kersten Krüger fest, „die frühmodernen, meistens dynastisch strukturieren Gesamtstaaten ins Wanken – im Innern durch das Verlangen nach nationaler Homogenität und politischer Partizipation, nach außen durch die Forderung neuer, mit der Nation übereinstimmender Grenzen Militärische Konflikte wurden bewusst in Kauf genommen“ Vor der europäischen Neuordnung von 1814/15 war Dänemark einer der größten europäischen Staaten,99 verlor aber u a Norwegen unter König Friedrich VI , der zu lange am Bündnis mit Napoleon festgehalten hatte, an Schweden Das Herzogtum Holstein, bis 1806 Reichslehen, kehrte 1815 in die Nachfolgeorganisation des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in den Deutschen Bund zurück Der König von Dänemark war so als Herzog von Holstein Mitglied des Deutschen Bundes und in das Sicherheitssystem des Deutschen Bundes eingebunden und abgesichert Skizziert werden die historische Entwicklung der beiden Herzogtümer im Gesamtstaat und die Funktion der Zusammengehörigkeit, die Chancen für den Landesausbau und die Freizügigkeit von „Menschen und Ressourcen“ Bei den Wanderungsbewegungen spielten bis in das 19  Jahrhundert die sprachlichen Unterschiede „keine oder kaum eine Rolle“ Mit der Revolution von 1848/49 in Dänemark und den Elbherzogtümern begann ein „besonderer Konflikt“ zwischen den Schleswig-Holsteinern und den Dänen Die anfangs gemeinsame liberale Bewegung wurde durch „nationale Gegensätze aufgeladen, die sich dem Widerspruch zwischen Staatsbildung und Nationsbildung zuordnen lassen“ Wäre der nationalstaatliche Grundsatz mit Einbeziehung des Willens der Be98 99

Hans Lennart Lundh, Svandinavismen i Sverige, Stockholm 1951, 32; vgl auch Kersten Krüger, Der Skandinavismus im 19 und 20  Jahrhundert, in: ders , Formung der frühen Moderne Ausgewählte Aufsätze, Münster 2005, 335–347 Vgl Eva Heinzelmann / Stefanie Robl / Thomas Riis (Hgg ), Der dänische Gesamtstaat Ein unterschätztes Weltreich?, Kiel 2006; vgl auch Jan Schlümann, 1864 und das Ende des Gesamtstaates Überlegungen zur Bedeutung struktureller und ideologischer Transformationsprozesse im späten deutsch-dänischen Gesamtstaat 1848–1864 und das Ende des Gesamtstaates, in: Jahnke/Møller, 1864 (wie Anm  96), 209–226

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völkerung berücksichtigt worden hätte bereits damals eine Grenze gezogen werden können, zu der es dann erst 1920 kommen sollte Beide politisch-ideologische Konfliktparteien vermischten Staatsbildung und Nationsbild und steigerten so das Konfliktpotential Der Deutsche Bund und die Nationalversammlung beschlossen die Aufnahme der Elbherzogtümer in den Bund bzw das Deutsche Reich In Kerndänemark wurde das Grundlov verabschiedet, das im Wesentlichen bis heute fortbesteht Die Verfassunggebende Landesversammlung verabschiedete 1848 ein Grundgesetz für die Herzogtümer, das allerdings 1850 wieder abgeschafft wurde Nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Preußen, dem Reich und Dänemark wurde 1852 der Londoner Vertrag ausgehandelt Die Aufrechterhaltung der dänischen Monarchie werde im Interesse des allgemeinen Gleichgewichts der europäischen Mächte zur Aufrechterhaltung des Friedens festgestellt und die Erbfolgefrage für Dänemark und Schleswig-Holstein geregelt An der Londoner Konferenz nahmen im Auftrag des Deutschen Bundes Österreich und Preußen teil Das sog „Londoner Protokoll“, das dem Bund nur mitgeteilt wurde, entsprach nicht den Interessen des Deutschen Bundes und wurde von der Bundesversammlung nicht anerkannt Durch das Thronfolgegesetz von 1853 verletzte Dänemark die Rechte des Deutschen Bundes 1855 war Schleswig unter der Bewahrung der Selbständigkeit der Herzogtümer Holstein und Lauenburg verfassungsmäßig in den dänischen Staatsverband integriert worden Dänemark hatte damit die Verpflichtung aus dem Londoner Vertrag, dass beide Herzogtümer staatsrechtlich unabhängig bleiben müssen, gebrochen 100 Als in langen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Bund und Dänemark101 u a die Gesamtverfassung auch 1863 unter dem neuen König Christian IX von Dänemark nicht zurücknahm, beschloss der Deutsche Bund die Bundesexekution 102 Schon Ende 1863 – als die deutschen Großmächte erneut Bundesrecht brachen indem sie entschieden Schleswig zu besetzen – hatte Bismarck die preußischen Ziele formuliert: „Die ‚up ewig Ungedeelten‘ müssen einmal Preußen werden […] ich könnte nicht verantworten, preußisches Blut vergießen zu lassen, um einen neuen Mittelstaat zu schaffen, der am Bunde mit den anderen immer gegen uns stimmten würde“ 103 Mit dem Krieg gegen Dänemark 1864 und dem Krieg Preußens zur Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866, der Annexion der Herzogtümer und der Gründung

100 Vgl BHStAM Ges Bundestag 164: Spezialverfassung für das Herzogtum Holstein v 11 6 1854 und Gesamtstaatsverfassung Dänemarks v 2 10 1855 101 Vgl u a Wolf D Gruner, Der Deutsche Bund, das ‚Dritte Deutschland‘ und die deutschen Großmächte in der Frage Schleswig und Holstein zwischen Konsens und Großmachtarroganz (wie Anm  89), 111–121 102 BAB-DB Prot BV XXIX Sitzung v 1 10 1867 – Prot BV XXXVII Sitzung v 11 11 1863 und Prot BV XXXIX Sitzung v 28 11 1863 – Vgl auch Georg Beseler, Der Londoner Vertrag vom 8 Mai 1852 in seiner rechtlichen Bedeutung, Berlin 1863 103 Bismarck, Silvester 1863, zitiert bei Krüger ( Jens-Owe Petersen, Schleswig-Holstein 1864–1867 Preußen als Hoffnungsträger und ‚Totengräber‘ des Traums von einem selbständigen Schleswig-Holstein, Diss Kiel 2000, 22)

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des Norddeutschen Bundes wurde dieses Ziel erreicht Bismarck sah zwar das Problem dass eine nationale Minderheit „nicht Preußisch oder nicht Deutsch sein will“ 104 Mit Blick auf Dänemark meinte er aber, man könne „zwingende Gründe haben, dennoch auf ihre Wünsche nicht einzugehen, die Hindernisse können geographischer Natur sein, die es unmöglich machen, solche Wünsche zu berücksichtigen“ 105 In diesem Zusammenhang verwies er auch auf sicherheitspolitische Aspekte Trotz der Bestimmungen des Prager Friedens war man daher nicht gewillt eine Volksabstimmung in Nordschleswig abzuhalten Die Sprache und die Sprachgrenze spielten im Herzogtum Schleswig zunächst keine Rolle Die Sprachgrenze zwischen Dänisch und Deutsch wanderte nach Norden Das Deutsche schien das Dänische zurückzudrängen Der kulturelle und wirtschaftliche Einfluss des deutschsprachigen Raumes erweiterte sich Erst als die Sprache, so Krüger, „zu einem wesentlichen Kennzeichen von Nationalität wurde, entstanden Konflikte, weil sich aus wandernden Sprachgrenzen Gebietsansprüche ableiten ließen“ 106 Die Dänen im Herzogtum Schleswig sahen sich als Teil der dänischen Nation und nicht der deutschen Die dänische Nationalbewegung trug hierzu nach Kräften bei und versuchte über eine kirchliche Erweckungsbewegung die dänischsprachige Bevölkerung im Herzogtum für das dänische Nationalbewusstsein, die dänische Hochsprache und die dänische Kultur zu gewinnen (Abb 5) 107 Eingehend behandelt Kersten Krüger auch die dynastischen Fragen und die Problematik der Erbfolge in Dänemark seit den 1830er Jahren – in Dänemark konnten auch Frauen den Thron besteigen – in den Elbherzogtümern war nur männliche Erbfolge möglich Der Erbfolgekonflikt hatte sich seit den 1840er Jahren verschärft Die europäischen Mächte waren – auch aus Sicherheitsgründen – an stabilen dynastischen Verhältnissen interessiert und akzeptierten daher die Erbfolge in Dänemark und in den Herzogtümern Die Schleswig-Holstein Bewegung dagegen benutzte die männliche Erbfolge als Vorwand, wie Krüger schreibt, „um Schleswig und Holstein aus dem dänischen Gesamtstaat herauszulösen und Deutschland einzuverleiben“ Wichtig für die Integration, die Identitätsbildung und die Nationsbildung sind im frühen 19  Jahrhundert nicht nur in Dänemark, sondern auch in den Staaten des Deutschen Bundes Lieder und Symbole 108 Für die Elbherzogtümer haben wir Symbole und

104 H d A Preußen, Sten Ber Bd  3 1866/67, 75 Sitzung v 20 12 1866, 1306 105 Ebd 106 Vgl hierzu die Tabelle zu den dänischsprachigen Bewohnern im Beitrag von Kersten Krüger sowie die Sprachenkarte für das Herzogtum Schleswig von 1838 nach Geerz (Abb 5) 107 Vgl hierzu u a Jürgen Rohweder, Sprache und Nationalität und die Anfänge der dänischen Sprachpolitik in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts, Glückstadt 1976 108 Vgl hierzu u a Wolf D Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993 Teil I: 1789–1848, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149/2013 (2014), 59–123, 96 ff ; ders , Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993 Teil II: 1848–1851,

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Abb. 5 P Lauridsen, La situation des langues en Slesvig et les decrets linguistiques de 1850–1852, in: Franz de Jessen (Hg ), Manuel historique de la Question du Slesvig Documents, cartes, pieces justificatives et renseignementsm statistiques, (Copenhagen 1906, 122)

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Lieder mit propagandistischer Funktion, wie die Doppeleiche als Symbol der Schleswig-Holstein Bewegung, das „Dannevirke“ (Dannewerk) für die Dänen Diese Symbole werden in den Liedern wieder aufgegriffen 109 Abschließend verweist Kersten Krüger auf die Unterschiede zwischen der aggressiven Schleswig-Holstein Bewegung als Teil der deutschen Nationalbewegung (Intolerant gegenüber sprachlichen und nationalen Minderheiten und militärisch-expansionistisch) und der eher defensiven dänischen Nationalbewegung für die die Eider seit Karl dem Großen die anerkannte Nordgrenze des Reiches zum Königreich Dänemark bildete Die gewaltsamen Konflikte um die Herzogtümer in der zweiten Hälfte des 19  Jahrhunderts waren ein „schmerzhafter Irrweg“ Der multiethnische dänische Gesamtstaat wirkt eher „als ein Modell für ein größeres Europa, in dem viele Nationen friedlich und demokratisch nebeneinander leben können Hier verblasst der Grundsatz: Das unnatürlich Getrennte vereinen, das unnatürliche Vereinte trennen“ Der Weg des Großherzogtums Oldenburg in den Norddeutschen Bund, den Albrecht Eckhardt darstellt, war „ein langer, nicht immer gradlinig verlaufener Weg der allmählichen Annäherung“ an Preußen 110 Eingangs wird kurz die Entwicklung der seit 1817 drei Landesteile der 1815 zum Großherzogtum aufgestiegenen Landes (Herzogtum Oldenburg – Fürstentum Lübeck – Fürstentum Birkenfeld) skizziert und die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur und die Religionszugehörigkeit der einzelnen Landesteile dargelegt Vor 1848 besaß Oldenburg weder eine Verfassung noch einen Landtag Die Verfassung von 1849 wurde 1852 revidiert und blieb bis zum Ende der Monarchie in Kraft Aufgrund der schwierigen Beziehungen zum benachbarten Königreich Hannover lehnte sich Oldenburg zunehmend stärker an Preußen an und wurde, trotz Widerständen des Landtages, 1850 Mitglied der Erfurter Union Der Landtag versuchte auch den Beitritt zum Zollverein zu verhindern Hierbei spielten wirtschaftliche Überlegungen aber auch ein tiefes Misstrauen gegen Preußen eine Rolle, doch stimmte der Landtag, der zunächst den Beitritt ablehnte schließlich doch zu und wurde seit 1854 Mitglied im preußisch geführten Zollverein In die Frage der Herzogtümer Schleswig und Holstein wurde Oldenburg involviert Es hatte 1850 die von Russland vorgeschlagene dänische Thronfolge abgelehnt und seit 1863/64 eigene Ansprüche auf die Erbfolge gegenüber dem Deutschen Bund angemel-

in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 150/2014 (2015), 423–462, 459 ff (u a Geschichtsvereine, National- und Regionallieder, Denkmäler, Verfassungen, Schulpolitik zur Nations- und Identitätsbildung) 109 Die Doppeleiche, der Dannevirke und das Schleswig-Holsteinlied finden sich als Abbildungen 1 und 2 im Beitrag von Kersten Krüger (HMRG 32) 110 Zum Gesamtrahmen und zum Verhältnis Oldenburg-Preußen vgl u a Albrecht Eckhardt / Heinrich Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 41993; Nicolaus Rügge, Von der Märzrevolution bis zur Reichsgründung (1848–1866/71), in: Stefan Brüdermann (Hg ), Geschichte Niedersachsens Bd  4 1, Göttingen 2016, 107–281; ebd , Hans-Georg Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1866/7–1918), 283–382

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det und musste schließlich 1866/67 auf seine Ansprüche verzichten Es wurde jedoch mit Territorialzuwachs im Fürstentum Lübeck entschädigt Als der Konflikt zwischen Österreich und Preußen in den ersten Monaten des Jahres 1866 eskalierte, die Großmächte rüsteten und Österreich die Frage der Elbherzogtümer an den Bund brachte, war die Stimmung in Oldenburg gegen eine militärische Lösung der Schleswig-Holsteinfrage Dies galt auch für weitere Bundesstaaten, verbunden mit dem Bemühen zu vermitteln, um einen Krieg zu verhindern Schwierig war es jedoch, wie dies zunächst u a Baden anstrebte neutral zu bleiben Als Preußen am 14 Juni 1866 den Bundesvertrag als erloschen bezeichnete und den Deutschen Bund verließ entschied sich Oldenburg am 16 Juni ebenfalls den Bund zu verlassen und ein Bündnisangebot Preußens anzunehmen 111 Staatsminister Peter Friedrich Ludwig Freiherr von Rössing legte dem Landtag in der Sitzung vom 27 Juni 1866 die Vereinbarungen mit Preußen und den preußischen Verfassungsentwurf vor Er begründete die Entscheidung Oldenburgs mit Preußen ein Bündnis abzuschließen: Die Ereignisse der letzten Monate haben die politischen Zustände Deutschlands in unerwartet rascher Entwicklung einer Krisis entgegengeführt, durch welche die bisherigen Grundlagen der föderativen Einheit der Nation schon jetzt tief erschüttert worden sind und aus deren weiterem Verlauf wie es scheint die großen politischen Aufgaben, welche das Interesse des deutschen Volkes seit Jahrzehnten bewegen, ihre Lösung zu empfangen haben werden Nachdem zwischen den beiden Großmächten des Deutschen Bundes der Krieg ausgebrochen und so unter verhängnisvoller Betheiligung anderer Deutscher Staaten auf Seiten Oesterreichs ein Deutscher Bürgerkrieg entbrannt ist 112

Regierungen, die sich in diesem Konflikt bisher „ferngehalten“ mussten Stellung nehmen, „welche sie durch das Wohl Deutschlands wie durch die Interessen des eigenen Landes für geboten erachten“ Im Dualismus der Großmächte und in der SchleswigHolstein Frage liege der Grund für den „Zwiespalt“ Österreichs und Preußens Die „Katastrophe selbst ist durch den Beschluß der Bundesversammlung vom 14 d M herbeigeführt worden“ 113 Österreich habe den Versuch gemacht „einen Theil der Deutschen Regierungen in dem bevorstehenden Kampfe um die Hegemonie in Deutsch-

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Verhandlungen des XIV (außerordentlichen) Landtags des Großherzogtums Oldenburg 1866 (in der Folge Prot Landtag Oldenburg), 2 und 3 Sitzung v 27 6 1866 und 4 7 1866 verfügbar in der Landesbibliothek Oldenburg digital (https://digital lb-oldenburg de/ihd/periodical/pageview/1266 155-1266162 – Anlage 6: An den Landtag, 10–12 (vorgelegt am 25 6 1866!); Nebenanlage A, 13; Nebenanlage B zu Anlage 6 Bundesvertrag, 14–16; Anlage 11, 61, Anlage 12: Ausschußbericht vom 25 Juni 1866, betreffend die Politische Lage und die mit Preußen unter dem 16 /19 Juni 1866 abgeschlossene Uebereinkunft, 62–64 (Protokolle und Anlagen verfügbar: Landesbibliothek Oldenburg digital https://digital lb-oldenburg de/ihd/periodical/pageview/1266193-1266199 (Zugriff 7 9 20) Außerordentlicher Landtag Oldenburg (wie Anm  112), Anlage 6 Ebd , 10

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land dadurch für ihre Seite zu gewinnen“ 114 Österreich habe, frühere Vereinbarungen verletzend, die Frage der Elbherzogtümer, was beide Großmächte stets vermieden hatten, der Bundesversammlung vorzulegen und die Stände des Herzogtums Holstein einzuberufen und sie an der Entscheidung mitwirken zu lassen Preußen widersetzte sich diesem Vorgehen Österreich klagte Preußen „bei der Bundesversammlung der Störung des Bundesfriedens an“115 und beantragte die Mobilisierung des Bundesheeres ohne die preußischen Kontingente nach Art 19 der Wiener Schlussakte In der Sitzung der Bundesversammlung am 14 Juni 1866 stimmte Oldenburg gegen eine Bundesexekution gegen Preußen 116 Nach dem Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund, an dessen Initiative nach den Erfahrungen der Geschichte alle großen Reformen zur Förderung Deutscher Interessen anknüpfen, entzogen blieb, konnte der bisherige Bund als thatsächlich existirend nicht mehr betrachtet werden und wurde demnach der Großherzogliche Bundestagsgesandte angewiesen, seine Functionen für erloschen zu erklären 117

Rössing argumentierte, dass die Regierung angesichts der allgemeinen Lage Deutschlands es „für eine patriotische Pflicht [halte] sich in dem jetzt gegen die Norddeutsche Großmacht ausgebrochenen Vernichtungskampf unbedingt und ohne Rückhalt auf die Seite Preußens zu stellen“ 118 Er forderte den Landtag auf den Vereinbarungen mit Preußen vom 16 /19 Juni 1866 zuzustimmen In der Aussprache wurde die Regierung aufgefordert „ein möglichst baldiges Zusammentreffen der nach dem Bundesreformplane zu berufenden National-Vertretung“ herbeizuführen Es wurden Zweifel an Bismarcks Politik geäußert, dass er nicht vertrauenswürdig sei und man sich auf seine Zusagen nicht verlassen könne Viele Abgeordnete verstanden es als patriotische Pflicht auf der Seite Preußens zu kämpfen, auch um die Selbständigkeit Oldenburgs zu bewahren Bedenken hatten die Linksliberalen, die Großdeutschen und die katholischen Südoldenburger So äußerte der Südoldenburger Abgeordnete Russell, er war aus großdeutscher Perspektive gegen einen Krieg gegen Österreich und auch gegen ein Bündnis mit Preußen, doch man sei gezwungen – so sagte er – gewesen dem Preußenbündnis zuzustimmen, angesichts des „Nothstandes, in welchem unser Land sich Preußen gegenüber befinde“ Lehne

114 115 116

117 118

Ebd , 11 Ebd BAB-DB (wie Anm  41) Prot XXIV Sitzung v 14 6 1866, § 170; CJCG III (wie Anm  81), 622–631, 625 f : „Die Großherzogliche Regierung ist der Ansicht, daß der Artikel XIX der Wiener Schlussacte, auf welchen die Kaiserlich-Oesterreichische Regierung ihren Antrag zunächst stützt, hier keine Anwendung finde […] Einer Mobilmachung aus diesen Gründen (i e Zwangsmittel, innere Sicherheit Deutschlands) würde die Großherzogliche Regierung noch weit weniger zustimmen können, vielmehr könnte sie darin nur eine den Bundesfrieden gefährdende Provocation finden, wofür sie die Verantwortung nicht theilen möchte“ Außerordentlicher Landtag Oldenburg 1866, Anlage 6, 11 Ebd , 12

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Oldenburg das Bündnis ab werde es besetzt werden und das Schicksal Hannovers erleiden 119 Bedenken wurden auch geäußert wie eine Einbeziehung der Südstaaten erfolgen könne, die sich im Krieg mit Preußen befänden Vor der Abstimmung sprach der Abgeordnete Lenz, als Berichterstatter den Wunsch und die Hoffnung aus, „daß dieser unselige Krieg zur Versöhnung zwischen Nord- und Süddeutschland beitragen und beide immer enger, endlich unauflöslich verbunden werden mögen“ Der Landtag stimmte der Vorlage des Politischen Ausschusses und dem Ergänzungsantrag des Abgeordneten Becker zu 120 Dem Bündnisvertrag vom 4 August 1866 trat Oldenburg zunächst nicht bei, da es Wünsche und Änderungen forderte So wünschte Großherzog Peter einen Kaiser aus dem Hause Hohenzollern und die Einrichtung eines Oberhauses Schließlich musste Oldenburg dem Vertrag am 27 August 1866 doch beitreten Bei den Verfassungsberatungen Ende 1866 konnte sich der oldenburgische Verhandlungsführer, Freiherr von Rössing mit Änderungsvorschlägen und Vorbehalten seines Landes nicht durchsetzen und musste, wie auch andere norddeutsche Staaten, unter preußischem Druck das Schlussprotokoll unterzeichnen Nach der Verabschiedung der Verfassung des Norddeutschen Bundes durch den konstituierenden Reichstag am 16 April 1867 musste sich auch der Oldenburgischen Landtag mit der Verfassung beschäftigen121 und ihr zustimmen Die Regierung hatte die Verfassung dem Landtag am 17 Mai zugeleitet und bat den Landtag „die Zustimmung zu dem anliegenden Entwurfe der Verfassung des Norddeutschen Bundes [zu] ertheilen“ 122 Der Bericht des politischen Ausschusses zur Verfassung des Nordbundes empfahl dem Landtag mehrheitlich die Annahme, „trotz der schweren Lasten, die er uns auferlegen wird“ und sah in der Verfassung „einen großen Fortschritt zu der politischen Einigung und Erstarkung Deutschlands“ Ein anderer Teil der Abgeordneten habe sich „ungern und widerwillig“ dem Antrag angeschlossen und sah die „Rechtfertigung desselben darin aber auch nur darin […] daß der Beitritt Oldenburgs zu dem Norddeutschen Bunde eine durch die jetzigen politischen Verhältnisse gegebene unumgängliche Nothwendigkeit ist“ Eine Minderheit des Ausschusses empfahl die Ablehnung 123 Der Landtag nahm schließlich die Verfassung mit fünfundvierzig gegen drei Stimmen an 124 Die ablehnenden Stimmen kamen aus Südoldenburg Der Abgeordnete Russell, der Kritik anmeldete aber der Verfassung zustimmen wollte, sagte er tue sich schwer einer Verfassung für Deutschland zuzustimmen, die nicht alle deutschen Staaten einschließe, in der die bürgerlichen Freiheiten nicht aufgenommen seien und die dem Land eine drückende Last aufbürde Es sei anzustreben, so Russell, „daß bei der Ausführung der 119 Außerordentlicher Landtag Oldenburg 1866 Bericht XIV Landtag, 2 Sitzung v 4 7 1866, 6 120 Ebd , 4–8, 7 f 121 Landtag Oldenburg XV Landtag: Anlagen zu den Protokollen und Berichten, Verhandlungen der 2 Versammlung Anlage 1, Verfassung des Norddeutschen Bundes, 1–9 122 Ebd , 1 123 Ebd , Anlage 6, Bericht des politischen Ausschusses, 14 124 Ebd , 2 Sitzung v 23 5 1867, 3

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Bundesverfassung nicht unsere freiheitlichen Institutionen umstürzen und in dem Militärstaat, zu dem Oldenburg jetzt übergehe, das Gesetz und die Rechte des Volkes geachtet würden“ 125 Mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund musste Oldenburg zahlreiche Souveränitätsrechte aufgeben, die auf den Norddeutschen Bund und später das Reich übergingen René Wiese befasst sich in seinem Beitrag mit dem Weg Mecklenburgs – des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin und des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz – von den Revolutionen von 1848 bis zum Eintritt in den Norddeutschen Bund 1867 Anders als das 1947 vom Alliierten Kontrollrat aufgelöste Preußen wurde Mecklenburg, erweitert durch Teile der preußischen Provinz Pommern, nach dem Zweiten Weltkrieg Land der DDR, 1952 aufgelöst und 1990 wiederbegründet 126 Wichtig zum Verständnis der Mecklenburgs und ihrem „Weg in den norddeutschen Bund und überhaupt ihrem Weg in die Moderne“ im 19   Jahrhundert war es, darauf verweist René Wiese, muss man „auf Preußen blicken Und zwar nicht allein auf das Preußen von 1866, sondern das der 1840er Jahre“ Umweltbedingungen haben die Geschicke Mecklenburgs bestimmt Eine Rolle spielte dabei bei den „äußeren Faktoren“ Preußen, insbesondere König Friedrich Wilhelm IV dessen Verfassungspolitik „noch immer einen langen Schatten auf die mecklenburgische Geschichte wirft“ 127 Die Beziehungen zu Preußen waren oftmals schwierig, vor allem auch durch den antipreußischen Kurs von Mecklenburg-Strelitz Mecklenburg-Schwerin unterstützte in den 1850er Jahren Preußen in der Bundespolitik, um ihm den gleichen Rang wie Österreich zu verschaffen 125 126 127

Ebd , 2 Detlev Brunner, Landesgründung und Besatzungspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone – das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 153/2017 (2018), 133–142 Vgl René Wiese, Orientierung in der Moderne Großherzog Friedrich Franz II in seiner Zeit, Bremen 2005; ders , Romantischer Historismus als politische Leitorientierung: König Friedrich Wilhelm IV von Preußen und das Scheitern der mecklenburgischen Verfassungsreform 1850, in: Anke John (Hg ), Reformen in der Geschichte Festgabe für Wolf D Gruner zum 60 Geburtstag, Rostock 2005, 105–121; Anke John, Land der Erbweisheit Mecklenburg zwischen zwei Revolutionen 1848 und 1918, Schwerin 1997; dies , Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten im Spannungsfeld von Landesgrundgesetzlichem Erbvergleich und Bundes- bzw Reichsverfassung vom Norddeutschen Bund bis zur Weimarer Republik, Rostock 1997 (Phil Diss Rostock 1996); Detlef Rogosch, Anmerkung zur Haltung beider Mecklenburg beim Übergang vom Deutschen zum Norddeutschen Bund, in: Wolf D Gruner / Paul Hoser (Hgg ), Wissenschaft – Bildung – Politik Von Bayern nach Europa Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 80 Geburtstag, Hamburg 2008, 319–340; Wolf D Gruner, Mecklenburg im deutschen und europäischen Rahmen der Geschichte des 19  Jahrhunderts: das Modell der drei Ebenen, in: Wolf D Gruner / Gunther Viereck (Hgg ), Kolloquium zum Gedenken an Prof Dr phil habil Ilona Buchsteiner, Rostock 2004, 33–42; Ilona Buchsteiner (Hg ), Die mecklenburgischen Großherzogtümer im deutschen und europäischen Zusammenhang 1815 bis 1871, Rostock 2002; Volker Höffer, Die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im Prozeß der Herstellung der nationalen Einheit in Deutschland 1858–1871, Phil Diss Rostock 1992; Anke Bergmann, Der Einfluß von Verfassung und Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches auf die feudalständischen Rechtsverhältnisse und Staatsstrukturen MecklenburgSchwerins 1866/67 bis 1914, Rostock 1991

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Die preußische Politik zur Zerschlagung des Deutschen Bundes bedeutete für Mecklenburg eine Herausforderung auf der deutschen Ebene wie auf der liberalen Verfassungsebene Die mecklenburgischen Großherzogtümer waren zunächst nicht bereit der Bundesexekution gegen Preußen zuzustimmen und hielten das „Protokoll offen“, da aufgrund der örtlichen Entfernung und der Kürze der Zeit von den großherzoglichen Regierungen keine „motivirte Abstimmung in dieser hochwichtigen Angelegenheit zu bekommen, und muß daher zu seinem Theil Verwahrung gegen einen so kurzen Zeitraum einlegen“ 128 Der Gesandte wurde schließlich angewiesen „für die Curie gegen den Antrag“ zur Mobilisierung zu stimmen Begründet wurde dies u a damit, dass die von Österreich „beantragte Mobilmachung der sämmtlichen Bundes-Armeecorps, mit Ausnahme der von Preussen zu stellenden […] nach den Grundgesetzen der bestehenden Bundesverfassung von der Bundesversammlung unter den vorliegenden Umständen nicht beschlossen werden“ könne 129 Die Aufforderung des Bundespräsidiums an alle in der Bundesversammlung vertretenen Staaten „alle militärischen Maßregeln mit größter Beschleunigung zu treffen“ enthielt sich Mecklenburg der Stimme, da sich der Gesandte „ohne alle Nachrichten von seinen hohen Regierungen befindet“ 130 In der Sitzung vom 21 Juni 1866 gab von Wickede an, dass die Mecklenburgischen Regierungen den Mobilisierungsbeschluss „als einen gültigen nicht anzuerkennen“ vermögen Sie müssen „darin vielmehr einen unberechtigten Gebrauch der Formen des Bundesrechts von Seiten derjenigen Staaten erblicken, welche in dem Kriege zwischen Oesterreich und Preussen, an dem der Deutsche Bund nicht betheiligt ist, sich auf die Seite Oesterreichs gestellt haben“ 131 Die Regierungen verwahrten sich gegen „ähnliche Beeinträchtigungen ihrer bundesgrundgesetzlichen Berechtigungen“ und der Bundestagsgesandte warf die Frage auf „unter welchen Voraussetzungen einer Regierung das Recht erwächst den Bund als gelöst anzusehen“ In der Sitzung vom 2 Juli 1866 erklärte der Bundestagsgesandte für Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, dass er „von der ihm übertragenen Mission bis auf Weiteres abberufen wird“ 132 Der Gesandte begründete diesen Schritt mit den Bundesbeschlüssen seit dem 14 Juni und den seitdem eingetretenen Ereignissen Es sei die „Bundesverfassung thatsächlich suspendirt, die Existenz des Bundes in Frage gestellt und dessen Mitgliedern die grundgesetzlich verbürgte Ausübung ihrer Rechte, sowie die vertragsmäßige Erfüllung ihrer Pflichten zur Zeit unmöglich geworden“ 133 Der Gesandte verwies auf die Bundestreue seiner Regierungen seit der Gründung des Deutschen Bundes Man hoffe, „daß aus der ge128 129 130 131 132 133

BAB-DB Prot XXIII Sitzung v 11 6 1866 § 164 – ebd  XXVII Sitzung v 21 6 1866 § 184: CCCXIV Verwahrung von Mecklenburg-Schwerin gegen die Verbindlichkeit zu Vollziehung des die Mobilmachung betreffenden Bundesbeschlusses vom 14 Juni 1866, vom 21 Juni 1866 Ebd , Prot XXIV Sitzung v 14 6 1866, § 170 Ebd , Prot XXVI Sitzung v 18 6 1866, § 181; ebd , XXVII Sitzung v 21 6 1866 Ebd , Prot XXVII Sitzung v 21 6 1866, § 184 Ebd , XXXII Sitzung vom 2 7 1866, § 209 – auch CJCG III, 652–654, 653 Ebd

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genwärtigen verhängnißvollen Scheidung bald wieder eine das gemeinsame deutsche Vaterland dauernd umfassende Gestaltung des Bundes hervorgehen werde“ 134 Das Bundespräsidium stellte im Protokoll fest, dass, was die in der vom Großherzoglich-Mecklenburgischen Herrn Gesandten abgegebenen Erklärung betonten bundestreuen Gesinnungen anbelangt, so kann Präsidium die Bemerkung nicht unterdrücken, daß jetzt mehr denn je die Bundestreue zu bethätigen gewesen wäre Die Bundesversammlung schloß sich dieser verwahrenden Erklärung des Präsidiums an 135

Das Protokoll vermerkt: „Der Großherzoglich-Mecklenburgische Herr Gesandte von Wickede verließ den Sitzungssaal“ 136 Die mecklenburgischen Großherzogtümer taten sich schwer dem preußisch-norddeutschen Bündnis beizutreten Vor allem der Strelitzer Großherzog Friedrich Wilhelm zögerte seine Bündniszusage lange hinaus und trat dem Bündnis unter Vorbehalt bei137 um die Besetzung seines Landes durch Preußen zu verhindern MecklenburgSchwerin unterzeichnete den Bündnisvertrag unter der Bedingung, dass die Landstände dem neuen Verfassungsrahmen zustimmen müssten Einem außerordentlichen Landtag wurden am 26 September 1866 von der Schweriner Regierung der Bündnisvertrag mit Preußen sowie ein Wahlgesetz für den norddeutschen Reichstag vorgelegt Anfang Oktober diskutierte der Landtag die Vorlage zur norddeutschen Bundesfrage 138 Der Antrag der Kommissionsmehrheit erteilt den beiden Regierungen die Ermächtigung ‚sich an der Feststellung eines Bundesverfassungsentwurfs zu betheiligen und denselben dem zu berufenden Parlament zur Berathung vorzulegen, jedoch mit dem Vorbehalt und der Bedingung, daß die aus solcher hervorgehenden Ergebnisse demnächst den Ständen zur Abgabe ihrer verfassungsmäßigen Erklärung darüber vorgelegt werden‘ 139

Der Ausschuss verband damit elf Wünsche an die Regierungen, u a die Trennung Deutschlands dürfe nicht auf Dauer sein und dass ‚wenigstens sämmtliche norddeutsche Staaten an der zu gründenden Bundesverfassung unter Mitwirkung eines zu berufenden Parlaments theilnehmen, ehe der Beitritt Mecklenburgs für bindend erkannt wird; daß bei der geringen Ausdehnung des Bundesgebiets und dem Vorwiegen des preußischen Staats die in den Grundzügen der Competenz der Bundesgewalt, beziehungsweise des Parlaments, überwiesenen Gegenstände das Maximum dieser Competenz bilden werden; daß überhaupt grundsatzgemäß dem Parlament

134 135 136 137 138 139

Ebd Ebd , 653 (CJCG III) Ebd Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866 (wie Anm  1), 21 8 1866 (155) Ebd , 198–200 Ebd , 199

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keine Einwirkung auf die Verfassungsverhältnisse der Einzelstaaten zuzuerkennen sei; daß mithin die Frage wegen des Anschlusses Mecklenburgs an den Zollverein lediglich von der freien ständischer Vereinbarung und Zustimmung abhängig bleiben müsse […] daß das allgemeine und direkte Wahlrecht namentlich in Bezug auf die definitive Volksvertretung unzeitgemäß sei; daß die Frage wegen der Zoll- und Handelsgesetzgebung (Freizügigkeit, Heimaths- und Ansiedlungsverhältnisse) zu großen Bedenken Anlaß gebe und daß hier das verfassungsmäßige Recht zu wahren sei; daß die abgeschlossenen Verträge wegen der Elbschiffahrt in Kraft bleiben müßten; daß die gemeinsame Civilprozessordnung die heimische Gerichtsorganisation nicht berühre und daß bei den Leistungen der Uferstaaten für die Kriegsmarine der Lastengehalt bei der Handelsmarine des betreffenden Staats zum Maßstab genommen werde‘ 140

In den Motiven zum Antrag wird darauf hingewiesen, dass ein Beitritt zu den von Preußen benannten Bedingungen eine zwingende Notwendigkeit sei und dass den mindermächtigen Staaten „jede Einwirkung benommen war“ Der Zweck des Bündnisvertrages mit Preußen beziehe sich „ausdrücklich auf die Erhaltung der äußern nicht nur, sondern auch der inneren Sicherheit des Landes gerichtet ist, läßt erwarten, daß auch die Landesverfassung, auf deren Fortbestehen die innere Sicherheit des Landes wesentlich beruht, erhalten bleibe“ 141 Die Mehrheit des Ausschusses richtete die Bitte an den Landesherren „bei der definitiven Feststellung der Bundesgewalt die Garantie der bestehenden Landesverfassung durch die Bundesverfassung herbeizuführen“ 142 Die Minderheit empfahl den Regierungen den Vertrag „‚vom 21 August 1866 widerrathen‘“ 143 Der Antrag der Kommissionsmehrheit wurde „nach regelloser und oft sehr heftiger Debatte durch Zuruf angenommen“ 144 Bei den Verhandlungen der Bundesstaaten mit Preußen über eine Bundesverfassung brachte auch Mecklenburg die Wünsche des Landtages vor Im Schlussprotokoll vom 7 Februar 1867 gaben beide Regierungen Erklärungen zu den Voraussetzungen für ihre Zustimmung ab So wurde u a gefordert, dass die Großherzogtümer eine Entschädigung für den Verzicht auf ihre Rechte aus der Elbschifffahrtsakte erhalten müssten und dass sicherzustellen sei „in welcher Art und Weise den Befehlen des Bundesfeldherren von Seiten der Bundes-Contingente zu leistende Gehorsam, so gestaltet werde, daß nicht die Möglichkeit eines Conflicts eidlich übernommener Verpflichtungen die Gewissen der Truppen erschwere“ 145 Nach der Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes durch den konstituierenden Reichstag am 16 April 1867

140 141 142 143 144 145

Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd , 200 Heinrich Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, Nördlingen 1868, 65 f

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mussten die einzelstaatlichen Parlamente dieser noch zustimmen Am 1 Juni 1867 trat ein außerordentlicher Landtag in Schwerin zusammen Der Großherzog appellierte in seiner Thronrede an den Landtag: „Dank ernster Arbeit und allseitiger Mäßigung ist das vorgesteckte Ziel erreicht worden“ und er lege nun dem Landtag „die von den Regierungen mit dem Reichstag festgestellte Verfassung“ zur Mitwirkung und zum Abschluss vor Er habe Sie, „‚dem von Ihnen gemachten Vorbehalt entsprechend, heute hier wiederum versammelt, und vertraue dem stets bewährten Patriotismus Meiner getreuen Stände, daß dieselben bereit sein werden auch ihrerseits zum ungesäumten Inslebentreten des nationalen Werks entschlossen mitzuwirken“ 146 Die Regierungen empfehlen dringend die landesherrlichen Propositionen anzunehmen, Die „ständischen Wünsche hätten allerdings nicht in allen Punkten Berücksichtigung gefunden, aber die Verfassung im Ganzen sei annehmbar; sie biete namentlich Schutz gegen Außen und gegen destructive Tendenzen im Innern“ 147 Der Landtag optierte mehrheitlich (78:61) für eine Beratung im Plenum In der Debatte über Annahme oder Ablehnung der Verfassung entschied sich der Landtag zur Annahme Abgelehnt wurde dagegen ein Antrag „auf Einleitung der nöthigen Schritte, damit auch Mecklenburg eine den übrigen Staaten des norddeutschen Bundes analoge constitutionelle Verfassung erhalte“ Der Antragsteller merkte daraufhin an, dass ihm das ‚auf sich beruhen‘ lassen gleichgültig sei, „da er der zuversichtlichen Hoffnung lebe, daß, wie es dem deutschen Bundestage bereits geschehen, so auch über den mecklenburgischen Landtag die Geschichte demnächst trotz der Landtagsmehrheit zur Tagesordnung übergehen werde“ 148 Der Europäische Geschichtskalender kommentierte die Abstimmung: „Der Landtag von Mecklenburg unterzieht sich der Zwangslage und nimmt die neue Bundesverfassung mit 106 gegen 16 Stimmen an“ 149 Es kam am 4 Juni zwar eine Mehrheit zustande, doch es waren auch „ablehnende Stimmen“ zu vernehmen, „die ein differenziertes Bild des Konservativismus auch in Mecklenburg zeichnen“ (Rene Wiese) Führende Adelsfamilien lehnten die Verfassung ab Mecklenburg würde die Grundlagen seiner Freiheit, Wohlfahrt, Identität, Sonderart und Individualität verlieren und vor allem auch seine charakteristische ständische deutscher Verfassung 150 Der Weg in den Norddeutschen Bund hatte für alle Beitrittsstaaten tiefgreifende Auswirkungen, zumal sie, wie die Beiträge zu den norddeutschen Staaten zeigen, kaum Änderungen am Verfassungsentwurf durchsetzen konnten Dies galt insbesondere für die mecklenburgischen Großherzogtümer mit den einschneidenden innen- und ver-

146 147 148 149 150

Ebd , 121 Ebd Ebd , 122 Ebd , 17 Zum Landesgrundgesetzlichen Erbvergleich von 1755 vgl Matthias Manke / Ernst Münch (Hgg ), Verfassung und Lebenswirklichkeit Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 in seiner Zeit, Lübeck 2006

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fassungspolitischen Rückwirkungen 151 Der ehemalige badische Präsident des großherzoglichen Hauses, Rudolf von Freydorf, schrieb rückblickend auf die Reichsgründung: „Mecklenburg war das für die Einführungen der Bundes- und Reichsgesetzgebung wenigst vorbereitete deutsche Land“ 152 Anke John stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die mecklenburgische Gesellschaft von der Neuordnung seit 1866/67 besonders betroffen war, „denn sie war immer noch geprägt durch die frühneuzeitlichen Strukturen des Landesgrundgesetzlichen Erbvergleichs (LGGEV) Für die Großherzogtümer kündigte sich ein jähes Ende der Stagnation an, in welcher sie seit dem Freienwalder Schiedsspruch von 1851 verharrten“ 153 Der LGGEV hatte zwar im 19  Jahrhundert im zähen Ringen zwischen Landesherr und Ritterschaft zu Modifikationen geführt, die „verfassungsprägende Kraft der Reformen“ blieb jedoch gering Freydorf hat in seiner Rückschau „zurecht das Gewicht aller partiellen Modernisierung des LGGEV“, die bis 1866/67 erreicht wurde relativiert 154 Die landesherrlichen Reformvorstöße scheiterten „an der klar markierten Grenze, an der die Herrschaftsrechte und die Machtstellung der Ritterschaft ernsthaft in Gefahr gerieten“ 155 Die Landtagsdebatten 1866 und 1867 und die Forderungen und Änderungswünsche des Ausschusses zeigten dies erneut 156 Der Landtagsabschied vom 4 Oktober 1866 gibt sich mit den ständischen Beschlüssen bez des norddeutschen Bundes zufrieden, belobt die Stände für ihre ‚vertrauensvolle, einsichtige und patriotische Haltung‘ und verspricht, daß auch die ausgesprochenen ‚Wünsche‘ nach erlangter ‚Ueberzeugung von ihrem Grunde und ihrer Ausführbarkeit‘ von der Regierung thunlichst werden berücksichtigt werden 157

Die Wünsche der Landtagsmehrheit ließen sich nur partiell verwirklichen, nicht aber in Verfassungsfragen Letztlich musste der Landtag unter „Zwang“ dem Bündnisvertrag und der Reichsverfassung zustimmen Die „ständisch-agrarisch geprägten Verhältnisse“ der Zunftordnungen, der Niederlassungsbeschränkungen, des Steuer- und Zollwesens ließen sich mit dem Eintritt in den Norddeutschen Bund nicht aufrechterhalten Es ließ sich nicht durchsetzen, dass Mecklenburg außerhalb des Zoll- und Handelsgebietes bleiben konnte, dass das Heimatrecht, die Freizügigkeit und das

151 152 153 154 155 156 157

Anke John, Der Ständestaat in der Reichsgründungszeit: ‚Mecklenburg war das wenigst vorbereitete deutsche Land‘ Manuskript, 1, gedruckt in Ilona Buchsteiner (Hg ), Die mecklenburgischen Großherzogtümer in deutschen und europäischen Zusammenhang, Rostock 1997, 77–82 Rudolf von Freydorf, Die mecklenburgische Verfassungsfrage Deren Geschichte und gegenwärtigen Stand, Leipzig 1877, 270 John, Ständestaat in der Reichsgründungszeit (wie Anm  151), MS, 1; vgl auch dies , Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten (wie Anm  128), 25 ff John, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten (wie Anm  28), 26 John, Ständestaat in der Reichsgründungszeit (wie Anm  151), 1 Vgl hierzu Europäischer Geschichtskalender 1866, 199 Ebd , 200 (4 10 1866)

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Gewerberecht sowie die Zivilgesetzgebung für Mecklenburg nicht anwendbar sein sollten Die Aktivitäten des Norddeutschen Bundes auf dem Gebiet der Verwaltung und Gesetzgebung führten bereits 1867 zur allgemeinen Freizügigkeit, zur bereits vom Bundestag des Deutschen Bundes vorgelegten Einführung eines Maß- und Gewichtssystems und eines einheitlichen Handelsrechtes Die Gewerbefreiheit folgte 1869, 1870 das einheitliche Strafgesetzbuch und die Emanzipation der Juden Gegen einen Beitritt zum Zollverein und einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet 1868 sperrten sich die Großherzogtümer „lange, bewußt und hartnäckig“ 158 Bis zum Ende der Monarchie 1918 erwies sich „das Problem der Kompatibilität des auf ständischen-spätfeudalen Grundsätzen beruhenden LGGEV und des konstitutionellen Verfassungssystems des Norddeutschen Bundes bzw des Deutschen Kaiserreiches als Grundlage der bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ 159 Alle Initiativen von Bundesstaaten im Bundesrat des Kaiserreiches, von Parteien im Reichstag und den Liberalen in Mecklenburg sowie der Großherzöge zur Schaffung einer konstitutionellen Verfassung für Mecklenburg scheiterten, auch am Widerstand Preußens So blieb der LGGEV die Verfassung Mecklenburgs bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Erst 1920 erhielt Mecklenburg eine demokratische Verfassung 160 Was hat der hochgebildete General Helmuth von Moltke mit dem Norddeutschen Bund zu tun? Er war der Sieger von Königgrätz 1866 gegen Österreich Er war aber auch ein enger Berater Bismarcks und – das ist weniger bekannt – war Mitglied des Reichstages des Norddeutschen Bundes und bis zu seinem Tode 1891 auch Abgeordneter im deutschen Reichstages Manfred Jatzlauk unternimmt es die militärische Persönlichkeit, sein strategisches Denken, seine Rolle im Krieg von 1866, seine umfassende Bildung und seine politischen Ansichten in der sog Reichsgründungszeit und im Kaiserreich dar zustellten 161 Der Krieg gegen Österreich, den Hauptfeind, den es als erstes zu besiegen galt, wurde im preußischen Kabinett „als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf nicht für Ländererwerb, Gebietserweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut – für Machtstellung“ geführt 1621867 wurde Moltke als Abgeordneter für die Freikonservativen im Wahlkreis Memel-Heydekrug für den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt und gehörte dem Reichstag des Norddeutschen und später des deutschen

Vgl hierzu ausführlich Höffer, Die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im Prozeß der Herstellung der nationalen Einheit (wie Anm  128), 71 ff ; Karl Pagel, Mecklenburg und der Deutsche Zollverein, in: Mecklenburg-Strelitzer Geschichtsblätter 1925, 102–117; vgl auch John, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten (wie Anm  128), 33 ff 159 John, Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten (wie Anm  128), 256 160 Fred Mrotzek, Die Verfassung des Freistaates Mecklenburg-Schwerin vom 17 Mai 1920, in: Wolf D Gruner (Hg ), Jubiläumsjahre  – Historische Erinnerung  – Historische Forschungen Festgabe für Kersten Krüger zum 60 Geburtstag, Rostock 1999, 77–95 161 Vgl hierzu u a Manfred Jatzlauk, Helmuth von Moltke, Schwerin 2000 162 Helmuth von Moltke, Über den angeblichen Kriegsrat, zit nach Jatzlauk

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Reiches bis 1891 an Moltke hatte hohes Ansehen im Parlament, vor allem auch, weil er stets streng sachlich argumentierte und niemanden persönlich angriff Er strebte kein politisches Amt an, war aber „ehrgeizig, aber nicht zum Herrschen geboren“ (Eberhard Kolb) Im Reichstag äußerte sich Moltke häufig zu militärpolitisch relevanten Fragen So schlug er eine mitteleuropäische Einheitszeit statt der fünf deutschen vor, äußerte sich zu Verkehrsfragen, aber auch zur Frage der Wirtschaftlichkeit des Nord-Ostseekanals 1875 und 1887 hielt Moltke noch einen Präventivkrieg für kalkulierbar, aber folgte der Führung des Reichskanzlers Wie Bismarck schien ihm ein Krieg unvermeidlich, doch anders als Bismarck, der diesen Zeitpunkt möglichst hinausschieben wollte, sollte dieser, wenn er sich nicht vermeiden ließ rechtzeitig geführt werden 1890 im Reichstag hören wir einen anderen Moltke Er warnte vor der Unberechenbarkeit, der Dauer und dem Ausmaß eines langen europäischen Krieges: „Wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert“! Eine Betrachtung des Weges der kleineren norddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund 1866/67 und die Bewältigung und Integration der preußischen Annexionen zeigt doch ein sehr viel differenzierteres Bild als dies bislang in der deutschen und landesgeschichtlichen Forschung dargestellt wurde Vor allem in den Parlamenten der künftigen Bundesglieder, Preußen eingeschlossen, zeigt sich eine breite Palette von Ansichten, von der Annexion aller Nordstaaten zu einem Großpreußen, von einem Norddeutschen Bund als Einheitsstaat oder Staatenbund und zu Forderungen und Wünschen der künftigen Gliedstaaten nach mehr Eigenständigkeit und größeren Kompetenzen Die Hansestädte, Oldenburg und Mecklenburg konnten zwar ihre Wünsche bei den Verhandlungen oder in den Landtagen artikulieren, doch war der Erfolg äußerst dürftig Unter Zwang wurden sie auf die Linie Bismarcks und Preußens geführt Auch in der Frage der dänischen Minderheiten schien Preußen anfänglich verhandlungsbereit, stellte aber Bedingungen 163 Letztlich kam es jedoch zu keiner Volksabstimmung im Herzogtum Schleswig Erst als Folge der Regelungen des Friedensvertrages von Versailles164 fand in Schleswig eine Volksabstimmung statt als deren Folge das mehrheitlich dänischsprachige Nordschleswig 1920 zu Dänemark zurückkehrte 165 In der nördlichen Zone I (Nordschleswig) stimmte bei einer WahlbeteiliVgl u a die Behandlung der Nordschleswigfrage mit Dänemark: Europäischer Geschichtskalender 1867, 15 (8 5 1867 „Preußen notifiziert Dänemark den Prager Frieden und leitet die Unterhandlungen wegen Nordschleswig ein“); ebd , 18: (4 6 1867: „Preußen präcisirt der dänischen Regierung ihre Vorbedingungen für die Abtretung eines Theils von Schleswig“) 164 Auswärtiges Amt (Hg ), Der Vertrag von Versailles Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Alliierten und Assoziierten Mächten nebst dem Schlußprotokoll und der Vereinbarung betr die militärische Besetzung der Rheinlande, Berlin 1924, Abschnitt XII, Art 109 (Schleswig): „Die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt“ Auf einer Karte, Anlage 4, ist die Trennungslinie mit brauen Stichen kenntlich gemacht 165 Zur Volksabstimmung in Schleswig 1920 vgl Klaus Alberts, Volksabstimmung 1920 Als Nordschleswig zu Dänemark kam, Heide 2019; Jan Schlürmann, Eine Grenze für den Frieden Die Volksabstimmung zwischen Deutschland und Dänemark, Kiel 2019 163

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gung von 90 % die Mehrheit (112515 Wahlberechtigte) mit 74,38 für Dänemark In der mittleren Zone II (Mittelschleswig) votierten bei einer Wahlbeteiligung von 90 5 % 80,2 % (51742 Wahlberechtigte) für den Verbleib bei Deutschland 166 In der Zone III fanden keine Abstimmungen statt, da zu erwarten war, dass die Mehrheit für den Verbleibe beim Deutschen Reich stimmen würde Hitler und das nationalsozialistische Deutschland sollten die 1920 festgelegte Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Dänemark, anders als die im Osten, nie in Frage stellen Mit dem Bonn-Kopenhagener Abkommen von 1955 wurde dann eine für beide Minderheiten akzeptable Lösung gefunden, denn in vielen nordschleswigschen Städten wie Tondern (76 %), Apenrade (54 %) und Sonderburg (55 %) votierte eine Mehrheit für einen Verbleib bei Deutschland, während der umliegende Landkreis sich für Dänemark entschied (z B Apenrade 67,7 % – Sonderburg 71,6 %)

Abb. 6 Pro-dänisches Wahlplakat: Unbekannt: Postkarte 1920 (Königliche Bibliothek Kopenhagen)

Abb. 7 Alexander Eckener (1870–1944): Afstemningsplakat fra 1920 (Königliche Bibliothek Kopenhagen)

166 Vgl zu den Ergebnissen: Karl Alnor, Die Ergebnisse der Volksabstimmungen vom 10 Februar und 14  März 1920 in der 1 und 2 Schleswigschen Zone, Flensburg 1925

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Abb. 8 Zoneindeling ved folkeafstemningen i Slesvig1920 (CC BY-SA 4 0) (https://commons wikimedia org/wiki/File:ZoneindelingenSlesvig1920 png, Zugriff 12 3 2021)

Bereits der 1867 gegründete Norddeutsche Bund war ein multiethnischer Staat mit allen damit verbundenen Problemen Es war nicht allein die dänische, friesische Minderheit im Norden, sondern vor allem auch die polnische Eine Rolle spielte dabei in den östlichen preußischen Provinzen mit einem hohen polnisch-sprachigen Bevölkerungsanteil die katholische Kirche, die traditionell die Idee der polnischen Nation unterstützte und förderte In der Phase der Hochindustrialisierung des deutschen Kaiserreiches nach 1873 zogen viele polnische Arbeiter aus den östlichen Provinzen Preußens in das Rheinisch-Westfälische Industriegebiet Ähnlich wie in der Provinz SchleswigHolstein blieben auch in den preußischen Provinzen mit hohem polnischem Bevölkerungsanteil die Germanisierungsversuche wenig erfolgreich und stärkten eher die

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eigene Kultur und Identität Als Ergebnis des Ersten Weltkrieges wurde Polen, das seit der dritten Teilung Polens 1795 aufgehört hatte als Staat zu existieren,167 als Staat wiederhergestellt Im Krieg hatten polnischen Einheiten u a, auf Seiten der Entente gekämpft In seiner Rede vor beiden Häusern des Kongresses am 8 Januar 1918 hatte der amerikanischen Präsident Woodrow Wilson seinen 14 Punkte-Plan vorgestellt Im 13 Punkt stand, dass ein „unabhängiger polnischer Staat“ errichtetet werden solle, „der alle Gebiete einzubegreifen hat, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind; diesem Staat sollte ein freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden, und seine politische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte durch internationale Übereinkommen verbürgt werden“ 168 Im Friedensvertrag von Versailles musste Deutschland daher Gebiete an Polen abtreten In Oberschlesien wurden innerhalb festgelegter Grenzen „die Einwohner berufen, im Wege der Abstimmung kundzugeben, ob sie mit Deutschland oder Polen vereinigt zu werden wünschten“ 169 Die Abstimmungen in Oberschlesien reichen über „einen rein deutsch-polnischen, also bilateralen Streitfall“ hinaus Es ging dabei „um eine Frage mit internationaler Dimension, um eine zentrale europäische Machtfrage“, um den „industrialisierten und rohstoffreichen südöstlichen“ Zipfel Preußens und des Deutschen Reiches 170 Sowohl in Schleswig wie in Oberschlesien wurden nach dem Ersten Weltkrieg Volksabstimmungen abgehalten Während sie für Schleswig bereits 1867 vorgesehen waren aber erst 1920 durch den Vertrag von Versailles zustande kamen war die Abstimmungen in Oberschlesien neu und hierbei spielten sicherlich auch die im Punkt 13 von Wilson für das wiedererstandene Polen angestrebte „wirtschaftliche Unabhängigkeit“ eine Rolle Die Polen in den östlichen Provinzen Preußens standen seit 1815 unter preußischer Herrschaft und kamen 1867/71 mit dem Königreich Preußen in das preußisch-kleindeutsche Reich Sie waren eine große, nationale und kulturelle Minderheit in einem deutschen Nationalstaat Wie war das Verhältnis zwischen den Polen in Preußen und

167 Vgl u a Klaus Zernack (Hg ), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, Berlin 1982; Michael G Müller, Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795, München 1984; Jerzy Lukowski, The partitions of Poland 1772, 1793, 1795, London 1999; im Blick auf die Historiographie und vergleichende europäische Perspektiven vgl Hans-Jürgen Bäumelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle (Hgg ), Die Teilungen Polen-Litauens Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013 168 U S Diplomatic Mission to Germany / Public Affairs / Information Resource Centers: 14-Punkte-Programm von US-Präsident Woodrow Wilson 8 Januar 1918 (http://usa usembassy de/etexts/ ga2d-14points htm Zugriff 14 3 2021) 169 Friedensvertrag von Versailles (Anm  165), Art 88 (S 107) und Abschnitt VIII Polen Artl 87, 89–93 170 Guido Hitze, Oberschlesien als internationaler Streitfall, 47–63, 47 (https://journals pan pl/Con tent/116410/PDF/2020-01-HIST-03-Hitze pdf? Zugriff 14 4 2021); Ralph Schattkowsky, Deutschland und Polen von 1918/19 bis 1925, Frankfurt a M 1994; vgl auch Kai Struve, Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung, Marburg 2003; Steffen Menzel  / Martin Munke (Hgg ), Deutsche und Polen im und nach dem Ersten Weltkrieg, Chemnitz 2013

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dem preußischen Staat, vor allem im deutschen Kaiserreich 171 Für das Verständnis und die Einordnung in den deutschen und europäischen Gesamtzusammenhang einige notwendige Aspekte zur polnischen Geschichte: Nach der Zerstörung der alten polnischen Republik im Jahre 1795 fanden sich die ehemaligen Bürger der Republik in einer fremden Welt wieder Ihre unfreiwillige Unterwerfung unter die Teilungsmächte erweckte erbitterten Groll, besonders beim Adel, aber sie war eine Tatsache an der keiner von ihnen etwas ändern konnte 172

1797 entschieden die Mächte den Namen „Polen“ ganz zu löschen Nach den Teilungen und der Auflösung des polnischen Staates und den vergeblichen Hoffnungen der Polen im Kampf an der Seite Napoleons ihre staatliche Unabhängigkeit zurückzugewinnen kamen die für die Polen enttäuschenden Ergebnisse der Friedensverträge von 1814/15 und des Wiener Kongresses 173 Die Einbettung der Geschichte der polnischen Nation in den Gesamtzusammenhang der europäischen Geschichte ist für das Verständnis Polens und der Geschichte der polnischen Nation in den drei Teilungsgebieten (Preußen, Österreich, Russland und 1815 bis 1846 auch die Freie Stadt Krakau) bis zur Wiederherstellung des polnischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg von zentraler Bedeutung Zwischen 1795 und 1918 waren die Polen ein „staatenloses Volk“ das in keinem nationalen Gesamtstaat lebte Es ist sicherlich kein Zufall, dass der polnische Nationalfeiertag der 3 Mai ist, der Tag der Verabschiedung der ersten geschriebenen demokratischen, wegweisenden Verfassung Europas für Polen aus dem Jahr 1791 174 Die Anfänge eines polnischen Nationalbewusstseins gehen auf die Zeit der Französischen Revolution von 1789 zurück Die Europäer und mit ihnen auch die Polen konnten sich eine neue Identität suchen Diese leitete

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Der gewünschte Beitrag zu den Polen in Preußen und ihrem Selbstverständnis liegt leider nicht vor Wegen der Bedeutung des polnischen Bevölkerungsteils in Preußen werden einige Aspekte und Überlegungen zu Polen vom Herausgeber hier anhand eigener Studien und der Fachliteratur aufgegriffen, erörtert und kurz dargestellt Norman Davies, Im Herzen Europas: Geschichte Polens, München 42006, 144 Wiener Congress-Acte vom 9 Juni 1815, Teil I: Polen, Art 1–14, 6–10, gedruckt: Guido Philipp Anton von Meyer / Heinrich Zöpfl (Hgg ), Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes (in der Folge CJCG), 3 Bde, Frankfurt a M 1858–1869 (Reprint Aalen 1978) Vgl zu diesem Aspekt: Jens Boysen, Für Napoleon oder für Polen? Polnische Militäreinsätze zwischen 1795 und 1815 als Versuche staatlicher Existenzsicherung im Schatten der Großmächte, in: Martin Hofbauer / Martin Rink (Hgg ), Die Völkerschlacht bei Leipzig Verläufe, Folgen, Bedeutungen 1813-1913-2013, Berlin/Boston 2017, 175–193 Vgl hierzu u a Josef Albert Fox, Die polnische Verfassung vom 3 Mai 1791 Hintergründe der Entstehung und der Außerkraftsetzung Stellung Polens im Zeitalter der Aufklärung, Frankfurt a M 2021; Helmut Reinalter / Peter Leisching (Hgg ), Die polnische Verfassung vom 3 Mai 1791 vor dem Hintergrund der europäischen Aufklärung, Frankfurt a M 1996; Die „Constitution vom 3 Mai 1791“, in: Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hg ), Die Constitutionen der europäischen Staaten seit den letzten 25 Jahren, Leipzig/Altenburg: 1817, Bd  2, 16–31 (deutsch)

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sich von ihrer Zugehörigkeit zur ‚Nation‘, ‚Nationalität‘ oder ‚nationalen Gruppe‘ [her] An die Stelle der bisherigen Muster kollektiver Identität, die sich hauptsächlich auf die Religion, die dynastische Loyalität oder den gesellschaftlichen Stand stützten, trat das neue ‚Nationalbewußtsein‘, das ethnische, sprachliche oder historische Kriterien beschwor 175

Die deutsche Nationalbewegung unterschied sich vom polnischen Nationalbewusstsein Sie verstand sich in der nachnapoleonischen Ordnung der mitteleuropäischen Föderativordnung Deutscher Bund als ‚föderative Nation‘, war aber mit seiner Form nicht einverstanden und strebte einen deutschen Nationalstaat an Die polnische Nationalbewegung und die deutsche gingen vor der gescheiterten deutschen Nationalstaatsgründung von 1848/49 unterschiedliche Wege Die Polen, die in den napoleonischen Kriegen hofften ihre nationale staatliche Einheit durch das Herzogtum Polen und der Rückkehr der an Preußen und Österreich 1795 abgetretenen Gebiete wiederzugewinnen, konnten mit den Ergebnissen der Friedensverträge von 1814/15 und des Wiener Kongresses nicht zufrieden sein Die Schaffung des Königreichs Polen in Personalunion mit dem Zarenreich entsprach nicht den Wünschen und Erwartungen der Polen auch wenn die Existenz einer ethnokulturellen Identität der polnischen Nation anerkannt wurde Die formale Autonomie wurde jedoch durch Russland zunehmend beschnitten und führte zum Novemberaufstand von 1830, der von russischen Truppen im September 1831 schließlich niedergeschlagen wurde 176 Der Novemberaufstand galt als „folgenreicher Krieg der Prinzipien“ (Gabriela Brudzyńska-Němec) zwischen dem autokratisch-konservativen Regimen und dem liberalen Konstitutionalismus der deutschen Verfassungsstaaten und der liberalen Westmächten Der Freiheitskampf der Polen fand breiten Widerhall im liberalen Europa und löste große Sympathien aus, vor allem in Deutschland 177 Die Polen wurden zur Teilnahme am Hambacher Fest 1832

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177

Davis, Im Herzen Europas (wie Anm  174), 227 f Vgl zum größeren internationalen Zusammenhang Wolf D Gruner, Die belgisch-luxemburgische Frage im Spannungsfeld europäische Politik 1830–1839 Überlegungen zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Bestimmungsfaktoren der Interessen des Deutschen Bundes, Großbritanniens und Frankreichs, in: Francia 5/1977, 299–398, 341 ff ; Davis, Im Herzen Europas (wie Anm 174), 152 ff , 175 f ; Henryk Kocój, Preußen und Deutschland gegenüber dem Novemberaufstand 1830–1831, Katowice 1990; Alix Landgrebe, ‚Wenn es Polen nicht gäbe, dann müsste es erfunden werden‘ Die Entwicklung des polnischen Nationalbewusstseins im europäischen Kontext von 1830 bis in die 1880er Jahre, Wiesbaden 2003; Manfred Laubert, Beiträge zu Preussens Stellung gegenüber dem Warschauer Novdemberaufstand v J 1830, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven N F 5/3 1929, 381–389 Vgl Gabriela Brudzynska-Němec, Polenbegeisterung in Deutschland nach 1830 (3 12 2010): http:// www ieg-ego eu/brudzynskanemecg-2010-de Zugriff 2021-03-15; Peter Ehlen (Hg ), Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft; München 1982; Lech Trzeciakowski, Die polnische Frage in Ideologie und Politik der deutschen Liberalen vor 1870, in: Klaus Zernack (Hg ), Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland 1772–1871, Berlin 1987, 53–71; vgl auch Hans Henning Hahn, Polen im Horizont preußischer und deutscher Politik im 19  Jahrhundert, in: Zernack, Zum Verständnis der polnischen Frage in Preußen und Deutschland

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eingeladen Die deutschen Liberalen sahen die Polen als „Vorreiter“ einer europaweiten Freiheitsbewegung 178 Im Vorparlament und in der deutschen Nationalversammlung 1848 sahen die deutschen Liberalen zunächst eine Verpflichtung für die Wiederherstellung polnischer Staatlichkeit In der „Polendebatte“ erhielt – mit bedingt durch die Autonomieforderungen des sog Polnischen Nationalkomitees in Posen – im Juli 1848 schließlich in den Debatten der Nationalversammlung die antipolnische Gruppierung eine Mehrheit Im März 1848 hatten polnische Adelige und Intellektuelle in einem Aufruf an den König von Preußen die Unabhängigkeit Polens gefordert 179 In einer Posener Petition, die eine Delegation unter Leitung des Erzbischofs Leon Michal Przyluski dem König überbrachte hieß es, es habe sich in der gesamten polnischen Bevölkerung der Wunsch durchgesetzt, dass Polen wiedererstehen solle Die Stände des Großherzogtums Posen, die in Berlin tagten, lehnten Anfang April 1848 mehrheitlich eine Integration in den Deutschen Bund ab Als das polnische Nationalkomitee eine polnische Legion aufstellte, um eine Machtübernahme mit Gewalt zu erzwingen setzte Preußen aus preußisch-deutschen sicherheitspolitischen Überlegungen 30000 reguläre Truppen ein, die zunächst jedoch nicht eingesetzt wurden Ende April 1848 kam es doch zu militärischen Auseinandersetzungen Das polnische Nationalkomitee löste sich auf und die polnischen Einheiten kapitulierten Anfang Mai 1848 Der Sieg preußischer Truppen über die polnischen Aufständischen nahm die polnische katholische Kirche, die stets Verfechter polnischer nationaler Ansprüche im gesamten 19  Jahrhundert war zum Anlass sich von den mehrheitlich protestantischen Deutschen konfessionell abzugrenzen und eine antipreußische Haltung zu propagieren Dies förderte bei den zumeist evangelischen preußischen Liberalen eine Haltung gegen den Katho-

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1772–1871, 1–19; Klaus Zernack, Preußen – Deutschland – Polen Aufsätze zur Geschichte der deutschpolnischen Beziehungen, hrsg v Wolfram Fischer und Michael G Müller, Berlin 22001; Robert Spät, Die ‚polnische Frage‘ in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894–1918, Marburg 2014; Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreiches: Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016 Zum Hambacher Fest, den Unruhen in der bayerischen Pfalz, zum Völkerfrühling und zu den Polnischen Teilnehmern vgl die Materialien in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (in der Folge BHStAM) MA 410, 1628, 99503 (Akt 1832); Johann Georg August Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, Neustadt a H 1832; vgl Wolf D Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007: Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland, Cluj Napoca 2009, 145 ff ; ders , Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäische Integration (1789–1993), Teil I: 1789–1848, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149/2013 (2014), 59–124, 109 ff ; Stefan Christoph Weiß, Das Hambacher Fest 1832: Höhepunkt der frühliberalen bürgerlichen Opposition in Restauration und Vormärz, (ohne Ort) 2019 Vgl hierzu u a Dr R Hepke, Die polnische Erhebung und die deutsche Gegenbewegung in Posen im Frühjahr 1848 Eine Denkschrift mit den begründeten Aktenstücken dem völkerrechtlichen Ausschuß der deutschen National-Versammlung übergeben, Berlin/Posen 1848; Krzystof Makowski, Das Großherzogtum Posen im Revolutionsjahr 1848, in: Rudolf Jaworski / Robert Luft (Hgg ), 1848/49 Revolutionen in Ostmitteleuropa, München 1996, 149–172; Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Bonn 2006, 215 f ; Günter Wollstein, Das Großdeutschland der Paulskirche Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, 109 ff

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lizismus Sie wurde auch verbunden mit dem Bild, dass der polnische Nationalismus anders und rückständig sei Es finden sich hier Ansätze, wie im süddeutschen Liberalismus, die ausgehend von Baden den Kulturkampf in Süddeutschland einleiteten, gut zwanzig Jahre vor dem preußischen 180 Zwischen 1848 und 1851 gab es Überlegungen und Modelle die mehrheitlich deutschen Teile der ehemaligen polnischen Gebiete – ähnliche Diskussionen gab es für Schleswig und Holstein  – dem Deutschen Bund, einem deutschen Nationalstaat oder der preußischen Union einzugliedern und die mehrheitlich polnischen Gebiete als Provinzen bei Preußen, und nicht einem deutschen Gesamtstaat, zu lassen Eine der Folgen des Aufstandes in der Provinz Posen war für die Polen die Erkenntnis, dass gewaltsamer Widerstand nicht erfolgreich sein kann, dass vielmehr ein erfolgreicheres Konzept die Mitarbeit in der bestehenden staatlichen und rechtlichen Ordnung Preußens sein würde, d h Bildung und Mitarbeit im preußischen Staat u a durch Beteiligung an den Landtagswahlen Es bildete sich eine polnische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus und auch in das Herrenhaus zogen Polen ein Der Januaraufstand 1863 in Kongresspolen gegen die Russen fand auch bei den Polen in Preußen Sympathie und Unterstützung Das Scheitern stärkte die pragmatischen Kräfte unter den Polen und dass Bestreben konkurrenzfähig gegenüber den Deutschen zu werden Die Entwicklungen seit 1863 mit dem Krieg in Schleswig-Holstein 1864, der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 und der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 sowie der Weg über den neuen Deutschen Bund zum deutschen Kaiserreich zwangen auch die Polen sich neu zu positionieren Dies wurde deutlich in der Haltung der polnischen Abgeordneten im preußischen Landtag und im Norddeutschen Reichstag So votierten die Polen im Preußischen Landtag gegen die Annexionen und vertraten im Norddeutschen Reichstag eigene Positionen Der Abgeordnete Karol Libelt protestierte in der Landtagsdebatte namens der polnischen Fraktion gegen die Einbeziehung Posens und Westpreußens in den Bund und die Abhaltung von Wahlen in diesen Provinzen 181 Seine Fraktion sei der „Rekonstruktion eines freien, kräftigen, einheitlichen Deutschlands nicht abgeneigt“ Der Norddeutsche Bund werde in eine „Realunion“ übergehen Dann habe Preußen seine eigene geschichtliche Kultursphäre gefunden, und es wird nicht mehr angewiesen, seine Grenzmarken nach Osten zu erweitern und das Germanisations-System in den östlichen Provinzen zu verfolgen, wie bisher geschehen ist Bei seiner Deutschen Machtfülle

180 Vgl hierzu u a Josef Becker, Liberaler Staat und Kirche in der Ära von Reichsgründung und Kulturkampf Geschichte und Strukturen ihres Verhältnisses in Baden 1860–1876, Mainz 1973; Wolf D  Gruner, Der Kulturkampf in Süddeutschland 1851–1890, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 155/2019 (2020), 143–186 181 Verhandlungen des Preußischen Haus der Abgeordneten (in der Folge H d A Preußen) Sten Ber 16 Sitzung v 11 9 1866, 291–294

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ist ihm die Polnische Bevölkerung, die dort wohnt, mit ihrer staatsrechtlich verbürgten nationalen Existenz, nicht mehr gefährlich, sie gewährt ihm vielmehr eine internationale Stellung in Europa, namentlich aber den zwei Nachbarstaaten gegenüber, die auch über ehemals Polnische Landestheile gebieten 182

Die polnischen Abgeordneten wehrten sich dagegen, dass die polnische Bevölkerung in Preußen zu einer Deutschen gestempelt werde und „die ihr verbürgte nationale Existenz staatsrechtlich“ vernichtet werde 183 Die polnische Fraktion lehnte auch die Verfassung des Norddeutschen Bundes ab Sie meldete sich in den Beratungen immer wieder zu Wort und begründeten, warum die Polen eine deutsche Verfassung für Deutsche ablehnen müssten, da sie nicht ihren Interessen entsprächen In der Sitzung vom 18 März 1867 begründete der Abgeordnete und Rittergutsbesitzer Kantak aus Posen die Haltung der Polen Er verstehe, dass der Verfassungsentwurf „der Anfang sein soll zu einer Einigung Deutschlands, zu einer immer weitern Einigung, die endlich das ganze Deutschland umfaßen und so die Hoffnung ihrer Jugend und die Bestrebungen ihres Mannesalters endlich mit Erfolg krönen möge“ Er und seine Landsleute verstünden diese Bestrebungen und wünschten ihnen Erfolg Sie reden in diesem Hause immer von deutschen Interessen, deutscher Bildung, deutschen Sitten und Gebräuchen, von deutscher Zukunft Sie streben eine „Neubildung ihres Staates auf der Grundlage der Nationalität und Selbstbestimmung“ an Uns gegenüber „verleugnen“ sie „dieselben Principien, die Sie für sich in Anspruch nehmen […] und uns wider unseren Willen einem uns fremden Staatswesen einverleiben“ 184 Die polnische Fraktion lehnte eine Kompetenz des Norddeutschen Reichstages „zur Einverleibung der ehemaligen polnischen Landestheile in den Norddeutschen Bund“ ab 185 Bei der Abstimmung über die Verfassung hatten alle anwesenden polnischen Abgeordneten mit „nein“ gestimmt Der Abgeordnete Kantak erklärte nach der erfolgten Abstimmung (230:58): Trotz des Protestes seien die polnische Landesteile durch die Verfassungsurkunde in den Norddeutschen Bund einverleibt worden Wir, die polnischen Abgeordneten, haben „durch unsere Abstimmung gegen den ganzen Verfassungs-Entwurf das letzte uns zu Gebote stehende Mittel, unsererseits diesen Gewaltact zu verhindern, erschöpft haben, haben wir unsere Pflicht erfüllt und legen hiermit unser Mandat nieder (Allgemeine große Unruhe Lebhafter Widerspruch)“ 186 Präsident Dr Simson bedauerte, dass er nach der Niederlegung des Mandats keinen Ordnungsruf aussprechen könne als Kantak den Beschluss des Hohen Hauses mit „Gewaltact“ brandmarkte Simson fuhr fort: „Mich

182 Ebd , 291 183 Ebd , 284 184 Verhandlungen des es des Norddeutschen Bundes (in der Folge RT NdBd ) Bd 1, Sten Ber 15  Sitzung v 18 3 1867, 207 185 Ebd , Sten Ber 34 Sitzung v 16 4 1867, 729 (Kantak) 186 Ebd

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dünkt, die Geschichte wird über diesen ihren Protest zur Tages-Ordnung übergehen, wie über alle bisher von Ihnen eingelegten Proteste“ 187 Im Norddeutschen Reichstag hatte der Abgeordnete Dr Hänel die Süddeutschlandfrage und als Schleswig-Holsteiner die Nordschleswig-Frage aufgegriffen und auf die Gefahr hingewiesen, dass Nordschleswig an Dänemark zurückfallen könnte: Meine Herren, wenn Sie Nordschleswig preisgaben, welchen Titel innerer Gerechtigkeit haben Sie, um die polnische Bevölkerung bei dem Norddeutschen Bunde zu erhalten? […] In der unvermeidlichen Wahl zwischen der Herrschaft Deutscher über Fremde und Fremder über Deutsche, da sind wir es den Cultur-Elementen, die wir hinausgeschleudert haben in eine fremde Umgebung, schuldig ihnen unseren Schutz angedeihen zu lassen In dieser nothwendigen Wahl, ob Deutsche Herrschaft über Fremde oder ob fremde Herrschaft über Deutsche, da haben wir die Mission des deutschen Volkes zu wahren, welche sich Jahrhunderte lang als eine solche erwiesen hat, daß sie die Cultur vorschreitend auch fremden Völkerschaften eingeprägt Ich meine, nur dieser Titel spricht für Sie, wenn Sie die polnische Bevölkerung unter diese Bundesverfassung bringen Ich fordere, daß der nämliche Titel in gleicher Weise auf Ihre Nordschleswigschen Deutschen Brüder angewandt werde 188

Bismarck reagierte auf die die Meinung zur Polen- und die Schleswig-Frage, die er nicht teile: Ich halte eine Herrschaft Deutscher über widerstrebende Nationen, ich will nicht sagen eine Herrschaft, aber ein Zusammenleben Deutscher in demselben Gemeinwesen mit solchen Nationen, welche danach streben, sich in diesem Gemeinwesen zu lösen [sic], nicht für nützlich; mitunter aber ist es nothwendig In Polen ist es nothwendig, wie ein Blick auf die Karte zeigt

Die Schwierigkeit der von ihm berührten Frage liegt deshalb für uns nicht in der Cession von Dänen, welche Dänisch sein wollen, an Dänemark nicht darin, daß wir ablehnen wollen, Dänemark zu geben was dänisch, sondern in der Mischung der Bevölkerung darin, daß wir Dänen nicht an Dänemark zurückgeben können, ohne ihm Deutsche mitzugeben Darin liegt die Schwierigkeit und zugleich der principielle Unterschied meiner politischen Ansicht gegen die des Herrn Vorredners Wohnten sämmtliche Dänen in einem an der dänischen Grenze belegenen Landstriche und sämmtliche Deutsche dieseits, so würde ich es für eine falsche Politik halten die Sache nicht mit einem Strich zu lösen […] und welcher in Bezug auf Polen zu folgen wir in der Unmöglichkeit sind durch die geschichtliche Entwicklung des preußischen Staates, welche wir hundert Jahre zurück nicht mehr ändern können Wir müssen tragen, was daraus folgt

187 188

Ebd , 730 NdRT Sten Ber 1 Leg Session 1867, Bd  1, 7 Sitzung v 24 9 1867, 88

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Mit Blick auf die Bevölkerung Schleswigs meinte er Preußen wäre nicht in diese Lage gekommen, „wenn die Haltung der Bevölkerung von Schleswig eine andere, wenn sie weniger particularistisch, mehr Deutsch von Hause aus gewesen wäre“ 189 Bereits zu Beginn des Norddeutschen Bundes wird deutlich, dass Preußen, trotz eigener Beteuerungen den Art 5 des Prager Friedensvertrages zu erfüllen nicht bereit war ein Referendum in Nordschleswig abzuhalten und daß die Polenfrage mit der Nordschleswigfrage auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind Nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches wurden von polnischen Mitgliedern des Reichstages diese Positionen wiederholt 190 Der Abgeordnete von Krzyzanowski merkte u a an, dass den polnischen Abgeordneten nicht das Recht bestritten werden könne „im Namen der polnischen Bevölkerung für die Abänderung des Artikels 1 der Verfassung zu sprechen“ und ihre Meinung zu Protokoll zu geben: Die polnischen Abgeordneten beantragten, dass der Artikel 1 einen Zusatz erhält, nämlich „mit Ausschluß der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landestheile“ Wir wollen, meine Herren, bis Gott anders über uns bestimmt hat, unter preußischer Herrschaft bleiben, aber dem deutschen Reiche wollen wir nicht einverleibt sein Sie haben, meine Herren, ein großes homogenes Reich gebildet, das sich vielleicht einst zu einem noch größeren Umfange entwickeln wird Es liegt, meine Herren, glaube ich, in der Natur der Sache, daß ein fremder Bestandtheil nicht hierher gehört

und er frage sich „gehöre ich denn wirklich zu einem deutschen Volksstamme? Nein, meine Herren, meiner Geburt, meinen Ueberzeugungen, meinen Ueberlieferungen nach gehöre ich nicht dazu“ Er sei von „unseren ehrlichen polnischen Bauern“ gewählt worden, um in ihrem Namen „gegen die Einverleibung in das deutsche Reich zu protestieren“ 191 Den Polen wurde entgegengehalten, dass etwa die Hälfte der Bewohner Posens die „Nationalität deutsch“ haben „Also wie kommen die Herren darauf, eine entschiedene Nationalität für sich in Anspruch nehmen zu wollen? Sind denn die Deutschen, die dort wohnen, nicht ebensoviel werth wie die Polen?“ Sie seien mit Hilfe der klerikalen Partei in dieses Haus gewählt worden: „Meine Herren, Sie haben dadurch ihre eigene Schwäche und den Mangel an nationalem Sinn auf Seiten der klerikalen Partei deutlich gezeigt“ 192 Der Abgeordnete Riegolewski reagierte auf den Vorwurf, dass die polnischen Abgeordneten „nicht als Vertreter des Volkes, sondern des katholische Klerus“ angesehen wurden Er habe sich in der Stadt Posen gegen seinen deutschen Kandidaten mehrheitlich durchgesetzt, obwohl er gegen die „ultramontane

189 Ebd , 88 f 190 Vgl Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags (in der Folge DRT Sten Ber ) 1 Leg I Session, Bd  19, 9 Sitzung v 1 4 1871, 97 (Abgeordneter Dr v Zolkowsk); ebd , 97 f Reaktion Bismarcks 191 Ebd , 98 (von Krzyzanowski) 192 Ebd , 99 (von Hennig)

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Partei aufgetreten“ sei Die Behauptungen seien daher „abgedroschene, abgethane, bekannte Versuchsmittel, um gegen uns Mißtrauen zu erwecken und uns gleichsam jede Berechtigung zur Wahrung unserer politisch-nationalen Rechte zu nehmen Andererseits ist es eigenthümlich, daß uns, wenn wir an unserer Religion strenge halten, dieses zum Vorwurf gemacht wird“ 193 Er wende sich dagegen, dass der Bundeskanzler den Polen das Recht zu solchen Anträgen abspreche und zwar aus dem Gesichtspunkt, weil wir kein Volk wären Nun, meine Herren, das was Gottes Werk ist, wird keine menschliche Kraft vernichten können, und so Gott will, werden wir auch zu der Durchkämpfung und Erlangung unserer Rechte mit Gottes Waltung gelangen müssen Denn wahrlich, auch wir danken Gott, daß wir, trotzdem wir fortwährend nur Leiden zu bestehen haben, trotz der großen Opfer, die wir fortwährend gern und willig tragen, unserer Idee getreu geblieben sind, daß wir trotz aller menschlichen gegen uns gerichteten Machinationen durch Gottes Waltung und durch Gottes Fügung Polen geblieben sind und um keinen Preis der Welt aufhören werden, Polen zu sein 194

Er wandte sich gegen die Behauptung des Bundeskanzlers, dass die Polen keine Anträge stellen könnten, „weil wir kein Volk wären Nun, meine Herren, das, was Gottes Werk ist, wird keine menschliche Kraft vernichten können“ 195 Riegolewski wandte sich gegen falsche Behauptungen zur Geschichte Polens: Ja, meine Herren, wenn Sie ungerechtfertigte Vorwürfe unserer ruhmreichen Geschichte machen, dann ist es auch unsere Pflicht, Sie zu widerlegen Ich glaube, daß Sie, wie von allen Anderen, so auch von uns beanspruchen, daß wir nach unserem besten Wissen und Gewissen unsere Pflicht erfüllen, denn nur mit Männern, die so verfahren, kann man mit Behagen in denselben Räumen tagen 196

Nach einigen Darlegungen zur polnisch-preußischen Geschichte mit denen er Bismarck widersprach, betonte er das Recht der Polen „auf unsere Geschichte einen stolzen Rückblick zu thun“ 197 Was nun den Antrag der polnischen Fraktion betrifft habe er nicht erwartet, daß ich auf die Wiener Verträge werde zurückkommen müssen Ich habe geglaubt, daß von nun an Deutschland andere Grundsätze den Völkern gegenüber wird gelten lassen Ich gehe nämlich nicht von dem Standpunkte aus, daß die Völker nicht gegeneinander, nicht nebeneinander, sondern füreinander sein sollen, und, meine Herren, Deutschland gegenüber können wir die Anerkennung beanspruchen, daß wir wenigstens nie gegen

193 194 195 196 197

Ebd  (Riegolewski) Ebd Ebd Ebd , 100 Ebd

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Deutschlands Einigung und nationale Interessen aufgetreten sind; selbst nach unserer Niederwerfung haben wir immer mit der deutschen Civilisation, mit Deutschland gehalten 198

Die Wiener Traktate seien nicht die ausschließliche Basis der Polen sich auf ihre unveräußerlichen Rechte zu berufen, da sie ohne ihre Zustimmung und Mitwirkung geschlossen sind und nur eine neue Theilung statuirten, also die unveräußerlichen Rechte auf Selbständigkeit verletzten […] So lange aber eine Aenderung des Völkerrechts durch einen Kongreß nicht erfolgt, müssen die völkerrechtlichen Stipulationen als zu Recht bestehend anerkannt werden […] Wir stehen als Volk da Unsere politische Stellung in der europäischen Völkerfamilie ist ausdrücklich anerkannt in den Wiener Verträgen 199

Verlangt werde nicht eine Wiederherstellung Polens, das ist eine andere Frage, welche Grenzen Polen haben wird, diesen Antrag bringen wir in dieses Haus nicht ein […] diese Anträge überlassen wir dem Laufe der Geschichte, und die Macht der Logik der Ereignisse ist mächtiger und größer als die größte menschliche materielle Macht, sowohl einzelner Männer als aller Staaten zusammen 200

In den Debatten des Reichstages und des Preußischen Abgeordnetenhauses wird von polnischen Vertretern immer wieder Bezug genommen, dass in Wien 1815 die polnische Nation in der europäischen Völkerfamilie anerkannt worden sei Preußen habe mit dem Okkupationspatent vom 6 September 1815 den Polen „ihre Nationalität und ihre Vaterland zugesichert“ Am Ende seiner Rede stellte Riegolewski fest: „Jeder Pole hält, so lange er lebt, mit seinem Volke fest an dem Evangelium unserer Zukunft, und wir sind der festen Zuversicht, daß wir mit der von Gott uns gegebenen Liebe zu unserem Vaterlande des Sieges uns erfreuen werden durch Gottes Fügung!“201 In den parlamentarischen Debatten des Reichstages wurden von den polnischen Abgeordneten immer wieder Maßnahmen, die sich zum Nachteil der polnischen Mitbürger in den preußischen Provinzen Westpreußen und Posen auswirken könnten kritisiert Dies galt beispielsweise für das Reichsvereinsgesetz von 1908, das den Gebrauch „einer nichtdeutschen Sprache in öffentlichen Versammlungen“ (Art 12) verbot Dies betraf u a die Dänen und die Polen Der Abgeordnete Fürst Radziwill beantragte die Aufhebung des Sprachenparagraphen des Reichsvereinsgesetzes und führte dazu u a aus Dem Gesetz hafte von „seiner Geburt“ das „innere Unrecht“ an Der verhängnisvolle Paragraph müsse abgeschafft werden Er forderte die Abgeordneten auf der Resolution der polnischen Fraktion in dem Bewusstsein zuzustimmen, 198 199 200 201

Ebd , 100 f Ebd , 101 Ebd Ebd (kursiv, im Original fett gedruckt)

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„daß Sie damit nicht nur unserem Interesse als nationale Minderheit einigermaßen gerecht werden, sondern daß Sie auch dem Ansehen des Deutschen Reiches im Inund Auslande bei allem, was überhaupt Anspruch auf kulturelle Achtung hat, einen Dienst leisten“ 202 Fürst Radziwill ging auch auf die polnische Minderheit in Preußen ein Deutschland habe jüngst Jahrestage seiner nationalen Geschichte gefeiert [gemeint ist hier der hundertste Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1813, WDG] Bei unserer Stellung im Deutschen Reich und in Preußen stehen wir mit vollem Verständnis diesen Ihren Gefühlen, meine Herren, die Sie deutscher Nationalität sind, gegenüber und nehmen Anteil an ihnen Aber vergessen Sie nicht, daß wir in nächster Zeit auch ein anderes Jubiläum feiern werden: das Jahrhundertjubiläum der Wiener Kongreßakte, welche in feierlicher Weise und aus der Initiative der Monarchen heraus die Teilung Polens unter dem Gesichtspunkte auffaßte, daß einem jahrtausendalten Kulturvolk, welches eine solche Innigkeit seines Nationalgefühls, solche Anhänglichkeit an sein Volkstum in der Zeit des Unglücks, das über Polen kam, bewiesen hatte, eine Anerkennung, eine Sicherung seiner nationalen Eigentümlichkeiten und vor allem des Gebrauchs seiner Sprache gegeben werden müsse

Diese ethischen Gefühle seien auch in internationalen Verträgen niedergelegt „in welchen jedem der früher zur Krone Polens gehörenden Landesteilen statuiert“ 203 Aus seiner Sicht wäre es ein „beschämendes Gefühl, daß nach hundert Jahren im deutschen Reichstage nicht mehr das Gefühl für das, was damals die Monarchen nach dem Wiener Kongreß als gerechtfertigt anerkannt hatten, eine Resonanz bei den entscheidenden Instanzen finden sollte“ 204 In der Abstimmung zur Abänderung des Reichsvereinsgesetzes vom 19 April 1908 wurde der Reichskanzler aufgefordert dem Reichstag einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen Der Art 12 über den Gebrauch fremder Sprachen wurde gestrichen 205 Für die Polen waren der Norddeutsche Bund und das deutsche Kaiserreich ein fremder Nationalstaat Preußen als protestantische Großmacht versuchte zudem im Verlauf der Geschichte des Kaiserreiches über den Kulturkampf die polnische, den Nationalgedanken unterstützende katholische Kirche in den östlichen Provinzen zu bekämpfen und die Polen zu germanisieren Letztlich sind alle preußischen gegen den polnischen Bevölkerungsteil gerichteten Initiativen gescheitert und haben langfristig das Bild vom anderen negativ belastet, mutierten zum Feindbild 206 Im Ersten Weltkrieg, mit bedingt auch durch die widersprüchliche Polenpolitik der Mittelmächte,

202 203 204 205 206

DRT XIII Leg Bd  292 Sten Ber 206 Sitzung v 5 2 1914, 7044 Ebd (kursiv im Original fett gedruckt) Ebd Ebd , 207 Sitzung v 6 2 1914, 7051 Hierzu u a Günter Trautmann (Hg ), Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991

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kam es zu einer Entfremdung zwischen den polnischen Fraktionen und der Reichsleitung Das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn hatten den Polen 1916 ein eigenes Königreich angeboten, das sich aber aufgrund des Kriegsverlaufes und der Ablehnung durch die Polen nicht realisieren ließ Die Polenfrage im Reich und in Preußen wurden in beinahe fünfzig Jahren deutsches Kaiserreich nicht befriedigend gelöst  – hierbei spielten zahlreiche Faktoren eine entscheidende Rolle – und brachten den späteren deutschen Außenminister Gustav Stresemann 1917 im Reichstag zu der Befürchtung, dass die Polenfrage zum Ausbruch eines zweiten Weltkrieges führen werde 207 Wolf D. Gruner, Professor für Europäische Geschichte und Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien, Universität Rostock Zahlreiche Beiträge zur deutschen, europäischen, internationalen und Landesgeschichte, u a Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens in frühen 19  Jahrhundert (1979); Deutschland mitten in Europa (1992); Die deutsche Frage in Europa 1800 bis 1990 (1993), EuropaLexikon (2 Aufl 2007); Deutschland in Europa 1750–2007 (2009); Der Deutsche Bund 1815–1866 (2012); Der Wiener Kongress 1814/15 (2014)

207 Vgl hierzu: Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn 2016

„Wie Bismarck über Hamburg siegte“* Die Hansestädte und der Norddeutsche Bund Detlef Rogosch Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 255–270

Abstract: The Hanseatic cities of Lübeck, Bremen and Hamburg were members of the Central European Federal System of the German Confederation since 1815 The existence of the small Hanseatic states was guaranteed by treaties Their status in the regional federal system of the German Confederation Special relations at the level of the Confederation permitted them to follow their own interests, i e to negotiate commercial treaties and to run consulates The cities did not want to join the alliance with Prussia but they were forced They feared to be annexed When a constitution for the North German Confederation was proposed to the future member states the Hanseatic cities discussed to join or not to join Their demands for changes in the constitution were turned down by Bismarck They had to give up their right for armed forces, for negotiating commercial treaties and to keep consulates They were allowed to establish freeports and to act outside the custom lines of the Zollverein The customs regime also implied costs On the other hand the federal laws also meant advantages Despite dissatisfaction with the results and growing anti-Prussian sentiments especially in Hamburg, the Senates and City Assemblies ratified the constitution of the North German Confederation in May 1867

„Wie Bismarck über Hamburg siegte“ so lautete die Überschrift im Hamburger Abendblatt anlässlich des 150 Jahrestages der Annahme der Verfassung des Norddeutschen Bundes durch die Hamburger Bürgerschaft Die Hansestadt „verlor ihre Freiheit“ 1

* 1

So die Überschrift eines Artikels von Josef Nyary im Hamburger Abendblatt vom 14 Mai 2017 Josef Nyary, Vor 150 Jahren: Wie Bismarck über Hamburg siegte, in: Hamburger Abendblatt vom 14  Mai 2017

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Und nicht nur Hamburg – sondern alle drei Hansestädte Den Weg zu diesem „Sieg“ werde ich im Folgenden skizzenhaft nachzeichnen Für Kleinstaaten, wie es die Hansestädte waren, stellt ein Bündnissystem auf föderativer Grundlage, wie es der Deutsche Bund gewesen war, eine Garantie der eigenen staatlichen Existenz und Sicherheit dar 2 Schon der Gang in den Deutschen Bund geschah, insbesondere in Hamburg, nicht ohne Vorbehalte, da eine Neutralitätspolitik, wie sie noch im „Alten Reich“ den Hansestädten zugestanden worden war, in diesem neuen Staatensystem nicht fortgesetzt werden konnte 3 Trotzdem bot gerade die völkerrechtliche Gleichstellung in einem durch europäische Verträge garantierten Regionalsystem wie dem Deutschen Bund die Chance, auf der Ebene des Bundes oder in Sonderbeziehungen und Zusammenschlüssen eigene Wünsche und Interessen durchzusetzen Die Politik der Hansestädte konnte, auf Selbstständigkeit und Erhaltung ihrer Souveränität bedacht, nur vor dem Hintergrund einer Erhaltung des Deutschen Bundes auf möglichst lange Zeit ausgeführt werden So heißt es in den Aufzeichnungen des Hamburger Senatssyndikus Carl Hermann Merck:4 Die freien Hansestädte haben bisher die Garantie für ihre Selbständigkeit u[nd] Integrität in den Bundesverträgen gefunden, d[ie] Wiener Schlußacte ist ein internationaler Vertrag, welcher noch jetzt in Kraft besteht; auf ihm beruht der Bund u[nd] haben die Europäischen Großmächte da[durch], [da]ß s[ie] ihre Gesandten nicht zurückgerufen haben, zu erken[n]en gegeben, daß s[ie] denselben durch den Austritt Pr[eußen]’s keineswegs als aufgelöst ansehen

Aus dieser Sicht heraus stellte eine Infragestellung der Rechtsgrundlagen des Bundes die größte Gefahr für Kleinstaaten dar Genau dies wurde deutlich beim Zerschlagen der Bündnisstrukturen des Deutschen Bundes im Jahre 1866 Im sich zuspitzenden Konflikt zwischen Österreich und Preußen Anfang 1866 versuchten beide deutsche Großmächte sich ihrer Verbündeten in Deutschland zu versichern Im März 1866 gab es jeweils eine entsprechende Anfrage aus Österreich und Preußen an die Senate der Hansestädte Wien und Berlin erhielten nur ausweichende bis hinhaltende Äußerungen In Hinblick auf die österreichische Frage nach einer Unterstützung eines militärischen Vorgehens gegen Preußen zog sich Hamburg darauf zurück, nichts zu unterlassen, „was zur Aufrechterhaltung des B[un]desrechts irgend

2 3 4

Vgl dazu ausführlich: Detlef Rogosch, Hamburg im Deutschen Bund 1859–1866 Zu Politik eines Kleinstaates in einer mitteleuropäischen Föderativordnung, Hamburg 1990 Vgl dazu Wolf D Gruner, Hamburg und die Hansestädte in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes (1815–1825): Zwischen internationaler Neutralität und deutschem Sonderbund, in: Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 2/1988, 73–115 Aufzeichnungen von Merck vermutlich zur Senatssitzung am 22 Juni 1866 Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg (künftig: StAHH), Bestand Senat Cl I Lit T Nr 1 Vol 1 Fasc 1a

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dienen könne“5 und Bremen machte deutlich, dass es sich nur im Rahmen der Bundespflichten bewegen könne 6 Auch die Antwort auf eine entsprechende preußische Anfrage ging in die gleiche Richtung Doch diese Antwort genügte dem preußischen Gesandten von Richthofen nicht Der Hamburger Senatssyndicus Merck erkannte die schwierige Situation, in der sich die Hansestädte mit einer falschen Antwort bringen könnten Es bestand die Gefahr, dass ihre Staatsgebiete im Falle eines Krieges von preußischen Truppen besetzt würden Für Merck war es der einzig richtige Weg, sich auf den Bund zu berufen und bei Entschließungen in der Bundesversammlung nur auf das Bundesrecht zu verweisen Im Falle einer Besetzung durch Preußen dürfe Hamburg, so Merck, nichts freiwillig aufgeben, damit, „wenn der Krieg ungünstig für Preußen ausfällt, wir auf unsere Rechtsstellung zurückkommen können“ 7 Der Bremer Senat reagierte ähnlich auf das Ansinnen Preußens Es werde jedem Vorschlage zur Vermittlung am Bunde beitreten, aber ablehnen am Krieg zwischen Großmächten teilzunehmen 8 Dem Bremer Senator Johann Heinrich Smidt war eine gemeinsame Haltung der Hansestädte gegenüber beiden großmächtlichen Ansinnen wichtig, weil ohnehin eine gewisse Tendenz in der Presse wie auch bei den Regierungen besteht, die einzelnen Hansestädte nach ihrer Zuneigung resp zu Oesterreich od Preußen von einander zu unterscheiden, in kritischen Zeiten wie die jetzt bevorstehenden aber jeder solche Trennung doppelt bedenklich für dieselben ist Denn mit der Vereinzelung hört die höhere Bedeutung und die europäische Rücksichtnahme auf, welche man der Hanseatischen Gemeinschaft von Altersher zu widmen gewohnt ist, während jede einzelne Stadt in ungleich höherem Maße den Einflüssen einer wechselnden Tagesmeinung ausgesetzt bleibt 9

In Lübeck sah Senator Theodor Curtius gerade das Verhalten Mercks gegenüber dem preußischen Gesandten von Richthofen kritisch Merck fehle es an diplomatischem Geschick Gegenüber den preußischen Wünschen zeigte sich der Senator eher kompromissbereit und war bereit, das eigene Interesse der Selbstständigkeit, „welche auch mir das höchste Gesetz ist“, in gewissen Dingen unterzuordnen Er habe gegenüber 5 6 7 8

9

So im Senatsbeschluss vom 21 März 1866 Im Konzept von Merck StAHH Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Vgl Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Band 2: Von der Franzosenzeit bis zum Ersten Weltkrieg (1810–1918), Bremen 1995, 283 So Merck in einem Brief an den Hanseatischen Gesandten in Berlin, Geffcken, vom 26 März 1866 StAHH: Berliner Gesandtschaft G IIa So der Bremer Senator Johann Heinrich Smidt in einer Notiz zum Besuch des Gesandten der Hansestädte am Bundestag, Dr Krüger, in Bremen vom 31 März 1866 Staatsarchiv Bremen (künftig: StAHB) Ratsarchiv 2 – M 5 a In Bremen begründete der Senat seine Haltung damit, dass „einer Großmacht gegenüber die Mittel des Bundes nicht ausreichen, um Thätlichkeiten u[nd] Selbsthülfe zu verhüten “ So Krüger in einem Schreiben an Merck vom 31 März 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Schreiben von Smidt an Merck vom 4 April 1866 Ebd

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Preußen die Erfahrung gemacht, „daß man damit unter kluger Benutzung der Umstände am besten fährt und immer Gelegenheit findet, für billige Zugeständniße nützliche Gegen-Concessionen zu erlangen“ 10 Am 9 April 1866 brachte Preußen dann einen Reformvorschlag zur Bundesverfassung in die Bundesversammlung ein Es beantragte „eine aus directen Wahlen und allgemeinem Stimmrecht der ganzen Nation hervorgehende Versammlung […] einzuberufen, um die Vorlagen der deutschen Regierungen über eine Reform der Bundesverfassung entgegenzunehmen und zu berathen“ 11 Österreich versuchte, die anderen Bundesglieder zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen den Antrag zu bewegen Wien begründete sein Vorgehen damit, dass man sich nicht auf eine Berufung eines Parlamentes einlassen könne, ohne vorher über dessen konkrete Aufgaben beschlossen zu haben In Hamburg ging Merck auf diesen Vorstoß nicht ein Solange kein konkreter Antrag Österreichs vorliege, könne hierüber nicht entschieden werden Preußen schlug wenige Tage nach der Einbringung vor, den eigenen Antrag an einen „ad-hocAusschuss“ zu verweisen und bat um eine entsprechende Instruktion der Gesandten in Frankfurt In Berlin würde dies als „bundesfreundliches Verhalten“ gewertet werden 12 Der Hamburger Bundestagsgesandte Daniel Friedrich Krüger erarbeitete daraufhin einen Entwurf für eine gemeinsame Abstimmung der Hansestädte in der Bundesversammlung, in der er mit einer ausführlichen Motivierung für eine Verweisung an einen Ausschuss plädierte In Hamburg war Merck grundsätzlich mit einer Verweisung einverstanden Für ihn stellte sich nur die Frage, ob die Stimme der Hansestädte motiviert abgegeben werden sollte Gegenüber dem Bremer Senator Smidt plädierte er für eine einfache Zustimmung zur Überweisung 13 In Bremen sah der Senat dagegen keinen Grund, bei diesem besonderen Anlass auf eine motivierte Abstimmung zu verzichten Als Kompromiss schlug Senator Johann Heinrich Smidt die Möglichkeit vor, sich bei der Abstimmung hinsichtlich einer Motivierung das Protokoll offen zu halten, um „bei noch sich ergebender Möglichkeit einer Vereinigung auch hinsichtl der beizufügenden Motive“ diese nachzuschieben 14 Der Vorschlag wurde nicht aufgegriffen, da auch der Lübecker Senat für eine einfache Verweisung votierte und der Senat in Hamburg sich am 18 April anschloss 15 So stimmte der Bundestagsgesandte für die Hansestädte für eine einfache Verweisung an einen Ausschuss Nach Ansicht von Merck konnte letztendlich aus dem preußischen Antrag auf Bildung eines Parlaments, das aus freien Wahlen hervorgehen soll, nichts werden, weil keine Regierung ihre Stände so „mit Fü-

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Schreiben von Senator Curtius an Smidt vom 15 April 1866 StAHB: Ratsarchiv 2 – M 5 a Bundestagsdrucksache Nr  24 vom 9 April 1866 Ebd Vgl Schreiben von Merck an Bundestagsgesandten Krüger vom 12 April 1866 StAHH: Bundestagsgesandtschaft IIIc 5 Schreiben von Merck an Smidt vom 16 April 1866 StAHB: Ratsarchiv 2-M 4 i Schreiben von Smidt an Krüger vom 17 April 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Schreiben von Merck an Smidt vom 19 April 1866 StAHB: Ratsarchiv 2-M 4 i

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ßen treten“ werde 16 Am Ende stimmte auch Österreich für die Verweisung an einen noch einzusetzenden Ausschuss Hier legte Bismarck dann nach und forderte eine Beschleunigung des Reformverfahrens So sollte weiterhin bereits vor Vorlage der konkreten Reformvorschläge ein Termin für den Zusammentritt des Parlamentes bestimmt werden Nur so sei aus Sicht der preußischen Regierung eine Einigung unter allen Regierungen zu erreichen Die Bestimmung des Termins der Parlaments-Eröffnung vor Beginn der Regierungsverhandlungen über die Reformfrage ist der Kern unseres Antrages vom 9ten April Mit der Ablehnung dieser Frage wäre die ernstliche Behandlung der Bundesreform überhaupt tatsächlich abgelehnt 17

Für Merck in Hamburg war klar, dass dieses preußische Vorgehen abgelehnt werden müsste, „den(n) es wäre meiner Ansicht nach wenigstens ein Frevel der Regierungen gegen sich selbst, wen(n) sie ein Parlament berufen wollten, ohne vorher bestimmte Vorlagen vereinbart zu haben“ 18 Merck sah die Möglichkeit, bei einem festen Zusammenhalten der anderen Staaten, dass Preußen seinen Austritt aus dem Bund erklären könnte, ohne irgendeinen Rückhalt in Deutschland oder im Ausland zu haben Diese Sichtweise wurde allerdings in den beiden anderen Hansestädten nicht grundsätzlich geteilt Gleichzeitig war man nicht bereit, eindeutig pro Österreich oder pro Preußen Stellung zu nehmen In Bremen erwartete man einen Krieg mit einem Sieg Preußens Auch für Merck war das Ziel der Politik Bismarcks die Erlangung der „Suprematie in Deutschland, […] mindestens aber die Mainlinie“ 19 Auch in der Frankfurter Bundesversammlung standen die Zeichen auf eine kriegerische Lösung des Konfliktes In der Auseinandersetzung zwischen Sachsen und Preußen stellten sich die Hansestädte auf die Seite Berlins Dies wurde dort mit Genugtuung aufgenommen In einem persönlichen Gespräch zwischen dem preußischen Gesandten von Richthofen und Merck ging ersterer auf Bedenken der Hansestädte gegenüber der preußischen Politik ein Richthofen betonte, dass die preußischen Anträge in der Reformsache auf eine friedliche Umgestaltung innerhalb des Bundes ausgerichtet seien und die Schonung der Souveränität der Staaten im Auge haben Allerdings erhielt die Erklärung aus Preußen auch eine unverhüllte Drohung bei einem „feindlichen“ Verhalten Was die feien Städte anbetrifft, so sehe Pr[eußen] sie als ein wichtiges Element der Bildung u[nd] der Entwicklung der materiellen Verhältnisse des Bundes an Pr[eußen] sei

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Schreiben von Merck an Krüger vom 12 April 1866 StAHH: Bundestagsgesandtschaft II c 5 So Bismarck am Ende der Zirkulardepesche an die preußischen Gesandtschaften vom 27 April 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 68c Merck in einem Brief an Krüger am 30 April 1866 StAHH: Bundestagsgesandtschaft III b 3 Band 2 Merk in einem Brief an Krüger vom 6 Mai 1866 Ebd

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ferne, diese Stellung schädigen zu wollen, […] wen[n] die Städte selbst Pr[eußen] dies durch einen offenen Anschluß an seine Politik möglich machen 20

In Gesprächen mit weiteren Senatsmitgliedern wurde Richthofen noch deutlicher Er erwarte „zuerst, daß man die Truppen unter Preußischen Oberbefehl stelle, sodan[n] die diplomatische Vertretung“ 21 Im Falle einer Weigerung stellte Richthofen die Verlegung einer Garnison von 5–6000 Mann nach Hamburg in Aussicht, d h militärische Besetzung, Aber diese Drohung führte zunächst nicht zum gewünschten Erfolg Die Mehrheit des Senates war der Auffassung, dass „eine Souveränität, wie man sie uns jetzt bietet u lassen will, jedenfalls nach dem Kriege auch noch zu haben ist“ 22 Ein Vorstoß aus Österreich, dieses Verhalten Preußens am Bundestag missbilligen zu lassen, stieß in Hamburg auf entschiedenen Widerstand Merck wandte sich dagegen, diese „Tactlosigkeit“ Richthofens in Frankfurt zur Sprache zu bringen Zwar sei es das Recht jeder Regierung auszusprechen, „daß solche Vorschläge zu Separatbündnissen unter eventuellen Drohungen bundeswidrig sind“,23 doch Merck hoffte, dass Wien hier nicht tätig wird „Unter allen Umständen ist der Schritt uns höchst nachtheilig u nutzt Niemanden “ Er bat daher den Bundestagsgesandten in Frankfurt auf den österreichischen Gesandten einzuwirken, dass die Wiener Regierung ihren Vorschlag nicht umsetzt Krüger erklärte daraufhin gegenüber dem österreichischen Gesandten, dass Hamburg Wert darauf lege, „zu den zu unserem Schutze etwa nöthig werdenden Schritte selbst die Initiative zu ergreifen“ 24 Wien verfolgte daraufhin seine Absicht nicht weiter, was Merck ausdrücklich begrüßte, da in Hamburg jeder Vorwand vermieden werden sollte, der Preußen zu einem sofortigen Eingreifen veranlassen konnte 25 Trotz weiterer Bemühungen, insbesondere der Mittelstaaten, einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden, spitzte sich die Lage weiter zu Merck war überzeugt, dass Preußen gegen die norddeutschen Staaten vorgehen werde Für ihn war es daher wichtig, selbst nach Ausbruch eines Krieges, daran festzuhalten, daß der Bund rechtlich fortbesteht, er ist eine internationale Institution u[nd] nicht allein von den deutschen Staaten eingesetzt, er kan[n] also auch nicht von ihnen allein rechtlich aufgehoben werden, wen[n] er auch durch den Krieg factisch suspendirt sein sollte

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Zitiert nach Aufzeichnungen von Merck über das Gespräch mit von Richthofen am 15 Mai 1866 StaHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 68c So Merck in einem Brief an den hanseatischen Gesandten Geffcken in Berlin vom 16 Mai 1866 StaHH Berliner Gesandtschaft G IIa Ebd So der Bundestagsgesandte Krüger in einem vertraulichen Brief an Merck (undatiert, vermutlich vom 19 Mai 1866) StaHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Merck in seinem Antwortschreiben an Krüger vom 20 Mai 1866 StaHH: Bundestagsgesandtschaft III b 3 Band 2 Merck in einem Brief an Krüger vom 27 Mai 1866 Ebd

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Für seine internationale Natur spricht, daß er auf der Londoner Conferenz vertreten war, ebenso daß er jetzt nach Paris eingeladen werden wird 26

Dieser Pariser Friedenkongress war für Merck allerdings schon totgeboren Und so war es auch Bereits am 1 Juni gab Österreich bekannt, dass es die holsteinischen Stände einberufen werde, um über die Zukunft des Landes zu entscheiden Die preußische Regierung sah durch diese Entscheidung ihre Rechte in Holstein aus der Gasteiner Konvention gefährdet und ließ am 7 Juni Truppen in Holstein einmarschieren Die österreichischen Truppen zogen sich kampflos nach Altona zurück und verließen Holstein unter Protest Merck bewertete dieses Vorgehen Österreichs zwiespältig Es war vielleicht im Augenblick erwünscht, doch „die Aufopferung der Herzogthümer ohne Schwertstreich“ hielt Merck für ein Unglück 27 Am 11 Juni beantragte Österreich in Frankfurt die Mobilmachung aller nicht zu Preußen gehörenden Armeecorps des Bundesheeres Daraufhin wandte sich die preußische Regierung einen Tag später in einer Note an die drei Hansestädte Darin verwies Berlin auf die Bundeswidrigkeit des Mobilmachungsantrages und sprach die Erwartung aus, dass die Hansestädte gegen diesen Antrag stimmen werden 28 Der Gesandte der Hansestädte empfahl dringend, sich dem österreichischen Antrag nicht anzuschließen, da die Schleswig-Holstein-Frage nur der Anlass, nicht aber die Ursache des Krieges sei 29 Krüger wies ebenfalls darauf hin, dass die Mobilisierung nicht der richtige Weg zur Lösung des Konflikts in Schleswig und Holstein sei 30 Die Entscheidung über die Führungsmacht in Deutschland stand bevor Jede Regierung musste sich nun für Österreich oder für Preußen entscheiden Ein Deutscher Bund mit Österreich nach einem Austritt Preußens würde die Abhängigkeit der Klein- und Mittelstaaten vergrößern In Hamburg gab es, im Gegensatz zu Bremen und Lübeck, eine heftige Diskussion über das Verhalten am Bund in dieser Frage Merck formulierte eine Instruktion an den Bundestagsgesandten, mit der zwar gegen die Mobilisierung gestimmt,

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Ebd Merck in Briefen an Krüger vom 7 und 11 Juni 1866 Ebd Vgl Note von Richthofens an Merck vom 12 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c So Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 284 Für Krüger stand Deutschland „vor einer Revolution, deren Gährungselemente überall in Deutschland in Bewegung sind Von oben durch Preußen und gegen den Bestand des Bundes begonnen kann die Revolution, wenn Preußens Waffen siegreich sind, mit der Dictatur Preußens über Deutschland endigen“ Brief Krügers an Merck vom 12 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Schreiben Krügers an Merck vom 11 Juni 1866 Ebd  „Wird nun die Mobilmachung den Conflict verhindern, oder ihm Einhalt thun? Nach meiner Ueberzeugung würde sie den Ausbruch des Krieges beschleunigen, ihm unberechenbare Dimensionen geben, und zu einem allgemeinen Bürger Kriege gestalten, also dem Zweck entgegen arbeiten, der dem Bunde gestellt ist Ueber die Vermittlung hinaus reichen im Falle eines Conflictes zwischen beiden Großmächten die Machtmittel des Bundes nicht Die Vermittlung ist nicht allein das einzig Mögliche, sondern auch diejenige Operation, die nach Art 11 der B[undes] A[cte] zunächst eintreten soll“ Ebd

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aber zugleich erklärt werden sollte, dass Hamburg die Maßnahmen prinzipiell als richtig empfinde und nur eine vorherige Prüfung am Bunde sowie die Abwicklung des vorgeschriebenen Vermittlungsverfahrens erwartet hätte 31 Bevor der Senat über diesen Vorschlag abstimmen konnte, traf aus Bremen deren Vorschlag für eine Instruktion an Krüger ein Darin wurde erklärt, dass man in der gesamten Sachlage keinen Grund für die von Österreich vorgeschlagenen Maßnahmen erblicke und deshalb gegen den Antrag stimmen werde Der Senat in Hamburg schloss sich schließlich nach Diskussionen diesem Vorschlag aus Bremen an 32 Noch während der Sitzung traf dann telegrafisch der Vorschlag einer gemeinsamen Abstimmung aus Lübeck ein, der lautete: Nachdem die Gefahr augenblicklichen Zusam[m]enstoßes in Holstein beseitigt, liege in den dortigen Vorgängen keine Veranlassung, zumal unter Uebergehung der vorgeschriebenen Vermittlungsinstanz, dem Antrag beizutreten 33

Nach nochmaliger Abstimmung beschloss der Hamburger Senat dann, dem Lübecker Vorschlag für die Abstimmung beizutreten 34 Mit der mehrheitlichen Annahme des Mobilisierungsbeschlusses am 14 Juni erklärte Preußen den Bundesvertrag für erloschen und legte gleichzeitig „die Grundzüge einer neuen, den Zeitverhältnissen entsprechenden Einigung“ vor, der einen Bund unter Ausschluss Österreichs und der Niederlande vorsah 35 Einer von Österreich gegen diesen Schritt eingelegte Verwahrung, da „der Bund ein unauflöslicher Verein“ sei, „der keinen Austritt gestatte“,36 schlossen sich alle anwesenden Gesandten, einschließlich des Hanseatischen, an 37 In Hamburg ging Merck davon aus, dass es, wenn es nicht selbst auch aus dem Bund austreten wolle, dem Bundesbeschluss werde Folge leisten müssen Allerdings bat er den Bundestagsgesandten in der Bundesmilitärkommission darauf hinzuweisen, dass das 10 Armeecorps durch das fehlende Holsteinische Kontingent nicht komplett sei und im Falle der erwarteten Weigerung Oldenburgs, „auch die Brigade nicht complet 31 32 33 34 35

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Konzept Mercks für die Instruktion an den Bundestagsgesandten Krüger vom 13 Juni 1866 Ebd So im Konzept des Senatsprotokolls verfasst von Merck vom 13 Juni 1866 Ebd Ebd Ebd Beilage zur „Erklärung von Preußen nach dem Bundesbeschluss in Betreff der Mobilmachung des 7 , 8 , 9 Und 10 Armeecorps des Bundesheeres“ Bundestagsdrucksache Nr  61 vom 14 Juni 1866 Als Anlage zum Bericht Krügers an Merck über die 24 Bundestagssitzung vom 14 Juni 1866 Ebd  Diese Grundzüge vom 10 Juni 1866 einschließlich eines Erlasses von Bismarck sind den Hansestädten bereits mit einer Note Richthofens vom 11 Juni 1866 übersandt worden mit der Bitte die Vorschläge einer „sorgfältigen Erwägung und Beschlußnahme über den Beitritt zu einem auf der Basis dieser Modificationen des alten Bundesvertrages neu zu errichtenden Bunde zu unterziehen“ Diese Note wurde zunächst an die Kommission für auswärtige Angelegenheiten verwiesen StAHH: Senat CL I Lit T Nr 1 Vol 1 Fasc 1a Bundestagsdrucksache Nr  62 vom 14 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c Diese Haltung wurde vom Senat in Hamburg nachträglich genehmigt Vgl Notiz auf Schreiben Krügers an Merck vom 14 Juni 1866 Ebd

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ist u[nd] nicht ausrücken kann[n], weil eine Menge der dazu gehörigen Einrichtungen gemeinsam sind“ 38 Über das weitere Vorgehen in dieser Frage und den Umgang mit der preußischen Note vom 16 Juni39 entspann sich eine zum Teil kontroverse Diskussion zwischen den drei Senaten In einem vertraulichen Schreiben des Lübecker Senators Curtius an Merck vom 18 Juni forderte Lübeck die Abberufung des Bundestagsgesandten, da dessen Position in Frankfurt unhaltbar geworden sei Wir können unmöglich an den Consequenzen des unglückseligen Beschlusses vom 14 dies[es Monats], an der bezügl[ich] Thätigkeit des Rumpf-Bundestages uns betheiligen, vielmehr halte ich dafür, daß wir Oldenburgs Beispiel [erklärte am 17 6 seinen Austritt aus dem Bund D R ] folgen 40

Im Hamburger Senat wurde eine Beschlussfassung auf Vorschlag der auswärtigen Kommission zunächst ausgesetzt, um Beratungen zwischen den drei Hansestädten zu ermöglichen 41 Nach Beratung zwischen den drei Hansestädten auf einer Konferenz am 21 Juni wurde eine verkürzte Erklärung vereinbart, die jeglichen rechtlichen Bezug auf gebrochenes Bundesrecht wegließ Nachdem alle drei Senate am 22 und 23 Juni zustimmten,42 gab der Bundestagsgesandte Krüger im Namen der drei Hansestädte am 29 Juni in der Bundesversammlung die folgende Erklärung ab: Daß die Senate nach den thatsächlichen Verhältnissen außer Stande seien, an der Ausführung derjenigen Maßregeln Theil zu nehmen, welche zu dem zwischen bisherigen Bundesgenossen ausgebrochenen Kriege in Beziehung stehen, daß er ferne in Uebereinstimmung hiermit angewiesen sei, der Theilnahme an der Berathung und Beschlußfassung über darauf bezügliche Anträge sich zu enthalten, und da diese in nächster Zeit den aus-

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Schreiben Mercks an Krüger vom 15 Juni 1866 StAHH: Bundestagsgesandtschaft III b 3 Band 2 Diese Note beinhaltete ein Bündnisangebot Preußens an die Hansestädte auf Grundlage der vorgeschlagenen „Modificationen“ und die Forderung zum Eintritt in den Krieg an der Seite Preußens unter der Hamburgischen Truppenteile des 10 Bundesarmeekorps Im Falle einer Zusage würde die Unabhängigkeit und Integrität des Staatsgebietes im Rahmen des neuen Bündnisses gewährleisten Note Richthofens an Merck vom 16 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit T Nr 1 Vol 1 Fasc 1a Vertrauliches Schreiben von Curtius an Merck vom 18 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit Sb Nr 2 Vol 68c In der Anlage befanden sich zwei Entwürfe für Formulierungen der Erklärung am Bundestag, die zwar die Unauflöslichkeit des Bundes anerkannten, aber durch den Austritt Preußens den tatsächlichen weiteren Bestand des Bundes verneinten Die Abberufung des Gesandten sollte unter Verwahrung aller aus den Bundesverträgen zustehenden Rechte und Ansprüche erfolgen Mit Schreiben vom 19 Juni 1866 bestätigte Curtius, dass seine Auffassung vom gesamten Lübecker Senat übernommen worden ist Ebd Vgl Konzept des Senatsprotokolls verfasst von Merck vom 18 Juni 1866 StAHH: Senat Cl I Lit T Nr 1 Vol 1 Fasc 1a Im Hamburger Senat stimmten Senator Rücker und Bürgermeister Haller gegen den erzielten Kompromiss der drei Hansestädte Geheimprotokoll aus der 71 Sitzung des Senats vom 22 Juni 1866 Ebd

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schließlichen Gegenstand der Verhandlungen der Versammlung bilden werden, bis auf Weiteres sich nicht an der Thätigkeit derselben zu betheiligen 43

Mit dieser Erklärung war die Mitarbeit der Hansestädte im Deutschen Bund beendet, ohne dass diese formal ihren Austritt erklärt hätten Dies war dann für alle drei Städte auch der erste Schritt zum Eintritt in das neue preußische Bündnis Über den Umgang mit der preußischen Aufforderung zum Eintritt in einen neu zu gründenden Bund und den Eintritt in den Krieg auf preußischer Seite durch Unterstellung der Truppenkontingente unter preußischen Oberbefehl gab es auf der Konferenz allerdings keine Übereinstimmung zwischen den Hansestädten Für Lübeck stellte Curtius bereits am 18 Juni in seinem vertraulichen Schreiben an Merck fest, dass die Hansestädte „eine ungeheure Verantwortung“ auf sich laden würden, wenn sie dieselbe ablehnten Wir bedürfen einer Stütze, können dieselbe nur in u[nd] an Preußen finden u[nd] müßen deshalb die Chancen seines Kriegsglücks mit ihm laufen […] Jetzt können wir – event[uell] auch wohl mit Modification unserer Gegenleist[ung] – noch die Gewährleist[ung] unserer Selbständigkeit v[on] Preußen erlangen, nach 8 Tagen vielleicht nicht mehr Und wer ist denn sonst da, der eine Garantie von uns einigem Werthe übernehmen will u[nd] kann?44

Und ganz rational stellt Curtius abschließend fest: Von Sym[pathien] – u[nd] Antipathien, vom Widerwillen geg[en] Bismarck’sches Regiment u[nd] Gefühlspolitik muß jetzt […] gänzlich abgelassen u[nd] abgestanden werden, vielmehr drängt sich Alles in die einfache Frage zusam[m]en, ob wir die Verantwortung übernehmen können, das Anerbieten einer Garantie unserer Selbständigkeit dem Staate gegenüber abzulehnen, von dem wir eine Bedrohung derselben am Meisten, vielleicht allein zu fürchten haben?45

Bereits am 23 Juni nahm Lübeck daher in einem Schreiben an Richthofen grundsätzlich das preußische Bündnisangebot vorbehaltlich der Zustimmung der Bürgerschaft an 46 Der Beschluss des Senates erfolgte dann am 28 Juni einschließlich einer mili-

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Bericht von Krüger über die 31 Sitzung des Bundestages am 29 Juni 1866 an Merck StAHH: Senat Cl 1 Lit Sb Nr 2 Vol 68c Vertrauliches Schreiben von Curtius an Merck vom 18 Juni 1866 Ebd Ebd Dies teilte Curtius Merck in einem Schreiben am 24 Juni 1866 unter Beifügung der Abschrift des Schreibens an von Richthofen mit StaHH: Senat Cl I Lit T Nr 1 Vol 1 Fasc 1a In einem vertraulichen Schreiben von Richthofen an Merck vom 23 Juni 1866 informiert dieser über Gespräche mit den Senatoren Curtius, Smidt und Gildemeister, in denen diese schon eine Zustimmung Lübecks resp Bremens zum Bündnisangebot Preußens signalisierten Gleichzeitig informierte Richtofen

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tärischen Beteiligung, die Zustimmung der Bürgerschaft am 2 Juli 47 In Bremen war die Senatoren geteilter Ansicht, „in wie weit man auf das Bündniß einzugehen habe; keinesfalls wolle man […] in der Erwiderung des Rechtsstandpunktes zum Bunde Erwähnung thun und in Betreff des Parlamentes wolle man wegen der commerciellen Verhältnisse u s w Vorbehalte machen “ In Hamburg wollte der Senat dagegen am Bundesrecht festhalten, „sei aber bereit, sich an den Berathungen durch Berufung des Parlaments zu betheiligen“ 48 Während Bremen dann am 25 Juni im Senat die Zustimmung zum Bündnisvertrag beschloss und die Bürgerschaft dieses Vorgehen einschließlich der Stellung des Militärkontingents am 30 Juni billigte,49 gingen in Hamburg die Diskussionen um eine Reaktion auf die preußische Note weiter 50 Auch ein Entgegenkommen von Richthofen hinsichtlich der Frage einer militärischen Beteiligung brachte zunächst keine Entscheidung 51 Nach den Senatsbeschlüssen in Lübeck und Bremen, die auch die militärische Beteiligung umfassten, erhöhte Preußen den Druck auf den Hamburger Senat So informierte Richthofen auch Vertreter der Bürgerschaft über das zögernde bis ablehnende Verhalten des Senats und verwies als Konsequenz auf eine mögliche Besetzung Hamburgs durch preußische Truppen Die Bürgerschaft forderte daraufhin vom Senat „Entschließungen in Betreff unseres Verhältnisses zur Preußischen Regie-

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darüber, dass Bismarck nicht auf eine sofortige Mobilisierung der Hamburger Truppen bestand Ebd So Curtius in einem privaten Schreiben an Merck vom 29 Juni 1866 Er hielt es auch für Hamburg unvermeidlich, in Senat und Bürgerschaft einen solchen Schritt zu vollziehen Vgl auch das gedruckte Protokoll der Lübecker Bürgerschaft vom 2 Juli 1866 Ebd So die Wiedergabe von Merck im Geheimprotokoll aus der 71 Sitzung des Hamburger Senats vom 22 Juni 1866 über die gemeinsamen Beratungen der Hansestädte am Vortag Ebd  An den Beratungen nahmen teil aus Hamburg neben Merck die Senatoren Kirchenpauer und Versmann sowie zeitweise Bürgermeister Haller, aus Lübeck die Senatoren Curtius und Böse, aus Bremen die Senatoren Smidt und Gildemeister sowie der hanseatische Ministerresident in Berlin, Geffcken Ebd Der Bremer Senator Smidt bezeichnete dies in einem persönlichen Schreiben an Merck vom 27  Juni 1866 „als Schritt über den Rubicon“ der ihm sehr schwer fiele und er hoffe auf eine rasche positive Entscheidung in Hamburg Der Bremer Senat hatte seine „volle Acceptation des Bündnisses, unter der nunmehr hinzutretenden, als conditio sine qua non bezeichnete, active Theilnahme am Kriege“ erklärt und revidierte damit seine Haltung, die Bremen noch in den Verhandlungen zwischen den drei Hansestädten am 21 Juni einnahm So Smidt im Brief an Merck vom 27 Juni 1866 mit Übersendung der Abschriften der Bremer Noten an von Richthofen vom 26 und 27 Juni 1866 Ebd Im Gegensatz zu Lübeck und Bremen scheiterte Senator Kirchenpauer in Hamburg mit einem Antrag, die Bürgerschaft „unverzüglich“ in die Beratungen über die Antwortnote an Preußen mit einzubeziehen Ebd So zitiert Richthofen in seinem vertraulichen Schreiben an Merck vom 23 Juni 1866 Bismarck: „Es liegt nicht in unserer Absicht unsere Freunde zu drängen, oder zu belasten, aber wir wünschen, daß ihr Anschluß an uns äußerlich bekunde […] Es wäre hierbei nicht nöthig, daß die Kontingente sofort auf vollen Kriegsfuß treten“ Ebd

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rung und dem Deutschen Bund nicht ohne Beirath der Bürgerschaft […] zu fassen“ 52 Eine erste Antwortnote nach Berlin vom 26 Juni 186653 stieß dort auf keine positive Resonanz In dieser Antwort wies der Hamburger Senat auf seine großen Bedenken hinsichtlich der Einhaltung seines Rechtsstandpunktes durch eine Annahme der preußischen Vorschläge hin, erklärte sich unter dem Druck der Verhältnisse allerdings bereit, in Verhandlungen einzutreten Hinsichtlich der militärischen Beteiligung ging der Senat davon aus, dass der preußische König „auf die Theilnahme Hamburgs an einem Kriege gegen seine bisherigen Bundesgenossen nicht bestehen werde“ 54 Die preußische Antwort war deutlich So erklärte Richthofen in einer Note vom 29 Juni, daß die Regierung des Königs es aufrichtig beklagen würde, wenn der Senat fortfahren sollte, im Gegensatz von Lübeck und Bremen in einer Isolirung zu beharren, die auch die Bedeutung und das Interesse Hamburgs nicht ohne nachtheilige Rückwirkung bleiben dürfte 55

Während Merck nunmehr vorschlug, das Einverständnis der Bürgerschaft für die militärische Beteiligung einzuholen, setzte sich Bürgermeister Haller mit seinem Vorschlag durch, zunächst diese Note nicht zu beantworten, sondern bei von Richthofen nachzufragen, ob die Hamburger Antwort vom 26 Juni noch nicht angekommen sei 56 Richthofen machte in seiner Antwort am 30 Juni deutlich, dass in Berlin die weiter vom Hamburger Senat beanspruchte Stellung, die er als „kosten- und opferlos“ bezeichnete, auf volles Unverständnis stößt 57 Am 2 Juli schließlich stimmte der Senat „obwaltenden Umständen nach das Hamburgische Militair dem Könige von Preußen zur Verfügung zu stellen“58 und die Bürgerschaft über diesen Senatsbeschluss zu informieren Diese bestätigte in ihrer Sitzung am 4 Juli den Senatsbeschluss 59

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So im Protokoll der 72 Sitzung des Senats vom 25 Juni 1866 Auszug ebd Der Senat hatte am 26 Juni nach kontroverser Diskussion beschlossen, auf die einzelnen Forderungen der preußischen Note unterschiedlich zu reagieren Insbesondere in Hinsicht auf die Stellung des Militärkontingent S Geheimprotokoll aus der 73 Sitzung des Senats vom 26 Juni 1866 Ebd Entwurf der Antwortnote von Merck an Richthofen vom 26 Juni 1866 Ebd Note von Richthofen an Merck vom 29 Juni 1866 Ebd Protokoll der 75 Sitzung des Senats vom 29 Juni 1866 Im Auszug ebd  Zumindest Verhandlungen mit der Bürgerschaft sollen auf Antrag von Senator Versmann aufgenommen werden Note von Richthofen an Merck vom 30 Juni 1866 Ebd Protokoll der 77 Sitzung des Senats vom 2 Juli 1866 Im Auszug ebd In einer vertraulichen Sitzung am 3 Juli stimmten 86 Mitglieder für den Senatsantrag auf Mobilisierung des Kontingents und Unterstellung unter den preußischen König, und 65 dagegen Erst nach dieser Probeabstimmung beantragte der Senat bei der Bürgerschaft die Zustimmung zum Beitritt zum Bündnis sowie zur Mobilisierung des Hamburger Kontingents Vgl Protokoll der 78  Sitzung des Senats vom 4 Juli 1866 Ebd  Die Anträge wurden schließlich mit 113 zu 54 Stimmen von der Bürgerschaft angenommen Vgl Notiz von Senator Versmann vom 4 Juli 1866 Ebd

„Wie Bismarck über Hamburg siegte“

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Mit ihren Beschlüssen hatten alle drei Hansestädte den Deutschen Bund verlassen, ohne dass es zu einer formellen Austritterklärung gegenüber den noch vorhandenen Bundesorganen gekommen war Mit dem Eintritt ins Bündnis erhoffte sich insbesondere Bremen einige langersehnte Vorteile Schon am 11 Juli schickte der Senat den Gründer des norddeutschen Lloyd, H H Meier nach Berlin, um dort Angelegenheiten des Eisenbahn-, Post- und Telegrafenwesens zu besprechen Auch wurde die mögliche Übernahme von Geestemünde, der Gegengründung Hannovers zu Bremerhaven, durch Bremen angeschnitten 60 Mit dem Sieg Preußens bei Königgrätz am 3 Juli war die Entscheidung im Krieg gefallen und der militärische Teil des Bündniszwecks im Grunde erfüllt Nun ging es um die Konkretisierung eines neuen Bundes auf Grundlage der Reformvorschläge vom 10  Juni 61 Mit einer Zirkulardepesche vom 4 August forderte Preußen 17 norddeutsche Staaten auf, einem auf ein Jahr begrenztem Bündnisvertrag beizutreten Dieser sollte Mitte August von Bevollmächtigen in Berlin unterzeichnet werden Von den Eingeladenen traten dann 15 Staaten, darunter die Hansestädte, dem Bündnisvertrag am 18  August 1866 bei 62 Ziel war die Ausarbeitung einer Bundesverfassung auf Grundlage der Vorschläge vom 10 Juni 1866 durch Verhandlungen unter den beteiligten Regierungen sowie die Abhaltung von Wahlen von Abgeordneten für ein Parlament, das über die neue Verfassung entscheiden soll Ende November erfolgte die Einladung zu gemeinsamen Beratungen über den dem Parlament vorzulegenden Entwurf einer neuen Bundesverfassung 63 Und so schickten am 15 Dezember auch die Hansestädte ihre Vertreter nach Berlin, um dort den Verfassungsentwurf zur Kenntnis zu nehmen und die Wünsche der einzelnen Staaten vorzutragen Die Vorstellungen in Bremen liefen dabei auf einen Staatenbund hinaus, in dem es nicht nur eine gewählte Volksvertretung, sondern auch einen Bundesrat mit den Bevollmächtigten der einzelnen Regierungen gab Gleiches galt für das Bundesgericht 64 Bei der Finanzausstattung des neuen Bundes wollte Bremen lieber wie bisher bei der Erhebung von Matrikularbeiträgen bleiben Der Einführung einer Bundessteuer stand der Senat skeptisch gegenüber Eine Zentralisierung des Post- und Telegraphenwesens wurde dagegen in Bremen nicht negativ bewertet und auch die Übertragung der auswärtigen Angelegenheiten und die Entscheidung über Krieg und Frieden auf die Bundesebene waren aus Bremer Sicht nicht bedenklich Allerdings erwartete der Senat für die Gesetzgebung 60 61 62

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So Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 286 Ebd , 287 Ernst Rudolf Huber (Hg), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 2 Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Stuttgart 31986 Beide Mecklenburg traten dem Bündnis erst am 21  August bei Vgl dazu Detlef Rogosch, Anmerkungen zur Haltung beider Mecklenburg beim Übergang vom Deutschen zum Norddeutschen Bund, in: Wolf D Gruner / Paul Hoser (Hgg ), Wissenschaft – Bildung – Politik Von Bayern nach Europa, Hamburg 2008, 319–339, 332–335 Rogosch, Anmerkungen zur Haltung beider Mecklenburg (wie Anm  63) 337 f So Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 288

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Detlef Rogosch

der Einzelstaaten breiteren Raum So wünschte man sich auch ein eigenes bremisches Zivil- und Konkursrecht Weitere Verhandlungswünsche bezogen sich natürlicherweise auf das Handelsrecht: „Bremen strebte ein festes Verhältnis zum Zollverein an, wollte in die Bundesbehörde für Handel und Schiffahrt einen ständigen Vertreter entsenden“65 und wünschte sich die Möglichkeit zum Abschluss eigener Handelsverträge Im Grunde hatte man in Bremen nichts Grundsätzliches gegen eine starke Zentralgewalt, wenn beim Handel der bisherige Spielraum erhalten blieb Dieser Spielraum war auch für die Hamburger Bevollmächtigten Merck und Gustav Heinrich Kirchenpauer in den Verhandlungen mit Bismarck wichtig, die sich mit Unterbrechungen bis Anfang Februar 1867 hinzogen 66 Beide versuchten so viele Souveränitätsrechte wie möglich in den neuen Bund zu retten und Sonderrechte eingeräumt zu bekommen Dies gelang nur mit großen Einschränkungen Der Souveränitätsverlust war erheblich: keine Posthoheit, keine eigene Handelsflagge, Verlust der eigenen Konsulate und Verzicht auf Abschluss eigener Handelsverträge Besonders schmerzhaft war der Verlust der Wehrhoheit, die die Hansestadt faktisch seit Ende des 13   Jahrhunderts besaß Der Abschied vom Bürgermilitär, entstanden in den Befreiungskriegen, war besonders für die traditionsbewussten Kaufmannsfamilien schwer zu akzeptieren 67 Aber es nützte nichts Das Bürgermilitär wurde 1868 aufgelöst An seine Stelle trat das Infanterieregiment „Hamburg“ (2 Hanseatisches) Nr  76 Bremen hatte hier viel weniger Probleme mit der Eingliederung seines Militärs in die Preußische Armee Am 1 Oktober 1867 wurde ein preußisches Bataillon aus Harburg und Stade nach Bremen verlegt und ab 7 November in I Hanseatisches Infanterieregiment Nr  75 umbenannt 68 Der Verlust an Souveränitätsrechten verleitete den Hamburger Senator und Unterhändler Kirchenpauer zu der Bemerkung über die neue Verfassung: „Imperialismus nach allen Richtungen“ 69 Trotzdem wurde die Verfassung als Kompromiss zwischen widerstrebenden Wünschen der Einzelregierungen am 7 Februar 1867 von den Bevollmächtigten angenommen In den sich anschließenden Verhandlungen im konstituierenden Reichstag gab es letzten Endes nur wenige Änderungen Im Parlament hatten sich die Abgeordneten der Hansestädte dennoch Forderungen „binnenländischer“ Abgeordneter zu erwehren Es ging um die Übergabe der Hafen- und Schifffahrtseinrichtungen in Bundesregie, die Leistung hoher Bundesbeiträge, und den Zollausschluss Auch die Frage der 65 66 67 68 69

Ebd Vgl dazu Ekkehard Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich 1860–1888, in: Werner Jochmann / HansDieter Loose (Hgg ), Hamburg Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner Bd  1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, 491–539, insbesondere 499–502 S auch Artikel Uwe Bahnsen, „Als Altona und Wandsbek preußisch wurden“ in der Welt-Hamburg vom 21 Januar 2017 (zuletzt abgerufen unter www welt de/161382030 am 21 September 2017)Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 290 Zitiert nach Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich (wie Anm  67), 499

„Wie Bismarck über Hamburg siegte“

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Kriegsmarine wurde gestreift, wobei sich hier Unterschiede zwischen Hamburg und Bremen ergaben Während der Bremer Abgeordnete H H Meier diese für unbedingt erforderlich hielt, hielt sie ein Hamburger Vertreter für überflüssig und schädlich 70 Am 16 April 1867 votierten die Parlamentarier mit großer Mehrheit für die Verfassung Die Senate und Bürgerschaften der Hansestädte stimmten dann im Mai der Verfassung zu Die wichtigste Errungenschaft in den Verhandlungen aus Sicht der Hansestädte war der Erhalt ihrer eigenen Zollhoheit In Artikel 34 der Bundesverfassung wurde festgelegt: Die Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze, bis sie ihren Einschluss in dieselbe beantragen 71

Die wirtschaftliche Stellung der Hansestädte blieb damit auch nach 1866 unverändert Dies galt insbesondere für Bremen und Hamburg „Die Regelungen waren so lange kein Problem, als auch die Handelspolitik Preußens und des Deutschen Reiches freihändlerisch orientiert war“ 72 In der Zeit des Norddeutschen Bundes stellte lediglich Lübeck einen nach Artikel 34 möglichen Antrag und wurde mit dem 11 August 1868 in das Zollgebiet eingefügt Aber die Zollfreiheit brachte auch finanzielle Belastungen Die Hansestädte hatten zusätzlich zum Bundesbeitrag für ihr Recht auf Zollausschluss eine hohe Ablösesumme, ein Aversum, zu zahlen Preußen dachte an ein Mehrfaches der Prokopfbeiträge der Zolleinkünfte im Zollvereinsgebiet Grundlage war der Verbrauch zollpflichtiger Waren Damit sollte natürlich die Bereitschaft zum Eintritt in das Zollgebiet gefördert werden Die Hansestädte wollten die Höhe nach der Kopfzahl der Bevölkerung entrichten und schließlich einigten sich beide Seiten auf eine verhältnismäßig günstige Lösung: Für jeden Städter musste ein Taler mehr bezahlt werden als für einen Zollgebietseinwohner 73 Aber es gab auch positive Aspekte In Bremen stieg mit dem Beitritt die Hoffnung auf Erweiterung des Bremerhavener Stadtbereichs Schon im Juli 1866 gab es den ersten Vorstoß in Berlin zu einem Anschluss Geestemündes Es gab sogar ein Angebot über einen Kauf des Gebietes Der Senat lehnte aber dieses Vorpreschen ab 74 Im Sep70 71 72 73 74

Norddeutscher Reichstag, Protokoll der 25 Sitzung v 2 4 1867, 515–534 (Maier/Chapeaurouge (Hamburg); So in Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 290 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16 April 1867 Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1867, unveränderter Abdruck Berlin 1891, 1–23, 10 Peter Borowsky, Hamburg und der Freihafen Wirtschaft und Gesellschaft 1888–1914, in: ders , Schlaglichter historischer Forschung Studien zur deutschen Geschichte im 19 und 20  Jahrhundert Aus dem Nachlass herausgegeben von Rainer Hering und Rainer Nicolaysen, Hamburg 2005, 109–137, 110 Vgl Ebd  und Böhm, Der Weg ins Deutsche Reich (wie Anm 67), 506 f sowie Schwarzwälder, 291 Vgl Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen II (wie Anm  7), 292

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Detlef Rogosch

tember 1866 richtete der Senat den Wunsch an das Außenministerium in Berlin, auf Unterstellung des Bremerhavener Gebiet ohne Einschränkung unter Bremer Hoheit sowie eine Erweiterung um etwa 250 Morgen Man wolle das Gelände der Befestigungsunterlagen übernehmen und wünschte im Bereich von Bremerhaven die Hoheit bis zur Strommitte von Weser und Geste Die Angelegenheit geriet allerdings in die Mühlen preußischer Bürokratie Erst im Mai 1867 erklärte sich die preußische Regierung bereit, die Befestigungsareale und ein Gebiet von 150 Morgen Bremen zu überlassen Die Befestigungen wurden ein Jahr später übergeben, der Vertrag über die Gebietserweiterung wurde erst im Februar 1870 abgeschlossen Damit war der Weg für den Bau des Kaiserhafens frei 75 Neben dem Zollausschluss und damit dem Erhalt des Freihandels war auch die einsetzende Vereinheitlichung von Gesetzen im Bundesgebiet für die wirtschaftliche Entwicklung der Hansestädte vorteilhaft Schon in der Zeit des Deutschen Bundes setzen sie sich für entsprechende Reformen ein Nun wurden sie umgesetzt Während die Bremer sich mit den neuen Gegebenheiten sehr schnell positiv abfanden, gab es im Hamburger Senat weiter Vorbehalte gegenüber Preußen Noch 1869 hieß es: „Wir verhehlen es nicht: wir wollen Hamburger bleiben, wir wehren uns mit Kopf und Fuß gegen die immer näher rückende Gefahr, denn was ist denn das ganze Wesen, welches Berlin erzeugt, anderes als eine allmähliche Aussaugung!“76 Detlef Rogosch, Studium der Geschichte und Chemie in Marburg und Hamburg, langjähriger Lehrbeauftragter an der Universitäten Hamburg und Rostock, Gymnasiallehrer für Geschichte und Chemie Publikationen: Zahlreiche Aufsätze und Mongraphien zur Geschichte der Hansestädte, der Norddeutschen Mittelstaaten sowie zur Geschichte der europäischen Intergration nach 1945, u a Hamburg im Deutschen Bund 1859–1866 (1990), Vorstellungen von Europa Europabilder bei der SPD und bei den belgischen Sozialisten 1945–1957 (1996)

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Ebd Zitiert nach Böhm, Der Weg uns Deutsche Reich (wie Anm  67), 510

Die Debatte zur Gründung und Verfassung des Norddeutschen Bundes Frank Möller Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 271–290

Abstract: This article considers how the bourgeois public in Germany evaluated the political turn toward national unification brought about by Prussia’s victory in the War of 1866 What ideas did they realize in the new constitution of northern Germany? The focus is on the liberal national movement, which is analyzed on the basis of the journal “Grenzboten” and the speeches in the constituent Reichstag of the North German Confederation From the beginning, the War of 1866 was waged by Bismarck as a war for a new order in Germany This revolution from above came as a surprise to the liberal public; it was rejected by Bismarck’s conservative party friends After the failed revolution of 1848, the liberals had expected that only a war could achieve their goal of a German nation-state under Prussian leadership with a parliament They had rejected Prussia’s rearmament and the war of 1866 only because they expected Bismarck to pursue merely a backward-looking policy to maintain the power of the monarchy In shaping the constitution, they saw unity and freedom as inseparable and demanded that the North German Confederation be open to the accession of the southern German states They enforced a proper executive and were able to give budgetary rights to the parliament to improve its position However, control of the military remained limited The changes achieved by the liberals made the North German Confederation the nucleus of a future nation-state Therefore, the revolution from above was welcomed by the liberal public as the realization of unity and freedom

In einem Gespräch mit dem Emigranten und US-amerikanischen Politiker Carl Schurz im Januar 1868 erwähnte Bismarck seinen Notfallplan, falls sich Frankreich 1866 in den Krieg eingemischt hätte: die Mobilisierung des deutschen Volkes durch eine Proklamation der Reichsverfassung von 1849 Auf die skeptische Nachfrage von Schurz erwiderte er: „Gewiß, die Verfassung hatte einige mir sehr unsympathische

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Züge Aber eigentlich ist sie doch nicht so sehr verschieden von dem, was ich jetzt anstrebe“ 1 Tatsächlich verwirklichte der Norddeutsche Bund von 1866, aus dem vier Jahre später das Kaiserreich werden sollte, den Kerngedanken der Paulskirchenverfassung von 1849: ein kleindeutscher Nationalstaat mit preußischer Führung und demokratisch gewähltem Parlament Dieser völlige Umschwung der deutschen Geschichte, nach dem weniger als zwanzig Jahre zuvor die Nationalstaatsgründung gescheitert war, war eine Überraschung, die eine Neuorientierung der deutschen Öffentlichkeit erforderlich machte Im Folgenden soll untersucht werden, wie die bürgerliche Öffentlichkeit den Umschwung in der nationalen Einigung durch den Sieg Preußens 1866 und die anschließende Organisation Deutschlands betrachtete Diese Debatte musste 1866/67 aus drei Anlässen geführt werden: Erstens in der Diskussion um die Integration der nach Preußen annektierten Gebiete Hier wurde in der Frage der Legitimität und Ausgestaltung der Annexionen die nationale und gleichzeitig föderale Ordnung verhandelt Nur als Deutsche konnten Hannoveraner, Hessen oder Frankfurter in Preußen integriert werden 2 Zweitens in den Verhandlungen um den Norddeutschen Bund, der die Gebiete nördlich des Mains in einem Bundesstaat unter preußischer Führung organisierte Und drittens in den Verhandlungen um die Reform des deutschen Zollvereins, die 1867 einen Zollbundesstaat schufen, der territorial das Deutsche Kaiserreich vorwegnahm 3 Betrachtet werden hier die Debatten um die neue Verfassung des Norddeutschen Bundes Im Mittelpunkt steht dabei die liberale Nationalbewegung, die 1866 mit der plötzlichen Realisierung des Nationalstaates konfrontiert wurde Als Quellen dienen dazu besonders die „Grenzboten“, herausgegeben von Gustav Freytag, und zentrale Reden des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes 4 In einem ersten Schritt wird die Entstehung des Norddeutschen Bundes nachgezeichnet, dem folgt die Reaktion von Konservativen und Liberalen auf die „Revolution von oben“ und schließlich die konkrete Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Verfassung des Norddeutschen Bundes *

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Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke 15 Bde , Berlin 1924–1935, hier Bd  7, 234 f Dazu am Beispiel Hannovers Jasper Heinzen, Making Prussians, Raising Germans A Cultural History of Prussian State-Building after Civil War, 1866–1935, Cambridge 2017 Vgl Hans-Werner Hahn, Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat: Der Deutsche Zollverein 1866–1871, in: HMRG 31, 2019 (2020), 45–66 Grundlegend dazu und ebenfalls unter Verwendung dieser Quellen: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Bd  3: Bismarck und das Reich 3 wesentlich überarb Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988, 643–693; Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im norddeutschen Bund 1867–1870 Düsseldorf 1985

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Der Krieg von 1866 zwischen Preußen und seinen Verbündeten auf der einen, Österreich und dem Deutschen Bund auf der anderen Seite endete in einem norddeutschen, konstitutionellen Bundesstaat Dieses Ergebnis hat auch viele Zeitgenossen überrascht Betrachtet man Preußen als skrupellosen Machtstaat, wie das auch viele Stimmen in der öffentlichen Meinung über den Staat des preußischen Junkers Bismarck äußerten, dann war ein Verfassungsstaat am Ende dieses deutschen Bürgerkriegs verblüffend Doch tatsächlich wurde schon der Krieg von 1866 um einen deutschen Bundesstaat geführt! Die Sorge um seine Stellung als europäische Großmacht bestimmte das ganze 19   Jahrhundert die preußische Außenpolitik Eine Hegemonialstellung in Norddeutschland schien dazu lange die sicherste Garantie Alle Versuche eine besondere Rolle für Preußen im Deutschen Bund zu erlangen – sei es die Funktion des Bundesfeldherrn für den preußischen König, eine Teilung der Zuständigkeiten in der Wehrverfassung oder eine kleindeutsche Union unter preußischer Führung  – gründeten sich auf dieses Ziel In der konservativ-antirevolutionären Vorstellungswelt der preußischen Führung sollte der Ausbau der preußischen Machtstellung im Einverständnis mit Österreich erfolgen Auch Bismarcks Außenpolitik wurde hiervon bestimmt und bei aller persönlichen Abneigung gegen Österreich war auch für ihn eine norddeutsche Hegemonie in der konservativen Zusammenarbeit mit Österreich der Idealfall 5 Bismarcks Allianz mit Österreich im Krieg gegen Dänemark 1864 beruhte genau auf diesen Überlegungen: Österreich zur Zusammenarbeit bewegen und von einer Bundespolitik mit den Mittelstaaten abbringen, gleichzeitig der Nationalbewegung ihre Machtlosigkeit vorführen, um letztlich die preußische Stellung zu steigern 6 Der eigentlich so erfolgreiche Friedensschluss wurde jedoch zum Bumerang für Preußen, indem er die österreichische Einflussnahme in Norddeutschland geradezu institutionalisierte In der Auseinandersetzung um Schleswig-Holstein sah die preußische Führung ihre norddeutsche Machtstellung durch Österreich direkt bedroht und entschloss sich zum Krieg 7 In der Vorbereitung des Waffenganges war es für Bismarck klar, dass ein Krieg um Schleswig-Holstein oder für eine Hegemonialstellung in Norddeutschland für die Öffentlichkeit nicht akzeptabel war Territorialer Gewinn oder fürstliche Macht waren kei-

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Bester Überblick Eberhard Kolb, Großpreußen oder Kleindeutschland? Zu Bismarcks deutscher Politik im Reichsgründungsjahrzehnt, in: ders , Umbrüche deutscher Geschichte 1866/71–1918/19– 1929/33 Ausgewählte Aufsätze Hrsg v Dieter Langewiesche u Klaus Schönhoven, München 1993, 11–34 Frank Möller, „Zuerst Großmacht, dann Bundesstaat“ Die preußischen Ziele im Deutsch-Dänischen Krieg 1864, in: Oliver Auge / Ulrich Lappenküper (Hgg ), Der Wiener Frieden als deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016, 141–161 Schleswig-Holstein als eigentlichen Kriegsanlass habe ich besonders in folgendem Beitrag betont: Frank Möller, Preußens Entscheidung zum Krieg 1866, in: Winfried Heinemann / Lothar Höbelt / Ulrich Lappenküper (Hgg ), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 19–37

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ne Kriegsgründe mehr, mit denen man im Zeitalter von nationaler Öffentlichkeit Kriege führen konnte Im März 1866 äußerte er das etwa gegenüber Moltke ganz deutlich: Die geforderten Anhaltspunkte [für einen Krieg] wird die öffentliche Meinung in Deutschland und in Europa nur darin finden, daß der Krieg für uns zur Wegräumung der Hindernisse notwendig werde, welche Österreich den berechtigten Forderungen der deutschen Nationalität und dem nicht länger abzuweisenden Bedürfnisse der Neugestaltung Deutschlands entgegensetzt 8

Der Krieg von 1866 musste also schon aus taktischen Erwägungen für eine nationale Einigung Deutschlands geführt werden Nur mit der Berufung auf ein höheres Recht der deutschen Nation konnte die Legitimität für einen Krieg begründet werden Alle Argumente, der Krieg von 1866 sei eigentlich ein klassischer Kabinettskrieg gewesen, enden hier: Selbstverständlich behielt das preußische Kabinett Kriegsführung und Friedensschluss in der Hand Aber der Krieg selbst musste als nationaler Krieg inszeniert werden, gerade nachdem Preußen mit der Heeresreform das modernste Massenheer seiner Zeit geschaffen hatte Preußens Machtgewinn wurde damit an die nationale Einigung gekoppelt Der Versuch für den geplanten Krieg eine nationale Legitimation zu erlangen, zeigte sich deutlich beim Bemühen Bismarcks mit den preußischen Liberalen in Kontakt zu treten und zu einem Ausgleich zu kommen Zwar sprachen sich die wichtigen liberalen Organisationen, der Nationalverein, der Abgeordnetentag und die einzelstaatlichen Fortschrittsparteien, gegen einen Krieg aus Indem sie jedoch die Einberufung eines Parlaments forderten, unterstützten sie letztlich Bismarcks Politik 9 Denn zur eigentlichen Basis der preußischen Kriegsführung wurde ein Bundesreformplan, mit dem Bismarck seine nationalen Ziele zu beweisen suchte Bereits seit Mitte Februar 1866 verhandelte er mit dem bayerischen Ministerpräsidenten wegen eines gemeinsamen Antrags am Bundestag für ein aus allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen gewähltes, nationales Parlament Sein Bemühen, durch die Zusammenarbeit mit Bayern die süddeutschen Staaten von Österreich abzuwenden, scheiterte jedoch Daraufhin ließ Bismarck durch den preußischen Bundestagsgesandten Savigny beim Bundestag ein gesamtdeutsches Bundesparlament fordern Und obwohl der Krieg zwischen Österreich und Preußen inzwischen unabwendbar geworden war – preußische Truppen waren bereits in Holstein einmarschiert und Österreich stellte den Antrag auf Mobilmachung der Bundestruppen gegen Preußen – folgte am 10 Juni 1866 ein ausgearbeiteter preußischer Bundesreformplan Der Plan sah bereits einen kleindeutschen Staat

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Bismarck an Moltke, 12 3 1866; abgedr in: Bismarck, Gesammelte Werke (wie Anm  1) Bd  5, 413 Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland 1857–1868 Nationale Organisationen und Eliten, Düsseldorf 1994, 389–415

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mit Nationalvertretung, weitreichender Gesetzgebungskompetenz und einer einheitlichen, wenn auch nicht genau definierten Exekutive vor 10 Bismarcks Reformplan vom 10 Juni 1866 wird oft als „destruktiv“11 betrachtet, er sei ein Bluff gewesen, um eine Kriegslegitimation zu bekommen und die nationale Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen Doch offensichtlich entwickelte dieser Plan eine unumkehrbare Konsequenz Walter Bussmann hat das sehr treffend beschrieben: Der Sinn des ‚nationalen Motivs‘ oder der ‚deutschen Frage‘ liegt zunächst in der taktischen Verwendbarkeit; indem das ‚Nationale‘ aber einmal verwendbar geworden war, entfaltete es gewissermaßen eine selbständige und eigene historische Wirkungskraft, der sich selbst derjenige, der sich seiner nur bis zu einer gewissen Grenze zu bedienen gedachte, nicht mehr entziehen konnte 12

Ein Bluff, der in die Tat umgesetzt wird, ist kein Bluff mehr Unabhängig davon, was die Absichten Bismarcks gewesen waren: Indem am 16 Juni Preußen an 19 norddeutsche Staaten die Anfrage stellte, sich auf der Grundlage des preußischen Bundesreformplans zu verbünden und sich damit gegen Österreich und den Deutschen Bund zu wenden, wurde dieser Plan zum Kriegszielprogramm Preußens 13 Bis zum 6 Juli akzeptierten aus einer Mischung von nationaler Gesinnung und Unterwerfung unter den preußischen Druck 17 dieser Staaten das Angebot 14 Nach dem Sieg bei Königgrätz wurde daher folgerichtig am 18 August 1866 quasi ein Vorvertrag zur Gründung des Norddeutschen Bundes geschlossen,15 dem bis Oktober auch die nicht-annektierten Kriegsgegner nördlich der Mainlinie, Reuß ältere Linie (26 9 1866), Sachsen Meiningen (8 10 1866) und Sachsen (21 10 1866) beitraten bzw sich in unabhängigen Verträgen anschlossen Hessen-Darmstadt stimmte im Friedensvertrag für seine nördlich des Mains gelegene Provinz zu (3 9 1866) Mit diesem Augustbündnis wurde auch ein Fahrplan für die Verfassungsgebung des neuen Bundes bestimmt: Zuerst sollten die vereinigten Regierungen eine Verfassung ausarbeiten, die dann mit einem zu wählenden Parlament zu vereinbaren war Genau das geschah: Der seit September durch Bismarck und seine Mitarbeiter erarbeitete Entwurf wurde nach Zustimmung des preußischen Kabinetts am 15 Dezember 1866 den Regierungen der

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Bismarck, Gesammelte Werke (wie Anm  1) Bd  5, Nr  383 Auch abgedr in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd   2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1890 3  neubearb Auflage, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1986, Nr  173 Der Begriff bezogen auf den Vorläuferplan vom 9 4 1866 bei: Lothar Gall, Bismarck Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, 352 Walter Bussmann, Deutschland, Preußen und das Jahr 1866, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg ), Entscheidungsjahr 1866, Bonn 1966, 27–42, hier 38 Bismarck, Gesammelte Werke (wie Anm  3), Bd  6, Nr  408 Auch abgedr in: Huber, Dokumente (wie Anm  9), Bd  2, Nr  195 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm  3), 563 f Abgedr in: Huber, Dokumente (wie Anm  9), Nr  196

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norddeutschen Staaten zugeleitet Am 24 Februar 1867 wurde ein konstituierender Reichstag eröffnet und bekam den nochmal überarbeiteten Verfassungsentwurf am 4  März 1867 vorgelegt Am 16 April 1867 nahm der Reichstag diesen in den Debatten weiter abgeänderten Entwurf an Die endgültige Verfassung wurde wiederum von den Vertretern der Einzelstaaten angenommen und schließlich von den Parlamenten der Einzelstaaten ratifiziert Am 1 Juli 1867 trat schließlich die Verfassung des Norddeutschen Bundes in Kraft Vom Bismarckschen Bundesreformplan bis zur Entstehung des Norddeutschen Bundes bestand also eine direkte Kontinuität Im ganzen Vorgang der Gründung des Norddeutschen Bundes verwirklichte sich das Vereinbarungsprinzip im Sinne der konstitutionellen Monarchie: Nach der im Sinne des alten Bundesrechts eigentlich illegalen Auflösung des Deutschen Bundes gründeten seine norddeutschen Teilstaaten unter Mitwirkung des Volkes einen neuen Staat 16 Damit fand sich der Kämpfer für preußische Machtstellung plötzlich als Gründer eines nationalen Bundesstaates wieder Aus dem Kampf um eine preußische Hegemonialstellung in Norddeutschland entstand der Nukleus eines deutschen Nationalstaates mit Verfassung und Parlament * Der Sieg Preußens über Österreich, die dadurch bedingte Lösung des Deutschen Dualismus und die Zusammenarbeit Preußens mit der Nationalbewegung wurde schon zeitgenössisch als „Revolution von oben“ bezeichnet Die Bereitschaft zum revolutionären Handeln hatte Bismarck selbst während des Krieges erklärt: „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden“ 17 Der Begriff „Revolution von oben“ wird bis heute viel benutzt, ist aber wenig analysiert worden – auch die „Geschichtlichen Grundbegriffe“ gehen auf ihn nicht ein 18 Wenn schon zeitgenössisch der Begriff „Revolution“ auf das Handeln des preußischen Staates im Jahr 1866/67 angewandt wurde, dann wurden hier offensichtlich drei wesentliche Aspekte des allgemeinen Revolutionsbegriffs auf das Handeln des preußischen Staates bezogen: 1 die Durch-

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Zur rechtlichen Bewertung der Staatsgründung des Norddeutschen Bundes ausführlich Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm  3), 669–680 und Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm  3), 251– 257 Bismarck in der Instruktion an Edwin von Manteuffel 11 8 1866; Bismarck, Gesammelte Werke (wie Anm  1), Bd  6, 120 Vgl Neithard Bulst / Jörg Fisch / Reinhart Koselleck u a , Art Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg ), Geschichtliche Grundbegriffe Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd  5, Stuttgart 1984, 653– 788 Siehe aber Dieter Langewiesche, „Revolution von oben“? Krieg und Nationalstaatsgründung in Deutschland, in: ders (Hg ), Revolution und Krieg Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18  Jahrhundert, Paderborn 1989, 117–134

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setzung des politischen Fortschritts, 2 durch Gewalt, 3 unter Bruch mit bestehendem Recht bzw unter Verletzung der Legitimität Das fehlende Recht der „Revolution von oben“ wurde besonders von konservativen Legitimisten beklagt So kritisierte etwa ein ehemaliger österreichischer Generalstabschef gegenüber dem preußischen General Wrangel: „Nun ist die Revolution von oben durch euch in Mode gekommen Wehe Euch doppelt, wenn sie Euch nach weggespültem Rechtsgefühl in der Flut der Zeiten einmal selbst ergreift Dann seid ihr verloren“ 19 Und Bismarcks Vorgehen zerriss auch seine alte Partei, die preußischen Hochkonservativen Niemand hat die Hinwendung Bismarcks zum nationalen Programm tiefer empfunden als der alte Anführer der Hochkonservativen, Ernst Ludwig von Gerlach Anfang 1866 hatte er noch versucht, Bismarck vom Bündnis mit den liberalen Ideen abzubringen: Er solle doch die Bundesreform auf das militärische begrenzen und sich der „Verfassungsmacherei […] à la Radowitz und Gagern“ enthalten 20 Zum offenen Bruch wurde Gerlachs Artikel „Krieg und Bundesreform“ in der Kreuzzeitung vom 8  Mai 1866: Der preußisch-österreichische Dualismus sei „der lebendige Grundcharakter, die reale Basis der Verfassung von Deutschland […] Wie kann der hoffen neues Recht zu machen, der das alte nicht achtet?“21 Die preußische Geschichte stellte allerdings Gerlach vor unlösbare Probleme, beruhte doch die Eroberungspolitik des Großen Kurfürsten und Friedrichs des Großen ebenfalls auf der Verletzung von Prinzipien der Legitimität Bismarck konnte er daher nur die sittliche Größe absprechen: „Das ist der ‚Fridericianismus‘ minus seiner Energie; bleibt: Liederlichkeit und Lüge“ 22 Für einige Konservative war daher gerade die Idee einer preußischen Mission, wie sie sich eben schon in Friedrich dem Großen gezeigt habe, die Möglichkeit den neuen Kurs Bismarcks zu akzeptieren Andere erhofften sich wiederum nach dem Sieg 1866 könne durch den Erfolg jetzt eine konterrevolutionäre Wende eingeleitet werden Es sei der Zeitpunkt gekommen, „daß der siegreiche König […] den Beistand der demokratischen Elemente […] nicht mehr gebrauchen würde, sondern konservativ und anständig regieren könne“ 23 Die Abwendung von den Ideen konservativer Legitimität wurde schließlich zum Ausgang der Spaltung der Konservativen in die staatsnahen und Bismarck bejahenden Freikonservativen und die abseits bleibende, konservative Mehrheitspartei

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Heinrich von Hess an Friedrich von Wrangel; zit nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen Bd  1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, 184 Tagebucheintrag 8 4 1866; Ernst Ludwig v Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848–1866 Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach Hg v Hellmut Diwald Bd  1: Tagebuch 1848–1866, Göttingen 1970, 477 f Zit nach Einleitung, in: ebd , 61 Tagebucheintrag 17 5 1866; ebd , 479 Hans Lothar von Schweinitz, Denkwürdigkeiten des Botschafters General v Schweinitz Hg von seinem Sohn Wilhelm von Schweinitz 2 Bde , Berlin 1927, hier Bd  1, 228

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Auch die preußischen Liberalen, seit Jahren mit Heeres- und Verfassungskonflikt in einem tiefgreifenden Kampf mit der preußischen Regierung verwickelt, erkannten die Neuausrichtung der preußischen Politik Aus der Erfahrung mit der reaktionären Regierungspolitik zweifelten sie allerdings Bismarcks Absichten an Dabei galt ihre Kritik nicht der Aufrüstungspolitik der Heeresreform oder der machtorientierten, preußischen Außenpolitik Sie bezweifelten einfach, dass diese im Sinne der nationalen Sache erfolge Der liberale Abgeordnete Karl erkannte allerdings die neue Ausrichtung der Regierungspolitik, die nicht mehr vorrangig an den Interessen einer adligen Führungsschicht orientiert war, sondern die Ausbildung von Staatlichkeit betrieb Er beobachtete die „Zersetzung“ der konservativen Partei durch die neuen politischen Ziele Bismarcks: „Die Herstellung der mittelalterlichen Institutionen in Staat und Kirche – das werfen sie jetzt vollkommen über Bord Sie wissen und können nichts als die Macht üben im Sinne des bureaukratischen Absolutismus“ 24 Erst der schnelle Sieg über Österreich führte dazu, dass auch die Liberalen die Ereignisse als Revolution von oben begriffen Der liberale Historiker Heinrich von Treitschke stellte etwa fest: „Unsere Revolution wird von oben begonnen, wie vollendet, und wir mit unserem beschränkten Untertanenverstande tappen im Dunkeln“ 25 Und der Jurist Johann Caspar Bluntschli sah im Krieg von 1866 „nichts anderes als die deutsche Revolution in Kriegsform, geleitet von oben statt von unten“ 26 Das was passiert war, wurde als Erfüllung der liberalen Wünsche betrachtet: „Das deutsche Volk ist in der Lage eines armen Kindes, welches plötzlich hört, daß heut Geburtstag sei“, beschrieb ein anonymer Autor im „Grenzboten“ die Situation kurz vor Friedensschluss 27 Um zu begreifen, wie sehr das Geschehene den Erwartungen der Liberalen entsprach, muss man einen kurzen Überblick über die Zielvorstellungen seit der Revolution geben Die Revolution von 1848 hatte für die deutsche Nationalbewegung in Form der Reichsverfassung von 1849 eine Lösung der Deutschen Frage entworfen: ein kleindeutscher Nationalstaat unter Führung Preußens mit einen nationalen Parlament mit allgemeinem Wahlrecht Dieser Entwurf stand im Raum, andere Konzepte wirkten demgegenüber jetzt wenig überzeugend 28 Und als politisches Ziel wirkte die Reichsverfassung parteiprägend und diente etwa dem Nationalverein als grundlegender Konsens Die anstehende Lösung der deutschen Frage entsprach zuerst einmal weitgehend den hier fixierten Vorstellungen Darüber hinaus entsprach aber auch der Krieg von 1866 dem erwarteten Weg zur deutschen Einheit Spätestens mit dem Widerstand 24 25 26 27 28

Parlamentsrede 17 4 1866, zit nach Einleitung, in: Gerlach, Von der Revolution (wie Anm  19), 63 Zit nach Ernst Engelberg, Bismarck Bd 1: Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985, 619 Zit nach Winkler, Weg nach Westen (wie Anm  18), 184 Art „Die Stimmung vor dem Frieden“, Grenzboten 1866, 3 Quartal, 201–208, hier 201 Die Reformpolitik des deutschen Bundes beschreibt ausführlich Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866 Göttingen 2005 Sie war eben keine Alternative für die liberale Nationalbewegung, da sie die nationaldemokratischen Forderungen nach einem gewählten Parlament nicht erfüllen konnte

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Österreichs gegen die preußische Unionspolitik 1850 hatte sich bei den Liberalen die Überzeugung durchgesetzt, dass nur ein Krieg die deutsche Einheit bringen könne Überwog zu Beginn die Meinung, ein Nationalkrieg nach Außen, etwa gegen Frankreich oder Dänemark, werde durch die dann entfachte nationale Begeisterung zur Einheit führen, verschob sich das ganze bald schon zu der Anschauung, dass Preußen sich eben gegen Österreich militärisch durchsetzen müsse Was Heinrich von Gagern 1850 seinem Vater vorhielt, wurde zu dieser Zeit schon von vielen Liberalen geteilt: „Keine Nation ist ohne Bürgerkrieg geworden, was sie ist Man muß diese sentimentale Abscheu nicht übertreiben“ 29 Von daher propagierten 1850 die kleindeutschen Liberalen einen Krieg Preußens mit Österreich, um die Erfurter Union als kleindeutschen Nationalstaat durchzusetzen 30 Auch nach 1850 war für die kleindeutschen Liberalen die Gleichung klar: Bürgerliche Freiheiten konnte es nur in einem deutschen Nationalstaat geben, dessen Einigung wiederum war nur in einem großen Krieg zu verwirklichen 31 Um ihre Vorstellungen durchzusetzen, griffen die Liberalen auf das preußische Staatsverständnis zurück Nicht die liberalen Ziele, sondern die Ehre und die Macht Preußens hatten sie etwa im Herbst 1850 in den Mittelpunkt ihrer Werbung für die Union gestellt Aus dieser Argumentation entwickelten die Liberalen, insbesondere borussische Historiker und Publizisten, eine zentrale Narration für ihre eigenen Ziele: die Erzählung von der nationalen Mission Preußens 32 Nach dieser Erzählung war Preußen durch seine Entwicklung, seine Gebietserwerbungen und seinen Machtzuwachs dazu bestimmt, Deutschland zu vereinigen Von dieser Mission abzuweichen, galt dabei als ein Versagen vor der Geschichte Der zentrale Topos dieses Versagens war die „Schmach von Olmütz“, also der Vorwurf, dass Preußen 1850 im entscheidenden Moment dem Krieg mit Österreich ausgewichen sei und seine deutsche Aufgabe verraten habe Die Überzeugungskraft dieser Erzählung ist daran erkennbar, dass sie auch in der konservativen Elite Preußens übernommen wurde Bismarck, der selbst 1850 das Abkommen von Olmütz im preußischen Landtag verteidigt hatte, sollte in den Jahren 1862 bis 1866 mehrfach betonen, dass es ein zweites Olmütz nicht geben dürfe 33 29 30 31 32 33

Zit nach Hellmuth Rössler, Zwischen Revolution und Reaktion Ein Lebensbild des Reichsfreiherrn Hans Christoph von Gagern Göttingen 1957, 302 Frank Möller, Der gemäßigte Liberalismus und die Erfurter Union, in: 150 Jahre Erfurter Unionsparlament (1850–2000) Hrsg v Thüringer Landtag Erfurt Weimar 2000, S 87–110; Gunther Mai (Hg ), Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850, Köln/Weimar/Wien 2000 Harald Biermann, Ideologie statt Realpolitik Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung, Düsseldorf 2004; Christian Jansen, Einheit, Macht und Freiheit Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche (1849–1867), Düsseldorf 1999 Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: HZ 231, 1980, 265–324 So z B 1865 Von der Pfordten an Bray: „Bismarck sagte mir geradezu, das Gefährliche der Lage sei, daß man wohl wieder nicht an den Ernst Preußens glauben werde; aber es sei Ernst, und ein zwei-

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Diese Bereitschaft zu einer Nationalstaatsgründung durch Krieg erklärt auch den unklaren Kurs, den die preußischen Liberalen seit 1859 in der Frage der Heeresreform steuerten 34 Im Prinzip hielten sie nämlich eine militärische Aufrüstung für sinnvoll, um die nationale Einheit unter preußischer Führung zu erzwingen Von daher stellten sie auch zu Beginn die Finanzierung der Heeresreform sicher Diese größere, modernere Armee sollte allerdings nach liberalen Vorstellungen nicht den Konservativen zur Befestigung ihrer Macht dienen Gerade die dreijährige Dienstzeit und die Entmachtung der Landwehr erschienen ihnen als konservative Mittel zum Machterhalt Und spätestens mit dem Regierungsantritt des hochkonservativen Junkers Bismarck war den preußischen Liberalen klar, dass das preußische Militär nur noch adlig-monarchischem Machterhalt dienen solle Und das war auch keine Fehleinschätzung Bismarcks, sondern eine ganz treffende Analyse Deswegen lehnten die Liberalen auch alle Kompromissangebote Bismarcks ab, die ihnen nur als verlogen erscheinen konnten Bismarcks Feststellung, dass die „Fragen der Zeit“ durch „Eisen und Blut“ gelöst werden müssten, entsetzte die liberalen Politiker nicht deswegen, weil sie einen anderen Weg zum deutschen Nationalstaat wünschten, sondern weil sie von einem Vertreter der preußischen Hochkonservativen diesen Satz nur als Heuchelei begreifen konnten Auch der „Bruderkrieg“ von 1866 stieß bei den Liberalen deswegen zu Beginn auf Skepsis Eben nicht, weil er ein Krieg zwischen Preußen und Österreich war, sondern weil er als Krieg für monarchisch-dynastische Interessen verstanden wurde Umso verblüffter waren die Liberalen nicht nur über den schnellen Sieg Preußens, sondern auch über das Ergebnis, dass nun plötzlich ein Bundesstaat verwirklicht werden solle Es war wirklich das Geburtstagsgeschenk, das weitgehend unerwartet kam Die Erwartung, dass die nationale Einheit nur durch Krieg zu erreichen wäre, erklärt auch die Zustimmung des sich als Nationalliberale konstituierenden, rechten Flügels der Fortschrittspartei zur Indemnitäts-Vorlage Die Zustimmung war eben kein Verrat an liberalen Prinzipien, wie Historiker immer wieder behauptet haben Man hatte Bismarck das Geld für eine Aufrüstung verweigert, solange man befürchtete, er wolle die Armee nur für den Machterhalt der Konservativen einsetzen Jetzt hatte er jedoch die richtigen Gründe bewiesen, indem er das Militär für die nationale Sache einsetzte, daher konnte man ihm nun auch nachträglich das Geld dazu bewilligen Der Liberalismus schien am Beginn seines größten Erfolgs: „Sieg und Herrschaft des Liberalismus ist in Deutschland fortan nicht mehr aufzuhalten“, so ein Artikel in den Grenzboten im Herbst 1866, „das Legitimitätsprincip ist vernichtet, die letzten Überreste des Feudalstaats zerfallen Es ist ein früherer Gegner, der uns diesen großen Erfolg vorbereit hat,

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tes Olmütz werde gewiß nicht eintreten “; Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871 Bd  6 Bearb von Rudolf Ibbeken, Oldenburg/Berlin 1939, 284–286, hier 285 Allgemein: Walter Dierk, Preußische Heeresreformen 1807–1870 Militärische Innovation und der Mythos der „Roonschen Reform“, Paderborn 2003

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unser Aufgabe ist, daß wir ihn dabei stützen“ 35 Die Revolution von oben wurde also eindeutig bejaht, sie würde zum nationalen Fortschritt führen Und sie verpflichtete den Liberalismus jetzt aktiv mitzuwirken * Es war auch dieses nationale Programm, das sich seit 1849 entwickelt hatte, welches die Vorstellungen der kleindeutschen Liberalen 1866 und 1867 prägte, wie die Verfassung des neuen Bundestaates auszusehen habe Geteilt wurden diese Forderungen letztlich von drei Richtungen innerhalb des konstituierenden Reichstages: 1 den Nationalliberalen um Bennigsen, Forkenbeck, Lasker, Twesten, Miquel, Sybel, 2 den Linken des „Fortschritt“, um Waldeck, Schaffrath, Wigard, die prinzipientreu die Reichsverfassung verteidigten, eine stärkere Einheit forderten und vor allem die konstitutionellen Mängel des Entwurfs scharf kritisierten, und 3 den Altliberalen um Max Duncker und Georg und Karl von Vincke, die zwar ebenfalls die liberalen Vorstellungen teilten, aber grundsätzlich gouvernemental den Entwurf der Regierungen bejahten Der nationalliberale Abgeordnete Johannes Miquel erkannte sehr richtig, dass die Gegensätze innerhalb des Liberalismus besonders durch die Auseinandersetzungen des Verfassungskonflikts hervorgerufen wurden: „Viele Ideale sind verletzt, viele Hoffnungen sind zu Schanden geworden“ 36 Und die „Grenzboten“ beschrieben, wie schwierig es für Liberale sein konnte, sich über das Erreichte zu freuen: „Jetzt ist Vielen unbehaglich, das Größte solchen zu verdanken, denen sie mißtrauten, und sie mäkeln an dem Gewinn oder vermögen den Schmerz nicht zu überwinden, daß er nicht auf dem Wege erworben wurde, den sie selbst im Kampf gegen die Regierenden mit gutem Grunde empfohlen haben“ 37 Tatsächlich jedoch argumentierten die verschiedenen Richtungen des Liberalismus, unabhängig davon, ob sie sich in den Debatten pro oder contra der Verfassung eintrugen, in ihren grundlegenden Zielen sehr ähnlich 38 Oberste Priorität hatte für die verschiedenen liberalen Richtungen die endgültige Einigung Deutschlands zu einem kleindeutschen Nationalstaat 39 Dabei wurden selbstverständlich Einheit und Freiheit als untrennbar verstanden „[D]er Gedanke der deutschen Einheit“, betonte der nationalliberale Karl Twesten in seiner Eröffnungsre35 36 37 38 39

Art „Die Annexionen“, in: Grenzboten 1866, 3 Quartal, 321–328, hier 328 Rede Johannes Miquel 9 3 1867: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 Bd  1, 9 Sitzung v 9 3 1867, 111–115, hier 111 Art „Die Annexionen“, in: Grenzboten 1866, 3 Quartal, 321–328, hier 324 Wirkliche Gegner der Verfassung waren nur die sich in der Minderheit befindenden Anhänger eines wirklichen Staatenbundes: Katholiken, Welfen, Dänen und Polen Auf sie und die verschiedenen Spielarten des Konservatismus wird hier nicht näher eingegangen Tatsächlich finden sich unter den hier betrachteten kleindeutschen Liberalen keine Stimmen, die das Ausscheiden der Deutsch-Österreicher aus dem nationalen Verband bedauerten

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de die zwei Aspekte Sicherheit und Machtstellung, sei „das Gefühl, daß es der Größe und Cultur des deutschen Volkes unwürdig sei, dauernd in einer Stellung zu verharren, in der bei jeder Gelegenheit das eigene deutsche Land von Fremden bedroht werden konnte“ Deutschland müsse aber auch die Möglichkeit bekommen, sein „Gewicht in die Waagschale der Geschicke Europas zu werfen, welches unzweifelhaft nach der Größe und Kraft der Deutschen Nation ihr zukommt“ Doch diese nationale Einheit war gleichzeitig auch die Grundlage für die Freiheit Man müsse erkennen, „daß in dem Deutschen Volke der Einheitsgedanke auch darum stets wieder mächtig geworden ist, weil nur von der Einheit auch eine freiheitliche volksthümliche Entwickelung der politischen Gestaltung Deutschlands erwartet werden konnte“ 40 Die liberalen Kritiker bemängelten dabei nicht, dass der geplante Bundesstaat die Einheit vor die Freiheit stelle, sondern dass er beides nur ungenügend verwirkliche Besonders zu Beginn, als noch nicht klar war, ob die ausgeprägten staatenbündischen Elemente des Entwurfs behoben werden konnten, wurde daher gerade von Seiten der Linken mit machtstaatlichen Argumenten die Überwindung des Föderalismus und ein echter Einheitsstaat gefordert Das verband sich mit der Kritik an dem Verfassungsentwurf, in dem zu wenig Rechte des Volkes gesehen wurden Gerade aus der Sorge, dass die Verfassung des Norddeutschen Bundes nicht die Qualität einer richtigen Verfassung habe und dass deswegen die Freiheitsrechte der preußischen Verfassung ausgehebelt würden, forderte etwa Benedikt Waldeck einen richtigen „Einheitsstaat“ Er befürchtete eine absichtsvolle Entmachtung der preußischen Verfassung, insbesondere im militärischen Bereich: „Das ist eben der Absolutismus, der in dieser Verfassung steckt“ 41 Es ist bemerkenswert, wie hier gerade bei preußischen, linken Liberalen die alte Forderung, dass Preußen in Deutschland aufgehe, sich in die Forderung, Deutschland solle in Preußen aufgehen, verwandelte Viele Liberale sahen jedoch im Verfassungsentwurf das Verhältnis von Einzelstaat zu Gesamtstaat für die deutsche Situation als gelungen gelöst Gelobt wurde die Balance zwischen Zentralisierung und Föderalismus, der Norddeutsche Bund des Entwurfs sei „ein Ding für sich, halb Einheit, halb souveräne Vieltheiligkeit“ 42 Dabei wurde eine selbstläufige Entwicklung zum Einheitsstaat erwartet und etwa die Integration und Herabwürdigung der kleinstaatlichen Fürsten zu Pairs überlegt Zentraler Punkt der Forderung nach nationaler Einheit war dabei, dass die Verfassung des neuen Bundesstaates offen für Süddeutschland sein müsse „[E]s ist nicht blos ein großes nationales Interesse, sondern eine unbedingte National-Pflicht, den Brüdern jenseits des Mains die Thür nicht zu verschließen, sondern zu öffnen, recht weit,

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Rede Karl Twesten, 9 3 1867, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, 1 Bd , 103 [Im folgenden: Stenographische Berichte] Rede Benedikt Waldeck, 9 3 1867, Stenographische Berichte, 107–111, zit hier 107 und 108 Art „Wochenbetrachtungen“, in: Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , 236–239, hier 239

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zu öffnen“ 43 Dabei wurde die Zurückhaltung der preußischen Regierung als Rücksicht auf die unruhige außenpolitische Situation und insbesondere das Verhalten Frankreichs interpretiert und deswegen auch akzeptiert 44 Doch in der außenpolitischen Frage war die Meinung eindeutig Johannes Miquel stellte etwa fest, dass die MainLinie des Friedens von 1866 nicht als verbindlich zu betrachten sei, wie das Vorbild der italienischen Einigung gezeigt habe: „Wir, die wir nicht mit fremder Hilfe die Einheit begründen, sondern aus eigener Kraft, aus der Kraft des Preußischen Staates heraus selbstständig und gegen den Willen des Auslandes, wir werden auch übergehen zur Tages-Ordnung über diese Bestimmungen des Nicolsburger Friedensvertrages“ 45 Dabei wurde in vielen Reden auch ein möglicher Krieg gegen Frankreich bereits mitgedacht Dass der Norddeutsche Bund nur als Übergang zu einem gesamtdeutschen Staat (ohne Österreich) gesehen wurde, bestimmte auch die Debatte, wie die Verfassung auszusehen habe Denn sie galt als Grundlage, auf der die Einigung mit Süddeutschland erfolgen müsse „Erweist sich der Reichstag als die Arena für die höchsten Interessen der Nation, so wird die Anfügung der Südstaaten ohne große Schwierigkeiten erfolgen und ein deutscher Staat vermag sich nach längeren parlamentarischen Kämpfen aus den Grundzügen der gebotenen Verfassung aufzubauen“ 46 Wenn auch einzelne bedauerten, dass die preußische Armee im Krieg nicht direkt die süddeutschen Staaten besetzt hatte, so wurde überwiegend die Main-Linie akzeptiert, jedoch als ein Provisorium betrachtet Neben der momentanen außenpolitischen Notwendigkeit erlaube sie auch die nötige Konsolidierung des neuen norddeutschen Bundestaates 47 Denn eine wirkliche nationale Einigung mit den süddeutschen Staaten, die ja 1866 alles Kriegsgegner gewesen waren, galt nur dann als möglich, wenn sie dort auch gewollt würde Die Offenheit nach Süden bedeutete für die Verfassungswünsche, dass einerseits die Forderung nach einem großpreußischen Einheitsstaat in Norddeutschland, wie ihn eigentlich viele preußische Liberale wollten, abgelehnt wurde, da sie den Beitritt der süddeutschen Staaten unmöglich gemacht hätte Andererseits musste aber auch Preußen innerhalb des geplanten Bundesstaates eine starke Stellung bekommen, damit diese auch zukünftig nach einem Beitritt Süddeutschlands erhalten bleibe 48 Letztlich müsse der Bundesstaat mächtig nach Außen und freiheitlich nach Innen sein, um Süddeutschland anzuziehen 49

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Rede Ludwig Christian Schrader, 10 4 1867; Stenographische Berichte, 685 f , hier 686 Z B Art „Während der Wahlbewegung“, in: Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , 192–196, hier 195 f Rede Johannes Miquel 9 3 1867; Stenographische Berichte, 111–115, hier 113 Die „fremde Hilfe“ bezieht sich natürlich auf die Unterstützung die Italien 1859 durch Frankreich und 1866 durch Preußen hatte Art „Vor den Reichstagswahlen“, in: Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , 155–159, hier 158 Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm  3), 202 So z B Rede Heinrich Sybel, 10 4 1867; Stenographische Berichte, 677 f , hier 677 Ebd  Die gleiche Argumentation auch bei der Rede Johannes Miquel 9 3 1867: „Nur ein machtvoller Staat, der nach außen imponirt, nach allen Seiten hin Sicherheit gewährt, der gewisserma-

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Dieser Wunsch nach Offenheit gegenüber Süddeutschland, aber auch die vermeintliche Notlage sich schnell einigen zu müssen, ließ viele Liberale das Pragmatische und Flexible des Verfassungsentwurfs sowie seine Vagheit in vielen Punkten als Vorteil empfinden Ob der Norddeutsche Bund ein Einheitsstaat oder ein Bundesstaat werde oder sogar staatenbündische Züge habe, erschien vielen als unnötige Theorie Entscheidend sei, ob er praktisch seine Aufgabe erfülle Eigentlich wurde die Verfassung des Norddeutschen Bundes sogar als Interimslösung betrachtet, die vor allem den Anforderungen der Zukunft entsprechen müsse „Verfassungen sind […] Abspiegelungen der in den Staaten vorhandenen Machtverhältnisse“, äußerte der nationalliberale Mecklenburger Otto Wachenhusen, „sie ändern sich im Grunde alle Tage mit diesen Machtverhältnissen“ 50 Die nationale Einigung, der letztendliche Beitritt Süddeutschlands, galt dabei 1866/67 weitgehend als sicher, eine Orientierung Süddeutschlands etwa in Richtung Österreichs wurde nicht befürchtet, weil man die bestehende wirtschaftliche Gemeinschaft durch den Zollverein als stärker veranschlagte In den von Liberalen dominierten Tagungen der Ausschüsse des deutschen Handelstages, des volkswirtschaftlichen Kongresses und des Nationalvereins in Braunschweig wurde zu dieser Zeit bereits der Plan entwickelt, dass die Verwaltung der Zollvereinsangelegenheiten durch den norddeutschen Reichstag unter Beitritt von Abgeordneten aus Süddeutschland erfolgen solle Das größte Problem an dem Verfassungsentwurf der Regierungen war aus Sicht der Liberalen die fehlende Exekutive 51 Im Entwurf stand dem Parlament im neuen Bundesstaat eine kaum greifbare Exekutive gegenüber, die aus einem diffusen Bundesrat der Fürsten bestand Der König von Preußen, bei dem letztlich die überwiegende Macht lag, war nur Bundesvorstand Viele, insbesondere linke Liberale forderten stattdessen ein richtiges Staatsoberhaupt, idealerweise sogar mit dem Kaisertitel Das wurde von Bismarck vehement abgelehnt, da er damit die Gefahr zur weiteren Zentralisierung und dann auch Demokratisierung sah Der Bundesrat war aus Sicht der Liberalen eine Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung, insofern er einerseits der Träger der Exekutive war, andererseits aber auch an der Legislative beteiligt war Gerade auch das Stimmenverhältnis erinnerte etwa Waldeck an den Bundestag des Deutschen Bundes Er sah überhaupt die Gefahr einer unverantwortlichen Exekutive, die die Rechte des preußischen Volkes verletze 52 Gefordert wurde nun von den Liberalen ein richtiges konstitutionelles System, also eine starke Staatsspitze, die ihre exekutive Macht durch

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ßen zu vergleichen ist einer Feste, welche nicht blos die darinnen sind, schützt, sondern auch die Außenbürger schon jetzt schützt, und die bereit ist, den Außenbrüdern, die noch draußen sind, die weite Pforte aufzuthun, wenn es Zeit ist Nur eine solche starke Feste kann uns Süddeutschland erobern “; Stenographische Berichte, 111–115, hier 112 Rede Otto Wachenhusen 21 3 1867, Stenographische Berichte, 296 f , hier 297 Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm   3), 657–661; Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm   3) 198–206 Rede Benedikt Waldeck 23 3 1867, Stenographische Berichte, 329–333, hier 330 f

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ein verantwortliches Ministerium ausübe Zur zentralen Frage wurde dabei die Stellung des Bundeskanzlers Nach dem Entwurf war er quasi als Geschäftsführer des Bundesrates vorgesehen Damit wäre dieser die eigentliche Exekutive gewesen und dem Parlament hätte ein direkter Ansprechpartner gefehlt Die Liberalen forderten dagegen Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung Die Ministerverantwortung galt als „das unschätzbare Gut, welches alle constitutionellen Staaten haben“ 53 Mit dem Lex Bennigsen gelang es tatsächlich der liberalen Mehrheit, die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler und dessen Verantwortlichkeit zu bestimmen Diese Regelung verstärkte die Stellung des Kanzlers, der zur eigenständigen Größe zwischen Bundespräsidium und Reichstag wurde, zur eigentlichen Bundesexekutive Die kritische Frage für viele Liberale war die Stellung des Parlaments im Entwurf der Regierungen Denn der Entwurf ließ nicht nur die Ministerverantwortlichkeit missen, sondern auch ein richtiges Budgetrecht Daraus resultierten zwei Sorgen: Zum einen wurde der Reichstag dadurch als zu schwach empfunden Er sei kein richtiges Parlament, da ihm das Budgetrecht fehle, und könne daher auch seine nationale Funktion nicht erfüllen Zum anderen hatten aber besonders die skeptischen, preußischen Fortschrittler auch die Sorge, hier läge ein absolutistischer Trick vor, damit der Reichstag den preußischen Landtag majorisiere Dieser würde wichtige Zuständigkeiten entzogen bekommen, die vom Reichstag jedoch nicht nach konstitutionellen Regeln kontrolliert werden könnten 54 Im Mittelpunkt der Änderungsvorstellungen stand dabei das Budgetrecht 55 Es sei, so immer wieder die Aussage verschiedenster Liberaler, der Kern konstitutioneller Verfassung Tatsächlich akzeptierte Bismarck ein volles Einnahme- und Ausgabenbewilligungsrecht durch den Reichstag, wie auch eine einjährige Budgetperiode Dagegen scheiterten die Liberalen daran, das Budgetrecht auch auf die Kontrolle des Militäretats auszudehnen Durch einen Antrag Forkenbecks wurde der Militäretat zuerst einmal auf vier Jahre festgelegt, das sogenannte Pauschquantum Ab 1871 sollte es dann in eine siebenjährige, später fünfjährige Bewilligungszeit verwandelt werden Damit hatten die Liberalen gegen konservative Vorstellungen im Reichstag immerhin überhaupt den Zugriff auf die Militärausgaben erhalten Letztlich behielt die Armee aber eine extrakonstitutionelle Stellung Dass der Militäretat so unabhängig von parlamentarischer Kontrolle blieb, gilt als die große Einschränkung im Parlamentarismus des Kaiserreichs Nach dem militärischen Erfolg im vorangegangenen Krieg, sowie der Bedeutung der Armee in der angespannten außenpolitischen Situation war dieses Ergebnis jedoch wohl nicht überraschend

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Rede Benedikt Waldeck 27 3 1867, Stenographische Berichte, 389–391, hier 389 „Der erlauchte Reichstag vermag den Preußen und Deutschen das tägliche Brod des preußischen Landtags nicht zu ersetzen “ Art „Vor Eröffnung des Reichstags“, in: Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , 321–326, hier 326 Vgl auch Rede Benedikts, v 9 3 1867, Stenographische Berichte, 107–111 Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm   3), 3, 664 f ; Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm   3), 241–251

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Trotz aller Diskussionen war letztlich auch die Anerkennung des allgemeinen, gleichen (Männer-) Wahlrechts für den Norddeutschen Bund eine Selbstverständlichkeit 56 Das allgemeine Wahlrecht verteidigte Bismarck als eine „conservativere und dem monarchischen Prinzip angemessenere Grundlage“,57 er versprach sich also vor allem einen größeren Einfluss der konservativen Landbevölkerung Daher wird das allgemeine Wahlrecht oft als bonapartistisches Mittel verstanden, das gegen den Liberalismus gerichtet war und das Parlament schwächen sollte 58 Tatsächlich wurde von vielen Liberalen dieses Wahlrecht als „Danaergeschenk“59 abgelehnt Der Parlamentarier als bürgerlicher Honoratior, der im offenen Diskurs des Parlaments das allgemeine Beste für Staat und Gesellschaft feststellt, schien durch das demokratische Wahlrecht massiv bedroht Der Abgeordnete Heinrich Sybel drückte diese Position ziemlich klar aus: das Wahlrecht ist der Besitz des Rechtes, den Gesetzgeber zu ernennen Es ist also im eminenten Sinne des Wortes ein politisches Herrschaftsrecht […] Dieses Recht kann ihm [dem einzelnen Menschen F M ] nur erwachsen, wenn er der Gemeinschaft seiner Mitmenschen sich zu demselben qualificirt erweist, wenn er der Gemeinschaft nachweist, daß er die Leistungskraft und die Leistungsbereitwilligkeit hat, ohne welche im Staate und in der Gesellschaft Niemand ein hervorragendes Recht der Herrschaft auszuüben befugt sein soll 60

Sogar die Befürchtung, dass einmal eine „socialistische Organisation der arbeitenden Classen“ ins Parlament einziehen könne, wurde von den Liberalen geäußert 61 Diese Ablehnung gipfelte in der Sorge, mit dem allgemeinen Wahlrecht solle ein „Cäsarismus“, also eine populistischen Absicherung autoritärer Macht, erreicht werden 62 Tatsächlich jedoch akzeptierten die Liberalen trotz aller einschränkenden Bemerkungen das allgemeine Wahlrecht ohne Widerstand Sie empfanden es zumindest nicht als gegen den Parlamentarismus oder ihre Parteiinteressen gerichtet Letztlich wollten und konnten sie sich der demokratischen Dynamik nicht entziehen Denn das

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Beste Zusammenfassung Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009, 37–49; vgl a Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm   3), 661 f ; Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm   3), 223–231; Hedwig Richter, Moderne Wahlen Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19  Jahrhundert, Hamburg 2017, 334–341 Erlaß Bismarcks an den preußischen Gesandten in Paris, Graf von der Goltz, 21 4 1866; zit nach Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes Zur Kontinuität Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991, 223 So z B Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918 Bd  2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 108 Art „Vor den Reichstagswahlen“, Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , hier 155 Rede Heinrich Sybel 28 3 1867, Stenographische Berichte, 426–429, hier 427 Art „Vor den Reichstagswahlen“, Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , hier 156 Hier wurde übrigens auch ein Unterschied zwischen der Situation von 1849 und der Gegenwart festgestellt Rede Karl Rudolph Friedenthal 28 3 1867, Stenographische Berichte, 415–417, hier 417

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allgemeine Wahlrecht ging nicht nur auf die Frankfurter Reichsverfassung zurück, es war außerdem durch den Bundesreformplan vom 10 Juni 1866 überhaupt Grundlage der ganzen Verfassungsgebung geworden Daher war auch der konstituierende Reichstag des Norddeutschen Bundes nach diesem Wahlrecht gewählt worden Der nationalliberale Abgeordnete Adolph Weber formulierte fast schon idealtypisch die Argumentation, warum aus einer nationalen Einigung ein allgemeines Wahlrecht folge [E]s ist ein Deutscher Nationalstaat geschaffen worden: wenn Sie jetzt auch ein Parlament schaffen wollen, so müssen Sie es würdig dieses Deutschen Nationalstaates schaffen […] Das Parlament kann aber nur würdig dieser großen Deutschen Nation dastehen, wenn es erstens die Kompetenzen, die Zugeständnisse, die Rechte, die Freiheiten hat, die ihm zukommen […], es muß aber zweitens ein Parlament sein, welches richtig gewählt ist, es muß ein Parlament sein, das das Volksbewusstsein, die Meinung des Volkes wirklich zum Ausdruck bringt 63

Hier wurde klar ausgesprochen, dass das demokratische Wahlrecht nicht nur ein historischer Mythos war, sondern ganz konkret dem „nation-building“ dienen sollte Die Idee der Nation enthielt im Kern das Versprechen einer Staatsbürgergesellschaft mit gleichen Rechten für alle Es war ein – zudem ja bereits erworbenes – Recht aller männlichen Deutschen, durch das die Einheit des Volkes im modernen Staat überhaupt erst geschaffen wurde Das geschah, so beschrieb es der ebenfalls aus dem annektierten Hannover kommende Ehrenreich Eichholz, indem die allgemeinen Wahlen alle „Forderungen, Wünsche, Interessen und Rechte“ des Volkes abbildeten, aber gleichzeitig auch die politische Bildung des wahlberechtigten Volkes förderten 64 Die meisten Liberalen teilten die Ängste vor den manipulierbaren Massen, der drohenden Korruption und der Gefahr des Cäsarismus Aber ihre Lösung war der demokratische Ausbau des Wahlrechts, nicht seine Einschränkung Dazu gehörte zum einen die Forderung nach geheimer Wahl, um die Manipulationsmöglichkeiten des direkten Wahlrechts zu begrenzen Zum anderen traten die Liberalen energisch gegen das im Entwurf vorgesehene Verbot der Wählbarkeit von Beamten auf Das war sicher bei der sozialen Zusammensetzung der Abgeordneten nicht überraschend, argumentiert wurde aber gerade mit der zentralen Rolle einer bildungsbürgerlichen Elite innerhalb des allgemeinen Wahlrechts Die Beamten müssten nicht nur die Exekutive beraten, sondern auch „das Volk bedarf der Mithülfe, das Volk kann der Beamten in der Gesetzgebung nicht entbehren“ 65 Im Ergebnis setzten die Liberalen im Reichstag die geheime Wahl durch, und sie verhinderten eine Einschränkung des passiven Wahlrechts durch

63 64 65

Rede Adolph Weber, 28 3 1867, Stenographische Berichte, 417–419, hier 418 Rede Ehrenreich Eichholz, 28 3 1867, Stenographische Berichte, 414 f , hier 414 Ebd , hier 415

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das Verbot der Wählbarkeit von Beamten Das Diätenverbot wiederum konnten sie nicht verhindern 66 Auch der Verzicht auf Grundrechte in der Verfassung des Norddeutschen Bundes wird von Historikern als Beleg für die fehlenden Freiheitsrechte des neuen Bundesstaates angeführt 67 Tatsächlich waren die Liberalen einhellig der Meinung, dass bürgerliche Grundrechte für eine moderne Gesellschaft zentral seien Als Vorbild galten dabei immer die Grundrechte der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 Doch letztlich hielt man die Grundrechte für die Verfassung des Norddeutschen Bundes für verzichtbar „[U]nser Programm heißt: keine Grundrechte, ein geeinigtes Deutschland“ 68 Dieser Verzicht fand angesichts des Wissen statt, dass die gewünschten Grundrechte in den Verfassungen der Einzelstaaten bereits verwirklicht seien Eine Erarbeitung würde dagegen viel zu viel Zeit erfordern und wie 1848/49 möglicherweise zum Scheitern der Verfassung beitragen 69 Aber auch die Argumentation des linksliberalen Hermann Schulze-Delitzsch, der erfolglos den bundesrechtlichen Schutz der individuellen Freiheitsrechte beantragte, zeigt, wie sehr hier die Grundrechte argumentativ mit der Nationalstaatsgründung verbunden wurden „Das Ringen der Völker nach politisch-nationaler Gestaltung […] hat doch einen höheren Zielpunkt, eine tief humane Seite der Feststellung menschlicher Lebensberechtigung in allen ihren Beziehungen “ Der Nationalstaat diene also seinen Bürgern Umgekehrt gelte aber auch, dass die vom modernen Staat geforderten „erhöhten Leistungen“ wie Steuern und Militärdienst auch eine „Erhöhung der Rechte“ verlange 70 In dieser Argumentation wurden die Grundrechte hier letztlich zum Baustein im nation-buildung erklärt Insgesamt verliefen die Verfassungsberatungen im Sinne der Liberalen In fast allen vom Reichstag beschlossenen Änderungen gaben die Regierungen nach, um den Kompromiss mit der liberalen Volksvertretung zu sichern Dadurch wurden Unitarisierung und Parlamentarisierung hergestellt und aus dem Norddeutschen Bund erst eigentlich ein Staat und der Kern des zukünftigen Nationalstaats Klaus Erich Pollmann hat daher treffend festgestellt: „Die Angst vor der Ruinierung des Parlamentarismus mit seinen eigenen Mitteln sollte sich recht bald als unbegründet erweisen […] Nicht Scheinparlamentarismus war das Signum des Norddeutschen Bundes, sondern die Aufteilung der Einflußsphären“ 71 Genau das war das Kennzeichen der konstitutio-

66 67 68 69 70 71

Eine Analyse der Wahlen (und der Wahlanfechtungen) und die Aufforderung an die Liberalen doch den Wahlkampf den allgemeinen Wahlen anzupassen in: Art „Das allgemeine und geheime Stimmrecht vor dem Reichstage“, in: Grenzboten 1867, 1 Semester, 1 Bd , 445 Allgemein: Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm   3), 665 f ; Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm  3), 207–210 Art „Die Grundrechte des Jahres 1849“, in: Grenzboten 1866, 4 Quartal, 68–80, hier 80 So z B Rede August Grumbrecht 19 3 1867, Stenographische Berichte, 247 Rede Hermann Schulze-Delitzsch 19 3 1867, Stenographische Berichte, 246 f Pollmann, Parlamentarismus (wie Anm  3), 513

Die Debatte zur Gründung und Verfassung des Norddeutschen Bundes

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nellen Monarchie im 19  Jahrhundert Der Norddeutsche Bund unterschied sich hier nur wenig von anderen europäischen Staaten 72 * [I]ch möchte Sie schließlich bitten, bei Berathung des Entwurfs stets die Interessen des Ganzen über die – berechtigten oder unberechtigten – Interessen des Einzelnen zu stellen, und uns nicht wieder den Vorwurf machen zu lassen, daß wir eine Nation seien von Dichtern und Träumern 73

Diese Worte des Nationalliberalen Karl Braun aus Wiesbaden passen genau auf den realpolitischen Umgang der verschiedenen liberalen Parteirichtungen mit der überraschenden Situation, mit der sie im Jahr 1866 konfrontiert wurden Die Revolution von oben in der Form eines populär abgestützten, obrigkeitlich betriebenen Umsturzes beseitigte den Deutschen Bund, vertrieb Österreich aus Deutschland, stieß mehrere legitime Herrscher von ihren Thronen und ordnete die anderen einem neu gegründeten Nationalstaat unter Der ganze Vorgang wurde von den Liberalen bejaht Das war vor allem dadurch geprägt, dass die Liberalen seit 1849 eine Vorstellung der deutschen Einheit entwickelt hatten, die sie 1866/67 verwirklicht sahen: ein kleindeutscher Nationalstaat unter preußischer Führung, durchgesetzt in einem Krieg Für einen Großteil der deutschen Nationalbewegung gab es zur militärischen Form der Reichsgründung keine Alternative, sie verwiesen darauf, dass auch andere europäische Staaten durch Krieg moderne Staaten geworden seien Von daher war die Zustimmung der Liberalen zu Bismarcks Politik kein Opportunismus, kein Verrat des Bürgertums und auch keine Prioritätenverschiebung zwischen Freiheit und Einheit Wie gerade die Stellungnahmen zum Verfassungsentwurf beweisen, waren die Liberalen recht eindeutig in ihren Forderungen nach einer echten konstitutionellen Monarchie Es war vor allem dem liberalen Engagement im konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes zu verdanken, dass sich der Bund „vom gemischt staatenbündisch-bundesstaatlichen Typus des Föderativstaats zum reinen Bundesstaat“ fortentwickelte 74 Die Reichsverfassung sei so konstruiert worden, so fasst Michael Epkenhans die heute gängige Einschätzung zusammen, „dass die Hürden für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung nach westeuropäischem Vorbild hoch waren“ 75 Dem widerspre-

72 73 74 75

Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19  Jahrhundert: der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999 Rede Karl Braun, 11 3 1867, Stenographische Berichte, 128–132, hier 132 Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm  3), 655 Michael Epkenhans / Gerhard P Gross / Burkhard Köster, Preußen Aufstieg und Fall einer Großmacht, Darmstadt 2011, 62

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chen heute nicht nur Historiker, die gerade im internationalen Vergleich das Pickelhauben-Klischee der Sonderwegs-These in Frage stellen,76 sondern dem hätten auch die kleindeutschen Liberalen 1866/67 widersprochen, die in der Revolution von oben die Verwirklichung von Einheit und Freiheit für die Deutschen sahen Frank Möller, PD und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Greifswald Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Politikwissenschaften und Öffentliches Recht Publikationen: Bürgerliche Herrschaft in Augsburg 1790–1880 München 1988; Heinrich von Gagern Eine Biographie, Jena 2004; Ein Demokrat in der Paulskirche, Köln 2007

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Z B Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2009

Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund Eine historische Episode von langfristiger Bedeutung in übergreifender Perspektive Reimer Hansen Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 291–322

Abstract: The first chapter refers to the incorporation of the Duchies of Schleswig and Holstein as a province into the Kingdom of Prussia in 1867 the leading and dominating power of the North German Confederation, discussing legal and administrative aspects A second chapter discusses the historical landscape of the duchies of Holstein and Schleswig and the history of the duchies in the Danish state and the Holy Roman Empire since the Middle Ages Whereas Holstein after 1815 returned into the German Confederation Schleswig remained as a duchy within the kingdom of Denmark Both duchies were part of different legal spheres A third chapter describes the integration of the duchies into the Prussian state and the necessary standardisation of the legal institutions and the provincial administration The fourth chapter is dealing with the attempts to make Prussians out of the Slesvig and Holsteiners and especially how historiography tried to promote ideologically the idea of the klein-deutsch Prussian Empire The last chapter tries to show the limits of borussification and German nationalisation In 1866 Prussia had agreed that the population of Schleswig should vote in a referendum if they preferred to be part of Germany or part of Denmark After the foundation of the German Empire Prussia decided not to hold a referendum Thus in 1920 a majority in North Sleswig voted to return to Denmark In 1955 Germany and Denmark agreed on the Bonn-Copenhagen agreement which laid down the rules for the Danish and German minorities This was an important step toward minority rights

Einführung Die folgenden Ausführungen nehmen ihren Ausgang von der staatsrechtlich-politischen Inkorporation der nordelbischen Herzogtümer Schleswig und Holstein als

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Provinz in das Königreich Preußen vor anderthalb Jahrhunderten im Jahre 1867 Sie wenden sich sodann ihren spezifischen historischen Voraussetzungen als Lehen und Territorien unterschiedlicher Provenienz in Personalunion mit der dänischen Krone und schließlich „Provinzen“ des dänischen Gesamtstaats zu, um daraufhin ihre umfassende, zunächst normative, auf Dauer jedoch realhistorische Transformation und langfristige Integration in die Verfassungsordnung, die Verwaltung, das Justiz- und das Finanzwesen des preußischen Staates als Vormacht der Föderation des Norddeutschen Bundes zu kennzeichnen Hieran schließt sich eine Erörterung der Grundzüge der daraus resultierenden umfassenden Borussifizierung Schleswig-Holsteins als integralen Bestandteil des Königreichs Preußen, aber auch seiner korrespondierenden historiographischen Darstellung, Umdeutung und geschichtspolitischen Vereinnahmung sowie der historischen Voraussetzungen des umfassenden Paradigmenwechsels an Den Abschluss bilden ein Umriss der Grenzen der Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung der Provinz Schleswig-Holstein unter Konzentration auf das gemischtsprachige Herzogtum Schleswig und Einbeziehung ihres historischen Gesamtzusammenhangs Angesichts der kurzen, geradezu episodischen, wenn nicht transitorischen Dauer des Norddeutschen Bundes und der dauerhaften Borussifizierung Schleswig-Holsteins im Deutschen Reich wird es im Interesse ihres historischen Verständnisses erforderlich sein, die kurze Teilhabe der preußischen Provinz am Norddeutschen Bund stets auch in der sie übergreifenden regional- und landesgeschichtlichen Entwicklung der Herzogtümer Schleswig und Holstein, der Kontinuität Preußens wie des von ihm dominierten kleindeutschen Nationalstaats im Blick zu behalten: zunächst in Gestalt des späten dänischen Gesamtstaats, sodann des – aus dem dualistisch-großdeutsch geprägten Deutschen Bund hervorgegangenen – kleindeutschen Norddeutschen Bundes und seiner andauernden Erweiterung zum Deutschen Reich sowie schließlich der damit verbundenen Aus- und Nachwirkungen auf die unmittelbare Nachkriegszeit 1 1

Die auf das Wesentliche und Hauptsächliche konzentrierten historischen Überblicke und Zusammenfassungen der folgenden Ausführungen geben den erreichten Kenntnis- und Erkenntnisstandstand der einschlägigen Fach- und Forschungsliteratur wieder, der bereits großenteils in die neueren Gesamtdarstellungen und Handbücher eingegangen ist Sie werden daher – mit Ausnahme der Zitate, herausgehobener Positionen und offener Kontroversen – in der Regel nicht jeweils im Einzelnen belegt Als Basisliteratur sind herangezogen und berücksichtigt worden: Olaf Klose (Hg ), Geschichte Schleswig-Holsteins, Bd  8,1, Lieferung 1: Oswald Hauser, Provinz im Königreich Preußen, Neumünster 1966, Bd  8,2, Lieferung 1: Kai Detlev Sievers, Sozialgeschichte SchleswigHolsteins in der Kaiserzeit 1867–1914, Neumünster 1991, Bd   8,2, Lieferung 2: Erich Hoffmann, Das Nationalitätenproblem in Schleswig 1867–1914, Neumünster 1995; Hans Valdemar Gregersen, Slesvig og Holsten (Danmarks Historie), Copenhagen 1981; Lorenz Rerup, Slesvig og Holsten efter 1830 (Danmarks Historie), Copenhagen 1982; Ulrich Lange (Hg ), Geschichte Schleswig-Holsteins Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Neumünster 22003; Historisk Samfund for Sønderjylland, Sønderjyllands Historie 1: indtil 1815, Aabenraa 2008, 2: efter 1815, Aabenraa 2009, hierin insbesondere: Hans Schultz-Hansen, Nationalitetskamp og modernisering 1815–1918, 11–240; Uwe Danker / Utz Schliesky (Hg ), Schleswig-Holstein 1800 bis heute Eine historische Landeskunde, Husum 2014 –

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Die gesetzliche Inkorporation der Herzogtümer Schleswig und Holstein in das Königreich Preußen 1867 In seinem „Patent wegen Besitznahme der Herzogthümer Holstein und Schleswig“ tat König Wilhelm I von Preußen am 12 Januar 1867 „gegen Jedermann“ kund, dass er aufgrund der am 30  Oktober 1864 im Wiener und am 23  August 1866 im Prager Frieden erworbenen Rechte und der im Vertrag mit dem Großherzog von Oldenburg vom 27   September 1866 getroffenen Gebietsabtretung beschlossen habe, dieselben „mit Unserer Monarchie zu vereinigen und zu diesem Behufe mit Zustimmung beider Häuser des Landtages das Gesetz vom 24 12 v(origen) J(ahres) erlassen und verkündigt“ habe 2 Dieses bestimmte in § 1: „Die Herzogthümer Holstein und Schleswig werden in Gemäßheit des Artikels 2 der Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat mit der Preußischen Monarchie vereinigt “ § 2 bestimmte, dass die Preußische Verfassung „in diesen Landestheilen“ am 1 10 1867 in Kraft trete“ und die „zu diesem Behufe nothwendigen Abänderungs-, Zusatz- und Ausführungsbestimmungen […] durch besondere Gesetze festgestellt“ würden 3 Mit dem darauf gestützten Patent vom 12  Januar 1867 bekräftigte und präzisierte der König, dass er demzufolge „die gedachten Herzogthümer Holstein und Schleswig mit allen Rechten der Landeshoheit und Oberherrlichkeit in Besitz“ nehme und dieselben seiner Monarchie „mit sämmtlichen Zubehörden und Ansprüchen“ einverleibe Er gebot „allen Einwohnern der nunmehr mit Unserer Monarchie vereinigten Herzogthümer Holstein und Schleswig, fortan Uns als ihren rechtmäßigen König und Landesherrn zu erkennen und Unseren Gesetzen, Verordnungen und Befehlen mit pflichtmäßigem Gehorsam nachzuleben“, und versprach, dass er „Jedermann im Besitze und Genusse seiner wohlerworbenen Privatrechte schützen und die Beamten, welche für Uns in Eid und Pflicht zu nehmen sind, bei vorausgesetzter treuer Verwaltung im Genusse ihrer Dienst-Einkünfte belassen“ werde Weiterhin verkündete er: „Die gesetzge-

2 3

dazu: Steen Bo Frandsen, Holsten i helstaten Hertugdømmet inden for og uden for det danske monarki i første halvdel af 1800-tallet, København 2008; Tom Buk-Swentie, Slagtebænk Dybøl, København 2008 (deutsch: Schlachtbank Düppel 18  April 1864 Die Geschichte einer Schlacht, Berlin o J ); ders , Dommesdag Als 29 juni 1864, København 32012; Carsten Jahnke / Jes Fabricius Møller (Hg ), 1864  – og historiens lange skygger 1864  – und der lange Schatten der Geschichte Den dansk østrigsk-preussiske krig i 1864 og dens betydning i dag Der österreichisch-preußisch-dänische Krieg von 1864 und seine Gegenwartsbedeutung, Husum 2011, Oliver Auge / Ulrich Lappenküper / Ulf Morgenstern (Hg ), Der Wiener Frieden 1864 Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis (=Otto von Bismarck Stiftung Wissenschaftliche Reihe 22), Paderborn 2016; Klaus-Jürgen Bemm, 1866 Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt 2016; unter den älteren Darstellungen sind nach wie vor heranzuziehen: Lawrence D Steefel, The Schleswig-Holstein-Question (Harvard Historical Studies 32), Cambridge/London 1932; William Carr, Schleswig-Holstein 1815–48 A Study in National Conflict, Manchester 1963 Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein, Kiel 19 1 1867 Faksimile in: Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 6 Ebd , Faksimile: Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 5

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bende Gewalt werden Wir bis zur Einführung der Preußischen Verfassung allein ausüben“ Und er fügte ergänzend und allgemein einschränkend hinzu: „Wir wollen die Gesetze und Einrichtungen der Herzogthümer erhalten, soweit sie der Ausdruck berechtigter Eigenthümlichkeiten sind und in Kraft bleiben können, ohne den durch die Einheit des Staates und seiner Interessen bedingten Anforderungen Eintrag zu thun“ 4 Zuvor noch hatte König Wilhelm I durch Erlass vom 13 Oktober1866 aufgrund des preußischen Annexionsgesetzes vom 20  September 1866 „betreffend die Vereinigung des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen, des Herzogtums Nassau und der Freien Stadt Frankfurt mit der Preußischen Monarchie“5 in allen durch den Prager Frieden erworbenen und nunmehr inkorporierten neuen Landesteilen einschließlich der Herzogtümer Schleswig und Holstein „die allgemeine Wehrpflicht nach Maaßgabe der für die übrigen Provinzen des Preußischen Staates gültigen Bestimmungen eingeführt“ und den Beginn der Dienstpflicht auf dem 1  Januar 1867 für alle festgelegt, die das 21 Lebensjahr vollendet hatten 6 Damit waren die Inkorporation der Herzogtümer Holstein und Schleswig, die bis zum Wiener Frieden als „Provinzen“ dem dänischen Gesamtstaat angehört hatten, in das Königreich Preußen und ihre konstitutionell-administrative Transformation in eine Provinz des preußischen Staates de iure beschlossen Das Herzogtum Lauenburg, das seit dem Wiener Kongress ebenfalls zum Königreich Dänemark gehört hatte und von Kopenhagen aus – gemeinsam mit Schleswig und Holstein von der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Kanzlei, nach der postrevolutionären Restitution der Regierungsgewalt des Königs von Dänemark in den Herzogtümern vom Ministerium für Holstein-Lauenburg – verwaltet worden war, hatte aufgrund einer Zusage König Wilhelms und des preußischen Ministerpräsidenten Otto v Bismarck gegenüber einer Deputation der Ritter- und Landschaft des Kleinstaates und Mitglieds des Deutschen Bundes bei einem Besuch in Berlin am 19 Oktober 1864, mithin noch vor dem Wiener Frieden, einen eigenen politischen Weg beschritten und war gegen Zahlung von 2,5 Millionen dänischen Reichsthalern eine interimistische Personalunion mit Preußen eingegangen, die über die Zeit des Norddeutschen Bundes hinaus bis zu seinem Anschluss an die Provinz Schleswig-Holstein als Kreis Herzogtum Lauenburg 1876 währen sollte 7

4 5 6 7

Wie Anm  2 Ernst Rudolf Huber (Hg ), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd   2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, Stuttgart 1964, Nr  181 b, 217 Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 13 Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 83–97

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Die historischen Voraussetzungen der preußischen Provinz Schleswig-Holstein Das Herzogtum Schleswig war ursprünglich ein Territorium und Lehen der dänischen Krone, seit 1658 ein souveränes Herzogtum, dessen Landesherrschaft der König von Dänemark sich bis 1713/20 mit dem Herzog von Holstein-Gottorf teilte und danach allein in Personalunion ausübte Das Herzogtum Holstein war bis 1806 ein Territorium und Lehen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das der König von Dänemark bis 1773 gemeinsam mit dem Herzog von Gottorf und danach allein – wiederum in Personalunion mit dem Königreich und dem Herzogtum Schleswig  – allein regierte Danach war es vorübergehend bis 1815 inkorporierter Bestandteil des Königreichs Dänemark und seitdem vom Wiener Kongress bis zum Wiener Frieden – wie das Herzogtum Lauenburg – ein souveräner Gliedstaat des Deutschen Bundes in Personalunion mit der dänischen Krone Das Herzogtum Schleswig befand sich seit 1386 in Personalunion und partieller Realunion mit der Grafschaft, seit 1474 Herzogtum, Holstein unter der Herrschaft der Rendsburger Linie des Schauenburger Grafenhauses Beide Territorien gingen 1460 aufgrund der Wahl des Königs von Dänemark, Christian I aus dem Hause Oldenburg, zu ihrem gemeinsamen Landesherrn im Vertrag von Ripen eine Personalunion mit dem Königreich Dänemark ein, die 1864 mit dem Wiener Frieden beendet wurde Die über die lange Dauer von gut vier Jahrhunderten währende Verbindung beider Territorien untereinander und mit dem Königreich Dänemark mündete in ihrer Endphase in die aufgeklärt-absolutistische Monarchie des übernationalen dänischen Gesamtstaats ein, dem die Herzogtümer nunmehr als seine „Provinzen“ und außerdem das Königreich Norwegen mit Spitzbergen, den Färöern, Island und Grönland angehörten Beide Fürstentümer waren durch eine im Wesentlichen natürliche Grenze zwischen Nord- und Ostsee voneinander getrennt, die im Westen und in der Mitte von der Mündung, dem unteren und mittleren Flusslauf der Eider und dem Nordufer des Flemhuder Sees sowie im Osten von der Mündung, dem Unter- und Mittellauf der Levensau und zwischen den Gewässern durch die kurze künstliche „Landscheide“ aus Wall und Graben gebildet wurde Diese Grenze ist stets gemeint, wenn in den politischen Konflikten des 19  Jahrhunderts von der sogenannten Eidergrenze die Rede ist Sie war zugleich über rund ein Jahrtausend die Grenze zwischen dem Karolingerreich, dem aus ihm hervorgegangenen ostfränkischen Reich, dem Heiligen Römischen Reich, seit dem Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit: Deutscher Nation, und dem Deutschen Bund auf der einen sowie dem Königreich bzw Gesamtstaat Dänemark auf der anderen Seite Sie wurde – wie Saxo Grammaticus um 1200 in seinen „Gesta Danorum“ schreibt – „fluminis Eydori interrivatione“, mithin durch das Flussbett der Eider gebildet – und ist nie, wie es seit dem Spätmittelalter allgemein üblich wurde, linear präzisiert und durch eine Mittel- oder Talweglinie abgelöst worden Eine Ausnahme bildete lediglich die auf einer Insel im Mittellauf zwischen der Unter- und der

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Obereider gegründete holsteinische Reinholdesburg mit der nach ihr benannten Ansiedlung, aus der die Stadt Rendsburg hervorgegangen ist 8 Neben der dynastischen Personalunion hatten sich unter den Schauenburgern auch schon Ansätze einer politischen Realunion beider Territorien in Gestalt des großadligen Landesrates ausgebildet, die unter den Oldenburgern seit 1462 durch die Entstehung eines gemeinsamen Landtags und 1573 durch die Kodifizierung der ersten gemeinsamen Landgerichtsordnung für beide Herzogtümer verstärkt worden sind Der erste gemeinsame Landtag des Herzogtums Schleswig und der Grafschaft Holstein ist bereits für das Jahr 1462 überliefert, als Christian I die gemeine Ritterschaft, Mannschaft und Städte beider Lande, mithin die Landstände der Grafschaft und des Herzogtums, zu einem Tag „uppe de Levingesow“9 und damit an einen gleichsam neutralen Ort auf oder wohl besser: über der Levensau auf der Grenze zwischen beiden Fürstentümern berief Treibende Kraft dieser tendenziellen Verbindung und Vereinheitlichung war die holsteinische Ritterschaft, die ihren Grundbesitz großenteils auch auf das Herzogtum Schleswig ausgedehnt hatte, in ihrem großadligen Kern den fürstlichen Landesrat bildete und auch die Wahl des Königs von Dänemark zum Herrn beider Lande betrieben und in Ripen vollzogen hatte Auf sie geht insbesondere auch die Unteilbarkeitsklausel, -formel oder -bestimmung der Urkunde oder des Briefs von Ripen, „dat se bliven ewich tosamende ungedelt“10, zurück, der zugleich Herrschaftsvertrag, Handfeste oder Wahlkapitulation, Privileg und Verfassungsgesetz war Die Bestimmung über die Unteilbarkeit beider Territorien besagte indes – im Unterschied zu ihrer Instrumentalisierung in Gestalt der verkürzten politischen Devise „up ewig ungedeelt“ im 19  Jahrhundert – nach dem Vorbild der Goldenen Bulle Karls IV 1356 über die Unteilbarkeit der Kurfürstentümer und analoger landesrechtlicher Vorkehrungen in territorialen Herrschaftsverträgen des Spätmittelalters, dass beide Lande nicht geteilt werden sollten und somit auch nicht partiell an weitere dynastische Erben oder Sekundogenituren verliehen werden durften, wie es unter der Lan-

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9 10

Reimer Hansen, Deutschlands Nordgrenze, in: Alexander Demandt (Hg ), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 1990, 91–139  – ders , Das Alte Reich und Dänemark Eine europäische Grenznachbarschaft vom Ausgang des Mittelalters bis zum Anbruch der Moderne, in: Prague Papers on History of International Relations 2 (1998), 45–58, wiederabgedruckt in: Uwe Danker / Manfred Jessen-Klingenberg / Jörn-Peter Leppien (Hgg ), Aus einem Jahrtausend historischer Nachbarschaft Studien zur Geschichte Schleswigs, Holsteins und Dithmarschens (Gesellschaft für Politik und Bildung Schleswig-Holstein e V , Veröffentlichungen des Beirats für Geschichte 22), Malente 2005, 19–32 Georg Waitz (Hg ), Urkunden und andere Actenstücke zur Geschichte der Herzogthümer Schleswig und Holstein unter dem Oldenburgischen Hause (Quellensammlung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte 2,1), Kiel 1863, 30 Gottfried Ernst Hoffmann, Das Ripener Privileg vom 5 März 1460 und die „Tapfere Verbesserung“ vom 4 April 1460, in: Henning v Rumohr (Hg ), Dat se bliven ewich tosamende ungedelt Festschrift der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft zur 500 Wiederkehr des Tags von Ripen am 5 März 1960, Neumünster 1960, 30

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desherrschaft der Schauenburger in Holstein der Fall gewesen war Die territoriale Unzertrennlichkeit oder gar konstitutionelle Einheit eines Lehens der dänischen Krone und eines mittelbaren Reichslehens konnten weder die großadligen Wähler noch der gewählte Landesherr rechtskräftig vereinbaren und verbürgen, wohl aber vermochten sie durch politische Maßnahmen indirekt darauf hinzuwirken, den 1460 erreichten Zustand dauerhaft zu erhalten und zu festigen Und das war die Personalunion in Verbindung mit der territorialen Unteilbarkeitsbestimmung und dem teilweisen Ausbau institutioneller Ansätze zu einer Realunion beider Territorien, freilich um den Preis einer weiteren Personalunion beider mit dem Königreich Dänemark 11 Dieser leitenden politischen Intention stand auf Dauer neben der staats- und völkerrechtlichen die materiell-rechtliche Verschiedenartigkeit beider Territorien in Gestalt zweier eigener Rechtsgebiete gegenüber Die Eider war und blieb bis in den Norddeutschen Bund und darüber hinaus bis in die Wilhelminische Ära des Kaiserreichs zugleich eine markante Rechtsgrenze Im Herzogtum Schleswig galt das unter König Waldemar II aufgezeichnete und 1241 von ihm erlassene Jyske Lov, das Jütische Recht, das 1590 die letzte textliche Revision erfahren hatte und auch in Kraft blieb, als es im Königreich Dänemark 1683 durch das Danske Lov ersetzt worden war Es blieb in der seit 1592 rechtsgültigen mittelniederdeutschen Übersetzung bis zum Jahre 1900, mithin bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in Kraft In Holstein galt das Holstenrecht, das im Wesentlichen ein am Sachsenspiegel und reichsrechtlichen Statuten orientiertes Gewohnheitsrecht war Die 1573 kodifizierte und 1636 revidierte Landgerichtsordnung für Schleswig und Holstein bestätigte diese unterschiedlichen Grundlagen der Rechtsprechung für beide Herzogtümer, band das holsteinische Gewohnheitsrecht jedoch ausdrücklich auch an „Vernunfft und Billigkeit“ sowie „des heiligen Reichs Ordnungen und Constitutionen“12 als subsidiäre Quellen der Rechtsprechung Das Strafrecht ging in Holstein noch auf die Carolina, die „Peinliche Halsgerichtsordnung“ Karls V aus dem Jahre 1532 mit ihren sukzessiven Veränderungen und Ergänzungen zurück Die Eider bildete weiterhin zur Hauptsache die Scheide zwischen Lübischem und Schleswiger Stadtrecht Die wenigen Ausnahmen zeigen, dass nur das Lübische nach Schleswig ausgestrahlt hat Das gilt analog auch für das gemeine oder Römische Recht des Alten Reiches, das ansatzweise auch in Schleswig rezipiert worden ist, und das Landrecht der genossenschaftlich und föderativ verfassten Landschaften an der Nordseeküste, der sogenannten Seelande Hier hat das Dithmarscher Landrecht von 1567 rezeptiven Einfluss auf die nachfolgenden Kodifikationen des Landrechts nordfriesischer Landschaften ausgeübt Damit wären die wesentlichen

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Reimer Hansen, Die Bestimmung und die Bedeutung der Unteilbarkeitsformel des Ripener Privilegs 1460, in: Oliver Auge / Burkhard Büsing (Hgg ), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa (Kieler Historische Studien 43, zeit + geschichte 24), Ostfildern 2012, 73–100 Friderich Detlef v Cronhelm (Hg ), Corpvs Statvtorvm Provincialivm in Holsatiae, Altona 1750, 39

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Grundzüge der Rechtsentwicklung beider Herzogtümer bei ihrer Inkorporation in das Königreich Preußen skizziert Sie müssen und können hier auch zur hinreichenden Verdeutlichung dieses Aspekts des gestellten Themas genügen Den rechtlichen korrespondieren nicht minder differenzierte Zusammenhänge der im Verlauf ihrer Geschichte gewachsenen Administrations- und Justizverfassung beider Herzogtümer Die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Ansätze einer beide Territorien übergreifenden Ordnung der Verfassung, Verwaltung und Rechtsprechung waren nach der Beendigung der aufgeklärt-absolutistischen Regierung des Gesamtstaats im Vormärz nicht wieder aufgegriffen worden Der letztmalig 1675 vollständig und 1711/12 rumpfförmig ohne die Städte zusammengetretene Landtag erfuhr keine Erneuerung Er lebte lediglich partiell, fragmentarisch oder rudimentär in der „Fortwährenden Deputation von Prälaten und Ritterschaft“ fort, die 1775 für die adligen Klöster und Güter in dem bis 1773 gemeinschaftlich von königlicher und herzoglicher Linie des Hauses Oldenburg regierten Teil der Herzogtümer errichtet worden war Die für die Herzogtümer zuständige Deutsche Kanzlei in Kopenhagen wurde mit der Inkorporation Holsteins in das Königreich 1806 zur Schleswig-Holsteinischen, seit 1816 zur Schleswig-Holsteinisch-Lauenburgischen Kanzlei Die 1834 in Kraft getretene Provinzialständeverfassung war mit der Einrichtung getrennter Ständeversammlungen für beide Herzogtümer in Itzehoe und in Schleswig sowie einer Verwaltungsreform verbunden, die eine der Kanzlei in Kopenhagen unterstellte Schleswig-Holsteinische Regierung auf Gottorf als Mittelinstanz und ein Oberappellationsgericht für alle drei Herzogtümer in Kiel schuf Dieses erfuhr zwei Jahrzehnte später während der Zuspitzung der Spannungen des Nationalkonflikts eine Ergänzung durch die Einrichtung eines besonderen Appellationgerichts für Schleswig in Flensburg Die strikte Trennung von Justiz und Verwaltung wurde 1834 jedoch nur bis zur mittleren Ebene der Gottorfer Regierung und der beiden Obergerichte für Schleswig in Gottorf und Holstein in Glückstadt durchgeführt Darunter blieben beide Gewalten weiterhin in den Ämtern, Landschaften, Städten, Flecken, adligen Güterdistrikten und den Distrikten der adligen Klöster beider Herzogtümer sowie den nachgeordneten Harden in Schleswig und Kirchspielen in Holstein miteinander verbunden Daneben bestanden weiterhin das Adlige Landgericht in Glückstadt für den eximierten Gerichtsstand der Ritterschaft und des privilegierten Grundbesitzes und das Akademische Gericht der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 13

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Hierzu die detaillierte „Karte der Rechtsgebiete“ in: Otto Kähler, Das Schleswig-Holsteinische Landrecht Eine Darstellung des in Schleswig, Holstein und Lauenburg noch geltenden Sonderrechts, Glückstadt 21923, Anhang

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Die Integration der Herzogtümer Schleswig und Holstein als Provinz Schleswig-Holstein in das Königreich Preußen Vor diesem in den beiden Herzogtümern im Verlaufe ihrer Union mit dem Königreich Dänemark alles andere als homogen oder gar einheitlich gewachseneren Verfassungs-, Verwaltungs- und Justizwesen stand das Königreich Preußen, als Wilhelm I mit dem Patent vom 12  Januar 1867 erklärte, er nehme Holstein und Schleswig „mit allen Rechten der Landeshoheit und Oberherrlichkeit in Besitz“ und verleibe sie seiner Monarchie „mit sämtlichen Zubehörden und Ansprüchen“ ein Das dem Patent zugrunde liegende, zwei Wochen zuvor mit Zustimmung beider Häuser des Landtags von ihm gegebene und am 19  Januar 1867 im Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein veröffentlichte Gesetz bestimmte die Einführung der Preußischen Verfassung am 1 Oktober 1867 und kündigte die „zu diesem Behufe nothwendigen Abänderungs-, Zusatzund Ausführungs-Bestimmungen […] durch besondere Gesetze“ an 14 Im Patent tat er überdies kund, dass er bis dahin die gesetzgebende Gewalt „allein ausüben“ werde Er versprach, dass er „Jedermann im Besitze und Genusse seiner wohlerworbenen Privatrechte schützen und die Beamten, welche für Uns in Eid und Pflicht zu nehmen sind, bei vorausgesetzter treuer Verwaltung im Genusse ihrer Dienst-Einkünfte belassen“ wolle Bei der Anpassung der in das Königreich inkorporierten Herzogtümer an die Preußische Verfassung wolle er deren „Gesetze und Einrichtungen“ soweit erhalten, als sie „der Ausdruck berechtigter Eigenthümlichkeiten“ seien und in Kraft bleiben könnten, „ohne den durch die Einheit des Staates und seiner Interessen bedingten Anforderungen Eintrag zu thun“ Sein bisheriger, d h am 18  Juni 1866 ernannter, Oberpräsidenten Baron von Scheel-Plessen sei von ihm angewiesen worden, „hiernach die Besitznahme auszuführen“ 15 Der Jurist und hohe Staatsbeamte Carl Freiherr bzw Baron von Scheel-Plessen war indigenes Mitglied der schleswig-holsteinischen Ritterschaft und als Fideikommissherr des Stammhauses Selsø adliger Gutsbesitzer im Königreich Dänemark Er hatte in den Diensten des dänischen Gesamtstaates gestanden, war Präsident und 1 Bürgermeister der Stadt Altona, Präsident der holsteinischen Ständeversammlung und Mitglied des Reichsrats in Kopenhagen gewesen Er hatte sich weder von der deutschen national-liberalen Schleswig-Holstein-Bewegung noch von dem Erbanspruch des Prinzen von Augustenburg auf die Herzogtümer oder der ihn tragenden öffentlichen Wirksamkeit der Augustenburgischen Partei beeindrucken lassen, war 1864 von König Christian IX für das Ministeramt für Holstein umworben worden und hatte sich während der Friedensverhandlungen in Wien, an denen er auf Bitten des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck als sachverständiger Berater der beiden deut-

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Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1) Ebd , (wie Anm  3)

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schen Großmächte beteiligt war, von der preußischen Annexionspolitik überzeugen lassen Und so war er schließlich während des Bruchs des österreichisch-preußischen Kondominats über die Herzogtümer und der Übernahme der Regierungsgewalt durch Preußen auch in Holstein zwei Tage nach Ausbruch des deutsch-deutschen oder preußisch-österreichischen Krieges auf Veranlassung Bismarcks von König Wilhelm  I zum Oberpräsidenten mit Amtssitz auf dem Kieler Schloss ernannt worden Mit dem Auftrag des Königs, die Besitznahme der Herzogtümer auszuführen, war ihm eine Aufgabe anvertraut worden, die im Unterschied zur Zielsetzung der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung nicht länger auf eine mittelstaatliche Eigenständigkeit, sondern homogene Eingliederung in die Verfassungs- und Verwaltungshierarchie des preußischen Staates ausgerichtet war 16 Diese Aufgabe umfasste eine weitgehende Vereinheitlichung beider Herzogtümer, nicht mehr nur ihrer bisherigen Eigenentwicklung im dänischen Gesamtstaat, sondern darüber hinaus ihrer Mediatisierung als Provinz durch gleichförmige Einordnung in die Verfassung des Königreichs Preußen, die mit erheblichen Anpassungen und umfassenden Veränderungen, aber auch tiefgreifenden Neuerungen der administrativen Strukturen und Funktionen wie der persönlichen Pflichten der Einwohner als Staatsbürger Preußens verbunden war Einiges, wie die Einführung der neuen Währung, des Post- und Telegraphenwesens oder die Aufnahme in den Zollverein, aber auch so grundlegend Neues wie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht oder der Steuerreform, die mit dem preußischen Steuersystem die Einkommen- und Klassensteuer, die Gewerbe-, die Gebäude- und die Grundsteuer etablierte, ließ sich – bei allem Widerspruch und Unwillen in der Bevölkerung der Herzogtümer – relativ effizient umsetzen, da es sich tatsächlich um Neuerungen oder Verbesserungen, nicht selten auch Modernisierungen handelte und sich nicht erst gegen traditionell fest Verwurzeltes, seit langem Gewohntes, Vertrautes und Eingelebtes, wenn nicht gar Bewährtes, behaupten und durchsetzen musste Die Justizreform des Jahres 1867 unterstellte das gesamte Justizwesen der Provinz der Oberaufsicht des preußischen Justizministers, führte die strikte Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung auch auf der unteren Ebene konsequent zu Ende, setzte den Grundsatz der Rechtsgleichheit durch und hob im Gegenzug die Patrimonialgerichtsbarkeit der adligen Güterdistrikte und die Standesgerichtsbarkeit des Adligen Landgerichts wie des Akademischen Gerichts der Universität Kiel auf Sie führte das preußische Strafrecht, die mündliche und öffentliche Gerichtsverhandlung und 16

Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 15–20; Kurt Jürgensen, Carl Freiherr von Scheel-Plessen Seine Berufung zum ersten Oberpräsidenten von Schleswig-Holstein (1866–1879), in: Uwe Barschel (Hg ), Festschrift für Helmut Lemke zum 70 Geburtstag, Neumünster 1977, 12–71 Die folgende zusammenfassende Skizze orientiert sich großenteils an Hausers Darstellung der „Neuordnung der Verwaltung“ (wie Anm  1), 27–83, gelegentlich ergänzt oder korrigiert durch Hans Schultz-Hansen, Demokratie oder Nationalismus  – politische Geschichte Schleswig-Holsteins 1830–1918, in: Lange, Geschichte Schleswig (wie Anm  1), 456–462

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die neue Behörde der Staatsanwaltschaft ein Die Höchstgerichtsbarkeit der letzten Instanz lag nunmehr beim Oberappellationsgericht in Berlin, das für die neuen Provinzen zuständig war Das 1834 eingerichtete Kieler wurde damit zum nachgeordneten Appellationsgericht in Zivil- und Strafangelegenheiten der gesamten Provinz Darunter wurden als Mittelinstanz in Holstein 3, in Schleswig 2  – später in Landgerichte umbenannte – Kreisgerichte geschaffen, denen die Unterinstanzen der Amtsgerichte nachgeordnet waren Die oberste Verwaltung der Provinz lag beim Oberpräsidenten Scheel-Plessen Er nahm auch in Personalunion die Funktion des Regierungspräsidenten in Kiel wahr, während der seit 1864 in Schleswig als Regierungspräsident residierende Freiherr von Zedlitz weiterhin im Amt blieb Als dieser 1868 versetzt wurde, bahnte sich die für Schleswig-Holstein dann beibehaltene, von der preußischen Norm abweichende Lösung einer Provinz mit einer Regierung an Scheel-Plessen amtierte weiterhin in Kiel, seine Nachfolger dagegen in Schleswig Die Regierung selbst gliederte sich in die Abteilungen I: Inneres, II: Medizinalangelegenheiten, Kirchen und Schulen und III: direkte Steuern, Domänen und Forsten Komplizierter gestaltete sich die Inkorporation der Herzogtümer auf der mittleren und unteren Verwaltungsebene, die weit stärker von der historischen Eigenentwicklung und ihren spezifischen sozialen, ökonomischen und kulturellen Traditionen geprägt war, dann aber auch  – aufgrund der aktuellen parteilichen und nationalen politischen Auseinandersetzungen  – auf dem Feld der legislativen und administrativen Repräsentation aller Verfassungs- und Verwaltungsebenen des Königreichs, mithin des übergeordneten monarchisch-konstitutionellen Staates, der Provinz und ihrer mittleren und unteren kommunalen Instanzen Die wohl einschneidenste und zugleich nachhaltigste Veränderung brachte die Einführung der Kreisverfassung Sie begann mit der Einteilung Schleswigs und Holsteins in 19 neue Kreise, die nach Möglichkeit historisch gewachsene Zusammenhänge berücksichtigte, die vorgegebenen Ämter, Landschaften, Güterdistrikte, Städte und Flecken zu neuen, an Fläche und Einwohnern annähernd gleich großen Verwaltungseinheiten zusammenfasste, und – mit Ausnahme Altonas, das als größte Stadt der Provinz mit benachbarten Ortschaften zu einem Stadtkreis zusammengefasst wurde  – allesamt als weitgehend gleichartige und gleichgewichtige funktionsfähige Landkreise unter der administrativen Leitung eines Landrats etablierte Zur sachverständigen Beratung bei der Neugestaltung der repräsentativen Mitwirkung in den Herzogtümern als Provinz hatte der Minister des Inneren eine Konferenz von Vertrauensmännern aus beiden Herzogtümern berufen, deren personelle Zusammensetzung von Scheel-Plessen für Holstein und Zedlitz für Schleswig unter der Vorgabe vorgeschlagen hatten, dass sie die drei Stände der Ritterschaft, der Städte und der Landgemeinden sowie die politischen Parteien repräsentativ berücksichtigen sollte Sie tagte vom 13 –19 9 1867 in Berlin und nahm Einfluss auf die Vorbereitung der noch im Jahre 1867 abgeschlossenen Gestaltung der Kreisverfassung, der provinzialständischen Verfassung und der Landgemeindeordnung Die Regelung der repräsentativen Partizipation spiegelte im Großen und Ganzen die Zusam-

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mensetzung der Vertrauensmänner, beließ es weiterhin bei zeitgemäß modifizierter ständischer und zensusgebundener Delegation oder indirekter Wahl und weitgehender Beschränkung auf die Funktion der Stellungnahme und Beratung Das gilt analog auch für die Städteordnung, die erst 1869 als „Gesetz betreffend die Verfassung und Verwaltung der Städte und Flecken in der Provinz Schleswig-Holstein“ ergangen ist 17 Die Borussifizierung und kleindeutsche Nationalisierung Schleswig-Holsteins Allgemein und grundsätzlich kam hierin der Unterschied, wenn nicht Gegensatz zwischen dem preußischen Dreiklassen- bzw Zensuswahlrecht und dem allgemeinen des Norddeutschen Bundes, danach des Deutschen Reiches, zum Ausdruck, der erst mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs zu Ende des Ersten Weltkrieges aufgehoben werden sollte Diese prinzipielle Differenz trat erstmals mit der Wahl zum Konstituierenden Norddeutschen Reichstag am 12 Februar 1867 deutlich zutage Das Wahlgesetz orientierte sich an dem der Paulskirche und bestimmte eine allgemeine, gleiche und direkte Wahl mit verdeckten Stimmzetteln bei einem Wahlalter von 25 Jahren Die Wahl galt nach § 1 der „Berathung der Verfassung und der Errichtung des Norddeutschen Bundes“ 18 Aufgabe und Befugnis des Konstituierenden Reichstags gingen mithin auch hier nicht über die Funktion der Beratung hinaus Die allgemeine, gleiche und direkte Wahl ermöglichte jedoch eine unmittelbare und unveränderte Wiedergabe des politischen Wählerwillens Und der stand der preußischen Annexionspolitik diametral entgegen In den beiden nördlichen Wahlkreisen wurden dänische, in den übrigen 7 nationalliberale Kandidaten gewählt, die eine augustenburgische Lösung der Schleswig-Holstein-Frage vertraten, zwei davon in gemäßigter, fünf in entschieden-doktrinärerer Haltung Alle preußisch orientierten Kandidaten, unter ihnen auch Scheel-Plessen, waren spektakulär unterlegen Daran sollte sich auch bei der nachfolgenden ersten Wahl zum Norddeutschen Reichstag am 31 Juli 1867 trotz geringer Wahlbeteiligung kaum etwas ändern In den nördlichen Wahlkreisen, deren Zuschnitt zu Ungunsten der dänischen Bevölkerung geändert worden war, konnte sich, wenn auch mit großer Mehrheit, nur noch ein dänischer Kandidat behaupten, im anderen Wahlkreis setzte sich der einzige deutsche Kandidat, ein hoher Regierungsbeamter, durch In den übrigen sieben siegten wiederum liberale Kandidaten, darunter vier gemäßigte und drei radikale 19

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Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 80 Huber, Dokumente deutsche Verfassungsgeschichte II (wie Anm  5), 225 Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 17 f ; Schultz-Hansen, Demokratie oder Nationalismus (wie Anm  16), 463–466

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Bei diesen Wahlen waren die Liberalen erstmals mit der kurz zuvor gegründeten augustenburgisch ausgerichteten „Schleswig-Holsteinischen Liberalen Partei“ angetreten, die in ihrer populären Bezeichnung zur sogenannten „Landespartei“ werden sollte, sich jedoch in ihrer breiten Mitte nach Abspaltungen eines linken Flügels im Juni 1868 und der augustenburgischen Partikularisten im Mai 1870 der preußischen Fortschrittspartei öffnete und unter dem Namen „Liberale Partei Schleswig-Holsteins“ auf dem rechten Flügel der Fortschrittspartei einordnete Die weiterhin strikt augustenburgisch-partikularistisch, wenn nicht separatistisch orientierten Reste der „Landespartei“ schlossen sich im Juni 1870 zur „Deutsch-Schleswig-Holsteinischen Partei“ zusammen Diese gewann 1871 noch zwei Reichstagsmandate, verlor sie jedoch 1874 schon wieder und büßte ihre politische Bedeutung schließlich bis zum Ende des Jahrzehnts vollständig ein 20 Damit hatte die deutsch-schleswig-holsteinische Bewegung als politische Kraft in der öffentlichen Meinung und im Spektrum der politischen Parteien der Herzogtümer ihren einst bestimmenden Einfluss dauerhaft verloren Ihre teleologische Ideologie des Schleswig-Holsteinismus sollte jedoch auch unter der Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung weiterhin virulent bleiben und sich dabei als so zählebig erweisen, dass sie mit dem Ende Preußens im AlliiertenKontrollrats-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung des Landes Schleswig-Holstein, zunächst der Britischen Besatzungszone, dann der Bundesrepublik Deutschland, wieder erstarken konnte Ihre zentrale programmatische Aussage, Schleswigholstein oder Schleswig-Holstein sei als souveräner Teilstaat des Deutschen Bundes, des Norddeutschen Bundes oder des Deutschen Reiches ein vorgegebenes Ziel der nationalen historischen Entwicklung Deutschlands, hat sich jedenfalls bislang in zeitgemäßer Erneuerung gegenüber allen rationalen Plänen für die Neugliederung des Staatsgebietes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 29 ihres Grundgesetzes, die einstige preußische Provinz in ein angemessen großes und damit deutlich größeres Bundesland zu überführen, erstaunlich erfolgreich behaupten können Stand die politische Haltung und Orientierung der öffentlichen Meinung und  – wie im Falle der beiden Wahlen zum Norddeutschen Reichstag – auch des erkennbaren öffentlichen politischen Willens der preußischen Annexion der Herzogtümer zunächst eindeutig entgegen, so scheint sich die betroffene deutsche Bevölkerung gut ein Jahrzehnt nach der Annexion und Inkorporation allmählich mit der neuen Landesherrschaft ausgesöhnt zu haben Es erscheint jedenfalls bemerkenswert, dass die bis zum Inkrafttreten der Preußischen Verfassung in den Herzogtümern konzentriert und zügig auf den Weg gebrachten Maßnahmen, Verordnungen und Gesetze zur umfassenden Eingliederung der Provinz Schleswig-Holstein in den preußischen Staat bei allem ursprünglichen Widerstreben und Widerspruch auf Dauer erfolgreich waren, währenddessen die augustenburgische Landespartei ihre dominante Stellung schon

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nach einem Jahrzehnt eingebüßt hatte Fragt man nach den Ursachen, so dürften zum einen die stabilisierenden Strukturen der autoritären preußischen Staatsordnung, zum anderen aber auch der Sachverstand und das pragmatisch-politische Engagement der alten gesamtstaatlichen Elite vom Schlage eines Scheel-Plessen in komplementärer Kooperation mit den analogen, in die neue Provinz versetzten Repräsentanten der preußischen Beamtenschaft von nicht unerheblicher, wenn nicht gar ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein Diese auf das Wesentliche konzentrierte ereignis- und verlaufsgeschichtliche Skizze kann nicht mehr als einen Umriss bieten, der zudem unzulänglich bleiben muss, solange er isoliert referiert wird, denn er ist Teil eines übergreifenden und umfassenden Prozesses, der sich historisch, historiographisch und geschichtspolitisch als die Borussifizierung Schleswig-Holsteins charakterisieren lässt 21 Erinnern wir uns: Bismarck hatte am Silvesterabend 1863 zwischen der beendeten Bundesexekution und dem preußisch-österreichisch-dänischen Krieg in vertraulicher Runde bekannt: „Die ‚up ewig Ungedeelten‘ müssen einmal Preußen werden Das ist das Ziel nach dem ich steuere“ 22 Eine Woche zuvor hatte er am Heiligen Abend in einem nicht minder oft zitierten Brief an den preußischen Botschafter in Paris Robert von der Goltz seine Option für den Krieg in dieser Situation begründet 23 Gut zwei Wochen später, am 16 Januar 1864, stellten Preußen und Österreich der dänischen Regierung das Ultimatum,24 dessen Ablehnung sie dann zur Eröffnung des Krieges nutzten Wiederum gut zwei Wochen später erklärte Bismarck am 3 Februar 1864 im preußischen Ministerrat, sein Endziel sei nicht die bis dahin  – aufgrund der Verträge von 1851/52  – öffentlich geltend gemachte Integrität der dänischen Gesamtmonarchie, sondern die Vereinigung der Elbherzogtümer mit Preußen 25 Diese Belege mögen hier genügen Der politische Kopf der dänischen Nationalliberalen Orla Lehmann hat es unmittelbar nach dem Krieg in seinem historischen Rückblick auf die Ursachen für Dänemarks Unglück „Om Aarsagerne til Danmarks Ulykke, et historisk Tilbageblik“ übertpointiert zum Ausdruck gebracht: „Wir stellen Dänemark eine Bedingung, deren Erfüllung unmöglich ist, und wenn es sie nicht erfüllt, dann rücken wir ein“ Und er fügte hinzu, das sei der wahre Zusammenhang der Angelegenheit: „Dette er Sagens

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Carsten Jahnke, Die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbewusstseins 1866– 1889, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (ZSHG) 130 (2005), 161– 190; ders , 1864 und der Verlust der eigenen Geschichte Die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbewusstseins in den Volksschulen, in: ders /Møller (wie Anm  1), 279–304 Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), Bd   7: Gespräche Hg u bearb v Willy Andreas, 1 Bd : Bis zur Aufrichtung des Deutschen Reiches, Berlin 21924, 83 Ebd , Bd  14: Briefe, hg v Wolfgang Windelband / Werner Frauendienst, 2 Bd : 1862–1898, Berlin 1933, 658–661 Huber, Dokumente deutsche Verfassungsgeschichte II (wie Anm  5), 165–167, Nr  158 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, 473

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rette Sammenhæng“ 26 So weit ist Bismarck in seinen überlieferten Äußerungen selbst nicht gegangen, aber Lehmann dürfte ihn bei aller Zuspitzung wohl kaum missverstanden haben Die offenkundige Diskrepanz zwischen dem vorgeblich proklamierten Ziel der Integrität des Gesamtstaats der dänischen Krone und dem tatsächlichen, real- und machtpolitischen der Annexion der Herzogtümer durch Preußen lag gleichsam auf der Hand Noch in seinen Memoiren „Erinnerung und Gedanke“ schreibt Bismarck aus der mittlerweile erreichten Distanz zum Geschehen, die „Erwerbung der Herzogthümer für Preußen“ sei für ihn das höchste Ziel gewesen Daher habe er „von Anfang an die Annexion unverrückt im Auge behalten, ohne die andern Abstufungen aus dem Gesichtsfeld zu verlieren“, die er allesamt „im Vergleich mit dem vorhandenen Zustande“ für besser hielt 27 Nun ist Bismarck sicherlich nicht als erster auf diesen Gedanken gekommen Bereits Barthold Georg Niebuhr, der 1806 aus dem dänischen in den preußischen Staatsdienst gewechselt war, schrieb 1813 an den Freiherrn vom Stein, er habe „mehr als stillschweigend gewünscht, daß die Herzogtümer, soweit sie von Deutschen bewohnt werden, preußisch, und wenn das nicht zu erlangen sei, hannöverisch werden möchten“ 28 Ganz davon abgesehen, dass hier wohl erstmals eine ethnische Grenzziehung und damit eine nationale Modifikation zur territorialen Annexion 1866 erwähnt wird, wäre Niebuhrs bevorzugter Wunsch auf jeden Fall spätestens 1866/67 in Erfüllung gegangen Was ihn und andere Urheber dieses Gedankens indes von Bismarck unterschied, war dessen rigorose zielgerichtete Umsetzung und machtpolitische Realisierung Es fällt nicht schwer, weitere Beispiele preußischer Aspirationen auf die Herzogtümer bis 1863/67 anzuführen,29 und die seit 1867 fortschreitende systematische Borussifizierung Schleswig-Holsteins des Näheren und Weiteren auszubreiten Hier soll indes auch noch in der gebotenen Kürze die historiographisch-geschichtspolitische Borussifizierung berücksichtigt werden Das vermutlich am weitesten verbreitete, am meisten zu Rate gezogene, im Unterricht wie im Studium am einflussreichsten gewe-

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Orla Lehmann, Om Aarsagerne til Danmarks Ulykke, et historisk Tilbageblik, Kjøbenhavn 1864, 15 Bismarck, Erinnerungen (wie Anm  22), Bd  15: Erinnerung und Gedanke Kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses v Gerhard Ritter / Rudolf Stadelmann, Berlin 21932, 254 Dietrich Gerhard / William Norwin (Hgg ), Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs, Bd  2: 1809–1816, Berlin 1929, 449 Sie reichten bis zur staatsrechtlichen Begründung für den bevorstehenden und bereits heftig umstrittenen Fall der Thronfolge im dänischen Gesamtstaat: Ernst Helwing, Die Erb-Ansprüche des Königlich-Preußischen Hauses an die Herzogthümer Schleswig-Holstein Ein historisch-staatsrechtlicher Versuch, Lemgo/Detmold 1846 Falck hielt sie für so bedeutend, dass er die zentralen historischen Quellen noch nachträglich in seine bereits abgeschlossene Urkundensammlung als Anhang aufnahm: N(iels Nicolaus) Falck (Hg ), Sammlung der wichtigsten Urkunden welche auf das Staatsrecht der Herzogthümer Schleswig und Holstein Bezug haben, Kiel 1847, S 427–432 Es handelt sich im Wesentlichen um verbriefte Expektanzen Maximilians I und Karls V zugunsten der Markgrafen von Brandenburg Sie dürften indes im Ernstfall kaum stichhaltig gewesen sein, da sie auf unzutreffenden staats- und lehnrechtlichen Prämissen beruhen

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sene und noch immer nicht gänzlich einflusslose Handbuch zur Geschichte SchleswigHolsteins, der von Otto Brandt 1925 erstmals veröffentliche und von der dritten bis zur siebenten Auflage im Jahre 1975, mithin über ein halbes Jahrhundert von seinem Schüler Wilhelm Klüver mit sorgfältiger Umsicht, immensem Fleiß und großer Pietät überarbeitete, fortgeführte und erweiterte „Grundriss“ überschreibt das IX Kapitel „Schleswig-Holsteins Erhebung und Befreiung 1848–1864“ 30 Beide Begriffe gehören bekanntlich ursprünglich der preußischen Geschichte und Geschichtsschreibung an und führen ins Jahr 1813 zurück Noch heute liest man im wohl verbreitetsten allgemeinen kleinen historischen Nachschlagewerk, dem „Dtv-Atlas Weltgeschichte“, Band 2, die fettgedruckte Überschrift „Die Befreiungskriege (1813–15)“ und darunter das ebenfalls fettgedruckte Stichwort „Die Erhebung Preußens“ 31 Sucht man sich in einem dänischen Handbuch der Geschichte über die Herzogtümer im Zeitraum 1848–1864 zu informieren, dann findet man dort für die Bezeichnung der gleichen Ereignisse 1848 „Den slesvig-holstenske opstand“ oder „oprør“, mithin schleswig-holsteinischer Aufstand oder Aufruhr 32 Und 1864: „Krigen 1864“ oder „Den anden slesvigske krig og indlemmelsen i Preussen“: der Krieg 1864 oder der zweite schleswigsche Krieg und die Einverleibung in Preußen 33 Befreiung ist inzwischen im landesgeschichtlichen Vokabular unüblich geworden, nicht aber Erhebung Der deutsche Terminus „schleswig-holsteinische Erhebung“ hat sogar – freilich in Abgrenzung zur dänischen Beurteilung – Eingang in die Empfehlungen der letzten dänisch-deutschen Schulbuchkonferenz 1984 zur Behandlung des Themas im Geschichtsunterricht gefunden, und zwar mit der Begründung, Verhandlungen seien unmöglich gewesen, „da beide Parteien sich im Recht glaubten und ihre Ziele ‚Dänemark bis zur Eider‘ und ‚Schleswig-Holstein bis zur Königsau‘ miteinander unvereinbar waren“ 34 Beiden parteiischen Argumentationen steht indes deren historische Beurteilung aufgrund des für beide Seiten geltenden öffentlichen Rechts gegenüber 30 31

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Otto Brandt, Geschichte Schleswig-Holsteins Ein Grundriss Überarbeitet und erweitert v Wilhelm Klüver mit Beiträgen v Herbert Jankuhn, Kiel 71976, 243 Hermann Kinder / Werner Hilgemann, dtv-Atlas Weltgeschichte, Bd  2: Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, München 311996, 315 – hierzu: Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795–1815), Leipzig o J Die Schrift ist 1906 in erster Auflage erschienen, 21913, 31924 etc Meinecke hat den Terminus in analoger Bedeutung und unschwer erkennbarer geschichtspolitischer Absicht auf weitere symbolische Epochenjahre der deutschen Geschichte übertragen: Friedrich Meinecke, Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: ders , Die deutsche Erhebung von 1914 Vorträge und Aufsätze, Stuttgart/Berlin 1914, 9–38 Schultz-Hansen, Nationalitetskamp og modernisering (wie Anm 1), 91 Ebd , 122 Zur Geschichte und Problematik der deutsch-dänischen Beziehungen von der Wikingerzeit bis zur Gegenwart Empfehlungen zu ihrer Behandlung im Geschichtsunterricht: Det dansk-tyske forholds historie og problemer fra vikingetiden til nutiden En vejledning til brug i historieundervisningen (Studien zur Internationalen Schulbuchforschung Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts 37), Braunschweig 1984, 20 In der dänischen Fassung, 45, ist Erhebung allerdings in Anführungszeichen gesetzt und damit als Selbstbezeichnung kenntlich gemacht: „slesvig-holstenske ‚rejsning‘“

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Dabei war das, was sich im letzten Drittel des März 1848 in Kiel und beiden Herzogtümern ereignete in der Tat Revolution und Krieg Die selbsternannte Provisorische Regierung hatte sich in ihrer Proklamation am 24  März 1848 unter dem Vorwand des – tatsächlich unzutreffenden  – Topos von der Unfreiheit des Königs in Kopenhagen eigenmächtig an die Stelle des Landesherrn gesetzt und umgehend den Bürgerkrieg eröffnet Dies sollte – angesichts der allerorten im Deutschen Bund, übrigens auch in Kopenhagen, rasch gebildeten Märzministerien – die einzige nicht nachträglich durch Einlenken und Verständigung legitimierte und damit echte Märzrevolution in Mitteleuropa bleiben Sie hat sich dadurch de facto als Aufruhr oder Aufstand erwiesen, der schließlich in der Schlacht bei Idstedt 1850 niedergeworfen wurde, die mit fast sechseinhalb Tausend Toten und Vermissten als die quantitativ größte, verlustreichste und blutigste in die dänische und schleswig-holsteinische Geschichte eingegangen ist Die Borussifizierung des schleswig-holsteinischen Geschichtsbildes setzt bereits früh ein und ist mit der Heroisierung Uwe Jens Lornsens verbunden, der in Gestalt mehrerer Denkmäler, zahlreicher Schul- und ungezählter Straßennamen bis heute in der Öffentlichkeit Schleswig-Holsteins präsent geblieben ist Sie beginnt mit der dickleibigen Biographie von insgesamt 542 Seiten „Uwe Jens Lornsen Ein Beitrag zur Geschichte der Wiedergeburt des Deutschen Volkes“ aus der Feder des Gymnasiallehrers Karl Jansen im Jahre 1872 So pathetisch wie der Titel ist auch die Widmung: „Der Stadt und Universität Kiel im Andenken an ihren Kampf für Deutsches Recht und Volksthum“ 35 Lornsens nationalistische Heroisierung ist älter und reicht bis in den Vormärz zurück Sie beginnt mit dem pathetischen Nachruf seines gleichgesinnten Freundes Franz Hermann Hegewisch im Kieler Correspondenz-Blatt 1838, der ihn zum geschichtsmächtigen Helden verklärte, kam aber erst nach dem militärisch erzwungenen Ende des Gesamtstaats in Schwung und entwickelte sich rasch zum LornsenMythos und -kult mit seiner öffentlichen Verehrung als vaterländischen Helden und Märtyrer im Rahmen der kleindeutsch-nationalen Geschichtspolitik, die allgemein auch von der national-liberalen Schleswig-Holstein-Bewegung und ihrer teleologischen Ideologie des Schleswig-Holsteinismus, namentlich der augustenburgischen „Landespartei“, geteilt wurde Lornsen ließ sich geschichtspolitisch durchaus unterschiedlich, wenn nicht gar gegensätzlich vereinnahmen und instrumentalisieren, gegebenenfalls sogar gegen Preußen 36 Dass dies schließlich unterblieben ist, kann triftig mit seinem spezifischen Nationalismus erklärt werden, der sich nach der machtpolitisch-militärischen Beendigung des Gesamtstaats unschwer mit der umfassenden Borussifizierung der Herzogtümer vereinbaren ließ Lornsen hatte 1830 in seiner Flugschrift „Ueber das Verfassungswerk in 35 36

Karl Jansen, Uwe Jens Lornsen Ein Beitrag zur Geschichte der Wiedergeburt des Deutschen Volkes, Kiel 1872, III Reimer Hansen, Uwe Jens Lornsen diesseits der historischen Realität, in: ZSHG (wie Anm  21) 139 (2014), 77–121

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Schleswigholstein“ die deutsche als „die mächtigste und edelste Nation Europas“ bezeichnet, die „wegen ihrer heillosen Zerstückelung von jeher und von allen Seiten und Völkchen“ verhöhnt und verspottet worden sei Von dänischer Seite habe man „uns“ zugerufen, „wir mögten uns doch freuen, lieber etwas, nemlich Dänen, als nichts, nemlich Deutsche, zu seyn“ 37 Die „Allerhöchste Proklamation“ Wilhelms I vom 12 Januar 1867 an die „Einwohner der Herzogthümer Holstein und Schleswig“ wusste diesen Zusammenhang gleichsam selbstverständlich zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Annexion der Herzogtümer zugleich als kleindeutsche Nationalisierung auszugeben verstand: Ihr werdet die Nothwendigkeit des Geschehenen erkennen, denn sollen die Früchte des schweren Kampfes und der blutigen Siege für Deutschland nicht verloren sein, so gebietet es ebenso die Pflicht der Selbsterhaltung, als die Sorge für die Förderung der nationalen Interessen, die Herzogthümer mit Preußen fest und dauernd zu vereinigen Und  – wie schon Mein in Gott ruhender Herr Vater es ausgesprochen – nur Deutschland hat gewonnen, was Preußen erworben

Er fügte diesem Appell die suggestiven Worte hinzu: „Dieses werdet Ihr mit Ernst erwägen und so vertraue Ich Eurem Deutschen und redlichen Sinn, daß Ihr Mir Eure Treue eben so aufrichtig geloben werdet, wie Ich zu Meinem Volke Euch aufnehme“ 38 Was Lornsen mit dieser ideologischen Legitimation verband, war seine Überzeugung, dass die Befolgung und Erreichung hoher politischer Ziele den Einsatz blutiger Gewalt nicht nur rechtfertige, sondern auch erfordere Was ihn von Bismarck trennte und radikal unterschied, war seine prinzipielle Rechtfertigung revolutionärer Gewalt bis hin zum terroristischen Mord 39 Der Nationalliberale stimmte indes mit dem „weißen Revolutionär“40 wiederum in der Rechtfertigung blutiger militärischer Gewalt in Gestalt des Krieges grundsätzlich überein Die 1830 von ihm im Gefolge der Julirevolution in seiner Flugschrift „Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein“ intendierte und in seiner nachgelassenen Schrift über „Die Unions-Verfassung Dänemarks und Schleswigholsteins“ für ein „Großherzogtum Nordelbingen“ staats- und verfassungsrechtlich konzipierte territoriale Konstitutionalisierung der Herzogtümer Schleswig und Holstein,41 war 1867 im Königreich Preußen kein analoges aktuelles politisches Thema mehr Seine seit dem Wiener Kongress gemäß Artikel 13 der Bundesakte 1815 immer wieder geforderte und auch versuchte Errichtung einer landständischen oder 37 38 39 40 41

U(we) J(ens) Lornsen, Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein, Kiel 1830 – Faksimile-Nachdruck anläßlich ihres 150 Erscheinungsjahres hg v d Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte mit einem Nachwort v Alexander Scharff, Zum Verständnis dieser Schrift, (15)–(18), 10 Hauser, Provinz im Königreich (wie Anm  1), 9, Faksimile Hansen, Lornsen (wie Anm  36), insbesondere 104–111 Lothar Gall, Bismarck Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M 1980 Uwe Lornsen, Die Unions-Verfassung Dänemarks und Schleswigholsteins: eine geschichtlich staatsrechtliche und politische Erörterung Nach des Verfassers Tode hg v Georg Beseler, Jena 1841, 449–452

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konstitutionellen Verfassungsordnung war schließlich mit der Märzrevolution 1848 erfolgreich begonnen worden und mit der revidierten Verfassung 1851 zum Abschluss gelangt Hinsichtlich der nationalen Frage war Lornsen davon überzeugt, dass „eine weitere Entwicklung der deutschen Einheit und Freiheit nur von einem allgemeinen Krieg zu gewärtigen“ sei 42 1832 fragte er rhetorisch-suggestiv, wo die Freiheit je Wurzel gefasst habe, „ohne daß der Boden vorher durch einen Landregen von Blut gedüngt worden“ sei 43 Bismarck sollte – angesichts der von ihm „zu einem gesunden Staatsleben“ für ungünstig erachteten Grenzen Preußens drei Jahrzehnte später als neuernannter Ministerpräsident vor der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses mit der Behauptung provozieren, dass „die großen Fragen der Zeit“ nicht „durch Reden und Majoritätsbeschlüsse“, mithin im Parlament, „sondern durch Eisen und Blut“ entschieden würden 44 In der gesamten Rede vor der Budgetkommission mögen diese Ausführungen zunächst als eine sach- und kontextfremde willkürliche Assoziation zum Zwecke rhetorischer Provokation und politischer Konfrontation erscheinen, und im engeren und spezifischen Zusammenhang ihres konkreten Anlasses und politischen Zweckes im akuten Heeres- und Verfassungskonflikt dürften sie sich auch durchaus so lesen und verstehen lassen Aus der historischen Distanz zur Geschichte des kleindeutsch-preußischen Kaiserreiches erhalten sie indes darüber hinaus zugleich auch die grundsätzliche Bedeutung einer zentralen und wesentlichen Aussage zur Erklärung der langfristigen Zielsetzung der Politik Bismarcks im Hinblick auf die Reichsgründung 1871 Das gilt analog auch für Lornsens grundlegende Überzeugung, dass Gewalt und Blut nötige Mittel zur Erreichung politischer Ziele seien Denn sie vermag zu erklären, was die Herzogtümer zu erwarten gehabt hätten, wenn ihr politisches Schicksal von seinem Denken und Handeln bestimmt worden wäre Seine potentielle Bereitschaft zur blutigen Tat ist zwar erst in ihrer ganzen Reich- und Tragweite mit der Veröffentlichung des Briefwerks in der ersten Hälfte des 20  Jahrhunderts ans Licht gekommen, war Jansen aber bereits durch Einsicht in dessen Korrespondenz mit Franz Hermann Hegewisch bekannt Preußens und Österreichs Angriffs- und Eroberungskrieg erscheint ihm denn auch als die Erfüllung der Lebensaufgabe Lornsens Angesichts der raschen militärischen Erfolge der beiden deutschen Großmächte ruft er aus: „Das Dannewerk ist unser! Düppel ward genommen, Europa ward im Namen des deutschen Rechts die Vormundschaft gekündigt, Alsen genommen: Schleswig-Holstein los von Dänemark Wir standen, so schien es, am Ziele so langgehegter bestberechtigter Wünsche“ 45 Und so steht Lornsen für ihn schließlich am Ende dieser ideologischen Geschichtsklitte-

42 43 44 45

Volquart Pauls (Hg ), Uwe Jens Lornsens Briefe an Franz Hermann Hegewisch, Schleswig 1926, Nr  46 (30 7 1832), 133 Ebd , Nr  45 ( Juli 1832), 122 Bismarck, Erinnerungen (wie Anm  22), Bd  10: Reden 1847–1869 Bearb v Wilhelm Schüssler, Berlin 31928, 94 Sitzung der Budgetkommission 29 9 1862, 140 Jansen, Lornsen (wie Anm  35), V f

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rung „als der Mitbegründer des Deutschen Staates, als Schöpfer der ständischen Verfassung in Schleswig-Holstein, als Retter der Nordmark für Deutschland da“ 46 Lornsen und Bismarck waren studierte Juristen und wussten hinsichtlich aller offenen, potentiell gewalthaltigen Konflikte um die Bindung des staatlichen Gewaltmonopols an die geltende Rechtsordnung Im Inneren hieß das: an den Rechtsweg und die Landfriedensordnung und damit einerseits an die obligate Zuständigkeit der Justiz sowie andererseits an das grundsätzliche Verbot der Selbsthilfe Und nach außen: an das Staats- und Völkerrecht und damit an die erforderliche Rechtfertigung jeder militärischen Aktion im föderativen oder internationalen Rahmen als gerechten Krieg Hiermit waren jeder legitimen physischen Gewaltausübung durch Polizei oder Militär deutliche Grenzen gesetzt, die nicht willkürlich überschritten werden durften Das gilt insbesondere für blutige Gewalt, der somit – unter Ausklammerung der legalen Todesstrafe – kein direkter rechtmäßiger Weg offenstand Dabei bildete der spontane Selbstschutz durch Notwehr nach dem Grundsatz vim vi repellere licet eine nötige Ausnahme Aber auch sie bedurfte der erwiesenen – spätestens im Nachhinein zu erweisenden – rechtlichen Legitimation Lornsens überheblicher partikularer Nationalismus ließ andere Völker allenfalls neben sich gelten, verwies sie jedoch im Allgemeinen auf nachgeordnete Ränge Auch trug er bereits ansatzweise rassistische Züge, wenn er z B 1832 in einem Brief an Hegewisch einen rein nationalen Bundesstaat ohne Österreich und Preußen anstelle des Deutschen Bundes favorisierte, weil ihm ausschließlich „rein deutsche Länder ohne slavische Beimischung“ angehörten Dieser würde dann „ein wahrhaft constitutionelles Leben“ ausbilden Und Preußen werde schließlich genötigt sein, „sich dem neuen Bundesstaat und dem wahrhaft constitutionellen System anzuschließen“ 47 Entscheidend für seine borussische Vereinnahmung dürfte indes sein gegen den Gesamtstaat gerichteter und der deutschen Nation zugewandter Separatismus gewesen sein Jansen hat zweifellos um die unverkennbare Ambivalenz zwischen dem von Lornsen und auch noch von den Augustenburgern erstrebten souveränen deutschen Mittelstaat und der tatsächlich etablierten preußischen Provinz Schleswig-Holstein gewusst und sie weder aufzulösen, noch zu überbrücken vermocht, allenfalls durch nationales Pathos, politische Heroisierung und Ideologisierung dürftig zu verschleiern oder zu übertünchen versucht Ohne den Augustenburger beim Namen zu nennen, erscheint er in der Tradition Lornsens „als der damalige Träger der Schleswig-Holsteinischen Idee“ wiederum ohne jede historische Konkretisierung in direktem Zusammenhang mit der preußischösterreichischen Eroberung der Herzogtümer als „Schwert Schleswig-Holsteins“, das „den Arm derer“ fortgerissen habe, „die es einst uns abgenommen hatten“ 48

46 47 48

Ebd , VIII Wie Anm  42, Nr  46 (30 7 1830), 146–148 Jansen, Lornsen (wie Anm  35), 528

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Lornsen wird in dieser widerspruchsvollen Klitterung zum Ausgangspunkt und Urheber einer nationalen Befreiung der Herzogtümer Wie Minerva aus Jupiters Haupt, heißt es an anderer Stelle, stehe in Lornsens Flugschrift 1830 „der Schleswig-Holsteinismus vor uns da, voll und fertig, klar und muthig, gewappnet und bewehrt“ Lornsen sei „der erste Schleswig-Holsteiner in dem neueren und welthistorischen Sinne dieses Wortes“ Er habe „den ersten Riß“ zwischen den Herzogtümern und Dänemark „gemacht, der unheilbar, sowie er da war, mit Nothwendigkeit den letzten nach sich“ gezogen habe Er habe „in die Zwingburg der Fremdherrschaft die erste Bresche gelegt, zögernd und langsam“ sei „sein Volk ihm nachgerückt, geführt von seines ersten Martyrers unversöhnten Manen“ Und er schließt in noch stärkerer irrealer pathetischer Überhöhung in gesperrt gedrucktem Satz: „Lornsen ist der Befreier Schleswig-Holsteins“ 49 Die mit Waffengewalt erzwungene Abtretung der Herzogtümer an Österreich und Preußen wird von Jansen zur „Unabhängigkeitserklärung Schleswig-Holsteins“ verfälscht Sie habe „die Mündigkeits-Erklärung Deutschlands“ nach sich gezogen Mit der „Errichtung des ersten Deutschen Reiches“ oder des „Deutschen Reiches Preußischer Nation“ sei „die Grundlage und der Ausgangspunkt einer neuen Ordnung geschichtlicher Entwicklungen gegeben“ worden An ihr habe „der Schleswig-Holsteiner seinen bescheidenen Anteil gehabt: Uwe Jens Lornsen gehört der Deutschen Geschichte an“ 50 Ein Jahr später führte er in einer kleinen – in Heftform erschienenen – Zusammenfassung der Biographie Lornsens aus, dessen Werk über die Unions-Verfassung habe den „Staat ‚Schleswig-Holstein‘ nachgewiesen“, und zwar – in teleologischer Verbrämung – „als ein Ergebniß der geschichtlichen Entwicklung“ mit der unabweisbaren Aufgabe „für den einzigen Eintritt in die ‚föderative Union‘ des neuen Deutschlands“ Und er schloss wiederum, Lornsen sei der „Befreier Schleswig-Holsteins“ 51 Sucht man die offenkundigen historiographischen Unzulänglichkeiten mitsamt ihrer widersprüchlichen Sach- und Werturteilsbildung zu erklären, so erscheint Jansen als ursprünglicher Befürworter der für ihn – in Lornsen verkörperten – politischen Intentionen der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung und der augustenburgischen Partei, die Herzogtümer Schleswig und Holstein als souveränen Mittelstaat in der Föderation des Deutschen Bundes zu etablieren Er hat zwar die inzwischen erfolgte kleindeutschpreußische Reichsgründung zur Kenntnis genommen und sich ihr nationalstaatliches Selbstverständnis zu eigen gemacht, aber offenbar nicht mit der daran geknüpften staatlichen Mediatisierung Schleswig-Holsteins als Provinz des Königreich Preußens abgefunden Jansen wäre mithin in seiner geschichtspolitischen Werturteilsbildung gleichsam auf halbem Wege der realhistorischen Entwicklung vom dänischen Gesamtstaat zum kleindeutsch-preußischen Nationalstaat stehen geblieben und erscheint damit weiterhin als Verfechter der – faktisch obsolet gewordenen – Ideologie 49 50 51

Ebd , 228 f Ebd , 528 f K(arl) Jansen, Uwe Jens Lornsen, Garding 1873, 24

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des Schleswig-Holsteinismus in ihrer Ambivalenz zur politischen und historiographischen Borussifizierung der Herzogtümer Die historischen Voraussetzungen des historiographischen Paradigmenwechsels Dieser kleine exemplarische Einblick in die Frühphase der ideologischen Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung der Geschichte Schleswig-Holsteins muss hier genügen Sie hat gleichsam im Handumdrehen das bereits mit der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung deutlich angefochtene aufgeklärt-gesamtstaatliche Geschichtsbild abgelöst und – wie Carsten Jahnke urteilt – einen bemerkenswerten „Verlust der eigenen Geschichte“ bewirkt,52 war außerordentlich erfolgreich und ist auch heute noch nicht gänzlich überwunden Ich bin noch – wenn auch in zeitgemäßer Ernüchterung und erheblicher Versachlichung – auf der Schule und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gleichsam selbstverständlich im Dunstkreis ihrer zählebigen Werturteile unterrichtet und ausgebildet worden Jacob Burckhardt pflegte im Kontext solcher Erfahrungen von „Tendenz-Geschichte“ und „Geschichte mit Tendenz“ zu sprechen, die die Gegenwart haben wolle, zu der aber der Historiker, der es mit der Geschichte ernst meine, „nie unbedingt Ja sagen“ könne In diesem Augenblick stehe er durchweg „schief mit dem Publicum“ und müsse es entweder mit demselben oder mit der Wahrheit verderben“ 53 Am letzten Tag des Jahres, in dem Jansens Lornsen-Biographie erschienen war, meinte er indes in einem berühmt gewordenen, vielzitierten Brief an Friedrich von Preen tief ironisch, wenn nicht schon mokant sarkastisch, die Darstellung der Geschichte sei in „einer großen allgemeinen Mauserung begriffen“, und man werde mit Anschaffungen einige Jahre warten müssen, „bis die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/1 orientiert sein“ werde Auch wenn Jansens Lornsen-Biographie die qualitativen Ansprüche Burckhardts über Gebühr arg strapaziert haben dürfte: hier hätte er bereits einen untrüglichen Nachweis seiner hellsichtigen Prognose präsentieren können 54 Wir aber besitzen in ihr  – bei aller offenkundigen epistemologischen und realhistorischen Insuffizienz  – nicht nur ein Zeugnis der beginnenden Hypostasierung Lornsens zum Mythos und Kultobjekt, sondern auch einen  – sicherlich noch nicht ausgereiften, aber zumindest ansatzweise bereits ausgeführten zeitgenössischen Beleg für die bis in unsere Gegenwart – überaus wirksame und nachhaltige Borussifizierung und kleindeutsche Nationalisierung der Geschichte und des Geschichtsbildes Schles52 53 54

Jahnke, Borussifizierung (wie Anm  21) 2011, 279 Jacob Burckhardt, Briefe, Bd   1: 1818–1843, Basel/Stuttgart 1949, Nr   69, an Heinrich Schreiber (2 10 1843), 217 Ebd , Bd  5: 1868–1875, Basel/Stuttgart 1963, Nr  602, an Friedrich von Preen (31 12 1872), 184

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wig-Holsteins Sie sollte sich dann insgesamt infolge der umfassenden konsequenten Inkorporation der Herzogtümer in den preußischen Staat – nicht zuletzt mit Hilfe der paradigmatischen Instrumentalisierung und gleichsam allgegenwärtigen öffentlichen Vereinnahmung Lornsens – durch eine geradezu beliebige Variabilität auszeichnen55 und hat ihre Virulenz bei allem Fortschritt historisch-kritischer Aufklärung der vermeintlichen Erhebung und Befreiung Schleswig-Holsteins immer noch nicht restlos eingebüßt Jansens Lornsen-Biographie hat trotz ihrer, den voluminösen Hauptteil füllenden, ausgiebig aus den unveröffentlichten Quellen referierenden ereignis- und verlaufsgeschichtlichen Ausführungen – vor allem wohl wegen ihrer extrem unhistorischen und widersprüchlichen, letztlich nicht einleuchtenden und zudem stark überspannten pathetischen Werturteile – keine bleibende geschichtspolitische Bedeutung erlangen können Lornsen selbst ist indes bis in die unmittelbare Gegenwart des Landes Schleswig-Holstein durch die nunmehr bewusste Borussifizierung des öffentlichen Geschichtsbildes über Lehrpläne, Schulbücher, staatliche Traditionspflege und offizielle Meinungsbildung bis hin zur Lornsen-Kette als höchster Auszeichnung durch den Schleswig-Holsteinischen Heimatbund präsent geblieben: nicht in seinem glücklosen und unglücklichen persönlichen Schicksal, sondern in seiner irrealen Überhöhung und nationalen Heroisierung als changierender Mythos, der sich auf erstaunliche Weise von der Geschichtspolitik des kleindeutsch-preußischen Nationalstaats in Gestalt des Bismarckschen wie des Wilhelminischen Kaiserreichs, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches und schließlich der Bundesrepublik Deutschland vereinnahmen ließ Zwischen dem Paradigmenwechsel vom gesamtstaatlichen zum borussisch-kleindeutschen Geschichtsbild der Herzogtümer Schleswig und Holstein liegt kein abrupter Bruch, sondern eine historiographische und geschichtspolitische Entwicklung, die zunächst von der Entstehung und Entfaltung der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung in nationaler Abgrenzung zur eiderdänischen bestimmt ist Der 1812 verstorbene Historiker Dietrich Hermann Hegewisch hatte in seinem regelmäßig gehaltenen obligatorischen Biennium-Kolleg über „Vaterländische Geschichte“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel stets auch „die gegenseitigen Pflichten verschiedener unter Einem Oberhaupte vereinigten Nationen“ behandelt und dabei das Zitat seines Kopenhagener Kollegen Peter Frederik Suhm als Motto vorangestellt: Liebet euer Vaterland über alles; und was ist euer Vaterland? alle Länder des Königs; Dänemark, Norwegen, Holstein und Island, kein einziges ausgenommen Lasset den thörigten Unterschied unter einem Dänen, Normann oder Holsteiner aufhören, freilich sind eure Sprachen unterschieden, aber Gott versteht euch alle Ein König beherrscht euch alle 56 55 56

Hansen, Lornsen (wie Anm  36), 77 f , passim Dietrich Hermann Hegewisch, Über die gegenseitigen Pflichten verschiedener unter Einem Oberhaupte vereinigter Nationen Beym Schlusse eines Collegiums über die vaterländische Geschichte, Altona o J (1784), 5; Suhms Abriss der Geschichte des Gesamtstaats ist auch noch nach seinem Tode in zeitgemäßer Anpassung, Verbesserung und Ergänzung sowie deutscher Übersetzung aufgelegt

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Im mehrsprachigen Gesamt- und Nationalitätenstaat unter der aufgeklärten Monarchie des Königs von Dänemark erschienen ihm gegen Ende des 18  Jahrhunderts feindseliger „Nationalhaß“, missgünstige „Nationalvorurtheile“, eifersüchtiger „Nationalneid“ und „Nationalstolz“ nur noch als überwundener „falscher Patriotismus auf der Stufe der Barbarey ungebildeter Völker“ Er beurteilte diesen Zustand als Ergebnis einer konsequenten Aufklärung und Erziehung, sah ihn aber auch durch „Trägheit“ und „Erschlaffung des Patriotismus“ gefährdet, zumal wenn dabei die Besorgnis mitwirke, dass „von den vereinigten Nationen Eine die vorzüglich geliebte und begünstigte sey“ oder die Vorstellung aufkomme, „man würde, wenn man sich von den verbrüderten Völkern wieder trennen könnte, einen eigenen glücklichern Staat ausmachen“ 57 Mit der Julirevolution schien dieser Zustand schließlich so weit eingerissen zu sein, dass er sich nicht länger aufhalten ließ Hatten die älteren Liberalen, namentlich die Kieler Professoren Friedrich Christoph Dahlmann und Niels Nicolaus Falck, mit ihrer deutschen Nationalität noch keinen überheblichen Nationalismus und mit ihrer Deutung der Unteilbarkeitsbestimmung des Vertrags von Ripen als Untrennbarkeit Schleswigs und Holsteins noch keinen nationalen Separatismus verbunden, so strebte die deutsch-schleswig-holsteinische Bewegung die Lösung der Herzogtümer aus dem Gesamtstaat und den Eintritt in einen deutschen Nationalstaat an Hegewisch war noch von der Zweisprachigkeit als einem vorzüglichen Mittel der Völkerverständigung und der „Nationaleintracht“ im Gesamtstaat überzeugt gewesen 58 Der zwei Generationen jüngere, 1840 an die Christiana Albertina berufene Johann Gustav Droysen vermochte in ihr unmittelbar am Vorabend der Märzrevolution nur noch ein nationales Hindernis zu sehen Würden „wir“, gemeint sind die deutschsprachigen Bewohner der Herzogtümer, „zu unserer Muttersprache Dänisch lernen müssen“, würde die dänische Monarchie „unser Vaterland, die Lande diesseits der Königsau“ würden dänische Departements werden, und „wir würden Deutsch-Dänen, politische Zwitter, ein Mulattenvolk “ Seine Antwort heißt daher: „Nimmermehr Wir sind nicht gemeint, um welchen Preis auch immer, Verrath an uns selber und an Deutschland zu üben Wir wurzeln in Deutschland: mit aller Liebe, mit aller Kraft, mit dem unerschütterlichen Ernst unseres Willens halten wir fest an Deutschland“ 59 Hegewischs Sohn Franz Her-

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worden und hat erhebliche Verbreitung erfahren In der deutschen Ausgabe: Peter Friedrich Suhms Geschichte Dänemarks, Norwegens, Schleswigs und Holsteins im Auszug für die wissenschaftlich beflissene Jugend Nach des verstorbenen Hofraths und Professors Kierulf Umarbeitung aufs neue mit Berichtigungen und Zusätzen herausgegeben von M Erich Christian Werlauff, Hamburg 1816, ist die von Hegewisch zitierte Stelle nach dem Kieler Frieden 1814 und dem Wiener Kongress 1815, die den Gesamtstaat erheblich reduziert und das gemeinsame Vaterland aller „Länder des Königs“, 236 entsprechend modifiziert worden: „Dänemark, die Herzogthümer, Nichts ausgenommen! Lasst den thörichten Unterschied, Dänen, Schleswiger oder Holsteiner zu heißen, aufhören “ Ebd , 6–16, passim Ebd , 25–28 Johann Gustav Droysen, Die gemeinsame Verfassung für Dänemark und die Herzogthümer (5 2 1848), in: ders , Kleine Schriften, Heft 1: Zur Schleswig-Holsteinischen Frage, Berlin 1863, 85

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mann war übrigens im übergreifenden historischen Zusammenhang des Paradigmenwechsels zum Parteigänger Lornsens geworden, danach – wie Droysen – der deutschschleswig-holsteinischen Bewegung und schließlich des Augustenburgers Analog sollte der politische Wandel auf das Denken und Handeln auf einen erheblichen Teil der durchschnittlichen selbständigen städtischen Bevölkerung durchschlagen und sich auf dessen Mentalität wie dessen alltägliches Verhalten auswirken Dieses Kapitel der vulgären und primitiven Nationalisierung der Herzogtümer Schleswig und Holstein auf der unteren Ebene alltäglicher sozialer Kommunikation im späten Vormärz ist von der landes- und regionalgeschichtlichen Forschung bislang vernachlässigt worden Die spärlichen veröffentlichen egohistorischen Quellen vermögen jedoch anschauliche Einblicke zu geben, die sicherlich jeweils subjektiv erfahren und entsprechend aufgezeichnet worden sind, zugleich aber auch aus dieser spezifischen Perspektive aufschlussreiche Beobachtungen und Mitteilungen von allgemeiner sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Bedeutung festgehalten haben So hat der spätere Landesbaurat der preußischen Provinz Schleswig-Holstein Christian Eckermann in seinen niederdeutsch verfassten Jugenderinnerungen im Rückblick aus der Distanz eines halben Jahrhunderts gelegentlich Szenen überliefert, die zum einen die Konfrontation zweier Generationen in ihren Werturteilen und Überzeugungen und zum anderen die damit verbundene Intransigenz mitsamt dem ihr immanenten destruktiven Konfliktpotential, stets aber einen offensiven und aggressiven Nationalismus zum Ausdruck bringen Der meist humorvoll erzählende Eckermann schreibt, um es an einem drastischen Beispiel zu verdeutlichen: wenn sein gesamtstaatlich-aufgeklärter Lehrer im holsteinischen Elmshorn 1849 im Unterricht ausgeführt habe, dass zur vaterländischen Geschichte auch die Dänen gehörten, hätten die Schüler in ihrem blau-weiß-roten deutsch-schleswig-holsteinischen Patriotismus so dagegen protestiert, wie sie nur gekonnt hätten Als er einmal pathetisch den Tod eines dänischen Königs geschildert habe, sei er vom Gelächter eines Schülers unterbrochen worden Daraufhin habe der Lehrer den Arm gegen den Sünder erhoben und ihn gerügt Auf die Bemerkung des Schülers, das sei „ja man ’n Däne“ gewesen, habe der erregte Lehrer repliziert: „Nur ein Däne, Du Bube? Giebt es unter den Dänen denn keine edlen Menschen?“ Auf dessen eindeutiges „Nein“ habe der Lehrer ihn geohrfeigt Und wir anderen – schließt Eckermann die Schilderung der Episode – hätten gelacht 60 Der hier überdeutlich demonstrierte Paradigmenwechsel hat sich – wenn auch offenbar deutlich weniger wirksam – unter der ländlichen Bevölkerung der Herzogtümer ereignet Friedrich Paulsen berichtet von einem schleswigschen Bauern, der von seinem jugendlichen Neffen zur Rede gestellt worden sei, „warum er sich nicht der Erhebung von 1848 anschließen wolle“, und ihm darauf geantwortet habe, er wolle „von

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Christian Eckermann, As ik so’n Jung weer Jugenderinnerungen Als Manuskript gedruckt, Norden 1906, 23 f

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einem König regiert werden und nicht von Kieler Advokaten“ 61 Diese mentale Reservation gilt großenteils analog auch für die vorindustriellen Unterschichten Friedrich Christoph Dahlmann hat angesichts der rührigen Agitation für Lornsens Flugschrift im Klima der Julirevolution in einem Brief an seinen Schwager Franz Hermann Hegewisch sogar entschieden davon abgeraten, sie „auch unter den unteren Ständen“ verbreiten zu wollen Dort sei „die Liebe zum König zu pflegen“ Denn dort, führt er aus, „ist sie wahrhaft, während sie in den oberen zum Theil Affection ist, zum Theil mit dem Vortheile zu sehr Hand in Hand geht, um sonderliche Achtung zu verdienen“ Die unteren Stände würden „in einer Constitution, die erst durch sie werden soll, immer nur Aufstand sehen“ und hätten „auf ihre Weise Recht darin“ 62 Sowohl der vom aufkommenden Nationalismus bewirkte und sich nunmehr insbesondere im städtischen Besitz- und Bildungsbürgertum ausbreitende geschichtspolitische Paradigmenwechsel als auch die bei den vormodernen Unterschichten tiefverwurzelte monarchistische Mentalität waren 1867 noch derart virulent, dass die „Allerhöchste Proklamation“ Wilhelms I gleichsam selbstverständlich und mühelos an sie anknüpfen, appellieren und für sich reklamieren konnte Die Grenzen der Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung in ihrem historischen Gesamtzusammenhang Die Borussifizierung und kleindeutsche Nationalisierung Schleswig-Holsteins und seiner Geschichte profitierte mittel- und langfristig von der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung, die seit der Juli-Revolution 1830 an öffentlicher Zustimmung gewonnen hatte, sich mit der Märzrevolution 1848 vorübergehend durchsetzen konnte und auch während der Restauration und über die Annexion und Inkorporation durch Preußen hinaus in der augustenburgischen Partei zunächst weiterhin präsent blieb Da ihr jedoch nach der Wiederherstellung des Gesamtstaats, vor allem aber – nach dem Interim der österreichischen Verwaltung Holsteins unter dem Kondominat beider deutschen Großmächte 1865/66 – in Gestalt der Landespartei in Preußen und im Norddeutschen Bund jeder staatliche Rückhalt fehlte und sich deren pragmatische Mitte der Fortschrittspartei geöffnet hatte büßte sie schließlich ihre Dominanz in der öffentlichen Meinung Schleswig-Holsteins ein Ihr politisches Potential konnte indes aufgrund weitgehender Übereinstimmung in der nationalen Orientierung zu einem großen Teil von der Borussifizierung und kleindeutschen Nationalisierung der neuen Provinz Preußens aufgesogen werden, sich ihr assimilieren und in ihr aufgehen Dieser 61 62

Friedrich Paulsen, System der Ethik mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, Bd  2, Stuttgart/Berlin 9, 101913 M(oritz) Liepmann, Von Kieler Professoren Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel, Stuttgart/Berlin 1916, Nr  81, 135

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Wandel im Mainstream lässt sich nicht nur allgemein, sondern vielfach auch bis in die persönliche Biographie bekannter Persönlichkeiten zurückverfolgen Ein geradezu idealtypisches Beispiel bietet der Mitbegründer der neuniederdeutschen Dichtung Klaus Groth Er war – je nach vorherrschender öffentlicher Stimmung – vom Anhänger der deutsch-schleswig-holsteinischen Bewegung und „Sänger“ des Prinzen von Augustenburg zum Befürworter der preußischen Annexion und der kleindeutschen Reichsgründung sowie schließlich Verehrer des königlich-kaiserlichen Herrscherhauses der Hohenzollern geworden : stets mit gelegenheitslyrischer Begleitung, die freilich deutlich hinter seinem Hauptwerk, dem „Quickborn“, zurücksteht 63 Groth war 1858 an der Christian-Albrechts-Universität mit der Verleihung der venia legendi für deutsche Literatur „nostrifiziert“ worden und hatte 1866 vom österreichischen Statthalter Ludwig von Gablenz den Professorentitel erhalten Hier begrüßte er schon bald, nunmehr unter preußischer Oberhoheit in der Zuständigkeit des Oberpräsidenten Scheel-Plessen, in Versform den zum 1 Oktober 1866 als ordentlichen Professor für Geschichte und Politik berufenen Heinrich von Treitschke, der gleich ihm, wenn auch bei weitem entschiedener, den Wandel von augustenburgischer zu explizit borussischer Parteilichkeit vollzogen hatte 64 Die Universität war auch nach der Restitution des Gesamtstaats im Lehrkörper wie in der Studentenschaft ein Hort der deutschen Schleswig-Holstein-Bewegung und der augustenburgischen Partei geblieben Dabei waren 10 Professoren, die unter der revolutionären Provisorischen Regierung herausragende Ämter und Funktionen wahrgenommen hatten, faktisch entlassen worden: 8 nicht bestätigt oder für nicht geeignet befunden, 2 weitere, die erst 1849 und 1850 berufen worden waren, aufgefordert, ihre Lehrtätigkeit einzustellen Die Historiker Droysen und Waitz waren ihrer sicheren Entlassung durch die Annahme auswärtiger Rufe zuvorgekommen 65 Mit Heinrich von Treitschke war 1866 unter dem entschiedenen Einfluss Bismarcks und entgegen der augustenburgischen Opposition im Lehrkörper ein dezidiert borussisch orientierter Historiker an die Christian-Albrechts-Universität berufen worden Er hatte sich mit dem preußisch-österreichischen Krieg gegen Dänemark zu einem dezidierten Verfechter der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands unter der Führung Preußens mit seinem macht- und militärpolitisch orientierten Ministerpräsidenten Bismarck ge-

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Frithjof Löding, Theodor Storm und Klaus Groth in ihrem Verhältnis zur schleswig-holsteinischen Frage Dichtung während einer politischen Krise (Quellen und Forschungen zur Geschichte SchleswigHolsteins 84), Neumünster 1985, 190–197, 200 f Klaus Groth’s Gesammelte Werke, Bd  2: Quickborn II, Kiel/Leipzig 1918, 315 f , s u a auch 326 f ; ders , Memoiren, hg v Ulf Bichel u Reinhard Goltz, Heide 2005, 57–88, 156 f , 269–276, 371–374 Reimer Hansen, Die Kieler Professoren im aufkommenden Nationalkonflikt 1815–1852, in: Oliver Auge / Swantje Piotrowski (Hgg ), Gelehrte Köpfe an der Förde Kieler Professorinnen und Professoren in Wissenschaft und Gesellschaft seit der Universitätsgründung 1665 (Sonderveröffentlichungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte 73), Kiel 2014, 117–119

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wandelt, sollte an der Christiana Albertina allerdings nur ein Gastspiel geben und Kiel bereits ein Jahr später wieder verlassen, um einem Ruf nach Heidelberg zu folgen 66 Entgegen der allgemeinen Entwicklung vom dänischen Gesamt- zum kleindeutschen Nationalstaat in Holstein und im südlichen Schleswig stießen der vormärzliche und der revolutionäre Schleswig-Holsteinismus und danach die Borussifizierung Nordelbiens im nördlichen Herzogtum Schleswig an ihre Grenzen, da dessen dänische Bevölkerung sich ihnen gegenüber als widerständig und immun erwies Bismarck hatte nach der militärischen Niederlage Dänemarks 1864, als sein erklärtes Idealziel, die „Erwerbung der Herzogthümer für Preußen“, noch unerreichbar war, während der Konferenz der Signatarmächte des Londoner Vertrags von 1852 unter den „andern Abstufungen“ einer Lösung der Schleswig-Holstein-Frage eine nationale Scheidelinie zu bedenken gegeben, zu deren Ermittlung er anregte, dass die Bevölkerung Nordschleswigs gemeindeweise „über die Frage gehört werde, ob deutsch oder dänisch“ 67 Er hat diesen Vorschlag zunächst nur der österreichischen Seite durch den preußischen Gesandten am Wiener Hof unterbreitet und danach auch durch die preußischen Bevollmächtigten auf der wiederum in London tagenden Konferenz – wie es in seinem Erlass an die preußischen Konferenzbevollmächtigten heißt – „in amtliche Anregung bringen“ lassen 68 Er dachte dabei allerdings nicht an eine plebiszitäre Grenzziehung, sondern an eine rein demoskopische Volksbefragung, damit „die Konferenz, ehe sie eine Entscheidung träfe, über die Wünsche der Bevölkerung sich genau informiere“ 69 Als dann auf der Londoner Konferenz, aber auch noch weiterhin danach bis zum Ende des österreichisch-preußischen Kondominats über die Herzogtümer unter den betroffenen Mächten keine Einigkeit über eine Teilung Schleswigs nach dänischer und deutscher Nationalität zu erreichen war, wurde schließlich in Artikel V des Prager Friedens, der Preußen alle von Österreich im Wiener Frieden erworbenen Rechte auf die Herzogtümer Holstein und Schleswig übertrug, die Bestimmung aufgenommen, „daß die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen “70 Hierzu ist es bekanntlich nicht gekommen Statt dessen ist die Nordschleswigklausel des Artikels V im Vorfeld der Vereinbarung des Zweibunds zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn in einem 1878 zwischen Österreich und Preußen vereinbarten Vertrag aufgehoben worden, der Anfang 1879 in leicht modifizierter Form 66 67 68 69 70

Peter Wulf, „Unter Normalmenschen“ Heinrich von Treitschke an der Universität Kiel, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, NF 18 (2008), 171–194 Bismarck, Werke (wie Anm, 22), Bd   4: Politische Schriften Bearb v Friedrich Thimme, Berlin 3 1927, Nr  390 Erlaß an den Gesandten in Wien Freiherrn von Werther, 447 Ebd , Nr  400 Erlaß an die Konferenzbevollmächtigten in London Graf von Bernstorff und von Balan, 457 Ebd , (wie Anm  67) 447 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte II (wie Anm  5), Nr  182, 218

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ratifiziert worden ist 71 Bismarck selbst hat als Reichskanzler gut zwei Jahrzehnte nach Dänemarks Abtretung der Herzogtümer an Österreich und Preußen im Deutschen Reichstag allen Forderungen nach Revision der territorialen Annexionen in den Kriegen der kleindeutsch-nationalen Einigung und Gründung des Deutschen Reiches eine kategorische Absage erteilt und dabei u a ausdrücklich über „die Wiederabtretung“ Nordschleswigs an Dänemark und Elsass-Lothringens an Frankreich hinaus auch die „Losreißung der polnisch redenden Provinzen von Preußen“ erwähnt Das alles – heißt es dort – seien „Dinge, die nur nach einer großen Niederlage Deutschlands erreichbar sind“ Er sprach dabei von einem „unglücklichen Krieg“ sowohl Deutschlands als auch Preußens, nach dem dann „das Königreich Preußen wieder ausgeschlachtet“ werde 72 Bismarck hat mithin – wenn auch als „unglückliche“ Möglichkeit – vorauszudenken vermocht, was dreieinhalb Jahrzehnte später durch den Vertrag von Versailles politische Wirklichkeit werden sollte Sein Vorschlag einer Volksbefragung ist gelegentlich als mögliches Angebot eines plebiszitär-demokratischen Volksentscheids missverstanden worden 73 Er sollte jedoch in seinem politischen Räsonnement vor allem die Funktion einer „wirksamen Waffe“ gegen englische und französische Vorschläge auf der Londoner Konferenz erfüllen, die – wie er meinte – „einen großen Teil rein deutscher Distrikte an Dänemark überlassen“ würden und daher „für Deutschland unannehmbar“ seien 74 Bismarck misstraute zutiefst einer plebiszitären Lösung des Nationalitätenproblems, namentlich in der Schleswig-Holstein-Frage Er lehnte sie, als sein politischer Einfluss sie hätte ermöglichen können, rundweg ab und ordnete sie weiterhin seiner preußisch-kleindeutschen Machtpolitik unter Die Forderung nach und der Anspruch auf plebiszitäre Selbstbestimmung nationaler Minderheiten hat erst mit den Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg 71

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Bismarck und die Nordschleswigsche Frage 1864–1879 Die Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes zur Geschichte des Artikels V des Prager Friedens Im Auftrage des Auswärtigen Amtes hg v Walter Platzhoff / Kurt Rheindorf / Johannes Tiedje Mit einer historischen Einleitung v Walter Platzhoff, Berlin 1925, 49–51, Nr  320–366, 413–447 Bismarck, Gesammelte Werke (wie Anm  22), Bd  13: Reden 1885–1897 Bearb v Wilhelm Schüssler, Berlin 21930, Nr  67 Sitzung des Deutschen Reichstags 14 3 1885, 22 Karl Dietrich Erdmann, 1864 – Epoche in der deutschen Geschichte, in: Schleswig-Holdsteinischer Heimatbund e V (Hg ), Der deutsch-dänische Frieden von 1864 Gedenkreden zu seinem 125  Jahrestag am 30 Oktober 1989, Kiel 1990, 58 f , 64 – hierzu: Alexander Scharff, Bismarcks Plan einer Volksbefragung im Herzogtum Schleswig, in: ders , Schleswig-Holstein in der deutschen und nordeuropäischen Geschichte Gesammelte Aufsätze (Kieler Historische Studien 6), Stuttgart 1969, 236–250 Wie 1989 ist auch im nächsten Jubiläumsjahr 2014, der 150jährigen Wiederkehr des einschneidenden Epochenjahres im deutsch-dänischen Verhältnis, von Schleswig-Holstein aus das Augenmerk der historischen Erinnerung besonders auf den Frieden gelegt worden Auge u a , Wiener Frieden 1864 (wie Anm  1) Ursächlich und damit maßgeblich hierfür bleibt indes der preußisch-österreichische Krieg gegen Dänmark, der dieses Ende seiner ereignis- und verlaufsgeschichtlichen Entwicklung determinierte, die langfristigen Wirkungen und bleibenden Folgen bestimmte und sein historisches Verständnis wie seine historische Erklärung, Einordnung und Beurteilung erst angemessen zu erschließen vermag Bismarck, Werke Bd  4, (wie Anm  67), 446

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aufgrund der Pariser Vorortverträge allgemeine staats- und völkerrechtrechtliche Geltung erhalten, war aber in seiner ethnischen Variante als Volksbefragung nicht völlig präzedenzlos So hatte die Bundesversammlung infolge der Märzrevolution am 22 4 1848 auf Antrag Preußens den sogenannten „Westgürtel“ der Provinz Großherzogtum Posen in den Deutschen Bund aufgenommen, dessen Grenze durch die Ziehung einer ethnischen Demarkationslinie zwischen der mehrheitlich deutsch- und polnischsprachigen Bevölkerung ermittelt worden war Diese war jedoch, obwohl sie die deutsche Seite bereits begünstigt hatte, schon kurz darauf am 2 5 1848 durch die zusätzliche Aufnahme des zur Hauptsache von polnischer Bevölkerung bewohnten Gebietes mit Stadt und Festung Posen von der Bundesversammlung aus Gründen der militärischen Sicherheit revidiert und damit als mögliche nationale Grenze zwischen Deutschen und Polen hinfällig geworden Nach Festlegung der endgültigen Demarkationslinie am 5 12 1848 war schließlich ein großzügig arrondiertes gemischtsprachiges Westterritorium entstanden und ein größtenteils polnisch besiedeltes schmales Ostterritorium für eine künftige staatliche Wiederherstellung Polens übriggeblieben Die in der Paulskirche tagende verfassunggebende deutsche Nationalversammlung hat die von der Bundesversammlung sukzessive vollzogene Inkorporation des Westterritoriums in einer Abstimmung insgesamt übernommen 75 1867 hatte Bismarck das Ideal-, Optimal- und Maximalziel seiner Schleswig-Holstein-Politik erreicht und damit zugleich auch die Voraussetzungen für die intendierte Borussifizierung der Herzogtümer geschaffen, in deren Verlauf die deutschsprachigen „up ewig Ungedeelten“ nunmehr tatsächlich Preußen werden sollten Im Unterschied dazu haben die Dänen – um Steen Bo Frandsen zu zitieren – sich nicht mit dem Verlust ihres historischen Herzogtums Schleswig abfinden können und ihn wie „eine offene Wunde“ empfunden, die es ihnen unmöglich gemacht habe, „Krieg und Niederlage zu vergessen “76 Bismarcks Entschiedenheit, das dänischsprachige Nordschleswig nicht an Dänemark abzutreten, war vor allem machtpolitisch-militärisch, aber – zumindest sekundär – u a auch ethnisch-national begründet Am 24 September 1867 erklärte er im Reichstag des Norddeutschen Bundes: „Wohnten sämtliche Dänen in einem an der dänischen Grenze belegenen Landstriche und sämtliche Deutsche diesseits, so würde ich es für eine falsche Politik halten, diese Sache nicht mit einem Strich zu lösen und den rein dänischen Distrikt an Dänemark zurückgeben “ Die eigentliche Schwierigkeit liege indes „in der Mischung der Bevölkerung, nämlich „darin, daß wir Dänen nicht an Dänemark zurückgeben können, ohne ihm Deutsche mitzugeben“ 77 Dieses

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Günter Wollstein, Das „Großdeutschland“ der Paulskirche Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, 114–135 Steen Bo Frandsen, Klein und national Dänemark und der Wiener Frieden 1864, in: Der Wiener Frieden 1864 (wie Anm  1), 235 f Bismarck, Erinnerungen (wie Anm   44), 7 Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes 24 9 1867, 388 f

Schleswig-Holstein im Norddeutschen Bund

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Problem hätte sich nur durch den hypothetischen, aber – angesichts der historischpolitischen Realität – illusionären Verzicht auf das Nationalstaatsprinzip und damit auf die Kongruenz von Staatsangehörigkeit und Nationalität, von Staat und Nation, lösen lassen Und es blieb auch noch nach der Volksabstimmung über die deutsch-dänische Staatsgrenze nach dem Versailler Vertrag weiterhin virulent Die neue Grenze entsprach zweifellos der generellen Forderung nach plebiszitärer Trennung beider Nationalitäten Sie deckte sich im Wesentlichen mit der seit der Reformation herausgebildeten Scheidelinie zwischen dänischer und deutscher Kultursprache, hatte nunmehr aber, vor allem in den Städten Nordschleswigs, eine deutsche Minderheit in Dänemark zurückgelassen Und so war auch sie von Anbeginn der Forderung nach Revision ausgesetzt Wie die Annexion Schleswigs 1867 war auch das Plebiszit 1920 mit der politischen Forderung verbliebener nationaler Minderheiten verbunden, mit dem jenseits der Grenze liegenden Muttervolk und Vaterland wiedervereinigt zu werden Das ethnische Nationalitäts- und Nationalstaatsprinzip folgt dem objektiven Kriterium der Sprache und ermittelt die Grenze auf demoskopischem Wege, das plebiszitäre folgt dem voluntativ-demokratischen der nationalen Selbstbestimmung Beide stimmten konkret hinsichtlich einer entsprechenden völkerrechtlichen Grenzziehung zwischen dem Königreich Dänemark und dem Deutschen Reich im Wesentlichen überein und liefen auf eine prinzipiell identische Teilung des Herzogtums Schleswig nach beiden Nationalitäten hinaus Die Forderung der dänischen Nationalliberalen nach der Eidergrenze wie die preußische Annexionspolitik folgten dagegen dem territorialen Prinzip und forderten jeweils das gesamte historische Herzogtum Schleswig Die dänischen Sprachreskripte nach Beendigung der revolutionären Verselbständigung der Herzogtümer durch Wiederherstellung des dänischen Gesamtstaats und die preußischen Sprachverfügungen in der neuen Provinz Schleswig-Holstein dienten der Absicht, die eigene nationale Position gegenüber der andersnationalen Minderheit zu festigen und zu stärken, wenn nicht auszudehnen, und führten daher nur zur Verschärfung und Vertiefung des nationalen Gegensatzes Erst die systematisch-prinzipielle Trennung von Nationalität und Staatsbürgerschaft und die Erhebung des Bekenntnisses zu einer nationalen Minderheit in den Rang eines – der Glaubensfreiheit korrespondierenden – Grundrechts der persönlichen Freiheit durch das internationale Minderheitenrecht hat hierin einen grundlegenden Wandel geschaffen Es war aus der Friedensordnung der Pariser Vorortverträge nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen, um die in ihnen begründeten minderheitenrechtlichen Bestimmungen in internationalen Verträgen verbindlich zu regeln Von besonderer Bedeutung für die einschlägigen Bestimmungen des Vertrags von Versailles war das deutsch-polnische Abkommen von 1922 über Oberschlesien, das wiederum – wenn auch nur zögerlich – von der Preußischen Staatsregierung zur Regelung des Schulwesens für die polnische und die dänische Minderheit herangezogen worden ist Aus einem speziellen Erlass für das Grenzgebiet des Regierungsbezirks Schleswig sind Formulierungen in die Kieler Erklärung der schleswig-holsteinischen

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Landesregierung unter dem Ministerpräsidenten Bruno Diekmann am 26 September 1949, mithin schon bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, übernommen worden, die den entscheidenden Wendepunkt von deutscher Seite markiert Sie deklarierte das „Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur“ im Sinne der Grundrechte für „frei“ Es dürfe „von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden“ 78 Die Kieler Erklärung war noch von der britischen Besatzungsmacht initiiert worden, ist aus Verhandlungen der schleswig-holsteinischen Landesregierung mit der dänischen Minderheit hervorgegangen und bildete von deutscher Seite die normative Grundlage für die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29 März 1955, die sie gleichsam internationalisierten, ihr bilaterale, verbindliche Geltung und gemeinsame historische Bedeutung verliehen Damit war schließlich nach der räumlichen auch die zeitliche Grenze der kleindeutschen Nationalisierung erreicht, der normative Wandel vom Nationalstaatsprinzip zum europäischen Minderheitenrecht vollzogen und die Überwindung des nationalen Gegensatzes zwischen Dänemark und Deutschland angebahnt 79 Reimer Hansen, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin Publikationen: Zahlreiche Publikationen zur Geschichte Schleswig-Holsteins seit dem Mittelalter sowie zur Zeitgeschichte Das Ende des Dritten Reiches Die deutsche Kapitulation 1945 (1965), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19 und 20  Jahrhundert (MHg 1992); Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzbereich (Hg 1993); Aus einem Jahrtausend historischer Nachbarschaft Studien zur Geschichte Schleswig-Holsteins und Dithmarschens (MHg 2005)

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Eberhard Jäckel (Hg ), Die Schleswig-Frage seit 1945 Dokumente zur Rechtsstellung der Minderheiten beiderseits der deutsch-dänischen Grenze (Dokumente 29), Frankfurt/M /Berlin 1959, 51 Reimer Hansen, Die historischen Wurzeln und die europäische Bedeutung der Kieler Erklärung vom 26 9 1949, in: Heiner Timmermann (Hg ), Die Kontinentwerdung Europas Festschrift für Helmut Wagner zum 65 Geburtstag (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen 72), Berlin 1995, 119–130, wiederabgedruckt in: Hansen, Aus einem Jahrtausend historischer Nachbarschaft (wie Anm  8), 263–276

Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage Kersten Krüger Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 323–347

Abstract: National movements began in the 18th century to develop their identity based on common language, history, culture, and often religion In the beginning they grew, as Johann Gottfried Herder put it, as plants peacefully besides each other in a garden, but becoming stronger in the 19th century they became stronger and mostly intolerant towards competing nations despising them as inferior Their political aim was the formation of national states which lead to conflicts with the elder principle of state formation mostly by dynasties based on inheritance or military actions European dynasties often housed different peoples or rising nations under their sceptres, as for example the empires of Austria and Russia as well as great powers as Prussia and even Denmark Although Denmark could not be regarded as a great power since she had forcedly ceded Norway to Sweden by the peace treaty of Kiel in 1814, she still reigned over a vast territory reaching from the river Elbe in the south, including Denmark up to Spitsbergen/Svalbard, Iceland and Greenland in the North Denmark was a combined state under the crown of the Oldenburg dynasty In the south the duchies of Slesvig and Holstein had been united with the monarchy since the treaty of Ripen in 1460 under the condition that they for ever should be united and never be separated This did not mean an integration, but the duchies should have (and had) an own administration under the German Chancery in Copenhagen The fact that German was the mother tongue of the inhabitants in Holstein and of a part of the inhabitants in Slesvig, Danish the language of a great part – possibly the majority – in Slesvig never caused any serious problem before the rise of nationalism on both sides Nation building claimed nation-states, and from the Scandinavian national movement the political aim was defined that unnaturally united countries should be separated and unnaturally separated countries should be united This did not mean less than the dissolution of the traditional dynastic states and founding of national states instead The German national movement in the duchies soon adopted this idea ad it was first formulated by Jens Uwe Lornsen in his book let from 1830 about the constitution of the duchies As indivisible he wrote Slesvigholsten in one word and claimed that this country should become the most flourishing province of Germany It was clearly

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a separatist programme, which the German national movement may have adhered to, but it totally neglected the identity of the Danish speaking inhabitants of Slesvig The Danish national movement on the other side preferred the integratiion of at least the duchy of Slesvig into the Danish state and demanded that the old border between the Danish monarchy and the German Empire – the river Eider – should be respected In this case the interests of the German speaking inhabitants of Slesvig were not regarded The conflict became serious in the revolutionary year of 1848 In Copenhagen a mass demonstration forced the king to appoint a new government, in which liberal nationalists advanced to ministers German nationalists founded an own government in Kiel and maintained as their reason that the Danish king was unable to reign because of the revolutionary government – admittedly quite an absurd statement War was inevitable Prussia fought quite successfully on the side of the Germans, but had soon to withdraw due to the diplomatic intervention of the great powers, who wanted to maintain the balance of power in northern Europe Thus the Danish reign over the duchies was restored, but the national conflict was not solved Another Area of problems were the difficulties of the Danish dynasty had difficulties hereditary succession The reigning king, Frederic VII (reign 1848–1863), had no direct heir, which gave way to political speculations In Denmark the succession was since 1665 possible in both male and female line, but in the duchies exclusively in the male line, as the German protagonists maintained Their hope rested on the prince of Augustenburg, who might inherit the duchies and thus separate them from the Danish state This, however, would again change the balance of power, in which the great European powers had no interest In the so called first and second London protocols from 1850 and 1852 the existence of the Danish state was guaranteed and the succession on the throne confirmed Denmark on the other hand was obliged not to integrate the duchies into the Danish state But in 1863, when the succession to the throne took place, King Christian IX Confirmed the new Danish constitution by which Slesvig was – contrary to the London protocols – integrated into the Danish state This decision was not prude and turned out as a military suicide For both Prussia and Austria took unitedly the opportunity to wage war against Denmark in 1864 with the result that Denmark had to cede both duchies to the German Confederation She lost about 40 percent of her population and about 60 percent of her fiscal income Slesvig came under Prussian, Holsten under Austrian administration Still, the competition between Prussia and Austria continued and led to the next war, this time between Austria and Prussia By the treaty of peace Austria gave way to the annexation of the duchies to Prussia, but insisted in a special paragraph on Prussia’s promise, that later a referendum in Slesvig should be held in order to establish a new border according to the German and Danish nationalities and their will After some years this paragraph was secretly annulled The Danish and Danish minded inhabitants in the Prussian province Slesvig-Holsten (now written with a hyphen) had to wait until 1920, before they obtained the opportunity to vote by self-determination, to which state they wanted to belong: Denmark or Germany, which the British government had suggested already in 1848 – without success The new border of 1920 is – under national perspective – as just as possible, leaving still minorities on both sides Their rights to autonomy in culture, language and politics were lastly confirmed by the Bonn-Copenhagen-Declaration of 1955 National conflicts finally came to an end

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Nation und Gesamtstaat Dänemark Das unnatürlich Getrennte vereinen, das unnatürlich Vereinte trennen – dieser aus dem späteren Skandinavismus stammende Grundsatz1 (galt und gilt) inhaltlich bei allen Nationalbewegungen seit dem 19  Jahrhundert Er kennzeichnet den Übergang vom pluralistisch-toleranten Nationsbegriff Johann Gottfried Herders2 zum verengten intoleranten Nationalismus, wie ihn im deutschen Bereich etwa Ernst Moritz Arndt3 propagierte Damit gerieten die frühmodernen, meistens dynastisch strukturierten Gesamtstaaten ins Wanken – im Inneren durch das Verlangen nationaler Homogenität und politischer Partizipation, nach außen durch die Forderung neuer, mit der Nation übereinstimmender Grenzen Militärische Konflikte wurden bewusst in Kauf genommen (Abb 1) Bis zum Wiener Kongress war der dänische Gesamtstaat die große Doppelmonarchie Dänemark-Norwegen,4 zu der auch noch Spitzbergen, die Färöer, Island und Grönland sowie ost- und westindische Kolonien gehörten (Abbildung 1) Damit gehörte Dänemark-Norwegen bis in das 19  Jahrhundert zu den flächenmäßig größten Staaten Europas Änderungen im territorialen Bestand brachte der Wiener Kongress Im Kieler Frieden von 18145 ging Norwegen an Schweden verloren, das damit eine Entschädigung für das an Russland abgetretene Finnland erhielt So war der dänische Gesamtstaat auf Kerndänemark mit Schleswig und Holstein beschränkt; das kleine Herzogtum Lauenburg war im Austausch gegen Schwedisch Pommern hinzugekommen Dänemark behielt Island mit den Färöern und Grönland Einen weiteren empfindlichen Verlust erlitt Dänemark 1864 durch den Krieg um Schleswig und Holstein,6 der aus deutscher Sicht zu den Einigungskriegen gehört Mit den Herzogtümern büßte Dänemark zwei Fünftel seines geographischen Gebietes und etwa die Hälfte seiner Steuerkraft ein

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Hans Lennart Lundh, Skandinavismen i Sverige, Stockholm 1951, 32 Kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebauet werden Siegfried Sunnus (Hg ), HerderLesebuch zum 250 Geburtstag, Frankfurt am Main [u a ] 1994, 268 f Was ist des Deutschen Vaterland? / So nenne mir das große Land! / So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es sein! / … / Das ist des Deutschen Vaterland,  / Wo Zorn vertilgt den wälschen Tand,  / Wo jeder Franzmann heißet Feind,  / Wo jeder Deutsche heißet Freund –/Das soll es sein! http://freiburger-anthologie ub uni-freiburg de/ fa/fa pl?cmd=gedichte&sub=show&noheader=1&add=&id=603; http://www burschenschaft de/uploads/media/studentika_flugblatt_arndt pdf Hier die antifürstliche 6 Strophe von 1814 (24 05 2017) Allgemein: Robert Bohn, Dänische Geschichte, München 22010 Ole Feldbæk, Danmarks historie, Kopenhagen 22014 Zum 19   Jahrhundert siehe: Claus Bjørn, Fra reaktion til grundlov 1800–1850 Danmarks historie Bd  10, Kopenhagen 2003 Kristian Hvidt, Det folkelige gennembrud 1850–1900 Danmarks historie Bd  11, Kopenhagen 2004 Sonja Kinzler (Hg ), Der Kieler Frieden 1814 Ein Schicksalsjahr für den Norden, Neumünster/Hamburg 2013 Jan Ganschow / Olaf Haselhorst / Maik Ohnezeit, Der Deutsch-Dänische Krieg 1864 Vorgeschichte – Verlauf – Folgen, Graz 2013

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Abb. 1 Gesamtstaat Dänemark 1864

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Als Herzog von Holstein sowie Graf von Oldenburg und Delmenhorst (bis 1772) hatte der dänische König Sitz und Stimme auf dem Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Nach dem Ende des Reiches 1806 wurde Holstein förmlich in den dänischen Gesamtstaat inkorporiert, aber mit Gründung des Deutschen Bundes 1815 gehörten das Herzogtum Holstein und das Herzogtum Lauenburg als Mitglieder dazu, und ihr Landesherr, der König von Dänemark, hatte ständige Vertreter zum Bundestag in Frankfurt am Main zu entsenden In Kerndänemark absoluter und unumschränkter Herrscher, verfügte der dänische König in seinen deutschen Besitzungen nur über eine durch Bundesrecht beschränkte Souveränität Hieraus ergaben sich erhebliche verfassungsrechtliche Probleme, insbesondere durch das Versprechen im Artikel 13 der Bundesakte: In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden Diese Verpflichtung bedrohte die Einheit des dänischen Gesamtstaates, weil der König in Lauenburg die bestehende Repräsentation von Ritter- und Landschaft anerkennen, in Holstein eigentlich eine neue gewähren musste, nicht hingegen in Schleswig oder Dänemark Damit gefährdete die Mitgliedschaft des dänischen Königs im Deutschen Bund entweder die Einheit des Gesamtstaates oder den Absolutismus – je nachdem, ob nur die deutschen oder alle Teile der Monarchie eine Repräsentativverfassung erhielten Geschickt nutzte die Fortwährende Deputation der Schleswig-Holsteinischen Prälaten und Ritterschaft die für Holstein bestehende Frage einer landständischen Verfassung aus, indem sie – vorbereitet seit 1816 von Friedrich Christoph Dahlmann7 – 1822 vor der Bundesversammlung in Frankfurt am Main Klage gegen den dänischen König erhob und die Wiederherstellung der in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassung – so ergänzend Artikel 56 der Wiener Schlussakte von 1820 – verlangte, und zwar für Holstein und Schleswig Im November 1823 beschloss die Bundesversammlung mehrheitlich, daß die alte Verfassung in Holstein in anerkannter Wirksamkeit nicht bestehe und wies die Klage als unstatthaft ab 8 Die Bundesversammlung vermied – korrekt – eine Befassung mit dem dänischen Herzogtum Schleswig Schleswig und Holstein Die Herzogtümer Schleswig – bis 1864 immer unangefochten ein Teil des dänischen Reiches – und Holstein – immer Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Na-

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Reimer Hansen, Friedrich Christoph Dahlmann, in: Deutsche Historiker, Bd   5, Göttingen 1972, 27–53 Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann Eine Biographie, München 2010 Thomas Becker / Wilhelm Bleek / Tilman Mayer (Hgg ), Friedrich Christoph Dahlmann Ein politischer Professor im 19  Jahrhundert, Göttingen 2012 Kersten Krüger, Ripen 1460 und die Landständische Verfassung im europäischen Vergleich, in: Oliver Auge / Burkhard Büsing (Hgg ), Der Vertrag von Ripen 1460 und die Anfänge der politischen Partizipation in Schleswig-Holstein, im Reich und in Nordeuropa, Ostfildern 2012, 23–38, hier 23–27

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tion – schreiben wir seit etwa 150 Jahren mit einem Bindestrich zusammen 9 Dieser Bindestrich hat politische Bedeutung, denn er symbolisiert die Einheit beider nach der vergröberten Formel, beide seien up ewig ungedeelt Schleswig-Holstein war – und ist es zum Teil noch – ein wesentliches Element des deutschen Nationalbewusstseins, das ohne Rücksicht auf den dänischsprachigen Bevölkerungsteil das ganze Herzogtum Schleswig für Deutschland vereinnahmte Die Schleswig-Holstein-Bewegung gehört zur deutschen Einigung im Zeichen von Blut und Eisen, gekennzeichnet durch ein erhebliches Defizit an Demokratie, durch Intoleranz gegenüber sprachlichen und nationalen Minderheiten und durch Bereitschaft zu militärischen Konflikten Damit steht die deutsche Nationalbewegung in einem Kontrast zur defensiven dänischen und zu den skandinavischen Nationalbewegungen Die dänische Monarchie besaß im Süden ein eigenes Herzogtum, Schleswig, das im Norden bis zur Königsau, im Süden bis zur Eider reichte In Personalunion war damit das Herzogtum Holstein verbunden, das sich von der Eider im Norden bis zur Elbe im Süden erstreckte Schleswig war immer ein dänisches Lehn, Holstein ein deutsches Verbunden wurden beide Länder 1460 in Personalunion mit der Wahl eines gemeinsamen Landesherrn durch den Landtag: Adel, Geistlichkeit und Städte Dieses war eine staatsbildende Großtat des schleswig-holsteinischen Landtages, welcher dem fürstlichen Willen zu Landesteilungen weit überlegen war Im Vertrag von Ripen wurde die Absicht, das dänische Lehn Schleswig und das deutsche Lehn Holstein zu vereinen, in der Formel dat se bliwen ewich tosamene ungedeelt festgehalten 10 Ziel war es, endlich für friedliche Verhältnisse zu sorgen und damit für die Möglichkeit zum inneren Landesausbau, zur Freizügigkeit von Menschen und Ressourcen Diese Freizügigkeit der Menschen führte zu Wanderungen Deutscher nach Schleswig, zum einen zogen holsteinische Adlige nach Schleswig und nahmen Güter ein, zum anderen begaben sich deutsche Kaufleute und Handwerker nordwärts, die dann ihre Sprache und Kultur mitnahmen Aber bis ins 19  Jahrhundert spielten diese sprachlichen Unterschiede keine oder kaum eine politische Rolle Die Revolution 1848 und die Folgen Die dramatischen Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 setzten einen besonderen Konflikt in der Auseinandersetzung zwischen Schleswig-Holsteinern und Dänen in Gang Die ursprünglich gemeinsame liberale Bewegung wurde durch nationale Gegensätze aufgeladen, die sich dem Widerspruch zwischen Staatsbildung und Nationsbildung 9 10

Otto Brandt, Geschichte Schleswig-Holsteins Ein Grundriß, Kiel 71976 Ulrich Lange, Geschichte Schleswig-Holsteins Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Neumünster 22003 Troels Fink, Geschichte des schleswigschen Grenzlandes, Kopenhagen 1958 Neueste Beiträge in Oliver Auge / Burkhard Büsing (Hgg ), wie Anm  7

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zuordnen lassen Die erwähnte politische Forderung, das unnatürlich Getrennte zu vereinen das unnatürlich Vereinte zu trennen, spielte in der Auseinandersetzung um Schleswig-Holstein eine wichtige Rolle Bei konsequenter Berücksichtigung dieses nationalstaatlichen Grundsatzes wäre es vergleichsweise leicht gewesen, eine neue Grenze entsprechend dem Willen der Bevölkerung zu ziehen, wie es 1920 – also sehr spät  – endlich geschah Doch fand dieser seit 1832 wiederholt erörterte Vorschlag11 keine allgemeine Billigung, weil beide Seiten – die national-schleswig-holsteinische wie die national-dänische – Argumente und Prozesse der Staatsbildung mit denen der Nationsbildung vermischten und damit das Konfliktpotential steigerten Verlangten die Schleswig-Holsteiner die Unteilbarkeit der Herzogtümer bis zur innerdänischen Grenze an der Königsau, beharrten die Dänen auf der Reichsgrenze an der Eider – jeweils ohne Rücksicht auf die Bevölkerung und ihre nationale Zugehörigkeit, die sich ganz wesentlich über die Sprache definierte Dieses mag und muss befremden, weil hierbei der liberale Grundsatz, den Willen des Volkes zu respektieren und auch zu befragen, leichtfertig aufgegeben wurde Die Februarrevolution in Paris 1848 löste eine Kette von Revolutionen in Europa aus Sie folgten einem weitgehend übereinstimmenden Muster Im Frühjahr 1848 gab es wiederholt sogenannte Volksversammlungen oder Bürgerversammlungen; hier zeigte sich das vom Bürgertum entwickelte Vereinswesen als tragendes Element Handwerker begannen sich zu beteiligen Gemeinsam wurden liberale Forderungen erhoben Demonstrationen und revolutionäre Unruhen führten zur Entlassung alter und zur Berufung neuer Regierungen Diese erfüllten die liberalen Forderungen durch Erlass neuer Verfassungen Die alten Mächte hielten sich zurück und wagten vorerst nicht, militärische Gewalt einzusetzen Abschließenden Erfolg brachte die Wahl eines neuen Parlamentes mit demokratischer Legitimation, welches eine neue Verfassung oder ein Grundgesetz endgültig verabschiedete Dieses Muster stimmt auch für Dänemark12 und Schleswig-Holstein: fast zeitgleich und auf den Tag genau vollzogen sich die Ereignisse In Kopenhagen fand am 11 März eine Volksversammlung im sogenannten Casino statt, einem bürgerlichen Club, der nicht weniger als 2 300 Plätze hatte Die Teilnehmer hatten Eintritt zu zahlen; nach heftiger Diskussion beschlossen sie die typischen Forderungen: neue Regierung, neue Verfassung, neues Parlament durch freie Wahlen Am Tag darauf versammelten sich die Handwerker in ihrem Lokal, dem sogenannten Hippodrom – scherzhaft bezeichneten sie sich als Hippodromedare Diese Volksver-

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Emil Elberling, Historique de l’idée d’un partage du Slesvig, in: Franz de Jessen (Hg ), Manuel historique de la question du Slesvig Documents, cartes, pièces justificatives et renseigenementes statistiques, Copenhague 1906, 136–154 Dänische Ausgabe: Franz von Jessen (Hg ), Haandbog i det nordslesvigske Spørgsmaals Historie Dokumenter, Aktstykker, Kort og statistiske Oplysninger vedrørende Sønderjylland, Kopenhagen 1901 Claus Bjørn (wie Anm  4)

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sammlung schloss sich den bürgerlichen Forderungen an unter der Bedingung, dass das neue Wahlrecht frei und allgemein sein, also den Handwerkern ebenfalls politische Mitbestimmung gewähren solle Das Casino stimmte zu Neun Tage später, am 21 März zog das Volk von Kopenhagen – es waren rund 15 000 Personen – von der Stadtmitte aus vor das Schloss Christiansborg und verlangten vom König Friedrich VII ultimativ die Entlassung des alten Ministeriums und die Berufung einer neuen Regierung Der König erschien auf dem Balkon und gab sogleich nach So erwies sich die Revolution in Kopenhagen als eine friedliche Demonstration mit günstigem Ausgang Der neuen Regierung unter dem Konservativen Adam Wilhelm Moltke13 gehörten auch liberale Heißsporne wie Orla Lehmann14 und Lauritz Nicolai Hvidt15 an Es wurden Wahlen ausgeschrieben, die im Oktober 1848 stattfanden Die neue Reichsversammlung wirkt in ihrer Zusammensetzung noch etwas altväterlich: 38 Abgeordnete waren vom König ernannt und 114 nach allgemeinem Wahlrecht (Männer über 30 Jahre) gewählt Sie verabschiedete endgültig am 5 Juni 1849 das dänische Grundgesetz, das Grundlov, welches  – mit gewissen Modifikationen,16 besonders im Wahlrecht – bis heute gültig ist Mit gutem Grund in der Kontinuität der Verfassungsentwicklung ist der 5 Juni der dänische Nationalfeiertag Anders ging es in Schleswig und Holstein zu Am 18 März 1848, also ein wenig später, als in Kopenhagen versammelte sich das Volk in Rendsburg und erhob liberale und zugleich nationale antidänische Forderungen Hier setzte sich die deutschgesinnte Schleswig-Holstein-Bewegung durch, indem sie die Aufnahme des Herzogtums Schleswig in den Deutschen Bund verlangte 17 Geschickt verdrängte sie aus dem deutschen politischen Bewusstsein, dass Schleswig nie ein Teil des Heiligen Römischen Reiches, ebenso wenig des Deutschen Bundes gewesen war Der nationale Konflikt war programmiert In der Nacht vom 23 auf den 24 März 1848 ernannte sich in Kiel eine sogenannte Provisorische Regierung selber im Namen des angeblich unfreien Landesherren Sie vereinigte alle politischen Strömungen Unter dem nationalliberalen Präsidenten,

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Povl Engelstoft, A W Moltke, in: Dansk Biografisk Leksikon, Kopenhagen 31979–84 http://densto redanske dk/index php?sideId=294423 (12 09 2017) Hans Jensen / Helge Larsen, Orla Lehmann, in: Dansk Biografisk Leksikon, Kopenhagen 31979–84 http://denstoredanske dk/index php?sideId=293466 (12 09 2017) Christian Degn, Orla Lehmann und der nationale Gedanke: Eiderstaat und nordische Einheit, Neumünster 1936 Harald Jørgensen, L N Hvidt, in: Dansk Biografisk Leksikon, Kopenhagen 31979–84 http://densto redanske dk/index php?sideId=291659 (12 09 2017) Orla Lehmann, Danmarks Riges gjennemsete Grundlov af 5te Juni 1849, Kopenhagen 1865 Alexander Scharff, Wesen und Bedeutung der schleswig-holsteinischen Erhebung 1848–1850, Neumünster 1978

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Wilhelm Beseler,18 gehörten ihr Konservative wie Graf Friedrich Reventlou-Preetz19 und der augustenburgische Prinz Friedrich von Noer20 an, aber auch Demokraten wie Theodor Olshausen21 Die Deklaration der Aufstandsregierung lautete: Unser Herzog ist durch eine Volksbewegung in Kopenhagen gezwungen worden, seine bisherigen Rathgeber zu entlassen und eine feindliche Stimmung gegen die Herzogthümer einzunehmen Der Wille des Landesherrn ist nicht mehr frei und das Land ohne Regierung 22 Deutlich sind ganz unliberale Argumente erkennbar, unter anderem die Fiktion, dass ein Monarch durch eine Volksbewegung unfrei werde Die Provisorische Regierung – aus dänischer Sicht eine Aufrührerregierung – ließ Rendsburg besetzen und holte die Preußen ins Land Wiederholt wurde die Aufnahme Schleswigs in den Bund beantragt, welche das Paulskirchenparlament bereitwillig genehmigte und damit die Rücksicht der Bundesversammlung auf die alte Reichsgrenze an der Eider aufgab Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen die zunächst – solange die Preußen mitkämpften – für die Schleswig-Holstein-Bewegung erfolgreich waren Allerdings wurde im Waffenstillstand von Malmö im August 1848 die militärische Intervention zurückgenommen, und es kam zur Bildung einer neuen schleswigholsteinischen Regierung, die Dänemark und Preußen gemeinsam einsetzten Die noch Ende Juli 1848 gewählte Verfassungsgebende Landesversammlung verabschiedete in Eile  – während der Laufzeit des Waffenstillstandes von Malmö  – eine neue Verfassung, das Staatsgrundgesetz für Schleswig-Holstein vom 9 September 23 Das war über ein halbes Jahr früher als in Dänemark Die kriegerischen Konflikte lebten im Jahre 1849 wieder auf und kamen endlich im Jahr 1850 mit dem Berliner Frieden wie auch schließlich mit der Punktuation von Olmütz im November zum Ende Die politischen Verhältnisse wurden zurückgesetzt auf den Stand vor den Auseinander-

18 19 20

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Herbert Beelte, Beseler, Casy Hartwig, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Band 2, Neumünster 1971, 56 Manfred Jessen-Klingenberg, Reventlou, Friedrich Graf von, in: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck, Band 7, Neumünster 1985, 190–194 H P Clausen / Axel Heils, Frederik, Friedrich Emil August, prins, in: Dansk Biografisk Leksikon, Kopenhagen 31979–84 http://denstoredanske dk/index php?sideId=289658 (12 09 2017) Friedrich von Noer, Aufzeichnungen des Prinzen Friedrich von Schleswig-Holstein-Noer aus den Jahren 1848 bis 1850, Zürich 1861 Lorentzen, Olshausen, Theodor, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Band 24, Leipzig 1887, 330–338 Martin Rackwitz, Märzrevolution in Kiel Erhebung gegen Dänemark und Aufbruch zur Demokratie, Heide 2011, 209–211 Otto Brandt / Karl Wölfle, Schleswig-Holsteins Geschichte und Leben in Karten und Bildern Ein Nordmark-Atlas, Altona/Kiel 1928, 90 Faksimile: https://upload wikimedia org/wikipedia/commons/ 9/93/Aufruf_der_provisorischen_Regierung_vom_24 _März_1848 jpg (12 09 2017) Staatsgrundgesetz für die Herzogthümer Schleswig-Holstein vom 15 September 1848 http:// www verfassungen de/sh/verfassung1848-i htm (20 05 2017) Hans-Georg Skambraks, Die Entstehung des Staatsgrundgesetzes für die Herzogtümer Schleswig-Holstein vom 15 September 1848, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 84/1960, 121–208; 85/1961, 131–242

332

Kersten Krüger

setzungen, das heißt Dänemark erhielt seine alten Rechte zurück 24 Das freiheitliche Staatsgrundgesetz Schleswig-Holsteins wurde aufgehoben, während auf der anderen Seite in Kerndänemark das Grundlov fortbestand Die dynastischen Probleme des dänischen Königshauses fanden durch internationale Abmachungen  – den Londoner Vertrag von 1852 – ihre Regelung Die Thronfolge sollte für Dänemark und Schleswig und Holstein identisch sein, um den dänischen Gesamtstaat im Interesse des europäischen Gleichgewichts in seinem Bestand zu sichern, allerdings unter der Bedingung, dass die staatsrechtliche Sonderstellung der Herzogtümer unangetastet blieb Als nach dem Tod König Friedrichs VII im November 1863 sein Nachfolger Christian IX  – in geradezu leichtfertiger Verkennung der europäischen Machtverhältnisse – sogleich die dänische „Novemberverfassung“ in Kraft setzte, welche eben diese Sonderstellung beseitigte, brach der Konflikt wieder auf Die Bundesversammlung in Frankfurt beschloss Anfang Dezember 1863 die Exekution gegen Holstein und ließ sie durch Österreich und Preußen durchführen Nach dem Sieg über Dänemark herrschte Unsicherheit über die Zukunft der eroberten Herzogtümer Holstein und Schleswig, aber schon am Sylvesterabend 1863 setzte der preußische Ministerpräsident Bismarck sein Ziel: Die ‚up ewig Ungedeelten‘ müssen einmal Preußen werden … ich könnte nicht verantworten, preußisches Blut vergießen zu lassen, um einen neuen Mittelstaat zu schaffen, der am Bunde mit den andern immer gegen uns stimmen würde 25 Mit dem deutsch-deutschen Krieg gegen Österreich erreichte er dieses Ziel Die Belange der dänischsprachigen und dänisch gesinnten Bevölkerung im Herzogtum Schleswig blieben unbeachtet Zwar äußerte Bismarck im Oktober 1864 gegenüber dem dänischen Journalisten Jules Hansen,26 es sei kein Unglück, wenn Nordschleswig zu einem gegebenen Zeitpunkt an Dänemark restituiert würde, und führte am 20 Dezember 1866 vor dem preußischen Abgeordnetenhaus aus: Ich bin stets der Meinung gewesen, daß eine Bevölkerung, die dauernd und in wirklich zweifellos manifestirtem Willen nicht preußisch oder deutsch sein will, die in zweifellos manifestirtem Willen einem unmittelbar angrenzenden Nachbarstaate ihrer Nationalität angehören will, keine Stärkung der Macht bildet, von welcher sie sich zu trennen bestrebt ist 27 Aber das blieben bis 1920 leere Formeln

24 25

26 27

William Carr, Schleswig-Holstein 1815–48 A Study in National Conflict, Manchester 1963 Zitiert nach: Jens-Owe Petersen, Schleswig-Holstein 1864–1867 Preußen als Hoffnungsträger und „Totengräber“ des Traums von einem selbständigen Schleswig-Holstein, Diss Kiel 2000, 22 Digitale Version: http://d-nb info/969952732/34http://d-nb info/969952732/34 (14 09 2017) Vgl auch: Klaus Malettke, (Hg ), Die Schleswig-Holsteinische Frage 1862–66, Göttingen 1969, 36 Fr de Fontenay / Viggo Sjøqvist, Jules Hansen, in Dansk Biografisk Leksikon, Kopenhagen 31979– 84 http://denstoredanske dk/index php?sideId=290697 (13 09 2017) Stenographische Berichte über die Verhandlungen … des Landtages Haus der Abgeordneten Dritter Band, Berlin 1866/1867, 1306 Vgl auch Wilhelm Böhm (Hg ), Fürst Bismarck als Redner Teil 3: Die Begründung des Norddeutschen Bundes 1866–1867, Berlin/Stuttgart [1886], S 55 f

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Dynastie Königreiche hängen wesentlich von der Stabilität der Dynastie ab Diese war im alten Europa keineswegs selbstverständlich Im Gegenteil, Helmut Koenigsberger hat einmal berechnet, dass eine Dynastie in der europäischen Geschichte nur ungefähr eine Chance von 50 Prozent hatte, die Nachfolge ohne Probleme zu schaffen, also beim Ableben eines Monarchen rechtzeitig einen körperlich und geistig gesunden erwachsenen, meistens männlichen Thronfolger zu stellen Bessere Chancen bestanden bei männlicher wie weiblicher Thronfolge, wie sie in Dänemark seit 1660 galt An der Thronfolge entzündete sich heftiger Streit, als die männliche Erbfolge nach König Friedrich VII nicht mehr gesichert war Es ging darum, ob die in Dänemark zweifellos gültige weibliche Erbfolge auch im Herzogtum Schleswig und im Herzogtum Holstein gelten könne Als Präzedenz für die Argumentation diente England in seiner Personalunion mit Hannover Als Königin Victoria den englischen Thron aufgrund weiblicher Erbfolge bestieg, musste England auf das Königreich Hannover verzichten und die seit 1714 bestehende Personalunion auflösen In Dänemark hatte es seit der Wahl Christians I aus dem Haus Oldenburg zum dänischen König 1448 und 1460 zum Herzog von Schleswig und Holstein eine bemerkenswerte dynastische Stabilität gegeben Bis zu Friedrich VI , der 1839 starb, konnte die Oldenburger Dynastie ununterbrochen rechtzeitig normale Nachfolger präsentieren Erst Friedrich VI hatte familiäres Pech, weil sein Sohn zu früh starb, während seine Töchter überlebten Die Fortführung der Dynastie sicherte sein Neffe, Christian VIII der bis 1848, bis an den Beginn der Revolution lebte Seine Nachfolge wurde akzeptiert, ebenso die seines Sohnes, den er glücklicherweise hatte: Friedrich VII Dieser jedoch blieb trotz dreier Ehen kinderlos, und daraus ergaben sich Probleme in Dänemark einerseits, Schleswig und Holstein andererseits Für Dänemark galt unbestritten die in der Lex Regia von 166528 festgesetzte männliche und weibliche Thronfolge Hier wurde ein Register der Dynastie geführt, aus dem sich die Nachfolge jederzeit ablesen ließ Galt diese Erbfolgeregelung auch für Schleswig und Holstein? Darum ging der Streit, wobei es – zugegeben aus der Sicht der Schleswig-Holstein-Bewegung – weniger um Erbrecht ging als um die Chance, mit seiner Hilfe die Einheit des dänischen Gesamtstaates zu zerstören Als allein berechtigter männlicher Nachfolger als Herzog von Schleswig-Holstein fühlte und gab sich Prinz Friedrich von Noer Um die aus dänischer Sicht hingegen für Schleswig und Holstein behauptete männliche Erbfolge für den als Nachfolger König Friedrichs VII vorgesehenen Christian IX , nachzuweisen, musste man schon sehr lange suchen, bis man auf einen gemeinsamen Urahnen kam: 28

Kersten Krüger, Absolutismus in Dänemark – ein Modell für Begriffsbildung und Typologie Mit zwei Beilagen: Erb- und Alleinherrschafts-Akte 1661 und Lex Regia 1665 in der Übersetzung von Theodor Olshausen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 104/1979, 171–206

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dieses war Christian III , der im 16  Jahrhundert lebte Von ihm führte eine Verbindung über Johann den Jüngeren von Sonderburg und viele Generationen in männlicher Linie zu Christian IX 29 Aber im 19  Jahrhundert war die familienbedingte Erbfolge im Grunde unwichtig geworden, vielmehr kam es darauf an, wie die internationale Staatengemeinschaft das regelte Letztlich lag es im Interesse und auch in der Hand der europäischen Staaten, in Dänemark wie auch in Schleswig und Holstein Ruhe durch anerkannte dynastische Erbfolge auf dem Thron zu gewährleisten Es gehörte zum – übrigens sehr erfolgreichen – Konzept der europäischen Sicherheit, dass es über die Dynastien möglichst keine Probleme geben sollte Daher erklärt sich die schon erwähnte Anerkennung der Erbfolge der dänischen Dynastie sowohl in Dänemark wie in Holstein und Schleswig aus internationalem Interesse Die nationale SchleswigHolstein-Bewegung nahm dagegen die männliche Erbfolge als Vorwand, um Schleswig und Holstein aus dem dänischen Gesamtstaat herauszulösen und Deutschland einzuverleiben Den seit längerem schwelenden Streit um das dynastische Erbrecht hatte ungewollt Christian VIII in einem Offenen Brief im Jahre 1846 noch verschärft, in dem er die Thronfolge als vollkommen geregelt darstellte, aber Unsicherheiten für einige Gebiete Holsteins zugestand: Nachdem das Ergebnis dieser Untersuchung Uns in unserem Geheimen Staatsrat alleruntertänigst vorgetragen und von Uns erwogen worden ist, haben wir darin die volle Bekräftigung gefunden, daß gleicherweise wie über die Erbfolge in Unserem der Krone Dänemark durch Verträge erworbenen Herzogtum Lauenburg kein Zweifel obwalte, so auch die gleiche Erbfolge des Königs-Gesetzes im Herzogthum Schleswig in Gemäßheit des Patents vom 22ten August 1721 und der darauf geleisteten Erbhuldigung sowie … in Folge der von England und Frankreich ausgestellten Garantieakte vom 14ten Junius und 23ten Julius 1721 und der mit Rußland geschlossenen Verträge vom 22ten April 1767 und 1sten Junius 1773 in voller Kraft und Gültigkeit besteht … Dagegen hat die angestellte Untersuchung ergeben, dass mit Rücksicht auf einzelne Theile des Herzogthums Holstein Verhältnisse obwalten, welche Uns verhindern Uns mit gleicher Bestimmtheit über das Erbrecht Unserer sämtlichen Königlichen Erbsuccessoren an diesem Herzogthum auszusprechen Während Wir indessen … die allergnädigste Versicherung ertheilen, dass Unsere unablässigen Bestrebungen auch fernerhin darauf gerichtet sein werden, die zur Zeit vorhandenen Hindernisse zu beseitigen und die vollständige Anerkennung der Integrität des Dänischen Gesammt-Staats zu Wege zu bringen 30

Nicht nur die Zeitgenossen, auch Historiker – deutsch oder dänisch gesinnte – haben heftig über den Offenen Brief und die Gültigkeit der Erbfolge des Königsgesetzes von 29 30

Alexander Scharff, Schleswig-Holsteinische Geschichte, Feiburg 21984, S 38 Otto Brandt / Karl Wölfle (wie Anm  22), 90 Faksimile: https://picclick de/FAKSIMILE-um1900-Offener-Brief-König-Christian-VIII-162266603435 html#&gid=1&pid=1 (12 09 2017)

Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage

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1665 gestritten Ein echter Grund für die Auflösung des dänischen Gesamtstaates ließ sich jedoch aus den dynastischen Fragen nicht ableiten Wie schon im 18 so waren auch im 19  Jahrhundert die internationalen Garantien der Kontinuität in staatlicher Existenz wichtiger als die Zufälligkeiten einer Familie Partizipation Zu den strukturellen Bedingungen des dänischen Gesamtstaates gehört, wie bei allen Staaten die Verfassung Sie verdient besonderes Interesse Dänemark war seit dem Herbst 1660 ein absolutistisch regiertes Land, eigentlich das absolutistischste Reich in ganz Europa, denn den Absolutismus hatte der dänische Reichstag durch förmlichen Beschluss eingeführt und sich selber damit abgeschafft Der dänische Absolutismus wurde durch das Königsgesetz (Kongeloven) oder die Lex Regia 1665 festgeschrieben Dieses war die einzige geschriebene absolutistische Verfassung Europas, zudem außerordentlich langlebig: sie galt bis zum 22 März 1848 Bis dahin war der dänische König absoluter Monarch, losgelöst von allen Mitbestimmungsrechten seiner Untertanen Im Widerspruch zu seiner unbeschränkten Souveränität war dieser absolutistische König als Herzog von Holstein Mitglied im Heiligen Römischen Reich und später im Deutschen Bund an die Beschlüsse des Reichstages und Bundestages gebunden Während er also in Kerndänemark absolut regierte, hatte er sich für das Herzogtum Holstein nach Bundesrecht zu richten Besonders unbequem war das Verfassungsversprechen der Bundesakte im Artikel 13 Lange verzögert, war es letztlich unabweisbar, dass in Holstein die absolutistische Regierung in irgendeiner Weise durch Mitbestimmungsrechte der Regierten in einem Frühparlament ergänzt werden musste Strittig blieb, ob ein altständisches oder ein modernes liberales Parlament mit demokratischer Legitimation durch Wahlen einzusetzen sei, aber fest stand die Verpflichtung, für Holstein als Mitgliedsstaat des Deutschen Bundes eine landständische Verfassung zu gewähren Angestoßen durch die Revolution von 1830 erließ der dänische König 1831 das allgemeine Gesetz wegen Anordnung von Provinzialständen 31 Beschränkt auf Holstein, hätte das den dänischen Gesamtstaat in Gefahr bringen können Denn wenn Holstein eine andere Verfassung bekommen sollte als Schleswig und als Dänemark, wäre der erste Schritt zur Loslösung eines Teils des dänischen Gesamtstaates getan Deshalb führte die dänische Regierung außerordentlich geschickt Provinzialstände in ganz Dänemark ein und unterlief damit eben die Gefahr der Auflösung des Gesamtstaates über das Verfassungsversprechen der Bundesakte Es wurden vier Provinzialständeversammlungen eingeführt: in Itzehoe für Holstein, in Schleswig für Schleswig,

31

Allgemeines Gesetz wegen Anordnung von Provinzialständen in den Herzogthümern Schleswig und Holstein von 1831: http://www verfassungen de/de/sh/provinzialstaende1831 htm (13 09 2017)

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in Viborg für Jütland und in Roskilde für die dänischen Inseln 32 Der dänische König gab also im Interesse des Erhalts des Gesamtstaates ein Stück seines Absolutismus auf Ein zentrales Parlament – etwa in der Hauptstadt Kopenhagen – wurde bewusst vermieden Aufkommende Kritik gegen die getrennten Ständeversammlungen in Holstein und Schleswig konnte sich auf den Vertrag von Ripen 1460 allerdings nicht berufen, denn darin waren getrennte Landtage in Bornhöved für Holstein und Urnehöved in Schleswig vorgesehen, wiewohl nie eingerichtet Diese Provinzialstände zeichneten sich durch begrenzte, beratende Funktion in innenpolitischen Dingen aus Dennoch war es der erste Schritt auf dem Wege der Liberalisierung des dänischen Absolutismus mit der Option, aus diesen Provinzialständen eines Tages einmal eine Gesamtrepräsentation, also einen Gesamtreichstag zu machen Auf diesem Weg hätte sich der dänische Gesamtstaat in eine liberale Zukunft bewegen können Doch haben sich diese Provinzialstände unterschiedlich entwickelt, zum einen aufgrund ihrer Zusammensetzung, zum anderen aufgrund ihrer politischen Optionen Die einzelnen Repräsentativversammlungen lassen sich kurz vorstellen Sie waren nicht nur politisch geschickt konstruiert, sondern auch im Hinblick auf die jeweilige Zusammensetzung mit Rücksicht auf die Bevölkerung Ihre Mitglieder waren zum kleineren Teil vom König ernannt, zum überwiegenden Teil nach einem kombinierten Gruppen- und Zensuswahlrecht gewählt Besonderes Interesse verdient die Repräsentation der Bauern und der Städte da sie – im Vergleich zu alteuropäischen, vom Adel dominierten Ständeversammlungen – als Indikator der Modernität gelten kann Die Provinzialstände in Roskilde hatten 70 gewählte Abgeordnete, davon waren 33 Vertreter der Städte (allein 22 aus der Großstadt Kopenhagen) und 20 Bauern, während die Gutsbesitzer nur mit 17 Deputierten vertreten waren Die Provinzialstände von Roskilde hatten mithin die stärkste bürgerliche und die schwächste Repräsentation der Gutsbesitzer (noch überwiegend des Adels), bei sehr starker bäuerlicher Repräsentation Die Bürger hatten zwar nicht die Mehrheit, aber sie bildeten eine ganz starke Fraktion von Liberalen, die den Ton angaben So bewegten sich die Provinzialstände von Roskilde am weitesten in liberaler Richtung und stellten schon früh die Forderung, aus dieser Provinzialständeverfassung eine Gesamtstaatsverfassung mit einem Gesamtparlament zu machen Die Provinzialstände in Viborg für das eher agrarisch konstruierte dänische Jütland ohne Schleswig setzten sich anders zusammen Mit 48 gewählten gab es hier weniger Abgeordnete als in Roskilde Die stärkste Gruppe waren die Bauern mit 22, gefolgt von den Stadtbürgern mit 14 und 12 Gutsbesitzern 32

Hans Jensen, De danske Stænderforsamlingers Historie 1830–1848, 2 Bde , Kopenhagen 1931–1934 Klaus Volquartz, Zum 150 Jahrestag der holsteinischen Ständeversammlung 1 Oktober 1835 – 1  Oktober 1985, Neumünster 1985 Ders , Zum 150 Jahrestag der schleswigschen Ständeversammlung 11 April 1836 – 11 April 1986, Husum 1986 Schleswigsche Ständeversammlung: https://de wikipedia org/ wiki/Schleswigsche_Ständeversammlung (13 09 2017)

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Die dänische Regierung hatte klug auf die soziale Zusammensetzung in der jeweiligen Provinz Rücksicht genommen Das bezieht sich auf Dänemark Die Zusammensetzung der Provinzialstände in Schleswig ähnelte denen in Viborg Zwar wurden mit 34 weniger Abgeordnete gewählt, doch stimmte das Kräfteverhältnis fast überein Den 17 Vertretern der Bauern und 12 Städtern standen nur fünf Gutsbesitzer gegenüber Für Holstein gab es 40 gewählte Abgeordnete in Itzehoe Bauern und Bürger waren mit 16 und 15 Repräsentanten fast gleich stark, während die neun Gutsbesitzer ein größeres Gewicht erlangten als in Schleswig Diese Provinzialstände lassen sich nicht als Spielzeug abtun, sondern waren ein echtes Angebot, eine Chance für liberale Fortentwicklung Die dänischen Provinzialstände in Roskilde und Viborg bewegten sich auch bald in liberalen Bahnen Die Stände in Itzehoe hatten damit wenig im Sinn; sie entwickelten schnell ein deutsches antidänisches Nationalbewusstsein und lösten sich schließlich aus Protest gegen den erwähnten Offenen Brief über die Erbfolge einfach auf Die Provinzialstände von Schleswig hingegen wurden zur Bühne der Auseinandersetzungen um die Nationalität, denn – was meist vergessen wird – die Bevölkerung des Herzogtums Schleswig hatte zur Hälfte nicht Deutsch als Muttersprache, sondern Dänisch und Friesisch Diese bedeutende Gruppe wurde von der Schleswig-Holstein-Bewegung missachtet, vernachlässigt und ausgegrenzt In Schleswig entwickelte sich aus dem deutsch-dänischen Sprachunterschied der nationale Konflikt Noch 1840 beschlossen die Provinzialstände von Schleswig den König zu bitten, Dänisch als Verwaltungssprache einzuführen, weil der überwiegende Teil der Bevölkerung im Herzogtum Schleswig dänischsprachig sei Als die entsprechende Sprachverordnung erging, kam es zur heftigen Reaktion der deutschsprachigen Mehrheit in den Schleswiger Provinzialständen Spektakulär unterstrich daraufhin der liberale Abgeordnete, Peter Hjort Lorenzen seine Forderung nach Gleichberechtigung der dänischen Sprache, indem er 1842 begann, seine Redebeiträge dänisch vorzubringen Vom Vorsitzenden aufgefordert, deutsch zu reden, vermerkt das Protokoll und er fuhr fort dänisch zu reden Als die Sprache der Verhandlungen zum Konfliktfall wurde, hatten nationale Gegensätze die ursprüngliche Einheit der Liberalen zerstört 33 Sprache und Nationalität: Lornsen und Paulsen Sprache ist – neben gemeinsamer Kultur und Geschichte, auch Konfession – ein wesentliches Kennzeichen der Nation Hinzu kommt das politische Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das seit dem ausgehenden 18  Jahrhundert vom Bildungs- und 33

Kurt Hector, Die politischen Ideen und Parteibildungen in den schleswigschen und holsteinischen Ständeversammlungen 1838 bis 1846, Kiel 1935 Hans Schultz Hansen, Danskheden i Sydslesvig 1840–1918 som folkelig og national bevægelse, Flensburg 1990

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Besitzbürgertum entwickelt und verbreitet wurde In diesen Zusammenhang gehört die 1830 in Kiel erschienene Schrift von Uwe Jens Lornsen34 Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein 35 Er war Landvogt auf der Insel Sylt, also Amtsträger in der Selbstverwaltung, hatte in Kopenhagen studiert und war in der Tradition des dänischen Gesamtstaates aufgewachsen Aber nun forderte er über die Verfassungsfrage nichts weniger als die Abtrennung der Herzogtümer Schleswig und Holstein, die er übrigens absichtlich ohne Bindestrich zusammenschrieb Dabei missachtete er zum einen die verfassungsrechtliche Stellung des Herzogtums Schleswig, das nie zum Heiligen Römischen Reich gehört hatte und ebenso wenig zum Deutschen Bund, zum anderen den dänischen Bevölkerungsteil im Norden des Landes Lornsen wollte mit seiner Schrift eine Petitionswelle in Gang setzen, die den dänischen König veranlassen sollte, endlich das Verfassungsversprechen der Bundesakte einzulösen Lornsen schrieb: Der 13te Artikel der Deutschen Bundesakte vom Jahre 1815, worin die sämmtlichen Fürsten Deutschlands ihren Ländern repräsentative Verfassungen zusichern, ist für das Herzogthum Holstein noch nicht in Erfüllung gegangen … und die gegenwärtige Zeit mahnt jeden Staatsbürger, der mit Lauterkeit und Wärme für unser schönes Vaterland Schleswigholstein fühlt, zur Sprache und zur Erörterung zu bringen, was nach seiner Überzeugung im Lande Not tut Eine Trennung des Herzogthums Schleswig von dem Herzogthum Holstein, die durch die vereinzelte Umgestaltung des letzteren in einen constitutionellen Staat und damit in Verbindung stehenden administrativen Einrichtungen desselben in der Hauptsache durchgeführt wäre, ist jedem Schleswigholsteiner schlechthin undenkbar36 Hier also liegt das Verlangen, das dänische Schleswig dem gleichen Verfassungsversprechen zu unterwerfen wie das zum Deutschen Bund gehörende Holstein Nationale Ressentiments bezog Lornsen ein, indem er fortsetzte: Als eine unmittelbare Folge dieser neuern Ordnung der Dinge, würde sich die gänzliche Trennung der Herzogthümer von dem Königreiche Dänemark in administrativer Hinsicht ergeben Zwar haben die Dänen seit Jahren ein Bestreben an den Tag gelegt, uns

34

35 36

Alexander Scharff, Uwe Jens Lornsen – der Mensch und Politiker, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 107/1982, 113–138 Manfred Jessen-Klingenberg, Uwe Jens Lornsen  – ein bürgerlich-liberaler Reformer, in: ders , Standpunkte zur neueren Geschichte SchleswigHolsteins Hrsg v Reimer Hansen und Jörn-Peter Leppien, Malente 1998, 45–54 Johannes Jensen, Uwe Jens Lornsen (1793–1838) diesseits von Mythos und Verklärung Annäherungen an den Menschen und Politiker, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 132/2007, 107–132 Reimer Hansen, Uwe Jens Lornsen diesseits der historischen Realität, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 139/2014, 77–121 Lorenz Rerup: Uwe Jens Lornsen, in: Dansk Biografisk Leksikon 31979–84 http://denstoredanske dk/index php?sideId=293708 (13 09 2017) Uwe Jens Lornsen, Ueber das Verfassungswerk in Schleswigholstein, Kiel 1830 Neudruck Schleswig 1980 Ebd , 3

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mit sich zu einem Volke zu verschmelzen und selbst in den neuesten Zeiten, in welchen bei den Deutschen das Volksgefühl kräftiger wie je sich kund gethan, hat man sich nicht entsehen, uns auf unser Sträuben zuzurufen, wir mögten uns doch freuen lieber etwas, nemlich Dänen, als nichts, nemlich Deutsche zu sein … Aber die Zeit hat gezeigt, und sie wird fernerhin zeigen, dass auch der Deutsche fortan jedes unwürdige Ansinnen mit Nachdruck zurückzuweisen wissen wird Jeder Gedanke an eine Verschmelzung beider unter dem Szepter Sr Majestät vereinigten Völker werde aufgegeben … Nur der König und der Feind sey uns gemeinschaftlich 37 Bei Durchsetzung der desiderirten Reformen werde Schleswigholstein zu der blühendsten Provinz Deutschlands erhoben 38

Das war ein separatistisches Programm; und dafür kam Lornsen ein Jahr ins Gefängnis Danach hatte er ein unruhiges Leben, welches er 1838 beendete Eine klare Gegenposition aus der Sicht der dänischen Bevölkerung in Schleswig bezog Christian Paulsen,39 Professor der Universität Kiel und Verteidiger des dänischen Gesamtstaates In seiner Schrift Ueber Volkstümlichkeit und Staatsrecht des Herzogthums Schleswig aus dem Jahr 183240 antwortete er klug auf die Forderungen von Jens-Uwe Lornsen: Nicht pflichten wir daher dem bekannten Worte bei: Nur der König und der Feind sey uns gemeinschatflich! Nein! Unser Schleswig hat von jeher mehr mit Dänemark gemein; warum sollte es ohne äußeren Zwang künstlich losgerissen werden? Holstein ist jahrhundertelang durch Schleswig mit ihm verbunden gewesen; möge diese Verbindung ein Berührungspunkt des verschiedenen Völkerlebens mit Weisheit und Gerechtigkeit gepflegt werden! Im Kriege wird wenig Gemeinschaft seyn, wenn sie nicht schon im Frieden besteht 41

Korrekt zitierte Paulsen den Ripener Vertrag von 1460 und konnte damit die Forderung nach einem gemeinsamen schleswig-holsteinischen Landtag zurückweisen: Denn in der von Christian I gegebenen Verbeteringhe der Privilegien heisst es: ‚Ok willen wy unde unse nakomelingen … de manschup uthe dem Lande to Holsten to Bornehövede vorboden [= laden], wen des notd is, unde desgeliken an deme Herthuchdome [Schleswig] to Urnehovede ‘ Hierin liegt nur ein Recht auf abgesonderte Landtage; indem die

37 38 39 40

41

Ebd , 10 f Ebd , 12 Paulsen, Paul Detlev Christian, in: Dansk biografisk Leksikon Kopenhagen1887–1905, Bd  12, 588 f Steffenhagen, Paulsen, Paul Detlev Christiani in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd  25, Leipzig 1887, S 286 f Paul Detlev Christian Paulsen, Über Volksthümlichkeit und Staatsrecht des Herzogthums Schleswig nebst Blicken auf den ganzen Dänischen Staat, Kiel 1832 Zitate hier nach: Christian Paulsen, Ueber Volksthümlichkeit und Staatsrecht des Herzogthums Schleswig nebst Blicken auf den ganzen dänischen Staat (Kiel 1832), in: Christian Paulsens gesammelte kleinere Schriften, Bd  2, Kopenhagen 1857, 355–429 Paulsen, Schriften, 428 f

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Stände aus jedem Lande für sich zusammen berufen werden sollen Ich sehe daher nicht ein, wie die Mehrzahl der neueren Schriftsteller, und sogar die Ritterschaft in ihren öffentlichen Erklärungen von einem Rechte der Herzogthümer auf einen gemeinschaftlichen Landtag hat sprechen können Ebenso zutreffend führte er das Versprechen Christians I für beide Länder an, ‚dat se bliven ewich tosamende ungedeelt‘ 42

Bei der rechtlich-historischen Betrachtung blieb Paulsen nicht stehen, sondern ging insbesondere auf die sprachlichen Verhältnisse und berechnete ihre Verteilung Im Anschluss an Herder sagte er: Die Sprache ist ein Heiligtum der Völker Sie ist der nothwendige Ausdruck, die unmittelbarste Aeusserung ihres geistigen Lebens; in ihr spiegelt sich die Eigenthümlichkeit jedes ab Wie unnatürlich nun, wenn die Volksthümlichkeit in ihrer höheren Entwicklung sich eines anderen, als des angeborenen Ausdrucksmittels bedienen muss, wenn der Mann nicht mehr die Sprache seiner Kindheit reden darf, sich wohl gar seiner Muttersprache schämt!43 Als lebendiges Beispiel notierte er: Ein Bauer will mit jemandem einen Vertrag eingehen oder ein anderes Rechtsgeschäft vornehmen, worüber eine schriftliche Ausfertigung durch den Beamten nöthig ist; er verfügt sich zu ihm, spricht sich dänisch über seine Willensmeinung aus, worauf die Urkunde abgefasst wird, aber deutsch Dieses ihm mitgeteilte Papier versteht er nicht, es muss ihm ins Dänische übersetzt werden; oder er geht zum Advocaten, um ihm seine Sache zu übertragen, sie wird unter ihnen dänisch abgehandelt; nach gehöriger Verständigung wird nun im Namen des Bauern eine deutsche Vollmacht entworfen und zu seiner Genehmigung und Unterschrift ihm vorgelegt 44

Paulsen rechnete vor, dass von ungefähr 330 000 Schleswigern 185 000 Dänisch entweder allein oder neben dem Deutschen sprächen, also weit über die Hälfte Die Belange dieses Bevölkerungsteils seien in allen Entwürfen zu berücksichtigen Die nicht zuletzt von Paulsen angeregte Diskussion über die Sprachen führte 1838 zu einer Erhebung mit Darstellung der Verteilung auf einer Karte (Abbildung 2) Diese Sprachenkarte zeigt im Norden klar das Überwiegen der dänischen, im Süden der deutschen Sprache; in einer mittleren Zone zwischen Flensburg und Schleswig mischte sich der Sprachgebrauch An der Westküste wurde Friesisch gesprochen, aber hier gab es keinen Streit um Sprache und Nationalität Die Schleswig-Holstein-Bewegung missachtete immer souverän und mit abschätziger Intoleranz die Tatsache, dass das Herzogtum Schleswig im nördlichen Teil  – das war über die Hälfte seiner Fläche  – Dänisch als Kirchen-, als Verwaltungs- und Schulsprache benutzte Unbestritten war der Bereich des ebenso klaren Überwiegens der deutschen Sprache Südlich von Flensburg verlief die Sprachgrenze, bezogen auf das Jahr 1838 Eine Übergangszone mit Deutsch und Dänisch ne42 43 44

Ebd , 423 f Ebd , 388 Ebd , 391

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beneinander entwickelte sich zum Gegenstand heftigen Streits, weil die Sprachgrenze langsam nach Norden wanderte, das Deutsche also das Dänische zurückzudrängen schien Der kulturelle und wirtschaftliche Einfluss des deutschsprachigen Raumes erweiterte sich – nicht zuletzt weil er breitere Ausbildungs- und Berufschancen eröffnete als Dänemark Die deutsche Sprache breitete sich vor allem über die Städte aus, denn schon seit dem Mittelalter war die Urbanisierung durch Zuwanderung aus dem Süden getragen Erst als die Sprache zu einem wesentlichen Kennzeichen von Nationalität wurde, entstanden Konflikte, weil sich aus wandernden Sprachgrenzen Gebietsansprüche ableiten ließen

Abb. 2 Sprachen im Herzogtum Schleswig 1838 (nach Geertz)

342

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Tabelle 1 Dänischsprachige Bevölkerung im Herzogtum Schleswig nach Christian Paulsen 183245 Dänische Kirchensprache Amt Hadersleben

44 400

Amt Apenrade

8 000

Lügumkloster

4 620

Sonderburg

5 250

Norburg

15 120

Herzoglich Augustenburgische Besitzungen auf Alsen

9 000

Amt Tondern: Hoier-, Tonder-, Slux- und Lundtoft-Harden (von 39 600

15 670

Adlige Kirchspiele Düppel, Kliplev und Herzogl Augustenburgisch Atzbüll

3 140

Güter des 21 Distrikts im nörlichen Schleswig

4 000

Summe Dänisch als Kirchensprache

109 200

Dänische Umgangssprache bei ganz oder mehrheitlich Deutsch als Kirchensprache Amt Tondern: Karrharde

7 000

Amt Flensburg

23 000

Ämter Gottorp, Husum, Bredstedt und Erster Angler adliger Güterdistrikt

15 000

Städte Flensburg, Apenrade, Tondern, Sonderburg, [Arröeskjöbing], Hadersleben

30 000

Summe Dänisch als Umgangssprache

75 000

Gesamtsumme rund 185 000 von 330 000 Schleswigern Geschätzt nach der Volkszählung von 1803 mit 278 000 Menschen

45

Ebd , 363–365

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Abb. 3 Doppeleiche Schleswig Symbole: Student und Turner, beide mit Säbel, als wehrhafte Träger der deutschen Nationalbewegung

Das dänischsprachige Schleswig rechnete sich in dieser Zeit der dänischen Nation und nicht der deutschen Nation zu Hierzu trug die dänische Nationalbewegung nach Kräften bei Ausgehend von Kopenhagen kam in den 1830er Jahren eine Art Erweckungsbewegung oder auch Integrationsbewegung in Gang, um die dänische Bevölkerung in Schleswig für dänisches Nationalbewusstsein zu gewinnen, sie mit der dänischen Hochsprache und mit der dänischen Kultur zu vereinen und zu verbinden 46 Eng verbunden mit der dänischen Nationalbewegung war die kirchliche Erweckungsbewegung von Nikolai Frederik Severin Grundtvig,47 die innerhalb der lutherischen Volkskirche gemeindliche Selbstverwaltung stärkte und in ihren Heimvolkshochschulen der ländlichen Bevölkerung Allgemeinbildung vermittelte

46 47

Hans Schultz Hansen, Danskheden i Sydslesvig 1840–1918 som folkelig og national bevægelse, Flensburg 1990 Jürgen Rohweder, Sprache und Nationalität Nordschleswig und die Anfänge der dänischen Sprachpolitik in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts, Glückstadt 1976 Arthur Macdonald Allchin, N F S Grundtvig An Introduction to his Life and Work, Århus 1997 Christian Thodberg / Anders Pontoppidan Thyssen (Hgg ), N F S Grundtvig – Tradition and Renewal Grundtvig’s Vision of Man an People, Education and Church, in Relation to World Issues Today, Kopenhagen 1983 Friedrich Wilhelm Bautz, Grundtvig, Nikolai Frederik Severin, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 2, Hamm 1990, 373–375

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Kersten Krüger

Symbole und Lieder Im Prozess der Nationsbildung spielten auf beiden Seiten symbolische Kennzeichen und Lieder eine beachtliche Rolle, deren Aussagen und Ansprüche im Wege moderner Propaganda verbreitet wurden Symbol der deutschen Schleswig-Holstein-Bewegung war die Doppeleiche, deren Stämme zwar von einem Bach – gemeint ist die Eider – getrennt emporgewachsen sind, deren Kronen sich jedoch mit ihren Ästen unzertrennlich ineinander verschlungen haben (Abbildung 3) Das dänische Gegenbild war die Eider mit dem Danewerk, der alten, noch germanischen Wallanlage von Haithabu in Richtung Westen, die Dänemark im Süden Jütlands schützen sollte (Abbildung 4) Diese Symbole kehrten auch in den politischen Liedern wieder, die den gleichen bewusstseinsbildenden und propagandistischen Zwecken dienten Als Beispiel seien hier Versionen des Schleswig-Holstein-Liedes angeführt Schleswig-Holstein meerumschlungen Deutscher Sitte hohe Wacht Wahre Treu was schwer errungen Bis ein schönrer Morgen tagt Schleswig-Holstein stammverwandt, Wanke nicht, mein Vaterland! … Teures Land, du Doppeleiche Unter einer Krone Dach, Stehe fest und nimmer weiche Wie der Feind auch dräuen mag Schleswig-Holstein stammverwandt, Wanke nicht mein Vaterland!

Schon aus dem Jahr 1841 ist ein besonders feindlicher Text von Dr Neuber aus Apenrade überliefert, der mit den gleichzeitigen antifranzösischen Aufwallungen um den Rhein zu verbinden ist:48 Nicht soll man uns umstricken Mit glattem Zungenspiel Klar steht vor unsern Blicken Der Dänen falsches Spiel Wir wissen, was sie brüten Sie brüten auf Verrat Nicht sind wir Sönderjüten, Sind Deutsch in Wort und Tat 48

Rudolf Bülck, Up ewig ungedeelt Enstehungsgeschichte eines politischen Schlagworts, Kiel 1928, 19

Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage

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Sie sollen es nicht haben, Das heil’ge Land der Schlei Sie sollen es nicht haben, Das Land so stolz und frei Der Herzog hat’s geschrieben, Den einst das Volk erwählt, Se schöll’n tosammen blieven Op ewig ungedeelt!

An dieser Stelle erscheint bereits Verfälschung des Zitates aus dem Ripener Vertrag von 1460: dat se bliven ewich tosamende ungedeelt

Abb. 4 Dannevirke Wochenblatt 1839 Symbole: Festungtsturm mit zwei Löwen und Danebrog, Lyra, Runenstein, Schild mit Spaten und Schwert

Resümee und Ausblick Die Schleswig-Holstein-Bewegung gehörte zur deutschen Nationalbewegung und war Teil der deutschen Einigung im Zeichen von Blut und Eisen Sie ist gekennzeichnet durch Intoleranz gegenüber sprachlichen und nationalen Minderheiten, Streben nach

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Kersten Krüger

territorialer Expansion mit Bereitschaft zu militärischen Konflikten, auch durch ein erhebliches Defizit an Demokratie Die dänische Nationalbewegung hingegen war eher defensiv, im Anschluss an Grundtvig christlich-genossenschaftlich ausgerichtet Sie war von daher offen für demokratische Weiterentwicklung Der Konflikt um die Grenze wurde auf beiden Seiten mit den Argumenten der älteren Staatsbildung, nicht den zeitgemäßen der Nationsbildung geführt Die Schleswig-Holstein-Bewegung und mit ihr die deutsche Nationalbewegung begründete mit der vorgeblichen Unteilbarkeit der Herzogtümer den Anspruch auf ganz Holstein und ganz Schleswig ohne Rücksicht auf Nationalität und Willen der hier ansässigen Bevölkerung Die dänische Nationalbewegung hingegen gab Holstein wie selbstverständlich frei und verteidigte die seit Karl dem Großen anerkannte Grenze des dänischen Reiches, die Eider, jedoch ohne den Willen der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppe in Schleswig zu berücksichtigen Eine Grenzziehung nach nationalen Gesichtspunkten, die sich auf Nationalität, auf Sprache und vor allem auf demokratische Zustimmung gründete, wäre bei Beherzigung liberaler Grundsätze durchaus möglich gewesen Diese wurde bereits 1832 und 1848, dann in den 1850er Jahren und auch 1864 erörtert, aber keine – auch nicht Dänemark – der beteiligten Mächte wollte diese einzige Legitimation einer Grenze in liberalem Sinne akzeptieren Erst nach dem Ersten Weltkrieg, nach vielen Jahrzehnten, nach Kriegen und unendlichen – wie wir meinen unnötigen – Opfern an Menschenleben wurde die Bereitschaft erzwungen, das zu tun, was zur liberalen Bewegung gehört, nämlich das Volk zu fragen Aufgrund der Volksabstimmung von 1920 ergab sich eine Grenzziehung nördlich von Flensburg, die gerecht war – gerecht insoweit, als die sprachlichen und die nationalen Optionen sich hier in eine Grenzziehung umsetzen konnten Minderheiten verblieben auf beiden Seiten, die neben einander und allmählich auch mit einander leben konnten 49 Weder kam es zu Aussiedlungen, noch zu ethnischen Säuberungen Die Minderheiten können mit einander auskommen, weil Toleranz und die Gewährung sprachlicher und kultureller Autonomie gewährt ist, bestätigt durch die Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 Im Rückblick können wir sagen, dass der dänische Gesamtstaat unterschiedliche Nationen in einem Staatsverband vereinte und eine Option auf Liberalisierung über die Provinzialständeversammlungen gewährte, welche durch nationale Gegensätze keine Chance zur Verwirklichung bekam Der Weg in die gewaltsamen Konflikte erwies sich aus unserer Sicht als schmerzhafter Irrweg Eher wirkt der Gesamtstaat als ein Modell für ein größeres

49

Siehe auch: Georg Eckert, Zur Geschichte und Problematik der dänisch-deutschen Beziehungen, in: Internationales Jahrbuch für Geschichtsunterricht 2/1953, 110–120 Christian Degn, Schleswig als Problemregion, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 104/1979, 287–297 Erich Hoffmann, Historische Voraussetzungen für die Herausbildung der heutigen deutsch-dänischen Staatsgrenze, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 106/1981, 9–29

Dänemark, Schleswig, Holstein und die nationale Frage

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Europa, in dem viele Nationen friedlich und demokratisch nebeneinander leben können Hier verblasst der Grundsatz: Das unnatürlich Getrennte vereinen, das unnatürlich Vereinte trennen Kersten Krüger: 1959 Abitur, Göttingen, 1959–1968 Studium der Geschichte, Anglistik und Skandinavistik an den Univ Göttingen, Köln, München, Kiel, Hamburg und Kopenhagen, 1968 Promotion Univ Hamburg, 1968–1978 Assistent und Dozent an der Univ Marburg, 1978 Habilitation Univ Marburg für Neuere und Landesgeschichte, 1978–1986 Privatdozent für Neuere Geschichte, 1986– 1993 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt Skandinavische Geschichte), Univ Hamburg, 1993–2004 Professor für Geschichte der Neuzeit, Univ Rostock, seit 2005 Fortsetzung der Lehrtätigkeit und Beauftragter des Rektors für die Universitätsgeschichte, Universität Rostock

Bildnachweise Abbildung 1: Gesamtstaat Dänemark 1864 Emil Elberling, Historique de l’idée d’un partage du Slesvig, in: Franz de Jessen (Hg ), Manuel historique de la question du Slesvig Documents, cartes, pièces justificatives et renseigenementes statistiques Copenhague 1906, 154 Abbildung 2: Sprachen im Herzogtum Schleswig 1838 (nach Geertz) P Lauridsen, La situation des langues en Slesvig et les décrets linguistiques de 1850–1852, in: Franz de Jessen (Hg ), Manuel historique de la question du Slesvig Documents, cartes, pièces justificatives et renseigenementes statistiques Copenhague 1906, 122 Abbildung 3: Doppeleiche Schleswig Symbole: Student und Turner, beide mit Säbel, als wehrhafte Träger der deutschen Nationalbewegung Ulrich Lange, Geschichte Schleswig-Holsteins Von den Anfängen bis zur Gegenwart Neumünster 22003, 438 Abbildung 4: Dannevirke Wochenblatt 1839 Symbole: Festungtsturm mit zwei Löwen und Danebrog, Lyra, Runenstein, Schild mit Spaten und Schwert Dannevirke – Ugeblad for Hertugdømmet Slesvig Nr   34, 7 Februar 1839 https://da wikipedia org/ wiki/Dannevirke_(avis)#/media/File:Dannevirke_ugeblad jpg (13 09 2017)

Oldenburg im Norddeutschen Bund Albrecht Eckhardt Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 349–360

Abstract: There were three aereas belonging to the state of Oldenburg, situated wide apart: The Duchy of Oldenburg and the principalities of Lübeck and Birkenfeld in the South of Germany Oldenburg became a Grand Duchy in 1815, officially since 1829, was constituted as a Free State in 1918 The great Hamburg act of 1937 brought about changes and a consolidation of Oldenburg around its orgiginal core Since 1848 there existed a common Diet for all three regions A constitution was given to Oldenburg in 1849, changed in 1852 The 1852 constitution remained in force till 1918 The majority of the population was protestant (ca 77 %) The exclaves of Lübeck and Birkenfeld were surrounded by Prussian territory whereas Oldenburg’s difficult and troublesome neighbour untill 1866 was the Kingdom of Hanover The Oldenburg government and the national liberals leaned against Prussia, the democrats and left-wing liberals in the Diet were anti-Prussian and pro-Austrian, especially the South Oldenburg (Munsterland) Catholics Several decisions of the Oldenburg government between in 1849 and 1866 were debated in the Diet, e g the accession to the Prussian-led Erfurt Union 1849/50, the joining to the German Customs Union in 1852/54 and also the treaty of alliance with Prussia against Austria of 16 June 1866 To join Prussia saved Oldenburg’s existence whereas Hanover was annexed after the war by Prussia Oldenburg tried to change some articles of the poposed constitution, e g the King of Prussia should become emperor of the new Confederation The Confederation should have a government and a Federal Council Oldenburg could not realize its wishes For the election to the Imperial Diet of the North German Confederation there were 3 electoral districts assigned to Oldenburg When the Diet accepted the North German Constitution in April 1867, the Oldenburg Diet in May voted with a great majority for the Constitution Oldenburg like other member states by joining the North German Confederation had to give up major sovereign rights, like giving up ist own military forces and the right to conduct its own foreign policy There were also advantages for Oldenburg like the extension of its railway system In domestic policy there major administrative and judical reforms Because of Oldenburg’s loyalty towards Prussia and in the War against France there was a change of mind in the Oldenburg population and the anti-Prussian antipathies were reduced

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Albrecht Eckhardt

Bis zum Inkrafttreten des durch Bündnisvertrag vom 21 August 1866 beschlossenen Norddeutschen Bundes am 1 Juli 1867 war es ein langer, nicht immer gradlinig verlaufener Weg der allmählichen Annäherung zwischen dem kleinen Mittelstaat Großherzogtum Oldenburg und der Hegemonialmacht Preußen 1 Das mit seinem Kernland und der gleichnamigen Haupt- und Residenzstadt im Nordwesten des heutigen Landes Niedersachsen gelegene Oldenburg bestand seit 1817 aus drei weit auseinanderliegenden Landesteilen: dem Herzogtum Oldenburg, dem Fürstentum Lübeck im heutigen Schleswig-Holstein mit dem Verwaltungssitz in Eutin und dem Fürstentum Birkenfeld an Hunsrück und Nahe im heutigen Rheinland-Pfalz mit den Städten Idar und Oberstein (seit 1933 Idar-Oberstein) 1871 hatte das Großherzogtum eine Fläche von 6 399,6 qkm und 312 728, 1875 319 314 Einwohner 2 Die Bevölkerung war überwiegend evangelisch, im Herzogtum Oldenburg etwa ein Viertel katholisch, im Fürstentum Birkenfeld ein Fünftel Im Herzogtum Oldenburg herrschte die Agrarwirtschaft vor Es gab nur wenige Zentren einer sich allmählich ausbildenden gewerblichen Wirtschaft und Industrie Auch im Fürstentum Lübeck dominierte die Landwirtschaft Stärker vom Kleingewerbe (z B Edelsteinschleiferei) geprägt war das Fürstentum Birkenfeld 3 1815 war dem Herzog Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg auf dem Wiener Kongress der Großherzogstitel verliehen worden, den dieser aber nicht führte Erst sein Sohn Paul Friedrich August nahm beim Regierungsantritt 1829 den Titel an und machte damit sein Land zu einem Großherzogtum Trotz der Bestimmungen der Wiener Bundesakte gab es im Großherzogtum Oldenburg bis zur Revolution von 1848 keine Verfassung und keinen Landtag Erst die revolutionären Ereignisse von 1848/49 führten zur Etablierung eines Parlaments, das von allen drei Landesteilen beschickt wurde und im Frühjahr 1849 die erste oldenburgische Verfassung, das Staatsgrundgesetz, verabschiedete Dessen in konservativerem Sinne revidierte, aber immer noch relativ liberale Neufassung von 1852 galt bis 1918/19 1

2

3

Zur Thematik allgemein: Gerhard Willers, Oldenburgs Stellung zur Reichsgründung 1864–71, Varel 1933; Klaus Lampe, Oldenburg und Preußen 1815–1871, Hildesheim 1972, 95–343; Peter Klaus Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg im Jahrzehnt vor der Reichsgründung, Oldenburg 1979; Albrecht Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (1848–1918), in: Albrecht Eckhardt / Heinrich Schmidt (Hgg ), Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1987, 4  Aufl 1993, 333–402; Nicolaus Rügge, Von der Märzrevolution bis zur Reichsgründung (1848–1866/71), in: Stefan Brüdermann (Hg ), Geschichte Niedersachsens 4/1: Vom Beginn des 19  Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Göttingen 2016, 107–281; Hans-Georg Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des I Weltkrieges (1866/71–1918), in: ebd , 283–382 Hof- und Staats-Handbuch des Großherzothums Oldenburg für 1872/73, Oldenburg 1873, Teil II, 3 ff (Volkszählung 1 12 1871); Hof- und Staatshandbuch des Großherzogthums Oldenburg 1877, Oldenburg 1877, 4 (Herzogthum Oldenburg 248 13 – Fürstenthum Lübeck 34 085 – Fürstenthum Birkenfeld 37 093) Ortschaftsverzeichnis des Großherzogthums Oldenburg, aufgestellt auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 1 December 1875 …, Oldenburg 1876; verschiedene Beiträge in: Eckhardt/ Schmidt, Geschichte des Landes Oldenburg

351

Oldenburg im Norddeutschen Bund

O st se e

Nord

Kiel

see

LANDESTEIL LÜBECK Lübeck Hamburg Emden

Bremen

Reich

Oldenburg

Osnabrück

Hannover Braunschweig Magdeburg

De u t s c h e s

Münster

Kassel

Düsseldorf

Erfurt

Köln

N

Frankfurt

50° n. Br.

W

Trier

O

LANDESTEIL BIRKENFELD

S 0

20

40

60

80

100 km

Karte: Dietrich Hagen 8° ö. L.

Karte bzw.Land LandOldenburg Oldenburgmit (1918 bis Landesteilen Anfang 1937)Oldenburg, mit den Landesteilen Abb.1:1 Freistaat Freistaat bzw seinen Lübeck und Oldenburg, Lübeck (Eutin) und Birkenfeld 1918–1937 (aus:Birkenfeld Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag, 44)

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Albrecht Eckhardt

Das Kernland, also das Herzogtum Oldenburg, war, sieht man einmal von den Küsten und der Freien Hansestadt Bremen ab, vollständig vom Königreich Hannover umschlossen, zu dem die Beziehungen nicht die besten waren So lehnte sich das Großherzogtum seit 1849 außenpolitisch immer stärker an Preußen an Nachdem Preußen am 26 Mai 1849 mit Sachsen und Hannover das sog Dreikönigsbündnis mit Spitze gegen Österreich geschlossen hatte, trat Oldenburg mit den meisten Klein- und Mittelstaaten im Juli dem Berliner Bündnis, der sog Erfurter Union, bei Im Oldenburgischen Landtag war die Ratifikation dieses Abkommens heftig umstritten und führte nach der Ablehnung durch Demokraten und katholische Südoldenburger zu wiederholten Parlamentsauflösungen durch die Regierung Auch ohne Rückendeckung durch das Parlament ratifizierte der Großherzog den Vertrag Die Union mit dem im März 1850 in Erfurt eröffneten Volkshaus hielt allerdings nur bis zu dem preußisch-österreichischen Vertrag von Olmütz vom 27 November 1850 Im Frühjahr 1851 wurde der Deutsche Bund restituiert Auch im Krieg mit Dänemark und beim Ausbau der ersten deutschen Flotte 1848/49 blieb die oldenburgische Außenpolitik eng mit Preußen verflochten 1836 war Oldenburg dem zwei Jahre zuvor von Hannover und Braunschweig gegründeten Steuerverein beigetreten, den Braunschweig allerdings schon 1841 wieder verließ Nachdem Hannover sich im September 1851 dem von Preußen dominierten Deutschen Zollverein angeschlossen hatte, kam es auch mit Oldenburg zu Beitrittsverhandlungen Diese führten, da Oldenburg seine Sonderwünsche großenteils nicht durchsetzen konnte, abermals zu heftigen Kontroversen im Landtag Im Parlament herrschte ein schier unüberwindbares Misstrauen gegenüber Preußen Die große Mehrheit war gegen einen Betritt zum Zollverein, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen Nach einem ersten negativen Votum im Mai 1852 stimmte der Landtag im Juni dann doch zu Der Anschluss Oldenburgs an den Zollverein wurde 1854 rechtswirksam 4 Das Jahr 1852 war auch in anderer Hinsicht für das Verhältnis von Preußen und Oldenburg von Bedeutung Im April hatte die Bundesversammlung gegen die Wünsche Oldenburgs und Hannovers die Auflösung der Bundesflotte beschlossen,5 und kaum einen Monat später begannen erste Sondierungen zwischen Preußen und Oldenburg wegen Einrichtung eines preußischen Flottenstützpunktes an der Nordsee Sie mündeten in den Berliner Jadevertrag vom 20 Juli 1853, durch den Oldenburg ein Territorium an der Jade an Preußen zur Anlage eines Kriegshafens abtrat Das Abkommen wurde bis zum 1 Januar 1854, dem Tag, an dem die Zollvereinigung in Kraft trat, ge4

5

Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm   1), 167–187; Hans-Werner Niemann, Wirtschaftliche Entwicklung im Zeitalter der Industrialisierung, in: Brüdermann (wie Anm   1), 385–642, hier 418 f , Gunther Mai (Hg ), Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament, Köln/Weimar/ Wien 2000 Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 140–149; zur Bundesflotte u a : A(lbrecht) Eckhardt, Brake, in: Albrecht Eckhardt (Hg ), Oldenburgisches Ortslexikon 1, Oldenburg 2010, 127–130, bes 129 f

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heim gehalten Das Königreich Hannover, das sich durch diesen Akt brüskiert fühlte, behinderte in der Folgezeit massiv die oldenburgischen Eisenbahnpläne Das sich auf dem neuen preußischen Kriegshafengebiet entwickelnde Kommunalgebilde wurde 1869 zur Stadt erhoben und erhielt den Namen Wilhelmshaven Erst 1937 kam das bis dahin preußische Wilhelmshaven durch das Groß-Hamburg-Gesetz im Tausch gegen die oldenburgischen Exklaven Lübeck und Birkenfeld an das Land Oldenburg 6 Großherzog Nikolaus Friedrich Peter von Oldenburg (1853–1900),7 der 1850 als Erbprinz die von Russland vorgeschlagene Thronfolge in Dänemark abgelehnt hatte, betrieb seit 1863 in den Auseinandersetzungen des Deutschen Bundes mit dem dänischen König Friedrich VII und seinem 1863 inthronisierten Nachfolger Christian IX die eigene Erbfolge in den Herzogtümern Schleswig und Holstein gegen den Herzog von Holstein-Sonderburg-Augustenburg und meldete diese im Juni 1864 offiziell beim Deutschen Bund an 8 Damit bildete er zwar nur eine willkommene Schachfigur in Bismarcks Politik, stieß aber im Deutschen Bund und auch bei der eigenen Bevölkerung

Abb. 2 Großherzog Nikolaus Friedrich Peter von Oldenburg (aus: Friedl, Biographisches Handbuch, 523)

6 7 8

Vgl G(erd) Steinwascher, Wilhelmshaven, in: Oldenburgisches Ortslexikon 2, Oldenburg 2011, 1134–1146; Albrecht Eckhardt, Wilhelmshaven und das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 …, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 70/1998, 313–332 Zu ihm vgl Hans Friedl und andere (Hg ), Biographisches Handbuch zur Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1992, 523–527 Zu den dynastischen Beziehungen Oldenburg-Dänemark-Russland s vor allem Gerd Steinwascher, Die Oldenburger Die Geschichte einer europäischen Dynastie, Stuttgart 2011, 246–257

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auf weitgehende Ablehnung Immerhin brachte ihm der Verzicht auf seine Ansprüche 1866/67 mit dem Amt Ahrensbök einen ansehnlichen Territorialgewinn für das Fürstentum Lübeck ein 9 Als sich die Konfrontation zwischen Preußen und Österreich im Frühjahr 1866 bedrohlich zuspitzte, überwog in Oldenburg die Antikriegsstimmung, und nur der Nationalverein bekannte ich anfangs zur preußischen Haltung War noch Bismarcks Antrag vom 9 April 1866 auf ein Parlament zur Vorbereitung einer Bundesreform, das nach dem Vorbild von 1849 aus allgemeinen Wahlen hervorgehen sollte, bei Großherzog und Regierung in Oldenburg auf große Skepsis gestoßen, so folgte Oldenburg im Bundestag doch der preußischen Position Nachdem der preußischen Gesandte am 14 Juni den Bundesvertrag für erloschen erklärt hatte, schloss sich Oldenburg zwei Tage später diesem Vorgang an und nahm das preußische Bündnisangebot an Damit verpflichtete sich das Großherzogtum u a zur Mobilisierung seiner Truppen und zu ihrer Unterstellung unter preußischen Oberbefehl Obwohl der Oldenburgische Landtag bereits seit dem 27 Juni tagte, stand die Ratifizierung des Bündnisvertrags mit Preußen erst in der 3 Sitzung am 4 Juli auf der Tagesordnung Die Regierung hatte allerdings die entsprechende Vorlage mit dem Antrag, der am 16 /19 Juni mit Preußen geschlossenen Übereinkunft zuzustimmen, bereits am 25 Juni dem Landtag übermittelt Inzwischen hatte Preußen am 3 Juli in der Schlacht von Königgrätz den entscheidenden Sieg gegen Österreich errungen Im politischen Ausschuss des Oldenburger Parlaments und in der Landtagsdebatte war es für die große Mehrheit unstrittig, dass man sich Preußen anschließen müsse, um die Selbständigkeit des Landes zu retten – Hannover als abschreckendes Beispiel10 stand allen vor Augen Dennoch tat man sich mit der Zustimmung schwer Die größten Bedenken hatten die Linksliberalen als Nachfolger der alten Demokraten und die traditionell großdeutsch und österreichfreundlich gesinnten katholischen Südoldenburger In welchem Dilemma sich die Vertreter des oldenburgischen Münsterlandes befanden, drückte ihr Abgeordneter Anton Russell11 folgendermaßen aus:

9 10

11

Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 267–295; Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1), 46–58; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 359–364 Zum Schicksal Hannovers s z B Rügge, Von der Märzrevolution zur Reichsgründung (wie Anm   1), 273 ff ; Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (wie Anm  1); 287 ff ; Thomas Vogtherr, 1866 – Wie kam es zum Ende des Königreichs Hannover?, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 88/2016, 209–226  – Vgl auch Hans-Georg Aschoff, Vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 31/2019, 115–144 Anton Russell (1824–1878), Amtsrichter in Damme, MdL 1860–1876, MdR (Bundesstaatlich Konstitutionelle Vereinigung/Zentrum) 1867–1870, 1871–1874 (Albrecht Eckhardt  / Rudolf Wyrsch (Bearb ), Oldenburgischer Landtag 1848–1933/1946 Biografisch-historisches Handbuch zu einem deutschen Landesparlament, Oldenburg 2014, 455 f )

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Nach langem Kampfe habe er sich überwunden, das Wohl des ganzen Landes über seine Anschauungen und Ideen zu setzen Denn wenn Oldenburg nicht das Preußenbündniß annehme, so werde Preußen, wie wohl Niemand nach den bisherigen Vorgängen bezweifeln [!], unser Land sofort okkupiren, die Regierung vertreiben, die Kassen leeren, das Kriegsmaterial für sich nehmen, die oldenburgischen Truppen beim Widerstande wie die hannoverschen behandeln Dies Unglück sei nur durch die Annahme des Bündnisses mit Preußen abzuwenden

Letztendlich stimmte die große Mehrheit, darunter auch Russell, für den Vertrag Lediglich vier der insgesamt zwölf Münsterländer enthielten sich der Stimme 12

Abb. 3 Anton Russell (aus: Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag, 455)

Gegen den Abschluss des vom Preußen am 4 August 1866 vorgelegten Bündnisvertrages, dem die große Mehrheit der Staaten am 18 August zugestimmt hatte, brachte Oldenburg eine Reihe von Bedenken und Wünschen vor, sah sich dann aber doch genötigt, diesen am 27 August zu unterzeichnen Schon im Juli hatte Großherzog Peter eigene Vorschläge für eine künftige Bundesverfassung in einer Denkschrift formuliert Darin sprach er sich für die Bildung eines Deutschen Reiches mit einem Kaiser aus

12

Berichte über die Verhandlungen der dritten Versammlung des XIV Landtags des Großherzogthums Oldenburg, Oldenburg 1866, Berichte, 5–8, Anlagen, 10–16 (Anlage 6), 62–64 (Anlage 12); Albrecht Eckhardt (Hg ), Oldenburger Landtagsreden, Göttingen 1978, 18–23, 79 f ; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 309; Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1), 65–67; Rügge, Von der Märzrevolution bis zur Reichsgründung (wie Anm  1), 275

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dem preußischen Königshaus an der Spitze und ein Oberhaus aus Dieses sollte aus Vertretern der regierenden Fürsten sowie der mediatisierten Häuser bestehen Es sollte einerseits dafür sorgen, „die eigenen Souveränitätsrechte angesichts des übermächtigen Preußen zu behaupten und zu wahren“, andererseits ein Gegengewicht gegen einen „aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Reichstag“ bilden, „in dem der Großherzog nur ‚das drohende Gespenst einer heillosen Demokratie‘ zu erkennen vermochte“ Der Bismarck’sche Verfassungsentwurf vom 10 Juni 1866 wurde im Dezember 1866 / Januar 1867 von den Vertretern der Einzelstaaten beraten Mit seinen zahlreichen Änderungsvorschlägen, die Bismarck als „partikularistisch-dynastisch“ bezeichnete, konnte sich der oldenburgische Gesandte, der leitende Minister Peter Friedrich Ludwig Freiherr von Rössing,13 nicht durchsetzen und musste schließlich auf erheblichen preußischen Druck hin das Schlussprotokoll unterschreiben In diesem formulierte wie die meisten anderen Staaten auch das Großherzogtum seine Vorbehalte So forderte es ein Oberhaus, ein Bundesgericht, eine Vereinbarung über den Militäretat und verantwortliche Bundesministerien 14 Anders als Bismarck sieht Ernst Rudolf Huber in den Oldenburger Vorschlägen „gewisse zentralistisch-unitaristische Forderungen“

Abb. 4 Peter Friedrich Ludwig Frhr von Rössing (aus: Friedl, Biographisches Handbuch, 608) 13 14

Zu ihm vgl Harald Schieckel, in: Friedl, Biographisches Handbuch (wie Anm  7), 607 f Gustav Rüthning, Oldenburgische Geschichte, Bd   2, Bremen 1911, 602–606; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 317–331; Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie

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und gerade nicht eine Übereinstimmung mit der von Hamburg angeführten partikularistischen Opposition 15 Für die Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes war das Großherzogtum in drei Wahlkreise eingeteilt worden Wahlkreis I umfasste den Zentralbereich des Herzogtums Oldenburg mit der Stadt Oldenburg und die beiden Fürstentümer Lübeck und Birkenfeld, Wahlkreis II den mittleren und nördlichen Teil des Herzogtums und Wahlkreis III den südlichen Teil mit dem katholischen Münsterland (Vechta und Cloppenburg) sowie den östlichen Teil mit der Arbeiterstadt Delmenhorst Während der dritte Wahlkreis eine Domäne der Bundesstaatlich Konstitutionellen Vereinigung als Vorläuferin des Zentrums war, siegten in den beiden anderen Wahlkreisen bei der Wahl zum Konstituierenden Reichstag im Februar/März 1867 die Nationalliberalen, bei der Wahl zum Reichstag des Norddeutschen Bundes am 31 August 1867 im Wahlkreis I der nationalliberale, im Wahlkreis II der Kandidat der Deutschen Fortschrittspartei 16 Nachdem der konstituierende Reichstag nach intensiver und kontroverser Debatte die Verfassung am 16 April 1867 mit zahlreichen Änderungen angenommen hatte, erfolgte am 23 Mai auch im Oldenburgischen Landtag die Zustimmung, wobei nur drei südoldenburgische Parlamentarier mit Nein votierten Einer von ihnen hatte schon im dem eigens eingesetzten politischen Ausschuss dagegen gestimmt Zu den Neinsagern gehörte nicht der schon erwähnte Abgeordnete Russell, aber auch diesmal ergriff er im Plenum das Wort, um seine Bedenken zu formulieren: Wenn es auch manchem der Abgeordneten sehr schwer fallen möge, mit der Annahme des Antrags 2 einer Verfassung für Deutschland zuzustimmen, welche sich nicht auf alle deutschen Staaten erstrecke, in welche Garantien für die bürgerlichen Freiheiten keine Aufnahme gefunden und die insbesondere so drückende Lasten aufbürde, so werde es doch ein großer politischer Fehler sein und dem Interesse unseres Landes wenig entsprechen, im Landtage den ohnmächtigen Versuch machen zu wollen, das einzige Band, welches deutsche Länder mit einander zum Schutze Deutschlands und zur nationalen Entwicklung verbinde, zu zerreißen und jeden Staat zum sichern Untergange auf seine eigne Macht hinzuweisen […] 17

15 16 17

Anm  1), 68 f (dort das Zitat); Eckhardt, Der konstitutionelle Staat, (wie Anm  1), 363; Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (wie Anm  1), 285 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd  III, Stuttgart 1953, 652 Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1),74–86; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 384–397 Berichte über die Verhandlungen der zweiten Versammlung des XV Landtags des Großherzogthums Oldenburg, Oldenburg 1867, Berichte, 1–3 (hier 2), Anlagen, 1–9 (Anlage 1 = Verfassung des Norddeutschen Bundes), Anlagen, 14–16 (Anlage 6 = Bericht des politischen Ausschusses, betreffend den Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes) Zur Verfassung s Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm  15), 653–667; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 332–334; Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1), 69; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 363

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Albrecht Eckhardt

Erstaunlich gering war die Anteilnahme der oldenburgischen Öffentlichkeit an der Verfassungsfrage Die breite Masse der bäuerlichen und gewerblich-mittelständischen Bevölkerung hatte sich mit den gegebenen Verhältnissen rasch abgefunden, zumal durch die Wahrung der staatlichen Existenz Oldenburgs die Lebensbedingungen im Lande sich zunächst kaum änderten Mehr als für die künftige Verfassung interessierte man sich hier für die unmittelbar praktischen Folgen, die die Konstituierung des neuen Bundesstaates mit sich brachte: die Neuordnung des Militärwesens, die Errichtung neuer Garnisonen, die Beschleunigung des Eisenbahnbaues, die Erhöhung der steuerlichen Belastung 18

Die Bundesverfassung hatte u a das Militärwesen des Bundes geregelt Zur Ausführung dieser Bestimmungen schloss Preußen mit den einzelnen Bundesstaaten sogen Militärkonventionen ab, zuerst noch vor Verabschiedung der Verfassung mit Sachsen und Hessen, danach als erstes am 15 Juni 1867 mit Oldenburg Die anderen Bundesstaaten folgten bis zum November 1868 Gegen den anfänglich heftigen Widerstand des preußischen Kriegsministers konnte Oldenburg bei den Verhandlungen immerhin einige seiner Forderungen durchsetzen 19 Das Post- und Telegraphenwesen ging zum 1 Januar 1868 auf den Bund über Die neue Oberpostdirektion in Oldenburg war nunmehr auch für die preußischen Regierungsbezirke Aurich und Osnabrück zuständig In den beiden Fürstentümern übte Preußen schon länger die Postverwaltung aus Durch den Krieg war der Zollvertrag von 1865 hinfällig geworden Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes musste das Verhältnis der vier süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen(-Darmstadt) zum Zollverein auf eine neue Grundlage gestellt werden Das geschah durch den Zollvereinsvertrag vom 8 Juli 1867 20 Dagegen widersetzte sich Oldenburg der Eingliederung in die preußischen Zoll- und Steuerverwaltung und beschloss im März 1867, sie bis auf weiteres selbst zu betreiben Beim Eisenbahnbau fielen durch die Okkupation Hannovers bisherige Hindernisse fort 21

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Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1), 69 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm 15), 289–300; Kurt Hartong, Beiträge zur Geschichte des oldenburgischen Staatsrechts, Oldenburg 1958, 172; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 334 f ; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 363 f Berichte über die Verhandlungen der dritten Versammlung des XV Landtags des Großherzogthums Oldenburg, Oldenburg 1868, Berichte, 8 f , Anlagen, 26–34 (Anlage 11) Vgl hierzu neuerdings vor allem Wolf D Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993), Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151/2015, 527–618, hier 606–613 Hartong, Beiträge Oldenburgisches Staatsrecht (wie Anm  19), 174–176; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 336–338; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 364; Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des 1 Weltkrieges (wie Anm  1), 280 Aus der umfangreichen Literatur zu den oldenburgischen Eisenbahnen sei nur die neueste Veröffentlichung genannt: Lioba Meyer / Florian Nikolaus Reiß (Hgg ), Höchste Eisenbahn 150 Jahre Zugverkehr in Oldenburg …, Cloppenburg/Oldenburg 2017

Oldenburg im Norddeutschen Bund

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Eine der Folgen der Eingliederung in den Norddeutschen Bund war der Verlust einer eigenen Außenpolitik, auch wenn das Außenministerium formell weiterexistierte Noch bei seiner Wahl zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaats Oldenburg übernahm Theodor Tantzen am 21 Juni 1919 die Ministerien des Innern, des Auswärtigen und der Landwirtschaft,22 wobei Minister des Äußeren, wie es später hieß, offensichtlich ein weitgehend leerer Titel ohne wesentliche Kompetenz war Das 1868 geschaffene Departement (d h Ministerium) des Großherzoglichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten war keine selbständige Behörde, sondern stets mit einem anderen Departement bzw Ministerium verbunden Seit der Gründung des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches waren die „außenpolitischen Kompetenzen“ des Großherzogtums ohnehin eingeschränkt“ 23 Jedenfalls gingen nach 1867 die Gesandtschaften an auswärtigen Höfen und die zahlreichen in anderen Ländern unterhaltenen Konsulate (zuletzt waren es 156) auf das Reich [bzw schon vorher auf den Norddeutschen Bund] über Die Konsulate und Vizekonsulate auswärtiger Staaten in oldenburgischen Städten (insgesamt 14) wurden nach und nach aufgehoben, und von den am oldenburgischen Hof akkreditierten Gesandten blieb schließlich nur der preußische übrig Im Gegenzug unterhielt Oldenburg weiterhin eine Gesandtschaft am preußischen Königshof, die seit 1905 mit dem Amt des stellvertretenden Bundesratsbevollmächtigen in Berlin verbunden wurde 24

Seit der Revolution vom November 1918 war das – 1933 aufgehobene – Außenministerium auf die noch verbliebenen wenigen außenpolitischen Aufgaben beschränkt und „im Grunde […] nur eine Registratur im Rahmen des Staatsministeriums“ 25 Innenpolitisch brachte das oldenburgische Organisationsgesetz vom 5 Dezember 1868 erhebliche Veränderungen Es führte unter anderem die Trennung von Verwaltung und Justiz auf allen Ebenen durch Das Landtagswahlgesetz vom 21 Juli desselben Jahres behielt zwar die indirekte Wahl bei, hob aber die 1852 nach preußischem Vorbild eingeführte Dreiklassenwahl wieder auf 26 22 23 24

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Wolfgang Günther, in: Eckhardt/Schmidt, Geschichte des Landes Oldenburg (wie Anm  19), 412; Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag (wie Anm  11), 52 Auch Tantzens Nachfolger Eugen v Finckh hatte noch bis 1930 das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten inne, vgl Anm  23 Gerd Steinwascher, Vorwort zum Findbuch zu Best 132 Außenministerium im Niedersächsischen Landesarchiv – Standort Oldenburg, 2002 Der gesamte Bestand Außenministerium (Best 132) umfasst 457 Nummern und reicht von 1866 bis 1953 Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 364 f ; Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des 1 Weltkrieges (wie Anm  1), 286; Hof- und Staats-Handbuch des Großherzogthums Oldenburg für 1867–1914, Oldenburg 1867 ff ; Statistisches Landesamt (Hg ), Staats-Handbuch des Freistaates Oldenburg 1920 bis 1928/30, Oldenburg 1920 ff Steinwascher, Vorwort (wie Anm  23) Hartong, Beiträge Oldenburgisches Staatsrecht (wie Anm   19), 113–115; Thomas Klein, in: Kurt G A   Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hgg ), Deutsche Verwaltungsgeschichte,

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Albrecht Eckhardt

Als auf der Durchreise zu den Einweihungsfeierlichkeiten in Wilhelmshaven im Juni 1869 der preußische König und Bismarck ihre Fahrt in Oldenburg kurz unterbrachen, war der Empfang durchaus zurückhaltend, ja, es wurde sogar die „oldenburgische Hymne“ abgesungen Die Oldenburgische Zeitung schrieb dazu am 17 Juni, man billige den Norddeutschen Bund mehr aus verständiger Reflexion als aus dem Gefühl heraus Wir sind aus Überzeugung national, aber aus Neigung Particularisten Das Verhältnis der oldenburgischen Bevölkerung zu Preußen war „am Vorabend der Reichsgründung … eher sachlich-kühl als freundschaftlich oder gar herzlich“ 27 Die außenpolitische Entwicklung der Folgezeit, die Luxemburger Krise und die Spannungen mit Frankreich sorgten allmählich für einen Sinneswandel „Daß sich … die Einstellung zur preußischen Führungsmacht im Bewußtsein der oldenburgischen Bevölkerung ebenso stetig wie unauffällig gewandelt hat, wurde beim Kriegsausbruch im Sommer 1870 deutlich “28 Bismarcks behutsame Politik gegenüber den anderen Bundesstaaten und die von Großherzog Peter und seiner Regierung betonte Loyalität gegenüber dem König von Preußen und dem von ihm geführten Norddeutschen Bund trugen allmählich zum Abbau der Antipathie gegen Preußen bei, und das schließlich auch im oldenburgischen Münsterland, wo es noch um 1870 eine franzosenfreundliche Stimmung gegeben hatte, wie übrigens in anderen katholischen Gebieten auch 29 Albrecht Eckhardt, Jahrgang 1937, Studium in Göttingen, Freiburg und Marburg, 1962 Staatsexamen für das höhere Lehramt und Promotion zum Dr phil in Göttingen, 1963–1964 Archivschule und Hess Staatsarchiv Marburg, 1965–1977 Hess Staatsarchiv Darmstadt, 1977 bis zur Pensionierung 2002 Leiter des Niedersächs Staatsarchivs in Oldenburg, seit 1981 als Ltd Archivdirektor, 1992 Honorarprofessor an der Universität Oldenburg Verfasser zahlreicher Publikationen zur Regionalgeschichte insbesondere von Hessen und Niedersachsen; Herausgeber von Sammelwerken zur oldenburgischen Geschichte, darunter Geschichte des Landes Oldenburg (1987, 4  Aufl 1993), Oldenburg um 1950 (2000), Oldenburgisches Ortslexikon (2010–2012); Schriftleiter des Archivs für hessische Geschichte und Altertumskunde (Darmstadt) 1974–1977 und des Oldenburger Jahrbuchs, Teil Geschichte 1978–2007 Von 1996 bis 2012 Leiter der Arbeitsgemeinschaft Landes- und Regionalgeschichte der Oldenburgischen Landschaft

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Bd   3, Stuttgart 1984, 805–810; Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm   19), 351, 365; Eckhardt/Wyrsch, Oldenburgischer Landtag (wie Anm  11), 23, 29, 600–612; Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des 1 Weltkrieges (wie Anm  1), 280, 328, 359 Schwarz, Nationale und soziale Bewegung in Oldenburg (wie Anm  1), 70 Ebd , 70–73; Lampe, Oldenburg und Preußen (wie Anm  1), 340 Eckhardt, Der konstitutionelle Staat (wie Anm  1), 363

Mecklenburgs Weg in Preußens Bund 1840–1867 René Wiese Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 361–378

Abstract: The historical Mecklenburg is used to be known as a polity of almost classic backwardness But this does not only derive from its internal conditions, but rather from foreign influences too First of all there is to be mentioned the Prussian monarchy and its King Frederick William IV , whose political fight against the impact of the 19th century revolutions has deeply influenced the Grand Duchies of Mecklenburg This misguided Prussian politics marked the way of the Mecklenburg corporative monarchy into the new German federal state of 1867 and led to a specific adaption to modernity

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Preußen, die Macht des Fortschritts und der Sieger des 19  Jahrhunderts in seiner Staatlichkeit 1947 untergegangen ist, der kleine Nachbar aber, das als rückständig geltende Mecklenburg, 1990 (mit dem vorpommerschen Teil der preußischen Provinz Pommern) als Land wiederbegründet wurde In dieser fiskalisch nicht unbedingt glücklichen Verbindung hat es die Landesgeschichte mit ihrem Fokus auf den historischen Vorgängerterritorien schwer Ihre Forschungen liegen quer zur politisch geförderten „M-V tut gut“-Landesidentität, die das negative besetzte Meck-Pomm-Image allerdings bisher nicht ablösen konnte Von Vorpommern aus agierende Geschichtsinstitutionen beklagen zudem, dass ihr Landesteil als ehemaliger Westteil der auf Stettin ausgerichteten Provinz Pommern vom fernen Schwerin und damit von Westmecklenburg aus regiert wird, einer Gegend, die traditionell nach Hamburg blickt und die nun auch noch Teil der hanseatischen Metropolregion geworden ist Um die Richtung Vorpommern zunehmende Strukturschwäche erträglicher zu machen, wird von denjenigen, die historisch argumentieren, gerne eine pommersche, preußisch-provinzialverfasste Modernität gegen notorisch

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René Wiese

mecklenburgische Rückständigkeit ausgespielt 1 Wer nichts über Mecklenburg weiß, kennt doch den Spruch, dass dort alles soundso viele Jahre später geschehe und in seiner Beharrungskraft sogar den Weltuntergang überstehe Eine Aussage, die auch dadurch nicht an Wahrheit gewinnt, dass man sie fälschlich Bismarck zuschreibt 2 Richtig ist: Wer den Weg der mecklenburgischen Großherzogtümer in den norddeutschen Bund und überhaupt ihren Weg in die Moderne bewerten will, muss auf Preußen blicken Und zwar nicht allein auf das Preußen von 1866, sondern das der 1840er Jahre Dann wird deutlich, dass in Mecklenburg keine genetische Disposition zur Stasis vorliegt,3 sondern Umweltbedingungen die Geschicke des Landes maßgeblich bestimmten Einer der wichtigsten dieser äußeren Faktoren war im 19  Jahrhundert Preußen, genauer gesagt König Friedrich Wilhelm IV (1795–1861), dessen Verfassungspolitik zwischen Anarchie und gutem Willen einen langen Schatten auf die mecklenburgische Geschichte wirft 4 Friedrich Wilhelm IV von Preußen ist ein unter Masken verborgener Schauspieler genannt worden, der „hinter einer Wand von wirren Gedanken und klingelnden Worten […] das Publikum vergessen [machen wollte], daß er eigentlich einige wenige handfeste Interessen gradlinig bis zur Starrsinnigkeit verfolgte“ 5 Aus dynastischen und ideologischen Gründen geriet Mecklenburg in die verfassungspolitischen Inszenierungen dieses hochbegabten Schauspieler-Königs 6 Und das in einem Fach, in dem die Großherzogtümer eine Paraderolle spielten: der Bewahrung einer „ächt“ deutschen,

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Dirk Schleinert, Mecklenburg und Vorpommern Grenzen und Perspektiven einer historischen Annäherung, in: Mecklenburgische Jahrbücher 130 (2015), 343–357; Roderich Schmidt, Demmin – historische Grenzregion zwischen Pommern und Mecklenburg, in: Hans-Joachim von Oertzen (Hg ), Grenzregion zwischen Pommern und Mecklenburg, Schwerin 2000, 13–20 Differenzierter dagegen: Dirk Mellies, Modernisierung in der preußischen Provinz Der Regierungsbezirk Stettin im 19  Jahrhundert, Göttingen 2012, 245–352: Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19  Jahrhunderts, Göttingen 2005, 669–592 Bernd Kasten, Alles 50 Jahre später? Die Wahrheit über Bismarck und Mecklenburg, Rostock 2013, 25 „… ein Mecklenburger bleibt eben ein solcher!“ Ludwig Biewer, Jahresbericht des Vorsitzenden der Gesellschaft für pommersche Geschichte, Altertumskunde und Kunst, in: Baltische Studien Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte 98 (2012), 241 René Wiese, Romantischer Historismus als politische Leitorientierung: König Friedrich Wilhelm IV von Preußen und das Scheitern der mecklenburgischen Verfassungsreform 1850, in: Anke John (Hg ), Reformen in der Geschichte Festgabe für Wolf D Gruner zum 60 Geburtstag, Rostock 2005, 105–121; David Barclay, Anarchie und guter Wille Friedrich Wilhelm IV und die preußische Monarchie, Berlin 1995 Winfried Baumgart, Friedrich Wilhelm IV (1840–1861), in: Frank Lothar Kroll (Hg ), Preußens Herrscher Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II , München 2009, 219–241, 241 Siehe auch: Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern Bd  2: Dynastie im säkularen Wandel Von 1740 bis in das 20  Jahrhundert, Stuttgart 2003, 123 René Wiese / Kathleen Jandausch (Hgg ), Schwestern im Geiste Briefwechsel zwischen Großherzogin Alexandrine von Mecklenburg-Schwerin und Königin Elisabeth von Preußen Bd 1: 1824–1850, Köln u a 2021

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ständischen Verfassung als Gegenentwurf zum „normativen Projekt des Westens“, zu Volkssouveränität und modernem Parlamentarismus 7 In seiner berühmten, mit neuen Öffentlichkeitsformen experimentierenden Thronrede sprach Friedrich Wilhelm IV anlässlich der Eröffnung des Vereinigten preußischen Landtags 1847 davon, dass sich zwischen ihn als Sachwalter der göttlichen Vorsehung und seine Untertanen kein Blatt Papier als zweite Vorsehung schieben solle Aber auch ein aus der Zeit gefallenes mystisches Königsverständnis wie dieses benötigte hinsichtlich der Staatsfinanzen handhabbare Machtmechanismen, um Preußen als Großmacht regierbar zu halten Friedrich Wilhelm IV und seine christlich-ständischen Berater suchten nach einer Herrschaftsform, die den von seinem Vater Friedrich Wilhelm III ererbten bürokratischen Absolutismus überwinden sollte, ohne doch in die konstitutionelle Monarchie zu führen 8 Auf der Grundlage einer hierarchisch gegliederten Hausväterherrschaft sollte es an der Staatsspitze eine Art mittelalterliche Kollektivberatung des Herrschers durch eine ständische Elite geben Seit den 1820er Jahren ist in Preußen in dieser Richtung ohne befriedigendes Ergebnis experimentiert worden Wie schon Ranke bemerkte, versuchte Friedrich Wilhelm IV europäische Gegensätze zwischen Volkssouveränität und Autokratie mit der Aufrichtung einer Burg alter gegenseitiger Treue und alten Glaubens zu überbrücken 9 Die preußische Monarchie war ethnisch, konfessionell und territorial viel komplexer zusammengesetzt als die mecklenburgischen Großherzogtümer, und doch blickte der König bei seiner verfassungspolitischen Orientierungssuche auf den nördlichen Nachbarn 10 Dort waren ja die vermeintlich organisch gewachsenen Elemente einer christlich-ständischen Monarchie konserviert worden, ein Befund, auf den Friedrich Wilhelm IV in seiner Thronrede 1847 aufmerksam machte: „Möchte doch das Beispiel des Einen glücklichen Landes, dessen Verfassung die Jahrhunderte und eine Erb-Weisheit ohne gleichen, aber kein Stück Papier gemacht haben, für uns unverloren sein und die Achtung finden, die es verdient“ 11 Wie der Erbgroßherzog Friedrich Wilhelm von 7 8 9 10

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Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens Von den Anfängen in der Antike bis zum 20  Jahrhundert, München 2010, 1189 Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit Friedrich Wilhelm III , der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, 552–560 Leopold von Ranke, Friedrich Wilhelm IV König von Preußen, in: ders , Abhandlungen und Versuche Neue Sammlung, Leipzig 1888, 403–474; Franz Schnabel, Deutschland in den weltgeschichtlichen Wandlungen des letzten Jahrhunderts, Berlin 1925, 120 „Wenn die Charakteristik des germanischen Staates, wie sie Friedrich Wilhelm gab, richtig war, dann war in Mecklenburg der einzige lebendige Typus desselben erhalten “ Das bemerkte schon der Breslauer Universitätshistoriker Jacob Caro, Herzog Georg zu Meklenburg-Strelitz Ein Lebensund Charakterbild, Breslau 1878, 46 Friedrich Wilhelms IV Königs von Preußen Reden, Proclamationen, Botschaften, Erlasse und Ordres seit seiner Thronbesteigung, Berlin 1861, 27 Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV und das Staatsdenken der deutschen Romantik, Berlin 1990, 67 Anke John, Land der Erbweisheit Mecklenburg zwischen zwei Revolutionen 1848 und 1918, Schwerin 1997 Der Schweriner Hofbaumeister Demmler (1804–1886) war dabei, als König Friedrich Wilhelm IV gescherzt (!) habe, man lebe in Mecklen-

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Mecklenburg-Strelitz einmal bemerkte, sprach der König stets schön, aber unklar 12 Ging Friedrich Wilhelm IV hier davon aus, jeder wisse, welches Land er so glücklich nannte? Die Liberalen damals und diejenigen, die seitdem zur Ehrenrettung der königlichen Künstlerpersönlichkeit angetreten sind, jubelten: England, nur England könne das vom König gelobte Land sein!13 Aber dass dieser König ein „Fan“ der parlamentarischen Monarchie gewesen sein soll, scheint doch wenig plausibel Jedenfalls hat schon 1847 der westfälische Landtagsabgeordnete Georg von Vincke bei seinen tatsächlich an England orientierten parlamentarischen Verfahrensvorschlägen betont, dass er, Vincke, anders als der König nicht Mecklenburg sondern wirklich England meine 14 Dass es Friedrich Wilhelm IV mit seiner Suche nach einem dritten Weg zwischen absoluter und konstitutioneller Herrschaft ernst meinte, ließ er seine Untertanen schon bei der Thronbesteigung 1840 wissen: „Wem von Ihnen nun der Sinn nicht nach einer sogenannten glorreichen Regierung steht, die mit Geschützdonner und Posaunenton die Nachwelt ruhmvoll erfüllt, sondern wer sich begnügen lassen will mit einer einfachen, väterlichen, echt deutschen und christlichen Regierung, der fasse Vertrauen zu mir …“ 15 Für eine Wahlrechtsreform innerhalb der parlamentarischen Monarchie, wie sie 1832 in Großbritannien durchgeführt wurde, hatte der König jedenfalls nur Verachtung übrig Das sei „eine reine Sache der Revoluzion, dieses Ungeheurs, welches erst seit 40 Jahren das Licht der Welt erblickt hat“ 16 Es nimmt nicht Wunder, dass des Königs Neffe, der schon mit 19 Jahren auf den Thron gekommene Großherzog Friedrich Franz II von Mecklenburg-Schwerin (1823–1883) Vertrauen zu seinem königlichen Onkel fasste, denn der König sprach ihm und seinem Land eine Bedeutung zu, die dessen mindermächtige Rolle unter den deutschen Staaten weit überstieg Wenn man nicht bis ins späte Mittelalter zurückgehen möchte, dann hatten die mecklenburgischen Herzöge nie eine glorreiche Regie-

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burg im Lande der „beneidenswürdigen Erbweisheit“ Georg Adolph Demmler, Altes und Neues, Schwerin 1874, 59 René Wiese, What times! Die Revolution von 1848/49 in den Tagebüchern des Erbgroßherzogs Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Strelitz, in: Mecklenburgische Jahrbücher (133) 2018, 87–108 An Georg von Vincke, den westfälischen Vertreter der „aristokratischen Whigs“ in Preußen, schrieb der König, dass England schon eine Art Ideal sei, man es aber nicht nachäffen solle Friedrich Wilhelm IV an Georg von Vincke am 8 7 1848, zit in Hans-Joachim Behr, „Recht muß doch Recht bleiben“ Das Leben des Freiherrn Georg von Vincke (1811–1875), Paderborn 2009, 408 Rudolf Haym, Reden und Redner des ersten Preußischen Vereinigten Landtags, Berlin 1847, 81 Rede an die Stände der Ritterschaft am Huldigungstag in Berlin am 15 10 1840 in, Friedrich Wilhelms IV Königs von Preußen Reden, Proclamationen, Botschaften, Erlasse und Ordres seit seiner Thronbesteigung, Berlin 1861, 10 Günther Grünthal, Verfassungsdenken und Regierung Politische Ordnung, Revolution und politische Praxis im Umkreis Friedrich Wilhelms IV , in: Peter Krüger  / Julius H  Schoeps (Hgg ), Der verkannte Monarch Friedrich Wilhelm IV und seine Zeit, Potsdam 1997, 123–143 Johann Georg Herzog zu Sachsen (Hg ), Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den Königen Friedrich Wilhelm IV und Wilhelm I von Preußen, Leipzig 1911, 124, Brief vom 29 /31 Mai 1832

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rung geführt, sondern sich zwischen Adelsrepublik und domanialem Patriarchat eingerichtet, ohne je einen militärisch mächtigen Finanz- und Steuerstaat begründen zu können 17 Dass sich sein königlicher Bruder gerade den Hemmnissen und Stockungen ständischer Steuerbewilligungen – wie sie in Mecklenburg gang und gäbe waren – freiwillig aussetzen wollte, konnte Wilhelm (I ), der Prinz von Preußen, nicht begreifen 18 Die Beziehungen zwischen Mecklenburg und Preußen im 18   Jahrhundert sind die Geschichte einer Mesalliance genannt worden 19 Nach den Erfahrungen des Siebenjährigen Krieges galt Preußen noch bis in die 1870er Jahre in mecklenburgischen Volksschulbüchern als aggressiver Militärstaat 20 Prägende Momente dieser schwierigen Nachbarschaft waren neben den Kriegserfahrungen die mehrfach erneuerte Erbverbrüderung von 1442 sowie die Heirat des ersten Preußenkönigs mit der mecklenburgischen Prinzessin Sophie Luise im Jahr 1703, weil die preußischen Könige seitdem den Stier im Wappen führten Aufgrund der Fertilität der mecklenburgischen Dynastie konnten die Hohenzollern das Erbe an ihrer Nordgrenze allerdings nie antreten 21 Dass preußische Könige wie Friedrich Wilhelm IV sich tatsächlich als Mit-Herzöge von Mecklenburg verstanden und dort agnatische Interessen verfolgten, ist dann über ein Konnubium befördert worden, das für Mecklenburg einen noch höheren Stellenwert hatte als die Hochzeit 1793 zwischen Friedrich Wilhelm III und der Strelitzer Herzogin Luise 1822 heiratete Alexandrine (1803–1892), die zweitälteste Tochter des Königs, den Erbgroßherzog Paul Friedrich (1800–1842) und wurde 1837 Großherzogin von Mecklenburg-Schwerin Vor allem aus dieser Verbindung speisten sich die engen, wenn auch nicht immer konfliktfreien Beziehungen22 zwischen den Häusern Mecklenburg-Schwerin und Hohenzollern, die bis zum Ende der Monarchie erhalten bleiben sollten: Die letzte preußisch-deutsche Kronprinzessin Cecilie ist eine Mecklenburgerin gewesen Alexandrine und Paul Friedrich lebten in den 1820/30er Jahren im Thronfolger-Wartestand bisweilen über Monate am Hof Friedrich Wilhelms III Ihr Sohn Friedrich Franz II reiste regelmäßig nach Potsdam und Berlin, wo er den Charlotten-

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René Wiese, Das Haus Mecklenburg Fürsten, Herzöge und Großherzöge, in: Bernd Kasten / Matthias Manke / René Wiese (Hgg ), Die Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin, Rostock 2015, 6–13 Winfried Baumgart (Hg ), König Friedrich Wilhelm IV und Wilhelm I Briefwechsel 1840–1858, Paderborn u a 2013, Januar 1845, 123 Gerd Heinrich, Friedrich der Große und Mecklenburg Geschichte einer Mesalliance, in: Helge Bei der Wieden / Tilmann Schmidt (Hgg ), Mecklenburg und seine Nachbarn, Rostock 1997, 127– 148 Bernd Kasten, Die Darstellung der mecklenburgischen Landesgeschichte in den Schulbüchern des Landes zwischen 1830 und 1918, in: Anke John (Hg ), Köpfe Institutionen Bereiche Mecklenburgische Landes- und Regionalgeschichte seit dem 19  Jahrhundert, Lübeck 2016, 119–134 „… ils sont d’une fécondité à repeupler une garenne, tandis que la stérilité de notre famille nous menace de sa fin prochaine “ Testament politique [1768], in: Gustav Berthold Volz (Hg ), Die politischen Testamente Friedrichs des Großen, Berlin 1902, 110–237, hier 215 René Wiese, Herzog Wilhelm zu Mecklenburg (1827–1879) – preußischer Kavallerieoffizier, Bankrotteur und Weltreisender wider Willen, in: MJB 125 (2010), 225–250

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burger Gebetskult um seine preußischen Großeltern mitvollzog 23 Preußische Könige und Prinzen waren häufig Gäste in Ludwigslust und Schwerin, wenn es galt, mecklenburgische Herzöge und Herzoginnen aus der Taufe zu heben Der Bau der BerlinHamburger Eisenbahn hat die Kommunikation der Höfe maßgeblich befördert Nicht zuletzt aus diesem Grund ist ihr Verlauf in Richtung der Residenzstädte Schwerin und Ludwigslust verschoben worden Obwohl der Kult um die Königin Luise im mecklenburgischen Hohenzieritz bis heute eine besondere Heimstatt hat und Großherzog Georg darin eine wichtige Rolle als Lieblingsbruder spielt, hielt die Strelitzer Linie des Hauses Mecklenburg deutlich mehr Distanz zu Preußen als die Schweriner Dynastische und diplomatische Absicherung suchten die Strelitzer im 19  Jahrhundert vornehmlich in Großbritannien Großherzog Friedrich Wilhelm (1819–1906) und seine britische Frau Augusta (1822–1916) waren zeitlebens mehr in London als in Neustrelitz zu Hause Misstrauischer Abstand kennzeichnete auch die Strelitzer Beziehungen zu Mecklenburg-Schwerin, denn die Landesteilung von 1701 hatte eine Linienkonkurrenz entstehen lassen, die noch dadurch verstärkt wurde, dass die materielle Basis der Strelitzer Souveränität andernorts nur einer Apanage entsprach Als ein Mecklenburg zusammengehalten wurden beide Großherzogtümer durch eine Institution sui generis, die Landstände, seit dem 16  Jahrhundert reich privilegiert und durch den Erbvergleich 1755 landesgrundgesetzlich verankert 24 Neben den jährlich stattfindenden Landtagen existierte seit 1621 ein Engerer Ausschuss der Ritterund Landschaft, der fern der fürstlichen Residenzen von Rostock aus die Funktion einer ständischen Nebenregierung ausübte 25 Erblandmarschälle und Landräte galten in Mecklenburg mehr als die ihrem Herrn und Großherzog abhängig dienenden Minister Auch nach dem Untergang des Alten Reiches wurde die Ständeverfassung im Rahmen des Deutschen Bundes durch eine übergeordnete Instanz geschützt Die Bundesversammlung garantierte eine großherzogliche Verordnung vom 28 11 1817, nach der Verfassungsstreitigkeiten zwischen Landesherren und Ständen durch eine ad hoc zu bildende gerichtliche Kompromissinstanz beizulegen waren, eine Regelung, an der schlussendlich auch die 1848er Revolution scheitern sollte 26

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René Wiese (Hg ), Vormärz und Revolution Die Tagebücher des Großherzogs Friedrich Franz II von Mecklenburg-Schwerin 1841–1854, Köln u a 2014, 114 Kersten Krüger, Der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich von 1755 Mecklenburg zwischen Monarchie und Adelsrepublik, in: Michael Busch / Jörg Hillmann (Hgg ), Adel – Geistlichkeit – Militär, Bonn 1999, 91–108; Michael Busch, Machtstreben – Standesbewusstsein – Streitlust Landesherrschaft und Stände in Mecklenburg von 1755 bis 1806, Köln u a 2013 René Wiese, 300 Jahre Hauptstadt Rostock als Sitz des Engeren Ausschusses der mecklenburgischen Ritter- und Landschaft, in: Matthias Manke (Hg ), Rostock und seine Nachbarn in der Geschichte, Rostock 2018, 95–112 Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934), Berlin 2008, 349

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Als Relikt des ständischen Frühparlamentarismus lagen die mecklenburgischen Landstände in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts verfassungspolitisch hinter den Errungenschaften süddeutscher Konstitutionen zurück, rangierten aber immerhin noch vor Ländern wie Österreich, Oldenburg oder Preußen, die gar keine Verfassung und kein staatspolitisches Forum außerhalb von Hof und Regierung besaßen 27 In Mecklenburg bestimmten auf den Landtagen 600 adlige und bürgerliche Großgrundbesitzer sowie einige Dutzend Bürgermeister über das Leben einer halben Million Untertanen – soweit sich die Teilnehmer über die Beschlussvorlagen der absolut über ihre Domänen herrschenden Großherzöge einigen konnten Die Offenheit der Grundbesitzverhältnisse hatte es Bürgerlichen schon im 18  Jahrhundert ermöglicht, mit landtagsfähigen Gütern auch die daran geknüpften landständischen Stimmrechte zu erwerben In den 1840er Jahren stellten sie die allerdings stark vom Mobilisierungsgrad beeinflusste Landtagsmehrheit und drängten mit der Übertragung ständischer Privilegien auch auf eine liberale Verfassungsreform Diejenigen, die im Vormärz großmächtigen Obrigkeits- und Polizeistaaten aus dem Wege gehen wollten, fanden auf den Gütern und Pachthöfen Mecklenburgs nicht nur unternehmerische Freiheit wie der Vater von Werner von Siemens28 sondern auch wie Hoffmann von Fallersleben politisches Asyl unter dem Schutz selbstbewusster Gutsbesitzer 29 Wirtschaftliche Grundlage dieser politischen Ordnung war die Getreideproduktion auf den Gütern und domanialen Pachthöfen Die großbetrieblich organisierten Kornfabriken lagen im 19   Jahrhundert hinsichtlich ihrer Produktivität an der internationalen Spitze 30 Nicht zufällig ist die moderne landwirtschaftliche Betriebswirtschaft in Mecklenburg durch Johann Heinrich von Thünen auf Tellow entwickelt worden 31 Solange die landwirtschaftliche Konjunktur positiv verlief, konnten mit dem Weizenexport außerordentliche Gewinne erzielt werden Gerade die 1850/60er Jahre waren für die exportorientierte Landwirtschaft goldene Zeiten, bis der entstehende Weltmarkt den Getreidehandel in den 1870er Jahren völlig neu ausrichtete Die mecklenburgischen Großherzogtümer waren am Freihandel über ihre Ostseehäfen Wismar und Rostock und auch über Hamburg interessiert, an der zollfreien Ausfuhr von Agrarprodukten und der Einfuhr von Gebrauchs- und Luxusgütern vor allem aus England und Frankreich Der deutsche Binnenmarkt spielte für sie keine größere Rol-

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Ewald Frie, Bühnensuche Monarch, Bürokratie, Stände und „Öffentlichkeit“ in Preußen 1800– 1830, in: Hans-Georg Soeffner / Dirk Tänzler (Hg ), Figurative Politik Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, 53–68 Werner von Siemens, Lebenserinnerungen, München 2008, 40 Matthias Manke, Reform, Revolution, Resignation Das politische Wirken des bürgerlichen Gutsbesitzers Samuel Schnelle auf Buchholz (1803–1877), in: Thünen Jahrbuch 8 (2013), 135–192 Ilona Buchsteiner, Land des Korns, in: Jahrbuch für Hausforschung 49 (2002), 17–28 Ilona Buchsteiner, Thünen in seiner Zeit, in: Johann Heinrich von Thünen Thünensches Gedankengut in Theorie und Praxis, Münster 2002, 9–22

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le 32 Aus diesem Grund waren die Großherzogtümer auch nicht Mitglied im deutschen Zollverein, sondern verfolgten eine eigene, durch zahlreiche Konsulate gestützte Handelspolitik 33 Mit Frankreich schlossen die Regierungen noch 1865 einen eigenen Handels- und Schifffahrtsvertrag ab Diese Ausrichtung Mecklenburgs auf die Versorgung ausländischer Ballungszentren mit Nahrungsmitteln war aus Sicht der deutschen Nationalbewegung natürlich partikularistisch und rückschrittlich Diese Funktion wendete sich dann zwischen 1870 und 1989 nach innen, indem die Ernährung deutscher Großstädte und Industriezentren zur nationalen Aufgabe Mecklenburgs bzw der „Nordbezirke“ erklärt wurde Im Gegensatz zum Gebiet der Ritterschaft,34 wo die wirtschaftliche Moderne unter den politischen Bedingungen des Ancien Regime existierte, agierte die liberale Schweriner Regierung unter dem großen mecklenburgischen Staatsmann Ludwig von Lützow (1793–1872) in den 1840er Jahren reformorientiert Während auf den Gütern Kostenstrukturen die Sozialpolitik bestimmten, wurde im großherzoglichen Domanium eine Häusleransiedlung durchgeführt, die sich der sozialen Frage in gesamtstaatspolitischer Verantwortung annahm Dabei handelte es sich um eine Ansiedlung von Landarbeitern, die noch Ende des 19  Jahrhundert als vorbildlich für Preußen galt, wenn man dem Urteil Max Webers folgt 35 Diese sich auch in der Öffentlichmachung der Staatsfinanzen niederschlagende Reformbereitschaft war einer der Gründe, warum es in Mecklenburg-Schwerin 1848 kein Märzministerium gab Der Staatsminister Ludwig von Lützow behielt das allgemeine Vertrauen, wie man damals sagte, und bestimmte von 1840–1850 durchgängig die Politik Als engster politischer Berater des Großherzogs versuchte von Lützow, den vormodernen Guts- und Domänenstaat in eine konstitutionelle Monarchie mit einheitlichem Staatsgebiet zu überführen Im Verlaufe der 1848er Revolution hat Mecklenburg dann auch mit einer konstitutionellen Verfassung die Tür zu einer modernen Staatsordnung weit aufgestoßen – wenn nicht Preußen diese Tür wieder zugetreten hätte Denn dass Alt-Mecklenburg, wie es bald hieß, beim König und seinem ständisch-christlich orientierten Umfeld als

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Volker Höffer, Die Großherzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im Prozeß der Herstellung der nationalen Einheit in Deutschland 1858–1871 Studien zur ökonomisch-sozialen und politisch-rechtlichen Integration, Diss Rostock 1991, 71 Matthias Manke, Im Interesse unserer sich immer weiter ausdehnenden Schifffahrt Die mecklenburg-schwerinschen Konsulate in Übersee, in: ders (Hg ), Kapitäne, Konsuln, Kolonisten Beziehungen zwischen Mecklenburg und Übersee, Lübeck 2015, 67–128 Die Landstädte bleiben hier unberücksichtigt Siehe Gerhard Heitz, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Grundlagen mecklenburgischer Landstädte im 19   Jahrhundert, in: Hanna Haack u a (Hg ), Gerhard Heitz Studien zur mecklenburgischen Agrargeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, 214–240 René Wiese, Gebotene Humanität oder falsche Philanthropie? Sozialethische Kontroversen um die Einliegeransiedlung in Mecklenburg um 1840/50, in: Der Festungskurier Beiträge zur Mecklenburgischen Landes- und Regionalgeschichte 3 (2003), 45–59; René Wiese, Ludwig von Lützow, in: Sabine Pettke (Hg ), Biographisches Lexikon für Mecklenburg, Bd  4, Lübeck 2004, 155–161

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vorbildhaftes Staatswesen galt, sollte für die Großherzogtümer unerfreuliche Folgen haben Die Verhandlungen der Schweriner Regierung bzw der Verfassungskommissare mit der mecklenburgischen Abgeordnetenversammlung über das konstitutionelle Staatsgrundgesetz stießen in Berlin seit Anfang 1849 auf heftige Ablehnung Der König schrieb an seine Schwester: Mecklenburg liegt mir in den Gliedern Die Gefahr, die für Preußen und Deutschland daraus erwächst ist sehr groß, daß in diesem so wichtigen Lande die Obrigkeit ‚von Gottes Gnaden‘ sichs leicht machen will, ihren Beruf – nicht verkennt – denn sie kennt ihn (das ist das Scheußlichste!) sondern bey Seite schiebt, die heillose, gottlose Revoluzion caressiert, selbst untreu und unklug an die Spitze der Verräther, ihrer Verräther und bald ihrer Zerstöhrer tritt! Aus bloßer Feigheit! Lützow würde vor 100 Jahren gewußt haben, daß er um seinen Kopf spielte 36

Friedrich Wilhelm IV schickte im Januar 1849 Leopold von Gerlach nach Schwerin, um die völlige Beseitigung der inzwischen zum Bollwerk gegen die Revolution überhöhten mecklenburgischen Ständeverfassung zu verhindern 37 Da die Konstitution nicht nur die Macht der adligen Ritterschaft bedrohte, sondern auch die Strelitzer Dynastie vor die Existenzfrage stellte, forderte auch der Strelitzer Großherzog energischen Protest aus Berlin Die Strelitzer waren finanziell nicht in der Lage aus ihrem Domanium ein Staatsvermögen auszuscheiden, um einem Verfassungsstaat das Leben zu sichern Während die Regierung in Mecklenburg-Schwerin preußische Truppendurchmärsche Richtung Dänemark misstrauisch beäugte, suchte die Strelitzer Regierung den Schutz der preußischen Armee und bekam das Pasewalker Kürassierregiment „Königin“ zur Unterstützung gegen revolutionären Aufruhr Die Verfassungskommissare unter Ludwig von Lützow behaupteten erstaunlich lange ihren Einfluss auf den Großherzog Mecklenburg-Schwerin publizierte im Oktober 1849 die neue Verfassung gegen Ermahnungen Preußens und den Protest der Strelitzer sowie der nachgeborenen Schweriner Herzöge, die ebenfalls um ihre Versorgung im neuen Staat bangten Als die Regierung Lützow dann im Dezember 1849 den Engeren Ausschuss der Ritter- und Landschaft in Rostock auflöste, war die landständische Verfassung eigentlich erledigt, wenn nicht Friedrich Wilhelm IV und die Gerlachs um jeden Preis versucht hätten, sie zu retten Formal berief sich der König auf den 1752 und 1787 erneuerten Wittstocker Erbvereinigungsvertrag von 1442 und sein Sukzessionsrecht in die mecklenburgischen Lande, wo ein Zustand „notorischer Rechtsungewissheit herrsche, der sich aus der Nichtanerkennung der Verfassung aus Gründen der Mecklenburgschen Gesetze und Herkommen“ ergebe Friedrich Wil36 37

Friedrich Wilhelm IV an Alexandrine, Sanssouci 17 Oktober 1849, Landeshauptarchiv Schwerin (LHAS), 5 2–4/1–2 Nachlass Alexandrine Nr  44 Bericht Gerlachs Schwerin 19 1 1849, LHAS, 5 2–1 Nr  766 Vgl Leopold von Gerlach, Denkwürdigkeiten aus dem Leben Leopold von Gerlachs, Bd  1, Berlin 1891, S 275

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helm IV protestierte gegen die „Alienation des größten Theils der Domainen“ und die damit verbundene Zurückstufung des Landesherrn Der König machte deutlich, dass im Falle der Erbfolge sein Haus das Staatsgrundgesetz nicht anerkennen werde 38 Die „antikonstitutionellen Verkrampfungen“39 der Hohenzollern erreichten einen Höhepunkt, als der König im Januar 1850 seinen Eid auf die preußische Verfassung mit einer merkwürdigen reservatio mentalis ablegte 40 Auch wenn in den 1850er Jahren der offene Verfassungsbruch ausblieb, abgefunden hat sich der König mit seiner Lage als konstitutioneller König nie: „Ich gedenke aber – sehr weit zu gehen, um die Reform beyder Kammern aus dem französ Revolutzions Unflath heraus in teutsches Wesen hinein, durchzusetzen“ 41 Während diesen Machtphantasien in Preußen kein energischer Staatsstreich, sondern lähmende Reaktion folgte, ging der König in Mecklenburg tatsächlich sehr weit und eskalierte das völlig legitim entstandene mecklenburgische Staatsgrundgesetz zu einer „Verfassungsfrage“, die sich nach dem Staatsrecht des 19  Jahrhunderts eigentlich gar nicht stellte 42 Des Königs ungewohnte Hartnäckigkeit in dieser Angelegenheit lässt den Verdacht aufkommen, dass er in Mecklenburg Kompensation für sein eigenes politisches Scheitern suchte 43 In einem Brief an seine Schwester drohte er: Warte dann den Einmarsch unserer Truppen nicht ab Komme zu uns und bey Zeiten Es muß herzzerreißend für Dein Mutterherz, für dein echt mecklenburgisches Herz sein,

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Siehe das Protestschreiben vom 22 11 1849, LHAS, 2 21–1 Nr  6498 Interessant ist hier die argumentative Parallele zum Hannoverschen Verfassungskonflikt 1837 Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Hohenzollern, Berlin 1995, S 11 Schon 1849 hatte Bismarck gesagt: Unter den Bedingungen, wie sie in Mitteleuropa herrschten, gebe es keine Verpflichtung der preußischen Krone „sich in die machtlose Stellung drängen zu lassen, welche die englische Krone einnimmt, die mehr als ein zierlicher Kuppelschmuck des Staatsgebäudes erscheint, während ich in der unserigen den tragenden Mittelpfeiler desselben erkenne “ 24 9 1849 Rede 2 Kammer Bismarck: Horst Kohl (Hg ), Die Politischen Reden des Fürsten Bismarck 1847–1897 Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd  1, Stuttgart 1892, 125; David E Barclay, Das „monarchische Projekt“ Friedrich Wilhelms IV von Preußen, in: Frank-Lothar Kroll / Dieter J Weiß (Hg ), Inszenierung oder Legitimation? / Monarchy and the Art of Representation Die Monarchie in Europa im 19 und 20  Jahrhundert Ein deutsch-englischer Vergleich, Berlin 2015, 35–46 „In Preußen muß der König regieren, und Ich regiere nicht, weil es also Mein Wohlgefallen ist, Gott weiß es, sondern weil es Gottes Ordnung ist …“ Ansprache und Gelöbnis zur Verfassung am 6 2 1850, in: Friedrich Wilhelms IV Königs von Preußen Reden, Proclamationen, Botschaften, Erlasse und Ordres seit seiner Thronbesteigung, Berlin 1861, 68 Dirk Blasius, Friedrich Wilhelm IV 1795–1861 Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992, 244 Berlin 4 2 1853 Winfried Baumgart (Hg ), König Friedrich Wilhelm IV und Wilhelm I Briefwechsel 1840–1858, Paderborn u a 2013, 425; Michael Kotulla, Das konstitutionelle Verfassungswerk Preußens (1848–1918) Eine Quellensammlung mit historischer Einführung, Berlin 2003, 27 ff Siehe die Sitzung des Kronrates am 16 3 1850, Jürgen Kocka / Wolfgang Neugebauer (Hgg ), Acta Borussica Neue Folge 1 Reihe Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1934 38 Band 4/1, 30 März 1848 bis 27 Oktober 1858 Bearb von Bärbel Holtz, Hildesheim u a 2003, 131 Kein wunderlicher Herr und Versager Jürgen von Gerlach, von Gerlach Lebensbilder einer Familie in sechs Jahrhunderten, Insingen 2015, 160

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Blutvergießen um Dich her zu erleben um der Halsstarrigkeit Deines geliebten Sohnes Willen, oder seine Demütigung zu erleben …44

Ludwig von Lützow hätte wohl noch weiter durchgehalten, aber angesichts der bedrohlichen Zuspitzung verlor der in seiner Familie und unter seinen Standesgenossen völlig isolierte Schweriner Großherzog die Nerven Um der Schmach durch einen als Bundesexekution getarnten preußischen Einmarsch zu entgehen, entließ Friedrich Franz II seine konstitutionell-liberale Regierung und stellte sich einer Restaurierung der Ständeverfassung durch ein bundesgarantiertes Schiedsgericht nicht in den Weg Die Verkündigung des Freienwalder Schiedsspruchs dann am 11 September 1850 ging als schwarzer Tag in die neuzeitliche mecklenburgische Geschichte ein 45 Landtage traten wieder nach den alten Gepflogenheiten zusammen, und auch der Engere Ausschuss kehrte unbehelligt nach Rostock zurück In sauberer Begrifflichkeit begann in Mecklenburg 1850 nicht ein Zeitalter der Reaktion, sondern der Restauration 46 Nachdem mit preußischer Hilfe das ständische Staatsschiff restauriert und wieder flott gemacht worden war, wechselte die adlige Ritterschaft allerdings recht bald die Seite und schlug einen antipreußischen Kurs ein, um nicht wie die Schweriner Regierung in das politische Kraftfeld des benachbarten Verwaltungs- und Militärstaates zu geraten Altadlige Führer wie Friedrich von Maltzan auf Rothenmoor (1783–1864) bekämpften nicht nur die Revolution, sondern auch den mit „Verpreußung“ drohenden modernen Verwaltungsstaat Er und andere, in Preußen schon im Zeitalter der Reformen ausgeschaltete adlige „Ultras“ gaben dem mecklenburgischen Ständestaat die höheren Weihen einer heilsgeschichtlichen Mission gegen Absolutismus und Volkssouveränität 47 Der Strelitzer Großherzog schlug, allerdings aus ganz pragmatischen Gründen, einen ähnlich antipreußischen Kurs ein Das außenpolitische Überlaufen zu Österreich brandmarkten die Gerlachs als undankbaren Verrat an Preußen, dem eigentlichen Retter der Strelitzer Monarchie Großherzog Georg und seine Regierung focht

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Friedrich Wilhelm IV an Alexandrine, Charlottenburg 29 1 1850, Landeshauptarchiv Schwerin, 5 2–4/1–2 Nachlass Alexandrine Nr  44 Sowie des Königs Äußerung gegenüber Radowitz: „Ein kleiner unbedeutender Truppenmarsch gegen die Grenze hinzu und alles ist gewonnen “ Hans Grobbecker, Mecklenburg-Strelitz in den Jahren 1848–1851, in: Mecklenburg-Strelitzer Geschichtsblätter 2 (1926), 75–184, Zit 173 Klaus Baudis, Der Freienwalder Schiedsspruch vom 11 /12 September 1850 Wie kam er zustande? War das Schiedsgericht eine Institution des Deutschen Bundes?, in: Ilona Buchsteiner (Hg), Die mecklenburgischen Großherzogtümer im deutschen und europäischen Zusammenhang 1815 bis 1871, Rostock 2002, 199–126 Volker Sellin, Das Jahrhundert der Restaurationen 1814 bis 1906, München 2014 Gesandter von Richthofen an Außenminister Schleinitz Hamburg 20 12 1859, GStA PK, III HA, MdA I 541 René Wiese, Ständepolitik in Theorie und Praxis Der mecklenburgische Landrat und Geschichtstheologe Friedrich von Maltzan auf Rothenmoor (1783–1864), in: Ilona Buchsteiner (Hg ), Die mecklenburgischen Großherzogtümer im deutschen und europäischen Zusammenhang 1815 bis 1871, Rostock 2002, 213–240

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das nicht an Sie suchten im Deutschen Bund eine den kleinen Fürsten passende Antwort auf die Frage „von seyn und nicht seyn“ 48 Für Strelitz war ein durch den Bund eingehegter deutscher Dualismus solange gut, wie der Einfluss Österreichs in den 1850er Jahren noch nach Norddeutschland reichte und Preußens Hegemonie schwächte In Schwerin sah das anders aus Hier wurde der durch Lützows Verfassung geschwächte Konservatismus durch Preußen gestützt Nachdem schon 1849 ein preußischer Oberst das Kommando über die mecklenburgische Brigade übernommen hatte, legte der Großherzog ein Jahr später auch die Regierungsgeschäfte einem leitenden Beamten aus Preußen in die Hände, dem Unterstaatssekretär Hans Graf von Bülow Sinnfällig geworden ist diese politisch-restaurative Wende in der Neugestaltung des Schweriner Schlossportals durch den preußischen Architekten Friedrich August Stüler, der nicht ohne Einfluss des Königs aus dem im Umbau befindlichen Stammschloss der Obotritenherrscher ein revolutionsbannendes Monument des Gottesgnadentums und einer christlich-ständischen Herrschaftsordnung machte Das Schweriner Schloss war kein romantischer Burgentraum, keine überzeitlich erträumte Palastanlage, sondern ein historisch verbürgter Herrschaftsort, von dem aus die Monarchie von Gottes Gnaden ihrem Herrschaftsauftrag im 19  Jahrhundert nachkam Ein Bauwerk, das so in Preußen zu dieser Zeit nicht mehr möglich war 49 Der politisch gedemütigte Schweriner Großherzog fasste in den 1850er/1860er Jahren zwei Herrschaftsinstrumente mit fester Hand: das Militär, das er zu einer schlagkräftigen, nach preußischem Vorbild geformten Waffe machte, um als preußischer General, der er war, im Kriegsfall zur Stelle zu sein Militärisches Engagement war dem blinden, sich als Gentlemen gerierenden Großherzog Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Strelitz weder körperlich möglich noch innerlich erstrebenswert Das zweite Herrschaftsinstrument war die Stellung des Großherzogs als Oberbischof der mecklenburgischen Landeskirche, die er mit dem bedeutenden Theologen Theodor Kliefoth zu einer neulutherischen Burg gegen die Revolution befestigte Neben dem Schweriner Schloss und den Guts- und Herrenhäusern sind die zahlreichen neugotischen Dorf- und Stadtkirchen der Zeit um und nach 1850 die besondere Signatur der mecklenburgischen Restaurationszeit Bis 1918 blieb das Kirchenwesen Kern des herrscherlichen Selbstverständnisses und bildete neben der niederdeutschen Sprache eine der wichtigsten Grundlagen der Landesidentität Mecklenburg besaß nach 1867 kein eigenständiges Militär mehr, aber das Militärkirchenwesen ließ sich der Großherzog nicht aus der Hand nehmen 50 48 49

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Großherzog Georg an Friedrich Wilhelm IV , Januar 1850, GStA PK, BPH, Rep 50, J 818, p 594 f Jörg Meiner, Die großartigste Palastanlage Norddeutschlands  – das „Orangeriehaus“ Friedrich Wilhelms IV von Preußen im Park von Sanssouci, in: Peter Betthausen  / Frank-Lothar Kroll (Hgg ), Kunst in Preußen – preußische Kunst?, Berlin 2016, 119–134; René Wiese, Denkmal einer Zeitenwende Der Umbau des Schweriner Schlosses im 19  Jahrhundert, in: MJB 121 (2006), 141–166 René Wiese, Theodor Kliefoth und Großherzog Friedrich Franz II Kirche und Monarchie im 19  Jahrhundert, in: Mecklenburgia sacra Jahrbuch für mecklenburgische Kirchengeschichte 13 (2010), 9–27

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Dass man in Preußen genau wusste, wer die bald sprichwörtlich werdende politische Rückständigkeit „in megapolitana“51 eigentlich zu verantworten hatte, geht aus den Akten der preußischen Gesandtschaft deutlich hervor Der Politikwechsel, der sich in Preußen als neue Ära nach Krankheit und Tod Friedrich Wilhelms IV abzeichnete, drohte den Schweriner Großherzog nach dem Bruch seines Verfassungsversprechens 1850 durch einen erneuten Umschwung zu kompromittieren 1860, als der preußische Gesandte Großherzog Friedrich Franz II die liberale Neuausrichtung der preußischen Politik erklärte, empfing dieser ihn ostentativ in preußischer Generalsuniform mit dem großen Band des Schwarzen Adlerordens Er beklagte offen, dass Preußen nun nicht binnen eines Jahrzehnts einen erneuten Politikwechsel verlangen könne Schon gar nicht eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, der die vormodernen finanziellen Abhängigkeiten des Guts- und Domänenstaates entgegenstünden Bei Handelshemmnissen wie dem Elbzoll oder den Eisenbahntarifen habe der Großherzog gar keine freie Hand, denn den Ausfall der im komplizierten ständischen Finanzsystem geregelten Einnahmen könne er nicht ohne weiteres kompensieren 1861/62 setzte die Schweriner Regierung immerhin durch, dass zumindest Binnenzölle und vormoderne Handelssteuern, die Stadt und Land voneinander absperrten, zugunsten eines Grenzregimes abgeschafft wurden Aber auch diese Grenz- und Durchgangszölle zum Ausland brauchte die Schweriner Regierung dringend, um ihren sonst nur aus den Domänen gespeisten Haushalt zu finanzieren Politische und wirtschaftliche Strukturen bedingten einander, und angesichts der guten landwirtschaftlichen Konjunktur gab es um 1860 auch keinen Leidensdruck, das System zu ändern, nur weil Preußen das wünschte Gleichwohl waren der Schweriner Großherzog und seine seit 1858 wieder von einem Mecklenburger ( Jasper von Oertzen-Leppin) geführte Regierung bereit, Preußen diplomatisch zu unterstützen, wenn es darum ging, dem Königreich im Bund den gleichen Rang zu verschaffen wie Österreich Insgeheim träumte der Großherzog immer davon, wie auf dem Frankfurter Fürstentag 1863 eine bedeutende Vermittlerrolle zu spielen Mit dem neuen König, seinem Onkel Wilhelm I , hatte Friedrich Franz II militärische und diplomatische Unterstützung gegen eine Art Bestandsschutz von Dynastie und Verfassung abgestimmt, während Strelitz am Vorabend des Deutschen Krieges weiter einen gefährlichen antipreußischen Kurs steuerte 52 Nachdem Mecklenburg die wirtschaftsliberale Neuausrichtung der preußischen Politik nach 1858 zu bewältigen hatte bzw unbewältigt ließ, wartete 1866 eine noch grö-

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Friedrich Wilhelm IV an Alexandrine, Charlottenburg 28 4 1851, Landeshauptarchiv Schwerin, 5 2–4/1–2 Nachlass Alexandrine Nr  3 Detlef Rogosch, Anmerkungen zur Haltung beider Mecklenburg beim Übergang vom Deutschen zum Norddeutschen Bund, in: Wolf D Gruner / Paul Hoser (Hgg ), Wissenschaft – Bildung – Politik Von Bayern nach Europa Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 80 Geburtstag, Hamburg 2008, 319–340

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ßere Herausforderung auf die Großherzogtümer Denn dass der Deutsche Bund auch mit dem Vorschlag einer neuen Verfassung mit quasi revolutionärem Wahlrecht gesprengt werden sollte, traf Mecklenburg mit voller Wucht Versuche der Regierungen, den revolutionären Bismarckschen Konservatismus durch den guten alten Konservatismus zu bändigen, waren vergeblich Innenpolitische Handlungsfreiheit erreichte der Schweriner Großherzog dadurch, dass er sich 1866 schnell und bedingungslos der preußischen Sezession anschloss und seine Truppen ins Feld führte 53 Dafür folgte der preußische Generalstab dem Wunsch des Königs, sein Neffe möge beim Einmarsch in Bayern Gelegenheit erhalten, seine Fähigkeiten als Truppenführer unter Beweis zu stellen Diese aktive und 1870/71 noch durch Schlachtensiege vergoldete Truppenführung hat dem Großherzog-Generalfeldmarschall so viel Prestige gewinnen lassen, dass Mecklenburg damit bis 1914 einen Großteil seiner deutschnationalen Loyalität bestreiten konnte 54 Friedrich Franz II vertiefte dadurch allerdings die politische Kluft zu MecklenburgStrelitz Da es für den Großherzog dort militärisch nichts zu gewinnen gab, galt das Bündnis mit Preußen als Ende aller Dinge und das Verhalten der Schweriner als infames Überlaufen in das Lager des Feindes 55 Ohne eine Alternative zu besitzen, zögerte der blinde Friedrich Wilhelm seine Bündniszusage lange heraus Erst die drohende Besetzung seines Landes trieb ihn aus der Neutralität Der seit 1848 von Revolutionsfurcht verfolgte Strelitzer Großherzog reagierte auf den Verlust der Souveränität dann mit dem Aufbau eines aus den Domänen anleihefinanzierten Privatvermögens, dessen Aktienbesitz ihn um 1900 zu einem der reichsten Männer des Reiches machte Aufgrund dieser finanziellen Unabhängigkeit konnte er es sich sogar leisten, in stillem Protest gegen die preußische Hegemonie welfische Beamte wie den Freiherrn von Hammerstein-Loxten an die Spitze seiner Staatsverwaltung zu befördern 56 Sein Sohn Adolph Friedrich V (1848–1914) kompensierte den Bedeutungsverlust der Monarchien im Reich der Hohenzollern mit betont militärischem Auftreten Sehr zum Missfallen seiner Mutter, die sich wünschte, der Strelitzer Hof möge doch seine für das Kaiserreich untypische Zivilität bewahren 57

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René Wiese, Schicksalsjahr 1866 Das Ende der mecklenburgischen Selbständigkeit, in: Matthias Manke, René Wiese (Hg ), Erinnerung an Mecklenburg 50 Archivalien aus acht Jahrhunderten, Köln u a 2019, 120–124 René Wiese, Orientierung in der Moderne Großherzog Friedrich Franz II in seiner Zeit, Bremen 2005, 209–233 James Pope-Hennessy, Queen Mary 1867–1953, New York 1960, 27 und 75 Michael Buddrus u a (Hg ), Landesregierungen und Minister in Mecklenburg 1871–1952, Bremen 2012, 152 Die Beisetzung Friedrich Wilhelms erlebte der Jurist Roderich Hustadt (1878–1958) als Ende einer Epoche, in der „von oben herab vor allem ein einseitiger und engstirniger Partikularismus gepredigt wurde “ Michael Buddrus (Hg ), Roderich Hustaedt Die Lebenserinnerungen eines mecklenburgstrelitzschen Staatsministers, Lübeck 2014, 45; Bernd Kasten, Reichsfeinde, Welfen und Partikula-

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Der Schweriner Bündnisvertrag mit Preußen 1866 enthielt den Vorbehalt, dass der Großherzog nur mit Billigung der Landstände einer verfassungspolitischen Neuordnung Deutschlands zustimmen könne Angesichts der kriegerischen Umstände kam dafür zwar eine Mehrheit zusammen, aber auch ablehnende Stimmen waren zu vernehmen, die ein differenziertes Bild des Konservatismus auch in Mecklenburg zeichnen Führende Adelsfamilien wie von Maltzan sahen eben auch die destruktiven Energien des nationalen Machtstaates: Durch die Annahme der projektirten Verfassung würde Mecklenburg in den wichtigsten Theilen seiner Gesetzgebung und Verwaltung von den Beschlüssen der anderen Verbündeten abhängig und dadurch in seinem Wohlstande, in der Fortentwicklung seines Rechtes und in dem ganzen Wesen seines staatlichen Organismus auf das tiefste, ja tödtlich verwundet werden Denn der Grundlagen seiner Freiheit, Selbstständigkeit und Wohlfahrt beraubt, müsste es diese edlen Güter selbst verlieren, der Name Mecklenburg würde uns bleiben, das eigene Wesen desselben entschwinden, die Liebe zum Vaterlande, die Pietät und Treue gegen unser Fürstenhaus erkalten – wir würden zwar noch keine Preußen, aber nur zu bald schlechte Mecklenburger werden Im Deutschen Bunde wie früher in der reichen Gliederung des Deutschen Reiches, hatte Mecklenburg gleich anderen deutschen Stämmen, Raum, seine Sonderart, seine Individualität zu pflegen, und zu entwickeln Dabei hat es einen deutschen Sinn und Charakter seit lange glänzend bewährt, sowohl durch treue Pflichten gegen Kaiser und Reich und Deutschen Bund als sonderlich dadurch, daß es durch Bewahrung seiner ständischen charakteristisch deutschen Verfassung dem andringenden ausländischen, deutschfeindlichen Einflüssen stärksten Widerstand geleistet hat

Gemeint waren damit der nach französischem Vorbild „andringende“ Absolutismus wie auch die darauf reagierende französische Revolution sowie der einen Ausgleich zwischen beiden Richtungen suchende französischen Konstitutionalismus Weiter heißt es: Heute ist es Mecklenburgs Aufgabe, gegen eine andere, ebenso wenig in deutschem Boden wurzelnde politische Richtung nach Kräften Widerstand zu leisten: gegen die Tendenz zur Bildung großer concentrirter, Alles nivellirender Militair-Monarchien, welche die Keime aufreibenden Kampfes zwischen Militair-Dictatur und democratischer Republik in sich tragen, eines Kampfes, in welchem deutsches Leben und deutsche Freiheit niemals gedeihen können

risten im mecklenburgischen Adel 1866–1918, in: Wolf Karge (Hg ), Adel in Mecklenburg, Schwerin 2013, 133–145

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Gut möglich, dass Mecklenburg, wenn es sein Recht auf Selbstbestimmung behaupte, „vergewaltigt“, ja dass es Preußische Provinz werde Aber: lieber den Untergang wählen als die Zwitterexistenz eines elenden Scheinlebens 58 Dass die Mehrheit der mecklenburgischen Wähler sich offenbar in dieser Zwitterexistenz gut einzurichten verstand, zeigt ihr reichsbezogenes Wahlverhalten nach 1867 Mecklenburg bildete anders als Hinterpommern etwa kein konservatives Milieu Gewählt wurden nationalliberale Abgeordnete Sie konnten die mecklenburgische Verfassungsfrage im Reichstag zwar auf die Tagesordnung setzen, Beschlüsse dazu aber nicht herbeiführen Denn Artikel 76 der Bundesverfassung regelte, dass Verfassungsstreitigkeiten nur in solchen Bundesstaaten gesetzlich vom Bund geregelt werden konnten, in deren Verfassungen keine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt war Und da Mecklenburg ein seit 1817 geregeltes Schiedsverfahren besaß, konnte die Bundesgesetzgebung nicht greifen Zwei weitere Gründe kamen hinzu Auch wenn Bismarck bisweilen hervortretende Prahlerei und Breitspurigkeit der Mecklenburger nicht ausstehen konnte,59 mochte er doch den Schweriner Großherzog durch einen Eingriff in die inneren Landesangelegenheiten nicht brüskieren Und wozu auch? 1869 lobte er im Reichstag die Preußentreue Friedrich Franz II und die freiwillige Aufgabe der Souveränität ohne das Zugeständnis von Reservatrechten Darauf könne man nicht antworten, indem man dem Großherzog jetzt nach Mecklenburg-Schwerin hineinregiere 60 Hinzu kam, dass diejenigen, die im Reichstag die mecklenburgische Verfassung zur Disposition stellten, angesichts des Bundeswahlrechts auch das preußische Dreiklassenwahlrecht oder die Verfassungszustände in anderen Bundesstaaten kritisieren mussten Auch wenn Heinrich von Treitschke beklagte, dass die wegen slawischer Erbteile verrottete mecklenburgische Ständeverfassung das stolze neue Reich zum Gespött seiner Feinde mache:61 Die Diskrepanzen zwischen der Bundes- und vielen Landesverfassungen waren so groß, dass man besser die Finger von Grundsatzfragen ließ Der Norddeutsche Bund und auch später das Reich konnte sie nicht beantworten, ohne sich selbst als monarchischer Obrigkeitsstaat in Frage zu stellen Und einigen Bundesstaaten kam es durchaus zupass, dass immer auf das total rückständige Mecklenburg verwiesen werden konnte, wenn ihre eigenen Verfassungen kritisiert wurden Nationalliberale Abgeordnete wie Ludwig Windthorst beruhigten sich damit,

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LHAS, 3 1–1 Protokoll des außerordentlichen Landtags in Schwerin 1867, Maltzan auf Groß Luckow und Maltzan auf Peccatel Dazu auch Ernst Ludwig von Gerlach, Die Freiheits-Tendenzen unserer Zeit (1866), in: Hans-Christoph Kraus (Hg ), Ernst Ludwig von Gerlach Gottesgnadentum und Freiheit Ausgewählte politische Schriften aus den Jahren 1863 bis 1866, Wien/Leipzig 2011, 7–44 An Leopold von Gerlach 22 6 1851 Horst Kohl (Hg ), Bismarckbriefe, Hamburg 2013, Nachdr der Ausgabe von 1897, 67 Protokolle des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 40 Sitzung vom 12 5 1869, 951 Heinrich von Treitschke, Das constitutionelle Königtum in Deutschland, in: ders , Historische und politische Aufsätze, Bd  3: Freiheit und Königthum, Leipzig 1886

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dass die unitarisch ausgerichtete Bundesgesetzgebung das Modernisierungsgefälle irgendwann abbauen würde 62 Und das stimmte ja offenbar auch Wie allerdings die durchgreifenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen in Mecklenburg nach 1867 unter den innenpolitischen Bedingungen eines vormodernen Guts- und Domänenstaates konkret umgesetzt wurden, ist bisher vor allem bezüglich der großherzoglichen Domänen und der Städte so wenig erforscht wie die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rolle der bürgerlichen Gutsbesitzer innerhalb der mecklenburgischen Ritterschaft Zieht man Statistiken zu Rate, dann stand Mecklenburg Ende des 19   Jahrhunderts bezüglich des Eisenbahnnetzes, der Lebenserwartung und der Gewerbeansiedlungen z B keineswegs schlechter da als etwa die preußischen Ostprovinzen oder ländliche Gebiete Süddeutschlands 63 Auch wenn Mecklenburg gewiss nicht das Paradebeispiel eines glücklichen Landes gewesen ist, so geht man doch fehl, seine inneren Verhältnisse im Sinne der Fortschrittsideologien des 20  Jahrhunderts immer nur am Grad der Industrialisierung und Urbanisierung zu messen, denn die arbeitsteilige Funktion der Großherzogtümer war ja eigentlich schon seit dem 16  Jahrhundert, Nahrungsmittelüberschüsse in Großstädte und Ballungszentren zu exportieren Politische Systeme des 20  Jahrhunderts, die offen oder latent im Kriegszustand existierten, nutzten diese Funktion zur Stabilisierung ihrer wirtschaftlichen Autarkie, auch wenn ihre Ideologie von der historischen Überwindung der Agrargesellschaft ausging Man ist dabei gut beraten, auch die aus nationaler Sicht scharf kritisierte Auswanderung des 19   Jahrhunderts in größeren historischen Bögen zu betrachten Ein Land wie Mecklenburg, das über Großbetriebe Nahrungsmittelüberschüsse erzeugte, konnte nicht gleichzeitig industriell ausgebaut werden und die woanders benötigten Nahrungsmittel selbst verbrauchen Mecklenburgs geringe Bevölkerungsdichte war und ist Pendant großbetrieblicher Kostenstrukturen Während die Auswanderung des 19  Jahrhunderts noch durch ein allgemeines Bevölkerungswachstum aufgefangen wurde, konnte der nach 1990 begründete freiheitlich-demokratische Rechtsstaat nicht verhindern, dass Mecklenburg-Vorpommern ganze Generationen durch Abwanderung verloren hat Der Macht der Strukturen stehen die politisch Verantwortlichen hilflos gegenüber 62

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Anke John, Altes Reich und mecklenburgische Ständeordnung im 19  Jahrhundert, in: Matthias Asche u a (Hg ), Was vom Alten Reiche blieb … Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19 und 20  Jahrhundert, München 2011, 289–304 Wolf Karge, Entwicklung der vertikalen und horizontalen Struktur und der Organisation der Industrie-, Handels- und Bankbourgeoisie in Mecklenburg-Schwerin 1871–1914, Diss Rostock 1981, 147–155; Anke John, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten im Spannungsfeld von Landesgrundgesetzlichem Erbvergleich und Bundes- bzw Reichsverfassung von Norddeutschen Bund bis zur Weimarer Republik, Rostock 1997

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Theodor Fontane schrieb 1897, er reise nach Mecklenburg: „um Preußen zu vergessen, wozu Fritz Reuters Heimat – als ein Gegensatz – die beste Gelegenheit bietet Ich stelle Rothspon und Onkel Bräsig höher als den ganzen Borussismus, diese niedrigste Kulturform, die je da war“ Und weiter: „Ich bin gern in Mecklenburg, wie in allen Ländern und Städten, die man in dem öden und dämlichen Berlin unserer Jugend für Plätze zweiten Ranges hielt, während sie unserem elenden Nest […] immer überlegen waren“ 64 Je weiter wir den Fokus auf die deutsche und europäische Geschichte stellen, desto weniger wahrnehmbar wird Mecklenburg in seinen Besonderheiten, die den Zeitgenossen im Positiven wie im Negativen deutlich vor Augen standen Das Land droht ganz von dem vereinnahmt zu werden, was man gemeinhin als Ostelbien bezeichnet 65 Während man die Geschichte der Großherzogtümer im 19   Jahrhundert natürlich nicht ohne Preußen schreiben kann, so sollte die Preußenforschung einmal bedenken, ob ihr nicht auch die mecklenburgische Landesgeschichte ihr etwas zu sagen hat, gerade in der für die deutsche Geschichte gesellschaftspolitisch so wichtigen Verfassungsfrage Mecklenburgs (politischer) Rückstand und Preußens Fortschritt sind historisch so mit einander verflochten, dass vieles aus dieser ungleichen Nachbarschaft gelernt werden kann – auch für die deutsche Geschichte auf ihren Sonder- und sonstigen Wegen 66 René Wiese, geb 1976, 1996–2001 Studium Geschichte, Germanistik und Niederdeutsche Philologie in Greifswald und Rostock, 2004 Promotion in Rostock, Archivreferendariat in Schwerin und Marburg/Lahn, 2006–2020 Wiss Archivar und Dezernatsleiter im Landeshauptarchiv Schwerin, seit 2020 Leiter der Abteilung Zentrale Dienste im Landesamt für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern Zahlreiche Beiträge zur deutschen Geschichte und Landesgeschichte u a Orientierung in der Moderne Großherzog Friedrich Franz II in seiner Zeit Bremen 2005 (Diss Rostock 2004) Vormärz und Revolution Die Tagebücher des Großherzogs Friedrich Franz II von Mecklenburg-Schwerin 1841–1854, Hg , Köln 2014, Schwestern im Geiste: Briefwechsel zwischen Großherzogin Alexandrine von Mecklenburg und Königin Elisabeth von Preußen Bd   1, MHg , Köln 2021

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Theodor Fontane, Werke, Schriften und Briefe Bd, IV, 1890–1898, München 1982, 652 Patrik Wagner, Junkerherrschaft – Anstaltsstaat – Fundamentalpolitisierung Politik im ländlichen Ostelbien des 19  Jahrhunderts in: Wolfgang Neugebauer (Hg ), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens, Berlin 2014, 241–264 Wolfgang Neugebauer, Wozu preußische Geschichte im 21  Jahrhundert?, Berlin 2012 37; Hans-Christoph Kraus, Auf dem Weg zur deutschen Vormacht – Preußens Vergrößerungen 1848 und 1866, in: Robert Kretzschmar u a (Hg ), Zusammenschlüsse und Neubildungen deutscher Länder im 19 und 20  Jahrhundert, Stuttgart 2013, 75–99

Militärstrategische Konzepte und politische Ansichten Helmuth von Moltkes in der Reichseinigungszeit Manfred Jatzlauk (†) Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 379–409

Abstract: Helmuth von Moltke, a well-educated and well-travelled Mecklenburg native, was appointed chief of the Prussian general staff in 1857 and held this position until 1888 He developed the General Staff from an advisory body for strategic issues into the central planning and command authority of the army For warfare, he used improved weapons and the technical means of railroads and telegraphs The success over Denmark in 1864, the victories at Königgrätz in 1866 and Sedan in 1870 established Moltke’s military fame and enabled Bismarck to complete German unification Moltke’s personal merits caused the General Staff to become the highest military strategic authority in the German Empire Even during the war, Bismarck asserted the primacy of politics Moltke accepted the primacy of politics in peacetime and also at the beginning and end of war In contrast to Clausewitz, however, he claimed the unrestricted freedom of action and independence of the military leadership from political considerations in the interest of efficient planning in wartime After the surrender of Sedan, therefore, there were repeated tensions between political and military leadership, whose mutual relationship was not regulated in principle in the Prussian-German system of rule Moltke, who represented clearly contoured conservative-monarchical views, was elected to the Reichstag in 1867 and appointed to the Prussian House of Lords in 1872 His attitude towards war remained contradictory While in 1880 he still believed that the noblest virtues of mankind would unfold in war, ten years later he warned in the Reichstag, as it were as a legacy, of the unpredictability and extent of a European war that could last thirty years

Helmuth von Moltke, der Sieger von Königgrätz und Sedan, gilt als der überragende Feldherr, ohne dessen überlegene Strategie Otto von Bismarck die Einigung Deutsch-

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lands unter preußischer Führung nur schwerlich hätte durchsetzen können Der ungewöhnlich wortkarge und bescheidene Moltke, dessen Leben beinahe das gesamte 19  Jahrhundert umfasste, war humanistisch gebildet und vielseitig interessiert Er begeisterte sich für Goethe, Byron und Heine und liebte die Musik Mozarts Sein Verständnis für die Natur war ebenso groß wie sein Kunstsinn und seine Kenntnisse des Altertums Moltke liebte das Reisen als Mittel der Welterfahrung und war lieber in Wien oder Rom als in Berlin Gern wäre er Professor für Geschichte oder Archäologie geworden 1 Ein solches Gleichmaß in Anlagen und Lebensführung, ein so eingezogener, schweigsamer Charakter mußte Bismarck unheimlicher sein als dieser jenem, und nur das große Mißtrauen ist beiden gemein, mit dem sie eine so völlig antagonale Natur wie die des andern betrachteten: Moltke begriff nicht, wie man mit soviel, Bismarck begriff nicht, wie man mit so wenig Geräusch leben konnte 2

Helmuth Carl Bernhard von Moltke wurde am 26 Oktober 1800 als dritter unter sechs Brüdern und zwei Schwestern in der Kleinstadt Parchim im Herzogtum MecklenburgSchwerin geboren, wuchs aber in Holstein auf Väterlicherseits entstammte er einem alten mecklenburgischen Geschlecht, das seit Mitte des 13   Jahrhunderts urkundlich nachweisbar ist, dessen eindeutige Zuordnung zum deutschen oder slawischen Adel aber wegen des Fehlens zuverlässiger Quellen für die Slawenzeit Mecklenburgs Schwierigkeiten bereitet Im Namen Moltke steckt wahrscheinlich eine slawische Bezeichnung für „Birkhuhn“, von denen drei im Wappen der Moltkes erscheinen Die Familie verzweigte sich über Mecklenburg hinaus bis nach Dänemark und Schweden und bildete mehrere Linien Im nordöstlichen Teil Mecklenburgs erwarben die Moltkes seit dem 14  Jahrhundert größere Grundbesitzkomplexe 3 Das südöstlich von Rostock gelegene Gut Strietfeld war das Stammhaus des ganzen Geschlechts Es verblieb, „ohne Majorat zu sein, von 1309 bis 1781, also fast, 500 Jahre und durch fünfzehn Generationen“4, in der Familie Ihre letzten Familiengüter verloren sie aber bis zum Anfang des 19  Jahrhunderts Die materiellen Verhältnisse von Moltkes Eltern gestalteten sich schwierig Der Vater Friedrich von Moltke hatte als preußischer Sekondeleutnant auf Wunsch seines Schwiegervaters den Abschied nehmen müssen, als er 1797 die vermögende Henriette Paschen, Tochter eines angesehenen Lübecker Kaufmanns, heiratete 1804 zogen die Moltkes nach Lübeck und erlebten dort im Oktober 1806 die Plünderung der Stadt durch napoleonische Truppen, die das Korps des Generals Blücher verfolgten Auch

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Vgl Rudolf Stadelmann, Moltke und der Staat, Krefeld 1950, 353–373 Emil Ludwig, Bismarck Geschichte eines Kämpfers, Berlin 1927, 415 Vgl Manfred Jatzlauk, Helmuth von Moltke, Schwerin 2000, 6 f Helmuth von Moltke, Briefe und Erinnerungen an ihn, in: ders , Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten (im folgenden als „GS“ abgekürzt), 5 Bd , Berlin 1892, 86

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das Haus der Moltkes blieb dabei nicht verschont Die Ehe von Moltkes Eltern entwickelte sich nicht glücklich Die Mitgift zerrann, Misswirtschaft und Unglücksfälle ruinierten bald das 1805 in Holstein angekaufte Gut Augustenhof Moltkes Vater trat daher 1806 als Major in dänische Dienste, wo er zum Generalleutnant und Kommandanten von Kiel aufstieg Er lebte von seiner Familie getrennt zumeist in wechselnden Garnisonsstandorten und überließ seiner klugen und für ihre Zeit außerordentlich gebildeten Frau die Erziehung der Kinder 1809 kam Helmuth von Moltke mit seinen beiden älteren Brüdern zum Schulunterricht zu einem Pastor in die Nähe von Itzehoe in Pension Schon 1811 zwangen finanzielle Schwierigkeiten den Vater, die drei in dänischen Kadettenanstalten unterzubringen Helmuth von Moltke trat in die Kopenhagener Landkadettenakademie ein und erlebte dort eine strenge, von Prügelstrafen begleitete, militärische Erziehung und spartanische Lebensweise, die ihn nachhaltig prägte Durch seine Freundschaft mit den Söhnen des dänischen Generals v Hegermann-Lindencrone lernte er führende Persönlichkeiten des dänischen Geisteslebens kennen, die im Hegermannschen Hause verkehrten und Moltkes Bildungsinteressen förderten 1818 beendete er mit großem Erfolg die Kadettenschule und wurde Page am dänischen Königshof Ein Jahr später trat er als Leutnant in das Oldenburgische Infanterieregiment in Rendsburg ein Bereits 1821 nahm er seinen Abschied vom dänischen Heer und bewarb sich kurze Zeit später um die Übernahme in den preußischen Militärdienst, weil er in der größeren preußischen Armee ein schnelleres berufliches Fortkommen erhoffte 5 Diese Entscheidung erwies sich als folgenreich, denn seine spätere Karriere wäre ohne diesen Wechsel kaum möglich gewesen Nach nochmaliger Eignungsprüfung begann er 1822 als Leutnant seinen Dienst im Leibgrenadierregiment Nr 8 in Frankfurt an der Oder Schon 1823 gelang es ihm ohne besondere Beziehungen, sich für den Besuch der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin zu qualifizieren Diese 1810 von Scharnhorst begründete Einrichtung der höheren militärwissenschaftlichen Bildung des preußischen Offizierkorps wurde damals durch Carl von Clausewitz geleitet Er stand aber nur an der Spitze der Verwaltung und bekam keinen Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung Clausewitz nutzte während seines zwölfjährigen Aufenthalts an der Kriegsschule die Zeit, um sein schriftstellerisches Hauptwerk „Vom Kriege“ fertig zu stellen Hierin begründete er seine Auffassung von der Abhängigkeit der Kriegsführung von der Politik Dieses unvollendet gebliebene Werk, das erst nach seinem Tod von seiner Frau 1832/34 herausgegeben wurde, veränderte die Militärtheorie und machte dann den auch in der preußischen Armee weitgehend unbekannten General weltberühmt 6 Die zur Kriegsschule kommandierten Offiziere erlebten den Direktor nur zu offiziel5 6

Vgl Helmuth von Moltke, Zur Lebensgeschichte, in: GS, 1 Bd , Berlin 1892, 30–39 Eberhard Kessel, Moltke, Stuttgart 1957, 9–25 Vgl Reinhard Stumpf, Clausewitz und Moltke Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, in: Reinhard Stumpf (Hg ), Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, Frankfurt am Main 1993, 675–686, 717–725

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len Anlässen und hatten zu ihm ansonsten kaum Kontakt So lernte auch Moltke den bedeutendsten Kriegstheoretiker des 19   Jahrhunderts „erst nachträglich aus seinen Schriften“ kennen Es ist nicht bekannt, „wann und wie gründlich Moltke das Werk vom Kriege gelesen hat “7 Nachhaltigen Einfluss auf ihn übten dagegen die Lehrer für Kriegsgeschichte, Geographie und Physik aus Kriegsgeschichte lehrte der Major Karl von Canitz und Dallwitz, indem er eine Auswahl neuerer napoleonischer Feldzüge analysierte Carl Ritter, der Begründer der wissenschaftlichen Geographie, Verfasser einer 21 bändigen Erdkunde, der an der Berliner Universität eine Professur innehatte, lenkte in seinem Unterricht den Blick auf die Zusammenhänge von Erdkunde, Geschichte und Politik Moltkes Interesse für technische Erfindungen und naturwissenschaftliche Probleme förderte Paul Erman, der Lehrer für Physik und Chemie 8 Auch Albrecht von Roon, der Ende 1859 Kriegsminister wurde, ist durch Ritter stark beeinflusst und gefördert worden Er kam ein Jahr nach Moltke auf die Allgemeine Kriegsschule Die militärische Laufbahn dieser beiden hochbegabten Offiziere weist einige Parallelen auf Moltke fühlte sich aber zu Roon nicht besonders hingezogen 9 Mit dem Prädikat „sehr gut“ verließ Moltke 1826 die Kriegsschule und kehrte nach Frankfurt an der Oder nun als Lehr- und Prüfoffizier zurück Er wurde schon 1828 zum Topographischen Büro des Großen Generalstabes kommandiert und zu karthographischen Vermessungsarbeiten in den Provinzen Posen und Schlesien herangezogen Während der Aufenthalte in Berlin nutzte Moltke die vielfältigen Möglichkeiten der Teilnahme am kulturellen Leben in der Stadt Er besuchte nicht nur Museen, Theatervorstellungen und die Oper, sondern auch Vorlesungen über Geschichte und Literatur an der Universität und verbesserte seine Fremdsprachenkenntnisse Neben Deutsch sprach er fließend Dänisch In Berlin vervollkommnete er sein Französisch und Englisch und begann Italienisch, Spanisch und Russisch zu lernen Später kam noch Türkisch hinzu Dadurch zählte er zu den sprachkundigsten Offizieren in der preußischen Armee Anders als Bismarck später behauptete, interessierte sich Moltke frühzeitig für die politischen Vorgänge seiner Zeit Die von der Julirevolution in Frankreich 1830 ausgelösten Veränderungen veranlassten ihn, sich mit den politischen Problemen Europas zu beschäftigen Er veröffentlichte 1831/32 zwei Schriften über die Beziehungen zwischen Holland und Belgien, deren staatliche Trennung gerade erfolgt war, sowie über die Verhältnisse in Polen, nachdem kurz zuvor im russischen Kongresspolen ein Aufstandsversuch blutig niedergeschlagen worden war Um seinen geringen Sold aufzubessern, schrieb Moltke für Berliner Zeitungen und fertigte Übersetzungsarbeiten

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Vgl ebenda, 889 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 39–47 Vgl Heinz Helmert, Albrecht von Roon Zwischen Krone und Parlament, in: Gustav Seeber (Hg ), Gestalten der Bismarckzeit, Bd   2, Berlin 1986, 19 Guntram Schulze-Wegener, Albrecht von Roon Kriegsminister, Generalfeldmarschall, Ministerpräsident, Berlin 2011, 199

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an Besonders durch die Übersetzung von Edward Gibbons klassischem Werk über den Verfall und Untergang des Römischen Reichs erwarb er sich fundierte Kenntnisse über das alte Rom und von Konstantinopel, über die Verknüpfung von Orient und Okzident, Antike und Christentum 10 Wegen der herausragenden Qualität seiner militärwissenschaftlichen Arbeiten und der Vielseitigkeit seiner Bildung wurde Moltke 1832 zum Großen Generalstab kommandiert und ein Jahr später als Premierleutnant dorthin versetzt 11 1835, inzwischen zum Hauptmann avanciert, erhielt er auf eigenen Wunsch einen sechsmonatigen Bildungsurlaub nach Istanbul, Athen und Neapel bewilligt, um klassische Stätten des Altertums zu besuchen Daraus wurde auf Verlangen des Sultans und mit Einverständnis des preußischen Königs ein fast vierjähriger Aufenthalt als Militärberater im krisengeschüttelten Osmanischen Reich Moltke verfasste Denkschriften für die Reorganisation der Armee nach europäischem Muster, inspizierte militärische Einrichtungen auf dem Balkan, am Schwarzen Meer und auf dem Bosporus 1838 begleitete er türkische Truppen bis zum Oberlauf von Euphrat und Tigris nach Mossul auf einer Strafexpedition gegen aufständische Kurden Als Berater des Oberbefehlshabers der Taurus-Armee erlebte er 1839 die Schlacht bei Nisib (Syrien) gegen die ägyptische Armee, die verloren ging, weil Moltkes Ratschläge nicht befolgt wurden Nach Preußen zurückgekehrt verlieh ihm Friedrich Wilhelm III den Orden „Pour le mérite“ Fortan galt der ungewöhnlich schweigsame und zurückhaltende Moltke als Orientexperte und erregte Aufsehen, wenn er in Berlin zu privaten Gesellschaften in den Salons mit dem Fes auf dem Kopf erschien oder mit seinem mitgebrachten arabischen Pferd zum Halleschen Tor hinaus ritt Er gehörte zu den wenigen jüngeren Offizieren mit Kriegserfahrung Der Aufenthalt im Osmanischen Reich hob sein Selbstvertrauen, weitete seinen Horizont und ließ ihn zu einem der gebildetsten preußischen Offiziere reifen Moltkes topographische Arbeiten über Kleinasien, Armenien und Kurdistan bereicherten die damaligen dürftigen geographischen Kenntnisse über diese Regionen Seine zahlreichen Publikationen über die Zustände im Osmanischen Reich, über Baudenkmale des Altertums, den Islam und die orientalische Kultur stießen wegen ihrer Informationsfülle und literarischen Qualität auf großes Interesse, das bis in die Gegenwart anhält 12 Die Berliner Akademie der Wissenschaften, deren Ehrenmitglied er 1860 auf Antrag der Historiker Georg Heinrich Pertz und Leopold von Ranke wurde, hat ihn dafür später sehr gewürdigt 13 Moltke hat außerdem zwischen 1861 und 1882 für alle wissenschaftlichen Expeditionen nach Griechenland preußische Generalstabsoffiziere für

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Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 39–47 Vgl ebenda, 90–110 Vgl Helmuth Arndt, Einleitung des Herausgebers, in: Helmut Arndt (Hg ): Helmuth von Moltke, Unter dem Halbmond Erlebnisse in der alten Türkei 1835–1839, Wiesbaden 2008, 9–50 Vgl Ernst Curtius, Gedächtnisrede auf den General-Feldmarschall Grafen Moltke, in: Helmuth von Moltke, (wie Anm  4), 314–335

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die Vermessungsarbeiten zur Verfügung gestellt, auch für die vom berühmten Archäologen Ernst Curtius betriebene Aufnahme von Attika 14 Mit großem Interesse verfolgte der Feldmarschall die Berichte über die Ausgrabungen Heinrich Schliemanns, der ihm 1883 ein Exemplar seines Buches „Troja“ von London aus übersandte 15 Nach seiner Rückkehr aus dem Orient veränderten sich auch Moltkes persönliche Lebensumstände als er 1842, gerade zum Major befördert, in Itzehoe die erst sechzehnjährige Mary Burt, eine Stieftochter seiner Schwester Auguste, heiratete Moltkes Schwiegervater entstammte der englischen Gentry, lebte aber in Holstein, obwohl er in Westindien Plantagen besaß Moltke gewann eine Lebensgefährtin, die mit ihrem natürlichen, unkomplizierten Wesen familiäre Wärme bot Trotz des beachtlichen Altersunterschiedes verlief die Ehe harmonisch, blieb aber kinderlos Sie endete 1868 als Marie von Moltke an den Folgen eines Gelenkrheumatismus verstarb 16 Seinen Dienst in der preußischen Armee setzt Moltke zunächst im IV Armeekorps unter dem Kommando des Prinzen Carl von Preußen fort, den er auch bei mehreren Reisen begleitete Manchmal wurde er sogar für Aufgaben am königlichen Hof herangezogen und 1845 von Friedrich Wilhelm IV zum Adjutanten bei dessen Onkel, dem Prinzen Heinrich von Preußen, ernannt, der seit 1815 in Rom ein einsiedlerisches Leben als Kunstliebhaber führte Dort nutzte Moltke die reichlich bemessene Freizeit zum Kennenlernen der Weltstadt und fertigte als erster eine brauchbare Karte von Rom und seiner Umgebung an, die später auf Empfehlung Alexander von Humboldts und mit finanzieller Unterstützung des Königs veröffentlicht wurde 1846 beendete der Tod des Prinzen die Adjutantur 17 Moltke entwickelte auch ein reges Interesse für technische Neuerungen, die durch die industrielle Revolution entstanden Wie Friedrich List begriff er die Bedeutung der Eisenbahn für die zunehmende Verflechtung des deutschen und europäischen Wirtschaftsraumes, aber auch ihren operativ-strategischen Wert als Transportmittel für Truppen und militärische Güter 1841 trat er sogar in den Vorstand der Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft ein und legte einen Teil seiner Ersparnisse in Eisenbahnaktien an Er beteiligte sich außerdem publizistisch an den Diskussionen über den Verlauf von zukünftigen Eisenbahnlinien und erläuterte einem interessierten Leserkreis die Spezifika von Lokomotiven, Gleisanlagen, Frachtsätzen, Betriebskosten usw 18 Anders als Bismarck sympathisierte Moltke schon frühzeitig mit den Forderungen der Liberalen nach nationaler Einheit und einer Verfassung, die auch Grundrechte 14 15 16 17 18

Vgl Christian Belger, Generalfeldmarschall Graf Moltkes Verdienste um die Kenntniß des Altertums Konstantinopel, Troja, Kleinasien, Rom, Athen, in: Preußische Jahrbücher 51/1883, 112 Vgl Wilfried Bölke, Helmuth von Molke – ein prominenter Befürworter der Bunarbaschi-Theorie, in: Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-Museum Ankershagen 7/2001, 87 Vgl Manfred Jatzlauk (wie Anm  3) 51–53 Vgl Helmuth von Moltke, in: GS, (wie Anm  5), 183–195 Vgl Helmuth von Moltke, Welche Rücksichten kommen bei der Wahl der Richtung von Eisenbahnen in Betracht?, in: GS, 2 Bd , Berlin 1892, 229–274

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für alle Bürger enthielt Die parlamentarische Regierungsform hielt er für eine Notwendigkeit Die Aufgaben des Parlaments wollte er aber auf das Kontroll- und Haushaltsbewilligungsrecht beschränkt wissen und es im Gegensatz zu den Liberalen von der Einflussnahme auf Armeeangelegenheiten fernhalten, um so die unbeschränkte Kommandogewalt des Monarchen zu bewahren 19 Preußen sollte die deutsche Einheit herbeiführen und an die Spitze Deutschlands treten, denn „Österreich ist sowenig eine deutsche Macht“ und würde einer wirklichen Einigung gegenüber seine außerdeutschen Interessen zur Geltung bringen „Europa rekonstruiert sich nach Nationalitäten, alles Fremde wird abfallen, möchten wir nur alles Deutsche wiederbekommen, so wären wir reichlich entschädigt“20, stellte er im März 1848 fest Moltke befürwortete Reformen, wie sie unter Joseph II , Stein und Hardenberg begonnen wurden, selbst revolutionäre Maßnahmen von oben, wenn sie dem Fortschritt dienten, wandte sich aber gegen Revolutionen durch das Volk: „Die Regierung muß es sein, welche die Revolution auf einem gesetzmäßigen Wege durchführt, nicht die Menge, dieser Spielball der Parteien, (…)“21 Nach seiner Meinung fiel dem preußischen Staat, der als neutrale Institution über den Parteien stehen sollte, die Aufgabe zu, die unterschiedlichen politischen Interessen und sozialen Gegensätze vermittelnd auszugleichen Ein starkes preußisches Königtum hätte die Pflicht, für die sozial schwächer gestellten Teile der Bevölkerung zu sorgen In diesem Sinne hat Moltke später die Bismarcksche Sozialgesetzgebung unterstützt, während er für die sozialdemokratische Bewegung kein Verständnis aufbrachte und im Reichstag für das Sozialistengesetz stimmte 22 Die Revolution von 1848/49 lehnte Moltke ab Als Chef des Truppengeneralstabes des IV Armeekorps in Magdeburg organisierte er die Niederschlagung von Unruhen in der Provinz Sachsen Darüber berichtete er seinem Bruder Adolf am 21  September 1848: Ich habe vollauf zu tun, denn auch bei uns rührt sich die Demokratie (…) Wir schreiten aber mit unseren prächtigen Soldaten kräftig ein Die aufrührerischen Städte werden durch mobile Kolonnen in Zucht gehalten, ganze bewaffnete Bürgerschaften und Schützengilden entwaffet, die Rädelsführer verhaftet und den Wühlern kräftig gezeigt, dass das Gesetz noch waltet 23

Moltke begrüßte im November 1848 die Berufung des Staatsstreichministeriums Brandenburg/Manteuffel sowie das Einrücken der Truppen in Berlin unter dem Befehl des Generals von Wrangel und erklärte: 19 20 21 22 23

Vgl Frank Lothar Kroll, Moltke als politischer Denker, in: ders , Das geistige Preußen Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn u a 2001, 189 Helmuth von Moltke, Briefe an seine Braut und Frau, in: GS, 6 Bd , Berlin 1892, 158 Derselbe, Holland und Belgien, in: GS (wie Anm  18), 46 Derselbe, Reden, in: GS, 7 Bd , Berlin 1892, 74–78 Vgl Frank-Lothar Kroll, (wie Anm  19), 188– 190 Vgl Rudolf Stadelmann (wie Anm  1), 387–391 Helmuth von Moltke, Briefe, in: GS, 4 Bd , Berlin 1891, 128

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Es ist keine Frage, daß Berlin, wenn der Widerstand stattfindet, das Schicksal Wiens teilt (…) Wo unsere Truppen erscheinen, ist die Ordnung hergestellt (…) Die drei Kugeln im Prater haben nicht nur Robert Blum, sondern noch manchen anderen – in Deutschland getroffen 24

Am 5 Dezember 1848 verfügte der König die Auflösung der renitenten Preußischen Nationalversammlung Damit machte er auch juristisch den Staatsstreich perfekt Gleichzeitig verkündete er aus eigener Machtvollkommenheit eine von der Regierung auf der Grundlage des Entwurfs der aufgelösten Versammlung vorbereitete erstaunlich liberale Verfassung, die wichtige Grundrechte enthielt, aber administrative Ausnahmeregelungen für Krisenzeiten zuließ Die Regierung Brandenburg/Manteuffel, die den Konstitutionalismus einführte, ihn aber gleichzeitig eindämmte, betrieb eine reformkonservative Politik begrenzter Zugeständnisse und kam damit den Wünschen der gemäßigten Liberalen stärker entgegen als denen der adligen Hochkonservativen, „die für die strikte Konterrevolution und ständische Rezepte votierten “25 Moltke, der im September 1849 die Rolle der Demokratie für vorerst ausgespielt hielt, begrüßte zunächst die eingeschlagene politische Richtung Die sich nach dem überraschenden Tod Brandenburgs anschließende reaktionäre Innenpolitik der Ära Manteuffel lag aber nicht in seinem Sinne Preußens Verzicht auf die Unionspolitik, das Abkommen von Olmütz und die damit verbundene Demobilisierung der Armee empfand er wie viele seiner Offizierskameraden als demütigend „Wenn der Sieg über die Demokratie solche Früchte trägt, so möchte man sie fast heraufbeschwören “26 Nach den Ereignissen der Revolutionsjahre verblieb Moltke weiterhin auf seinem Stabsposten in Magdeburg In kurzem Abstand wurde er zweimal befördert, 1850 zum Oberstleutnant und 1851 zum Oberst Wegen seiner Truppenferne schien eine weitere Beförderung als unwahrscheinlich, denn er hatte weder ein Bataillon noch eine größere militärische Einheit befehligt Der neue Chef des Generalstabes General von Reyer stellte ihm 1852 folgendes Zeugnis aus: Ohne Zweifel eignet er sich seiner geistigen Befähigung nach zu der Stelle eines Brigadekommandeurs, allein einesteils fehlt es ihm an Übung, anderenteils scheint er sich körperlich der Invalidität zu nähern, und endlich mangelt ihm die Kraft und Lebendigkeit, ohne welche ein Truppenbefehlshaber seine Autorität auf die Dauer nicht zu behaupten vermag 27

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Ebenda, 130 Konrad Canis, Vom Staatsstreich zur Unionspolitik Die Interdependenz von innerer, deutscher und äußerer Politik der preußischen Regierung am Ende der Revolution 1848/49, in: Walter Schmidt (Hg ), Demokratie, Liberalismus und Konterrevolution Studien zur deutschen Revolution 1848/49, Berlin 1998, 464 Helmuth von Moltke, (wie Anm  23), 150 Kurt von Priesdorff (Hg ), Soldatisches Führertum, Bd  7, Hamburg 1936, 380

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Schon ein Jahr später revidierte Reyer sein Urteil: Kenntnisreich wie wenige Offiziere der Armee und mit einer gründlichen militärisch-wissenschaftlichen Bildung ausgestattet, eignet er sich seiner ganzen Haltung nach zu den höchsten Leistungen im Generalstabe Aber auch zum Brigadekommandeur der Infanterie würde ich ihn qualifiziert erachten, wenn es ihm gelänge, während einer angemessenen Probezeit darzutun, daß es ihm nicht an Energie mangelt der Truppe gegenüber seine Autorität aufrecht zu erhalten (…) Seine Gesundheit hat sich gebessert Charakter und Gesinnung müssen als gleich ehrenhaft bezeichnet werden 28

1855, zu einem Zeitpunkt als es zwischen dem König und dessen Bruder Wilhelm zu zahlreichen Konflikten wegen der preußischen Neutralitätspolitik während des Krimkrieges kam, erhielt Moltke eine wichtige politisch-militärische Sonderaufgabe 29 Der kinderlose Friedrich Wilhelm IV wünschte, dass der Sohn seines Bruders Wilhelm, Friedrich Wilhelm, der einmal den Thron erben würde, einen vielseitig gebildeten Offizier als Mentor bekommen sollte Als besonders geeignet für diese vertrauensvolle Aufgabe schlugen die mit der Auswahl beauftragten hohen Offiziere dem König den welterfahrenen Moltke vor Der König empfing den Generalstabsoberst in Sanssouci zur Audienz und bat ihn dringend, die Adjutantenstellung bei seinem Neffen anzunehmen Moltke erklärte sich dazu bereit, musste aber erst noch Vorbehalte der Eltern Friedrich Wilhelms überwinden, die ihn für einen Mann der mit Russland sympathisierenden Hochkonservativen um die Gebrüder Gerlach hielten Der Bruder des Königs dagegen, vor allem aber dessen Frau Augusta, orientierten sich mehr auf die Westmächte England und Frankreich Moltke bemerkte sehr schnell, auf welch schwierigem politischen Parkett vor dem Hintergrund des Krimkrieges er sich bewegen musste Er erklärte, dass er nicht auf dem Standpunkt der prorussischen Kreuzzeitungspartei stände und erhielt schließlich das Vertrauen des in Koblenz residierenden Prinzen von Preußen und dessen Gattin 30 Im Gefolge des Prinzen besuchte Moltke die Höfe in Großbritannien, Frankreich und Russland Er wurde den Monarchen vorgestellt und informierte sich über die politisch-militärische Situation dieser Großmächte Moltke, der 1856 zum Generalmajor befördert wurde, bewegte sich mit der Sicherheit des Weltmannes aus altem Adel in diesen hocharistokratischen Kreisen, dabei wahrte er seine geistige Unabhängigkeit und nahm keine höfischen Rücksichten Die elegante französische Kaiserin Eugenie hatte damals scharfsichtig erkannt, dass der Begleiter des Prinzen Friedrich Wilhelm zwar wortkarg, aber kein Träumer wäre, „immer gespannt und spannend Er über-

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Ebenda Vgl Winfried Baumgart (Hg /Bearb ), König Friedrich Wilhelm IV und Wilhelm I Briefwechsel 1840–1858, Paderborn u a 2013, 30–35, 504 Vgl Helmuth von Moltke, (wie Anm  20) 222 Vgl Manfred Jatzlauk, (wie Anm  3), 63

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rascht durch die treffendsten Bemerkungen “31 Bereits 1853 äußerte Moltke die Meinung, dass das Kaisertum Napoleons „immer mehr den Charakter eines großartigen Schwindels“ annimmt Seine Vermählung mit der Spanierin schließt ihn von dem Eintritt in die legitime Monarchenfamilie vollends aus, und die Londoner Börse kann durch einfache Erhöhung des Agios sein ganzes Finanzsystem erschüttern Die Franzosen werden des Abenteurers bald müde sein, der es schwieriger finden wird, Kaiser zu bleiben, als zu werden Ohne Siege kann er sich wohl kaum behaupten, und ob er selbst Feldherr ist und zwar im Stile des Onkels, das muß sich zeigen Selbst muß er aber Schlachten schlagen, denn sein Feldherr würde Kaiser sein 32

Nach dem Tode des bisherigen Chefs des Generalstabes der Armee General von Reyher wurde Moltke zu seiner eigenen Überraschung kurze Zeit später am 29 10 1857 vom Prinzen von Preußen in der Stellvertretung für den erkrankten König vom bisherigen Adjutantenverhältnis entbunden und zunächst mit der Führung der Geschäfte des Chefs des Generalstabes der Armee beauftragt Die definitive Ernennung erfolgte am 18 September 1858 Den entsprechenden Dienstgrad Generalleutnant erhielt er 1859 Damit bekam Moltkes Karriere die entscheidende Richtung Moltke verdankte seinen Aufstieg nicht nur seiner überragenden fachlichen Qualifikation, seinen gemäßigten monarchistisch-konservativen Ansichten und charakterlichen Eigenschaften, sondern auch seinen langjährigen Kontakten zum Hofe, zumal Prinz Wilhelm ihn durch die Stellung bei seinem Sohn persönlich näher kennen und schätzen gelernt hatte Als Helmuth von Moltke sein Amt antrat, bestand der Generalstab aus 64 Offizieren Mit dem Chef selbst bildeten nur 19 Offiziere in Berlin den Großen Generalstab, der sich in einem frühklassizistischen Palais in der Behrenstraße 66 befand Die übrigen 45 Generalstabsoffiziere in den Truppengeneralstäben – je drei bei den neun Korps bzw je einer bei den 18 Divisionen  – blieben mit der Berliner Zentrale eher locker verbunden 33 Demgegenüber unterstanden einem Kommandierenden General, der ein Armeekorps befehligte, etwa 35 000 Soldaten Die Chefstelle im Generalstab und auch die des Kriegsministers entsprach damals etwa der Stellung eines Divisionskommandeurs, also Generalleutnant, während die Kommandierenden Generale als Generale der Infanterie oder der Kavallerie einen höheren Dienstgrad besaßen Noch immer galt in der preußischen Armee das Kommando eines Armeekorps als höher und besser geeignet für die Karriere als der Posten des Kriegsministers oder des Generalstabschefs Der Chef des Generalstabes besaß gegenüber dem Monarchen noch keineswegs das Beratungsmonopol in strategisch-operativen Fragen Seine dienstlichen Kontakte zum König gingen über den Kriegsminister, der das Recht zur Gegenzeichnung hatte 31 32 33

Zit nach Hermann Müller-Bohn, Graf Moltke Ein Bild seines Lebens und seiner Zeit, Berlin 1895, 252 Helmuth von Moltke, (wie Anm  23), 151 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 227–234

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Dem Kriegsminister erwuchs allerdings seit Ende der 1850er Jahre zunehmende Konkurrenz von Seiten des Militärkabinetts Das führte schließlich zur Zurückdrängung des konstitutionell gebundenen Kriegsministers auf administrative Aufgaben Diese Vorgänge und Veränderungen im Militärwesen infolge der fortschreitenden Industrialisierung ebneten den Weg für den Aufstieg des Generalstabes an die Spitze der Armee, da das Militärkabinett strategisch-operative Aufgaben nicht wirklich kompetent bearbeiten konnte 34 Moltke, der sich zunächst mit der zweitrangigen Position abfand, begann aber schon bald auf der Grundlage der Arbeiten seiner Vorgänger den Großen Generalstab von einem beratenden Organ für strategische Fragen zur einheitlichen Planungs- und Führungsinstanz, zum Gehirn, der Armee, zu entwickeln Moltke selbst hat in den darauffolgenden Jahren durch seine persönlichen Qualitäten dem Amt des Generalstabchefs ein höheres Gewicht verschafft Er verkörperte einen neuen Typus des Generalstabsoffiziers, der hochprofessionell gebildet die Feldzüge im industriellen Zeitalter vom Schreibtisch aus plante und leitete Anders als seine Vorgänger begann Moltke auch ohne Aufforderung schon in Friedenszeiten Operationspläne für die zu erwartenden Kriegsfälle zu bearbeiten Frankreich betrachtete er frühzeitig als eigentlichen Hauptgegner Gegenüber diesem Staat entwickelte er ein scharf ausgeprägtes Feindbild und hielt einen Nationalkrieg gegen Frankreich zur Herstellung der deutschen Einheit für unvermeidlich Aber auch Russland zählte er im Unterschied zu vielen konservativen Politikern und Militärs in Preußen zu den potentiellen Zukunftsgegnern Mit Österreich hoffte Moltke zu einer Verständigung zu kommen, die eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Hauptmächten ausschloss Er wünschte ein Bündnis zwischen den beiden, das auch die Seemacht England einbezog Moltke wollte an der Seite Österreichs im Sommer 1859 in den Oberitalienischen Krieg eingreifen, den die Habsburger Monarchie gegen Sardinien-Piemont und Frankreich führte Als Kriegsziel strebte er schon damals die Annexion von Elsaß-Lothringen an 35 Er meinte: Wenn Preußen sich gegenwärtig für einen Krieg entscheidet, so geschieht dies nicht nur zur Abwehr einer unmittelbar zwingenden Bedrohung, sondern zur Vorbeugung zukünftiger Gefahren im Interesse Deutschlands, nicht für, aber mit Österreich 36

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Vgl Gerhard Förster / Heinz Helmert / Helmut Otto / Helmut Schnitter, Der preußisch-deutsche Generalstab 1640–1965, Berlin 1966, 31 Vgl Lothar Burchardt, Helmuth von Moltke, Wilhelm I und der Aufstieg des preußischen Generalstabes, in: Roland G Foerster (Hg ), Generalfeldmarschall von Moltke Bedeutung und Wirkung, München 1991, 23 Zu den Schwächen und Widersprüchlichkeiten der Spitzengliederung vgl Herbert Rosinski, Die deutsche Armee, Düsseldorf/Wien 1970, 231–239 Vgl Stig Förster, Einleitung, in: Stig Förster (Hg ), Moltke Vom Kabinettskrieg zum Volkskrieg Eine Werkauswahl, (im folgenden als „WAW“ abgekürzt), Bonn/Berlin 1992, 11 ff Zit nach Rudolf Stadelmann, (wie Anm  1), 122

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Über den Verlauf des Krieges war er sehr enttäuscht, weil Preußen die günstige Gelegenheit zur Intervention in Frankreich nicht nutzte bzw Österreich den Krieg mit der Abtretung der Lombardei schnell beendete Die preußische Armee befand sich zu diesem Zeitpunkt allerdings in keinem optimalen Zustand Sie musste dringend modernisiert werden, um als Instrument preußischer Großmachtpolitik zur Herstellung der deutschen Einheit zum Einsatz kommen zu können Die vom König und seinem neuen Kriegsminister Albrecht von Roon deshalb angestrebte Heeresreform traf aber auf den Widerstand der liberalen Mehrheit im preußischen Landtag Der daraus entstandene „Heereskonflikt“ entwickelte sich schnell zum „Verfassungskonflikt“, der die politische und militärische Handlungsfähigkeit Preußens gefährdete Moltke, der als Generalstabschef, an der Heeresreform nicht beteiligt wurde, stand bei dieser Auseinandersetzung ganz auf Seiten des Königs bzw des neuen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck und trat entschieden für die Bewahrung der königlichen Verfügungsgewalt über die Armee ein 37 Moltke interessierte sich für neue militärtechnische Entwicklungen, zum Beispiel für die verbesserten Gewehre und Kanonen, die Veränderungen in der Taktik erforderten Solche bahnbrechende Erfindung war das vom deutschen Mechaniker Johann Nikolaus Dreyse entwickelte Zündnadelgewehr, das dieser schon 1836 dem preußischen Kriegsministerium vorgestellt hatte Dabei handelte es sich um ein Hinderladungsgewehr mit gezogenem Lauf, das in Sömmerda in der Provinz Sachsen seit 1841 serienmäßig für die preußische Armee in Dreyses Gewehr- und Munitionsfabrik hergestellt wurde Die neue Waffe ermöglichte das Laden im Liegen und erlaubte eine gegenüber dem Vorderlader dreifache Feuergeschwindigkeit von sechs Schuss pro Minute bei ausreichender Treffsicherheit bis zu 200 Metern und erwies sich als besonders vorteilhaft für die Verteidigung aus der Deckung heraus Bis zum Ausbruch des Krieges 1866 konnten insgesamt 365 000 Gewehre und 30 Mio Patronen an das Heer ausgeliefert werden In der Schlacht von Königgrätz trug das Zündnadelgewehr wesentlich zur Überlegenheit der preußischen Infanterie bei Die Österreicher dagegen waren mit dem Lorenz-Gewehr, einem Vorderlader, bewaffnet Auch die Artillerie wurde mit Hinterladerkanonen, mit gezogenen Gußstahlrohren, der Firma Krupp, ausgerüstet Dennoch waren 1866 von etwa 870 preußischen Geschützen ein Drittel Glattrohrversionen 38 Der Aufbau einer privatwirtschaftlichen Rüstungsindustrie schritt voran Die Wechselwirkung zwischen industrieller Massenproduktion, Waffentechnik und Kriegsführung trat jetzt deutlicher zutage Moltke hat sich intensiv mit dem „Einfluss der verbesserten Feuerwaffen auf die Taktik“ auseinandergesetzt und seine Erkennt-

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Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 341 f Vgl Wilhelm H  Pantenius, Alfred Graf von Schlieffen Stratege zwischen Befreiungskriegen und Stahlgewittern, Leipzig 2016, 200 f Vgl Klaus-Jürgen Bremm, 1866 Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt 2016, 94

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nisse in mehreren Abhandlungen niedergeschrieben 39 Nach seiner Überzeugung hatte die taktische Defensive durch die Verbesserung der Feuerwaffen einen großen Vorteil über die taktische Offensive gewonnen Der Generalstabschef berücksichtigte von Anfang an das neue Transportmittel Eisenbahn für die Mobilmachung und den operativen Aufmarsch Der Ausbau strategisch wichtiger Strecken wurde beschleunigt 1859 richtete er im Generalstab eine Eisenbahnsektion ein In Zusammenarbeit mit der zivilen preußischen Eisenbahnverwaltung erarbeitete der Generalstab seit 1859 jährlich Mobilmachungsfahrpläne und Marschtabellen, die von nun an die Grundlage aller preußisch-deutschen Mobilmachungs- und Aufmarschpläne bildeten 40 Moltke, der wie Clausewitz der taktischen Kampfhandlung die entscheidende Bedeutung beimaß, zielte darauf ab, durch schnelleren Aufmarsch mit überlegenen Kräften an der gegnerischen Hauptmacht zu sein, noch ehe diese ihren eigenen Aufmarsch abgeschlossen hatte, um in vorteilhafter Lage eine entscheidungssuchende Schlacht zu erzwingen Bei der Auswahl der wichtigsten Angriffsrichtungen mussten deshalb die Konzentrations- und Transportmöglichkeiten berücksichtigt werden Diese Strategie erforderte aufschlussreiche Informationen über Absichten und Stärke des Gegners Sie setzte auch voraus, dass die eigene politische Führung rechtzeitig zum Krieg entschlossen war Moltke drängte daher später, Feldzüge präventiv zu eröffnen, „da er die militärischen Vorteile eines Präventivkrieges höher einschätzte als alle damit verbundenen politischen Nachteile “41 Moltke, selbst ein erzieherisches Produkt des Generalstabes, legte wie seine Vorgänger großen Wert auf die Heranbildung eines weitgehend homogenen Korps von Generalstabsoffizieren, die rational arbeiteten, verantwortungsvoll handelten und gegenüber militärtechnischen Neuentwicklungen aufgeschlossen waren Politische Urteilsfähigkeit und solide Allgemeinbildung, die noch bei Scharnhorst einen hohen Stellenwert besaßen, kamen im Forderungskatalog des hoch gebildeten Moltke nicht mehr vor Dies war eine Folge der zunehmenden Spezialisierung im Militärwesen Noch intensiver als sein Vorgänger kümmerte sich Moltke um die Auswertung früherer Feldzüge durch die Generalstabsoffiziere Jetzt bekamen auch die theoretischen Erkenntnisse von Clausewitz, dessen Werk „Vom Kriege“ neu aufgelegt wurde, größere Bedeutung 1859 konzipierte der Generalstabschef eine „Militärwissenschaftliche Abteilung“, die in den 1860er Jahren aufgebaut wurde Hier entstanden unter Moltkes Leitung und Mitarbeit durch die sorgfältige Analyse zeitgenössischer Kriege bedeutende Werke zur Kriegsgeschichte Ihr Studium trug zur Verbesserung des militär-theoreti-

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Vgl Moltkes Taktisch-strategische Aufsätze aus den Jahren 1857 bis 1871, hg v Großen Generalstabe, Abteilung für Kriegsgeschichte I, Berlin 1900, 7–65 Vgl Moltkes Militärische Werke (im folgenden MMW abgekürzt), 4 Abt , 1 T , Berlin 1911, 204–258 Gerhard Förster u a , (wie Anm  34), 36 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 243

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schen Niveaus des Offizierkorps bei 42 Das verschaffte Moltke nicht nur in der preußischen Armee, sondern auch in österreichischen Militärkreisen vor Königgrätz den Ruf ein „doktrinärer Theoretiker und Methodiker“ zu sein Moltke war weder das Eine noch das Andere Er hat aber 1869 in den Truppenführerverordnungen und 1871 in seinem kurzen Strategieaufsatz Grundsätze über seine Auffassung vom Krieg formuliert Beide Schriften lassen „eine gründliche, wenn auch nicht unkritische Beschäftigung mit Clausewitz erkennen “43 Der österreichische Feldzeugmeister Ritter von Hauslab, der die Vorgänge in der preußischen Armee beobachtete, meinte im Oktober 1865: „Die preußischen Offiziere, vorzüglich jene des Generalstabes, erinnern oft an die deutschen Professoren, besonders in den philosophisch spitzfindigen Entwicklungen der Clausewitz’schen und Willisen’schen Strategie “44 Zur praktischen Ausbildung der Generalstabsoffiziere gehörten neben den topographischen Aufnahmen vor allem die Generalstabsreisen, bei denen sowohl das operative als auch das taktische Element voll zur Geltung kam Daran nahmen etwa 20 bis 40 Offiziere teil Weitere Ausbildungsfelder waren die Kombination der Waffen, Truppeneinteilung und Marschanordnung, überhaupt die Berechnung von Raum und Zeit im kleinsten Detail, kurze und klare Befehlsgebung, Meldewesen usw Die Korps- und Königsmanöver nutzte Moltke für die Ausbildung des zum höheren Truppenführer im Feldzug befähigten Nachwuchses Die Generalstabsoffiziere bildeten kein abgeschlossenes Korps Die Norm bildete vielmehr der beständige Wechsel zwischen der Dienststellung im Generalstab und der im Truppendienst 45 Der erneute Versuch Dänemarks Ende 1863 durch eine neue Verfassung Schleswig, das nicht zum Deutschen Bund gehörte, in den eigenen Staatsverband einzugliedern, verstieß gegen die Abmachungen des Londoner Protokolls von 1852 und führte zum Konflikt mit dem Deutschen Bund und schließlich zur Besetzung Schleswigs durch Österreich und Preußen Der daraus erwachsene Deutsch-Dänische Krieg begann am 1  Februar 1864 und fand zunächst ohne Moltke statt, der in Berlin beim König blieb Das Oberkommando erhielt der greise 80 jährige Feldmarschall Wrangel, der sich für einen „Marschall Vorwärts“ hielt und anders als Blücher glaubte, ohne einen strategischen Ratgeber wie Gneisenau auskommen zu können Er ignorierte Moltkes Umfassungsplan Die Dänen entgingen dadurch der Vernichtung, zogen sich hinter die Düp-

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Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm   5) 244–248 Vgl Reinhard Brühl, Militärgeschichte und Kriegspolitik Zur Militärgeschichtsschreibung des preußisch-deutschen Generalstabes 1816–1945, Berlin 1973, 83–88 Vgl Manfred Messerschmidt, Die Armee in Staat und Gesellschaft – Die Bismarckzeit, in: Michael Stürmer (Hg ), Das kaiserliche Deutschland, Düsseldorf 1977, 102–106 Reinhard Stumpf, (wie Anm  6), 892 Zit nach Johann Christoph Allmayer-Beck, Die Gedankenwelt Moltkes und Erzherzog Albrechts von Österreich Übereinstimmung und Gegensätzlichkeiten, in: Generalfeldmarschall von Moltke, (wie Anm  34), 120 Vgl Moltkes Taktisch-strategische Aufsätze, (wie Anm   39), 221–255 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 245–248 Vgl Wilhelm Bigge, Feldmarschall Graf Moltke, 2 Bd , München 1901, 31–39

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peler Schanzen zurück und flohen nach deren Erstürmung durch preußische Truppen am 18 April auf die gegenüberliegende Insel Alsen Erst am 30 April 1864 wurde Moltke mit den Geschäften des Stabschefs beim neuen Oberbefehlshaber Prinz Friedrich Karl betraut und traf am 2 Mai im Hauptquartier ein Es blieb ihm nur noch den Übergang nach Alsen zu leiten 46 Der endgültige Friedensschluss erfolgte erst am 30  Oktober Moltke wäre für eine Aufteilung Schleswigs entlang der Sprachgrenze gewesen und hat noch 1875 Bismarck eine Neuregulierung der Schleswigschen Nordgrenze vorgeschlagen 47 Dänemark musste die Herzogtümer an die beiden Sieger abtreten, die sie zunächst gemeinsam verwalteten Diese Lösung lag aber nicht im Interesse der mittelstaatlichen Mitglieder des Deutschen Bundes und der liberalen Nationalbewegung Nach deren Meinung sollte Schleswig-Holstein ein neuer Mittelstaat werden mit dem Herzog von Augustenburg an der Spitze Eine solche Option wollte Bismarck, der die Annexion der Elbherzogtümer anstrebte, unbedingt verhindern, denn sie hätte zu einem Machtverlust Preußens in Norddeutschland führen können Sein Minimalziel in dem nun eskalierenden Konflikt bestand zunächst in der Sicherung bzw dem weiteren Ausbau der preußischen Dominanz in der nördlichen Hälfte Deutschlands durch Vereinbarungen mit Wien über die Teilung der Macht im Deutschen Bund, also ein großpreußisches Programm Ein Krieg gegen Österreich mit der Absicht einen kleindeutschen Nationalstaat zu schaffen, „war bis 1866 nicht die Dominante in Bismarcks Deutschlandpolitik“ 48 Auch Moltke, welcher der nationalen Idee näher stand als Bismarck, hoffte zunächst auf einen friedlichen Ausgleich zwischen Preußen und Österreich durch Festlegung von Einflusszonen nördlich bzw südlich des Mains und der Überwindung des „Souveränitätsschwindels“ der deutschen Mittel- und Kleinstaaten durch einen „rechtlich fixierten Dualismus“ zwischen den beiden Großmächten Moltke, der überhaupt frei war „von allem borussischen Partikularismus“ und von „Ressentiment gegen Österreich“, hatte seit den 1840er Jahren Vorstellungen von einem übernationalen großdeutsch-mitteleuropäischen Machtblock entwickelt, in dem Preußen und Österreich einträchtig handelnd in der Lage wären, eventuelle Angriffe Frankreichs und Russlands auf den mitteleuropäischen Raum abzuwehren 49 Seine Visionen erwiesen sich aber als unrealistisch Als auf der Kronratssitzung vom 29 Mai 1865 der König mit seinen politischen und militärischen Beratern über die entstandene Situation diskutierte, traten Roon und Moltke für die Annexion der Elbherzogtümer ein Der Generalstabschef wäre aber im Gegensatz zum König und den anderen Teil46 47 48 49

Vgl dazu Moltkes Denkschrift vom 6 12 1862 über einen Feldzug gegen Dänemark und seine kurze Übersicht von 1875 über den Kriegsverlauf, in: WAW, (wie Anm  40), Militärische Korrespondenz, 1 Abteilung, 1 Teil, Berlin 1892 Vgl Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, 1 Bd , München 1954, 274 Vgl Eberhard Kolb, Otto von Bismarck Eine Biographie, München 2014, 85–89 Vgl Frank Möller, Preußens Entscheidung zum Krieg 1866, in: Winfried Heinemann / Lothar Höbelt Ulrich Lappenküper (Hgg ), Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 27–35 Vgl Stadelmann, (wie Anm  1), 150 f Gerhard Ritter (wie Anm  47), 270

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nehmern bereit gewesen für diesen großen Gewinn, „die gerechtfertigten Ansprüche Österreichs“ durch territoriale Kompensationen aus dem Bestand der preußischen Monarchie – eventuell die Hohenzollernschen Lande im Südwesten Deutschlands – zu entschädigen Sollte dies nicht gelingen, „so sei der Krieg in Aussicht zu stellen, zu dem man fest entschlossen sein müsse“ 50 Bismarck riet dazu, die weitere Entwicklung abzuwarten und dem König den Kriegsentschluss zu überlassen Mit dem Vertrag von Gastein 1865, der eine Teilung der Administration vornahm, trat zunächst Entspannung ein Schleswig wurde nun von Preußen und Holstein von Österreich verwaltet Als Österreich nicht freiwillig seine Vormachtstellung im Deutschen Bund aufgab und die Augustenburgische Propaganda in Holstein duldete, verschlechterten sich Anfang 1866 die Beziehungen zwischen Wien und Berlin rapide Bismarck, der wegen des Verfassungskonfliktes auch innenpolitisch unter dem Druck der liberalen Opposition stand, reagierte offensiv mit Bundesreformanträgen, die letztendlich auf eine kleindeutsche Lösung des Dualismus der beiden Großmächte hinausliefen Die Wiener Regierung, unfähig konstruktive Alternativen in der Deutschlandpolitik zu entwickeln, nahm die Herausforderung an, obwohl die Aussicht den Krieg zu gewinnen, angesichts der unzureichenden politisch-diplomatischen und militärischen Vorbereitungen und finanziellen Mittel mehr als zweifelhaft war Man war in Wien „resigniert zum Krieg“ 51 Als sich herausstellte, dass der Waffengang unvermeidbar schien, drängte Moltke Anfang April 1866 auf sofortigen Kriegsbeginn, um den entscheidenden Zeitvorsprung beim Aufmarsch nicht zu verlieren: Der Krieg gegen Österreich, seine Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit, liegt als politische Frage außerhalb meiner Beurteilung Von meinem Standpunkt aus glaube ich aber die Überzeugung aussprechen zu müssen, dass das Gelingen oder Misslingen dieses Kriegs wesentlich davon abhängt, dass der Entschluß dazu früher hier als in Wien und wenn möglich schon jetzt gefasst wird 52

Wenige Tage später bekräftigte er seine Ansicht: „Nur dürfen wir, wenn wir einmal mobil machen, den Vorwurf der Aggression nicht scheuen Jedes Zuwarten verschlimmert unsere Lage ganz entschieden “53 In der ersten Junihälfte 1866 eskalierten die Ereignisse im Deutschen Bund Die Entscheidung fiel als am 14 Juni Österreichs Antrag zur Mobilmachung der nichtpreußi50 51

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Vgl Moltkes Aufzeichnung über die Ministerkonferenz am 29 5 1865, in: Hans Fenske (Hg ), Der Weg zur Reichsgründung 1850–1870, Darmstadt 1977, 300 f Vgl Frank Möller, (wie Anm  48), 31–35 Vgl Alma Hanning, Österreich: Entscheidung zum Krieg, in: Der Preussisch-Österreichische Krieg 1866, (wie Anm  48), 51–61 Vgl Jürgen Angelow, Zwischen Partnerschaft und Rivalität Preußen und seine Militärmacht Argumente österreichischer Reform- und Revanchepolitik (1866–1871), in: Peter Baumgart u a (Hg ), Die preußische Armee zwischen Ancien Regime und Reichsgründung, Paderborn u a , 2008, 266–269 Helmuth von Moltke, Denkschrift vom 2 4 1866, in: WAW, (wie Anm  35), 106 Derselbe, Aufmarschplan vom 14 4 1866, in: ebenda, 119

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schen Kontingente des Bundesheeres gegen Preußen mit neun gegen sechs Stimmen angenommen wurde Preußen betrachtete nun den Bundesvertrag als gebrochen und begann am 16 Juni mit den militärischen Operationen gegen Sachsen, Hannover und Kurhessen, die von Moltke mit Hilfe des elektrischen Telegrafen von Berlin aus koordiniert wurden Auf Seiten Österreichs traten die deutschen Mittelstaaten und einige Kleinstaaten Preußen wurde unterstützt von der Mehrheit der kleinen Staaten Nordund Mitteldeutschlands und von Italien Moltkes strategisches Konzept sah vor, zuerst den Hauptfeind Österreich, niederzuwerfen, um jeden anderen Widerstand in Deutschland zu beseitigen Die ersten Schlachten in Böhmen werden voraussichtlich früher geschlagen sein, als Bayern eine Armee von 40 000 Mann aufzustellen vermag, und in diesen Schlachten wesentlich überlegen zu sein, dürfte den Ausgang des Krieges entscheiden 54

Am 2 Juni 1866 hatte der König verfügt, dass fortan die Befehle über die operativen Bewegungen der Armee durch den Chef des Generalstabes den Kommandobehörden mitgeteilt werden Das Kriegsministerium jedoch darüber in Kenntnis zu setzten wäre Damit wurde der Generalstab der Armee während des Krieges zum obersten Führungsorgan und dessen Abhängigkeit vom Kriegsministerium aufgehoben In dem der König am 8 Juni 1866 Moltke (und Roon) zum General der Infanterie beförderte, erhielt der Generalstabschef jetzt auch die rangmäßige Gleichstellung mit den Kommandierenden Generalen Dadurch waren auch die aufgetretenen Probleme der Rangordnung gelöst Zu Beginn des Krieges gegen Frankreich stellte Wilhelm I Moltkes Rolle von Anfang an heraus, indem er ihn am 20 Juli 1866 zum „Chef des Generalstabes der Armee im Großen Hauptquartier Sr Majestät des Königs“ ernannte Moltke war generell der Meinung, dass der dem Parlament rechenschaftspflichtige Kriegsminister während des Krieges nicht ins Hauptquartier gehört, sondern nach Berlin 55 Mitte Mai 1866 begann der von Linienkommissionen geleitete Transport von 7 ½ preußischen Armeekorps durch die Nutzung von fünf Eisenbahnlinien an die Grenze zu Sachsen und Böhmen auf einer Linie von ca 350 km Dagegen stand den Österreichern für ihren Aufmarsch nur eine Eisenbahnlinie zur Verfügung Erst nach dem Eintreffen der Truppen an den Endstationen der Eisenbahnlinien begann der strategische Aufmarsch 56 Gegen den Widerstand prominenter Bedenkenträger, darunter mehrere Generäle, verzichtete Moltke auf die übliche Konzentration der gesamten Streitkräfte zu Beginn

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Derselbe, Begründung vom 20 4 1866 für den Aufmarsch gegen Österreich, in: WAW, (wie Anm  35), 126 Vgl Gordon A Craig, Königgrätz, München 1987, 50–53 Vgl Wilhelm Bigge, Feldmarschall Graf Moltke, (wie Anm  45), 159 f Vgl Ebenda, 160–174 Vgl Thorsten Loch / Lars Zacharias, Mythos Königgrätz: Zum politischen Konstrukt der Schlacht von 1866 Eine operationsgeschichtliche Analyse, in: 1866, (wie Anm  48), 174–178

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des Krieges im Hinterland und setzte durch, dass drei Armeen von Sachsen, den Lausitzen und Schlesien aus am 23 Juni offensiv nach Böhmen marschierten, um sich erst dort auf dem Schlachtfeld zu vereinigen Das wurde dann später in der Öffentlichkeit auf die einfache Formel: „getrennt Marschieren, vereint Schlagen“ gebracht 57 Moltke erklärte später dazu: Sehr große Truppenansammlungen sind an sich eine Kalamität Die auf einem Punkte konzentrierte Armee kann schwer ernährt, niemals untergebracht werden; sie vermag nicht zu marschieren, nicht zu operieren, sie kann auf Dauer überhaupt nicht existieren, sie vermag nur zu schlagen (…) Für die Operationen so lange wie irgend möglich in der Trennung zu beharren, für die Entscheidung rechtzeitig versammelt zu sein ist die Aufgabe der Führung großer Massen 58

Nach einer Reihe von verlustreichen Gefechten vor allem für die habsburgischen Truppen Ende Juni in Böhmen kam es am 3 Juli 1866 zwischen Sadowa und Königgrätz zur Entscheidungsschlacht mit der österreichisch-sächsischen Armee, die von Feldzeugmeister Ludwig von Benedek geführt wurde In dieser bis zum 20   Jahrhundert größten Schlacht kämpften auf engem Raum von etwa fünf Kilometern Tiefe und zehn Kilometern Breite rund 435 000 Soldaten etwa 17 Stunden gegeneinander Die militärischen Einheiten beider Gruppierungen waren zahlenmäßig ungefähr gleichstark Bei den Militärexperten in Europa galt aber die Armee der Habsburger als kampfstärker Die österreichisch-sächsischen Truppen standen dort in rein defensiver Absicht eng versammelt, das erleichterte dann den konzentrischen Angriff der beweglicheren preußischen Armeen von getrennten Punkten aus gegen deren Stellungen Der morgendliche Angriff der 1 Preußischen Armee unter Prinz Friedrich Karl auf das gegnerische Zentrum sollte die Österreicher festhalten Die Entscheidung musste dann nach Moltkes Plan der doppelte Flankenangriff der beiden Flügelarmeen bringen Mit dem Angriff der nachmittags unter dem Befehl des Kronprinzen eintreffenden 2 Armee in Flanke und Rücken der Österreicher und Sachsen war die Schlacht zugunsten von Preußen entschieden 59 Moltke meinte: „Die Vereinigung von zwei bis dahin geschiedenen Armeen auf dem Schlachtfeld halte ich für das Höchste, was strategische Führung zu erreichen vermag “60 Die Verluste wa-

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Vgl MMW, (wie Anm 40), 1 Abteilung, Militärische Korrespondenz, 2 Teil, Berlin 1896, 177–235 Vgl Helmuth von Moltke, Betrachtungen über Konzentrationen im Kriege von 1866, in: WAW, (wie Anm  35), 174–180 Helmuth von Moltke, Verordnungen für die höheren Truppenführer vom 24 Juni 1869, in: Taktisch-strategische Aufsätze, (wie Anm  39), 173 Vgl Gordon A Craig, (wie Anm  54), 8–19 Vgl Klaus-Jürgen Bremm, (wie Anm  38), 165 ff Frank Becker, „getrennt marschieren, vereint schlagen“ Königgrätz, 3 Juli 1866, in: Stig Förster u a (Hg ), Schlachten der Weltgeschichte, München 2001, 216–229 Zit nach Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 199 Vgl auch Helmuth von Moltke, Verordnungen (wie Anm  58), 210 f

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ren auf beiden Seiten unterschiedlich hoch Österreich verlor an Toten, Verwundeten und Gefangenen etwas über 44 000 Mann, Preußen dagegen etwa 9 200 und Sachsen 1 500 Soldaten Beim Ritt über das Schlachtfeld bekam Moltke einen unmittelbaren Eindruck von den Schrecknissen dieses Krieges Seiner Frau berichtete er am 4 Juli: An manchen Stellen war das Feld förmlich bedeckt mit Leichen von Menschen und Pferden Gewehre, Tornister und Mäntel etc lagen überall herum Es gab schreckliche Verwundungen, Niemand konnte helfen Ein Offizier flehte uns an, ihn totzuschießen Die Krankenträger arbeiteten ohne Unterlaß, aber die Zahl der Verstümmelten war zu groß 61

Trotz der preußischen Erfolge war es Moltke nicht wie geplant gelungen, die Armee Benedeks vollständig zu umfassen und zu vernichten Das lag zum Teil daran, dass nicht alle höheren Truppenführer sich an die von Moltke vorgegebenen Dispositionen hielten bzw mit dessen Führungsstil noch nicht vertraut waren Er hatte auch einzelnen Unterführern zu viel Selbständigkeit gewährt und nach dem Rückzug Benedeks die österreichischen Truppen nicht energisch verfolgen lassen Dadurch entkamen sie in Richtung Südosten „Ihre treffliche Artillerie, welche bis zum letzten Augenblick feuernd stand hielt, hatte den Abzug verschleiert und der Infanterie einen beträchtlichen Vorsprung verschafft “62 Die mit Österreich verbündeten deutschen Mittelstaaten waren nicht in der Lage, gemeinsam nach einer einheitlichen Konzeption zu handeln Nachdem auf dem nordwestdeutschen Nebenkriegsschauplatz Preußen schon bis zum 29 Juni die hannoversche Armee besiegt hatte, wurden im Juli die süddeutschen Truppen von der preußischen Mainarmee in mehreren Gefechten geschlagen Auch hier erwiesen sich die preußische Führung und das Zündnadelgewehr als überlegen 63 Trotz ihrer Erfolge gegen Italien bemühten sich die verantwortlichen Politiker der Habsburger Monarchie französische Vermittlungen nutzend, um Waffenstillstand und Friedensschluss zu annehmbaren Bedingungen, denn preußische Truppen standen jetzt kurz vor Wien und Pressburg Über die Friedensbedingungen kam es dann im preußischen Hauptquartier in Nikolsburg zu heftigem Streit zwischen Bismarck und dem preußischen König Der Ministerpräsident, der eine französische Intervention befürchtete und dem es um die internationale Absicherung der geplanten preußischen Annexionen in Norddeutschland ging, verlangte deshalb die Schonung der Besiegten, die er langfristig als Partner gewinnen wollte Wilhelm I und die Mehrheit seiner hohen Militärs dagegen forderten Landabtretungen von den Hauptgegnern und den triumphalen Einmarsch in Wien Nach dramatischem Ringen setzte sich Bismarck endlich durch, auch weil er den Kronprinzen von seiner Auffassung überzeugen konnte Auch Moltke war für eine milde Behandlung Österreichs, aber nicht weil er eine 61 62 63

Helmuth von Moltke, Briefe, (wie Anm  20), 448 Derselbe, Über den angeblichen Kriegsrat, in: GS, 3 Bd , Berlin 1891, 425 Klaus-Jürgen Bremm, 1866, (wie Anm  38), 122 ff , 212 ff

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mögliche Einmischung Napoleons III fürchtete, sondern weil er austrophiler war als die meisten anderen in diesem Kreis, weil die Habsburger Monarchie weiter als Großmacht und Kulturträger in Südosteuropa wirken sollte Ihm ging es auch nicht um den Einzug in Wien, sondern um die schnelle Vernichtung der österreichischen Streitmacht 64 Aus Moltkes Sicht war der Krieg von 1866: Ein im Kabinett als notwendig erkannter, längst beabsichtigter und ruhig vorbereiteter Kampf nicht für Ländererwerb, Gebietserweiterung oder materiellen Gewinn, sondern für ein ideales Gut – für Machtstellung 65

Schließlich kam es am 26 Juli zwischen Preußen und Österreich zum Vorfrieden von Nikolsburg, dessen Ergebnisse am 23 August 1866 durch den Frieden von Prag bestätigt wurden: Auflösung des Deutschen Bundes und Ausschluss Österreichs aus Deutschland nach beinahe tausendjähriger gemeinsamer Geschichte; Anerkennung der Bildung eines Norddeutschen Bundesstaates unter preußischer Führung; Duldung der Annexion von Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main durch Preußen, aber Erhalt Sachsens; Recht der süddeutschen Staaten auf Bildung eines eigenen Bundes Der Sieg von 1866 ermöglichte Bismarck nicht nur die Neuorganisation Norddeutschlands, sondern führte auch in Preußen selbst zur Beendigung des Verfassungskonflikts durch die mehrheitliche Annahme des Indemnitätsgesetzes im Abgeordnetenhaus Diese Entscheidung führte sogar zur Parteispaltung sowohl im Lager der Liberalen als auch bei den Konservativen in Anhänger und Gegner der Politik des Ministerpräsidenten Der Ausschluss Österreichs aus Deutschland fiel „mit der Bindung entscheidender national-bürgerlicher Kräfte an den preußischen Militärstaat zusammen “66 Für die Habsburger Monarchie bedeutete der erzwungene Rückzug aus Deutschland und Italien auch eine enorme Schwächung ihrer Stellung als europäische Großmacht Ihr Schwerpunkt verlagerte sich nach Osten bzw Südosten Nachdem vor 1866 verschiedene zentralistische und föderalistische Reformversuche gescheitert waren, sah sich nun Kaiser Franz Joseph veranlasst, gemeinsam mit gemäßigt liberalen ungarischen Politikern unter Führung von Ferenc Deák und Gyula Andrássy zur Großmachtsicherung ein Abkommen zur dualistischen Neugestaltung der Herrschaftsstruktur der Monarchie zu Lasten der Slawen, Rumänen und Italiener auszuhandeln Als Ergebnis des für Ungarn vorteilhafteren Kompromisses kam der „Ausgleich“ von 1867 zustande, der die „anhaltend instabile“ und staatsrechtlich-institutionell kompli-

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Eberhard Kessel, (wie Anm  5) 488 f Helmuth von Moltke, Über den angeblichen Kriegsrat, (wie Anm 62), 426 Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen Deutschland 1815–1866, Berlin 1998, 469–477 Vgl Hans Christof Kraus, Die politische Neuordnung Deutschlands nach der Wende von1866, in: Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, (wie Anm  48), 317–332

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zierte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn begründete Preußen dagegen stärkte in Mitteleuropa seine Machtbasis 67 Der Sieg bei Königgrätz verschaffte Moltke eine hohe Autorität als Militärstratege, obwohl seine Feldzugsplanung auch Kritiker fand Wilhelm I zeichnete ihn mit dem Schwarzen Adlerorden aus und ernannte ihn in Nachfolge von Gneisenau zum Chef des berühmten 2 Pommerschen (Colberg) Grenadier-Regiments Nr  9 Bismarck, Roon und Moltke erhielten vom Landtag bewilligte hohe Dotationen, die sie in Grundbesitz anlegen sollten Moltke kaufte davon 1867 in Schlesien, die in der Nähe von Schweidnitz gelegenen zusammengehörigen Rittergüter Kreisau, Gräditz und Wierischau Der Besitz bestand aus 400 Hektar Land mit einem Schloss und Wirtschaftshof Moltke kümmerte sich sogleich um die Verbesserung der sozialen Belange seiner Gutsarbeiter, die sofort eine „bessere Fleischportion“ bekamen Später wurden eine Schule und ein Kindergarten für deren Kinder gebaut; jedes Schulkind erhielt von Moltke ein Sparbuch mit einem kleinen Startkapital Auch als Gutsbesitzer blieb Moltke frei von adlig-feudalem Standesdünkel Nach seiner Meinung sollte der Adel seine noch verbliebenen Vorrechte aufgeben und sagen: „Wir sind große Bauern, unsere Interessen sind identisch “68 Im Januar 1867 kandidierte Moltke in sechs Wahlkreisen für den Reichstag In Berlin unterlag er dem aus Rostock stammenden liberalen Rechtsanwalt Moritz Wiggers, wurde aber in drei anderen Wahlkreisen gewählt und entschied sich für den Wahlkreis Memel-Heydekrug im äußersten Nordosten Preußens, den er bis zu seinem Lebensende für die Freikonservativen vertrat Seit 1881 eröffnete er regelmäßig als Alterspräsident die Legislaturperioden 1872 wurde er außerdem ins Herrenhaus berufen Zum letzten Mal erschien er im Reichstag zwei Tage vor seinem Tod Am 24 April 1891, seinem Todestag, hatte er noch an einer Sitzung des Herrenhauses teilgenommen Obwohl ihm zunächst eine parlamentarische Tätigkeit zuwider war, verfolgte er von Beginn an mit großer Aufmerksamkeit die Verhandlungen des Reichstages, der zuerst über die Verfassung des Norddeutschen Bundes debattierte 69 Davon zeugen verschiedene Briefe aus den Jahren 1867 und 1868 Seinem Bruder Adolf berichtete er am 10  März 1867: Die Verhandlungen im Reichstage nehmen eine schreckliche Zeit fort, aber sie sind im höchsten Grade interessant jetzt, wo endlich die Vorberatungen und Wahlprüfungen beendet sind Es sind doch sehr bedeutende Talente in dieser Versammlung, und neben

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Vgl Konrad Canis, Die bedrängte Großmacht Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914, Paderborn 2016, 27 f Vgl Lothar Höbelt, Königgrätz und der Ausgleich mit Ungarn: Kehrtwende oder Katalysator?, in: Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, (wie Anm  48), 339– 350 Moltke, Gespräche, hg v Eberhard Kessel, Hamburg 1940, 123 Vgl Manfred Jatzlauk, (wie Anm  3), 73 f , 86 f Vgl Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 382–386

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diesen fallen die konventionellen Phrasen, die Reden um zu reden, gänzlich durch Es ist doch, als ob die helleren Geister aus dem kleinstaatlichen Leben nur den beschränkteren Gesichtskreis mitbringen (…) Ebenso habe ich mit großem Interesse Waldeck gehört, welcher von seinem dem Partikularismus entgegengesetzten, liberalen, fast republikanischen Standpunkt die Regierungsvorlage verwirft In lautloser Stille hörte die Versammlung die Vorträge von Braun-Sachsen, Miquel-Osnabrück und Wagner für die Vorlage und zweimal replizierte Bismarck in wahrhaft staatsmännischer Rede 70

Moltkes eigene Reden waren klar, kurz und nicht zahlreich (41 in 24 Jahren im Reichstag, nur dreimal sprach er im Herrenhaus) Sein Vortrag war leicht und fließend, seine Redeweise einfach und schlicht, ohne jede Phrase, aber was er sagte, war streng sachlich und machte auch bei den gegnerischen Parteien Eindruck Niemals enthielten seine Reden Angriffe auf Personen oder scharfe Worte, auch in ihnen spiegelte sich seine vornehme, selbstlose Denkart wieder 71

Dieses Verhalten verschaffte ihm eine angesehene Stellung im Parlament, aber trotz klar konturierter konservativ-monarchistischer Anschauungen und jahrzehntelanger Tätigkeit als Abgeordneter fehlte ihm letztlich doch die „Befähigung zum eigentlichen politischen Geschäft “ Das hat er wohl selbst frühzeitig erkannt und mehrfache Versuche ihn für den Posten des Außenministers oder gar des Ministerpräsidenten zu gewinnen abgelehnt „Er war ehrgeizig, aber nicht zum Herrschen geboren “72 1890 äußerte Moltke sich kritisch zum allgemeinen gleichen Reichstagswahlrecht Er vertrat die Meinung, dass der Reichstag, „einen mehr konservativen, ruhigeren Charakter“ haben würde, wenn er aus Landtagsdelegationen der Bundesstaaten bestehen würde Dahinter verbarg sich wahrscheinlich der Wunsch, die Anzahl der sozialdemokratischen und linksliberalen Abgeordneten durch Veränderung des Wahlrechts zu verringern Mit dem Erstarken der politischen Kräfte, die für gesellschaftliche Veränderungen eintraten, wurde Moltke immer konservativer 73 Am wirksamsten und häufigsten hat sich Moltke zu Problemen der Militärorganisation und Heeresstruktur geäußert, aber auch zu politischen und militärischen Einzelfragen nahm er Stellung Außerdem behandelte er Entwicklungen im Bereich des Verkehrswesens, besonders Eisenbahnangelegenheiten hat er kommentiert In diesem Zusammenhang forderte er 1891 auch aus militärtechnischen Gründen die Einführung einer deutschen bzw mitteleuropäischen Einheitszeit und die Abschaffung

70 71 72 73

Helmuth von Moltke, Briefe, (wie Anm  23), 128 Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 383 Eberhard Kolb, Helmuth von Moltke in seiner Zeit Aspekte und Probleme, in: Generalfeldmarschall von Moltke, (wie Anm  34), 17 Vgl Lothar Burchardt, Helmuth von Moltke, (wie Anm  34), 36 Rudolf Stadelmann (wie Anm  1), 57 Moltke, Gespräche, (wie Anm  68), 35 227 Vgl Stig Förster, Einleitung, (wie Anm  35), 30 f

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der in Deutschland noch immer bestehenden fünf Zeitzonen Moltke beteiligte sich auch an den Diskussionen über Richtung und Kosten des Nord-Ostsee Kanals, dessen wirtschaftlichen und militärischen Nutzen er aber bezweifelte 74 Zu seinem Nachlass gehören auch Redeentwürfe aus dem Jahr 1868, die für sein Auftreten im Zollparlament bestimmt waren, aber aus unbekannten Gründen nicht gehalten wurden An die Adresse der antipreußisch eingestellten Abgeordneten aus Süddeutschland gerichtet erklärte Moltke damals: „Was bisher an wirklicher Einigung zu Stande gekommen ist, das verdanken wir dem Zwang, den Preußen in milderer oder herberer Form durch seine Handelspolitik, seine Diplomatie und sein Schwert geübt hat “ Er kritisierte, dass dennoch in Süddeutschland „Parteileidenschaft in neuester Zeit in öffentlicher Rede und Schrift Preußen verdächtigt, herabgesetzt und verspottet“75 hat Ungeduldig erwartete Moltke eine schnellere Annäherung des Südens an den Norden, und verlangte von den süddeutschen Abgeordneten, in diesem Sinne innerhalb ihrer Staaten auf ihre Regierungen und Volksvertretungen einzuwirken Bismarck dagegen wollte abwarten, die süddeutschen Staaten nicht bedrängen, um keine „unreifen Früchte“ abzuschlagen Bislang war der Generalstab mit erstaunlich wenigen Offizieren ausgekommen Durch den Krieg von 1866 wurde er aber endgültig zur zentralen Planungsinstanz der Armee eines territorial vergrößerten Preußens, dessen Militärapparat auch noch infolge der Gründung des Norddeutschen Bundes und der Militärabkommen mit den süddeutschen Staaten weiter ausgebaut wurde Der Personalbestand des Generalstabes wurde auf 109 Offiziere aufgestockt 46 Offiziere bildeten nun den Großen Generalstab in Berlin, während die übrigen 63 in den Truppengeneralstäben dienten Jetzt begann man auch mit dem Bau eines neuen Generalstabsgebäudes am Königsplatz 6, das 1871 fertiggestellt und 1873 noch einmal erweitert wurde 76 Trotz der großen Erfolge hatten sich 1866 während des Krieges in der preußischen Armee erhebliche Mängel bei der höheren Truppenführung, in der Gefechtstaktik und beim Zusammenwirken der einzelnen Waffengattungen offenbart Moltke kam zu folgendem Urteil: Die Infanterie hat in jeder Beziehung Ausgezeichnetes geleistet, im Marschieren wie im Fechten Von der Artillerie unzureichend, von der Kavallerie so gut wie gar nicht unterstützt, tritt sie, im Gefühl ihrer Kraft, überall selbständig auf und trägt ihr Feuer dem Feinde offensiv entgegen 77

74 75 76 77

Vgl Helmuth von Moltke, Reden, (wie Anm  22) Ebenda, 13 Vgl dazu Wolf D Gruner, Die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und der steinige Weg in das deutsche Kaiserreich (1864–1871), in: Der Preußisch-Österreichische Krieg 1866, (wie Anm  48), 263–265 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 501–503 Helmuth von Moltke, Memoire an seine Majestät den König vom 25 Juli 1868 über die bei der Bearbeitung des Feldzuges 1866 hervorgetretenen Erfahrungen, in: Taktisch-strategische Aufsätze, (wie Anm  39), 74

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Unter Leitung und Mitarbeit des Chefs wurde daher im Generalstab das Verhalten der Kommandobehörden und der einzelnen Truppenteile durch Auswertung der Kriegstagebücher ermittelt und kriegsgeschichtlich dargestellt Daraus entstand 1868 eine Denkschrift für den König (Memoire über die bei der Bearbeitung des Feldzuges 1866 hervorgetretenen Erfahrungen vom 25 Juli 1868), die jede Waffengattung und die „Große Heerführung“ einer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Kritik unterzog und die daraus gewonnenen Einsichten Moltkes über die moderne Kriegsführung zur Instruktion für die höheren Truppenführer aufbereitete Die zentralen Aussagen dieser Denkschrift bildeten die Grundlage für die hauptsächlich von Moltke erarbeiteten und vom König genehmigten „Verordnungen für die höheren Truppenführer vom 24  Juni 1869 “ Durch diese Verordnung wirkte Moltke schulebildend für das Führungsdenken auf das preußisch-deutsche Offizierkorps bis weit in das 20  Jahrhundert 78 Auch nach 1866 arbeitete der Generalstabschef an Aufmarschplänen gegen Frankreich und Österreich Während der Luxemburgkrise von 1867 drängte er zu einem Präventivkrieg gegen Frankreich: „Je früher wir also handgemein werden, desto besser Der gegenwärtige Anlaß ist gut Er hat einen nationalen Charakter, man benutze ihn also “79 Bismarck hielt dagegen: „Man darf nicht Krieg führen, wenn es mit Ehren zu vermeiden ist; die Chance günstigen Erfolges ist keine gerechte Ursache, einen großen Krieg anzufangen “80 Als Moltke von der Argumentation des Bundeskanzlers erfuhr, erwiderte er: „Bismarcks Standpunkt ist unanfechtbar, wird uns seinerzeit aber viel Menschenleben kosten “81 Diese Bemerkung deutet darauf hin, dass der Generalstabschef bei der Vorbereitung und Durchführung eines Krieges militärischen Notwendigkeiten gegenüber politischen Gesichtspunkten den Vorrang einräumen würde Die aus der spanischen Thronkandidatur des Hohenzollernprinzen Leopold aus der katholischen Linie Sigmaringen erneut entstandenen Spannungen in den preußischfranzösischen Beziehungen versuchten beide Seiten für ihre Zwecke zu nutzen Frankreich ging es dabei um den Erhalt seiner Vormachtstellung in Europa, die wesentlich auf der deutschen Teilung beruhte Preußen dagegen wollte diesen Zustand unter seiner Führung überwinden Beide Staaten wollten in der sich jetzt nationalistisch aufheizenden Atmosphäre lieber die militärische Auseinandersetzung riskieren, als eine schwere diplomatische Niederlage erleiden In einer „kriegshetzerischen Rede“82, deren Formulierungen zuvor im Ministerrat gebilligt wurden, steigerte der unerfahrene Außenministers Gramont am 6 Juli vor dem französischen Parlament die chauvinis78 79 80 81 82

Vgl Helmuth von Moltke, Taktisch-strategische Aufsätze, (wie Anm   39), 67–215 Vgl Gordon A  Craig, Königgrätz, (wie Anm  54), 190–194 Vgl Christian E O Millotat, Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, Wurzeln – Entwicklung – Fortwirken, Zürich 2000, 76–80 Moltke, Gespräche, (wie Anm  68) 105 Zit nach Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck, Berlin/Stuttgart 1902, 360 Moltke, Gespräche (wie Anm  68) 105 Vgl dazu Karl-Ernst Jeismann, Das Problem des Präventivkrieges, Freiburg/München 1957, 61–70 Christopher Clark, Preußen Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2007, 627

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tische Erregung der Abgeordneten und der öffentlichen Meinung Verantwortlich für den Kriegsausbruch war die unerwartete Überreaktion der französischen Führung in der Julikrise Die französische Kriegserklärung an Preußen am 19 Juli 1870 bewirkte, dass in ganz Deutschland, auch südlich des Mains, die Mehrheit der Bevölkerung auf Seiten Preußens stand Am 20 Juli erhielt Moltke wiederum die Leitung der militärischen Operationen übertragen Eine Woche zuvor waren er und Roon als Gäste Bismarcks zugegen, als dieser die „Emser Depesche“ redigierte 83 Moltkes auch 1870 gültigen Grundgedanken des Operativplanes gegen Frankreich vom Winter 1868/69 sahen vor, nach rascher Mobilmachung und schnellem Aufmarsch unter Ausnutzung der Eisenbahnen drei deutsche Armeen südlich der Mosel, in der Bayrischen Pfalz zu versammeln, um dann in Richtung Elsaß und Lothringen vorzugehen, „die Hauptmacht des Gegners aufzusuchen und, wo man sie findet, anzugreifen Die Schwierigkeit liegt nur in der Ausführung dieses einfachen Planes mit sehr großen Massen “84 Während sich bei der französischen Armee gleich zu Beginn Organisationsmängel und Führungsschwächen einstellten, erfolgte der bis ins Detail geplante Aufmarsch der nunmehr verbündeten deutschen Armeen ohne größere Probleme Die Truppentransporte begannen am 24 Juli und wurden Anfang August beendet Die Leistungen der Eisenbahnen konnten gegenüber 1866 erheblich gesteigert werden Die Beförderung eines Armeekorps dauerte nur noch 5 ½ Tage Dafür war das Bahnnetz in neun durchgehenden Linien so aufgeteilt, dass keine Vermischung verschiedener Korps stattfinden konnte Die französischen Truppen sammelten sich, wie von Moltke erwartet, in zwei Gruppierungen: bei Straßburg unter Marschall Mac Mahon und durch die Vogesen getrennt bei Metz unter Marschall Bazaine In der Anfangsphase des Krieges betrug die Stärke der deutschen Streitkräfte ca 520 000 Mann, dagegen konnte Frankreich nur etwa 340 000 Berufssoldaten aufbieten, die aber mit modernen Waffen, zum Beispiel der Mitrailleuse und dem nach seinem Konstrukteur Chassepot benannten Zündnadelgewehr ausgerüstet waren Die ballistischen Eigenschaften des Chassepotgewehrs übertrafen die der eingesetzten preußisch-deutschen Modelle 85 Bereits die ersten Gefechte und Schlachten Anfang August bei Weißenburg (4 8 ), Wörth (6 8 ) und Spichern (6 8 ) verliefen für die deutschen Truppen erfolgreich, was sich günstig auf deren Kampfmoral und wegen der vielen Wehrpflichtigen auch positiv auf die Stimmung der öffentlichen Meinung auswirkte Die Kampfkraft der französischen Soldaten dagegen litt unter dem Rückzug Nach den Schlachten von ColombeyNouilly (14 8 ) Vionville-Mars-la-Tour (16 8 ) und Gravelotte-St Privat (18 8) wurden

83 84 85

Vgl Eberhard Kolb, Der Kriegsausbruch 1870, Göttingen 1970 Helmuth von Moltke, Denkschrift vom Winter 1868/69 über die erste Aufstellung der Armee im Falle eines Krieges gegen Frankreich und Österreich, in: WAW, (wie Anm  35), 210 Vgl Helmuth von Moltke, Geschichte des Krieges 1870/71, in: WAW, (wie Anm  35), 238–250 Vgl Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 256–269 Vgl Christian E O Millotat, (wie Anm  78), 76 f

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die Truppen Bazaines von der 1 und 2 Armee in der Festung Metz eingeschlossen Dort kapitulierten sie am 27 Oktober, über 150 000 Soldaten und Offiziere wurden gefangen genommen Die andere französische Hauptgruppierung unter Mac Mahon wurde durch eine schnelle und kühne Operation Moltkes durch die 3 und neugebildete 4 (Maas-) Armee bei Sedan nahe der belgischen Grenze eingekreist und nach verlorener Schlacht am 1 /2 September 1870 zur Kapitulation gezwungen Etwa 100 000 französische Soldaten und auch Napoleon III gerieten in Gefangenschaft Dabei handelte es sich um „den größten Triumpf der deutschen Waffen in der neuesten Geschichte “86 Die in den bisherigen Gefechten und Schlachten erzielten Erfolge bildeten den Höhepunkt von Moltkes operativ-strategischem Können und verschafften ihm einen enormen militärischen Ruhm, der sich auch auf den Generalstab übertrug Dennoch gab es auch auf deutscher Seite Fehlentscheidungen von Truppenführern Besonders der eigensinnige Oberbefehlshaber der 1 Armee, General Steinmetz, der „Löwe von Nachod“, durchkreuzte schon bei Spichern Moltkes strategische Konzeption und gefährdete dadurch das Zusammenwirken der Armeen Konflikte mit Moltke und Prinz Friedrich Karl führten schließlich am 15 September zu seiner Ablösung und Versetzung nach Posen Außerdem gab es auf der taktischen Ebene immer wieder unnütze, äußerst verlustreiche Angriffe auf die gegnerische Front ohne ausreichende Mitwirkung der Artillerie Dazu zählte auch der später für propagandistische Zwecke ausgenutzte „Todesritt“ der 12 Kavallerie-Brigade unter General von Bredow in der Schlacht von Vionville-Mars la Tour 87 Nach dem Zusammenbruch des französischen Kaiserreiches, nur vier Wochen nach Beginn der Kampfhandlungen, aber nach acht verlorenen Schlachten, kam es wegen der deutschen Annexionsforderungen nicht zum Friedensschluss mit den Führern der Republik Diese setzten den bisherigen Kabinettskrieg als nationalen Volkskrieg zur Bewahrung der territorialen Integrität fort und mobilisierten im unbesetzten Frankreich beträchtliche Kampfreserven Immer neue, aber geringwertigere Armeen wurden ausgehoben und in den Krieg geschickt, die manchen Orts von Freischärlern (Francs-tireurs) unterstützt wurden, aber das seit dem 19 September belagerte Paris nicht freisetzen konnten Es mussten noch zwölf weitere Schlachten geschlagen werden, um die Belagerung der französischen Hauptstadt aufrecht zu erhalten 88 Durch den nationalen Volkskrieg stiegen die Belastungen der deutschen Truppen bis aufs Äußerste Infolge der Brutalisierung der Kampfhandlungen auf beiden Seiten nahmen die 86 87 88

Dennis E Showalter, Das Gesicht des modernen Krieges Sedan, 1 und 2 September 1870, in: Schlachten der Weltgeschichte, (wie Anm  59), 247 Vgl Paul Bronsart von Schellendorff, Geheimes Kriegstagebuch 1870–1871, hg v Peter Rassow, Bonn 1954, 57–65 Vgl Helmuth von Moltke, Geschichte des Krieges 1870/71, (wie Anm  85), 250–382 Vgl Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 270–308 Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 552–569 Vgl Wilhelm Bigge, (wie Anm  45), 309–350 Vgl Heinz Helmert, Helmuth von Moltke Über die Macht des Schwertes und den Entschluß zum Kriege, in: Gestalten der Bismarckzeit, (wie Anm  9), Bd  I, Berlin 1978, 120

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Verluste zu Der US-amerikanische General Sheridan, der sich mit seinem Adjutanten Forsythe von Mitte August bis Anfang September 1870 als Beobachter im deutschen Hauptquartier aufhielt, soll in diesem Zusammenhang gegenüber Bismarck geäußert haben: „Sie verstehen es einen Feind zu schlagen, wie keine andere Armee, aber ihn zu vernichten, das haben sie noch nicht weg Man muß mehr Rauch von brennenden Dörfern sehen Sonst werden sie mit den Franzosen nicht fertig “89 Die Hoffnungen des Generalstabes auf einen kurzen Krieg erwiesen sich nicht als real Moltke kam zu der Feststellung: „Ein ganzes Volk in Waffen ist nicht zu unterschätzen “ Nachdem in Paris die Nahrungsmittel ausgingen, gelang es Bismarck endlich ohne die Militärs mit Vertretern der Provisorischen Regierung Ende Januar 1871 einen Waffenstillstand auszuhandeln, der dann am 26 Februar zum Abschluss des Versailler Präliminarfriedens führte Der definitive Friedensschluss am 10 Mai 1871 verzögerte sich wegen der schwierigen innenpolitischen Situation in Frankreich und der deutschen Friedensbedingungen 90 Nach der Kapitulation von Sedan war es in den folgenden Wochen und Monaten im deutschen Hauptquartier immer wieder zu Spannungen zwischen politischer und militärischer Führung gekommen, deren gegenseitiges Verhältnis im preußisch-deutschen Herrschaftssystem nicht prinzipiell geregelt war, da letztendlich wegen der unbeschränkten Kommandogewalt die Entscheidung beim Monarchen lag Es ging um das Verhältnis von Politik und Kriegsführung, speziell um verschiedene Möglichkeiten, den Krieg zu beenden Bismarck bemühte sich seit Sedan um einen schnellen Friedensschluss Dazu knüpfte er parallel zu Unterhandlungen mit Vertretern der Provisorischen Regierung Kontakte zur Kaiserin, die inzwischen im englischen Exil lebte und zum Marschall Bazaine, der sich mit der Rheinarmee in der belagerten Festung Metz befand Diese Sondierungen blieben ohne Erfolg, dennoch versuchte der Bundeskanzler bis Ende Januar 1871 mehrfach sich die „bonapartistische Option“ offenzuhalten 91 Im Generalstab jedoch beabsichtigte man, die militärischen Auseinandersetzungen konsequent zu Ende zu führen Moltke fasste den Krieg „als einen einsamen Zweikampf der beiden ineinander verbissenen Nationen“ auf, der für ihn „herausgelöst aus der Verflechtung der Großmachtinteressen“92 stattfand und dessen höchstes strategisches Ziel in der Vernichtung der feindlichen Streitkräfte bestand Für Bismarcks Sorgen, der bei längerer Kriegsdauer die Einmischung der anderen europäischen Großmächte fürchtete, zeigte Moltke wenig Verständnis Der Bundeskanzler forderte für seine diplomatischen und politischen Entscheidungen umfassende Informationen über die Absichten des Generalstabes und Möglichkeiten der Einflussnahme auf die

89 90 91 92

Zit nach Heinrich Otto Meisner (Hg ), Denkwürdigkeiten des Generalfeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, Stuttgart u Berlin 1922, 1 Bd , 100 f Vgl Eberhard Kolb, Der Weg aus dem Krieg, München 1989, 327 ff Vgl ebenda, 325, 349 Rudolf Stadelmann, (wie Anm  1), 235 Vgl , Moltke, Gespräche (wie Anm  68), 161–164

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militärischen Operationen Moltke und seinen Mitarbeitern erschien dies „als unbefugte Einmischung des ‚Zivilisten‘ in die Planungen der Militärs“, die nach ihrer Ansicht „ausschließlich durch strategische Erwägungen bestimmt werden durften“ 93 Bismarck beharrte auf den Primat der Politik auch während des Krieges Moltke akzeptierte den Primat der Politik in Friedenszeiten und auch zu Beginn und Abschluss des Krieges Im Gegensatz zu Clausewitz beanspruchte er aber während desselben die uneingeschränkte Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit der militärischen Führung von politischen Rücksichten im Interesse einer effizienten Planung und kurzen Dauer des Krieges Die Differenzen verstärkten sich als Bismarck auf den Beginn der Bombardierung von Paris drängte, um die relative Stagnation des Krieges zu beenden Wegen fehlender Belagerungsgeschütze und Nachschubproblemen wollten die Militärs Paris nicht beschießen und wegen zu erwartender hoher personeller Verluste nicht stürmen, sondern durch Fortsetzung der Belagerung aushungern Humanitäre Gesichtspunkte gaben auf beiden Seiten nicht den Ausschlag Heftiger Streit entbrannte über die unterschiedlichen Kriegsziele: Moltke wollte die totale Niederlage Frankreichs Ein Diktatfrieden sollte dann seine Großmachtposition vernichten Bismarck dagegen beabsichtigte, die bisherigen militärischen Erfolge für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zu nutzen, um dem kleindeutschen Nationalstaat einen Platz im europäischen Staatensystem zu sichern Der Kanzler konnte sich dann aber mit seinen Forderungen gegenüber den Militärs weitgehend durchsetzen, weil der König sich auf seine Seite stellte Die Beschießung von Paris begann am 5 Januar 1871 und Wilhelm I entschied, dass Bismarck durch den Generalstab über laufende und beabsichtigte militärische Operationen zu informieren wäre Bismarck und nicht Moltke erhielt den Auftrag, die Verhandlungen mit den französischen Vertretern über Waffenstillstand und Friedensschluss zu führen 94 Der Groll der „Halbgötter“ im Generalstab gegen den „Zivilisten im Kürassierrock“, auch wegen der vergleichsweise gemäßigten Friedensbedingungen, war gewaltig Davon zeugen Eintragungen Paul Bronsarts von Schellendorff, einem der begabtesten Generalstabsoffiziere, in seinem Kriegstagebuch Moltke rechtfertigte selbstbewusst sein bisheriges Vorgehen in einer Immediateingabe vom 26 Januar 1871 und forderte die gleichberechtigte Stellung des Chefs des Generalstabes neben dem Bundeskanzler 95 Dies geschah wohl auch, um „jeden Schein einer Unterordnung unter die politische Instanz zu vermeiden “96 Zu den prinzipiellen Unterschieden und sachlichen Differenzen zwischen Moltke und Bismarck kamen

93 94 95 96

Eberhard Kolb, (wie Anm  90), 305 Vgl Manfred Görtemaker, Bismarck und Moltke Der preußische Generalstab und die deutsche Einigung, (Friedrichsruher Beiträge, Bd  21), Friedrichsruh 2004, 37 ff Vgl ebenda, 325, 349 Vgl Rudolf Stadelmann, (wie Anm   1), 203–211, 434–438 Vgl Paul Bronsart von Schellendorff, (wie Anm  86), 308–318 Gerhard Ritter, (wie Anm  47), 260

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Ressorteifersucht und charakteristische Besonderheiten der beiden Persönlichkeiten, welche die Spannungen verstärkten Versöhnungsversuche des Kronprinzen blieben erfolglos Bismarcks „autokratische Manier, alles leiten zu wollen“,97 ließ bei Moltke und seinen Mitarbeitern im Generalstab die Befürchtung aufkommen, dass der „einheitliche Oberbefehl verlorenginge“, wenn man den ehrgeizigen und herrschsüchtigen Bundeskanzler „zu den militärischen Konseils“98 heranziehen würde Dieser Konflikt belastete die zukünftigen Beziehungen zwischen Moltke und Bismarck Noch 1889 notierte Waldersee in seinem Tagebuch: „Die Welt ahnt nicht, wie wenig beide Männer harmonierten Der Feldmarschall hat sich seit dem Kriege vom Kanzler abgewandt, und das beiderseitige Verhältnis ist seitdem kühl geblieben “99 Beide Kontrahenten haben nachträglich versucht, ihren Standpunkt dazulegen: Moltke in seinem Aufsatz „Über Strategie“ und Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ Mit nur 13 hochqualifizierten Offizieren, die auch menschlich harmonierten, hat Moltke während des Krieges 1870/71 die militärischen Operationen geplant und geführt Zu seinem persönlichen Stab im Großen Hauptquartier gehörten als sein Stellvertreter der Generalquartiermeister Generalleutnant Theophil von Podbielski, weiterhin die drei Abteilungschefs im Großen Generalstab Oberstleutnant Paul Bronsart von Schellendorff (Operationsabteilung), Oberstleutnant Julius von Verdy du Vernois (Nachrichtenabteilung) und Oberstleutnant Karl von Brandenstein (Etappen- und Eisenbahnabteilung) sowie drei Majore und sechs Hauptleute Diese Offiziere wurden bald als Moltkes „Halbgötter“ bezeichnet Einer von ihnen, Wilhelm von Blume, vermittelt aus eigenem Erleben interessante Einblicke in Geschäftsverteilung und Arbeitsweise dieses Stabes in dem während des ganzen Krieges „niemals auch nur der kleinste Mißton“ zu spüren war Moltkes intellektuelle und fachliche Überlegenheit „ließ für Rivalitäten keinen Platz “ Der Zauber seiner Persönlichkeit bewirkte, daß jeder danach strebte das Beste zu leisten 100 Nach Beendigung des Krieges, in dem etwa 130 000 deutsche Soldaten und Offiziere starben, wurde Moltke mit Ehrungen überhäuft Am 22 März 1871 verlieh ihm der Kaiser das Großkreuz des Eisernen Kreuzes und am 16 Juni, dem Tag des Einzugs der Armee in Berlin, ernannte er ihn vor der Siegesparade zum Generalfeldmarschall, der höchsten militärischen Würde, die in Preußen verliehen werden konnte Am 28 Oktober 1870, einen Tag nach dem Fall von Metz, war Moltke bereits in den erblichen Grafenstand erhoben worden Der gefeierte Generalstabschef aber wusste: „Über den Ruf eines Feldherrn freilich entscheidet vor Allem der Erfolg Wieviel davon sein wirkliches Verdienst, ist außerordentlich schwer

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Emil Ludwig, (wie Anm  2), 412 Paul Bronsart von Schellendorff, (wie Anm  86), 235 f Vgl Eberhard Kessel, (wie Anm  5), 386 f Alfred von Waldersee, (wie Anm  89), 2 Bd , 1888–1900, 44 Wilhelm von Blume, Vom Generalstabe des Großen Hauptquartiers im Kriege 1870/71, in: GS, 5  Bd , Berlin 1892, 279–286 Vgl auch Christian E O Millotat, (wie Anm  78), 69–76

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zu bestimmen An der unwiderstehlichen Gewalt der Verhältnisse scheitert selbst der beste Mann, und von ihr wird ebenso oft der mittelmäßige getragen Aber Glück hat auf die Dauer doch zumeist wohl nur der Tüchtige “101 Erst durch Moltke wurde der Chef des Generalstabes, unabhängig von seinem militärischen Dienstgrad, die entscheidende Person im preußisch-deutschen Militärsystem Moltkes hohes persönliches Ansehen übertrug sich nun auf sein Amt und den gesamten Generalstab, der den Ruf der Unfehlbarkeit erlangte und dessen Prestige steigerte Diese Entwicklung führte zu gefährlichen Einflussnahmen der Militärs auf die Politik Moltke betonte immer wieder, dass es aufgrund der gemachten Erfahrungen für die Kriegsführung keine Patentrezepte gibt, dass die Strategie ein System von Aushilfen darstellt Dennoch wurde die Umfassungsstrategie, die bei Königgrätz, Metz und Sedan zum Erfolg führte, aber gegen die Armeen der französischen Republik ohne Wirkung blieb, kanonisiert Dagegen zog man nur wenige Schlussfolgerungen aus dem gerade erlebten Volkskrieg, der nicht in einer oder wenigen Schlachten entschieden wurde 102 Nach 1871 rechnete Moltke beständig mit einem Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland Dabei kamen ihm Zweifel, ob die Kräfte Deutschlands für einen Sieg in einem gleichzeitig geführten längeren Krieg gegen diese beiden Großmächte ausreichen würden Der Generalstabschef plante daher, mit den Hauptkräften in einem kurzen Krieg zuerst den einen Gegner niederzuringen, gleichzeitig den anderen mit schwächeren Kräften hinzuhalten, um diesen danach mit überlegenen Streitmitteln zu besiegen In den 1870er Jahren wollte Moltke die Entscheidung zuerst gegen Frankreich, später dagegen zuerst gegen Russland herbeiführen Die Erfahrungen mit dem nicht mehr beherrschbaren langen Volkskrieg führten bei den Militärs zu Überlegungen, wie man dennoch einen kurzen Krieg mit Siegeschancen erzwingen könnte Das bedeutete aber letztendlich, ein kalkuliertes Risiko zum Krieg einzugehen 103 Während außenpolitischer Krisen drängte Moltke 1875 zum Präventivkrieg gegen Frankreich und 1887 unter dem Einfluss von Waldersee gegen Russland, obwohl er erkannt hatte, dass die Vernichtung des Gegners unmöglich war Bismarck lehnte dies immer entschieden ab und Moltke folgte jedes Mal loyal der politischen Führung des Reichskanzlers, obwohl er mit dessen Zielen und Methoden oft nicht einverstanden war 104 Beide waren von der Unvermeidlichkeit des Krieges überzeugt Bismarck wollte ihn

Helmuth von Moltke, Über Strategie, in: WAW, (wie Anm  35), 631 Vgl Stig Förster, Helmuth von Moltke und das Problem des industrialisierten Volkskrieges, in: Generalfeldmarschall von Moltke, (wie Anm  34), 111–115 103 Vgl Konrad Canis, Militärführung und Grundfragen der Außenpolitik in Deutschland 1860 bis 1890, in: Michael Epkenhans / Gerhard P Groß (Hgg ), Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890, München 2003, 12 ff 104 Vgl Moltke, Gespräche, (wie Anm  68) 207 ff Vgl Gerhard Ritter, (wie Anm  47), 246, 261

101 102

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möglichst lange hinausschieben, Moltke dagegen wollte ihn, wenn er nicht zu vermeiden war, noch rechtzeitig führen 105 Allmählich kam Moltke zur Einsicht, dass bei zunehmender chauvinistischer Tendenzen im Bürgertum und Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung in der Arbeiterschaft Volkskriege im Industriezeitalter unkalkulierbare Risiken für die gesamte bestehende Ordnung, für die menschliche Zivilisation überhaupt bedeuteten Die Sorge vor gesellschaftlichen Umwälzungen veränderte seine persönliche Auffassung vom Krieg Während er noch 1880 meinte, „ohne den Krieg würde die Welt im Materialismus versumpfen“,106 warnte er zehn Jahre später im Reichstag gleichsam als Vermächtnis vor der Unberechenbarkeit und dem Ausmaß eines europäischen Krieges, der ein dreißigjähriger werden könnte „Wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert “107 Dr. Manfred Jatzlauk (1949–2022) war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Rostock

Vgl Michael Salewski, Krieg und Frieden im Denken Bismarcks und Moltkes, in: Generalfeldmarschall von Moltke, (wie Anm  34), 87 f Karl-Ernst Jeismann, (wie Anm  81), 139 ff 106 Helmuth von Moltke, GS, 5 Bd , (wie Anm  4), 194 107 Derselbe, GS, 7 Bd , (wie Anm  22) 139

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Aufsätze

Deutschsprachige Missionszeitschriften im 19  Jahrhundert Entstehung, Verbreitung und Quellenwert Stefan Dixius Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 413–430

Abstract: During the 19th century, many catholic and protestant mission societies published their own missionary periodicals These periodicals became very important as a financial source of income for the mission societies as well as a significant instrument for the spiritual contact with the reading population This article first analyses the origins and significance of those missionary periodicals in the 19th century German-speaking world It shows that in comparison to other Christian press, missionary periodicals had a very large circulation In a second step, the article illustrates the growing and wide ranging circulation of missionary periodicals between the years 1848 and 1914 with the help of maps Furthermore, it compares the number and the circulation of periodicals printed for certain groups: children, women and academics In the final part, the article provides some ideas for future work on missionary periodicals, thereby focusing on the fields of history of knowledge, visual history, entangled history and the historiography of religion

1. Missionszeitschriften: Entstehung und Bedeutung Im Zuge der wiedererwachten Missionsbewegung im frühen 19  Jahrhundert entstanden in Europa und Nordamerika zahlreiche katholische und protestantische Missionsgesellschaften Mit den Gründungen der Basler Mission (1815), der Berliner Mission (1824), der Rheinischen Mission (1828), der Dresdner bzw ab 1848 Leipziger Mission (1836), der Gossner Mission (1836) und der Norddeutschen Mission (1836) lässt sich diese Tendenz auch für den deutschsprachigen Raum nachweisen In der Kolonialzeit wurden diese etablierten protestantischen Missionsgesellschaften um weitere Ge-

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meinschaften ergänzt 1 Hinzu kamen, vor allem unter dem Einfluss der britischen China-Inland Mission (1865 in Brighton), diverse, oft freikirchlich geprägte Glaubensmissionen, wie etwa die Neukirchener Mission (1878) und der deutsche Zweig der China-Inland-Mission (1899), der ab 1906 als Liebenzeller Mission große Eigenständigkeit entwickelte Die neu entstandenen katholischen Missionsgesellschaften des 19  Jahrhunderts sahen sich in der Tradition der 1658/59 gegründeten Société des Missions Etrangères de Paris, die, durch die Propaganda Fide bestätigt, erstmals ein Weltpriestertum in der, bis dahin im Zuständigkeitsbereich der Orden gelegenen, katholischen Mission etablierte Der Kulturkampf in Deutschland verhinderte die Herausbildung genuin deutscher katholischer Missionsgesellschaften, wie es sie in vielen anderen europäischen Nationen gegeben hat So entstand das erste deutsche katholische Missionshaus auf Initiative Arnold Janssens im holländischen Steyl (1875) Erst als die deutsche Kolonialbewegung einsetzte und Bismarck 1889 die Jesuitengesetze für die Kolonien aussetzte, durften ab 1892 katholische Missionshäuser in Deutschland errichtet werden Mit diesem Schritt wollte Bismarck die Entsendung ausländischer Missionar_innen in die eigenen Kolonien verhindern Es folgten unter anderem Hausgründungen der Missionsbenediktiner in St Ottilien (bereits 1887), der Steyler Missionare in Neuland bei Neisse (1892), der italienischen Pallottiner in Limburg (1892), der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria in Hünfeld bei Fulda (1893), der Weißen Väter in Trier (1894), der Spiritaner in Knechtsteden bei Dormagen (1894) und der Herz-Jesu-Missionare in Hiltrup bei Münster (1896) 2 Ergänzt wurde die katholische Missionsbewegung in Deutschland durch zahlreiche weibliche Gemeinschaften, die häufig im Zuge der neugegründeten Missionshäuser der männlichen Gemeinschaften eigene Einrichtungen erhielten, wie etwa die Pallottinerinnen in Limburg (1895) 3 Bei allen Unterschieden in der Auffassung und Ausübung ihrer Missionstätigkeit einten die katholischen und protestantischen Missionsgesellschaften häufig finanzielle Sorgen Ein wichtiges Instrument zur Spendengewinnung und -verwaltung stellten daher die zahlreichen Missionsvereine dar, die seit den 1820er Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum entstanden 4 Vor dem Hintergrund des allgemeinen Zeitschriftenbooms im 19  Jahrhundert erweiterten die Missionsgesellschaften ihre Möglichkeiten des Gelderwerbs, indem sie mit dem Druck von Missionszeitschriften be1 2 3 4

Zu denken ist hier insbesondere an die 1886 gegründete „Evangelische Missionsgesellschaft für Deutsch-Ostafrika“ Vgl Gustav Menzel, Die Bethel-Mission Aus 100 Jahren Missionsgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1986 Karl Josef Rivinius, Die Entwicklung des Missionsgedankens und der Missionsträger, in: Erwin Gatz (Hg ), Katholiken in der Minderheit Diaspora  – Ökumenische Bewegung  – Missionsgedanke, Freiburg im Breisgau 1994, 213–305, 237–239 Ebd , 239 f Rebekka Habermas, Mission im 19  Jahrhundert Globale Netzwerke des Religiösen, in: Historische Zeitschrift 287/2008, 629–679, 642–645

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gannen Diese Periodika generierten auf zwei Arten Geld Erstens wurden sie in den allermeisten Fällen über ein Abonnement bezogen, was sie, im Unterschied zu unregelmäßigen Spenden, zu einer planbaren Einnahmequelle machte Zweitens warb der Inhalt der Zeitschriften für die Mission und rief dadurch zu Spenden auf, entweder ganz direkt oder indirekt durch das Abdrucken von Spenderlisten Zusätzlich zu diesem finanziellen Aspekt hatten die Missionszeitschriften eine wichtige ideelle und spirituelle Funktion für den Kontakt zwischen den Missionsgesellschaften und der Bevölkerung 5 Die Bedeutung von Missionszeitschriften für die theologischen periodischen Schriften insgesamt zeigt eine Auswertung der Daten im Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908:6 Obwohl Missionszeitschriften der reinen Anzahl nach nur 7,4 % der gedruckten protestantischen Blätter ausmachten, erreichten sie mit einem Anteil von 14,7 % an der Gesamtauflage aller protestantischen Periodika zusammengerechnet die drittstärkste Auflagenhöhe (vgl Abb 1 und 2)

Abb. 1 Kategorisierung und Verteilung der Gesamtanzahl protestantischer Periodika nach dem Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908 Auf die erste Dezimalstelle gerundet (eigene Darstellung)

5 6

Katharina Stornig / Judith Becker, Menschenbilder in Missionszeitschriften Ordnungen von Vielfalt um 1900, in: dies , Menschen – Bilder – Eine Welt Ordnungen und Vielfalt in der religiösen Publizistik um 1900, Göttingen 2018, 9–32, 11 f Verzeichnis der evangelischen Presse Herausgegeben im Auftrage des Verbandes evangelischer Buchhändler, Hamburg 1908

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Abb. 2 Kategorisierung und Verteilung des Auflagenanteils am Gesamtbestand protestantischer Periodika nach dem Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908 Auf die erste Dezimalstelle gerundet (eigene Darstellung)

Trotz dieser offensichtlichen Verbreitung und Bedeutung von Missionszeitschriften sind sie erst in den letzten Jahren allmählich in den Fokus wissenschaftlicher Arbeiten gerückt Dies mag, wie Friedrich Wilhelm Graf vermutet, an der „methodischen Rückständigkeit der Kirchen- und Theologiegeschichtsforschung“ liegen 7 Sicherlich aber auch an der von Terry Barringer beschriebenen offensichtlichen religiösen Färbung der Inhalte, durch die Missionszeitschriften zu einer vermeintlich wenig ertragreichen historischen Quelle degradiert wurden 8 Neben diesen inhaltlichen Gründen gibt es jedoch ein rein praktisches und viel grundlegenderes Problem, das sich Forscher_innen stellt, die sich mit diesen Periodika beschäftigen wollen: Es gibt keine Liste oder Datenbank, die eine rasche Identifikation von Missionszeitschriften ermöglicht An der Universität Trier werden derzeit auf der Grundlage zentraler, vor allem katholischer und protestantischer, Literaturanzeiger aus dem 19  Jahrhundert Daten für eine solche Findhilfe gesammelt 9 Die Notwendigkeit eines solchen Projektes ergibt sich 7 8 9

Friedrich Wilhelm Graf, Zeitschriften III Christentum, in: Hans Dieter Betz / Don S Browning / Janowski Bernd / Eberhard Jüngel (Hgg ), Religion in Geschichte und Gegenwart Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 2005, 1824–1825, 1825 Terry Barringer, From Beyond Alpine Snows to Homes of the East – a Journey Through Missionary Periodicals The Missionary Periodicals Database Project, in: International Bulletin of Missionary Research 26/2002, 169–173 Ernst Amandus Buchold (Hg ), Bibliotheca Theologica Verzeichnis der auf dem Gebiete der evangelischen Theologie nebst den für dieselbe wichtigen während der Jahre 1830–1862 in Deutschland erschie-

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auch bei einer Betrachtung der anglophonen Beiträge zur Missionsgeschichte Hier rückten Missionszeitschriften deutlich stärker in den Fokus, als Terry Barringer mit ihrem „Missionary Periodicals Database Project“ zentrale Daten von über 500 englischsprachigen protestantischen Missionszeitschriften, die seit dem 18   Jahrhundert bis in die 1960er Jahre gedruckt wurden, zur Verfügung stellte 10 Neben ihren eigenen Arbeiten11 konnten durch Barringers Impulse Studien entstehen, in denen nicht mehr nur „mit“, sondern auch „über“ Missionszeitschriften geforscht wurde 12 Gerade dieses Defizit, also Missionszeitschriften in den Fokus der Analyse zu rücken, hat Julia Ulrike Mack 2013 für den deutschsprachigen Raum festgestellt 13 Bereits jetzt zeichnet sich jedoch ab, dass eine tatsächliche Vollerhebung aller jemals gedruckten deutschsprachigen Missionszeitschriften kaum möglich ist Selbst in kleinen Städten gab es Missionsvereine, die nicht nur für den Vertrieb von Missionszeitschriften der Missionsgesellschaften verantwortlich sein konnten,14 sondern darüber hinaus in manchen Fällen auch eigene Blätter druckten, die aufgrund ihrer gerin-

10 11 12 13 14

nenen Schriften 2 Bände, Göttingen 1864; Joh Fr W Ruprecht / W Müldener (Hgg ), Bibliotheca Theologica Oder geordnete Übersicht aller auf dem Gebiet der Evangelischen Theologie in Deutschland neu erschienenen Bücher ( Jahrgänge 1848–1876), Göttingen; Leo Woerl, Woerl’s Statistik der katholischen Zeitungen und Zeitschriften in der ganzen Welt zu Neujahr 1879, Würzburg 1879; Leo Woerl, Woerl’s Statistik der katholischen Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Luxemburg und der Schweiz zu Neujahr 1882, Würzburg 1882; Johannes Frizenschaf, Führer durch die periodische Presse der deutschen Katholiken im deutschen Reich, in Luxemburg, in Oesterreich-Ungarn, in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Stuttgart 1888; Heinrich Keiter (Hg ), Katholischer Literaturkalender Zweiter Jahrgang, Regensburg 1892; Benjamin Herder (Hg ), Verzeichnis catholischer Zeitschriften des In- und Auslandes, Freiburg im Breisgau 1898; CentralAusschuß für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (Hg ), Statistik der Inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche, Berlin 1899; H O Sperling (Hg ), Sperlings Zeitschriften-Adressbuch Sämtliche Zeitschriften und alle hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands, Österreichs und der Schweiz Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse ( Jahrgänge 1904 und 1908), Stuttgart; Robert Streit, Die deutsche Missionsliteratur, Paderborn 1907; Verzeichnis der evangelischen Presse; Heinrich Keiter, Handbuch der katholischen Presse Deutschlands, Österreich-Ungarns, der Schweiz, Luxemburgs und von Nord-Amerika Mit Beiträgen zur Geschichte der katholischen Presse, Essen 1913; Bernard Arens, Missionskunde Die neuzeitliche Entwicklung des Missionsgedankens in Deutschland und Österreich, Valkenburg [ca 1917]; Robert Streit, Die katholische deutsche Missionsliteratur Die geschichtliche Entwicklung der katholischen Missionsliteratur in deutschen Landen von Beginn des 19  Jahrhunderts bis zur Gegenwart Ein Beitrag zur Geschichte des heimatlichen Missionslebens, Aachen 1925; Kauffmann, Gerhard, d Ä , Handbuch der Evangelischen Presse Im Auftrage der Vereinigung evangelischer Buchhändler Unter Mitwirkung von A Hinderer Zweite, wesentlich erweiterte Auflage vom „Verzeichnis der Evangelischen Presse“, Leipzig 1929 Terry Barringer, Why are Missionary Periodicals [not] so boring? The Missionary Periodicals Database Project, in: African Research & Documentation 2000, 33–46 Neben den bereits erwähnten Artikeln siehe auch Terry Barringer, What Mrs Jellyby Might Have Read Missionary Periodicals: A Neglected Source, in: Victorian Periodicals Review 37/2004, 46–74 Vgl etwa Felicity Jensz / Hanna Acke (Hgg ), Missions and Media The Politics of Missionary Periodicals in the Long Nineteenth Century, Stuttgart 2013 Julia Ulrike Mack, Menschenbilder Anthropologische Konzepte und stereotype Vorstellungen vom Menschen in der Publizistik der Basler Mission 1816–1914, Zürich 2013, 28 Habermas, Mission im 19  Jahrhundert, 642

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gen Auflagenhöhe jedoch keinen Eintrag in den Literaturanzeigern erhielten Schon die Autoren der erwähnten Literaturanzeiger aus dem 19  Jahrhundert beklagten immer wieder, dass sie nicht an alle Informationen herankommen konnten 15 Und die Informationen, die sie dann schließlich erhielten, waren nicht nur häufig lückenhaft, sondern offensichtlich auch nicht immer dieselben So kommt es durchaus vor, dass unterschiedliche Literaturanzeiger zu denselben Zeitschriften verschiedene Informationen liefern (z B Jahrespreis, Erscheinungsort, Erscheinungsrhythmus) oder zeitgleich erschienene Literaturanzeiger manche Zeitschriften nicht aufführen, die andere Literaturanzeiger nennen Auch die Daten im Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908, die als Grundlage der Grafiken in den Abbildungen 1 und 2, sowie in Abbildungen 4 und 5 verwendet wurden, sind nicht komplett Nach bisherigem Stand fehlen mindestens drei protestantische Zeitschriften, die 1908 ebenfalls erschienen sind: Das Melsunger Missionsblatt, die Mitteilungen aus der ärztlichen Mission des Deutschen Instituts für ärztliche Mission sowie der Stern der Weisen für unsere Kinder der Deutschen Orientmission Da hier aber geschlossen für ein Jahr die Auflagenhöhe vorliegt, bieten die Zahlen dennoch einen sehr genauen Überblick zum Verhältnis von Zeitschriftenanzahl und Auflagenhöhe Für eine annäherungsweise Vollerhebung ist es deshalb wichtig, möglichst viele Literaturanzeiger miteinander zu vergleichen, um ggf auch Rückschlüsse darüber zu gewinnen, welche Informationen richtig sind Der beschriebene hohe Auflagenanteil deutet darauf hin, dass Missionszeitschriften im 19  Jahrhundert von weiten Kreisen rezipiert wurden Heike Liebau hat bereits auf die breite Rezeption der ersten protestantischen Missionszeitschrift überhaupt, die seit 1710 publizierten Halleschen Berichte aus der Südostindien-Mission der DänischEnglisch-Halleschen Mission, hingewiesen: Von Johann Wolfgang von Goethe als Leser bis zu Dorfpfarrern kleiner Gemeinden als Vorleser, fanden die Halleschen Berichte ein großes und diverses Publikum 16 Ferner haben Forscher_innen für das 19  Jahrhundert herausgestellt, dass in Zeiten, in denen kaum aktuelle Informationen über die außereuropäische Welt zu breiten Bevölkerungsschichten vordringen konnten, Missionszeitschriften häufig die einzige Möglichkeit waren, um an entsprechende Neuigkeiten zu gelangen Thorsten Altena vergleicht deshalb, wenn auch unter Vorbehalt, den Einfluss von Missionszeitschriften im 19  Jahrhundert auf die Wahrnehmung der Welt mit der Bedeutung des Kinos in den 1920er Jahren und dem Einfluss des Fernsehens in den 1950er Jahren 17 15

16 17

Exemplarisch: Verzeichnis der evangelischen Presse, VII Dieser Trend setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg fort So beschreibt Klemens Löffler 1924 seine Schwierigkeiten, katholische Zeitungen und Zeitschriften aus dem 19  Jahrhundert zu finden Klemens Löffler, Geschichte der katholischen Presse Deutschlands, Mönchen-Gladbach 1924, 5 Heike Liebau, Die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (Tranquebarmission), http://www ieg-ego eu/liebauh-2010-de (Zugriff am 19 03 2020), 25 Thorsten Altena, „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“ Zum Selbstund Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918, Münster 2003, 248 f

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Das besondere an den Missionszeitschriften war, dass sie einen inhärenten Wahrheitsanspruch transportierten, eben dadurch, dass die Missionsgesellschaften, und damit letztlich die Kirchen, dahinterstanden Diese Verbindung ist nicht zu unterschätzen, da sie Missionszeitschriften für die Rezipient_innen zu Quellen autoritären Wissens machte So erlangten die Herausgeber_innen der Missionszeitschriften eine machtvolle Position, in der sie entscheiden konnten, was über ein Land berichtet oder verschwiegen wurde Dadurch, dass Missionszeitschriften meist über ein Abonnement bezogen wurden, konnte die Leserschaft auch nicht gezielt nach Informationen über ein bestimmtes Land fragen, wie es etwa der Blick in ein Lexikon erlaubt hätte Vielmehr erhielten die Abonnenten gewissermaßen en passant Neuigkeiten über verschiedene Missionsgebiete Sicherlich hatten viele der Zeitschriften ihre geographischen Schwerpunkte, die aber häufig, meist am Ende eines jeden Heftes, durch kleine Berichte aus anderen Missionen ergänzt wurden 18 Wenn keine eigene Missionsgesellschaft für die Inhalte der Missionszeitschriften verantwortlich war, sondern ein Missionsverein, fehlte ein regionaler Schwerpunkt mitunter ganz Dadurch, dass im Calwer Missionsblatt Berichte von unterschiedlichen global agierenden Missionsgesellschaften abgedruckt wurden, hielt der Calwer Missionsverein seine Zeitschriften bewusst sehr allgemein Dabei scheuten sich die Herausgeber auch nicht, Texte verschiedener Denominationen zu verwenden 19 Ähnliches gilt für die katholischen Annalen der Verbreitung des Glaubens, die in weiten Teilen eine bloße Übersetzung der französischsprachigen Missionszeitschrift des Vereins der Glaubensverbreitung in Lyon darstellten, in der Briefe von Missionaren und Schwestern unterschiedlicher katholischer Orden abgedruckt wurden Dadurch laden Missionszeitschriften dazu ein, die Mission in einem größeren räumlichen Kontext zu betrachten Hieraus ergeben sich vielfältige Forschungsfragen, wie ich am Ende des Artikels zeigen werde Aus deutscher Forschungsperspektive liegt der Fokus missionsgeschichtlicher Studien überproportional auf dem geographischen Raum der ehemaligen Kolonien Dieser Fokus ist einerseits nachvollziehbar, da in den deutschen Kolonien überwiegend deutsche Missionare tätig waren und andererseits wichtig, weil er hilft, die eigene Kolonialvergangenheit aufzubereiten Für die Rezipient_innen im 19  Jahrhundert stellten die entsprechenden Missionsgebiete geographisch jedoch nur einen von vielen Räumen dar, in denen die Missionar_innen aktiv waren Für die Herausgeber_innen der Missionszeitschriften war eine solch breite Berichterstattung jedenfalls notwen-

18 19

Zu denken ist etwa an die Rubrik „Nachrichten aus den Missionen“ der jesuitischen Zeitschrift Die katholischen Missionen oder die immer wiederkehrenden Berichte aus anderen protestantischen Missionsgesellschaften im Evangelisch-lutherischen Missionsblatt der Leipziger Mission Exemplarisch: Auszüge aus Briefen von dem Baptistenmissionär Burchell in Westindien, in: Calwer Missionsblatt 1/1828, 19–20

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dig, da sie ihre Leserschaft mit ständig neuen Informationen aus möglichst vielen Teilen der Welt als zahlende Abonnenten halten wollten 20 2. Missionszeitschriften: Adressaten und Verbreitung im deutschsprachigen Raum Die bisher erhobenen Daten zeigen einen rasanten Anstieg von katholischen und protestantischen Missionszeitschriften im Verlauf des 19  Jahrhunderts Nimmt man exemplarisch die Jahre 1848 und 1914, so zeigt sich, dass auf Grundlage der ausgewerteten Literaturanzeiger 1848 vier katholische und 29 protestantische Missionszeitschriften, 1914 bereits 51 katholische und 103 protestantische Missionszeitschriften gedruckt wurden Die Orte, in denen die Periodika gedruckt wurden, entsprechen meistens dem Standort der dahinterstehenden Missionsgesellschaft Viele Gesellschaften richteten im 19  Jahrhundert ihre eigene Druckerei ein oder versuchten wenigstens, ihre Zeitschriften bei einem Verlag, der in unmittelbarer Nähe seinen Sitz hatte, unterzu-

Abb. 3 Verteilung von Missionszeitschriften im deutschen Sprachgebiet 1848 (eigene Darstellung) 20

Felicity Jensz, Origins of Missionary Periodicals Form and Function of Three Moravian Publications, in: Journal of Religious History 36/2012, 234–255, 246

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Abb. 4 Verteilung von Missionszeitschriften im deutschen Sprachgebiet 1914 (eigene Darstellung)

bringen Dass in einem Ort gleichzeitig katholische und protestantische Missionsblätter vertrieben wurden, kam im Grunde genommen nicht vor Es gab aber auch Ausnahmen, etwa in Köln, wo sich katholische und protestantische Missionszeitschriften die Waage hielten, oder in Berlin, wo 1914 neben 26 protestantischen Periodika mit der Katholischen Missionskorrespondenz immerhin ein katholisches Blatt gedruckt wurde (vgl Abb 3 und 4) 21 Mit steigender Anzahl an Missionszeitschriften lässt sich zwischen 1848 und 1914 eine zunehmende Ausdifferenzierung der Blätter beobachten So wurden interkonfessionell vermehrt eigene Periodika für Kinder, Frauen und Akademiker gedruckt Außerdem gab es protestantische Vereine und Gesellschaften, die sich ausschließlich der Juden- und der „Mohammedanermission“ widmeten und in eigenen Periodika darüber berichteten 22 Zwar betrieben auch die Katholiken vereinzelt Mission unter 21

22

Die Katholische Missionskorrespondenz wurde zwischen 1910 und 1914 vom Missionsausschuss des Zentralkomitees der „Katholiken Deutschlands“ in Berlin herausgegeben und diente dazu, die Presse mit Informationen aus der katholischen Mission zu versorgen, wodurch die Zeitschrift eine Sonderfunktion innerhalb der Gruppe von Missionszeitschriften einnahm, vgl Streit, Missionsliteratur, 154 Vgl etwa die Zeitschrift Friede über Israel (1903–2000) des Evangelisch-Lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel oder Der christliche Orient (1900–1923?) der deutschen Orientmission

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Muslimen und Juden, nur berichteten sie darüber nicht in besonderen Zeitschriften, sondern integrierten ihre Berichte in die allgemeiner gehaltenen Periodika 23 So ergibt sich auf Grundlage der Datenerhebung die spezielle Verteilung in den Jahren 1848 und 1914: Missionszeitschriften im Jahr 1848: Verteilung nach Zielgruppe bzw speziellem Fokus und Konfession Zielgruppe/spezieller Fokus

Katholisch

Protestantisch

Allgemein/Heidenmission

3

27

Kinder

1

1

Akademiker

-

1

Insgesamt

4

29

Missionszeitschriften im Jahr 1914: Verteilung nach Zielgruppe bzw speziellem Fokus und Konfession Zielgruppe/spezieller Fokus

Katholisch

Protestantisch

Allgemein/Heidenmission

45

62

Kinder

3

14

Akademiker

2

3

Frauen

1

8

Judenmission

-

8

Mohammedanermission

-

8

Insgesamt

51

103

Die Herausgeber_innen der Missionszeitschriften bemühten sich, die Trennung zwischen Heiden, Muslimen und Juden bewusst zu vermitteln Dies geschah entweder passiv oder wurde ganz konkret ausgesprochen, wie etwa im Missionsblatt für Kinder des Calwer Missionsvereins Hier wurde im Verlauf des Jahrgangs 1896 dargestellt, wie in nicht-christlichen Religionen gebetet wird Nach Berichten aus dem ostasiatischen Raum sollte auch gezeigt werden, „wie die Mohammedaner es machen“ Direkt an die junge Zielgruppe gerichtet heißt es weiter:

23

Exemplarisch: Damaskus, in: Die katholischen Missionen 2/1874, 252–255 Es kam jedoch vor, dass Berichte aus der Juden- und Mohammedanermission auch in den Blättern von protestantischen Missionsgesellschaften, die nicht unter Juden und Moslems Mission betrieben, Eingang fanden Exemplarisch aus dem Kinderblatt der Gossner Mission: Drei schöne Judengeschichten, in: Die kleine Biene auf dem Missionsfelde Für Kinder 20/1881, 99–101

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Aber – werdet ihr fragen – sind denn die Mohammedaner nicht auch Heiden? Antwort: Sie sind freilich auf eine Art Heiden, weil sie aber keine Götzen anbeten, sondern den einen Gott […], das Alte und Neue Testament für heilige Bücher halten und den Herrn Jesus als einen Propheten gelten lassen, so wäre es doch unrecht, sie einfach in einen Topf mit all den Götzendienern und Bilderanbetern zu werfen Freilich sind die Mohammedaner, gerade wie die ungläubigen Juden, die ärgsten Feinde und Verfolger des Christentums Der falsche Prophet Mohammed steht ihnen viel höher als Christus und ihr Koran viel höher als die Bibel Aber sie haben doch mehr Erkenntnis als die Heiden, und auch ihre Gebete haben mehr Inhalt als die der Götzendiener 24

Auch hier lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen, wenn man die verschiedenen Arten von Missionszeitschriften auf ihre reine Zeitschriftenanzahl und ihre jeweiligen Auflagenhöhen hin vergleicht Im Verzeichnis der evangelischen Presse wurden für das Jahr 1908 im Ganzen 77 protestantische Missionszeitschriften angegeben Davon widmeten sich 43 Zeitschriften der Heiden-, neun der Juden- und drei der Mohammedanermission 15 Zeitschriften erschienen für Kinder, während sich fünf Blätter an Frauen und zwei Blätter an Akademiker richteten Diese insgesamt 77 Missionszeitschriften erreichten zusammen eine Auflage von 1 446 950 publizierten Heften Knapp die Hälfte dieser Gesamtauflage (697 700) entfiel auf die 15 Kindermissionszeitschriften Die 43 Missionszeitschriften für Heidenmission erreichten hingegen zusammen „nur“ eine Auflage von 605 450 Von den verbliebenen vier ausgewiesenen Arten von Missionszeitschriften erreichten die Periodika für Judenmission den vergleichsweise größten Anteil an der Gesamtauflage (102 600), während die übrigen drei verhältnismäßig kleinere Mengen ausmachten: Blätter für Mohammedanermission 26 400, Missionszeitschriften für Frauen 12 200 und für Akademiker 2 60025 (vgl Abb 5 und 6) Besonders auffallend ist hier die hohe Auflage von Kindermissionszeitschriften, die vermutlich zwei Gründe hat: Erstens ist aus dem anglophonen Raum bekannt, dass solche Blätter neben der privaten Nutzung gerne in Sonntagsschulen eingesetzt wurden 26 Richard Hölzl konnte zeigen, dass auch im deutschsprachigen Raum spätes-

24 25 26

Wie die Mohammedaner beten, in: Missionsblatt für Kinder 55/1896, 37–43 Von den beiden akademischen Missionszeitschriften konnte nur die Allgemeine Missionszeitschrift berücksichtigt werden Bei der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft fehlt die Auflagenhöhe Felicity Jensz, Firewood, Fakirs and Flags The Construction of the Non-Western „Other“ in an Nineteenth Century Transnational Children’s Missionary Periodical, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 105/2011, 167–191, 175; Hugh Morrison, „Impressions Which Will Never Be Lost“ Missionary Periodicals for Protestant Children in Late-Nineteenth Century Canada and New Zealand, in: Church History 82/2013, 388–393, 288 f

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Abb. 5 Kategorisierung und Verteilung der Gesamtanzahl protestantischer Missionszeitschriften nach dem Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908 Auf die erste Dezimalstelle gerundet (eigene Darstellung)

Abb. 6 Kategorisierung und Verteilung des Auflagenanteils an der Gesamtauflage protestantischer Missionszeitschriften nach dem Verzeichnis der evangelischen Presse von 1908 Auf die erste Dezimalstelle gerundet (eigene Darstellung)

tens ab 1910 gefordert wurde, Missionsliteratur im Schulunterricht zu benutzen 27 Der zweite Grund dürfte der Preis gewesen sein Der durchschnittliche Jahrespreis einer protestantischen Kindermissionszeitschrift im Jahr 1875 lag bei ca 90 Pfennig Für 27

Richard Hölzl, „Mitleid“ über große Distanz Zur Fabrikation globaler Gefühle in Medien der katholischen Mission, 1890–1940, in: Rebekka Habermas / Richard Hölzl (Hgg ), Mission global Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19  Jahrhundert, Köln/Berlin 2014, 265–294, 274 f

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ein Jahresabonnement der Zeitschriften Missionsblatt aus der Brüdergemeine, Calwer Missionsblatt oder Missionsblatt des Frauen-Vereins für Christliche Bildung des Weiblichen Geschlechts im Morgenlande wurde bereits 1,50 Mark verlangt, während die akademische Allgemeine Missionszeitschrift für das gesamte Jahr 1875 6,00 Mark kostete 28 Für die katholischen Missionszeitschriften stellt sich die Situation ganz ähnlich dar Robert Streit listet für das Jahr 1907 25 Zeitschriften für Erwachsene, die zusammengerechnet eine Auflage von 243 530 erreichten, wobei er bei zwei Zeitschriften keine Auflagenhöhe ermitteln konnte Der durchschnittliche Jahrespreis dieser Blätter lag bei 2,00 Mark Außerdem nennt er fünf Missionszeitschriften für Kinder und Jugendliche, die bei einer zusammengerechneten Auflage von 207 500 zwischen 60 Pfennig und maximal 1,00 Mark pro Jahr kosteten 29 In diesem Zusammenhang wäre es grundsätzlich wichtig zu erfassen, wie sich die Auflagestärke der einzelnen Zeitschriften über ihren gesamten Erscheinungszeitraum hin entwickelt hat Eine solche Erhebung ist bisher jedoch noch ein Desiderat Viele der Literaturanzeiger, die vor 1900 erschienen sind, geben kaum oder sehr selten die Auflagenhöhe mit an Von den oben genannten Literaturanzeigern nennen nur Sperlings Zeitschriftenadressbuch (1904/1908), Die deutsche Missionsliteratur von Robert Streit (1907), das Verzeichnis der evangelischen Presse (1908) und das Handbuch der evangelischen Presse (1929) entsprechende Daten Eine solche Erhebung wäre durch Einsicht entweder in die Abonnentenlisten oder die Bücher bzw Jahresberichte der Missionsgesellschaften möglich, wie Arndt Schnepper für die Zeitschriften Chinas Millionen und Missions-Glöcklein der Liebenzeller Mission sowie den Missions- und Heidenboten der Neukirchener Mission zeigen konnte 30 Darüber hinaus finden sich Informationen zur Auflagenhöhe gelegentlich auch in den Artikeln der Missionszeitschriften selbst 31 3. Missionszeitschriften: Quellenwert und Perspektiven Die Beschäftigung mit Missionszeitschriften ist immer auch Beschäftigung mit einem innerhalb der Missionsgeschichte unterrepräsentierten Forschungszweig: Der Frage nach der Wirkung von Missionar_innen in ihrem eigenen Heimatland Aber welche Fragestellungen ergeben sich konkret aus der Beschäftigung mit Missionszeitschriften für die Geschichtswissenschaften? Am Ende dieses Artikels möchte ich vier, sicherlich nicht erschöpfende Forschungsperspektiven anbieten Alle vier lassen sich dem Be-

28 29 30 31

Ruprecht/Müldener, Bibliotheca, Jahrgang 1875 Streit, Die deutsche Missionsliteratur, 12–15 Arndt Schnepper, Mission und Geld Glaubensprinzip und Spendengewinnung der deutschen Glaubensmissionen, Wuppertal 2007, 214 Regen vom Himmel, in: Die kleine Biene auf dem Missionsfelde Für Kinder 2/1862, 98–99, 98

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reich der Perzeptions- und Repräsentationsgeschichte zuordnen Die Herausgeber_innen der Missionszeitschriften versuchten in ihren Blättern die Fremd- und Eigenwahrnehmung durch die Darstellungen der außereuropäischen Welt gezielt zu beeinflussen Dies ist zentral und muss bei der Beschäftigung mit Missionszeitschriften immer mitbedacht werden Davon ausgehend können durch die Analyse von Missionszeitschriften Erkenntnisse in folgenden Teildisziplinen der Geschichtswissenschaften gewonnen werden, die hier anhand erster Überlegungen illustriert werden sollen: 1 Wissenschafts- und Wissensgeschichte: Generell ist die Frage nach Wissensaneignung und -generierung von Missionar_innen ein breit diskutiertes Feld innerhalb der Missionsgeschichte 32 Eine noch weitgehend ungeklärte Frage ist die nach dem Einfluss von Missionszeitschriften auf den akademisch-wissenschaftlichen Diskurs des 19 und frühen 20  Jahrhunderts Siegfried Weichlein hat herausgestellt, dass es einen scharfen Konflikt zwischen „Wissensordnungen der religiösen Mission und der säkularen Wissenschaft“ gegeben hat 33 Nach Weichlein existierten zwei große Wissensbereiche, in Form von akademischen Institutionen und religiösen Experten, „in scharfem Gegensatz“ nebeneinander 34 Tatsächlich erhärtet sich diese These, wenn man die (häufig ungenauen und unvollständigen) Literaturverzeichnisse akademisch-wissenschaftlicher Publikationen aus dem 19   Jahrhundert durchgeht: Missionszeitschriften oder generell Publikationen von Missionar_innen finden hier keine Berücksichtigung, obgleich bekannt ist, dass Missionar_innen wichtige Beiträge zur Sprachwissenschaft, Botanik, Zoologie und Geografie geliefert haben 35 In wissenschaftlichen Publikationen von Ordens- und Kirchenleuten hingegen scheinen Missionszeitschriften eine wichtige Rolle gespielt zu haben So nutzte etwa Hermann A Krose in seinem Kirchlichen Handbuch von 1919 immer wieder katholische Missionszeitschriften, um statis-

32

33 34 35

Hier nur einige jüngere Beispiele: Patrick Harries, Butterflies & Barbarians Swiss Missionaries & Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford 2007; Rebekka Habermas, Wissenstransfer und Mission Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36/2010, 257–284; Ulrich van der Heyden  / Andreas Feldtkeller (Hgg ), Missionsgeschichte als Geschichte der Globalisierung von Wissen Transkulturelle Wissensaneignung und -vermittlung durch christliche Missionare in Afrika und Asien im 17 , 18 und 19   Jahrhundert, Stuttgart 2012; Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel (Hgg ), Von Käfern, Märkten und Menschen Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013 Siegfried Weichlein, Mission und Konflikt Weiterführende Fragestellungen, in: Linda Ratschiller / Karolin Wetjen (Hgg ), Verflochtene Mission Perspektiven auf eine neue Missionsgeschichte, Köln/ Weimar/Wien 2018, 239–246, 241 Ebd Rebekka Habermas, Intermediaries, Kaufleute, Missionare, Forscher und Diakonissen Akteure und Akteurinnen im Wissenstransfer, in: Rebekka Habermas / Alexandra Przyrembel (Hgg ), Von Käfern, Märkten und Menschen Kolonialismus und Wissen in der Moderne, Göttingen 2013, 27–48, 29 f

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tische und ethnografische Informationen aufzubereiten 36 Die von Weichlein beschriebene Trennung scheint bei einem Blick in Missionszeitschriften jedoch nicht ganz so strikt gewesen zu sein, wie er vermutet Rebekka Habermas konnte zeigen, dass als Teil einer generellen „Verwissenschaftlichung“ der Mission seit der zweiten Hälfte des 19   Jahrhunderts in Rezensionsteilen von Missionszeitschriften auch „Wissenschaftlichkeit beanspruchende Werke, die nicht nur von Missionaren verfasst worden waren“ besprochen wurden 37 Dass es aber auch in die andere Richtung durchaus Schnittstellen zwischen den beiden Wissensbereichen geben konnte, beweist ein Blick in Carl Meinhofs in der Buchhandlung der Berliner evangelischen Missionsgesellschaft gedruckten, Afrikanische Religionen von 1912 Meinhof gibt in seinem Literaturverzeichnis neben den zu erwartenden akademischen Titeln sowohl die Allgemeine Missionszeitschrift als auch das Evangelische Missionsmagazin an und schließt mit dem Vermerk, dass außerdem „die Missionsblätter der evangelischen und katholischen Missionen zu vergleichen“ seien 38 Meinhof war nicht nur Afrikanist, sondern auch Pastor und war damit gewissermaßen ein Teil beider Wissensbereiche Inwieweit somit die Berichte aus den Missionszeitschriften indirekt doch Eingang in den akademisch-wissenschaftlichen Diskurs gefunden haben, könnte in einer breiteren vergleichenden Studie überprüft werden Historische Bildforschung und Visual History: Die visuelle Unterstützung der abgedruckten Texte wurde früh zu einem wichtigen Bestandteil der Missionszeitschriften In vielen katholischen und protestantischen Missionsblättern finden sich Stiche und Lithographien in verschiedenen Größen Dass besonders auch die Fotografiegeschichte wichtige Impulse aus einer Beschäftigung mit Missionszeitschriften ziehen kann, wurde jüngst dargelegt 39 Die neue Technologie der Fotografie stellte für die Missionar_innen eine interessante Möglichkeit dar, ihre Missionszeitschriften attraktiver zu gestalten Durch die Fotografien aus fernen Ländern rückte das Missionsgebiet noch einmal näher, unterstützten sie doch die „Gestaltung von (imaginierten) Fernbeziehungen zwischen Christinnen und Christen in Europa und Menschen in Afrika, Asien und Amerika“ 40 Durch die, in der Regel inszenierten, Bilder konnten die Herausgeber_innen der Missionszeitschriften aber auch Mitleid beim Betrachter auslösen, ein Gefühl, das sie zwecks Spendengewinnung besonders gerne ansprachen 41 So ist es nicht verwunderHermann A Krose (Hg ), Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland Nebst Mitteilungen der amtlichen Zentralstelle für kirchliche Statistik Band 8: 1918–1919, Freiburg im Breisgau 1919 Habermas, Wissenstransfer und Mission, 268 Carl Meinhof, Afrikanische Religionen Hamburgische Vorträge, Berlin 1912, 152 f Judith Becker / Katharina Stornig (Hgg ), Menschen – Bilder – Eine Welt Ordnungen von Vielfalt in der religiösen Publizistik um 1900, Göttingen 2018 Stornig/Becker, Menschenbilder, 13 f Hölzl, Mitleid

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lich, dass Fotografien sehr früh in Missionszeitschriften untergebracht wurden Dabei scheinen die Katholiken etwas später von dem neuen Medium Gebrauch gemacht zu haben, als die Protestanten 42 Paul Jenkins konnte für den Protestantismus nachweisen, dass der schottische Methodistenpfarrer Daniel West bereits 1856 im geografischen Gebiet des heutigen Ghana erste Fotografien anfertigte 43 Dass diese Fotografien für Missionszeitschriften genutzt wurden, weißt Jenkins daran nach, dass in einer Septemberausgabe des Calwer Missionsblatts von 1859 eine Fotografie Wests abgedruckt wurde 44 Aber bei einer bloßen Nutzung für Missionspublikationen blieb es nicht Fotografien von Missionaren erfuhren durch diverse weitere Publikationsformen, allen voran der Postkarte, rege Verbreitung weit über Landesgrenzen hinaus 45 Dies verweist bereits auf den nächsten möglichen Erkenntnisbereich, der durch die Beschäftigung mit Missionszeitschriften adressiert werden kann: Die Transfer- und Verflechtungsgeschichte Transfer- und Verflechtungsgeschichte: Die Frage nach der Vernetzung von Missionar_innen ist in den letzten Jahren zum wichtigen Forschungsgegenstand der Missionsgeschichte geworden 46 Hier verspricht die Beschäftigung mit Missionszeitschriften neue Impulse zu liefern, besonders bei der Frage, inwieweit die deutschen, aber auch die globalen Missionsgesellschaften und Missionsvereine miteinander vernetzt waren Die erste deutschsprachige katholische Missionszeitschrift überhaupt, die seit 1832 vom „Verein der Glaubensverbreitung“ in Einsiedeln herausgegebenen Annalen der Verbreitung des Glaubens, bestand in ihren ersten Jahren aus Übersetzungen einer französischsprachigen Missionszeitschrift, die der „Verein für Glaubensverbreitung“ in Lyon 1822 begründet hatte 47 Außerdem kam es immer wieder vor, dass in Missionszeitschriften einzelne Texte ausländischer Missionar_innen in deutscher Übersetzung abgedruckt wurden

In diese Richtung deuten jedenfalls die Beiträge von Andreas Frings und Christoph Rippe: Andreas Frings, Beredtes (visuelles) Schweigen? Kommunikative Leerstellen im Bild des osmanischen Armeniers in den Katholischen Mission bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges, in: Judith Becker / Katharina Stornig (Hgg ), Menschen – Bilder – Eine Welt Ordnungen von Vielfalt in der religiösen Publizistik um 1900, Göttingen 2018, 305–328; Christoph Rippe, „Ein Spaziergang mit der Kamera“ Fotografien der Mariannhiller Mission in Natal zwischen Augenzeugenschaft und intentionalem Bildprogramm, in: Judith Becker / Katharina Stornig (Hgg ), Menschen – Bilder – Eine Welt Ordnungen von Vielfalt in der religiösen Publizistik um 1900, Göttingen 2018, 65–89 Paul Jenkins, The Earliest Generation of Missionary Photographs in West Africa and the Portrayel of Indigenous People and Culture, in: History in Africa 20/1993, 89–118 Ebd , 91 Katharina Stornig, Authentifizierung kultureller Begegnungen durch Fotografie Über die Verwendung von Fotos als Spuren der transnationalen Spendenwerbung im 19  Jahrhundert, in: Saeculum 66/2016, 207–228 Rebekka Habermas  / Richard Hölzl (Hgg ), Mission global Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19  Jahrhundert, Köln/Berlin 2014; Linda Ratschiller / Karolin Wetjen (Hgg ), Verflochtene Mission Perspektiven auf eine neue Missionsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2018 Streit, Missionsliteratur, 9

Deutschsprachige Missionszeitschriften im 19 Jahrhundert

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Wie oben bereits angedeutet, berichteten Missionsgesellschaften und -vereine in ihren Periodika auch über Missionsgebiete, in denen sie nicht aktiv waren Hier stellt sich die Frage, wo diese Informationen im Einzelnen herstammten Denn nicht immer wird die Quelle von den Herausgeber_innen genannt Wurde vielleicht aus anderen Missionszeitschriften abgeschrieben? Falls ja, wussten die Urheber_innen der Texte darüber Bescheid? Was für „Reibungsverluste“ sind ggf bei dem erlaubten oder nicht erlaubten Abdruck der ursprünglichen Berichte entstanden? Solche, auch wieder wissensgeschichtlich spannende Fragen ließen sich durch die diskursive Untersuchung möglichst vieler Missionszeitschriften zu einem speziellen geographischen oder inhaltlichen Thema adressieren In diesem Zusammenhang könnte ganz grundsätzlich die Rolle der Herausgeber_innen bei der inhaltlichen Gestaltung der Missionszeitschriften untersucht werden Felicity Jensz konnte bereits zeigen, dass die Herrnhuter Bürdergemeine dieselben Berichte in unterschiedlicher Form für ihre englische und deutsche Leserschaft aufbereitete 48 Religions- und Konfessionsgeschichte: Es finden sich bisher kaum Studien, die protestantische und katholische Missionszeitschriften gleichermaßen berücksichtigen 49 Gerade solche Studien könnten jedoch den Blick auf den Kulturkampf schärfen In der Berichterstattung über den Buddhismus in Japan etwa heißt es in einer Ausgabe des protestantischen Calwer Missionsblatt aus dem Jahr 1866: Die (…) Buddha-Religion ist dieselbe, die uns in Hinterindien und China begegnet und so vielfach an katholische Art erinnert, indem die Priester nicht heirathen, und das Mönch- und Nonnenwesen hoch getrieben wird; die Gebete in unbekannter Sprache, Altarlichter, Weihrauch, Glöcklein und viele andere Kleinigkeiten lassen einen im Buddhistentempel oft fragen, ob man nicht in eine römische Kirche gerathen ist 50

Acht Jahre später zitieren die Katholischen Missionen den Text eines namentlich nicht genannten „japanischen Gelehrten“, in dem Anschuldigungen gegen protestantische Missionare aus den USA erhoben werden Anschließend summiert der Artikel: „Und nun noch die protestantischen Missionen! Da in jedem Jahre den protestantischen Missionsgesellschaften Millionen von Thalern zufließen, so war 48 49

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Jensz, Origins Ausnahmen sind: Armin Owzar, The Image of Islam in German Missionary Periodicals, 1870– 1930, in: Felicity Jensz / Hanna Acke (Hgg ), Missions and Media The Politics of Missionary Periodicals in the Long Nineteenth Century, Stuttgart 2013, 133–150; Albert Wu, Narratives of Conversion in Nineteenth-Century German Missionary Periodicals, in: Felicity Jensz / Hanna Acke (Hgg ), Missions and Media The Politics of Missionary Periodicals in the Long Nineteenth Century, Stuttgart 2013, 79–96; Albert Wu, Catholic and Protestant Individuals in Nineteenth-Century German Missionary Periodicals, in: Church History 82/2013, 394–398 Ein Erstling in Japan, in: Calwer Missionsblatt 39/1866, 41

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es vorauszusehen, daß ihre Sendboten in großer Anzahl und im buntesten Sektengemisch sich nach Japan begeben würden “51 Den katholischen Gottesdienst mit dem Besuch eines buddhistischen Tempels zu vergleichen oder das „bunte Sektengemisch“ der protestantischen Missionare herauszustellen, sind starke Metaphern, die besonders im Kontext der Zeit nicht zu unterschätzen sind, weiten sie doch die konfessionellen Konflikte geographisch aus Plötzlich findet der Kulturkampf nicht mehr nur in Deutschland oder Teilen Europas statt, sondern auch in der nicht-christlichen Welt, und zwar überall dort, wo entweder Missionare beider Konfessionen gleichzeitig tätig sind oder nur eine Konfession vertreten ist, vor deren Einfluss es zu warnen gilt Stefan Dixius promoviert an der Universität Trier zur Perzeption und Repräsentation Japans in deutschsprachigen katholischen und protestantischen Kindermissionszeitschriften aus dem 19   Jahrhundert Finanziert wird seine Promotion durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes

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Die Japanesische Kirche im 19   Jahrhundert V Aussichten für die Zukunft, in: Die katholischen Missionen 2/1874, 25–27, 26

Gekommen, um sich zu vernetzen Südtirols Zeitgeschichte als Migrationsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der migrantischen Netzwerke von 1945 bis heute Kurt Gritsch Jahrbuch Historische Mitteilungen 32 (2020–2021), 431–458

Abstract: This article focuses on two related topics: the forming of migration networks and the south Tyrolian migration history of the last century Since the partition from Austria, South Tyrol has experienced a peculiar historical development thus creating special circumstances which influenced migration In order to understand the defining conditions of migration after World War II, the article takes a look back to the per-war-period of the 1920ies and 1930ties where the formative frame for migration in South Tyrol has been created With increasing industrialization under the fascist government since the 1920ies, tens of thousands of Italians migrated to the province of Bolzano thus changing the economic, political and social situation and challenging the ethnic balance of the previously mainly German-speaking region Fascist policy of assimilation and later Nazi-German occupation led to an ethnically divided society Contemporaneously, emigration as a result of the so-called “Option” enlarged the social gap also between the German-speaking population of South Tyrol The article elucidates these historic conditions defining the development of migration after 1945 It illustrates that the contemporary history of South Tyrol is also a migration history and emphasizes that the analysis of migration can lead to a broader view of the socio-economic and political past of the province Thus, the perspective of migration history can contribute to the understanding of an ethnically divided region

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1. Einleitung Dieser Beitrag weist zwei thematische Schwerpunkte auf, die miteinander verbunden sind und zum tieferen historischen Verständnis in ihrer Verzahnung dargestellt werden Es geht um Migration einerseits und um deren Teilaspekt migrantischer Netzwerke andererseits Um diese Vereinigungen historisch entsprechend zu kontextualisieren, ist ein migrationsgeschichtlicher Ansatz zur Interpretation der Südtiroler Zeitgeschichte hilfreich Dabei empfiehlt sich ein Rückblick auf die besondere historische Entwicklung der Provinz seit ihrer Abtrennung von Österreich, denn die neuen politischen Grenzen zogen auch Veränderungen im Migrationsregime nach sich und beförderten eine Entwicklung, die das Land in der Wanderungsfrage über Jahrzehnte prägen sollte: Die Arbeitsmigration veränderte sich dahingehend, dass an die Stelle der Arbeitsuchenden aus der Monarchie nun italienische Arbeiterinnen und Arbeiter traten, deren Zahl in kurzer Zeit mehrere Zehntausend erreichte Gleichzeitig verwehrte das Königreich Italien rund 10 000 in Südtirol teilweise seit Jahrzehnten lebenden Menschen, die aus verschiedenen Gebieten der Monarchie stammten, die Staatsbürgerschaft und wies sie während der sogenannten „Ersten Option“ zwischen 1919 und 1921 aus 1 Im Tourismussektor, in dem bis zum Ersten Weltkrieg Angestellte aus allen Teilen der Monarchie tätig gewesen waren, mussten unter Benito Mussolini italienische Arbeitsuchende vorrangig behandelt werden Und während neu eingewanderte Italiener zunehmend Arbeit in den nun gegründeten Industriezonen Merans und Bozens fanden, bot der Agrarsektor den deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolerinnen keine hinreichenden Verdienstmöglichkeiten Ab 1939 brachte die Option neben zahlreichen Verwerfungen auch vielen abwanderungswilligen Menschen eine wirtschaftliche Perspektive nördlich des Brenners Von den rund 75 000 ausgewanderten Menschen kehrten nach Kriegsende rund 25 000 wieder zurück Als ab 1945 italienische Flüchtlinge aus Istrien und Dalmatien nach Bozen kamen, entstanden zugleich erste Einwanderer-Vereine Südtirols Gesellschaft war damals ethnisch – und als Folge der Option auch innerhalb der deutschen Sprachgruppe – gespalten und insgesamt weitgehend migrationsablehnend eingestellt Der Blick zurück bis 1919 legt die Wurzeln dieser teilweise offen feindseligen Haltungen gegenüber Einwanderung innerhalb der deutschen Ethnie offen Dieser Blick ermöglicht ein tieferes Verständnis der Wahrnehmung von migrantischen Vereinigungen und zeigt, dass die Südtiroler Zeitgeschichte auch eine Migrationsgeschichte mit unterschiedlichen Netzwerken ist

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Vgl dazu Eva Pfanzelter, Einleitung: Migrationsgeschichten dies- und jenseits des Brenners, in: Tiroler Heimat 82/2018, 265–267, bes 266

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In der jüngsten Migrationsforschung wird die lange Zeit vorgenommene Trennung zwischen Migrationsnetzwerken als Bezeichnung für die Verbindungen zur Erleichterung des Migrationsprozesses und Netzwerke von Migrantinnen und Migranten als Begriff für Vereinigungen von Migrierten im Ankunftsland zu recht in Frage gestellt 2 Zwar sind es nicht selten informelle Verbindungen und Kontakte unter Familienangehörigen und Bekannten, welche den Migrierenden die Auswanderung erleichtern, doch ist eine klare Trennung weder zwischen den Netzwerken vor, während und nach der Migration, noch nach deren Tätigkeiten möglich So können im Ankunftsland gegründete Vereinigungen – früher „Ausländervereine“ genannt – ebenso bei weiterer Migration behilflich sein wie bei der Integration im Ankunftsland Und umgekehrt führen familiäre und freundschaftliche Netzwerke unter Migrierenden nicht selten zur Entstehung einer später offiziell eingetragenen Migranten-Vereinigung Aus diesem Grund haben Félix Krawatzek und Gwendolyn Sasse 2018 vorgeschlagen, die beiden Kategorien „Migrationsnetzwerke“ und „Migrantinnen-Netzwerke“ unter dem Begriff „migrantische Netzwerke“ zusammenzufassen 3 Da die vorliegende Arbeit jedoch nicht den Migrationsprozess im engeren Sinn, sondern die Tätigkeit von Vereinigungen Eingewanderter innerhalb der Ankunftsgesellschaft untersucht, wird hier der Begriff „migrantische Netzwerke“ synonym zu „Migranten-Netzwerken“ und zu „Migrationsvereinen“ verwendet 2. Forschungsstand und Quellenlage Die Migration in Südtirol im 20  Jahrhundert wurde in der Forschung nicht ohne Grund oft als Instrument zur Steuerung ethno-nationaler Transformationsprozesse interpretiert, der Fokus richtete sich weniger auf die Wanderungsbedingungen denn auf die statistischen Wanderungsauswirkungen,4 der methodische Ansatz entstammte mehr der politischen Historiographie der Autonomiegeschichte denn der vergleichenden historischen Migrationsforschung Ohne die Auswirkungen der italienischen Assimilationspolitik gegenüber Südtirol vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg gering zu schätzen, orientiert sich der vorliegende Beitrag am Ansatz einer transnationalen

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So beispielsweise Félix Krawatzek  / Gwendolyn Sasse, Migrantische Netzwerke und Integration: Das transnationale Kommunikationsfeld deutscher Einwandererfamilien in den USA, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 1/2018, 211–228, als PDF-Dokument abrufbar unter https://www researchgate net/publication/322580143_Migrantische_Netzwerke_und_Inte gration_Das_transnationale_Kommunikationsfeld_deutscher_Einwandererfamilien_in_den_ USA, 15 5 2020, zit nach PDF 3 Krawatzek/Sasse, Migrantische Netzwerke und Integration, 3 Giorgio Mezzalira, L’immigrazione italiana in Alto Adige: approcci e questioni, in: A S E I (Archivio Storico dell’Emigrazione Italiana) 2006, zit nach https://www asei eu/it/2006/11/limmigrazioneitaliana-in-alto-adige-approcci-e-questioni/, 15 5 2020

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migrationshistorischen Perspektive Als vielversprechend zum Verständnis der Südtiroler Geschichte des 20  Jahrhunderts, die auch und vor allem eine Migrationsgeschichte war, erweist sich das Konzept des Migrationsregimes als Beobachtungsperspektive 5 Das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück geht davon aus, dass das Handeln von Migrantinnen einzeln ebenso wie in der Gruppe unter Bedingungen geschieht, die von der Aufnahmegesellschaft vorgegeben sind, wie z B Regulierungen, Kontrollen oder Steuerungen Die Wechselwirkungen dieser Faktoren mit den Entscheidungen und Handlungen der Migranten werden als Migrationsregime bezeichnet Die Frage lautet also: „Wer beobachtet, beeinflusst und produziert aus welchen Gründen, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen welche Migrationen und ihre Folgen?“6 Für Südtirol schließt die Beantwortung dieser Fragen eine Interpretation ein, welche Zuwanderung mit dem politischen Bemühen Roms verknüpft, die Provinz ethnisch zu majorisieren Gleichzeitig reicht sie aber über diesen ethnonationalen Ansatz hinaus und führ hin zur differenzierteren Beobachtung von Migrationsprozessen entlang regionaler Kollektive und Individuen Dies geht Hand in Hand mit der Analyse der Migrantennetzwerke So wird bei näherer Betrachtung der bald nach 1945 gegründeten italienischen Vereinigungen in Bozen klar, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg keine auf staatlicher Steuerung beruhende, politisch bedingte homogene italienische Binnenwanderung gab, sondern stattdessen eine auf individuellen Entscheidungen fußende Arbeitsmigration von Menschen, die sich kulturell als sehr unterschiedlich wahrnahmen und entsprechend voneinander unabhängige Kulturvereine gründeten Allerdings griff der Staat steuernd in die Migrationsprozesse ein, indem er einwandernden Italienern sozialen Wohnbau zur Verfügung stellte oder Firmen steuerliche Anreize bot Die ab den 1980er-Jahren einsetzende internationale Migration wurde hingegen zu Beginn von autochthonen Vereinen aufgefangen, während sich später – analog zu den italienischen Vereinen – auch Migrantinnen-Vereinigungen bilden 7 Diese, die Organisationen von Migranten, werden im zweiten Teil des Beitrags thematisiert, auch wenn Einwandernde teilweise auch in Vereinigungen der Mehrheitsgesellschaft – wie z B in der Caritas – aktiv sind 8

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Andreas Pott / Christoph Rass / Frank Wolff, Was ist ein Migrationsregime? Eine Einleitung, in: dies (Hgg ), Was ist ein Migrationsregime? What Is a Migration Regime?, Wiesbaden 2018, 1–16, 1 Definition des Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, zit nach https://www imis uni-osnabrueck de/forschung/migrationsregime html, 15 5 2020 Vgl Kurt Gritsch, Migration und Migrant_innennetzwerke in Südtirol: Spezifika einer historischen Sonderentwicklung, in: Tiroler Heimat 82/2018, 269–299; vgl Marcel Amoser, Caritas und Migration im Bundesland Tirol und in Südtirol, in: Tiroler Heimat 82/2018, 333–364 Vgl Kurt Gritsch, Migrationsnetzwerke in Südtirol: Organisationen von und für Migranten Eine zeithistorische Bestandsaufnahme, in: Eva Pfanzelter / Dirk Rupnow (Hgg ), Einheimisch, zweiheimisch, mehrheimisch Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Bozen 2017, 211–226

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Die historische Migrationsforschung ist in Südtirol noch relativ jung, erst recht jene, die auf der Darstellung der Geschichte der Migration, der Migranten und ihrer Netzwerke, basiert 9 Einschlägige Studien stammen aus dem Umfeld der Zeitschrift Geschichte und Region / Storia e Regione, vom Bozner Historiker Giorgio Mezzalira10 oder von der Zeithistorikerin Eva Pfanzelter von der Universität Innsbruck 11 Völkerrechtliche Impulse der Migrationsforschung aus der Minderheitenforschung kommen aus dem Umfeld der EURAC12, während der migrantische Forscher Fernando Biague aus Brixen einen sozialpsychologischem Ansatz vertritt 13 Doch auch wenn die Südtiroler Migrationsforschung unterschiedliche Wurzeln aufweist, sind bestimmte Teilbereiche bis heute kaum – und erst recht nicht in ihren Wechselwirkungen – erforscht 14 Dabei eröffnet der migrationsgeschichtliche Ansatz einen neuen und vielversprechenden Blick auf Südtirols Vergangenheit Dazu ist allerdings erforderlich, dass er über Community Studies und die isolierten, auf die Anerkennung im kollektiven Gedächtnis abzielenden Beschreibungen ebenso hinausreicht wie auf kommentierte Sammlungen von Grafiken und Statistiken zur Veranschaulichung der Wanderungen Wenn die Perspektive der Opfergeschichte, der „aktivistischen Minderheitengeschichte“,15 überwunden wird und eine Geschichte geschrieben wird, „die nicht neue Aus-

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Vgl Ljubomir Bratic, Selbstorganisation im migrantischen Widerstand Ein Diskussionsanstoß, in: SWS-Rundschau 4/2001, 516–536 Vgl Giorgio Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata? L’immigrazione italiana in Alto Adige dal 1945 al 1955, in: Diego D’Amelio / Andrea Di Michele / Giorgio Mezzalira (Hgg ), La difesa dell’italianità L’Ufficio per le zone di confine a Bolzano, Trento e Trieste (1945–1954), Bologna 2015, 153–178; ders , I profughi giuliano-dalmati in Alto Adige Profilo storico, sociale e statistico, in: Hannes Obermair / Sabrina Michielli (Hgg ), Erinnerungskulturen des 20  Jahrhunderts im Vergleich (Hefte zur Bozner Stadtgeschichte 7), Trento 2014, 67–74; ders , Alto Adige – Südtirol: i fenomeni migratori in un’area alpina in età moderna e contemporanea, in: Archivio Storico dell’ Emigrazione Italiana A S E I 5/2009, 1; ders , Da un confine all’altro: esuli giuliani, istriani e dalmati in Alto Adige, in: Geschichte und Region / Storia e regione 18/2009, 197–206; ders , Der „ethnisch fremde Süden“ Die italienischen Einwanderer in der Nachkriegszeit, in: Anton Holzer et al (Hg ), Nie nirgends daheim Vom Leben der Arbeiter und Arbeiterinnen in Südtirol, Bozen 1992, 201–220 Vgl Eva Pfanzelter, Option und Gedächtnis Erinnerungsorte der Südtiroler Umsiedlung, Bozen 2014; Pfanzelter/Rupnow (Hgg ), Einheimisch, zweiheimisch, mehrheimisch Roberta Medda‐Windischer / Andrea Carlá (Hgg ), Migrationspolitik und Territoriale Autonomie Neue Minderheiten, Identität und Staatsbürgerschaft in Südtirol und Katalonien (Eurac Research), Bozen 2013; Roberta Medda-Windischer / Gerhard Hetfleisch / Maren Meyer (Hgg ), Migration in Südtirol und Tirol Analysen und multidisziplinäre Perspektiven (EURAC research), Bozen 2011 Fernando Biague, Das Migrationsprojekt Ausländer berichten, Brixen 2009 Vgl dazu Pfanzelter, Einleitung: Migrationsgeschichten, 265–267, bes 266 Pfanzelter verweist hier auf die „Erste Option“ 1919–1921, auf die Rückoption ab 1945, auf die Erforschung von Flucht- und Migrationsbewegungen ab den 1980er-Jahren oder auf genderspezifische Wanderungen („Dienstmädchen“) Zu letzteren vgl Ursula Lüfter  / Martha Verdorfer  / Adelina Wallnöfer, Wie die Schwalben fliegen sie aus Südtirolerinnen als Dienstmädchen in italienischen Städten 1920–1960, Bozen 2006 Michael G Esch / Patrice G Poutrus, Zeitgeschichte und Migrationsforschung: Eine Einführung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 3/2005, 338–344, 340

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schlüsse produziert, sondern inklusiv ist,“16 so kann das Thema der Migration als spezifische „Erklärung von allgemeinen historischen Entwicklungen in modernen Staaten und Gesellschaften“17 auch für ein tieferes Durchdringen der Südtiroler Zeitgeschichte genutzt werden Konkret lässt sich anhand der Migration nicht nur ein Verständnis für unterschiedlich gewichtete gesellschaftliche Akteure im Kontext einer mehrsprachigen Region gewinnen, sondern auch die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Provinz im 20 und 21  Jahrhundert nachzeichnen Ein Beispiel: Die Südtiroler Volkspartei (SVP) und die ihr nahestehende Tageszeitung Dolomiten bekämpften die italienische Arbeitsmigration in den 1950er-Jahren nicht nur ethnopolitisch als Versuch einer italienischen Majorisierung Südtirols,18 sondern wegen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter auch ideologisch (fast im Geiste des McCarthyismus) als befürchtete Stärkung des Kommunismus 19 Doch die Migrationsgeschichte bietet nicht nur einen Erkenntniszuwachs hinsichtlich der arbeitsbedingten Mobilität des 20  Jahrhunderts – wobei diesbezüglich die regionalen Auswirkungen, welche die Schaffung des europäischen Binnenmarkts hatte, noch genauer zu untersuchen wären 20 Sie kann auch in Bezug auf politische Beteiligung und Good Governance Erhellendes zutage fördern, wie das folgende Beispiel zeigt: Bis in die frühen 2000er-Jahre lag die Vertretung der Interessen von Eingewanderten meist in den Händen von aus der Aufnahmegesellschaft entstandenen Organisationen für Migranten 21 Auch die als Reaktion auf den Wunsch nach mehr Partizipation von manchen Gemeinden geschaffenen beratenden Ausschüsse und Beiräte für Eingewanderte wurden bislang sowohl von den neuen Südtirolern als auch von der Gemeindeverwaltung nur „als eine sehr schwache Form der Teilnahme am

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Dirk Rupnow, Manche Menschen sind nur schon länger vor Ort, in: Kurt Gritsch, Vom Kommen und Gehen, Bozen 2016, 242–247, 243 Ebd Vgl Rolf Steininger, Südtirol im 20  Jahrhundert Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck/Wien 1997 „Zuwanderung importiert Kommunismus“, in: Dolomiten, 10 12 1953, zit nach Alexander Piff, Migrationsbewegungen in Südtirol Ein exemplarischer Überblick des Zeitraumes 1945–1955, in: historia scribere 2 (2010), 367–383, zit nach Alexander Piff, Migrationsbewegungen in Südtirol Ein exemplarischer Überblick des Zeitraumes 1945–1955, in: historia scribere 2 (2010), 367–383 [http:// historia scribere at], 2009–2010, 374 bzw 380 Vgl Evi Brigl, Das Kuckucksei im Eisacktal Die Continental-Debatte in Brixen 1969–1972, Bozen 2009; für Tirol vgl Gerhard Hetfleisch, Geschichte der Arbeitsmigration Tirols 1945–2013, in: Rita Garstenauer / Anne Unterwurzacher (Hgg ), Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen: Mobilität und Migration im ländlichen Raum seit 1945 ( Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2014), Innsbruck 2015, 95–125 Vgl Gritsch, Migrationsnetzwerke in Südtirol, 211–226

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politischen Leben betrachtet“ 22 Migrantinnenorganisationen werden gar nach wie vor kaum wahrgenommen 23 Die Tatsache, dass migrationsrelevante Daten und Fakten jenseits des statistischen Bereichs nicht archiviert werden und dadurch Quellen verloren gehen, ist eine direkte Folge dieser fehlenden Wahrnehmung und Anerkennung einer gesellschaftlichen Realität So gibt es neben informellen Netzwerken auch offiziell registrierte Migrantenvereine Diese können entweder im Provinzregister oder in unterschiedlichen Gemeinderegistern eingetragen werden, dort meist allgemein unter der Rubrik „Vereine“ Diese unterschiedlichen Ansätze erschweren eine lückenlose Darstellung, zumal auch die zuständigen Landesbehörden nicht an einem vollständigen Überblick über die Netzwerke von Eingewanderten interessiert zu sein scheinen – eine Problemstellung, mit der die Migrationsforschung in Österreich24 ebenso konfrontiert war und ist wie in Deutschland 25 Für die Historikerinnen und Historiker erweist sich aus diesem Grund der Rückgriff auf Oral History als umso bedeutender,26 was auch auf den vorliegenden Beitrag zutrifft 3. Geschichte der Migration in Südtirol im 20. Jahrhundert – ein Überblick 3 1 Die Geschichte Südtirols ist (auch) eine Migrationsgeschichte Migration ist eine „anthropologische Konstante“,27 auch und gerade für den ländlichen Raum,28 und nicht zuletzt für die Südtiroler Geschichte der vergangenen 150 Jahre, wenn man an die Bozner Textilfabrik Mitte des 19  Jahrhunderts, an die Schwabenkinder, die Erste Option, die faschistischen Semirurali, die (zweite) Option von 1939 oder 22

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Verena Wisthaler, Integration und politische Teilnahme: Südtiroler Gemeinden zwischen rechtlichem Handlungsspielraum und praktischer Umsetzung, in: Elisabeth Alber / Carolin Zwilling (Hgg ), Gemeinden im Europäischen Mehrebenensystem: Herausforderungen im 21  Jahrhundert, Baden-Baden 2014, 353–374, 374 Harald Waldrauch / Karin Sohler, Migrantenorganisationen in der Großstadt Entstehung, Strukturen und Aktivitäten am Beispiel Wiens (Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung 14), Frankfurt a M  / New York 2004, 25 Ebd , 50–53 Vgl Dirk Halm, Potenzial von Migrantenorganisationen als integrationspolitische Akteure, in: Imis-Beiträge 47/2015, 37–67, 42 Vgl Institut für Zeitgeschichte Universität Innsbruck, Migrationsarchiv, zit nach https://zeitge schichte-suedtirolmigration uibk ac at/omeka/, 15 5 2020 Rupnow, Manche Menschen, 243 Vgl Gudrun Kirchhoff / Claudia Bolte, Migration und Integration im ländlichen Raum Besonderheiten und zukünftige Herausforderungen, in: Rita Garstenauer / Anne Unterwurzacher (Hgg ), Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen: Mobilität und Migration im ländlichen Raum seit 1945 ( Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2014), Innsbruck 2015, 185–198

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die Heimatfernen denkt 29 Die großen Wanderbewegungen in der Region basierten durchwegs auf mehrschichtigen Voraussetzungen Rund zwei Drittel der Bevölkerung waren bis in die 1950er-Jahre im Primärsektor tätig, der immer weniger Perspektiven bot Durch Rückgang der Kindersterblichkeit bei hoher Geburtenzahl entstand zunehmend Abwanderungsdruck Zugleich wirkte die Möglichkeit, in den neuen Industriegebieten Merans und Bozens eine Arbeit zu finden, verbunden mit einer entsprechenden Wohnbaupolitik, auch und vor allem anziehend auf Arbeitssuchende außerhalb der Provinz Der Faschismus bot in diesem Fall italienischen Zuwandernden mittels sozialem Wohnbau positive Rahmenbedingungen, während die wachsende deutsch- und ladinischsprachige Landbevölkerung (die von den Begünstigungen ausgeschlossen blieb) durch staatliche Restriktionen sowie auch aufgrund fehlender Facharbeiterausbildung und mangelnder Italienischkenntnisse nach anderen Perspektiven suchte Doch nicht nur Südtirol als Provinz, auch Italien als Staat weist bis in die 1970erJahre hinein einen negativen Wanderungssaldo auf Tatsächlich ist das erste Anwerbeland, aus dem Arbeitskräfte nach Westdeutschland geholt werden, im Dezember 1955 der Stiefelstaat selbst Für Italien entsprach diese Vereinbarung bereits einer gewissen historischen Kontinuität, knüpfte sie doch an die Abkommen von 1919 (mit Frankreich), 1937 (mit NS-Deutschland) und 1946 (erneut mit Frankreich) an Österreich und vor allem das Bundesland Tirol wiederum federn lange Zeit ihre eigene Wirtschaftsmigration in die BRD und in die Schweiz durch Arbeitsbewilligungen für Südtiroler ab So holt der nördliche Nachbar schon 1961 1 400 Personen im Baugewerbe, darunter 494 aus Südtirol, 546 aus dem Trentino und weitere 156 aus Venetien und der Lombardei 30 Und 1962 bewilligt Tirol 6 039 Beschäftigungsgenehmigungsanträge, darunter 3 871 für italienische Staatsbürgerinnen, von denen die meisten aus Südtirol kamen 31 Ab Mitte der 1960er-Jahre sinkt die Zahl der Arbeitsbewilligungen für Italiener als Folge der Anwerbeabkommen, die Österreich mit der Türkei und Jugoslawien abgeschlossen hatte, und beträgt 1970 noch 1 183 32 Und während die Alpenrepublik 1973 mit rund siebeneinhalb Millionen Einwohnern 230 000 ausländische Beschäftigte (ca drei Prozent) aufweist (davon 78,5 Prozent aus Jugoslawien),33 erreicht Italien denselben Prozentsatz an Migrantinnen erst zu Beginn der 2000er-Jahre

29 30

31 32 33

Eva Pfanzelter, Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland, in: Kurt Gritsch (Hg ), Vom Kommen und Gehen Migration in Südtirol, Bozen 2016, 237–241, 238 Gerhard Hetfleisch, „… und es kommen Menschen “ Zuwanderung und Arbeitsmigration in Österreich und Tirol seit 1945, in: Roberta Medda-Windischer / Gerhard Hetfleisch / Maren Meyer (Hgg ), Migration in Südtirol und Tirol Analysen und multidisziplinäre Perspektiven (EURAC research), Bozen 2011, 59–76, 66 Hetfleisch, „… und es kommen Menschen“, 67 Ebd Ebd , 64

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3 2 Transformationsprozesse der Migration im Kontext von Faschismus, Option und Nachkriegszeit: die Bedeutung der Jahre 1922, 1939, 1945, 1955/57, 1972 und 1993 Für Südtirols Migrationsgeschichte des 20  Jahrhunderts lassen sich sechs bedeutende Jahreszahlen feststellen Es sind dies 1922, 1939, 1945, 1955/57, 1972 und 1993 1922 gelangt Benito Mussolini an die Macht, die Industrialisierung der Provinz Bozen und die Zuwanderung zehntausender italienischer Arbeiter nimmt ihren Ausgang 1939 kommt es zum Optionsabkommen zwischen Mussolini und Hitler, wodurch rund 75 000 Südtirolerinnen deutscher und ladinischer Sprache nach Norden auswandern 1945 gelangen italienische Kriegsflüchtlinge nach Südtirol 1955 schließt die BRD ein Anwerbeabkommen mit Italien, 1957 erfolgt die Gründung der EWG, was ab 1958 zu wesentlichen Mobilitätserleichterungen führt, die Italien ausdrücklich als Gegenleistung für den Beitritt zum gemeinsamen Markt gefordert hatte 34 1972 tritt das zweite Autonomiestatut in Kraft, wodurch eine weitreichende Selbstverwaltung nun vor allem den deutsch- und ladinischsprachigen Menschen den Zugang in den tertiären Sektor ermöglicht Und am 1 November 1993 wird schließlich in Maastricht die Europäische Union gegründet und die Reisefreiheit darin verankert Trotzdem handelt es sich bei all diesen Daten weniger um Zäsuren als um den Beginn von Prozessen, die sowohl die Südtiroler Wirtschaft als auch die Gesellschaft maßgeblich geprägt haben Benito Mussolinis Südtirol-Politik ab 1922 lässt sich mit den Schlagworten Industrialisierung und Italienisierung charakterisieren Sie fördert Arbeitsmigration, denn um genug Fachkräfte für die neuen Industrieanlagen in Meran und Bozen zu bekommen, ist Zuwanderung aus italienischen Provinzen notwendig Gleichzeitig machen sich Menschen aus dem Piemont, aus Ligurien, der Lombardei, der Emilia Romagna und vor allem aus dem Veneto und Trentino auf die Suche nach besseren Perspektiven 35 Rom lenkt diese Mobilität durch gezielte Anreize mit dem Ziel, das „Alto Adige“ zu einer mehrheitlich italienisch bewohnten Region zu machen Zwar gelingt dies nicht, dennoch verändert sich die Zusammensetzung der Südtiroler Gesellschaft entscheidend: 1921 werden 193 271 Deutschsprachige gezählt, was 75,9 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht, und 27 048 Italiener (10,6 Prozent) 36 Im Januar 1946 zählt Südtirol 164 480 Deutschsprachige, 11 583 Ladiner und 89 878 Italiener mit festem Wohnsitz sowie 22 516 Binnenflüchtlinge 37 Über Faschismus und Industrialisierung

34 35 36 37

Vgl Klaus Dräger, Personenfreizügigkeit und neoliberale EU, Vortrag, 9 12 2016, zit nach https:// www euromarches org/BuKo-D/2016-12-07_Draeger-Arbeitnehmerfreizuegigkeit pdf, 15 5 2020 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 153 ASTAT, Südtirol in Zahlen, 1988, zit nach https://astat provinz bz it/downloads/Siz_1988-dt pdf, 15 5 2020, S 11 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 153

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bis zur Arbeitsmigration der Nachkriegszeit steigt die Zahl der Italiener in der Provinz Bozen bis 1961 auf 128 271 bzw 34,3 Prozent der Gesamtbevölkerung 38 1939 ist das Jahr des Hitler-Mussolini-Abkommens In dieser sogenannten Option können die deutsch- und ladinischsprachigen Bewohner zwischen dem Verbleib in Italien als italienische Staatsbürger und der Auswanderung durch Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft wählen 86 Prozent der Südtiroler, zirka 210 000 Personen, votieren für das Deutsche Reich, rund 75 000 wandern aus Mit dem Zweiten Weltkrieg kommt diese Migrationsbewegung, die lange kulturpolitisch gedeutet wurde (bleiben und assimiliert werden vs auswandern und die deutsche Kultur bewahren) und heute stärker vor dem Hintergrund von Arbeitsmigration interpretiert wird,39 schließlich zum Erliegen Die Option kann als wirtschaftlich motivierte Abwanderung in einem politischen Rahmen verstanden werden, denn ausgewandert waren vor allem Menschen, die damit die Hoffnung auf bessere Perspektiven verbunden hatten Ganz ähnliche Motive hatten in den späten 1920er- und 1930er-Jahren zur Einwanderung von Italienern in die Provinz geführt Nach 1945 beginnt die als Rückoption bekannt gewordene teilweise Rückkehr der ausgewanderten Optantinnen Von den 75 000 Ausgewanderten kehrt rund ein Drittel zurück, da die Perspektiven im Ursprungsland, im emotional als Heimat empfundenen Südtirol, weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich attraktiv bzw im Ausland vielfach besser sind 40 Rückkehrwillige teilen das Schicksal anderer Flüchtlinge in dieser Zeit, manchmal, wie im Aufnahmezentrum Leifers, sogar dieselben Kasernen 41 Bei den 1946 gezählten 22 516 italienischen Flüchtlingen in Südtirol42 handelte es sich v a um Menschen aus Istrien und Dalmatien 1947, als sich die noch in Jugoslawien verbliebenen Italienerinnen ähnlich wie die Südtiroler acht Jahre zuvor einer Option unterziehen, also zwischen dem jugoslawischen und dem italienischen Pass wählen mussten, sollten noch viele weitere Tausend Flüchtlinge Jugoslawien in Richtung Italien verlassen Rom verrechnete indes mit dem Wert des zurückgelassenen Eigentums einen Teil seiner Reparationszahlungen an Belgrad, freilich ohne den Geflohenen später etwas zurückzuerstatten – denjenigen, die zwischen 1948 und 1954 in der Kaserne von Leifers untergekommen waren, wurde Mitte der 1960er-Jahre sogar rückwirkend noch die Miete dafür in Rechnung gestellt 43

38 39 40 41 42 43

ASTAT tab Nr 9, 8/2017, Demographische Daten für Südtirol 2016, 58 Vgl Pfanzelter, Option Vgl Ebd ; Elisa Heinrich / Sabine Merler, „Ich bin eine begeisterte Südtirolerin!“, in: Kurt Gritsch (Hg ), Vom Kommen und Gehen Migration in Südtirol, Bozen 2016, 32–34 Mezzalira, I profughi giuliano-dalmati in Alto Adige, 68 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 153 Riccardo Della Sbarba, in: FF – Südtiroler Illustrierte 19 (1995), zit nach Gesellschaft für bedrohte Völker, http://www gfbv it/3dossier/flucht/2kap html, 15 5 2020

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Direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Mobilität in Südtirol ein politisch aufgeladenes Thema zwischen deutschsprachiger Mehrheit und italienischer Minderheit in einer gespaltenen Gesellschaft, die einer Verwurzelung wenig Möglichkeit bot 44 Während erstere nun nach der langen Unterdrückung durch Mussolinis Faschismus vehement die eigenen kulturellen, sprachlichen und politischen Rechte einforderte und die Kontrolle über die Provinz anstrebte, hielt letztere an den im 20  Jahrhundert eroberten Privilegien fest und erklärte sie für unverhandelbar 45 Ökonomisch erschwerend kam hinzu, dass noch im ersten Nachkriegsjahrzehnt rund zwei Drittel der Südtiroler im Primärsektor tätig waren, der aber kontinuierlich weniger Menschen ein Auskommen verschaffen konnte, während bei den Italienerinnen ein Drittel in der (meist öffentlichen) Verwaltung und knapp zwei Drittel in der Industrie arbeiteten 46 In diesem sozioökonomischen und soziopolitischen Umfeld konnte eine erneute italienische Binnenwanderung, die bis Mitte der 1950er-Jahre anhielt, kaum als Arbeitsmigration gesehen werden, sondern musste fast zwangsläufig dem politischen Framing, der Rahmenerzählung von der kulturell bedrohten deutschsprachigen Minderheit, zum Opfer fallen, insbesondere da im selben Zeitraum trotz Tausender Rückoptanten erneut Deutschsprachige und Ladiner nach Norden wanderten Ein Kernelement der Erzählung war die „51-Prozent-Politik“,47 politische Überlegungen, die Mehrheitsverhältnisse in Südtirol zugunsten der italienischen Sprachgruppe zu verändern Dies hätte nämlich im Falle der Anwendung des sogenannten Selbstbestimmungsrechts dazu geführt, dass eine Mehrheit für Italien zu erwarten gewesen wäre War die durch mehrere Zehntausend italienische Arbeitsmigranten in der Zeit der faschistischen Industrialisierung Südtirols entstandene Angst der deutschsprachigen Bevölkerung vor politischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Marginalisierung durchaus nicht unbegründet, so wurde in der Verbalisierung der Verlustängste mitunter deutlich über das Ziel hinausgeschossen Dass sich die deutschsprachigen Südtirolerinnen wegen der italienischen Einwanderung nach 1945 nämlich auf einem „Todesmarsch“48 befänden, wie Kanonikus Michael Gamper am 28 Oktober 1953 in der Tageszeitung Dolomiten behauptete, ignorierte nicht nur den historischen Kontext der realen Todesmärsche in der NS-Zeit, sondern war auch sonst nicht von den Fakten gedeckt Hans Karl Peterlini:

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Vgl Piff, Migrationsbewegungen, 380 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 155 Mezzalira, Der „ethnisch fremde Süden“, 210 Vgl Rolf Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947–1969 Darstellung in drei Bänden (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 6–8), Bozen 1999, 233 f Rolf Steininger, Streiflichter des 20  Jahrhunderts Zeitungsartikel von 1986 bis 2011, Innsbruck 2011, 183

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Dieses Sprachbild ging weit über die berechtigte Angst vor sozialer, wirtschaftlicher, kultureller Bedrängnis hinaus, es handelte von einer real nicht beabsichtigten physischen Vernichtung 49

Zudem war Rom unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht an einer weiteren Zuwanderung nach Bozen interessiert, im Gegenteil Am 29 Juli 1946 gab der italienische Ministerpräsident Anweisungen, den Zustrom italienischer Flüchtlinge aus dem dalmatinischen Raum nach Südtirol zu unterbinden 50 Rom wollte, so Giorgio Mezzalira, angesichts einer in der ethnischen Frage sensibilisierten und hochaktiven SVP nicht noch mehr internationale Aufmerksamkeit auf die Südtirol-Frage lenken Aber auch in den weiteren Jahren verfolgte die italienische Regierung keine ernsthafte Majorisierungspolitik Zwar existierten durchaus entsprechende Überlegungen, über freiwillige italienische Zuwanderung („immigrazione spontanea italiana“), Mischehen („matrimoni misti“) und teilweise deutschsprachige Abwanderung in andere italienische Regionen oder ins Ausland („in una parziale emigrazione di altoatesini altrove, in Italia o all’estero“) schleichend eine italienische Mehrheit in Südtirol zu erreichen Doch selbst wenn solche Ideen sogar von Diplomaten kolportiert wurden (so vom italienischen Generalkonsul in München, Luigi Silvestrelli, 1954 und vom Generalkonsul in Innsbruck, Mario Paulucci, 1956), so verhinderten doch der begrenzte politische Einfluss dieser Kräfte und die internationale Aufmerksamkeit für die Südtirol-Frage eine ernsthafte Umsetzung 51 Umgekehrt hätte Italien selbst bei vorhandenem politischen Willen der Forderung der SVP nach einer limitierten Zuwanderung nicht entsprechen können, ohne mit dem Verfassungsrecht auf freien Personenverkehr in Konflikt zu geraten 52 So war die Zahl der italienischen Eingewanderten nach Südtirol zwischen 1945 und 1955 zwar beachtlich, ein politischer Willen zu einer erneuten Italienisierung ist jedoch umstritten 53 Dass die physische oft eine soziale Mobilität war, die deshalb weit stärker durch ökonomische Faktoren als durch staatliche Regelungen bedingt war,54 zeigt auch der Umstand, dass der bis 1955 trotz Abwanderung deutschsprachiger Südtirolerinnen gesamthaft positive Wanderungssaldo der Provinz Bozen dann stagniert und sich ab 1957 in einen negativen verwandelt 55 Die Industrie bietet den Italienern nun weniger Aufnahmemöglichkeiten, und die Migration der Deutschsprachigen aus dem Primär49 50 51 52 53 54 55

Hans Karl Peterlini, Mit Freud‘ durch Südtirol Psychoanalyse der Tiroler Freiheitskampfkultur mit Fokus auf die Südtirol-Anschläge der 1960er Jahre, in: Georg Grote / Barbara Siller, Südtirolismen Erinnerungskulturen – Gegenwartsreflexionen – Zukunftsvisionen, Innsbruck 2011, 85–100, 88 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 163 Ebd , 178 Ebd Ebd , 177 Vgl Mezzalira, Der „ethnisch fremde Süden“, 201–220 Mezzalira, Una seconda italianizzazione forzata?, 177

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sektor (die Landwirtschaft wird in den 1950er-Jahren zunehmend maschinisiert und bietet immer weniger Arbeitsplätze) ins deutschsprachige Ausland, wo Arbeitskräfte in Industrie und Bergbau gesucht sind, nimmt mit dem deutsch-italienischen Abkommen von Dezember 1955 und der Gründung der EWG und den von ihr geschaffenen Mobilitätserleichterungen ab 1957 immer mehr an Fahrt auf Während innerhalb der deutschsprachigen Gruppe die Auswanderung der Südtiroler schon früh als Arbeitsmigration wahrgenommen wurde,56 deutete man an gleicher Stelle die italienische Einwanderung – teilweise bis in die Gegenwart – vor allem im Kontext der befürchteten Italienisierung Südtirols und zu wenig unter dem Aspekt von Migration und Wirtschaftsmigration 57 3 3 Südtirols Migrationsbewegungen im internationalen Kontext Doch wie sind nun die großen Migrationsbewegungen Südtirols im 20  Jahrhundert im internationalen Vergleich zu interpretieren? Die Südtiroler Migration der späten 1940er-, der 1950er- und 1960er-Jahre weist – bei all ihren festzustellenden Besonderheiten – mehr Kontinuitäten denn Brüche auf Ein Wesensmerkmal von Wanderungen ist die Suche nach besseren Perspektiven, nicht zuletzt ökonomischer Natur Südtirol war in den 1930ern und 1940ern (und noch lange danach) ein relativ armes Land Aber auch die politischen Rahmenbedingungen im Kontext der großen Totalitarismen weisen Ähnlichkeiten mit anderen Gebieten Europas auf – Umsiedelungsprogramme wie jenes der Option existierten in Jugoslawien bezüglich der Abwanderung von Albanerinnen aus dem Kosovo ebenso wie in der Sowjetunion hinsichtlich der Umsiedelung der Krim-Tataren Die wirtschaftlichen Grundkonstanten von Migration wiederum werden sichtbar, wenn man die Südtiroler Migrationsgeschichte mit jener des nördlichen Nachbarn Tirol vergleicht Denn arbeitsbedingte Mobilität spielte auf beiden Seiten des Brenners eine wichtige Rolle Auch aus Tirol zog es Arbeitssuchende nach Deutschland oder in die Schweiz, so, wie auch viele Südtirolerinnen Allerdings füllten Menschen südlich des Brenners auch die durch Abwanderung entstandenen Leerstellen im Tiroler Arbeitsmarkt, während umgekehrt Einwanderung aus italienischen Regionen dafür sorgte, dass manche Bereiche des Südtiroler Arbeitsmarktes florierten Der Unterschied liegt eher darin, dass die (deutschsprachigen) Südtiroler vor 1972 kaum Zugang zum

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Sabine Falch, Heimatfern Die Südtiroler Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 17), Innsbruck 2002 Mezzalira, L’immigrazione italiana in Alto Adige; ders , Rezension: Eva Pfanzelter / Dirk Rupnow (Hgg ), Einheimisch, zweiheimisch, mehrheimisch Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Bozen 2017 bzw Kurt Gritsch, Vom Kommen und Gehen Migration in Südtirol, Bozen 2016, in: Geschichte und Region / Storia e regione 1/2018, 253–256, 253

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Tertiärsektor fanden und auf dem Sekundärsektor dem österreichischen Baugewerbe oder dem deutschen Bergbau aus Einkommensgründen, aber auch aufgrund mangelnder Ausbildungsmöglichkeiten zum Facharbeiter innerhalb Südtirols den Vorzug gegenüber der italienischen Industrie in Meran, Bozen und Brixen gaben Südtirol hat dabei eine andere, vor allem zeitlich verschobene, Entwicklung genommen Dies hat auf überregionaler Ebene seine Gründe darin, dass Italien im Unterschied zu Deutschland oder Österreich ein jüngeres Einwanderungsland ist, das erst in den 1980er-Jahren vom klassischen Auswanderungsland zum Einwanderungsland wurde 58 Während die Bundesrepublik Deutschland zwischen Ende 1955 und 12  Oktober 1968 neun Anwerbeabkommen (mit Spanien, Portugal, Griechenland, Marokko, Tunesien, Südkorea, der Türkei, Jugoslawien und, gleich zu Beginn, mit Italien selbst) und Österreich drei schloss (1962 mit Spanien, 1964 mit der Türkei und zwei Jahre später mit Jugoslawien), war Italien von dieser Arbeitsmigration nicht als Zuwanderungs-, sondern als Abwanderungsland betroffen Und Südtirol stellte als nördlichste Provinz hier keine Ausnahme dar: Auch wenn die Abwanderung weniger hoch war, war der Wanderungssaldo doch bis 1992 negativ, die Gesamtbevölkerung wuchs nur aufgrund der hohen Geburtenrate an Bis heute ist die vor allem ausbildungs- und arbeitsbedingte Südtiroler Mobilität ungebrochen: 2018 verließen immerhin 2 541 Menschen die Provinz, auch wenn der Wanderungssaldo positiv war 59 Rund zwei Drittel aller Ausgewanderten zogen zwischen Mitte der 1950er- und Ende der 1980er-Jahre ins deutschsprachige Ausland (26,3 Prozent in die BRD, 20,9 Prozent in die Schweiz, 11,3 Prozent nach Österreich) 60 Durch das Anwerbeabkommen mit Italien Ende 1955 und vertieft durch die Liberalisierung der Mobilität seitens der EWG ab 1958, wurde die BRD zum Zielland Nummer eins für Südtirolerinnen, da italienische Staatsbürger von nun an viel einfacher und unabhängig von der staatlichen Rekrutierung durch deutsche Anwerbeabkommen einreisen und Arbeit finden konnten 61 Diese Abwanderung wurde vor dem Hintergrund des Konzepts der Volksgruppen (Deutsche, Italiener, Ladiner) und der damit verbundenen Angst unter Deutschsprachigen, dass ihre Gruppe gegenüber den Italienerinnen im Lande schrumpfen könnte, politisch mitunter sehr kontrovers diskutiert So erklärte Südtirols Landeshauptmann 58

59 60 61

Verena Wisthaler, Immigration in Südtirol: Regionale Integrationspolitiken und lokale Entscheidungsprozesse, in: Elisabeth Alber / Alice Engl / Günther Pallaver (Hgg ), Politika 15 Südtiroler Jahrbuch für Politik, Bozen/Baden-Baden 2015, 75–104, zit nach http://www eurac edu/de/ research/autonomies/minrig/publications/Documents/Immigration_in_Sudtirol_Regionale_ Integr pdf, 15 5 2020, S 1–36 (Seitenangaben des PDF-Dokuments), 1 ASTAT info Nr   26 4/2019, Bevölkerungsentwicklung 2018, 6 (als Download verfügbar unter https://astat provinz bz it/de/aktuelles-publikationen-info asp?news_action=4&news_artic le_id=625980, 15 5 2020) Rainer Girardi, Geschichtlicher Abriss und demographische Daten zur Migration in Südtirol, in: Roberta Medda-Windischer / Gerhard Hetfleisch  / Maren Meyer (Hgg ), Migration in Südtirol und Tirol Analysen und multidisziplinäre Perspektiven (EURAC research), Bozen 2011, 77–94, 79 Hetfleisch, Arbeitsmigration, 104

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Silvius Magnago bei der Sitzung des aus Politikern (in diesem Fall tatsächlich nur Männer, ergänzt um die Beamtin Viktoria Stadlmayer) Nord- und Südtirols zusammengesetzten informellen „Kontaktkomitees“ in Brixen am 9 Januar 1971, eine Menge von (deutschsprachigen) Arbeitern wandere ins Ausland ab, obwohl es eine Reihe offener Stellen in Bozen gebe, z B beim Autobauer Lancia Entscheidend dafür seien einerseits das niedrige Lohnniveau und andererseits die fehlenden Wohnungen 62 Assessor (Landesrat) Franz Spögler teilte Magnagos Besorgnis und kritisierte, dass daran auch die Tageszeitung Dolomiten beteiligt sei, da diese sämtliche betreffende Inserate aufnehme 63 Einig waren sich Magnago und Spögler noch in einem weiteren Punkt: Ein Grund scheint auch z B im Hotelgewerbe zu sein, daß dort sehr unsoziale Verhältnisse herrschen [so Magnago Darauf Spögler:] Ja, unmögliche Verhältnisse, die Leute müssen 12–16 Stunden arbeiten Dabei sind in Italien 43 Wochenstunden gesetzlich festgelegt 64

Demgegenüber meinte SVP-Landessekretär Josef Atz, dass die 8 000–9 000 „Heimatfernen“ weniger aus Verdienstgründen im Ausland blieben (15 Monatsgehälter in Italien vs 12 in Deutschland) denn aus sozialen und vor allem „wegen der fehlenden Wohnungen “65 Wer in den Ballungszentren des Nordens gearbeitet habe, wolle nicht mehr in die Südtiroler Bergtäler zurückkehren, sondern in die Stadt – doch gerade in Bozen war Wohnraum knapp und teuer Deshalb müsse, so Atz, auch in Südtirol eine Bausparkasse eingeführt werden mit dem Mindestziel, dass die Südtirolerinnen ihre in Österreich und Deutschland geschlossenen Bausparverträge nach Italien mitbringen könnten 66 Der Abwanderungsaspekt bleibt also auch in den 1970er-Jahren noch ein Thema Doch mit dem Ende des Kalten Kriegs verändert sich die Lage grundlegend Der Fall der osteuropäischen Regime gibt auch der Provinz Bozen hinsichtlich internationaler Zuwanderung einen Schub Da diese jedoch meist in die Städte Bozen und Meran erfolgt, die eine große bis mehrheitliche italienische Bevölkerung haben, wird diese Entwicklung in der deutschsprachigen Öffentlichkeit als etwas „Italienisches“ wahrgenommen Ins Bewusstsein der deutschen Sprachgruppe tritt die Thematik in den aus-

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Am 9 1 1971 in Brixen nahmen von Südtiroler Seite Landeshauptmann Silvius Magnago, Senator Peter Brugger, Assessor Anton Zelger, Assessor Franz Spögler und Landessekretär Josef Atz teil, von Nordtirol Landeshauptmann Eduard Wallnöfer, Landesamtsdirektor Rudolf Kathrein, Landesrat Rupert Zechtl, Heinz Mader, Intendant Johann Hauser und Viktoria Stadlmayer daran teil Protokoll im Österreichischen Staatsarchiv unter ST; Kontaktkomitee Nord-Südtirol; Protokoll der Sitzung vom 9 1 1971, in: ÖStA/AdR/BMfAA/II-Pol 71/St/Geschäftszahl 106 594–5 (Pol) 71, in: Geschäftszeichen St2d/2/Grundzahl 105 133–5/71, S 3 Kontaktkomitee, 5 Ebd Ebd , 4 Ebd

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gehenden 1980er-Jahren, als „Marocchini“, vorwiegend aus dem Maghreb stammende männliche Migranten, in die Täler ziehen und dort als Erntearbeiter oder Wanderhändler („Teppichhändler“) arbeiten Dass die zahlenmäßig größte Zuwanderungsgruppe bis in die 2000er-Jahre jene der Deutschen ist, fällt im Tourismusland Südtirol, dessen wichtigste Zielgruppe bis heute Deutsche sind, weniger auf Nach 1991 setzt Zuwanderung von zuerst saisonalen Arbeitskräften aus Polen, der (damaligen) Tschechoslowakei und aus Ungarn, insbesondere in die Landwirtschaft, ein, zunehmend werden aber auch saisonale und schließlich Jahresstellen im Gastgewerbe von osteuropäischen Angestellten besetzt Zugleich erreichen erstmals Asylbewerber die Provinz So finden Flüchtlinge aus dem Jugoslawien-Krieg Unterkunft in der ehemaligen Militärkaserne in Mals im Vinschgau, während politische Flüchtlinge aus Albanien in Welsberg im Pustertal untergebracht werden Ab den 2000er-Jahren werden auch in Südtirol im Zuge sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse („Überalterung“) vermehrt Arbeitskräfte im Gesundheitswesen gesucht Rumänische und peruanische Krankenschwestern, die „badante“ (Pflegerin) aus der Ukraine oder der polnische Altenpfleger sind im Kontext der Reisefreiheit innerhalb der Europäischen Union bzw aufgrund von Freihandelsabkommen und Visa-Erleichterungen der EU mit zahlreichen Staaten nun keine Seltenheit mehr Die Zunahme von Einwanderung führt, gepaart mit den damit verbundenen (wenngleich keineswegs neuen) Problemen wie Arbeits- und Wohnungsmarkt, anfangs der 2000er-Jahre zu einem ersten markanten Anstieg von Migrantinnen-Vereinen Nicht selten handelt es sich dabei um interkulturelle Vereinigungen, in denen auch Einheimische mitwirken, um den „neuen“ Südtirolern die Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern Hinsichtlich der Integration in die Mehrheitsgesellschaft gibt es jedoch einen Unterschied zwischen Migration nach Italien oder nach Südtirol, denn wer in die Provinz Bozen migriert, wandert nicht in eine, sondern in zwei parallel existierende Gesellschaften ein Die nationale italienische macht in Südtirol rund ein Viertel der Bevölkerung aus, während die regionale deutschsprachige Mehrheitsgesellschaft mehr als zwei Drittel der Menschen umfasst Dadurch stellt Migration in Südtirol das Autonomiestatut von 1972, das v a auf den zwei Pfeilern Zweisprachigkeit in allen öffentlichen Bereichen und ethnischen Proporz nach „Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung“ beruht, vor neue Herausforderungen Wie sollte beispielsweise die Sprachgruppenzuordnung von Menschen mit fremden Sprachen erfolgen? Da das Autonomie-Modell aber weder Ausnahmen noch Mehrsprachigkeit vorsieht, bemühen sich die Sprachgruppen nun zunehmend um die Zugewanderten mit dem Ziel, die „neuen Südtirolerinnen“ der deutschen bzw italienischen Ethnie zuzuführen, damit sich die Größenverhältnisse innerhalb der Südtiroler Sprachlandschaft (und damit verbunden die Machtverhältnisse) nicht verändern Weil Südtirol erst 1992 einen positiven Wanderungssaldo erreicht, entstehen die meisten internationalen Migrantenvereine erst in den 1990ern und frühen 2000ern

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Abgesehen von den unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten italienischen Vereinen gibt es lange Zeit keine migrantischen Vereinigungen Ausnahmen reichen zwar zurück in die 1980er-Jahre, doch meistens handelte es sich dabei um Initiativen, die von Vertretungen der Mehrheitsgesellschaft gegründet worden waren Ein Beispiel hierfür ist der am 28 Dezember 1988 von zwölf Freiwilligen um den linken Bozner Gewerkschafter Salvatore Falcomatà gegründete interethnische Verein Nelson Mandela, der sich um obdach- und arbeitslose Menschen aus Afrika kümmerte Es war die erste Organisation, die sich politisch bis auf Ministerialebene für Eingewanderte engagierte, gegen Rassismus stellte und für Begegnungsmöglichkeiten der verschiedenen Kulturen einsetzte 67 Neben der Kontaktanbahnung zwischen Einheimischen und Eingewanderten unterstützte Nelson Mandela Migrantinnen bei der Arbeitsvermittlung 1992 wurde eine Zweigstelle in Meran eröffnet, die ebenfalls mit freiwilligen Helfern besetzt war Der Verein, der zeitweise über rund 340 Mitglieder verfügte und neben der Eigenfinanzierung auch von der Gemeinde Bozen und dem Land Südtirol unterstützt wurde, schloss 1996 seine Tore Drei Jahre später fand ein Neustart statt, wenig später löste sich Nelson Mandela jedoch endgültig auf 68 Dies ist eine Gemeinsamkeit vieler Organisationen, die oft mit großem Idealismus und basierend auf Freiwilligeneinsatz gegründet worden sind Vor allem im neuen Jahrtausend teilten mehrere von Eingewanderten ins Leben gerufenen Vereinigungen dieses Schicksal Beispiele wie die Vinschgauer interethnische Organisation ZuHaCa zeigen, dass die Tätigkeit häufig nach nur wenigen Jahren bereits wieder eingestellt wurde – ZuHaCa hat gar nur von 2008 bis 2010 existiert Aufgrund der Ehrenamtlichkeit steht und fällt der Fortbestand des Vereins meist mit dem Idealismus und der personellen wie finanziellen Verfügbarkeit eines oder bestenfalls sehr weniger Menschen Zu den wenigen Ausnahmen, die mehr als ein Jahrzehnt überdauert haben, gehören u a die in Bozen tätigen Frauenberatungsstellen Rete Donne e Lavoro und die Donne Nissà Frauen, die beide seit den frühen 1990er-Jahren bestehen Für die 2010er-Jahre lässt sich konstatieren, dass die allermeisten Initiativen, selbst wenn es für sie kaum schriftliche Quellen gibt, wenigstens als Vereinigung in Gemeinde- oder Provinzregister eingetragen wurden Dadurch ist es für die Forschung zumindest möglich, ihre Spuren rudimentär nachzuzeichnen Wie viele migrantische Netzwerke es aber seit den 1980er-Jahren genau gegeben hat, lässt sich nur noch ansatzweise rekonstruieren

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Vgl Salvatore Falcomatà, Interview, 11 5 2015 Das Video kann mittels Zugangsdaten auf der Homepage des Migrationsarchivs des Instituts für Zeitgeschichte Innsbruck eingesehen werden [http:// migrationsarchiv2016 stage suti it/admin/items/show/49] (Zugriff: 19 2 2018) Ebd

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4. Migrationsvereine in Südtirol69 4 1 Historischer Kontext und Definition Migrationsvereine sind eine typische Begleiterscheinung der globalen physischen und sozialen Mobilität So zeigen Beispiele aus dem Kairo der ersten Hälfte des 20  Jahrhunderts, dass Wanderung vom Land in die Stadt zu einer Vielzahl an Migrantenvereinen führt In Kairo sind drei Generationen später aus den meisten dieser Vereine soziale Institutionen geworden, die als „Kristallisationspunkt für multifunktionale Netzwerke“ Dienstleistungen für Mitglieder anbieten und sich zugleich auch als Bewahrer ländlicher Kultur verstehen 70 Die sozioökonomischen Möglichkeiten der Migrantinnen stehen dabei in Proportion zu den Gründungen: Je ärmer die Wandernden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Vereinigung gründen, um sich gegenseitig zu unterstützen Umgekehrt sind wohlhabende Menschen weniger auf soziale Kooperation angewiesen, weshalb sie seltener eine Migrationsvereinigung gründen Doch nicht nur die Frage persönlichen Wohlstands, sondern auch die Anzahl der Migranten aus demselben Abwanderungsland bzw im Ankunftsgebiet beeinflusst die Entstehung von Vereinen So steigt die Wahrscheinlichkeit der Gründung einer ethnonationalen Vereinigung, je mehr Menschen aus demselben Land ins selbe Zielgebiet übersiedeln Ist umgekehrt die physische Mobilität gering, sinkt die Chance, dass sich ein „Ausländerverein“ gründet ZuHaCa hat als interkulturelle Vereinigung in Schlanders nur zwei Jahre lang existiert, weil das Bedürfnis nach einer Anlaufstelle angesichts der niedrigen Anzahl von Ausländerinnen bei gleichzeitig hoher sozialer Integration (persönliche Beziehungen mit Menschen der Mehrheitsgesellschaft) nicht groß war Dies zeigt sich auch bei ethnonationalen Vereinen, wenn die Mobilität innerhalb eines ähnlichen Kulturkreises erfolgt So gibt es bis heute keinen deutschen Migrantenverein in Südtirol, obwohl Menschen aus der BRD lange die größte nationale Einwanderergruppe stellten und bis heute die zweitgrößte geblieben sind 71 Dass zugleich aber ein Österreicher-Verein existiert,72 zeigt, dass es auch Ausnahmen gibt Südtirol hatte von 1939 an mit Ausnahme der Rückoptanten rund 50 Jahre lang Abwanderung der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung, während die Zu69 70

71 72

Vgl Gritsch, Migrationsnetzwerke in Südtirol, 211–226 Cilja Harders  / Almuth Schauber, Netzwerke und informelle Partizipation zwischen Inklusion und Exklusion – die Beispiele Ägyptens und Ghanas, in: Hans-Joachim Lauth / Ulrike Liebert (Hgg ), Im Schatten demokratischer Legitimität: Informelle Institutionen und politische Partizipation im interkulturellen Demokratievergleich, Wiesbaden 1999, 165–184, 176 f ASTAT INFO Nr  30 4/2019, Ausländische Wohnbevölkerung 2018, 9 (als Download verfügbar unter https://astat provinz bz it/de/aktuelles-publikationen-info asp?news_action=4&news_ar ticle_id=626219, 15 5 2020) Vgl den Online-Auftritt des Österreich-Südtirol-Forums unter https://oesf eu/, 15 5 2020

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wanderung aus italienischen Provinzen stammte Terminologisch war diese eine Binnenmigration, auch wenn sie konkret vor Ort kulturell zu vergleichbaren Migrationserfahrungen führte wie die spätere Einwanderung nicht-italienischer Staatsbürger Für die Italienerinnen in Südtirol könnte man deshalb in Anlehnung an Robert Smith von einem „nationalen Transnationalismus“ sprechen: Fremdheitserfahrung in einer sprachlich anderen Nation, nämlich der alt-österreichischen, in Bezug auf das Migrationsregime aber innerhalb der nationalen Grenzen des Staates 73 Entsprechend war der Anteil an Ausländerinnen in Südtirol lange Jahre niedrig und lag zwischen 1961 und 1971 bei rund einem Prozent 74 „Ausländervereine“ existierten zu dieser Zeit nicht – zumindest nicht im terminologischen Sinne als Vereinigungen von Menschen ohne italienischen Pass Auf der semantischen Ebene allerdings gab es in Südtirol vergleichbare migrantische Netzwerke der eingewanderten Italiener Solche Kulturvereine wurden im Kontext der Arbeitsmigration auch in anderen Teilen Norditaliens gegründet, sardische oder kalabresische Vereine bzw Sozial- und Kulturzentren existieren in den Industriestädten Turin oder Bologna ebenso wie in Mailand In Südtirol kam hinzu, dass die Italienerinnen in ein für sie kulturell und sprachlich mehrheitlich fremdes Gebiet wanderten und, obwohl sie innerhalb des Staatsgebietes blieben, damit Migrationserfahrungen wie im Ausland machten Die älteste Vereinigung ist die am 27 Mai 1946 gegründete Unione Giuliano-Dalmata, die sich noch im Oktober in Comitato Alta Italia per la Venezia Giulia e Zara umbenennt, um 1947 zum Comitato Provinciale di Bolzano dell’Associazione Nazionale Venezia Giulia e Dalmazia zu werden – eine Initiative, die sich um die italienischen Flüchtlinge aus Istrien und Dalmatien kümmert 75 Für die späteren Jahrzehnte zu nennen sind die von Eingewanderten aus Friaul gegründete Associazione Il Fogolâr Furlan oder das Centro Ricreativo Culturale Calabresi in Bozen mit teilweise bereits mehr als 50-jähriger Geschichte 76 Weitere italienische Kulturvereine, insbesondere ab den 1970er-Jahren, waren die Associazione dei Rodigini (Einwanderer aus Venetien, aus Rovigo und Umgebung), die Associazione dei Sardi oder die Associazione degli Abruzzesi 77 In der Forschung werden Migrantinnenvereine häufig entlang der Ursprungsländer in herkunftshomogene und herkunftsheterogene Vereinigungen eingeteilt Dies ist für die Geschichte derjenigen Länder, die durch Anwerbeabkommen zu bestimmten Zeiten bestimmte ethnonationale Gruppen als Arbeitskräfte holten, wie die BRD, Öster73 74 75 76 77

Vgl Robert Smith, How durable and new is transnational life? Historical retrieval through local comparison, in: Diaspora: A Journal of Transnational Studies 9(2)/2000, 203–233 Rainer Girardi / Eva Pfanzelter, Migration in Zahlen: Ein- und Auswanderung in Südtirol in den amtlichen Statistiken, in: Pfanzelter/Rupnow (Hgg ), Einheimisch, zweiheimisch, mehrheimisch Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Bozen 2017, 43–66, 44 Mezzalira, I profughi giuliano-dalmati in Alto Adige, 67 bzw 69 Gritsch, Migration und Migrant_innennetzwerke in Südtirol, 276 Freundliche Auskunft von Giorgio Mezzalira, E-Mail an den Verfasser, 19 2 2020

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reich oder die Schweiz, zweckmäßig Allerdings sieht die Situation für Südtirol etwas anders aus Trotzdem lassen sich hinsichtlich der italienischen Einwanderung Kulturvereine regional betrachtet als herkunftshomogen klassifizieren, wie an den Beispielen der Unione Giuliano-Dalmata, der friaulischen Associazione Il Fogolâr Furlan oder am Centro Ricreativo Culturale Calabresi in Bozen sichtbar wird Da sich die physische Mobilität in der zunehmend globalisierten Welt seit dem Ende des Kalten Kriegs jedoch verändert hat, greift die auf staatlich gelenkten Wirtschaftsströmen basierende Terminologie für Südtirols jüngste Entwicklung zu kurz Begriffliche Ähnlichkeiten finden sich eher bei Untergruppen, zu denen neben religiösen Vereinen und Frauenvereinen noch Elternvereine, Sportvereine, politische Vereine, Begegnungsvereine, Kulturvereine, Familienvereine, Berufsvereine, soziale Vereine, Freizeitvereine, humanitäre Vereine, Heimatvereine, Wirtschaftsvereine, Studentinnenvereine und Seniorenvereine kommen 78 Als Kompromiss zwischen dem Anspruch auf Einhaltung der terminologischen Vielfalt bei gleichzeitig höchstmöglicher Klarheit wurden die Südtiroler Migrantinnenvereine deshalb hier in vier Bereiche eingeteilt: 1 Ethnonationale Vereinigungen (wie z B die senegalesische Organisation GiantBi) Diese sind leicht als Organisation von Migranten klassifizierbar Darin sind Menschen aus demselben Herkunftsland oder derselben Ethnie (z B Kurden) tätig 2 Religiös orientierte Vereine (wie die Comunità Rumena oder die pakistanischen Vereinigungen Minhaj und Pace Bolzano): Sie sind meistens Zuwandererorganisationen eines bestimmten Landes oder einer Region, auch wenn sie sich theoretisch und vereinzelt praktisch an jeden Gläubigen ihres Bekenntnisses richten 3 Frauenvereinigungen: Diese sind nicht nur grundsätzlich herkunftsheterogen, sondern meistens auch für alte und neue Südtirolerinnen offen (ein Beispiel dafür ist Donne Nissà Frauen) 79 4 Interkulturelle Organisationen: Sie sind herkunftsheterogen, laizistisch und richten sich sowohl an Zugewanderte wie auch an Einheimische (wie z B die Vereinigung Auxforce in Meran oder Interkult in Bruneck)

78 79

Christine Huth-Hildebrandt / Gerd Stüwe, Die Entwicklung von Migrantenorganisationen und ihre Rolle im zivilgesellschaftlichen Engagement, in: Migration und Soziale Arbeit 34(3)/2012, 268– 276, bes 273–275 Vgl Julia Tapfer, Südtiroler Migrantinnen und ihre Vereine: Entstehung und Handlungsräume von Frauenorganisationen, in: Eva Pfanzelter / Dirk Rupnow (Hgg ), Einheimisch, zweiheimisch, mehrheimisch Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol, Bozen 2017, 233–247

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4 2 Strukturelle Merkmale der Südtiroler Migrationsvereine Hinsichtlich der Beschreibung der insgesamt heterogenen Szene der Migrationsvereine in Südtirol sind drei Merkmale auffällig: 1 Kurzlebigkeit der Organisationen: Viele Vereinigungen wurden bereits nach wenigen Jahren wieder aufgelöst 2 Überschneidung von älteren, oft aufgelösten Organisationen mit Neugründungen: Dieses Phänomen ist am Beispiel einzelner Personen zu beobachten, z B Hassan Shenkubis, anfangs der 2010er-Jahre bei der im Vereinsregister Bozen registrierten kurdischen Vereinigung Diaco Associazione Culturale Curda, war 2016 Vorsitzender von Babagurgur; Tritan Myftiu, der Präsident der panalbanischen Organisation Arbëria, war früher bei Iliria; Pedro Gilberto Rincon Campos von Ala Incas war früher bei einer lateinamerikanischen Vorgängerorganisation 3 Kleinteiligkeit der Südtiroler Migrationsnetzwerke: Die rund 80 dokumentierten Vereinigungen haben alle eine Mitgliederzahl zwischen zehn und 30 Ausnahmen mit einer Anzahl von mehreren hundert Menschen sind religiöse Vereinigungen wie die pakistanisch-muslimische Pace Bolzano oder die in über hundert Ländern weltweit tätige Organisation Minhaj mit Hauptsitz im pakistanischen Lahore aufgrund der Beteiligung ganzer Familien an den Kulten Im internationalen Vergleich stellen die Punkte „Kurzlebigkeit“ und „Kleinteiligkeit“ nur bedingt eine Südtiroler Besonderheit der verspäteten Zuwanderungsgeschichte dar So zeigen bestimmte deutsche Migrantenorganisationen diese Merkmale ebenfalls, z B die ethnischen Sportvereine 80 Diese erfüllen häufig das Charakteristikum des kleinen Organisationsgrades mit bis zu 160 Mitgliedern und sind andererseits wie die Südtiroler Migrantinnenvereinigungen oft von Defiziten in Organisation und Finanzierung geprägt – typisch für das beinahe durchgängig auf Freiwilligkeit und Idealismus basierende Engagement 81 Strukturell können die 2017 erfassten rund 80 Südtiroler Migrationsnetzwerke nach folgenden Merkmalen unterschieden werden:82 1 Organisationen, unterteilt nach Herkunft: a) Herkunftshomogene Organisationen (ethnonationale und religiöse Vereine) stellen 55 Prozent aller Vereine

80 81

82

Vgl Halm, Potenzial von Migrantenorganisationen, 37–67 Tom Picker, Ethnische Sportvereine in Deutschland: Ihre Geschichte und ihre kontroverse Bedeutung fürs Thema Integration, Bachelor-Thesis, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, 2013, 24, als PDF-Dokument abrufbar unter http://edoc sub uni-hamburg de/haw/volltexte/ 2014/2245/pdf/WS SA BA ab14 10 pdf, 15 5 2020 Die Daten wurden von 29 analysierten und mittels Oral History dokumentierten Migrationsvereinigungen in Südtirol hergeleitet und auf die Gesamtzahl der Vereinigungen, die eruiert werden konnte (80), hochgerechnet

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2

3

4

83 84 85 86 87 88

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b) Herkunftsheterogene Organisationen (interkulturelle und Frauenvereine) bilden 45 Prozent aller Vereinigungen Organisationen, unterteilt nach Tätigkeitsfeldern: a) Ethnonationale Organisationen (an Menschen aus demselben Herkunftsland gerichtet, z B die albanische Vereinigung Arbëria) sind 34,5 Prozent aller Vereinigungen b) Religiöse Organisationen (z B das Centro Islamico in Bozen oder Organisationen, deren Hauptaufgabenbereich trotz ethnonationaler Bezeichnung religiös definiert ist, wie die Comunitá Rumena): 20,7 Prozent c) Interkulturelle Organisationen (gerichtet an Menschen aus aller Welt mit dem Ziel, bessere Unterstützung von Eingewanderten einerseits und gelungene Integration in die Arbeits- und Lebenswelt Südtirols andererseits zu erreichen): 31 Prozent d) Frauen-Organisationen (wie z B Marieta in Vintl), vor dem Hintergrund, dass 2016 53,6 Prozent der migrierenden Menschen Frauen waren83 und 2018 noch 52,4 Prozent):84 13,8 Prozent Organisationen, unterteilt nach Referenzsprache  – also derjenigen Sprache, an der sich die Eingewanderten hauptsächlich orientieren: a) Referenzsprache Italienisch: zirka 82 Prozent b) Referenzsprache Deutsch: knapp 18 Prozent Organisationen, unterteilt nach räumlicher Verteilung inklusive Anteil ausländischer Bevölkerung des Ortes (= Personen ohne italienischen Pass): a) Bozen: 62,1 Prozent (Anteil ausländischer Bevölkerung 2018: 15 734 Personen bzw 14,6 Prozent der Bevölkerung)85 b) Brixen: 17,25 Prozent (Anteil ausländischer Bevölkerung 2018: 2 447 Personen bzw 10,9 Prozent der Bevölkerung)86 c) Meran: 10,3 Prozent (Anteil ausländischer Bevölkerung 2018: 6 808 Personen bzw 16,7 Prozent der Bevölkerung)87 d) Übriges Südtirol: rund 10 Prozent außerhalb der drei Städte (Anteil ausländischer Bevölkerung in Südtirol 2018: 50 333 Personen bzw 9,5 Prozent der Bevölkerung)88

Vgl Fernando Biague / Matthias Oberbacher, Provincia Autonoma di Bolzano Rapporto immigrazione 2016, in: Centro Studi e Ricerche IDOS, Dossier Statistico Immigrazione 2016, Roma 2016, 367–370, 367 ASTAT info Nr  30 4/2019, Ausländische Wohnbevölkerung 2018, 9 Ebd , 6 Ebd Ebd Ebd , 3 f

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Die räumliche Aufteilung steht in direktem Zusammenhang mit der zahlenmäßigen Verteilung der Einwanderer in Südtirol, da fast ein Drittel der ausländischen Bevölkerung in der Landeshauptstadt Bozen ansässig ist und insgesamt 30 773 ausländische Staatsbürgerinnen (61,1 Prozent) in einer der sieben Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohner leben 89 Ausländische Wohnbevölkerung in Südtirol nach Staatsbürgerschaft - prozentuelle Verteilung, Stand 31.12.2019. 3,2 3,5

4,1 4,1

38,6

5,1

11,7

8,6 6,7

7

7,3

Österreich

Ukraine

Nordmazedonien

Slowakei

Kosovo

Deutschland

Pakistan

Marokko

Rumänien

Andere

Albanien

Abb. 1 Prozentuelle Verteilung der in Südtirol lebenden Migrantinnen und Migranten nach Staatsbürgerschaft

4 3 Semantische Beschreibung und Besonderheiten der Südtiroler Migrantinnen-Netzwerke Migrantenvereinigungen wirken auf den ersten Blick oft wie „Heimatfernentreffen“ – eine berechtigte, gleichwohl unzureichende Beschreibung, auch wenn der Migrationsforscher Fernando Biague bestätigt: „Die Vereine füllen eine Leere, die entsteht, weil die Familie fehlt, die Beschäftigung mit dem Ursprungsland “90 Darüber hinaus werden in den Vereinen gemeinsam Feste nach den Riten und Traditionen der Herkunftsländer gefeiert, bürokratische Hürden wie der Gang zum Konsulat o ä gemeistert oder Arbeit und Unterkunft vermittelt Zugleich sind Migrationsnetzwerke Multiplikatoren 89 90

Ebd , 5 Vgl Interview mit Fernando Biague, 6 5 2015, vgl Datenarchiv der Migration in Südtirol, http:// migrationsarchiv2016 stage suti it/admin/items/show/99, 20 10 2016

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für integrative Maßnahmen,91 „multifunktionale Einrichtungen, in denen je nach Präferenz der Mitglieder die eine oder andere Aktivität überwiegen kann “92 Folgende Tätigkeitsfelder lassen sich bei Migrationsvereinen antreffen – relativ unabhängig von ihrer Struktur oder ihrer konzeptionellen Ausrichtung: – bürokratische Hilfe beim Umgang mit Behörden – Unterstützung bei Wohnungs- und Arbeitssuche – Kontakte zur Botschaft oder zum Konsulat des Ursprungslandes – Pflege religiöser und/oder kultureller Bräuche des Ursprungslandes – Sprachkurse in Deutsch und Italienisch – Verbesserung der Chancen von Frauen – Träger sozialer Projekte Hinsichtlich des letzten Punkts stoßen migrantische Organisationen allerdings häufig an Grenzen Denn einerseits können sie nicht alle Probleme lösen, um die sich die Mehrheitsgesellschaft bisher nicht gekümmert hat, und andererseits ist nicht jede Vereinigung als Träger sozialer Projekte auch fachlich gerüstet und qualifiziert Dies kann dazu führen, dass sich die Mehrheitsgesellschaft angesichts einer überforderten migrantischen Selbstorganisation noch in ihren Vorurteilen bestätigt sieht Zudem können herkunftshomogene Vereine mit dem Angebot außerschulischer Betreuung, Elternarbeit oder Jugendhilfe auch segregierend statt integrierend wirken 93 Fast alle Südtiroler Vereinigungen finanzieren sich vor allem über Mitgliedsbeiträge und Spenden, teilweise unterstützt durch zweckgebundene Projektmittel von Gemeinden (Mietzuschüsse u dgl ) oder, wie die Donne Nissà Frauen, auch von verschiedenen Landesstellen 94 Organisationen, die sich als religiöse Vereine definieren, erhalten von der öffentlichen Hand keine Unterstützung, weil sie sich nicht ins Landesverzeichnis der ehrenamtlich tätigen Organisationen eintragen lassen können, was Förderungsvoraussetzung ist „Vereinigungen, die nicht im Register eingetragen sind, werden vom Land weder betreut noch kontrolliert “95 Eine Südtiroler Besonderheit ist die erwähnte ethnonationale Parallelgesellschaft mit einer regionalen deutschsprachigen Mehrheit, die zugleich nationale Minderheit ist, und einer regionalen italienischen Minderheit als Teil der nationalen Referenzkultur Auch heute wird Migration nach Südtirol immer noch vor dem Hintergrund des 91 92 93 94 95

Schader-Stiftung (Hg ), Interkulturelle Öffnung und Willkommenskultur in strukturschwachen ländlichen Regionen Ein Handbuch für Kommunen, Darmstadt 2014, 81 Andrea Baumgartner-Makemba, Afrikanische Vereine in Berlin Selbstdarstellung und Integration von Migrantenvereinen, Hamburg 2014, 30 Karin Weiss, Migrantenorganisationen als Motoren der Integrationsarbeit, in: Britta Marschke / Heinz Ulrich Brinkmann (Hg ), Handbuch Migrationsarbeit, Wiesbaden 22014, 93–104, 97 f Donne Nissà Frauen, http://www nissa bz it/index php/de/wir-werden-finanziert-von, 28 8 2016 Roberto Bizzo, Antwort auf die Landtagsanfrage 2667/12 vom 31 8 2012, http://www2 landtag-bz org/documenti*pdf/idap*242419 pdf, 30 8 2016 (Seite nicht mehr abrufbar)

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Konzeptes der drei Sprachgruppen (deutsch, italienisch, ladinisch) interpretiert, was dazu führt, dass Migrantinnen auf zweifacher Ebene als Eindringlinge betrachtet werden: in die Wirtschaftswelt, aber auch in die Welt der angeblich bedrohten deutschen Volksgruppe Diese Erfahrung haben im 20  Jahrhundert bereits viele italienische Eingewanderte mit Südtirol gemacht, „eingeschlossen in einem unbekannten und feindseligen Land, wo das bestmögliche Schicksal, das einen ereilen konnte, nicht jenes war, Wurzeln zu schlagen, sondern fortzuziehen “96 Den ethnischen Parallelwelten der Provinz Bozen entsprechend, stellen Südtirols Referenzsprachen eine weitere Besonderheit hinsichtlich der Migration im Vergleich mit Italien, Österreich oder Deutschland dar (Ähnlichkeiten weist hingegen die Schweiz mit dem italienischsprachigen Tessin und der französischsprachigen Romandie oder auch dem dreisprachigen Engadin auf) Italienisch wird von Südtirols Migrationsvereinigungen fünf Mal so häufig als Referenzsprache verwendet wie Deutsch Dies hängt auch damit zusammen, dass manche Vereinigungen in Südtirol, insbesondere die ethnonationalen und religiösen, in die Struktur eines nationalen Dachverbands eingebettet sind So sind z B Migrantinnen aus Guinea Bissau, aber auch viele chinesische Einwanderer, Teil eines auf nationaler Ebene existierenden losen Netzwerkes (z B in der Nachbarprovinz Trentino oder in der Nachbarregion Veneto), das aber in Südtirol selbst keinen Ableger hat Gleichzeitig sehen sich die migrantischen Organisationen in der Provinz Bozen aber mit der Tatsache konfrontiert, dass aufgrund der ethnischen Verteilung Deutsch als Referenzsprache essentiell ist, da es den Zugang zum Arbeitsmarkt wesentlich vergrößert Eine dritte Besonderheit der Südtiroler Migrationsnetzwerke ist der im Vergleich zu den mitteleuropäischen Nachbarn verspäteten wirtschaftlichen Entwicklung geschuldet, welche die Region erst 25–30 Jahre nach Österreich, der BRD oder der Schweiz zum Einwanderungsland werden ließ Entsprechend finden sich in der BRD in den 1960er-Jahren rund 550 Vereinigungen, die danach auf geschätzte 1 800 (1970er-Jahre), über 20 000 (1980er-Jahre) und bis in die 1990er-Jahre auf über 40 000 steigen In Südtirol hingegen existiert in den 1990er-Jahren inklusive der italienischen Kulturvereine kaum ein Dutzend Selbstorganisationen 5. Fazit Der Blick auf die Südtiroler Migrationsgeschichte zeigt, dass die Wanderungsbewegungen der letzten 100 Jahre nicht nur motivisch, sondern auch geographisch und demographisch heterogener waren als bisher angenommen Das stärkste Mobilitätsargument war wirtschaftlicher Natur, i e die Suche nach adäquaten Ausbildungs-, Ar-

96

Lucio Giudiceandrea, Spaesati Italiani in Südtirol, Bozen 2006, 128

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beits- und Verdienstmöglichkeiten, kombiniert mit dem Zugang zu erschwinglichem Wohnraum So zogen deutsch- und ladinischsprachige Südtirolerinnen aus den peripheren Gebieten vor allem in die Industriegebiete des deutschsprachigen Nordens, während Menschen aus dem Trentino, dem Veneto, der Lombardei, Sardinien und Sizilien aus vergleichbaren Gründen nach Bozen, Meran oder Brixen kamen Und die Südtirolerinnen, die ins Ausland gingen, „um bessere Arbeits-, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu finden“,97 gründeten dort ihre Südtirolervereine, analog zu den italienischen Kulturvereinigungen in Bozen oder zu den Jahrzehnte später entstehenden albanischen, senegalesischen oder pakistanischen Vereinigungen Menschen in migrantischen Netzwerken sind, relativ unabhängig von der Ausrichtung des Vereins, direkt oder indirekt im Integrationsbereich tätig Die Netzwerke bieten Hilfe bei Wohnungs- und Arbeitssuche, beim Umgang mit Behörden, in der Organisation von Sprachkursen (Italienisch und Deutsch sowie bei ethnonationalen Vereinen in der Erstsprache), in der Kulturvermittlung sowie bei Frauenvereinigungen in der Verbesserung der Chancen von Frauen in Gesellschaft und Arbeitswelt Dadurch erfüllen Migrationsvereinigungen wichtige Tätigkeiten, die nicht nur für die Eingewanderten, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft von großer Bedeutung sind Diese Arbeit verdient öffentliche Beachtung,98 wie dies in anderen Ländern bereits der Fall ist 99 Dass einzelne, v a religiöse Vereinigungen, auch ein Gesellschaftsbild reproduzieren, das hinsichtlich Freiheitsrechte in einem Spannungsverhältnis zur Mehrheitsgesellschaft steht, sollte ebenso gesehen werden Migrantische Vereinigungen sind keine Bedrohung der Mehrheitskultur, sondern Ausdruck des Wunsches nach kultureller Selbstbehauptung einerseits und des Versuchs, sich mit den Besonderheiten der Autonomen Provinz Bozen andererseits konstruktiv auseinanderzusetzen – vergleichbar mit den Südtirolervereinen, die von den Ausgewanderten in der Vergangenheit in Deutschland, Österreich und der Schweiz gegründet worden sind Trotz aller notwendigen kulturellen, historischen und zeitlichen Differenzierungen lässt sich die Südtiroler Migrationsgeschichte der vergangenen 100 Jahre in ihrer physischen und sozialen Mobilität als Summe folgender wesentlicher Faktoren interpretieren, die nicht selten ineinandergriffen und sich überschnitten: – Arbeitsmigration (z B italienische Einwanderung durch die Industrialisierung der Provinz ab den 1920er-Jahren; deutschsprachige Abwanderung in den 1950erund 1960er-Jahren, internationale Einwanderung für Pflege- und andere Berufe nach dem Ende des Kalten Krieges; bis heute anhaltende Südtiroler Auswanderung in Richtung Schweiz, Österreich, Deutschland und weltweit)

97 98 99

Falch, Heimatfern, 9 Halm, Potenzial von Migrantenorganisationen, 67 Vgl Dietrich Thränhardt, Migrantenorganisationen Engagement, Transnationalität und Integration, in: Günther Schultze  / Dietrich Thränhardt (Hgg ), Migrantenorganisationen Engagement, Transnationalität und Integration (Reihe WISO-Diskurs der FES), Bonn 2013, 5–20, 6

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Ausbildungsmigration (z B die „Heimatfernen“ der 1950er- und 1960er-Jahre; Südtiroler Auswanderung zu Studienzwecken nach Österreich durch die Nachkriegszeit bis in die Gegenwart; Einwanderung mit Ausbildung in diversen Berufen seit Ende des Kalten Krieges) Politische Migration, politisch bedingte oder durch politische Entscheidungen erleichterte Wanderung (z B die Erste Option 1919–1921; die faschistische Industrialisierung Südtirols; die Option 1939; die Rückoption nach 1945, die jugoslawische Option 1947) Vertreibung, Flucht und Asyl (z B die Einwanderung von Menschen aus Istrien und Dalmatien in der unmittelbaren Nachkriegszeit; die Migrationsbewegungen aus Afrika seit den 2000er-Jahren, verstärkt durch die Kriege in Libyen und Syrien seit 2011 mit singulärem Höhepunkt an Wanderung 2015) Migration aufgrund persönlicher Lebensentscheidungen (Beziehungen, Zweitwohnung, Lebensabend in Südtirol)

Alle diese Wanderungsbewegungen umfassen ein Spektrum von völliger Freiwilligkeit bis zu Flucht, von individuellen und zivilen Beweggründen bis zu kollektiven Ereignissen wie Krieg oder Folgen des Klimawandels Dabei zeigt sich auch, dass Migrantinnen und Migranten nicht selten an mehreren Orten daheim sind und durch ihre Wanderungsentscheidungen transnationale Netze und Netzwerke errichten Das zentrale Motiv hinter aller Migration ist die Suche nach einer besseren Perspektive für die eigene Existenz Dieser zutiefst menschliche Wunsch nach Entwicklung wird durch wirtschaftliche Möglichkeiten, aber auch durch politische und rechtliche Vorgaben entweder gebremst oder gefördert – Ausbildungsplätze und Arbeitsstellen bieten einen Wanderungsanreiz und Gesetze einen Rahmen, innerhalb dessen gewandert werden kann, der aber mitunter auch gesprengt wird Migration unter stärkerer Berücksichtigung des Migrationsregimes zu analysieren, eröffnet der Disziplin der Zeitgeschichte eine vielversprechende Perspektive So könnte eine neue Forschungssicht entwickelt werden, die sich ausgehend von der Frage des Migrationsregimes einerseits auf regionaler Ebene mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen auseinandersetzt, welche die Südtiroler Gesellschaft in den vergangenen 100 Jahren hervorgebracht hat, und die andererseits auf überregionaler Ebene (Italien, Europa, Welt) die großen sozioökonomischen Entwicklungen und die rechtlichen Auswirkungen von Wirtschaftsabkommen berücksichtigt Denn Mobilitätserleichterungen wirken sich umgehend auf Migration aus Eine solche zeithistorische Migrationsforschung sollte dabei auch den Blick auf die Migrierenden als handelnde Akteure schärfen, beispielsweise indem sie auf ökonomischer Ebene den Anteil der Migrierten als Unternehmerinnen und Unternehmer untersucht, während sie auf sozialer Ebene den Einfluss von Migrierten auf die ge-

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sellschaftliche Entwicklung analysiert 100 Den Fokus auf die Migration zu richten, bietet also nicht nur neue Erkenntnisse, sondern auch die Möglichkeit, die immer noch in weiten Teilen der Bevölkerung dominierende ethnonationale Interpretation der Südtiroler Vergangenheit als Konfliktgeschichte mit Tendenz zur Viktimisierung zu überwinden Als inklusive Geschichtsschreibung erweitert der migrationshistorische Ansatz auch den Raum über die deutschsprachige und italienische Gruppe hinaus und macht alle Menschen, die in Südtirol gelebt haben und leben, sichtbar Erst dadurch werden bisher marginalisierte Gruppen – zu denen migrierende Menschen nach wie vor gehören – in die Geschichte eintreten können Kurt Gritsch, geboren 1976, frei schaffender Historiker Forschungsschwerpunkte sind Migrationsgeschichte, historische Konfliktforschung sowie Medien- und Rezeptionsgeschichte 2014–2017 Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, 2021 Gastdozent am Historischen Seminar der Universität Luzern, seit August 2021 Mitarbeiter am Institut für Kulturforschung Graubünden zum Thema „Migration und Tourismus 1850–1920“ Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften und Magazinen 2016 ist sein Buch „Vom Kommen und Gehen Migration in Südtirol“ erschienen

100 Vgl Damir Skenderovic, Vom Gegenstand zum Akteur: Perspektivenwechsel in der Migrationsgeschichte der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Themenheft „Migrationsgeschichte(n) in der Schweiz: ein Perspektivenwechsel“, 65(1)/2015, 1–14

Der erste Schwerpunkt der Historischen Mitteilungen befasst sich mit der Rolle der Regionen und Länder im Rahmen des Verfassungsgebungsprozesses der Weimarer Republik. Anhand einer Reihe von beispielhaften, mit ähnlichen thematischen Schwerpunktsetzungen konzipierten Studien zu den verfassungsrechtlichen Verhältnissen in deutschen Klein- und Mittelstaaten möchten die Autoren dazu beitragen, einen

ISBN 978-3-515-13295-4

9 783515 132954

bislang nur unzureichend behandelten Aspekt bei der historischen Einordnung der Weimarer Verfassung zu beleuchten. Der zweite Schwerpunkt dieses Bandes rundet die Geschichte des Norddeutschen Bundes aus den beiden vorangegangenen Bänden ab und ist den Annexionen Preußens nach dem Ende des Deutschen Bundes und der Gründung des Norddeutschen Bundes gewidmet.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag