Historische Mitteilungen 31: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) / „Bedingt einsatzbereit!“ Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union 3515127046, 9783515127042

Die Historischen Mitteilungen warten in diesem Jahr mit zwei Schwerpunkten auf: Innerhalb der Schwerpunktreihe "Vom

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870)
EINLEITUNG
VOM ZOLL-STAATENBUND ZUM ZOLL-BUNDESSTAAT: DER DEUTSCHE ZOLLVEREIN 1866–1871
PARLAMENTARISMUS IM NORDDEUTSCHEN BUND
„MIT DERSELBEN TREUE, MIT DER ICH ZU DEM ALTEN BUNDE GESTANDEN BIN…“
„EIN FESTERES BAND FÜR DEUTSCHLAND“.
VOM KÖNIGREICH HANNOVER ZUR PREUSSISCHEN PROVINZ
ZWISCHEN PREUSSEN UND HANNOVER
SCHWERPUNKT II: „BEDINGT EINSATZBEREIT!“ DIE GEMEINSAME SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION
THE REVIVAL OF THE WESTERN EUROPEAN UNION
MÖGLICHKEITEN DER SICHERHEITSPOLITISCHEN ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DER EU UND JAPAN IM RAHMEN DER GEMEINSAMEN SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK (GSVP)
AUFSÄTZE
WIEDERBELEBUNGSVERSUCHE
DAS GLOBALE LEBEN DES BERNHARD EUNOM PHILIPPI 1811–1852
AUF DISTANZ ZUR ARBEITERKLASSE
REZENSIONEN
Hendrik Born: Es kommt alles ganz anders.
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Historische Mitteilungen 31: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) / „Bedingt einsatzbereit!“ Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union
 3515127046, 9783515127042

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Historische Mitteilungen Band 31 · 2019 Franz Steiner Verlag

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von jürgen elvert matthias asche birgit aschmann markus a. denzel jan kusber sönke neitzel joachim scholtyseck thomas stamm-kuhlmann

Historische Mitteilungen Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. Herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Elvert ( federführend), Prof. Dr. Matthias Asche, Prof. Dr. Birgit Aschmann, Prof. Dr. Markus A. Denzel, Prof. Dr. Jan Kusber, Prof. Dr. Sönke Neitzel, Prof. Dr. Joachim Scholtyseck und Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Winfried Baumgart, Prof. Dr. Michael Kißener, Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl, Prof. Dr. Bea Lundt, Prof. Dr. Christoph Marx, Prof. Dr. Jutta Nowosadtko, Prof. Dr. Johannes Paulmann, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Prof. Dr. Wolfgang Schmale, Prof. Dr. Reinhard Zöllner Redaktion Benjamin Naujoks, Universität zu Köln, Historisches Institut, Gronewaldstr. 2, D – 50931 Köln, E-Mail: [email protected] https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-HMRG Band 31

Historische Mitteilungen Band 31 (2019) Schwerpunkt I (Teil 2) Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) Gastherausgeber Wolf D. Gruner Schwerpunkt II „Bedingt einsatzbereit!“ Die gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik der Europäischen Union

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0936-5796 ISBN 978-3-515-12704-2 (Print) ISBN 978-3-515-12707-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870) TEIL II: DIE NEUORDNUNG IN NORDDEUTSCHLAND NACH DER ZERSCHLAGUNG DES DEUTSCHEN BUNDES WOLF D. GRUNER Einleitung.................................................................................................................9 HANS-WERNER HAHN Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat: Der Deutsche Zollverein 1866–1871.....................................................................45 KLAUS ERICH POLLMANN Parlamentarismus im Norddeutschen Bund...........................................................67 JONAS FLÖTER „Mit derselben Treue, mit der ich zu dem alten Bunde gestanden bin…“ Sachsens Eintritt in den Norddeutschen Bund.......................................................79 JÜRGEN ANGELOW „Ein festeres Band für Deutschland“: Preußen und der Deutsche Bund............................................................................97 HANS-GEORG ASCHOFF Vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz..........................................115 KLAUS ERICH POLLMANN Zwischen Preußen und Hannover. Die schwierige Lage des Herzogtums Braunschweig nach der Gründung im Norddeutschen Bund .....................................................................145

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Inhaltsverzeichnis

SCHWERPUNKT II: „BEDINGT EINSATZBEREIT!“ DIE GEMEINSAME SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION RALPH DIETL The Revival of the Western European Union. NATO, Europe and the Pre-history of Maastricht ...............................................163 TAKUMI ITABASHI Möglichkeiten der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen der EU und Japan im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ..............................................................................185 AUFSÄTZE ULF MORGENSTERN/DANIEL BENEDIKT STIENEN Wiederbelebungsversuche. Ernst Rudolf Huber und Hans-Joachim Schoeps, Preußen und die Jugendbewegung nach 1945 ..........................................................................197 INGO LÖPPENBERG Das globale Leben des Bernhard Eunom Philippi 1811–1852. Ein Naturalist zwischen Preußen und Chile ........................................................259 MATTHIAS STANGEL Auf Distanz zur Arbeiterklasse. Die „Neue Linke“ in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Bundesrepublik: Theorie, Strategie und Fraktionierung unter dem Einfluss Herbert Marcuses..................................................................281 REZENSIONEN RAINER A. BLASIUS Hendrik Born: Es kommt alles ganz anders. Erinnerungen eines Zeitgenossen an die Volksmarine der DDR und das Leben danach..........................................303

SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870)

TEIL II: DIE NEUORDNUNG IN NORDDEUTSCHLAND NACH DER ZERSCHLAGUNG DES DEUTSCHEN BUNDES GASTHERAUSGEBER: WOLF D. GRUNER

EINLEITUNG Einführung zum Themenschwerpunkt: Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 Wolf D. Gruner Anlässlich des 150. Jubiläums der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 fand in Berlin im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz eine wissenschaftliche Tagung der Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte Preußens statt, die der Entstehung des Norddeutschen Bundes nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes, seiner Entwicklung und seiner Mutation zum neuen Deutschen Bund im November 1870 und dem Übergang zum deutschen Reich zum 1. Januar 1871 gewidmet war. Das Jubiläumsjahr wurde in der Öffentlichkeit eigentlich kaum registriert. Wenn der Norddeutsche Bund in der nationalen und internationalen Geschichtswissenschaft kein zentrales Thema ist und war hat unterschiedliche Gründe. Eine Rolle spielte in diesem Zusammenhang sicherlich auch das Geschichtsbild und die Geschichtspolitik der sogenannten „Reichsgeschichtsschreibung“. Für sie bedeutete der 1867 geschaffene Norddeutsche Bund nur eine Zwischenetappe nach der Zerschlagung des ungeliebten Deutschen Bundes auf dem alternativlosen Weg in den von der protestantischen Großmacht Preußen dominierten kleindeutschen Nationalstaat, den der „Reichsgründer“ Bismarck herbeiführte. Die Frage, ob ein Norddeutscher Bund hätte „allein Dauer gewinnen können“ oder ob dieses im Rahmen eines engeren und weiteren Bundes – der Norddeutsche Bund und ein Südbund unter dem Verfassungsdach einen Allgemeinen Deutschen Bundes – hätte realisiert werden können, ist nicht nur hypothetisch interessant. Die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte des Deutschen Bundes in der Zeit seiner Existenz zwischen 1815 und 1866, aber auch die landesgeschichtliche historische Forschung hat die Wahrnehmung des Deutschen Bundes weitgehend von einem negativen Image befreit und auch die Sicht auf die Jahre zwischen 1866 und der Gründung des neuen Deutschen Bundes verändert und differenziert. Hinzu kommt, dass in der historischen Forschung in den letzten Jahren u.a. eine „Entmythisierung“ des Reichsgründers stattgefunden hat. Bismarck wird aus der nationalen „Nabelschau mit Blick nur auf die deutsche Geschichte“ befreit. Bismarcks Leben „ist tatsächlich in erster Linie ein preußisches, weniger ein deutsches, daneben aber auch ein europäisches“. 1 Eine moder-

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Christoph Nonn, Bismarck: Ein Preuße und sein Jahrhundert, München 2015, 12.

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ne Bismarckbiographie muss als europäisch verstanden werden, d.h. Bismarck war als Gesandter beim Deutschen Bund in Frankfurt am Main „ein preußischer Diplomat, der wie die meisten anderen Diplomaten der Epoche in Kategorien des europäischen Gleichgewichtes dachte. Bismarck und das Preußen seiner Zeit sind ein Teil einer Geschichte Europas. Das gilt nicht nur für die Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts. Es gilt auch für die inneren Bedingungsfaktoren der jeweiligen nationalen Außenpolitik, die damals zunehmend an Bedeutung gewannen. Diese Bedingungsfaktoren gestalteten sich in den einzelnen europäischen Ländern ganz verschieden und führten zu ganz unterschiedlichen Entwicklungspfaden. Sie illustrieren nicht zuletzt auch die Alternativen zur Entwicklung Preußens, des Deutschen Bundes und des Deutschen Reiches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. 2 Aus einer europäischen Perspektive muss daher den „alternativen Entwicklungspfaden“ größere Beachtung geschenkt werden. Dieser Zugriff erlaubt es die Handlungsspielräume der europäischen politischen Akteure besser zu analysieren. 3 Die Erkenntnis, dass deutsche Geschichte immer zugleich europäische Geschichte ist und europäische Geschichte stets auch deutsche Geschichte ist, hat mit zu einer Differenzierung beigetragen und den Blick von der nationalen Nabelschau der „Reichshistoriographie“ eines Treitschke, Sybel und ihren Epigonen 4 zu einer Einbettung der Geschichte des deutschen Mitteleuropa in den Zusammenhang der Geschichte Europas geführt. 5 Unterstrichen wird diese europäische Perspektive durch die wissenschaftlichen Konferenzen in den Jubiläumsjahren 2014 zum Wiener Frieden von 1864 und 2016 um das Ende des mitteleuropäischen Föderativsystem Deutscher Bund 1866. 6 In den Bei2 3 4

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Ebd., 12f. Ebd., 13. Vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Hohenzollern, Berlin 2001 (1995), 11ff.; James J. Sheehan, What is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography, in: Journal of Modern History 53/1981, 1–23; Wolf D. Gruner, Preußen in Europa 1701-1860/71, in: Jürgen Luh/Vinzenz Czech/Bert Becker (Hg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, 429–460. Vgl. hierzu u.a.: Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866. Göttingen 2005 (Habilitationsschrift Goethe Universität Frankfurt a. M. 2003); ders., Der Deutsche Bund 1815–1866. München 2006; ders. (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. III: 1850–1866, Bd. 1–4, München 1998–2017; Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003; Eberhard Kolb, Großpreußen oder Kleindeutschland? Zu Bismarcks deutscher Politik in der Reichsgründungszeit, in: Johannes Kunisch (Hg.), Bismarck und seine Zeit. Berlin 1992, 11–36; Eberhard Kolb, Otto von Bismarck. Eine Biographie, München 2014; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866. München 2012; ders., Die süddeutschen Staaten: Vom Deutschen Bund zum neuen Deutschen Bund (1866–1870), in: HMRG 30/2018 (2019), 63–97; ders., Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993. Teil I: 1789-1848, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149/2013 (2014), 59–123; Christoph Nonn, Bismarck: Ein Preuße und sein Jahrhundert, München 2015; Konrad Canis, Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914, Paderborn 2016, 9ff., 31ff. Vgl. Oliver Auge/Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016; Winfried Heinemann/Lothar

Einleitung

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trägen wird neben der deutschen und regionalen, einzelstaatlichen Perspektive auch die europäische Dimension durch die Einbeziehungen der fünf europäischen Großmächten berücksichtigt und thematisiert. Die Berliner Konferenz „Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum neuen Deutschen Bund (1866–1870)“ behandelte ebenfalls die unterschiedlichen Ebenen, von der europäischen über die norddeutsche zur regionalen. 7 Es ist bedauerlich, dass die Beiträge aus verschiedensten Gründen nicht in einem Sammelband erscheinen konnten, sondern als Schwerpunktthemen auf drei Bänden der Historischen Mitteilungen der Rankegesellschaft erschienen sind bzw. noch erscheinen werden. Sieht man vom Richard Dietrichs herausgegebenen Sammelband zum Norddeutschen Bund von 1968 ab und Ernst Rudolf Hubers Darstellung des Norddeutschen Bundes 1963 in seiner Verfassungsgeschichte, so haben wir keine neueren, umfassenden Darstellungen zur Geschichte des Norddeutschen Bundes. 8 Im L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, wurde der Historiker und Wikipedia-Autor Dr. Ziko van Dijk über seine Gedanken zum Norddeutschen Bund im Jubiläumsjahr und über Sichtweisen auf die neuere deutsche Geschichte interviewt. Er selbst hat in Wikipedia die Beiträge zum Norddeutschen Bund geschrieben. 9 Interviewt am Tag nach dem 150. Jahrestag der Verabschiedung der Verfassung des Norddeutschen Bundes durch den Norddeutschen Reichstag, begründete van Dijk die Frage warum die Gründung des Norddeutschen Bundes „wesentlich weniger Aufmerksamkeit erhalten“ werde als 1998 das Jubiläumsjahr der europäischen Revolutionen von 1848/49 10 oder dann 2020/21 die Gründung des deutschen Kaiserreiches, die bereits 1970/71 eine umfangreiche

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Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018; Ulrich Lappenküper/Karina Urbach (Hg.), Realpolitik für Europa. Bismarcks Weg, Paderborn 2016. Cf. Ulrich Lappenküper, Im Banne der ‚fibre national‘. Frankreich und der Norddeutsche Bund 1867-1870, in: HMRG 30/2018 (2019), 39–61; John J. Davis, Großbritannien, das Ende des Deutschen Bundes und der Norddeutsche Bund (1866-1870), in: HMRG 30/2018 (2019), 119–147; Matthias Stickler, ‚Wiedereintritt nach Deutschland‘? Österreich-Ungarn und der Norddeutsche Bund, in: HMRG 30/ 2018 (2019), 149–169; Jürgen Müller, Harter Prexit: Der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund 1866, in: HMRG 30/2018 (2019), 99–118. Richard Dietrich (Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund, Berlin 1968; Werner Ogris, Der Norddeutsche Bund. Zum hundertsten Jahrestag der Augustverträge von 1866, in: JuS (Juristische Schulung), 1966, 306–310; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1970 (1963), 643–701. Gedanken zum Norddeutschen Bund im Jubiläumsjahr. Interview mit Ziko van Dijk über Sichtweisen auf die neuere deutsche Geschichte 18.4.2017 (https://lisa.gerda-henkel-stiftung. de/gedanken_zum_noddeutschen_bund-im_jubilaeumsjahr?nav_id=6862, letzter Zugriff am 28.8.19). Vgl. hierzu u.a.: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1848, Frankfurt a.M. 1998; Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998; Wolfgang Hardtwig (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa, Göttingen 1998.

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Wolf D. Gruner

Zentenarliteratur produziert hat: 11 Es „fehlt dem Norddeutschen Bund gewissermaßen die große Idee, die wir mit den Jahren 1848 und 1849 verbinden. Sie haben ja die Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Einheit‘ erwähnt. Beides ist 1867 nur teilweise erreicht worden“. Eine Jubiläumsfeier auf gesamtstaatlicher deutscher Ebene würde die Süddeutschen ausschließen. 12 Der Norddeutsche Bund war eine preußische Staatsgründung. Preußen gründete „mit den mit ihm verbündeten Staaten Norddeutschlands einen Bundesstaat“ und Ziko van Dijk argumentierte: „Mit dem Norddeutschen Bund beginnt jedenfalls der heutige deutsche Bundesstaat, dessen Staatsbürger die heutigen Deutschen sind. Natürlich hat unser Staat im Laufe der Geschichte neue Namen erhalten […] Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge des Bundesstaates von 1867 gelten aber weiter fort“. 13 Die Ausführungen van Dijks unterstreichen, dass der Norddeutsche Bund ein Produkt preußischer Politik und Interessen war. Es wurde sogar von vielen Nationalliberalen vorgeschlagen, dass Preußen alle nichtpreußischen Staaten Norddeutschlands annektieren sollte und nach „der Idee eines konservativen Politikers hätte man das so erweiterte Preußen zum Beispiel ‚Königreich Norddeutschland“ nennen können. Das ist übrigens der Weg zum italienischen Einheitsstaat gewesen, als das Königreich Sardinien-Piemont zum Königreich Italien angewachsen ist“. 14 Die preußische Staatsgründung von 1867 hätte so noch preußischer werden können. Die Gründung des Norddeutschen Bundes hat Preußen verändert und, wie es einige Liberale formulierten, „verdeutscht“. Ohne den Krieg von 1870/71 gegen Frankreich – in den die süddeutschen Staaten letztlich doch eintraten 15 – hätte der Norddeutsche Bund länger existiert. Möglicherweise wäre der vor allem von den süddeutschen Königreichen angestrebte Süddeutsche Bund auf dem Verhandlungswege doch noch zustande gekommen und der Norddeutsche Bund und der Süddeutsche Bund hätten sich völkerrechtlich in einem Allgemeinen Deutschen Bund verbunden. Es wird ja oft übersehen, dass die Südstaaten nicht in den Norddeutschen Bund eintraten, sondern in Versailles im November 1870 nach Verhandlungen mit Preußen einen neuen Deutschen Bund mit dem Norddeutschen Bund mit begründeten. Die preußische Staatsgründung von 1866/67 – der Weg vom norddeutschen Militärbündnis Preußens vom August 1866 zum Bundesstaat in Norddeutschland 1867 – hat im deutschen Geschichtsbild und in der Ge-

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Z.B.: Theodor Schieder/Ernst Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970; Walther Hofer (Hg.), Europa und die Einheit Deutschlands. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Köln 1970; Ernst Engelberg (Hg.), Im Widerstreit um die Reichsgründung, Berlin 1970; Horst Bartel/Ernst Engelberg (Hg.), Die gross-preußisch militaristische Reichsgründung 1871, 2 Bde. Berlin 1971. Interview van Dijk (wie Anm. 7), S. 14. Ebd., 9. Ebd., 11. Vgl. ausführlicher hierzu u.a. Wolf D. Gruner, Die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und der steinige Weg in das deutsche Kaiserreich (1864–1871), in: Winfried Heinemann/Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 241–301, 266 ff.

Einleitung

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schichtspolitik bis in die Gegenwart nachgewirkt. Hierbei spielt u.a. eine Rolle, dass aus der Perspektive des Völkerrechtes mit der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten das Staatsgebiet des Deutschen Reiches von diesen in den Grenzen vom 31.12.1937 anerkannt wurde. 16 somit auch das Bundesverfassungsgericht die bundesstaatliche Kontinuität Deutschland vom Norddeutschen Bundesstaat zur heutigen Bundesrepublik Deutschland im vereinten Deutschland in verschiedenen Verfahren festgestellt hat. Aus dieser Perspektive ist nachvollziehbar, dass die Historische Ausstellung des Deutschen Bundestages zur Parlaments- und Demokratiegeschichte dieses entsprechend berücksichtigt. Die Historische Ausstellung des Deutschen Bundestages zur Parlaments- und Verfassungsgeschichte in Deutschland im Deutschen Bundestag in Berlin, vor allem seit 1848, zeigt eine eigene Abteilung mit „Preußen und der Norddeutsche Bund“. 17 Die Bundesreform- und Verfassungsdiskussion im Deutschen Bund, die deutschen konstitutionellen Staaten mit auch Grundrechte enthaltenen 1818/20 verabschiedeten Verfassungen und die regionale und überregionale Arbeit in den Parlamenten der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes und die Vorstellungen der Nationalbewegung zwischen 1850 und 1866 kommen nicht in den Blick. 18 Im Begleittext heißt es lediglich: „Der 1866 unter Führung Preußens gegründete Norddeutsche Bund erhielt 1867 eine Verfassung. Erstmals einigten sich mehrere deutsche Landesfürsten auf die Bildung eines Bundesstaates. Die maßgeblich von Bismarck entworfene Verfassung bestimmte die schwarzweißrote Trikolore zum nationalen Hoheitszeichen. Der Norddeutsche Bund bildete eine wichtige Zwischenstufe im Prozess der Gründung des Deut16

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Vgl. Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der „Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" v. 5.6.1945 (http://www.verfassungen.de/4549/regierungsuebernagme45.htm, Zugriff 30.8.19); Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrates v. 30.8.1945. Als Mitglieder des Kontrollrates verkündeten diese: „Die Regierungsgewalt in Bezug auf Deutschland wurde von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreichsund der Provisorischen Regierung der Französischen Republik übernommen“ (http://www . verfassungen.de/de45-49/kr-proklamation1.htm, Zugriff 30.8.19). Der Alliierte Kontrollrat übte damit die Staatsgewalt in Deutschland aus. „Deutschland als Ganzes“ war somit völkerrechtlich identisch mit dem Deutschen Reich. Historische Ausstellung des Deutschen Bundestag – Abteilungen: Das Streben nach Freiheit und Einheit – Verfassungsentwicklung im Deutschen Bund 1815–1848 – „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – Die Revolution von 1848/49 – Die Nationalversammlung und die Grundrechte des deutschen Volkes – Die Reichsverfassung vom 27. März 1849 – Preußen und der Norddeutsche Bund – Die Reichsverfassung 1871 – Der Reichstag – Die Revolution von 1918/19 – Die Verfassung der Weimarer Republik – Belastungen und Herausforderungen – Auflösung der Demokratie (https://www.bundestag.de/besuche/ausstellungen/ verfassung, Zugriff 27.8.19). Vgl. u.a. Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München Wien 2000; Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation (wie Anm. 4); Müller, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes III: 1850–1866. 1–4 (wie Anm. 4); Eckard Treichel (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. I: 1813–1830, Bd. 1.1–1.2 (1813–1819), München 2000–2016.

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Wolf D. Gruner

schen Kaiserreiches von 1871“. 19 Die Otto-von-Bismarck-Stiftung in Schönhausen an der Elbe verfügte über einen Sonderstempel für das Sonderpostwertzeichen 150 Jahre Norddeutscher Bund 1867/2017 mit dem Wert € 3,20. Der Sonderstempel vom 13. Juli 2017 für die „Erstausgabe 150 Jahre Norddeutscher Bund 18672017 – Consulat des Norddeutschen Bundes zu St. Johns“ konnte vor Ort am 13. Juli 2017 abgestempelt werden. 20 Die Sonderbriefmarke zeigte das Siegel des Norddeutschen Bundes mit seinen Mitgliedstaaten. 21 Die Otto-von-BismarckStiftung in Friedrichsruh eröffnete am 16. Juli 2017 die Ausstellung „Auftakt zum Nationalstaat: Der Norddeutsche Bund 1867–1871“. Die Deutsche Post hatte in der Sonderausstellung ein Sonderpostamt aufgebaut. Dort wurden Ersttagblätter und Ersttagsbriefe mit der Sonderbriefmarke „150 Jahre Norddeutscher Bund“ ausgegeben. 22 Mit Beginn der militärischen Auseinandersetzungen hatte Preußen Hannover, Sachsen und Kurhessen aufgefordert seine Truppen sofort auf den Friedensstand zu setzen und der „Berufung des deutschen Parlaments zustimmen“. Preußen sicherte „nach Maßgabe der Reformvorschläge“ Preußens am Bund vom 14. Juni 1866 diesen Staaten eine Souveränitäts- und Territorialgarantie zu. 23 Die Landesherren lehnten die preußischen Aufforderungen ab, da diese zur Mediatisierung ihrer Staaten führen würden. Gleichzeitig richtete Preußen identische Noten an die nord- und mitteldeutschen Staaten und lud sie ein „mit ihr ein Bündniß auf den Grundlagen einzugehen, welche mit einem baldigst zu berufenden Parlament zu vereinbaren sein würden, ferner ihre Truppen ungesäumt auf den Kriegsfuß zu setzen und Sr. Majestät dem König zur Vertheidigung ihrer Unabhängigkeit und ihrer Rechte zur Verfügung zu halten, sobald diese von Preußen erfolgt. Dagegen soll preußischerseits die Zusage ertheilt werden, daß, im Fall dieser Einladung entsprochen werde, den genannten Staaten die Unabhängigkeit und Integrität des Gebiets nach Maßgabe der Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung vom 10. Juni 1866“ gewährleistet werden werde. 24 Die meisten nord- und mitteldeutschen Kleinstaaten entschieden sich schließlich aus existenziellen Gründen für ein Bündnis mit Preußen. Nach Ablehnung der preußischen Sommation rückten am 16. Juni 1866 preußische Truppen in Sachsen, Hannover und Kurhessen ein. Am 20. Juni 1866 übernahm der preußische General Vogel von Falkenstein in einer Proklamation 19 20 21 22 23

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Historische Ausstellungen Deutscher Bundestag (wie Anm. 2), Abteilung „Preußen und der Norddeutsche Bund“. Deutsche Post – Stempel & Informationen – das Informationsblatt der Deutschen Post PHILATELIE, Ausgabe 13/2017, 9, 39524 Schönhausen (Elbe) – 13.7.2017/Nr. 13/180. https://shop.deutschepost.de/briefmarke-nassklebend-150-jahre-norddeutscher-bund-3-30eur-10er-bogen (Zugriff 27.8.19). Vgl. https://www.bismarck-stiftung.de/tag/ausstellung/ (Zugriff 27.8.19). Sommation Preußens an Sachsen, Hannover und Kurhessen v. 15.6.1866, zitiert nach: Heinrich Schulthess, Europäischer Geschichtskalender. Siebenter Jahrgang 1866 (In der Folge Europäischer Geschichtskalender), Nördlingen 1867, 94–97. Ebd., 101f.

Einleitung

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die Verwaltung des Königreiches Hannover: „Die Verwaltung des Königreichs Hannover geht von heute an auf mich über. Die verschiedenen Behördenhaben von nun an nur Befehle von mir und dem als k. preußischen Commissarius für die Civilverwaltung bestimmten Landrath Frhrn. v. Hardenberg anzunehmen und auszuführen“. 25 Im preußisch besetzten Kurhessen sprach General von Bayer vor dem landständischen Ausschuss des Kurfürstentums in Kassel. Ihn und seine Truppen erfüllten eine herzliche und brüderliche Gesinnung für das „brave Volk der Kurhessen“. Der Kurfürst habe sich zum Schaden des Landes gegen Preußen gestellt. Die „Räthe des Kurfürsten, welche die feindselige Haltung angerathen haben […] können ihre Functionen nicht weiter fortsetzen“. Die unvermeidlichen Lasten und Störungen durch die Besetzung des Kurfürstentums sollten möglichst erleichtert und die Verwaltung solle auf allen Ebenen ungehemmt weiterarbeiten. Die oberste Leitung des Landes solle Männern aus dem landständischen Ausschuss anvertraut werden, die das „Vertrauen des Landes besitzen“. Diese wird „unter meiner Leitung stehen“. Der Ausschuss lehnte die Aufforderung von Bayers „als über seine Zuständigkeit gehend“ ab. 26 Daraufhin übernahm General von Bayer „die Regierung des Landes“ im Namen des preußischen Königs. Er werde „die Verfassung und die rechtmäßigen Landesgesetze des Kurstaates“ beobachten und aufrechterhalten, „soweit der Kriegszustand es irgend zuläßt und die auch von der Landesvertretung Kurhessens beständig erstrebte bundesstaatliche Einigung Deutschlands nicht Aenderungen erfordern sollte“. 27 Bayer übernahm die in der Verfassung festgelegten Befugnisse der einzelnen Ministerien und behielt sich vor „kurhessische Staatsbeamte mit der verfassungsmäßigen Fortführung der laufenden Geschäfte in der Verwaltung der Justiz, des Innern und der Finanzen zu beauftragen“. 28 Bayer versprach auch die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um den vollen „verfassungsmäßigen Rechtszustand“ wiederherzustellen. Er gab der Hoffnung Ausdruck bei „gegenseitigem Vertrauen wird es unserm vereinten Streben […] gelingen, bessere Zustände und hellere Tage für das kurhessische Land herbeizuführen“. 29 Die Ministerien waren zunächst nicht bereit unter General von Bayer als Gouverneur die laufenden Verwaltungsgeschäfte fortzuführen, fügten sich aber. Als der Kurfürst Friedrich Wilhelm I. von Hessen sich erneut weigerte preußische Anträge zur Verständigung zu akzeptieren wurde er gefangen gesetzt und nach Stettin verbracht. Im Exil auf seinen böhmischen Besitzungen verfasste er eine Denkschrift über die Ereignisse von 1866, die „blu25 26 27

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Ebd., 110 (Proclamation die Verwaltung des Königreichs [General Vogel von Falkenstein] v. 20.6.1866). Ebd., 112 (Ansprache General von Bayers vor dem versammelten landständischen Ausschuss v. 20.6.1866). Ebd., 112f. (Proclamation des Generals an das kurhessische Volk v. 20.6.1866) – Ebd., 114 (Rundschreiben v. 21.6.1866 an alle Behörden seinen Befehlen Folge zu leisten. Verweigerungen werde er „mit militärischen Zwangsmaßregeln auf das Entschiedenste entgegentreten“). Ebd., 113. Ebd.

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tige Katastrophe“, die Umwälzung der Verhältnisse in Deutschland. Aus dynastischer Selbstsucht wurden die Rechte der Kronen und Völkerschaften missachtet und ein „Gebilde“ geschaffen, das den Interessen und Wünschen der Nation nicht entsprach. 30 In einem „Scheidegruß“ wandte er sich ehe er „in Kriegsgefangenschaft ins Ausland abgeführt“ und das „Land zu verlassen genöthigt“ werde an sein „getreues Volk“ und forderte die Beamten und Diener in den besetzten Landesteilen auf „die ihren Amtsverhältnissen entsprechenden Functionen fortzuführen“. 31 Die Besetzung von Kurhessen, Nassau und Frankfurt durch preußische Truppen erfolgte ohne nennenswerten militärischen Widerstand von Seiten des Militärs. Der Kommandierende des 8. Bundesarmeekorps, Prinz Alexander von Hessen, hatte am 13. Juli 1866 mitgeteilt, dass er den Bundestag und die Freie Stadt Frankfurt nicht länger schützen könne. Der Bundestag verlegte daraufhin seinen Sitz provisorisch nach Augsburg. Der Frankfurter Senat verkündete am 14. Juli 1866 in einer Proklamation an die Bürgerschaft, dass auch Frankfurt durch den ausgebrochenen Krieg „zwischen deutschen Bruderstämmen“ in den Konflikt einbezogen werden könne. Frankfurt sei eine freie, offene Stadt und stehe „als solche unter dem Schutze des durch die Anerkennung aller Nationen geheiligten Völkerrechts. Leben und Eigenthum der Bürger und Einwohner erscheinen daher in keiner Weise bedroht“. 32 Der Senat stehe „treu zu dem Bunde“, sei aber auch der Meinung, dass eine „Umgestaltung der Bundesverfassung, die Schaffung einer starken Zentralgewalt und die Einsetzung einer wirksamen Vertretung des gesammten deutschen Volkes für dringend geboten und wird sich freudig allen hierauf gerichteten Bestrebungen anschließen“. 33 Das Bekenntnis zum Bund und die Mobilisierung des Frankfurter Kontingents halfen der Stadt nichts. Am 16. Juli ermahnte der Senat die Bevölkerung die Preußen beim Einzug freundlich zu empfangen. Am 17. Juli übernehmen die Preußen die Regierungsgewalt in Frankfurt. Preußen fordert eine Kontribution vom 6 Millionen Gulden, die General Manteuffel am 20. Juli auf 25 Millionen erhöhte. Die „gesetzgebende Versammlung lehnt die Zumuthung wiederholt entschieden ab“. 34 Preußen ernennt am 21. Juli General von Röder zum Stadtkommandanten und Landrat von Diest zum Zivilkommissar. General von Röder entscheidet sich für „energische Maßregeln bezüglich der Contributionen von 25 Mill.“. Er verlangt von Bürgermeister Fellner ihm eine Liste der wohlhabendsten Einwohner zu übergeben. Fellner „erhängt sich in Folge dieser Zumuthung“. 35 Ende Juli 1866 setzte der König von Preußen die Kontribu30

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Friedrich Wilhelm von Hessen, Denkschrift Sr. Königlichen Hoheit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. von Hessen, betreffend die Auflösung des Deutschen Bundes und die Usurpation des Kurfürstenthums durch die Krone Preußen, Prag 1868 (als Google Buch verfügbar). Europäischer Geschichtskalender 1866 (wie Anm. 23), 116 (Proclamation von Kurfürst Friedrich Wilhelm I. am 23.6.1866 „An mein getreues Volk!“). Ebd., 137 (Proclamation des Senats an die Bürgerschaft der Stadt v. 14.7.1866). Ebd. Ebd., 143. Ebd., 145.

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tionsforderungen aus. Von allen zu annektierenden Staaten musste Frankfurt am meisten unter der preußischen Besatzung leiden. Neben der sofort zu zahlenden Kontribution von 6 Millionen Gulden und den weiteren Forderungen musste die Stadt Quartiere und Verpflegung für 25000 Soldaten bereitstellen. Zeitungen durften nicht mehr erscheinen, private Reitpferde wurden beschlagnahmt und die Verfassungsorgane (Senat – Gesetzgebender Körper – Bürgerrepräsentation) suspendiert. Warum Frankfurt von der Besatzungsmacht so behandelt wurde kann u.a. darauf zurückzuführen sein, dass die Frankfurter keine Preußenfreunde waren und sich über ein Jahrhundert als „Musspreußen“ ansahen und dass Frankfurt 1865 seine Souveränität und Eigenständigkeit demonstriert hatte als es eine Abgeordnetenversammlung von Mitgliedern deutscher Landesvertretungen erlaubte und betonte dass die Versammlungen den Frankfurtischen Gesetzen für Vereine und die Presse und auch den Gesetzen des Bundes entsprechen. 36 In seiner Antwortnote verwies der Senat auch auf das allgemeine „Bedürfniß nach Veränderung in der politischen Organisation“, das „sich mehr und mehr fühlbar“ mache. 37 Das Herzogtum Nassau war seit seiner Gründung 1806 durch innere Reformen gekennzeichnet und erhielt 1814 als erster Staat des künftigen Deutschen Bundes eine moderne landständische Verfassung. Die Reformpolitik endete 1819/20. Ein gewichtiger innenpolitischer Konflikt war, dass die Herzöge von Nassau – da standen sie im Gegensatz zu anderen deutschen Fürsten – nicht bereit waren zwischen Staatseigentum und Privateigentum zu trennen. Dies führte immer wieder zu Konflikten, da die Herzöge die uneingeschränkte Verfügungsgewalt „über den riesigen Domänenbesitz, zu dem auch Bergwerke und Staatsbäder gehörten“. 38 Der Domänenkonflikt war innenpolitisches Dauerthema bis zum Ende des Herzogtums. Er entfremdete das Herrscherhaus vom liberalen Bürgertum, aber auch die Landbevölkerung. Hinzu kam die Wirtschaftspolitik der Herzöge, die sich lange weigerten, aus Angst vor dem politischen und wirtschaftlichen Nachbarn Preußen dem Zollverein beizutreten. Die Wirtschaft des Landes war aber auf den Handel mit den norddeutschen Staaten angewiesen, die u.a. Wein und Eisenerz abnahmen. Die Bevölkerungsmehrheit des Herzogtums lebte auf dem Land unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen als Kleinbauern und Tagelöhner und musste vielfach durch Nebentätigkeiten zusätzlich arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Viele Nassauer verdingten sich als Saisonarbeiter. Zehntausende wanderten aus. Zwischen dem Herzog und den Ständen herrschte seit 1863 ein Dauerkonflikt. Drei Mal wurde der Landtag aufgelöst, da Herzog Adolf einen Beschluss der liberalen Mehrheit, die Verfassung von 1849 wieder herzustellen, weil sie die bundestaatliche Einheit Deutschlands verlangte oder den

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Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1865: Abgeordnetenversammlung in Frankfurt 1. Oct., 119–123; ebd. Protestnote Österreichs und Preußens v. 6./8.10.1865, 123–125 – ebd., 132 f. Antwort des Frankfurter Senats v. 30.10.1865. Ebd., 133. Wolf-Arno Kropat, Das Herzogtum Nassau zwischen Rheinbund und Revolution 1806–1866, in: Schultz, Geschichte Hessens. Stuttgart 1983, 171–181, 174.

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Staatshaushalt nicht genehmigten. Als der Herzog im Frühjahr 1866 Mittel für das nassauische Militär beantragte lehnten dies die Stände zwei Mal ab und forderten eine Neutralität des Landes. Der Herzog beschaffte sich daraufhin heimlich einen Kredit des Bankhauses Rothschild. 39 Nach der Schlacht von Königsgrätz wird Nassau kampflos von preußischen Truppen besetzt. Am 15. Juli 1866 verlässt Herzog Adolf das Herzogtum. In seiner Proklamation an sein Volk heißt es: „Der Feind der deutschen Bundessache nimmt seit gestern eine Stellung ein, die mich nöthigt, um nicht nach einem in der Geschichte der Civilsation einzig dastehenden Beispiel der letzten Wochen, in Kriegsgefangenschaft gerathen, euch auf – so Gott will – kurze Zeit zu verlassen“. 40 Am 30. Juli 1866 wurde eine Zivilverwaltung eingesetzt und die Chefs der Regierungsdepartements abgelöst. Bereits am 31. Juli erhielt der preußische Zivilkommissar von Diest eine Petitionen von 40 nassauischen Unternehmern und liberalen Abgeordneten in der sie den Wunsch des Kerns der nassauischen Bevölkerung formulierten, nämlich die „rückhalt- und bedingungslose Einverleibung in die preußische Monarchie“. 41 Weitere Petitionen mit ähnlichem Tenor folgten. Die Einbindung Nassaus in die preußische Monarchie erfolgte nach 1866 in keinem der annektierten Staaten so reibungslos wie dort. Wenn sich Nassau „so sang- und klanglos aus der Geschichte verabschiedete“ hatte dies „seinen Grund in der innenpolitischen Konflikten“ seit 1848/49: Die Herzöge stützten sich auf Beamtentum und Militär, nicht auf die bürgerliche Intelligenz. Anders als der Herzog sah das Bürgertum die Zukunft des Landes in der Vereinigung Deutschlands unter preußischer Führung und auch in der Wirtschaftspolitik wünschte das nassauische Bürgertum – anders als der Herzog – eine enge Zusammenarbeit mit Preußen. Vor allem aber war es das Ringen um eine freiheitliche Verfassung, das immer wieder neue Konflikte zwischen dem liberalen Bürgertum und der herzoglichen Regierung schuf“. 42

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Vgl. Kropat, Das Herzogtum Nassau (wie Anm. 38), 174ff.; Schulthess, Europäischer Geschichtekalender 1866, 56 (28.5.), 61 (12.5.), 63 (16.5.), 76 (5.6.), 89 (13.6.), 118 (26.6.), 125 (30.6.), 129 (5.7.). Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866, 138 (Proclamation von Herzog Adolph an sein Volk). Zitiert nach Kropat, Herzogtum Nassau (wie Anm. 38), 180. Kropat, Herzogtum Nassau (wie Anm. 38), 180f.

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Nach dem Krieg von 1866 verlor das Kurfürstentum Hessen, 43 das sich im Konflikt zwischen Preußen und Österreich in der Bundesexekutionsfrage schließlich auf die Seite des Bundes schlug seine Eigenständigkeit, 44 so auch das Herzogtum Nassau 45 und die Freie Stadt Frankfurt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten diese unter Einbeziehung des rechtsrheinischen Gebietes des Großherzogtums

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Hellmut Seier, Modernisierung und Integration in Kurhessen 1803–1866, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Das Werden Hessens, Marburg 1986, 431–479; Hellmut Seier, Der unbewältigte Konflikt. Kurhessen und sein Ende 1803-1866, in: Uwe Schultz, Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983, 160–170; ders., Kurhessen und Deutschland im 19. Jahrhundert. Grundzüge ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte 105/2000, 135–147; Robert Friderici, 1866. Bismarcks Okkupation und Annexion Kurhessens, Kassel 1989, 44ff.; Thomas Klein, Preußische Provinz Hessen-Nassau 1866– 1944/45, in: Walter Heinemeyer (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte Bd. IV.2, Marburg 1998, 213–419, bes. 215ff. Vgl. Christine Goebel, Die Bundes- und Deutschlandpolitik Kurhessens in den Jahren 1859 bis 1866. Eine Analyse zur Untergangsphase des Deutschen Bundes, Marburg 1995, 375 ff. Kropat, Das Herzogtum Nassau (wie Anm. 38), 171–181; Winfried Schüler, Das Herzogtum Nassau 1806–1866. Deutsche Geschichte im Kleinformat, Wiesbaden 2006.

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Hessen das Bundesland Hessen. 46 Das Königreich Hannover wurde ebenfalls annektiert und wurde zur preußischen Provinz Hannover. 47 Die Eingliederung von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt in die preußische Monarchie 48 diente militärisch-strategischen Überlegungen. 49 Daher marschierten preußische Truppen sofort in Hannover und Kurhessen ein. Die Annexionen ermöglichten die Bildung eines geschlossenen Staatsgebietes von den preußischen Rheinprovinzen im Westen bis nach Ostpreußen im Osten. Vor allem Hannover und Kurhessen wurden innerhalb weniger Tage militärisch besetzt und es wurde eine Militär- und Zivilverwaltung eingesetzt. Die Preußen wurden von der Bevölkerung teilweise begrüßt und freundlich aufgenommen. Vielfach war dies auch auf die Unzufriedenheit mit der früheren Herrschaft, aber auch auf Misswirtschaft und fehlende Reformpolitik zurückzuführen. Verschiedene liberale und konservative preußische Abgeordnete forderten nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 im Zuge der Neuordnung Norddeutschlands alle Staaten dieses Raumes zu annektieren und dem Königreich Preußen einzuverleiben. Dies war jedoch aufgrund der europäisch-internationalen Rahmenbedingungen nicht durchzusetzen. Im preußischen Abgeordnetenhaus fand am 7. September 1866 eine Debatte über die Annexionen von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt statt. Im Antrag der Kommission hieß es, 50 dass die genannten Staaten „in Gemäßheit des Art. 2 der Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat mit der preußischen Monarchie für immer vereinigt“ werden. In diesen Gebietsteilen trete die preußische Verfassung am 1. Oktober 1867 in Kraft. Die Kommission erkannte in der königlichen Botschaft und der Gesetzesvorlage „den Beginn eines neuen Abschnitts nationaler Entwickelung“. In der Generaldebatte wurde die Frage der Rechtmäßigkeit der Einverleibung dieser Gebiete in den preußischen Staat diskutiert, die in verschiedenen Petitionen gestellt wurde. Bismarck vertrat die Ansicht, dass Preußen das „Recht der Eroberung mit vollster Wirkung für Preußen in An-

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Vgl. zur Geschichte Hessen u.a. Heinemeyer, Das Werden Hessens (wie Anm. 23); Walter Heinemeyer (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte Bd. IV.2, Marburg 1998 – Karl E. Demandt, Geschichte des Landes Hessen, 1997; Bernd Heidenreich/Angelika Röming (Hg.), Das Land Hessen. Geschichte – Gesellschaft – Politik, Stuttgart 2014. Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Georg Aschoff, Vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz in diesem Band. Münchener Punsch 19, Bd. Nr. 40 v. 7.10.1866, 317 (Privatbesitz) – Verfügbar auch: https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb106149999_0033 (Zugriff 16.11.2019). Vgl. hierzu u.a. Hans A. Schmitt, Prussia’s Last Fling: The Annexation of Hanover, Hesse, and Nassau, June 15-October 8, 1866, In: CEH 8/1975, 316–347; Franz Lerner, Die Folgen der Annexion für Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main; in: Akademie für Raumplanung und Landesplanung (Hg.), Grenzbildende Faktoren in der Geschichte, Hannover 1969, 123–175. Antrag der Kommission des Abgeordnetenhauses v. 7.9.1866, Die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt (Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866, 188).

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spruch“ genommen werden könne. 51 Mitglieder der Kommission regten an, dass sich Preußen einen anderen Rechtstitel suchen müsse, denn das „sei die nackte Gewalt, welche in der Gegenwart zur Rechts- und Staatsbildung nicht mehr ausreiche“. 52 Bismarck verwahrte sich gegen den Vorwurf der nackten Gewalt. Er „rechtfertigte die Eroberung mit dem Recht der deutschen Nation, zu existiren, zu athmen und sich zu einigen, zugleich aber mit dem Recht und der Pflicht Preußens, dieser deutschen Nation die für ihre Existenz nöthige Basis zu liefern“. 53 In der Debatte bedauerte der Abgeordnete Kirchmann, dass Preußen den kleinen Staaten, die am Krieg teilnehmen wollten „viel zu voreilig ihren Territorialbestand zugesichert, deren Hilfe sehr unbedeutend war und meist erst nach gefallener Entscheidung eintraf. Im Interesse der Einheit Deutschlands ist das sehr zu beklagen, und für Preußens Macht wäre es gewiß besser, wenn ganz Norddeutschland einschließlich Sachsens zu Einem preußischen Staate erhoben werden könnte“. 54 Der Abgeordnete Gneist sah in der Einbeziehungen von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt keine Annexionen, sondern „Reunionen“. Er argumentierte, die „kleine Souveränität der Einzelstaaten ist in Deutschland das Unhistorische, das durch den Rheinbund und Napoleon Gemachte und Aufgedrungene. Das Rückgängigmachen dieser willkürlichen Schöpfungen ist keine Annexion, sondern Reunion“. 55 Der Antrag der preußischen Regierung wird mit 273 gegen 14 angenommen. Die Gegenstimmen „meist von der äußersten Linken“. Die Polen enthielten sich bei der Abstimmung. 56 Am gleichen Tag legte Bismarck dem Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf für die Annexion von Schleswig-Holstein vor und wünschte „rasche Erledigung desselben, etwa durch summarische Behandlung in der Schlußberathung“. 57 Durch das preußische Annexionsgesetz vom 20. September 1866 wurden das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt mit der preußischen Monarchie vereinigt. 58 Die nord- und mitteldeutschen Staaten der „Augustverträge“ vom 18. August 1866 denen sich am 21. August noch die beiden Mecklenburg anschlossen hatten

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„Bericht der Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses zur Annexion von Hannover…“ (Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866, 189). Ebd., 189. Ebd. Ebd., 192 (Abg. Kirchmann). Ebd. 192f. (Abg. Gneist). Ebd. Ebd. Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851-1918, Stuttgart 1964, Nr. 181a, b, 216f.; Leider konnten an der Tagung zum Norddeutschen Bund 2017 in Berlin keine Beiträger zu Kurhessen, zum Herzogtum Nassau und zur Freien Stadt Frankfurt teilnehmen. Es wurden daher einleitend einige Aspekte der völkerrechtlichen Problematik der Annexionen dargestellt und diskutiert. Zwei Beiträge zu Schleswig und Holstein (Kersten Krüger, Reimer Hansen) werden im Bd. 32 HMRG veröffentlich werden.

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mit Preußen ein Verteidigungsbündnis, begrenzt auf ein Jahr abgeschlossen (§ 1). Es war ein Offensiv- und Defensiv-Bündnis „zur Erhaltung der Unabhängigkeit und Integrität, sowie der inneren und äußeren Sicherheit ihrer Staaten“. Der Bündnisvertrag sicherte damit den Bundeszweck des wenige Tage später aufgelösten Deutschen Bundes, die Existenzgarantie und die Sicherheit der Mitgliedstaaten. Die Augustverträge waren zugleich ein Vorvertrag für die Gründung eines Bundesstaates wie dieses Artikel 2 festlegte. Die Zwecke des Bündnisses sollten auf der Grundlage der preußischen Vorschläge vom 10. Juni 1866 für eine neue Bundesverfassung sichergestellt werden. Diese sollte „unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments“ erarbeitet werden. Grundlage für die Wahl des Bundesparlamentes sollte das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 sein. Die Verträge vom 18. August waren völkerrechtliche Verträge. Sie waren ein Vorvertrag für eine „Staatenverbindung“ auf der Grundlage der von Preußen in der Bundesversammlung vorgelegten Vorschläge vom 10. Juni 1866 59 mit dem Ziel der Gründung eines Bundesstaates. 60 Im Auftrag Bismarcks wurden verschiedenen Verfassungsentwürfe, u.a. von Max Duncker, 61 erarbeitet und überarbeitet. In mehreren Konferenzen mit den Mitgliedstaaten des Nordbundes seit dem 15. Dezember 1866 zu dem der Verfassungsentwurf vorgelegt wurde, wurde über die künftige Verfassung für den Norddeutschen Bund diskutiert. 62 Ein vor allem von den Nationalliberalen angestrebte Einheitsstaat stieß auf den Widerstand der künftigen Mitglieder des Bundes. Bismarck einigte sich schließlich mit den Mitgliedstaaten am 18. Januar 1867 auf einen Verfassungsentwurf. Die Zustimmung der Bevollmächtigten der norddeutschen Bundesstaaten war einstimmig. Die „Krone Preußen“ wurde ermächtigt, „dem Reichstrage den Verfassungsentwurf über den die verbündeten Regierungen sich geeinigt haben werden, vor-

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Bundesarchiv Berlin – Deutscher Bund (in der Folge BAB-DB) Prot. Bundesversammlung (in der Folge BV) 24. Sitzung v. 10.6.1866, § 170, Beilage: Preußen, Grundzüge einer Bundesverfassung. Vgl. Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495 bis 1934), Berlin: 2008, 490 f.; Michael Kotulla (Hg.), Deutsches Verfassungsrecht 1806– 1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen. Bd.1: Gesamtdeutschland, Anthaltinische Staaten und Baden, Berlin 2006, Nr. 1215, 1124–1127; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart: 31970, 644f., 645. Vgl. Heinrich Triepel, Zur Vorgeschichte der norddeutschen Bundesverfassung, in: Festschrift für Otto von Gierke, Weimar 1911 (Nachdruck 1987), 589–644. Anlage 1: Vorentwurf v. Maximilian Duncker. Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1866, 212 f. (Eröffnung der Sitzung der Bevollmächtigten der Regierungen des Norddeutschen Bundes in Berlin 15.12.1866. Bismarck betont die Notwendigkeit, dass die neue Verfassung die Mängel und Defizite der des Deutschen Bundes überwinden müsse und Preußen zweifle nicht an dem Willen der Verbündeten „dem Verlangen des deutschen Volks seine Sicherheit, seine Wohlfahrt, seine Machtstellung unter den europäischen Nationen durch gemeinsame Institutionen dauernd verbürgt zu sehen, alle entgegenstehenden Hindernisse überwinden werde“[213]) – Vertagung über Neujahr (23.12. 1866, 214).

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zulegen und für dessen Vertretung dem Reichstage gegenüber die nöthige Vorsorge zu treffen“. 63 Der Norddeutsche Reichstag wurde nach den allgemeinen Wahlen vom 12. Februar 1867 vom König von Preußen zum 24. Februar 1867 nach Berlin einberufen. In seiner Eröffnungsrede verwies der preußische König Wilhelm auf den Niedergang des einst mächtigen, großen und geehrten deutschen Reiches, das „einig und von starker Hand geleitet“ wurde nicht ohne seine Mitschuld „in Zerrissenheit und Ohmacht“ verfiel, des „Gewichtes im Rathe Europa’s, des Einflusses auf die eigenen Geschicke“ beraubt, zur „Wahlstatt der Kämpfe fremder Mächte“ wurde. Die Geschichte unserer Zeit sei erfüllt, „von den Bestrebungen, Deutschland und dem Deutschen Volke die Größe seiner Vergangenheit wieder zu erringen“. 64 Es gehe um die „Einigung des Deutschen Volkes“. Die verbündeten Regierungen haben daher, an „gewohnte frühere Verhältnisse“ anknüpfend sich „über eine Anzahl bestimmter und begrenzter, aber praktisch bedeutsamer Einrichtungen verständigt, welche ebenso im Bereiche der unmittelbaren Möglichkeiten, wie des zweifellosen Bedürfnisses liegen. Der Ihnen vorzulegende Verfassungs-Entwurf muthet der Selbständigkeit der Einzelstaaten zu Gunsten der Gesammtheit nur diejenigen Opfer zu, welche unentbehrlich sind, um den Frieden zu schützen, die Sicherheit des Bundesgebietes und die Entwicklung der Wohlfahrt seiner Bewohner zu gewährleisten“. 65 König Wilhelm dankte seinen Verbündeten für die Bereitwilligkeit sich für das „Gesammtwohl Deutschlands“ einzusetzen und ihm als König von Preußen, des mächtigsten Staat des Gemeinwesens, die Leitung des Bundesstaates zu übertragen und meinte, dass als „Erbe der Preußischen Krone aber fühle ich Mich stark in dem Bewußtsein, daß alle Erfolge Preußens zugleich Stufen zur Wiederherstellung und Erhöhung der Deutschen Macht und Ehre geworden sind“. 66 Bei der Prüfung des Verfassungsentwurfes müssten die Abgeordneten die „schwer wiegende Verantwortung für die Gefahren im Auge behalten, welche für die friedliche und gesetzmäßige Durchführung des begonnenen Werkes entstehen könnten, wenn das für die jetzige Vorlage hergestellte Einverständniß der Regierungen für die vom Reichstage begehrten Aenderungen nicht wieder gewonnen würde“. 67 Wilhelm appellierter an die Mitglieder des Reichstages „den günstigen Zeitpunkt zur Errichtung des Gebäudes nicht zu versäumen; der vollendetere Ausbau desselben kann alsdann getrost dem ferneren Wirken der Deutschen Fürsten und Volksstämme überlassen bleiben“. Der preußische König ging auch auf die „nationalen Beziehungen“ zu den süddeutschen Staaten ein. Nach der Verabschiedung der Verfassung für den Norddeutschen Bund „wird unsere Hand den Süddeutschen Brüdern offen und entgegenkommend dargereicht werden […] um zur Abschließung von Verträgen

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Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 40f., 41. Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes (in der Folge Prot. RTNB), Eröffnungssitzung v. 24.2.1867, I. Ebd. Ebd. Ebd., II.

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befähigt zu sein“. 68 Der Zollverein müsse erhalten bleiben, angestrebt werden müsse „die gemeinsame Pflege der Volkswirthschaft, die gemeinsame Verbürgung für die Sicherheit des Deutschen Gebietes“. 69 König Wilhelm betonte in seiner Eröffnungsansprache, dass der Norddeutsche Bund einen defensiven Charakter haben werde und keine „feindliche Tendenz gegen unsere Nachbarn, kein Streben nach Eroberung habe, sondern lediglich das Bedürfniß, den weiteren Gebieten von den Alpen bis zum Meere die Grundbedingungen des staatlichen Gedeihens zu gewähren, welcher ihnen der Entwicklungsgang früherer Jahrhunderte verkümmert hat“. 70 Dem Norddeutschen Reichstag wurde der ausgehandelte Verfassungsentwurf am 4. März 1867 vorgelegt. 71 Der Entwurf wurde gleich gedruckt und jeder Abgeordnete sollte schnellstmöglich ein Exemplar erhalten. Die Verfassungsberatungen begannen in der 14. Sitzung vom 18. März 1867. 72 Der Verfassungsentwurf wurde eingehend, teils emotional im Spannungsfeld von Unitarismus und Föderalismus diskutiert. Der Norddeutsche Reichstag erreichte einige Veränderungen im Vergleich zum ursprünglich vorgelegten Entwurf vom 4. März 1867.73 In den Debatten des Reichstages über den Verfassungsentwurf wurde vor allem diskutiert, ob der Staatsaufbau des Norddeutschen Bundes mehr föderativ oder unitarisch sein sollte. Die Fortschrittspartei forderte in den Diskussionen den Norddeutschen Bund zu einem Einheitsstaat auszubauen. Der Abgeordnete Waldeck forderte, dass neben der Annexion so wichtiger Länder „auch jene anderen kleineren Gebiete von 5 Millionen Bevölkerung“ in den preußischen Staat eingliedert und einen Einheitsstaat schafft. 74 Die Vertreter der Parteien der Katholiken, der Welfen, der Dänen und Polen plädierten dagegen für ein „staatenbündisches System“. Bismarck ging in seiner Rede vom 11. März 1867 auf die Debatten über Föderalismus und Unitarismus ein. „Es hat nicht unsere Absicht sein können, ein theoretisches Ideal einer Bundesverfassung herzustellen, in welcher die Einheit Deutschlands einerseits auf ewig verbürgt werde, auf der andern Seite jeder particularistischen Regung die freie Bewegung gesichert bleibe. Einen solchen Stein der Weisen, wenn er zu finden ist, zu entdecken, müssen wir der Zukunft überlassen“. 75 Es könne auch nicht Aufgabe Preußens sein in sich diesem Bunde auf seine Macht zu berufen und so Konzessionen zu erzwingen. Grundlegend sei für Preußen vertragstreu zu sein und das Vertrauen der Bundesgenossen nicht zu erschüttern. Bismarck sprach sich gegen einen Einheitsstaat aus, gegen 68 69 70 71 72 73 74 75

Ebd. Ebd. Ebd. RTNB Prot. 6. Sitzung v. 4.3.1867, 41; Text auch Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 54-64. RTNB Prot. 14. Sitzung v. 18.3.1867, 205ff.; ebd., Prot. 15. Sitzung v. 19.3.1867, 233ff.; ebd., 16. Sitzung v. 20.3.1867, 269ff.; ebd., Prot. 19. Sitzung v. 26.3.1867, 349ff. Vgl. hierzu ausführlich: Huber, Verfassungsgeschichte III (wie Anm. 8). RTNB Prot. 9. Sitzung v. 9.3.1867, 107ff. (Abg. Dr. Waldeck. 107). RTNB Prot. 10. Sitzung v. 11.3.1867, 136.

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Mediatisierung der Kleinstaaten, aber auch gegen Partikularismus. Er forderte die Abgeordneten auf zu arbeiten, um die Verfassung zu verabschieden: „Meine Herren! Arbeiten wir rasch! Setzen wir Deutschland, so zu sagen, in den Sattel! Reiten wird es schon können“. 76 In der 34. Sitzung vom 16. April 1867 – innerhalb von sechs Wochen – wurde die endgültige Fassung der Verfassung des Norddeutschen Bundes mit zahlreichen Änderungen erarbeitet und schließlich mit 230 Ja- und 53 Nein-Stimmen angenommen. 77 Der letzte Artikel der Verfassung behandelte das Verhältnis zu den süddeutschen Staaten: „Die Beziehungen des Bundes zu den süddeutschen Staaten werden sofort nach Feststellung der Verfassung des norddeutschen Bundes, durch besondere dem Reichstage zur Genehmigung vorzulegender Verträge, geregelt werden“. 78 Nach Annahme der Verfassung durch den Reichstag unterzeichnen die Bevollmächtigten der verbündeten Regierung in einer Sitzung die Verfassung des Norddeutschen Bundes, dessen Protokoll dem Reichstag übermittelt wurde. 79 Am 1. Juli 1867 trat „die Bundesverfassung im ganzen Umfange des Bundes in Kraft“. 80 Ernst Rudolf Huber bewertete die Staatsgründung und Verfassungsentstehung als ein klassisches Beispiel von Staatsgründungen, „die sich im Akt der Verfassungsschöpfung vollzogen haben. In aller Regel setzt die Entstehung einer Verfassung das Bestehen eines Staates voraus. Der bereits politisch organisierte, in einem bestimmten Kräftesystem verwirklichte Staat gibt sich seine Verfassung durch die Träger der verfassungsgebenden Gewalt. Die Staatsgründung geht der Verfassungsentstehung nicht nur logisch, sondern im Regelfall auch tatsächlich voran“. 81 Eine Woche nach der Einigung in der Luxemburgfrage am 11. Mai 1867 auf der Londoner Konferenz 82 kommentierte der Münchener Punsch den weiteren

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Ebd., 139. RTNB Prot. 34. Sitzung v. 16.4.1867, 729. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 57) Bd. 2, Nr. 187, Abschnitt XV, Art. 79, 240. RTNB Prot. 35. Sitzung v. 17.4.1867, 781. Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 130; Text der Bundesverfassung in der am 16.4.1867 beschlossenen Fassung gedruckt: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 57), 227–240. Huber, Verfassungsgeschichte III (wie Anm. 8), 669. Deutscher Text: Reichs-Gesetz-Blatt für das Kaiserthum Österreich, Jahrgang 1867, XXXIII. Stück v. 14. Juni 1867, Nr. 81: Tractat vom 11.Mai 1867; Treaty between Great Britain, Austria, Belgium, France, Italy. The Netherlands, Prussia and Russia, relative to the Grand Duchy of Luxembourg and the Duchy of Limburg. London 11.5.1867 (Michael Hurst (Hg.), Key Treaties of the Great Powers 1814-1914. Vol. 1: 1814–1870, Newton Abbot 1972, Nr. 88, 447–451; Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 341f. (Londoner Vertrag bezüglich Luxemburg); zu Luxemburg vgl. auch: Ulrich Lappenküper, Im Banne der ‚fibre national‘. Frankreich und der Norddeutsche Bund 1866–1870, in: HMRG 30, 39–61, 53ff.; John R. Davis, Grossbritannien, das Ende des Deutschen Bundes und der Norddeutsche Bund (1866–1870), in: HMRG 30, 119–147, 141ff.; Wolf D. Gruner, Die Süddeutschen Staaten: Vom Deutschen Bund zum neuen Deutschen Bund (1866–1870), in: HMRG 30, 63–97, 75ff.

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Weg zum Norddeutschen Bund mit einer Karikatur zu Mozarts Zauberflöte, die Napoleon III. und Bismarck als den „Mohr“ und als „Papageno“ darstellte. Papageno trägt die Staaten des Norddeutschen Bundes in seinem Vogelkäfig. 83

Organigramm des Norddeutschen Bundes aus: Wolf D. Gruner, Bündische Formen deutscher Staatlichkeit: Die Deutsche Hanse – Das Alte Reich – Der Deutsche Bund – Der Norddeutsche Bund – Die Bundesrepublik Deutschland – Die Europäische Gemeinschaft. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Duderstadt 1990, 61.

Geschickt hatte Bismarck die Krise um Luxemburg, die in einen militärischen Konflikt zu münden schien ausgenützt, um die das Projekt für eine gemeinsame Militärverfassung der süddeutschen Staaten angesichts der Kriegsgefahr zu hintertreiben und Druck auszuüben und den Weg zur Erneuerung des Zollvereins mittels eines Zollparlamentes zu beschleunigen. 84 Klaus Erich Pollmann beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Parlamentarismus im Norddeutschen Bund. 85 Im Jahre 1917, zum 50. Jahrestag der Konstitu-

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Münchner Punsch Bd. 20, Nr. 20 v. 19.5.1867, 153: „Scene aus der Zauberflöte“ (Privatbesitz). Verfügbar auch in den Digital-Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek München (https://reader.digital-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10615000_00167.html Zugriff 31.10.19). Vgl. hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Die süddeutschen Staaten: Vom Deutschen Bund zum neuen Deutschen Bund 1866–1870, in: HMRG 30/2019, 63–97, 75ff. Grundlegend Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870. Düsseldorf 1985.

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ierung des Norddeutschen Reichstages während des Ersten Weltkrieges, so kommentiert er einleitend, fand der Norddeutsche Bund keine herausragende Erwähnung. Auch zur 150. Wiederkehr zeigte sich, 86 dass die Gründung des Norddeutschen Bundes in der deutschen Erinnerungskultur zu Unrecht verdrängt wird durch die spektakuläre Proklamation des deutschen Kaiserreiches 1871 in Spiegelsaal von Versailles, „einem Symbolort von europäischen Rang“. 87 Der Norddeutsche Bund und Norddeutsche Reichstag als sein parlamentarisches Organ war nicht einfach das Vorstadium für das deutsche Kaiserreich. Am 25. Februar 1867 konstituierte sich der Norddeutsche Reichstag. Am 24. Februar hatte König Wilhelm I. von Preußen die Eröffnungsrede gehalten. 88 Das Preußische Herrenhaus in dem der Norddeutsche Reichstag seit dem 25. März 1867 tagte, 89 war nicht so symbolträchtig wie die Versailler Kaiserproklamation im Spiegelsaal am 170. Gründungstag des Königreich Preußen. Aus geschichtspolitischer deutscher Perspektive scheint die Reichsgründung von 1871 noch immer der Nabel der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert zu sein. Aus der Sicht der europäischen Geschichte ist sie allerdings aus einem multiperspektivischen Zugriff nicht der zentrale, gewichtige Einschnitt in der Geschichte des langen 19. Jahrhunderts, mit der sich Deutschlands Aufstieg zur wirtschaftlichen Weltmacht und halbhegemonialen europäischen Großmacht vollzog und aus der Perspektive einzelner europäischer Politiker das europäische Gleichgewicht störte. 90 Klaus Pollmann verweist auf die Selbstzweifel und die Ungewissheit über die dem Parlament zugedachte Rolle, die den Beginn der Beratungen prägte. Welche Einflussmöglichkeiten würde der Reichstag des Norddeutschen Bundes haben? Wie sollte das Verhältnis von Parlament, Bundespräsident und Bundeskanzler sein? Die Prognose war pessimistisch. Sie „beruhte nicht nur auf dem ungleichen Machtgewicht zwischen den Regierungskräften und dem Parlament, sondern auch auf dem unterschiedlichen Rollenverständnis der Abgeordneten. Die weit auseinandergehenden Auffassungen über die Funktion des Reichstages im Prozeß der Verfassungsentstehung eröffneten sehr ungünstige Aussichten auf die Kooperations- und Konsens fähigkeit des Parlaments“. 91 In der Verfassungsdiskussion in

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S.o. u.a. Interview mit Ziko van Dijk. Vgl. den Beitrag von Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund in diesem Band. RTNB Prot. v. 24.2.1867, Eröffnungsrede im Weißen Saal des Königlichen Schlosses Berlin, I-II – Ebd., Prot. 1. Sitzung v. 25.2.1867 (Vorläufige Constituirung), 1 ff. Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817–1834/38. Bd. 6/ I (Acta Borussica N.F. 1. Reihe), Regest Nr. 2, Sitzung des Staatsministeriums v. 5.1.1867, TOP 6: Herrichtung von Räumen des Herrenhauses für die Sitzungen des konstituierenden Norddeutschen Reichstages, 55f.; Michael S. Cullen, Der Reichstag. Die Geschichte eines Monuments, Berlin 1983, 47, 51. Vgl. u.a. Dieter Langewiesche, Der historische Ort des deutschen Kaiserreiches, in: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011, 23–35. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1871 (wie Anm. 85), 155.

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der Sitzung am 9. März artikulierte der Abgeordnete Dr. Benedikt Waldeck die Situation des Reichstages: „Die Lage, in der wir uns befinden ist die eigenthümlichste, in der jemals eine Versammlung gewesen ist. Wir sind zusammengerufen, ohne die geringste Kenntniß zu haben, daß von dem Entwurfe, der uns vorgelegt wurde. Wir wußten nur, daß wir irgendetwas zu berathen haben würden, aber nicht was. Das Preußische Abgeordnetenhaus hätte sehr gewünscht, daß ihm dieser Entwurf vorgelegen hätte, weil dann mit voller connaissance de cause zu entscheiden gewesen wäre, ob ein solches Wahlgesetz zu erlassen sei oder nicht“. 92 In seiner Rede kritisierte er auch, dass die Abgeordneten zwar den Verfassungsentwurf vorliegen hatten, doch, dass jedoch die „erläuternden Motive“ nicht vorlagen. Sie mussten also auf „eine authentische Auslegung der Verfassung verzichten“. Zahlreiche Abgeordnete, Diplomaten, Publizisten und Regierungsvertreter waren der Auffassung, dass der Norddeutsche Reichstag am bestem im Preußischen Landtag aufgehen sollte, eine Meinung, die in den Vorstellungen bis zum Ende des Norddeutschen Reichtages immer wieder hoch kam. In den Verfassungsdebatten wurde ausführlich auf die historische Entwicklungen in der deutschen und europäischen Geschichte eingegangen, von Karl dem Großen bis zur Gegenwart, zu zeitgenössischen Verfassungen, die abgelehnt oder befürwortet wurden und zu Fehlentwicklungen. Beschworen wurde die deutsche Einheit. Es gehe nicht „um die Wiedererlangung einer verlorenen Deutschen Einheit, sondern um die Neueroberung einer nie vorhanden gewesenen Deutschen Einigkeit […] Die Deutsche Einheit der Vergangenheit lebt in der Dichtung, und was das Reale daran ist, ist das tausendjährige ununterbrochene selbstbewußte Streben der Deutschen Nation, diese Einigung zu erlangen“. 93 Dieses Ringen verdiene die „volle Würdigung des Reichstages“. Betont wurde die „glorreiche Periode“ Preußens in der Schlussphase der Napoleonischen Kriege. In den Jahren 1809-1813 wurden die Grundlagen für die Nordbundgründung gelegt. Im Reichstag gab es keinen Dissens, dass Lehren gezogen werden müssten aus den gescheiterten „Anläufen zur Verfassungsgründung“ von 1849 und 1850. Wie und auf welchem Wege dieses geschehen sollte darüber gab es unterschiedliche Meinungen. 94 Der Abgeordnete Dr. Hans Köster 95 kommentierte in seiner Stellungnahme zum Verfassungsentwurf, dass einige Vertreter aus diesem „gar die Teufelskrallen hervorgucken“ sahen, „welche Satan nach unseren Verfassungsseelen ausstreckte“. 96 Er sah in dem vorgelegten Entwurf „nur das staatsmännische Compromiß zwischen der Nothwendigkeit der augenblicklichen Situation und einer besseren und reicheren Zukunft“. 97 Verschiedentlich wurde in der Aussprache die Schlüsselfrage des Er-

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RTNB Prot. 9. Sitzung v. 9.3.1867, 107 sowie 107 ff. RTNB Prot. 12. Sitzung v. 18.3.1867, 173 (Graf Bethusy-Huc). RTNB Prot. 10. Sitzung v. 11.3.1867 (Dr. Köster), 123ff. Zu Köster vgl. hierzu Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1871 (wie Anm. 85), 61. RTNB Prot. 10. Sitzung v. 11.3.1867, 123. Ebd.

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furter Reichstages von 1850 erörtert, nämlich, dass ein Bundesstaat durchaus eine Exekutive haben könne,. Die dem Parlament verantwortlich sein würde. Verwiesen wurde auf die damaligen partikularistischen Verweigerungen. Die deutsche Nation müsse für die Verfassung begeistert werden sollte die Verfassungsgründung nicht erneut scheitern. 98 Anfänglich führte auch die Beschränkung des Nordbundes auf die Staaten nördlich des Mains zu Irritationen. Die kurzfristigen Bedenken einiger Abgeordneten konnten aber auch als Vorteil angesehen werden. Die Gründung des Norddeutschen Bundes würde nicht von den Süddeutschen torpediert werden können. Die Mainlinie sei für viele nicht mehr, wie früher, ein „schreckliches Gespenst“. Man müsse sich fragen, „ob wir es rechtfertigen können, einen Bund zu schaffen nur für Norddeutschland, und Süddeutschland […] gewißermaßen ausschließen“. Die Mainlinie sei nicht mehr „die Scheidung zwischen zwei Machtblöcken zweier Großstaaten“. Heute „haben wir die Mainlinie, das Gespenst ist Wirklichkeit geworden. Es hat damit aber aufgehört, Gespenst zu sein, es ist eine praktisch politische […] eine heilsame Nothwendigkeit“. 99 Hervorgehoben wurde auch in den Debatten, dass es durchaus ein Vorzug sei, „daß wir in der glücklichen Lage sind, ohne Süddeutschland erst einmal in Norddeutschland den Bund unterzubringen. Ich glaube, das Werk würde uns entschieden erschwert […] wenn wir die Schwierigkeiten, in Wiederholung der Erfahrungen, die wir in Frankfurt erlebt haben, dadurch vergrößerten und erschwerten, daß wir in diesem Augenblicke schon unsre Süddeutschen Brüder mit uns in diesem Saale vereinigt sähen“. 100 Es fand aber auch bereits während der Sitzungen des konstituierenden Reichstages des Norddeutschen Bundes Stimmen sich gegenüber Süddeutschland zu öffnen und die süddeutschen Staaten schnellstmöglich einzubinden. Die Gründung des Norddeutschen Bundes finde bei den europäischen Staaten „wohlwollende Aufnahme“. Wird diese „unter allen Umständen so bleiben?“ Im Falle eines Angriffes auf Deutschland gebe es keinen Zweifel, „daß Süddeutschland wie Norddeutschland unter allen Umständen entschlossen sein würde, ganz Deutschland zu vertheidigen“. Nach der Einigung über ein Schutzund Trutzbündnis werde es nicht schwer sein „uns auch über die materiellen Interessen zu verständigen, den Zollverein fortbestehen zu lassen und ihn doch fester

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Ebd., 128–132, 129 (Dr. Braun, Wiesbaden): „Die einzelnen Länder müssen Opfer bringen, und die Volksvertretungen der einzelnen Länder müssen auch Opfer bringen. Aber die haben darüber zu wachen […] daß bei dem Transport dieser Volksrechte aus den PartialVersammlungen in die Central-Versammlung, aus der Landesvertretung in die Nationalvertretung, daß auf diesem Transport nicht allzuviel davon verloren gehe […] aber man denke auch an Erfurt, wie dort das Werk mißrathen ist, weil man es lediglich baute auf den guten Willen der Cabinette, dessen man auf die Dauer nicht versichert war, weil man damals unterließ, die Deutsche Nation für dasselbe zu entflammen, weil man entbehrte, weil man geflissentlich verschmähte, jene spontane, freiwillige, enthusiatische Huldigung der Herzen und der Geister, die keine Macht entbehren kann. Denn ich glaube, daß in dem nationalen Leben unseres Volkes mehr das Herz und der Geist den Ausschlag giebt“. 99 Vgl. RTNB Prot. 9. Sitzung v. 9.3.1867, 111–115 (Abg. Miquel), 112. 100 RTNB Prot. 12. Sitzung v. 13.3.1867 (Abg. v. Vincke), 178–185, 180.

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zu begründen, durch Aufhebung der Kündbarkeitsklausel […] Wenn es uns gelingt, hier in den nächsten Wochen und Monaten ein lebensfähiges und entwicklungsfähiges Werk zu schaffen, zunächst für den Norddeutschen Bund, so müßte man an der Zukunft von ganz Deutschland verzweifeln, wenn wir nicht in der Lage wären, schon in weniger als der Hälfte der Zeit, welche die Nordamerikanischen Staaten gebraucht haben, eine ganz Deutschland umfassende, vollkommene Reichsverfassung hergestellt zu sehen“. 101 Der Findungsprozess für den Reichstag und für die Fraktionsbildung dauerte mehrere Wochen. Pollmann schildert die Parteirichtungen, ihre Ziele, ihre Positionen und ihre Exponenten. Diskutiert wurden u.a. das Wahlrecht, das Haushaltsrecht und die Frage der Diäten. Das Zugeständnis Bismarcks an die Liberalen, dass sie außer dem Militäretat „so viel Einfluss wie möglich erhalten“ sollten wurde zunächst in seiner Tragweite nicht erkannt und bereitete 1869 eine herbe Niederlage. 102 Konfliktpunkt war auch die Ministerverantwortlichkeit der Bismarck massiven Widerstand entgegenbrachte und auf die Nationalliberalen schließlich verzichteten und lediglich die „parlamentarische Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers im engeren Sinne“ durchsetzen konnten, was die Stellung des Bundeskanzlers stärkte. Der Versuch der bundesstaatlich-konstitutionellen ein Bundesgericht einzurichten scheiterte. Der Abgeordnete Dr. Zachariae hatte den Antrag „Es wird ein ständiges Bundesgericht eingesetzt, zu dessen Zuständigkeit gehören sollen […]“ eingebracht. Der Antrag blieb „in der Minderheit“. 103Streitigkeiten unter den Bundesstaaten sollten durch den Bundesrat bzw. durch Bundesgesetzgebung geregelt werden. 104 Zusammenfassend stellt Klaus Erich Pollmann mit Blick auf die Verfassung des Norddeutschen Bund und die Zukunftserwartungen der nationalliberalen Abgeordneten fest, dass es 1867 für sie nicht vorstellbar war, dass zwei unterschiedliche politische Systeme wie der Preußische Landtag und der Reichstag bis zum Ende des Kaiserreiches nebeneinander existieren konnten, dass das Kaiserreich keine „konstitutionelle Regierung, noch ein parlamentarisches Regierungssystem“ haben würde „und nicht zu einem solchen entwickelt würde“, dass die Langzeitkonsequenzen der Trennung des Militäretats vom normalen Haushalt nicht gesehen wurden, dass das „Massenwahlrecht das Parteiensystem“ nachhaltig verändern würde und dass die Zementierung der Wahlkreiszuschnitte – die Nationalliberalen hatten dem 1869 zugestimmt – die „rasante demographische Entwicklung wahlpolitisch neutralisiert“ wurde. 105

101 RTNB Prot. 11. Sitzung v. 12.3.1867 (Abg. V. Bennigsen), 162–165, 163 ff. 102 Ausführlicher hierzu Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1871 (wie Anm. 85), 417ff. 103 RTNB Prot. 31. Sitzung v. 9.4.1867 (Abg. Dr. Zachariae), 671 (Antrag Nr. 164, auch 674). 104 Ebd., 675. 105 Vgl. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund in diesem Band.

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Neben der staatsrechtlichen Gründung des Norddeutschen Bundes war in den Friedensverträgen mit den süddeutschen Staaten festgelegt worden, dass innerhalb von sechs Monaten nach Ratifizierung der Friedensverträge die Bildung eines reformierten Zollvereins mit einem Zollparlament erfolgen musste. Die Ablehnung eines reformierten Zollvereins würde zum Ausschluss des betreffenden Staates aus dem Zollverein führen. Hans-Werner Hahn untersucht in seinem Beitrag die Reform des Zollvereins 1867 und den Übergang vom „Zoll-Staatenbund“ zum „Zoll-Bundesstaat“. 106 Eingangs skizziert Hans-Werner Hahn die Entstehung des Zollvereins als Sonderbund im Deutschen Bund und seine Entwicklung bis nach der gescheiterten Nationalstaatsgründung von 1848/49. 107 In der Akte des Deutschen Bundes von 1815 war im Art. 19 die Ausbildung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes vorgesehen. Die britische Exportpolitik zum Kontinent sowie auch die Agrarkrise von 1816/17 machten die Bildung eines gemeinsamen Zollgebietes für die Staaten des Deutschen Bundes notwendig, zumal auch die Unternehmer in Petitionen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik des Bundes forderten. In den 1820er Jahren bildeten sich auf dem Territorium des Deutschen Bundes drei Zollvereine aus, der bayerisch-württembergische, der Preußisch-hessendarmstädtische und der Mitteldeutsche Zollverein. 1834 schlossen sie sich zum Deutschen Zollverein zusammen. Die Erwartungen Preußens, dass die wirtschaftlich mit Preußen verbundenen Staaten auch politisch auf der Bundesebene mit Preußen zusammengehen würden, erfüllten sich nicht. Der Deutsche Zollverein war kein auf Dauer geschlossener Verein, sondern musste immer wieder erneuert werden. Nach der Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850 verschärfte sich der Konflikt der beiden deutschen Großmächte um die Führungsrolle im deutschen Mitteleuropa und die Zollpolitik „geriet nun ganz in das Schlepptau des neu entfachten preußisch-österreichischen Dualismus“ und führte zur ersten existentiellen Krise des Zollvereins für den 1853 auslaufenden und zu erneuernden Zollvereinsvertrag. Preußen konnte den österreichischen Versuch eines Anschlusses an den Zollverein immer wieder blockieren und auch auf Bundesebene verhindern, dass die mittelstaatlichen Versuche die Wirtschaftsgesetzgebung im Bund zu vereinheitlichen zu verhindern. 108 Alle Versuche den Zollverein zu reformieren scheiterten vor

106 Vgl. Hans-Werner Hahn, Vom Zoll-Staatenbund zum „Zoll-Bundesstaat“: Der Deutsche Zollverein 1866–1871 in diesem Band. 107 Zur Geschichte des Zollvereins vgl. u.a.: Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984; ders., Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein, Göttingen 1982; ders./Marco Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln Weimar Wien 2012; Marco Kreutzmann, Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834–1871), Göttingen 2012; John R. Davis, Britain and the German Zollverein 1848–66. London 1997; noch immer nützlich: William O. Henderson, The Zollverein, London 3. Aufl. 1968. 108 Vgl. hierzu ausführlicher Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation, Göttingen 2005, 197ff. – ders. (Bearb), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. III: 1850-

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1866. Gleiches galt für eine Mitgliedschaft Österreichs. 1863 war das „handelpolitische Königgrätz“ (Heinrich Benedikt) für Österreich. Zudem hatte der Konflikt über den preußisch-französischen Handelsvertrag eine Fortentwicklung verhindert. Das Ende des Deutschen Bundes eröffnete Preußen die Möglichkeit den Zollverein zu reformieren und eine entsprechende Klausel fand Eingang in die Friedensverträge mit den süddeutschen Staaten und die Gründung des Norddeutschen Bundes, auch als einheitlicher Zoll- und Wirtschaftsraum, setzte die Südstaaten unter Druck. Sie mussten schließlich dem neuen Zollverein mit einem Zollparlament zustimmen. Die Beitrittsverträge zum neuen Zollverein stießen in den süddeutschen Landtagen auf Widerstand wurden aber schließlich doch angenommen und ratifiziert. Hierbei spielte auch der öffentliche Druck auf die Kammern und die Petitionen der Wirtschaft eine zentrale Rolle. 109 Die Wahlen zum Zollparlament 1868 brachten im Süden einen Sieg der katholischen und großdeutschen Parteien, auch mit bedingt durch das Wahlrecht für das Zollparlament. Es spielten aber auch die antipreußischen Ressentiments und die Furcht vor einer Mediatisierung des Südens durch Preußen eine Rolle. 110 Hans-Werner Hahn stellt in diesem Zusammenhang fest, „dass die Bismarcksche Politik in weiten Teilen des Südens das gesellschaftliche Fundament noch fehlte“. Mit Blick auf die Wirtschaft war die Arbeit des Zollparlamentes in seinen drei kurzen Sitzungsperioden doch erfolgreich. Es wurden Handelsverträge, u.a. mit Österreich abgeschlossen, Zolltarife geändert, eine Tabak- und Zuckersteuer eingeführt. Das Zollparlament trug damit dazu bei „den kleindeutschen Wirtschaftsraum zu festigen und auszuformen“. Im politischen Bereich erfüllte das Zollparlament die großen Erwartungen an seine integrative Kraft „noch nicht“. Dennoch war der „Zoll-Bundesstaat“ für Bismarcks Machtspiele ein nicht zu gering einzuschätzender Trumpf. Hierbei spielte die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit des Südens ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass die Zollvereinsverträge nach acht Jahren erneuert werden mussten. Dies gab Bismarck ein Druckmittel an die Hand und in den Debatten der süddeutschen Landtage zur Annahme oder Ablehnung der in Versailles ausgehandelten Verträge zu einem neuen Deutschen Bund spielte die Frage Austritt aus dem Zollverein oder Verbleib im-

1866 Bd. 2 Der Deutsche Bund zwischen Reaktion und Reform 1851–1858, München 1998; ders., Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006 ; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012; ders., Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993, Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151 (2015) 2017, 527–616. 109 Vgl. hierzu u.a. Jochen Schmidt, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren vor der Reichsgründung (1866/67–1870), München 1973, 26ff.; Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften III (wie Anm.109), 610 ff.; Bernhard Löffler, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848–1918, München 1996, 414 ff. 110 Vgl. die Literatur bei Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften III; Friedrich Hartmannsgruber, Die bayerische Patriotenpartei 1868–1887, München 1986, 33ff.; Freya Amann, ‚Hie Bayern – hie Preußenb‘? Die bayerische Patriotenpartei/Bayerische Zentrumspartei und die Konsolidierung des deutschen Kaiserreiches bis 1889, München 2013, 17ff.

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mer wieder ein Argument für oder gegen die Verträge. 111 So warf Dr. Edmund Jörg als Berichterstatter in der bayerischen Kammer der Abgeordneten der Staatsregierung vor, dass sie neben der Gefahr, dass Bayern isoliert werden würde „das Damoklesschwert der Zollvereins-Kündung als Motiv aufgeführt [habe], welches für Bayern bei den Versailler Verhandlungen eine Zwangslage geschaffen habe“. Bayern hätte dann 1877 ohne Bedingungen dem Bunde beitreten müssen. „Bei der bereits vollzogenen Ausdehnung des ‚deutschen Bundes‘ auf Südwestdeutschland dürfte man es übrigens auf die Eventualität einer Zollvereins-Kündigung um so ruhiger ankommen lassen […] Jedenfalls vermöchte der Referent eine Politik nicht zu begreifen, die aus Furcht vor einer gegen Ende des Jahres 1877 möglicherweise drohende Gefahr, am Ende des Jahres 1870 sich selbst aufgeben wollte“. 112 In der Kammer der Reichsräte legte Reichsrat von Neumayr einen Bericht vor und warnte davor, dass bei einer Ablehnung der Verträge und in dem „Augenblicke des Finalabschlusses der Verträge zwischen den übrigen deutschen Staaten“ würde die Pfalz „inselartig vom Bundeslande umgeben; ihre Lage außerhalb des Bundes wird schon von diesem Augenblicke an eine wenig erfreuliche sein, sie wird eine völlig unhaltbare werden (und mit ihr auch die Lage der ürbrigen bayerischen Landestheile), sobald der Zeitpunkt der Erneuerung der Zollverträge erschienen ist. Längstens in diesem Zeitpunkte muß Bayern in den Bund treten, aber der Eintritt wird dann unter viel ungünstigeren Verhältnissen erfolgen, als dies im gegenwärtigen Momente noch möglich ist. Er wird bedingungslos geschehen müssen“. 113 Das größte Land, das von Preußen annektiert wurde, war mit 38500 km2 der Mittelstaat Königreich Hannover. Hans-Georg Aschoff befasst sich in seinem Beitrag mit dem Weg Hannovers vom Königreich zur preußischen Provinz. 114 In

111 Vgl. Wolf D. Gruner, Die süddeutschen Staaten: Vom Deutschen Bund zum neuen Deutschen Bund (1866–1870), in: HMRG 30/2019, 63–97; ders., Die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und der steinige Weg in das deutsche Kaiserreich (1864–1871), in: Winfried Heinemann/Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der Preußischösterreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 241–301; vgl. auch Bayerische Kammer der Abgeordneten (in der Folge K.d.A. Bayern) Prot. 72. Sitzung v. 11.1.1871, 107–132; K.d.A. Bayern, Bd. 4, Prot. 81. Sitzung v. 21.1.1871, 345–375; K.d.A. Bayern Beil. Bd. 4, Beil. CV, Bericht des Abg. J. E. Jörg als Referenten im besonderen Ausschusse für die Bündnisverträge zwischen Bayern und dem Norddeutschen Bunde v. 3.1.1871, 79-94; Protokolle und Beilagen auch: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (in der Folge BHStAM) MA 659; Heinrich Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1871, Nördlingen 1872, 38ff. 112 K.d.A. Bayern 1870/71, Beil. Bd. 4, Beil. CV, 80 f.; ähnlich: Kammer der Reichsräte Bayern (in der Folge K.d.RR Bayern), Vortrag des combinirten I., II. und III. Ausschusses „die deutschen Verfassungs-Verträge betreffend“ Referent Reichsrat v. Neumayer, 37-52 113 K.d.RR Bayern 11870/71 Beil. Bd. 2, Beil. CXXXII v. 24.12.1871: Vortrag Reichsrat v. Neumayer, 113–141,138 f., Beil. CXXXIV Beschluss v. 30.12.1870; K.d.A. Bayern 1870/71 Bd. IV, LXXII. Sitzung v. 11.1.1871, 108–132 und K.d.A. Bayern 1870/71 Prot. 81. Sitzung v. 21.1.1871, 345–375. 114 Vgl. Hans-Georg Aschoff, Hannover. Vom Königreich zur preußischen Provinz in diesem Band.

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zehn Abschnitten wird dieser Weg abgehandelt, ausgehend von der wirtschaftlichen und sozialen Situation Hannovers, das zum Zeitpunkt der Annexion 1866/67 mit 1,9 Millionen Einwohnern der fünftgrößte Staat des Deutschen Bund war. Der Mangel an Rohstoffen und die Wirtschaftspolitik der Regierung in Hannover trugen zur „industriellen Verspätung Hannovers“ bei. 115 Trotz eines gut entwickelten Eisenbahn- und Straßensystem als Durchgangsland zwischen den norddeutschen Häfen und Süddeutschland war Hannover ein Agrarland. Wichtig zur Einordnung Hannovers sind auch die Politik und das Selbstverständnis des letzten Königs von Hannover. Der blinde König war vom Gottesgnadentum des Monarchen überzeugt, nicht bereit Einschränkung seiner monarchischen Souveränität zu akzeptieren. Einem Landtag wollte er keine wichtigen Rechte einräumen und ein Ministerium, das eigenverantwortlich handelte entsprach nicht seinem Selbstverständnis als Monarch. Georg V. war von einem „welfischen“ Sendungsbewusstsein getragen und sah im Liberalismus und in der nationalen Bewegung eine Gefährdung des Welfenstaates. Hinzu kam, dass er das Machtpotential seines Landes im Vergleich zu Preußen und die Handlungsspielräume des Mittelstaates Hannover im Deutschen Bundes falsch einschätzte. Neben seiner radikalen Preußenfeindlichkeit hatte für ihn der Erhalt des Deutschen Bundes, die Bewahrung der Bundesverfassung und die Sicherung der einzelstaatlichen Souveränität Priorität. Während das Außenministerium einen Konflikt mit Preußen möglichst geringhalten wollte, optierte die militärische Führung für Österreich. Hannover erwartete bei einem Krieg der beiden deutschen Großmächte einen Sieg der Donaumonarchie und als Ergebnis Territorialgewinne Hannovers in Norddeutschland. Eine Neutralitätspolitik Hannovers würde Preußen begünstigen. Als Hannover die preußische Aufforderung zu einem Bündnis, zur Anerkennung des preußischen Reformplanes und die Anerkennung des preußischen Oberbefehls über die hannoverschen Truppen ablehnte rückten preußische Truppen in Hannover ein, besetzten Hannover und richteten eine Militärregierung ein. Der Sieg der hannoverschen Truppen bei Langensalza wurde in Hannover in den Jahren nach der Annexion von den königstreuen Hannoveranern „als Ruhmesblatt der hannoverschen Armee“ in die Erinnerungskultur aufgenommen. Der preußische Landtag stimmte im August 1866 für die Annexion Hannovers. Hannover wurde im Oktober 1866 von Preußen in Besitz genommen, wobei, wie Aschoff anmerkt, das Verhalten des hannoverschen Königs mit zur Auflösung Hannovers beigetragen hat. „Wesentlich Voraussetzungen für das Ende des Königreiches hatte er selbst durch seine autokratische Regierungsweise und reaktionäre Innenpolitik geschaffen, die die hannoversche

115 Heide Barmeyer, Gewerbefreiheit oder Zunftbindung? Hannover an der Schwelle des Industriezeitalters, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46/47 (1974–75), 231– 262, 233; vgl. auch: Wieland Sachse, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes Hannover im Übergang vom Königreich zur preußischen Provinz (1815–1866), in: Rainer Sabelleck (Hg.), Hannovers Übergang vom Königreich zur preußischen Provinz: 1866, Hannover 1995, 13– 21; Fredy Köster, Das Ende des Königreichs Hannover und Preußen, die Jahre 1865 und 1866, Hannover 2013.

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Bevölkerung spaltete, die Monarchie diskreditierte und seine Herrschaft schwächte“. Die Bevölkerung verhielt sich zunächst ruhig demonstrierte aber im Juli in weiten Landesteilen gegen die preußischen Besatzer. In Petitionen, auch an die Großmächte, wurde gegen die drohende Annexion vorgegangen. Allerdings forderten bereits im August 1866 Handel und Gewerbe eine Vereinigung mit Preußen. Sie begrüßen die neue politische Ordnung. Mit der Eingliederung Hannovers als Provinz in das Königreich Preußen kam es zu einer politischen Polarisierung zwischen Annexionsfreunden und Annexionsgegnern. Aschoff nennt dies einen „parteipolitischen Dualismus“ zwischen den Nationalliberalen und der heterogenen Hannoverschen Opposition u.a. aus Konservativen, Großdeutschen und Katholiken, der für die gesamte Amtszeit Bismarcks kennzeichnend werden sollte. 116 Bei den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag konnte die hannoversche Opposition nur 9 der 19 Hannoverschen Wahlkreise gewinnen. Ein Indikator, „daß die neue politische Ordnung von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannt worden war“. Im Norddeutschen Reichstag arbeiteten die „welfischen“ Abgeordneten mit Vertretern von neu- und nichtpreußischen Parteien zusammen und schlossen sich in einem lockeren Bündnis zum „Bundesstaatlich-konstitutionellen Verein“ zusammen. Am Entwurf der Verfassung arbeiteten sie mit und forderten u.a. die Ministerverantwortlichkeit, die Aufnahme von Grundrechten und die Einrichtung eines Bundesgerichtes. In der „Neuen Fraktion der Nationalen Partei“ engagierten sich die pro-preußischen Vertreter aus den neu- und nichtpreußischen Gebieten. Sie stimmten der Beschränkung des Haushaltsrechtes im Militärbereich zu und gaben die Forderungen nach Diäten auf. Die Forderung nach verantwortlichen Bundesministern (Antrag Bennigsen) scheiterte am Widerstand Bismarcks. Die Vertreter der hannoverschen Parteien hatten Berührungspunkte und Übereinstimmungen. Während die Liberalen sich für einen Ausbau der Bundeskompetenzen einsetzten, forderten die hannoverschen Oppositionellen „einen ausgeprägten Föderalismus“. Das Jahr nach dem Annexionsgesetz war gekennzeichnet durch eine „Periode königlicher Diktatur“, einer Periode in der die Regierung Maßnahmen zur Assimilierung auf dem Verordnungswege durchsetzen konnte. Bismarcks Programm zur Eingliederung Hannovers stieß bei der Mehrheit der preußischen Minister auf Widerstand. Bismarck wollte die Provinz Hannover zum Modell für eine allgemeine Föderalisierung des preußischen Staates machen und zugleich so eine positive Wirkung auf den süddeutschen Staaten erreichen. Im Frühjahr und Sommer 1867 setzten die preußischen Minister zahlreiche Angleichungsmaßnahmen durch. Wichtig ist noch der Hinweis Aschoffs über die Rolle der Kirche im Prozess der Integration. Sie übernahmen eine wichtige „politische Orientierungsfunktion“. Die evangelische Landeskirche von Hannover – die meisten Hannoveraner gehör116 Ausführlicher hierzu: Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866–1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches, Düsseldorf 1987.

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ten zu ihr – hatte sich 1864 eine neue Organisationsstruktur gegeben, die ihr eine größere Unabhängigkeit vom Staat gab. Die Versuche die Landeskirche der Preußischen Kirche der Union anzugliedern scheiterten u.a. am Willen die Selbständigkeit zu sichern. Die katholische Kirche, vor allem der niedere Klerus und die Gläubigen hatten „erhebliche Vorbehalte“ gegen die neue politische Ordnung. Die Bischöfe waren an einem guten Verhältnis zur Berliner Regierung interessiert, denn das preußische Staatskirchenrecht gab der Kirche größere Freiheiten und Handlungsspielräume als das hannoversche. Bismarck war zudem interessiert, wie versprochen, die hannoverschen Eigentümlichkeiten zu erhalten. Für den Aufbau einer provinziellen Selbstverwaltung wurden seit dem Sommer 1867 Vertrauensmänner benannt, die bereits während der Besatzungszeit avisiert worden waren und sich aus Mitgliedern der Ständeversammlung Hannovers rekrutierten. Den Vertrauensmännern gelang es in Berlin weitgehend die alte hannoversche Ämterverfassung zu erhalten. Wichtig für die Integration Hannovers wurde der erste Oberpräsident der Provinz Hannover, Otto Graf Stolberg-Wernigerode, der in dieser seine wichtigste Aufgabe sah. Ein letzter Abschnitt befasst sich mit den Regelungen für das hannoversche Königshaus. Wichtig in diesem Zusammenhang vor allem, dass Georg V. trotz einer großzügigen Abfindung kündigte er an das Königreich Hannover bald wiederherzustellen. Er gab den Anspruch auf Hannover nie auf. Nach der Reichsgründung organisierte sich die Opposition in Hannover in der Deutschhannoverschen Partei (DHP) mit dem politischen Ziel das Königreich wiederherzustellen. Sie wurde zeitweilig zur wichtigsten politischen Kraft in der Provinz. Bis zum Ende des Kaiserreiches verlor die DHP massiv an Bedeutung. Der Niedergang der DHP „war ein Zeichen für die weitegehende Integration der Provinz Hannover in den preußischen Staatsverband“. Während Hannover von Preußen annektiert wurde, konnte das Herzogtum Braunschweig seine Eigenständigkeit als Mitglied des Norddeutschen Bundes bewahren. Klaus Erich Pollmann untersucht in seinem Beitrag die schwierige Stellung Braunschweigs zwischen Preußen und Hannover. 117 Das Herzogtum Braunschweig war im August 1866 den Bündnisverträgen mit Preußen beigetreten und wurde zu einem widerstrebenden Verbündeten Preußens. Als norddeutscher Kleinstaat konnte es auf eine bedeutende historische Tradition zurückblicken. Die Dynastie der Welfen gehörte zu den ältesten deutschen Herrschaftshäusern. Rahmenbedingung für die Politik Braunschweigs im 19. Jahrhundert war die Nähe zum Königreich Hannover und zum Königreich Preußen. Sowohl in Braunschweig als auch in Hannover regierten die Welfen. Der britische König war bis

117 Vgl. Klaus Erich Pollmann, Zwischen Preußen und Hannover. Die schwierige Lage des Herzogtums Braunschweig nach der Gründung des Norddeutschen Bundes in diesem Band; vgl. zur historischen Einordnung auch: Horst-Rüdiger Jark/Gerhard Schildt (Hg.), Die braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region, Braunschweig 2000; Henning Steinführer/Gerd Briegel (Hg.), 1913 – Braunschweig zwischen Monarchie und Moderne, Braunschweig 2015.

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1837 zugleich König von Hannover. Die Beziehungen Hannovers zu Braunschweig und zum Deutschen Bund waren seit den 1820er Jahren konfliktreich und Braunschweig drohte wegen Verletzung der Bundesgesetze mehrfach eine Bundesexekution. 118 Vor dem eskalierenden Konflikt zwischen den deutschen Großmächten, der schließlich im Juni 1866 militärisch zur Bundesexekution gegen Preußen führte, stellte sich Braunschweig wie Hannover zur Sicherung des Bundesfriedens auf die Seite Österreichs, entschied sich dann nach der Abstimmung in der Bundesversammlung im beginnenden Krieg neutral zu bleiben und sich nicht Hannover anzuschließen. Neutralität würde aber die territoriale Existenz und Souveränität Braunschweigs nicht retten, zumal Preußen mit seinem Bündnisangebot gleichzeitig betonte, dass es den Besitzstand bei Ablehnung nicht garantieren werde. Braunschweig akzeptierte das Bündnisangebot und trat dann auch im August 1866 dem künftigen Norddeutschen Bund bei. Wie weitere norddeutsche Kleinstaaten rettete es so seine staatliche Existenz, auch wenn diese noch keineswegs gesichert war, wie die Debatten und Förderungen im Preußischen Landtag zeigen sollten. 119 Braunschweig zeigte sich nach der Konstituierung des Norddeutschen Bundes auch widerstrebend, beispielsweise bei der Umsetzung der Militärkonvention mit Preußen, die nicht erzwungen werden konnte. Bismarck wollte wiederholt eine Exekution des Norddeutschen Bundes gegen Braunschweig einleiten, es militärisch besetzten und die Regierung übernehmen, doch der preußische König stellte sich dagegen 120 Als der Entwurf der Verfassung für den Norddeutschen Bund vorgelegt wurde, ging es dem Herzog und seiner Regierung vor allem darum das Verfügungsrecht auf das braunschweigische Militär zu erhalten. Änderungsanträge Braunschweigs zur Militärverfassung scheiterten. Einen Teilerfolg erzielte das Land mit Unterstützung der Hansestädte hinsichtlich der Einnahmen aus dem Postwesen. In einem letzten Abschnitt befasst sich Klaus-Erich Pollmann mit der Rolle Braunschweigs im Bundesrat. Mit dem Gesandten Friedrich von Liebe schickte Braunschweig einen kompetenten Vertreter und aufmerksamen Beobachter nach Berlin. Er kritisierte u.a. die unitarischen preußischen Tendenzen im föderativen

118 Vgl. Wolf D. Gruner, Die deutschen Klein- und Mittelstaaten. Ein Sonderfall der europäischen Geschichte? in: Steinführer/Briegel, 1913 (wie Anm. 117), 37–73, 50ff.; Hans-Georg Aschoff, Das Königreich Hannover und das Herzogtum Braunschweig im 19. Jahrhundert. Ein Vergleich, in: Steinführer/Briegel, 1913 (wie Anm. 123), 28–36; Gerhard Schildt, Von der Restauration zur Reichsgründung, in: Jark/Schildt, Braunschweigische Landesgeschichte (wie Anm. 117), 751–786; Gerhard Schildt, Braunschweig. Möglichkeit und Grenzen eines deutschen Kleinstaates im 19. Jahrhundert. Reform und Revolution, in: Steinführer/Briegel, 1913 (wie Anm. 117), 84–95 – Karl Lange, Braunschweig im Jahre 1866, Braunschweig 1929, 11ff. – Karl Lange, Bismarck und die norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866, Berlin 1930. 119 Vgl. die Karikatur im Münchener Punsch Nr. 40 v. 7.10.1866: „Die fleißigen Wirthschafter“. Vorgesehen bzw. gefährdet waren auch Braunschweig und Sachsen (s.o. Anm. 48). 120 Vgl. hierzu vor allem: Karl Lange, Bismarck und die Militärkonvention mit Braunschweig 1867–1886, Weimar 1934, 22ff.

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Norddeutschen Bund, hielt Distanz zu den liberalen Braunschweigischen die öffentliche Meinung dominierenden Abgeordneten im Reichstag und sah die Probleme der Finanzverfassung des Bundes. Im Krieg gegen Frankreich war er mit Blick auf die Verfassung des Norddeutschen Bundes nicht sicher, ob die Südstaaten diesem System ohne Änderungen beitreten würden und hoffte auf eine bundesstaatlichere Struktur. Seit 1867 stellte sich für Braunschweig auch Nachfolgefrage. Die Landesversammlung wollte den Erbanspruch der hannoverschen Linie der Welfen zu beseitigen und strebte im März 1871 eine Garantie der Reichsgewalt für die Selbständigkeit des Landes an. Mit einem Regentschaftsgesetz sollte 1873 für den Fall der „Thronerledigung“ vorgesorgt werden, das jedoch vom Kaiser und vom Reichskanzler. Mit dem zweiten Regentschaftsgesetz von 1879 sicherte Bismarck Braunschweig zu, die Selbständigkeit nicht anzutasten. Die Entscheidung über die Nachfolge sollte vom Kaiser und vom Bundesrat getroffen werden. Der Welfenkonflikt und die Gefährdung der Existenz des Herzogtums Braunschweig, Personalunion mit Preußen, Sicherung der staatlichen Existenz, wurden schließlich 1913 mit der spektakulären Heirat des Welfenprinzen Ernst August mit der Hohenzollernprinzessin Louise beendet. 121 Das Herzogtum Braunschweig konnte, anders als Hannover, seine staatliche Eigenständigkeit bewahren, auch wenn diese wiederholt gefährdet war. Mit dem Königreich Sachsen, dessen staatliche Fortexistenz nach dem Krieg von 1866 und der Zerschlagung des Deutschen Bundes unsicher war, befasst sich Jonas Flöter. 122 Einleitend betont Jonas Flöter, dass für die „Parteinahme“ zugunsten Österreichs in der Frage der Bundesexekution für Sachsen die Bestimmungen der Bundesakte von 1815 (Art. 11) und der Wiener Schlussakte von 1820 (Art. 5) maßgebend waren, nämlich, dass kein Mitglied Allianzen eingehen dürfe, die sich gegen die Sicherheit des Bundes richteten und dass kein Bundesglied aus dem Deutschen Bund austreten dürfe. Mit dem Bündnisvertrag mit Italien hatte Preußen Art. 5 der Bundesakte verletzt. Die Wiener Schlussakte erlaubte keinen Austritt aus dem auf ewige Zeiten geschlossenen Deutschen Bund. 123 Preußen hatte also Bundesrecht gebrochen, ein für Sachsen wichtiger Aspekt. Preußens Bundespolitik widersprach der auf Bundesreform angelegten sächsischen Politik. Zudem standen der innerdeutschen Nationsbildung zahlreiche Faktoren entgegen. Ein Sieg des Bundes bei der Bundesexekution hätte Sachsen Position im Bund

121 Vgl. ausführlich hierzu: Steinführer/Briegel, 1913 – Braunschweig zwischen Monarchie und Moderne (wie Anm. 117), 11ff. 122 Vgl. den Beitrag von Jonas Flöter, ‚Mit derselben Treue, mit der Ich zu dem alten Bundes gestanden bin…‘. Sachsens Eintritt in den Norddeutschen Bund in diesem Band. 123 Philipp Anton Guido von Meyer/Heinrich Zoepfl (Hg.), Corpus Juris Confoederationis Germanica oder Staatsacten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes (in der Folge CJCG). Bd. 2, Frankfurt a.M. 31859 (Nachdruck Aalen 1978), Acte des Deutschen Bundes v. 8.6.1815, Art. 11, 5 – Schluß-Acte v. 15.5.1820, 104.

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gestärkt und die Chancen für eine Bundesreform, die Sachsen immer wieder konkret angeregt hatte, erhöht. Jonas Flöter verweist eingangs darauf, dass aufgrund der Entwicklungen Mitteleuropas im 19. Jahrhundert der „inneren Ausbildung der kleindeutschen Nation“ zahlreiche Faktoren entgegenstanden. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes verändert sich dieses. Mit dem Beitritt Sachsens zum Norddeutschen Bund, zweitgrößtes Mitglied nach Preußen, trat diesem ein wichtiger Mittelstaat aus der Zeit des Deutschen Bundes bei, der als Verfassungsstaat, ähnlich wie die süddeutschen Staaten Baden, Bayern und Württemberg, ein eigenes Landesbewusstsein ausgebildet hatte. 124 Dieses war in Sachsen, in dem sich die „Prozesse der Industrialisierung und der Nationalstaatsbildung“ überlagerten, ausgeprägt. In den späten 1860er und frühen 1870er Jahren stand Sachsen „an der Schwelle vom Agrarstaat zum Industriestaat“ und lag im Vergleich zum späteren Kaiserreich und Preußen deutlich über dem Durchschnitt. Bei der Entscheidung sich auf die Seite Österreichs und des Bundes im Juni 1866 zu stellen spielten auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Mit der Besetzung und militärischen Niederlage 1866 endeten auch alle Reforminitiativen der deutschen Mittelstaaten. Der sächsische Ministerpräsident Freiherr von Beust musste zurücktreten und ging als Außenminister nach Wien. Er wurde durch den Finanzminister Freiherr von Friesen ersetzt. Gegen den Einmarsch preußischer Truppen leistete die Bevölkerung offenen Widerstand. Neben der antipreußischen Haltung gab es aber auch Stimmen, die für eine Annexion Sachsens durch Preußen optierten. Eines der „Sprachrohre“ war der Sachse Heinrich von Treitschke. 125 „Alle großen Föderationen der Geschichte sind“ so Treitschke, „aus Unabhängigkeitskriegen hervorgegangen […] Auch Deutschlands neue Verfassung wird ihren Ursprung einem Kriege um nationale Unabhängigkeit verdanken; aber die Fürsten von Hannover, Sachsen, Hessen standen im Lager des Unterdrückers, und es erhebt sich die Frage, ob Deutschland sich abmühen solle an einer politischen Quadratur des Circels“, ob die besiegten Vasallen einer Fremdherrschaft „als gleichberechtigte Bundesgenossen zu behandeln“ sind. 126 Aus Treitschkes Sicht seien Hannover, Sachsen und Hessen „überreif für die verdiente Vernichtung, ihre Wiedereinsetzung wäre eine Gefahr für die Sicherheit des neuen deutschen Bundes, eine Versündigung an der Sittlichkeit der Nation. Die drei Länder sind erobert in gerechtem Kriege, denn niemals ward die langmüthige Macht von prahlerischer Ohmacht anmaßender herausgefordert […] Die drei Länder sind besetzt bis auf das letzte Dorf, darum steht, nach einem tausendjährigen Satze des Völkerrechtes, dem Eroberer die Befugniß zu, darüber zu

124 Vgl. hierzu u.a. Siegfried Weichlein, Sachsen zwischen Landesbewußtsein und Nationalbildung 1866-1871, in: Simone Lässig/Karl-Heinz Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Dresden 1997, 241–270. 125 Vgl. Heinrich von Treitschke, Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, Berlin 21866, 7ff. 126 Ebd., 7f.

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verfügen des alten Landesherrn ungefragt“. 127 Alle Proteste, Klagen und Maßnahmen der früheren Landesherren seien „rechtlich nichtig“. Völkerrechtsfragen interessieren den Historiker und Politiker Treitschke nicht. Der „landflüchtige“ sächsische König Johann werde weiter gegen Preußen kämpfen. Mit der Beseitigung der „kleinen Kronen“ „vollzieht sich nur ein Act der historischen Nothwendigkeit“. 128 Sachsen wurde nicht in das Königreich Preußen eingegliedert. Während sich Österreich bei den Friedensverhandlungen mit Preußen nicht für die Fortexistenz Hannovers einsetzte, sprach es sich, auch aus geostrategischen Gründen, für den Erhalt Sachsens aus, das weiterhin einen Puffer zwischen Österreich und Preußen bilden würde. Sachsen musste dem Norddeutschen Bund beitreten. Im Friedensvertrag mit Preußen wurde eine Kriegsentschädigung von 10 Millionen Taler festgelegt. Mit der Ratifizierung des Friedensvertrages entfalle die tägliche Zahlung von 10 000 Talern an die preußische Militärregierung und an das Zivilkommissariat. 129 Die Kriegskontributionen wurden bis zum Dezember 1866 beglichen. Die Beziehungen zwischen Preußen und Sachsen und der Beratungen über eine Verfassung des Norddeutschen Bundes blieben angespannt. Preußen wurde von Sachsen eine großpreußische Machtpolitik im Spiele Friedrich des Großen vorgeworfen. Sachsen war gezwungen dem Nordbund beizutreten, aber daraus folge nicht, dass es diesen „für gut und zweckmäßig“ halte. Die Versuche Sachsens bei den Verhandlungen für eine Verfassung des Norddeutschen Bundes die Kompetenzen des Bundespräsidiums durch Kompetenzerweiterung der anderen Organe zu beschneiden scheiterten, so der Wunsch, dass Sachsen die „ständige Vertretung“ des Bundeskanzlers zugebilligt wurde. Auch die Forderung ein Bundesgericht einzurichten ließ sich nicht verwirklichen. Bei den Wahlen zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag setzten sich die Abgeordneten durch, die sich für die Selbstständigkeit Sachsens und eine Dominanz Preußens einsetzten in allen sächsischen Wahlkreisen durch. Ein Ergebnis, das sich auch bei den regulären Wahlen zum Norddeutschen Reichstag wiederholte. Strittig war zunächst zwischen Sachsen und Preußen die Militärkonvention. Die Akzeptanz der neuen Bundesverfassung, die der König in seinem Aufruf „An meine Sachsen“ unterstützte, leitete eine loyale Haltung gegenüber Preußen ein. Wichtig wurde es für Sachsen nach dem Abschluss der Verhandlungen „die Verhandlungsergebnisse zu sichern, um so eine Rechtsgrundlage für die verbliebenen Souveränitätsrechte zu finden“. Für Sachsen war die schnelle Ratifikation der Bundesverfassung durch den Landtag wichtig. Am 3./4. Mai 1867 nahmen beide Kammern des Landtages die neue Verfassung an. Mit dem Zwangseintritt in den Norddeutschen Bund stieg Sachsen „von einem einflussreichen mitteleuropäischen Staat, der sich anschickte in die Reihe der europäischen Großmächte aufzusteigen, zu einem weitgehend rechtlosen Bundes127 Ebd., 8f. (Hervorhebungen im Original). 128 Ebd., 9. 129 Friedensvertrag von Berlin zwischen Preußen und Sachsen v. 21.10.1866 mit Zusatzprotokoll, abgedruckt auch in: Europäischer Geschichtskalender 1866, Anhang 289–293.

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staat in einem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund“ ab. Während König Johann darauf pochte die Verfassungsregeln nicht weiter auszubauen und die einzelstaatlichen Rechte zu sichern, war der sächsische Ministerpräsident Friesen an einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Preußen interessiert. Es war daher sicherlich kein Zufall, dass Friesen als Vertreter Sachsens im Norddeutschen Bund bei den Verhandlungen mit dem Süddeutschen Staaten in Versailles beteiligt war und auch die Verträge mit unterzeichnete. Der Beitritt zum Norddeutschen Bund hatte allerdings auch handelspolitische Konsequenzen für das exportorientierte Sachsen. Mit dem Ausschluss Österreichs aus der mitteleuropäischen Föderativordnung war der mitteleuropäische Verkehrund Wirtschaftsraum zerbrochen und damit auch die Hauptverkehrsroute vom österreichischen Triest über Wien, Prag und Leipzig nach Hamburg gestört. Sachsen war auf den viel kleineren Wirtschaftsraum des Norddeutschen Bundes und des Zollvereins und die damit verbundenen Möglichkeiten reduziert. Immerhin hatte es nicht das vorgesehene Schicksal Hannovers, Hessen, Nassaus und Frankfurts erlitten, dank der Fürsprache Österreich-Ungarns. Im abschließenden Beitrag dieses Bandes befasst sich Jürgen Angelow mit Preußen und dem Deutschen Bund. 130 Nachgezeichnet wird der Weg Preußens in den Deutschen Bund 1814/15 bis zur Zerstörung des Deutschen Bundes durch Preußen 1866. Gezeigt wird, dass das Verhältnis Preußens zum Deutschen Bund nicht allein von der Zerschlagung des Bundes her bewertet werden darf, sondern dass sich aus der Betrachtung des Gesamtzeitraumes ein differenzierteres Bild ergibt. Das Verhältnis zwischen dem Deutschen Bund und Preußen war „von unterschiedlichen Konjunkturen abhängig und insgesamt von großer Variabilität: Sie folgte Leitgedanken der preußischen Machtelite, die bis in die Endphase des Deutschen Bundes relativ konstant blieben sowie inneren Impulsen, die durchaus variabel und personengebunden sein konnten“. Diese Einschätzung ist durchaus nachvollziehbar, wenn die gesamte ‚Lebenszeit‘ des Deutschen Bundes in den Blick kommt und die unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen für Preußen in diesen Jahren für die Analyse berücksichtigt werden. 131 Wenn es zu

130 Vgl. Jürgen Angelow, ‚Ein festeres Band für Deutschland‘. Preußen und der Deutsche Bund in diesem Band. 131 Die Quelleneditionen zur Geschichte des Deutschen Bundes zwischen 1813 und 1819, für 1830 und die Periode 1851–1866 unterstreichen die variablen Positionen und auch die politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Interessen der preußischen Akteure, u.a. auch die Bismarcksche Zeit als Bundestagsgesandter Preußens in Frankfurt am Main: Vgl. hierzu u.a. Eckard Treichel (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I: 1813–1830, Bd. 1.1.–1.2 (1813–1819), München 2000-2006; Jürgen Müller (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. III: 1850–1866. Bd. 1-4, München 1998–2017; ders., Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866 (wie Anm. 4); Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012, 77ff.; Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003, 1576–160; Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006.

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keinen Reformen im Deutschen Bund kam, dann lag dieses – in der Spätphase – vor allem an Preußen, aber auch an den deutschen Mittelstaaten und Österreich. 132 Die Idee eines Bundesstaates als Nachfolgeorganisation des Alten Reiches, einer nach außen „starken Nation“ der Deutschland ein festeres Band geben würde, wurde seit der Denkschrift Humboldts von 1816 immer wieder aufgegriffen, ließ sich aber aufgrund der europäisch-internationalen Rahmenbedingungen und der „übernationalen, dynastischen Konstruktion der Habsburger Monarchie, deren deutschlandpolitisches Pendent kein Bundesstaat sein konnte“ in der formativen Phase des Deutschen Bundes und im Vormärz nicht verwirklichen. Nach dem Scheitern der Nationalstaatsgründung 1848/49 wurde seit 1850 mit der Erfurter Union 1850 ein modifiziertes Modell für die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage als deutschlandpolitisches Konzept Preußens angestrebt. 133 Die Idee der preußischen Erfurter Union ließ sich zunächst nicht verwirklichen, doch blieb sie nach der Wiederherstellung des Deutschen Bundes Ziel preußischer Bundes- und Deutschlandpolitik. Jürgen Angelow geht es bei seinem Beitrag u.a. darum herauszuarbeiten, welche Handlungsoptionen Preußen im „dualistischen Spannungsverhältnis“ mit Österreich, den Bundesreformzielen der Mittelstaaten und den Vorstellungen der Nationalbewegung im europäischen System hatte, insbesondere mit Blick auf die Frage, „ob bei gravierenden machtpolitischen Verschiebungen in der Mitte Europas ein Stillhalten der maßgeblichen europäischen Großmächte vorausgesetzt werden konnte und wo – auf europäisch-systemischer Ebene – die roten Linien der eigenen deutschlandpolitischen Veränderungswünsche lagen. Diesen dynamischen Faktoren und den daraus resultierenden Schwankungen auf der Zeitachse“ wollte er nachgehen und feststellen, „worin die Leitideen der preußischen Staatspolitik in Bezug auf die deutschen Verhältnisse bestanden haben“. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Jürgen Angelow die vier Phasen der „Wandlungen und Zäsuren im Verhältnis zwischen dem Deutschen Bund und Preußen“ wobei „kein stringenter Plan erkennbar“ war. Entscheidend wir die Phase nach 1849/50 und die durch Bismarck als Bundestagsgesandten vorgenommene Radikalisierung der Ideen in Humboldts Denkschriften. Ziel war letztlich Österreich politisch und wirtschaftlich aus dem Bund zu verdrängen. In seiner Weihnachtsdenkschrift von 1862 hatte Bismarck diese klar formuliert. 134 Mit dem österreichisch-italienischen Krieg und der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten begann eine neue Phase im Spannungsverhältnis zwischen Preußen und dem Bund. Preußen weitete seine deutschlandpolitischen Ziele aus, versuchte durch

132 Vgl. Gruner, Deutscher Bund (wie Anm. 125), 108–115. 133 Vgl. Gunther Mai (Hg.), Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850, Köln 2000. 134 Vgl. u.a. Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäische Integration (1789–1993), Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151/2015 (2017), 527–618, 531ff.; Bismarcks „Weihnachtsdenkschrift“ v. 25.12.1862 , gedruckt in Friedrich Thimme (Bearb.), Bismarcks gesammelte Werke Bd. 4: Politische Schriften 1862–1864, Berlin 21926, 29–33.

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seine Blockadepolitik gegenüber Bundesreformen eine „Zerrüttung“ des Deutschen Bundes herbeizuführen und die deutsche Frage ‚in toto‘ in seinem Sinne zu lösen. Anders als Österreich, das viel zu spät ein bundespolitisches Reformprogramm initiierte jahrelang aber konzeptlos blieb, anders als die Mittelstaaten, die sich auf keine gemeinsame Triaspolitik verständigen konnte, verfolgte Preußen in Grundzügen seine 1850 gescheiterten Vorstellungen, die auch die Nationalbewegung und die öffentliche Meinung mit der Forderung nach einem Nationalparlament einbeziehen konnte. Österreich und Preußen hatten in der Geschichte des Deutschen Bundes zwischen 1815 und 1866 durch bilaterale militärische Absprachen, durch Missachtung der Rechte des Bundes bei internationalen Konferenzen und durch Verständigungen außerhalb des Bundesrechtes die Bundesinstitutionen beschädigt. In der Endphase des Deutschen Bundes trat eine „neue Rezeptur“ hinzu. Sollten preußische Interessen gefährdet werden musste der Bund „paralysiert“ werden. 135 Dieses Rezept untergrub die Stellung der österreichischen Präsidialmacht in der Bundesversammlung. Abschließend stellt Jürgen Angelow zum Verhältnis Deutscher Bund und Preußen fest: „Da sich in Berlin schließlich dynastische Überlegungen und nationale Einsichten miteinander verbinden ließen, konnte der Umgang mit dem Bund, im Sinne einer nationalstaatlichen Lösung ‚von oben‘, um ein wesentliches, gleichsam revolutionäres Element erweiterte werden: Seine gewaltsame Sprengung. Sie wurde 1866 politische Wirklichkeit“. Die Hoffnung, dass mit der Gründung des Norddeutschen Bundes und der Schaffung des Zollparlamentes 1867/68 der Weg zur gesamtstaatlichen Einigung geebnet war, erfüllte sich zunächst nicht. Hierbei spielten zahlreiche Faktoren mit hinein und die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung war nicht zwangsläufig und alternativlos. Der Norddeutsche Bund war zum Zeitpunkt 1867 auf der historischen Zeitleiste nicht der Wegbereiter für das preußische Reich deutscher Nation. Entsprechende Konstellationen in den internationalen Rahmenbedingungen zwischen 1864 und 1871 hätten auch andere Lösungen eröffnet, nicht nur einen Süddeutschen Bund, sondern auch einen „doppelten Bund“ im Sinne der Bestimmungen des Prager Friedens von 1866. 136 Wolf D. Gruner ist emer. Professor für Europäische und Neueste Geschichte und war Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien an der Universität Rostock.

135 Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuiät der politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991, 86ff. 136 Vgl. u.a. Wolf D. Gruner, Die Süddeutschen Staaten. Vom Deutschen Bund zum neuen Deutschen Bund (1866–1870) (wie Anm. 4), 72, 93ff.

VOM ZOLL-STAATENBUND ZUM ZOLL-BUNDESSTAAT: DER DEUTSCHE ZOLLVEREIN 1866–1871 Hans-Werner Hahn Kurzfassung: Auch wenn die Gründung des Deutschen Zollvereins in den frühen 1830er Jahren auf Seiten der Regierungen keineswegs mit nationalpolitischen Zielsetzungen verbunden war, wurden in der öffentlichen Meinung schon vor der Revolution von 1848 entsprechende Hoffnungen artikuliert. Auch über Mehrheitsentscheidungen im streng föderalistisch aufgebauten Zollverein und die Etablierung eines Zollparlaments, durch das Volksvertreter an den tarifpolitischen Entscheidungen beteiligt werden sollten, wurde bereits diskutiert. Der Übergang zu solch bundesstaatlichen Strukturen scheiterte jedoch stets am Widerstand der souveränitätsbewussten Gliedstaaten. Preußen nutzte zwar als Hegemonialmacht des Zollvereins seit 1850 immer stärker die finanzielle und wirtschaftliche Abhängigkeit der kleineren Mitgliedsstaaten, stellte aber bis Anfang der 1860er Jahre die rechtliche Struktur des Zollvereins nie in Frage. Erst in den Debatten über von Preußen ausgehandelten Freihandelsvertrag mit Frankreich befürworteten nicht nur kleindeutsche Liberale, sondern auch der neue preußische Ministerpräsidenten Otto von Bismarck eine bundesstaatliche Reorganisation des Zollvereins. Die Voraussetzungen hierfür wurden jedoch erst durch den Ausgang des deutsch-deutschen Krieges von 1866 geschaffen. Unterstützt von den Nationalliberalen setzte Bismarck durch, dass die süddeutschen Staaten den Zollverein mit dem neuen Norddeutschen Bund nur nach ihrer Zustimmung zu bundesstaatlichen Strukturen mit Zollpräsidium, Zollbundesrat und Zollparlament fortsetzen konnten. Dabei sollte vor allem das Zollparlament, das sich aus dem Norddeutschen Reichstag und nach dem gleichen Wahlrecht gewählten Abgeordneten der süddeutschen Staaten zusammensetzte, zugleich als Motor einer politischen Einigung zwischen Nord und Süd wirken. Die Zollparlamentswahlen des Jahres 1868 zeigten freilich, dass diese Hoffnungen angesichts einer weit verbreiteten antipreußischen Stimmung im Süden verfrüht waren. Dennoch leistete die neue bundesstaatliche Struktur des Zollvereins nicht nur einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftspolitischen Integration Deutschlands. Sie war auch ein wichtiges politisches Druckmittel, das Bismarck gegenüber den süddeutschen Staaten in den Verhandlungen über die Gründung des Deutschen Reiches einsetzen konnte.

1. ZOLLVEREIN UND DEUTSCHER BUND IM VORMÄRZ Noch bevor 1834 jene Zollunion deutscher Bundesstaaten, die in der öffentlichen Meinung bald als „Deutscher Zollverein“ bezeichnet wurde, ins Leben getreten war, hatte der österreichische Staatskanzler Metternich 1833 in einer viel zitierten Denkschrift an Kaiser Franz vor den neuen Entwicklungen gewarnt, die der Zollverein für den 1815 gegründeten Deutschen Bund haben könnte: In dem großen Bundesverein entsteht ein kleiner Nebenbund, in dem vollsten Sinne des Wortes ein status in statu, welcher nur zu bald sich daran gewöhnen wird, seine Zwecke mit seinen

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Hans-Werner Hahn Mitteln in erster Linie zu verfolgen und die Bundeszwecke und Bundesmittel nur in zweiter Linie, insofern sie mit den ersteren sich vereinbaren lassen, zu berücksichtigen. Nach und nach werden die Vereinsstaaten unter der thätigen preußischen Leitung und bei den sich nothwendig bildenden gemeinschaftlichen Interessen in einen mehr oder weniger compacten Körper zusammenfließen. 1

Auf der anderen Seite hatte der preußische Finanzminister Friedrich von Motz schon 1829 voller Optimismus geschrieben, dass die Vereinigung von souveränen Staaten „zu einem Zoll- und Handelsverbande zugleich Einigung dieser Staaten zu einem und demselben politischen System mit sich“ führe. 2 Die Entwicklungen der folgenden drei Jahrzehnte ließen deutlich werden, dass zwar die Erwartungen des preußischen Finanzministers völlig überzogen waren, dass aber zugleich Metternichs Sorgen auch nicht völlig unberechtigt erschienen. 3 Gewiss besaß der Zollverein eine ähnliche staatenbündische Struktur wie der Deutsche Bund, war – wie Heinrich von Sybel hervorhob – durch das liberum veto der Gliedstaaten „aus demselben Holze wie der Bundestag geschnitten“. 4 Zudem war er anders als der im europäischen Vertragsrecht verankerte Deutsche Bund auch nicht auf Dauer geschlossen, sondern musste in regelmäßigen Abständen erneuert werden. Von einer wirtschaftspolitischen Mediatisierung durch Preußen konnte daher noch keine Rede sein. Auf der anderen Seite entstanden sehr schnell wirtschaftliche Verflechtungen und finanzielle Abhängigkeiten, durch die die mittleren und kleineren Mitgliedsstaaten an Preußen als faktische Hegemonialmacht des Zollvereins gebunden waren. 5 Dies wurde schon bei den Verhandlungen um die erste Verlängerung der Zollvereinsverträge Anfang der 1840er Jahre deutlich. Hinzu kam, dass der Zollverein trotz aller Anlaufschwierigkeiten in der öffentlichen Meinung besser dazustehen schien als der Deutsche Bund. Schon 1839 bezeichnete der Demokrat Jakob Venedey den Zollverein als „die größte Neuerung 1

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Vortrag Metternichs an Kaiser Franz I. vom Juni 1833, in: Aus Metternich‘s nachgelassenen Papieren, hrsg. v. Fürst Robert von Metternich-Winneburg, geordnet und zusammengestellt v. Alfons von Klinkowström, 2. Teil, Friedens-Ära 1816–1848, Bd. 3, Wien 1882, 509. Zu Metternichs Haltung gegenüber dem Zollverein vgl. Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biographie, München 2016, 786 ff. Memoire von Motz vom Juni 1829, in: Vorgeschichte und Begründung des Deutschen Zollvereins 1815–1834. Akten der Staaten des Deutschen Bundes und der europäischen Mächte. Bearb. v. Wilfried von Eisenhart-Rothe u. Anton Ritthaler, eingeleitet v. Hermann Oncken, hrsg. von Hermann Oncken u. F. E. M. Saemisch, Berlin 1934, Bd. III, Nr. 775, 525–541, hier 534. Zur Geschichte des Zollvereins Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984; William O. Henderson, The Zollverein, 3. Aufl. London 1968. Einen Überblick über die neueren Forschungen bieten die Beiträge in Hans-Werner Hahn/Marko Kreutzmann (Hrsg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012. Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., Bd. 6, München/Leipzig 1894, 220. Als Beispiel seien etwa die hessischen Staaten und Bayern genannt. Vgl. Hans-Werner Hahn, Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein, Göttingen 1982 sowie Angelika Schuster-Fox, Die wirtschaftliche Integration Bayerns in das Zweite Deutsche Kaiserreich. Studien zu den wirtschaftspolitischen Spielräumen eines deutschen Mittelstaates zwischen 1862 und 1875, München 2001.

Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat

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unserer Zeit“, die ungeachtet ganz anderer Absichten der Regierungen „nothwendig die Idee einer deutschen Einheit verbreiten helfen“ werde. 6 1840 schrieb Hoffmann von Fallersleben in einem Zollvereinsgedicht nach der Aufzählung aller Waren, die im Verein nun frei zirkulierten: Denn ihr habt ein Band gewunden Um das deutsche Vaterland, Und die Herzen hat verbunden Mehr als unser Bund dies Band. 7

Und 1844 meinte der Braunschweiger Liberale Karl Steinacker sogar, dass unter dem Begriff „Deutschland“ mehr und mehr „hauptsächlich das zollverbündete“ verstanden werde. 8 Im Vorfeld der Revolution von 1848 kamen unter den gemäßigten Liberalen schließlich Pläne auf, den Zollverein zum Ausgangspunkt einer deutschen Einheitspolitik zu machen. 9 Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 schrieb ein österreichischer Diplomat: „Die Ereignisse des Jahres 1848 beweisen wohl am besten welch fester Kitt in der Verschmelzung der materiellen Interessen zu finden ist. Verfassungen, Dynastien und der deutsche Bund selbst wurden durch jene Ereignisse weggeschwemmt, aber der deutsche Zollverein wurde durch die Revolution kaum erschüttert, keineswegs aber zerstört.“ 10 2. DER ZOLLVEREIN UND DER PREUßISCH-ÖSTERREICHISCHE DUALISMUS 1850–1866 Wie stark die Kohäsionskraft des Zollvereins bereits war, zeigte sich dann in der ersten großen Zollvereinskrise der Jahre 1851 bis 1853. Die Zollpolitik geriet nun ganz in das Schlepptau des neu entfachten preußisch-österreichischen Dualismus. Während Österreich durch die neuen Mitteleuropakonzepte den Anschluss an den Zollverein suchte, setzte Preußen von nun an alles daran, diesen Weg zu blockieren. 1851 handelte es gegen finanzielle Versprechen mit dem Königreich Hannover einen Beitrittsvertrag aus und erklärte gegenüber den bisherigen Vertragspartnern, den 1853 auslaufenden Zollvereinsvertrag nur fortsetzen zu können, wenn die bisherigen Partner den mit Hannover ausgehandelten Vertrag bedingungslos akzeptierten. Damit geriet der Zollverein in seine erste große Existenzkrise. Zeitweise

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Jakob Venedey, Preußen und Preußenthum, Mannheim 1839, 218. August Heinrich Hoffmann von Fallerleben, Ausgewählte Werke in vier Bänden, hrsg. von Hans Benzmann, Bd. 2, Leipzig 1905, 91f. 8 Karl Steinacker, Die politische und staatsrechtliche Entwickelung Deutschlands durch den Einfluß des Zollvereins, Braunschweig 1844, 36. 9 So auf der Heppenheimer Versammlung der gemäßigten Liberalen vom 10. Oktober 1847. Vgl. den Bericht „Versammlung von Kammermitgliedern aus verschiedenen deutschen Staaten“ von Karl Mathy, in: Deutsche Zeitung Nr. 107 vom 15. Oktober 1847, 852. 10 Bericht des österreichischen Diplomaten von Handel vom 12. April 1862, in: Helmut Böhme (Hrsg.), Vor 1866. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik der deutschen Mittelstaaten, Frankfurt a. Main 1966, 49.

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drohten die süddeutschen Zollvereinsstaaten damit, den Zollverein mit Preußen aufzugeben und eine separate Zollunion mit Österreich einzugehen, eine Drohung, die aber angesichts der inzwischen vorhandenen wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeiten von Preußen letztlich wenig wirkte. Preußen setzte 1853 durch, dass der nun um Hannover und Oldenburg erweiterte Zollverein auf der alten rechtlichen Grundlage um weitere zwölf Jahre verlängert wurde. Immerhin erklärte es sich aber bereit, zwischen dem Zollverein und Österreich einen Handelsvertrag abzuschließen, in dem letzterem eine besondere Stellung gegenüber dem Zollverein eingeräumt und zugleich zugesagt wurde, mit Wien zu einem späteren Zeitpunkt über einen Beitritt zu verhandeln. 11 In den folgenden Jahren ließ die preußische Politik freilich nichts unversucht, um alle Annäherungsversuche Österreichs zu blockieren. Zum einen setzte die Hegemonialmacht des Zollvereins in der Bundespolitik alles daran, um die vor allem von den Mittelstaaten ausgehenden Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Wirtschaftsgesetzgebung auszubremsen. 12 Zum anderen wollte man durch eine weitere Liberalisierung der Tarifpolitik, der Österreich mit seiner weniger entwickelten Wirtschaft nicht folgen konnte, den Wiener Beitrittswunsch unterlaufen. 13 Für eine solche Liberalisierung des Zollvereinstarifs sprachen schließlich handfeste wirtschaftliche Gründe. 1860 hatten Großbritannien und Frankreich einen Handelsvertrag vereinbart, durch den unter Einbeziehung Belgiens ein westeuropäisches Freihandelssystem entstand. 14 Die große Mehrheit der deutschen Wirtschaft plädierte dafür, sich dieser Entwicklung anzuschließen, weil der westeuropäische Markt für das sich industrialisierende Deutschland immer wichtiger geworden war. Im März 1862 paraphierte Preußen daher einen Handelsvertrag mit Frankreich, der den Produkten des Zollvereins all jene Vorteile gewähren sollte, die auch England auf dem französischen Markt besaß. Der endgültige Abschluss des Vertrages hätte bedeutet, dass ein österreichischer Beitritt zum Zollverein auf die lange Bank geschoben worden wäre. Zudem wäre auch das 1853 von Wien erreichte besondere Verhältnis zwischen dem Zollverein und Österreich wieder weggefallen, da man Frankreich im Vertrag die Meistbegünstigungsklausel einräumte und damit alle Vorteile gewähren wollte, die auch andere Handelspartner besaßen. In Wien, aber auch bei den Regierungen der deutschen Mittelstaaten setzte nun eine heftige Gegenwehr ein, die vor allem politisch motiviert war. Die preußische Regierung hielt aber unbeirrt an ihrem Kurs fest, unterzeichnete im August 1862 den Vertrag mit

11 Ausführlich zu Verlauf und Folgen der ersten Zollvereinskrise Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, 2. Aufl. Köln 1972, 19ff. 12 Hierzu ausführlich Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005, 197–275. 13 Zu den österreichischen Bemühungen vgl. Thomas J. Hagen, Österreichs Mitteleuropa 1850– 1866. Die Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion des Karl Ludwig Freiherrn von Bruck, Husum 2015. 14 Vgl. John R. Davis, Britain and the German Zollverein 1848–66, London 1997, 125ff.

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Frankreich und erklärte gegenüber den bisherigen Vereinspartnern, dass eine Verlängerung der 1866 auslaufenden Zollvereinsverträge nur auf der durch den neuen Handelsvertrag geschaffenen Grundlage möglich sei. 15 Der Handelsvertrag war daher von Anfang an weit mehr war als eine wirtschaftliche Angelegenheit. Er geriet nun immer stärker in den Strudel der eskalierenden deutschlandpolitischen Auseinandersetzungen. Die Gegner des Vertrages kritisierten nicht nur vorgesehene Tarifsenkungen, sondern vor allem die politischen Konsequenzen der Freihandelspolitik. In der öffentlichen Meinung Deutschlands dominierten freilich jene, die aus wirtschaftlichen Gründen den Vertrag begrüßten und die wie der Nationalverein und die Fortschrittspartei auch aus politischen Gründen der neuen Handelspolitik zustimmten. Otto von Bismarck hatte den Vertrag nicht abgeschlossen, aber als er im September 1862 zum Ministerpräsidenten berufen wurde, kam ihm die handelspolitische Debatte aus zwei Gründen außerordentlich gelegen. Zum einen konnte die von den Liberalen begrüßte Freihandelspolitik durch die Verknüpfung mit der deutschen Frage möglicherweise dazu beitragen, die verhärteten Fronten im preußischen Verfassungskonflikt aufzubrechen. Zum anderen sah er die Chance, die am Zollverein beteiligten mittleren und kleinen Staaten des Deutschen Bundes künftig noch enger an Preußen zu binden. 16 So plädierte Bismarck in einer an Weihnachten 1862 verfassten Denkschrift an König Wilhelm I. dafür, bereits die anstehende Verlängerung der Zollvereinsverträge mit einer Reorganisation des Zollvereins zu verknüpfen. Er betonte, dass die notwendigen Reformen der Zollvereinsverfassung in der engsten Verbindung mit den preußischen Bedürfnissen und Bestrebungen auf dem Gebiet der deutschen Politik ständen. In der bisherigen Verfassung könne der Zollverein nicht weiter bestehen, vielmehr brauche man Majoritätsabstimmungen unter den beteiligten Regierungen sowie eine Vertretung der „vereinsstaatlichen Bevölkerung“, welcher die Aufgabe zufiele, „die politischen Divergenzen der Regierungen zu vermitteln und das Zustimmungsrecht sämtlicher Landesvertretungen in den Einzelstaaten zu ersetzen“. 17 3. VERSUCHE EINER REORGANISATION DES ZOLLVEREINS VOR 1866 Die in diesem Zusammenhang diskutierten Veränderungen der Zollvereinsverfassung betrafen vor allem zwei Bereiche. Zum einen ging es um das bisherige Vetorecht der größeren Partnerstaaten, das den Handlungsspielraum gerade bei Handelsverträgen einengte und daher durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden sollte. 15 Ausführlich Böhme, Deutschlands Weg (wie Anm. 11), 91ff.; Eugen Franz, Der Entscheidungskampf um die wirtschaftspolitische Führung Deutschlands (1856–1867), München 1933 (ND Aalen 1973), S. ??? 16 Zu Bismarcks Kalkül vgl. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. Main 1980, 261ff. 17 Otto Fürst von Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. IV Politische Schriften, hrsg. von Friedrich Thimme, Berlin 1927, 31f. Vgl. auch Alfred Meyer, Der Zollverein und die deutsche Politik Bismarcks, Frankfurt a. Main 1986, 113.

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Schon seit Beginn der 1850er Jahre wurde in der preußischen Zollverwaltung, aber auch bei höheren Zollbeamten anderer Gliedstaaten angesichts der wechselseitigen Blockaden in den Tarifstreitigkeiten der 1840er Jahre über einen solchen Weg diskutiert. 18 Aber auch von Seiten der neu erwachten liberalen und nationalen Bewegung kamen seit Ende der 1850er Jahre über den Kongress der Volkswirte, den Nationalverein und den deutschen Handelstag entsprechende Forderungen auf. Einer der eifrigsten liberalen Propagandisten einer Reorganisation des Zollvereins war der aus Nassau stammende Karl Braun, der viele Jahre als Präsident des Kongresses der Volkswirte fungierte. Als die 1858/59 aufgekommenen großen nationalpolitischen Ziele durch den preußischen Verfassungskonflikt und den Streit im Deutschen Bund in weite Ferne zu rücken schienen, setzte Braun vor allem auf die einigende Kraft der materiellen Interessen. Seiner Ansicht nach zeigte der Streit um den deutsch-französischen Handelsvertrag und die Verlängerung des Zollvereins, wie dringend der Zollverein einer anderen Organisationsform mit Mehrheitsentscheidungen und vor allem einer institutionell abgesicherten Mitsprache des Volkes bedurfte. In einer langen Rede vor dem 5. Kongress deutscher Volkswirte in Weimar kritisierte Braun das liberum veto, mit dem jeder größere Mitgliedsstaat des Zollvereins notwendige Veränderungen blockieren konnte. Er verlangte, dass innerhalb des Zollvereins Mehrheitsentscheidungen der beteiligten Regierungen ermöglicht und diese zugleich durch ein Zollparlament legitimiert werden müssten. Für den Nassauer Liberalen reichte es nicht mehr aus, dass sich die Regierungen bei ihren handelspolitischen Entscheidungen von Sachverständigen der Wirtschaft beraten ließen oder dass die Handelsfragen in öffentlichen Versammlungen und in der Presse diskutiert wurden. Er forderte eine „centrale Volksvertetung für volkswirthschaftliche Dinge“. Zum einen hatten die einzelstaatlichen Landtage, die durch ihr Steuerbewilligungsrecht allen Handelsverträgen des Zollvereins zustimmen mussten, nicht die Macht, um die wichtigen handelspolitischen Entscheidungen wirklich zu beeinflussen. Zum zweiten neigten sie aufgrund ihrer Stellung ebenso wie ihre Regierungen dazu, die Dinge zunächst einmal aus der einzelstaatlichen Perspektive zu beurteilen. Braun führte hierzu aus: „Was sind das aber für Zustände, dass die großen allgemeinen Interessen des Gesammtvaterlandes von rein particularistischen Rücksichten, ich möchte sagen von Kirchthurminteressen beherrscht werden? Denn die Staatsraison von Bückeburg und Hessen-Homburg reicht gewiß nicht viel weiter, als die Kirchthürme ihrer Hauptstädte oder Hauptdörfer.“ Der Zollverein brauche deshalb dringend eine „gemeinsame Volksvertretung, die gleichzeitig in der nämlichen Richtung auf alle Regierungen auf einmal und mit gleichem Gewicht“ einwirke. 19 Braun verwies in diesem Zusammenhang auf England, dessen Handelspolitik nicht so „glorreich“ ausgefallen wäre, „wenn es drei Volksvertretungen hätte für 18 Vgl. Marko Kreutzmann, Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereins. Eine bürokratische Funktionselite zwischen einzelstaatlichen Interessen und zwischenstaatlicher Integration (1834–1871), Göttingen 2012, 217. 19 Die Verhandlungen des 5. Kongresses deutscher Volkswirte zu Weimar, am 8., 9., 10. und 11. September 1862, Stenographischer Bericht, hrsg. vom Büro des Kongresses, Weimar 1862, 69.

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die drei Königreiche, wenn es nicht eine gemeinsame Centralvertretung aller Interessen hätte“. 20 Allerdings verband Braun sein Plädoyer für ein Zollparlament mit der Einschränkung, dass ein „bloßes Zollparlament“ beim jetzigen Stand der deutschen Politik nur ein „provisorischer Notbehelf“ sein könne, also eine kleine „Abschlagszahlung“ auf ein „wirkliches Reichsparlament“. 21 Verlauf und Ausgang der zweiten Zollvereinskrise zeigten freilich, dass selbst der von Braun und Bismarck ins Auge gefasste bescheidenere Fortschritt in Richtung Zoll-Bundesstaat vor 1866 nicht durchzusetzen war. Zum einen verweigerte Napoleon III. Preußen die Zusage, dass die opponierenden Vereinsstaaten nur dann in den Genuss französischer Zollvergünstigungen kommen würden, wenn sie der preußischen Politik folgten. Zum anderen warnten auch die handelspolitischen Fachbeamten in Preußen, allen voran Rudolf Delbrück, Bismarck davor, schon die Durchsetzung der Freihandelspolitik mit der Reorganisation des Zollvereins zu verbinden, weil dies den Widerstand der anderen Vereinsstaaten nur zusätzlich befördern würde. 22 In der Tat musste Bismarck am Ende erkennen, dass die opponierenden Zollvereinsstaaten – unterstützt von Österreich – zu einer völligen handelspolitischen Kapitulation nicht bereit waren. Er stellte daher die Reorganisationspläne zurück und konzentrierte sich auf die Verlängerung der bisherigen Zollvereinsverträge, freilich auf der Basis des mit Frankreich ausgehandelten Vertrages. Es wurde zwar noch ein recht hartes Ringen, ehe im Laufe des Jahres 1864 die bisherigen Zollvereinspartner Preußens den Bedingungen der Hegemonialmacht zustimmten. Dass den preußischen Partnern angesichts finanzieller und wirtschaftlicher Sachzwänge am Ende kein Handlungsspielraum blieb, um Preußen zu Konzessionen zu zwingen, zeigte sich am deutlichsten am Beispiel des Königreichs Sachsen. Sein Ministerpräsident Beust war einer der eifrigsten Gegner der Bismarckschen Deutschlandpolitik, sah sich aber schon im Mai 1864 gezwungen, die preußischen Bedingungen anzunehmen, „weil Sachsen als eines der ökonomisch höchstentwickelten Staaten des Deutschen Bundes weit mehr auf den preußisch dominierten Zollverein angewiesen“ war als die süddeutschen Mittelstaaten. 23 Die beiden süddeutschen Königreiche Bayern und Württemberg brauchten etwas länger. Am Ende aber gab man auch hier nach, und der junge bayerische König Ludwig II. sprach resignierend davon, dass man „durch die mächtigen Interessen früher oder später doch wieder zum Anschluss an das übrige Deutschland gedrängt“ werde. 24 Als Zugeständnis an die lange opponierenden Partnerstaaten und an Österreich willigte Preußen ein, mit Wien einen neuen Handelsvertrag zu vereinbaren. Der 1865 abgeschlossene Vertrag reduzierte jedoch die 1853 eingeräumte besondere Stellung Österreichs zum Zollverein und das Versprechen um weitere Annäherungsbemühungen auf einen phrasenhaften Rest. 25 Ein ös-

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Ebd., 70. Ebd., 73. Meyer, Der Zollverein (wie Anm. 17), 113. Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Leipzig 2001, 496. 24 Böhme (Hrsg.), Vor 1866 (wie Anm. 10), 127. 25 Vgl. Böhme, Deutschlands Weg (wie Anm. 11), 177–183.

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terreichischer Historiker hat daher von einem „handelspolitischen Königgrätz“ gesprochen. 26 In der Tat bestätigte die zweite große Zollvereinskrise noch stärker als die früheren Ereignisse die preußische Hegemonialposition im Zollverein und den Willen der in Berlin regierenden Politiker, diese Position im Kampf um die politische Führungsrolle einzusetzen. Zugleich signalisierte die preußische Zollpolitik auch dem liberalen Bürgertum, dass Preußen ungeachtet des noch anhaltenden Verfassungskonflikts auf wichtigen Feldern der deutschen Politik den Interessen weiter Teile des Bürgertums nachkam. Dennoch bleibt festzuhalten, dass aus alldem kein Automatismus in Richtung kleindeutscher Einheit entstand. Der Weg zu einem von Preußen geführten kleindeutschen Bundesstaat wurde erst durch die Schlacht von Königgrätz geebnet. 4. DER DEUTSCH-DEUTSCHE KRIEG UND DIE SCHAFFUNG DES ZOLL-BUNDESSTAATES Der siegreiche Ausgang des Krieges schuf nicht nur die Voraussetzung für die Gründung des Norddeutschen Bundes, sondern eröffnete Preußen nun zugleich die Chance zur Reorganisation des Zollvereins. Die Zollvereinsstaaten standen im Krieg von 1866 bekanntlich auf unterschiedlichen Seiten, aber die Art und Weise, wie der Zollverein vom Krieg tangiert wurde, zeigte noch einmal die enorme Bindekraft der materiellen und finanziellen Interessen seiner Gliedstaaten. Selbst die an der Seite Österreichs kämpfenden Zollvereinsstaaten, deren Bevollmächtigte sich im Juni 1866 in München trafen, wollten alles vermeiden, was zur faktischen Auflösung des Vereins führen konnte. Nur wenn Preußen selbst den Zollverein auflösen würde, wollte man Vorkehrungen treffen, um untereinander einen separaten Zollverein fortbestehen zu lassen. 27 Man fürchtete, dass Preußen als größter Vereinsstaat mit den höchsten Einnahmeüberschüssen bei einem schroffen Vorgehen der ehemaligen Partner die jährlichen Herauszahlungen verweigern könnte. Aber auch die preußische Seite war während des Krieges bestrebt, alle nachteiligen Folgen vom Zollverein abzuwenden. Sie argumentierte zwar, dass die Vereinsverträge nach den Grundsätzen des Völkerrechts zwischen den kriegführenden Staaten außer Kraft gesetzt seien, beschränkte sich jedoch lediglich darauf, ihre in den feindlichen Staaten tätigen Vereinsbevollmächtigten und Stationskontrolleure abzuberufen und die offiziellen Kontakte zu unterbrechen. Der schnelle Ausgang des Krieges trug dann dazu bei, dass der Handelsverkehr innerhalb des Zollvereins 1866 letztlich wenige Einbußen erleiden musste. Abgesehen von wenigen kriegswichtigen Gütern herrschte auch in den Kriegstagen des Jahres 1866 zwischen den Vereinsstaaten ein freier Güteraustausch. Die einzelstaatlichen Zollbehörden setzten ihre Arbeit im

26 Heinrich Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, München 1958, 58. 27 Wilhelm Weber, Der deutsche Zollverein. Geschichte seiner Entstehung und Entwickelung, 2. vermehrte Aufl. 1871, 462f.

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Namen des Vereins weiter fort. Am Ende des Jahres wurden die gemeinsam erwirtschafteten Gelder wie üblich nach dem Bevölkerungsproporz verteilt, wobei die Gesamtsumme durch den Krieg nur um 11 % gesunken war. 28 Auch in den regelmäßigen Berichten der Zollvereinsbevollmächtigten kam der Krieg kaum vor. Dennoch veränderte der Ausgang des Krieges die Beziehungen zwischen den Gliedstaaten des Vereins. Die nördlich des Mains liegenden Staaten wurden durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes zu einem einheitlichen Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von einer gemeinschaftlichen Zollgrenze, zusammengeschlossen. Ausnahmen gab es nur im Hinblick auf die drei Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg, die als Freihäfen so lange außerhalb der Zolllinie bleiben konnten, bis sie ihren Einschluss in dieselbe beantragten. Die Zollgesetzgebung lag nun ganz in Händen des neuen Bundesstaates und seiner Verfassungsorgane, des Bundesrates und des Reichstags. 29 Was die vier süddeutschen Staaten, die bislang Teil des Zollvereins gewesen waren, betraf, so sollte die Zoll- und Handelseinheit mit ihnen weitergeführt werden. In den Friedensverträgen vom August 1866 war festgelegt, dass man den bisherigen Zollvereinsvertrag zwar fortsetze, jeder Seite aber freigestellt sei, ihn sechs Monate nach erfolgter Aufkündigung aufzuheben. 30 Damit sicherte sich Bismarck ein Druckmittel, um bei den vereinbarten Verhandlungen über eine Erneuerung der Vertragsbeziehungen den eigenen Standpunkt rasch durchsetzen zu können. Die süddeutschen Staaten standen zudem unter dem Druck einer öffentlichen Meinung, die schon kurz nach den militärischen Entscheidungen die den in den nationalpolitischen Organisationen seit längerem erhobenen Wunsch nach einer Reform des Zollvereins deutlich artikulierte. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der nassauische Liberale Karl Braun. Er brachte am 4. August 1866 auf der Versammlung des Kongresses deutscher Volkswirte einen Antrag ein, der die künftige Zollvereinsverfassung schon vorwegnahm: § 1 An die Stelle der Zollvereinskonferenzen treten Bundesrat und Reichstag. §2 Deutsche Staaten, welche nicht dem neuen Bundesstaat, sondern nur dem zu erneuernden Zollverein beitreten, können nur zugelassen werden, wenn sie mit § 1 zufrieden sind. § 3 Denjenigen Reichstagssitzungen, in welchen über Zollvereinsangelegenheiten beschlossen wird, treten Abgeordnete bei, welche in den dem Bundesstaate nicht angehörigen Zollvereinsterritorien nach dem Reichstagswahlrecht zu wählen sind. 31

Während die ersten beiden Paragraphen von der Versammlung angenommen wurden, wurde § 3 gegen den Willen Brauns dahingehend abgeändert, dass die neue 28 Ebd., 463f. Vgl. ferner Joachim Wysocki, Süddeutsche Aspekte der räumlichen Ordnung des Zollvereins, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert, Teil 2, Hannover 1967, 151–178. 29 Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, 3. neubearb. Aufl., Stuttgart 1986, 277f. 30 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, 2. verbesserte Aufl., Stuttgart 1970, 629f. 31 Zitiert nach Hans-Werner Hahn, Zwischen wirtschaftspolitischen Erfolgen und geschichtspolitischen Niederlagen. Karl Braun und der deutsche Zollverein, in: Nassauische Annalen 123, 2012, 481–504, hier 494f.

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Verfassung des Zollvereins nur bis 1870 gelten und die süddeutschen Staaten bis dahin zwischen dem Beitritt zum Bundesstaat oder dem Ausscheiden aus dem Zollverein zu wählen hätten. Brauns Antrag kam Otto von Bismarck sehr gelegen.32 Schon am 4. September 1866 konfrontierte Bismarck den bayerischen Diplomaten Otto Graf von Bray-Steinburg mit dem Vorschlag, dass künftig eine Art Zollparlament an der Beschlussfassung über gemeinsame Zollangelegenheiten beteiligt werden sollte. Bray hielt einen solchen Weg noch für eine ziemlich aussichtslose Angelegenheit und plädierte dafür, erst einmal an dem durch Artikel VII des Prager Friedensvertrages geschaffenen Provisorium festzuhalten. 33 Die folgenden Monate zeigten freilich nur zu deutlich, dass der von der nationalliberalen Presse 34 kräftig unterstützte preußische Ministerpräsident unbeirrt an seinen Plänen einer Reorganisation des Zollvereins festhielt. Ende Januar 1867 trug er gegenüber dem württembergischen Gesandten von Spitzemberg seine Absichten offen vor. Mitte Februar schickte er einen vertraulichen Zirkularerlass an die preußischen Gesandtschaften der süddeutschen Höfe, in dem er die von Rudolf Delbrück präzisierten Reorganisationspläne erläuterte, mit denen zwar die Regierungen noch nicht offiziell konfrontiert werden sollten, die aber den Gesandten bereits die Richtung künftiger Sondierungen signalisierten. 35 Gegenüber Georg von Werthern, dem neuen preußischen Gesandten in München wies Bismarck wenig später darauf hin, dass es ohne die geplanten neuen Zollvereins-Institutionen keine Zollunion mit Bayern mehr geben werde. Und in seiner Reichstagsrede vom 11. März 1867 erklärte Bismarck, dass die Zollinteressen seit 1852 eine immer größere Bedeutung für die allgemeine deutsche Politik gewonnen hätten und über ein Zollparlament deshalb weitere Schritte zur wirtschaftlichen und politischen Integration vorangetrieben werden sollten. 36 Erwartungsgemäß tat sich vor allem das Königreich Bayern schwer, die preußischen Bedingungen zu akzeptieren. Schon in den Debatten über die Annahme des Friedensvertrages zwischen Bayern und Preußen warnten viele Abgeordnete der beiden bayerischen Kammern vor einer zu engen Anbindung an den Norden. Während die Vertreter der kleindeutschen Partei für die Reform des Zollvereins eintraten, sahen die konservativ-katholischen Kreise darin den Weg zu einer Mediatisierung Bayerns. Besonders stark war der Widerstand in der Kammer der Reichsräte,

32 Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre Vaterländischer Geschichte, Berlin 1915, 526. 33 Otto Graf von Bray-Steinberg, Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, mit einem Vorwort von Karl Theodor von Heigel, Leipzig 1901, 116. 34 Victor Böhmert, Deutschlands wirthschaftliche Neugestaltung, in: Preußische Jahrbücher 1866, Bd. 18, 269–304. Zu den Jahrbüchern vgl. Sebastian Haas, Die Preußischen Jahrbücher zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1858–1871). Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung einer Zeitschrift im deutschen Liberalismus, Berlin 2017. 35 Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. VI, Nr. 685, 269f. 36 Meyer, Der Zollverein (wie Anm. 17), 198.

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und auch Königshof und Regierung wehrten sich zunächst heftig gegen die preußischen Vorschläge. 37 Eine realistischere Position nahm Chlodwig von HohenloheSchillingsfürst ein, der Ende 1866 zum Minister des Königlichen Hauses und des Äußeren berufen wurde. Er hatte schon in den Wochen zuvor die Ansicht vertreten, dass die wirtschaftliche und politische Interessenlage Bayerns für eine weitere und durchaus auch engere zollpolitische Anbindung an den Norddeutschen Bund spreche. 38 Angesichts der Widerstände des Königs und führender bayerischer Staatsmänner und angesichts einer preußenfeindlichen Stimmung in weiten Kreisen des Landes sah aber auch er sich nicht in der Lage, die preußischen Vorschläge vorbehaltlos anzunehmen. Am 21. März 1867 legte die bayerische Regierung ihre eigenen Vorstellungen der künftigen Zollvereinsstruktur vor. Man verlangte, an der bisherigen vollkommenen Gleichheit und Gleichberechtigung aller souveränen Vereinsstaaten und damit am Vetorecht Bayerns festzuhalten. Nach Bismarcks Plänen sollte ein Vetorecht künftig nur noch der Hegemonialmacht Preußen zufallen. Vor allem aber wurde das von Preußen vorgeschlagene Zollparlament entschieden abgelehnt, weil der Eintritt direkt gewählter süddeutscher Abgeordneter in ein solches Parlament eine weitere empfindliche Souveränitätseinbuße bedeuten würde. Stattdessen schlug die bayerische Seite vor, dass dem die Zölle tangierenden Steuerbewilligungsrecht nur über den Reichstag des Norddeutschen Bundes und die Kammern der süddeutschen Einzelstaaten Rechnung getragen werden sollte. 39 Dieser Kurs stieß freilich auch innerhalb Bayerns auf teilweise heftige Kritik. Vor allem die Liberalen der Rheinpfalz, die wirtschaftlich noch mehr von Preußen abhängig war als das übrige Bayern, forderten ein rasches Eingehen auf die preußischen Forderungen. 40 Obwohl auch Hohenlohe nur zu bewusst war, dass ein bayerischer Bruch mit dem Zollverein nicht nur wirtschaftliche Nachteile, sondern auch Gefahren für den staatlichen Zusammenhalt Bayerns mit sich bringen würde, versuchte er angesichts der Stimmungslage des Hofes und eines Großteils der bayerischen Öffentlichkeit erst einmal auf Zeit zu spielen. 41 Dies wurde im Sommer 1867 aber auch angesichts des preußischen Drucks und der Haltung der übrigen süddeutschen Regierungen immer schwieriger. In ersten Vorgesprächen hatte die preußische Seite zwar noch darüber diskutiert, dass man möglicherweise Delegierte der süddeutschen Kammern bei den zollpolitischen Entscheidungen des Reichstags hinzuziehen könnte. Sehr schnell ließ Bismarck dann aber keinen Zweifel daran, dass an einer parlamentarischen Ausge-

37 Ausführlich hierzu Jochen Schmidt, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren vor der Reichsgründung (1866/67–1870), München 1973, 26ff. 38 Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten, hrsg. von Friedrich Curtius, Bd. 1, Stuttgart/Leipzig 1906, 174f. 39 Ausführlich Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 51ff. 40 Vgl. hierzu jetzt Henning Türk, Ludwig Andreas Jordan und das pfälzische Weinbürgertum. Bürgerliche Lebenswelt und liberale Politik im 19. Jahrhundert, Göttingen 2016, 338ff. 41 Vgl. Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993), Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151 (2015), 527–618, hier S. 610.

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staltung des Zollvereins kein Weg vorbeiführe. Ein Zollparlament, dessen süddeutschen Vertreter nach den gleichen Wahlbestimmungen gewählt wurden, wie dies beim Reichstag der Fall war, sollte durch eine schrittweise Ausdehnung der Kompetenzen auch die politische Annäherung des Südens an den Norddeutschen Bund fördern. Auch die kleindeutsch gesinnten Liberalen, die stets die nationale Bedeutung des Zollvereins unterstrichen hatten, sahen das Zollparlament als Vorstufe eines nationalen „Vollparlaments“ an. Sie forderten deshalb auch, dass bei den Wahlen der süddeutschen Abgeordneten das passive Wahlrecht jedem Angehörigen eines Zollvereinsstaates zustehen sollte, der nach den Gesetzen seines jeweiligen Staates wählbar sei. 42 Demgegenüber wollten die Regierungen und die Gegner einer forcierten kleindeutschen Einigungspolitik das passive Wahlrecht in jedem Falle auf Wahlberechtigte der süddeutschen Staaten beschränken. Unter den vier betroffenen süddeutschen Staaten war es die liberale Regierung des Großherzogtums Baden, die frühzeitig ihre volle Zustimmung zu den Zollparlamentsplänen signalisierte. 43 Der badische Staatsminister Karl Mathy hatte ja schon 1847 auf der Heppenheimer Versammlung der Liberalen ähnliche Vorschläge vorgetragen, wenngleich es damals noch nicht um ein direkt gewähltes, sondern durch die einzelstaatlichen Kammern beschicktes Parlament gegangen war. Von Hessen-Darmstadt, das ja mit einer seiner Provinzen ohnehin Teil des Norddeutschen Bundes war, konnte trotz der antipreußischen Haltung seines Ministerpräsidenten Dalwigk kein großer Widerstand ausgehen, weil die wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeiten vom Norden und der Druck der öffentlichen Meinung viel zu groß waren. 44 Und auch der württembergische Ministerpräsident Varnbüler ließ aus ähnlichen Gründen früh seine Bereitschaft erkennen, auf die preußischen Forderungen einzugehen 45, und drängte im Mai 1867 aus innen- wie außenpolitischen Gründen sogar darauf, möglichst schnell eine Ministerkonferenz über die Zollvereinsfrage einzuberufen. Zugleich forderte er Bayern zu mehr Kompromissbereitschaft auf. Bismarck ging auf die württembergischen Wünsche bereitwillig ein und drohte gegenüber Bayern offen mit dem Bruch des Zollvereins. Ministerpräsident Hohenlohe richtete daraufhin ein Gesuch an König Ludwig II., in dem er die Notwendigkeit rascher Zollvereinsverhandlungen beschwor. Ende Mai genehmigte der König den Antrag. 46 Als die Verhandlungen über die neue Zollvereinsordnung am 3. Juni 1867 in Berlin begannen, hatte Bismarck seine Position durch die Konstituierung des Nord-

42 Zu den entsprechenden Debatten in Hessen-Darmstadt vgl. Manfred Köhler/Christoph Dipper, (Hrsg.), Einheit vor Freiheit? Die hessischen Landtage in der Zeit der Reichseinigung 1862– 1875, Darmstadt 2010, 748ff. 43 Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968, 395ff. 44 Vgl. Hahn, Wirtschaftliche Integration (wie Anm. 5), 305. 45 Vgl. Eberhard Naujoks, Württemberg 1864–1918, in: Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1992, 333–432, hier 339ff. 46 Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 66.

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deutschen Bundes und den erfolgreichen Ausgang der Luxemburg-Krise weiter gefestigt. 47 Er drohte Bayern nun erneut damit, im Falle einer Ablehnung des Zollparlaments die Zollunion mit Bayern nicht weiter fortzusetzen. Schon am 4. Juni 1867 kam es dann in Berlin zu einer vorläufigen Übereinkunft über die Bismarckschen Vorschläge. Es folgte nochmals ein längeres Tauziehen über Detailfragen, bei dem vor allem Bayern bestrebt war, bessere, die eigene Souveränitätsbedürfnisse achtenden Bedingungen durchzusetzen. Als am 26. Juni in Berlin die eigentliche Zollvereinskonferenz eröffnet wurde, war freilich rasch klar, dass man sich auch angesichts der Haltung der anderen süddeutschen Regierungen den preußischen Vorgaben unterwerfen musste. Bayern erreichte nur noch, dass es sechs statt vier Stimmen im Zoll-Bundesrat erhielt, ihm bei Handelsverträgen mit Österreich und der Schweiz ein Beratungsrecht zugesprochen wurde und Preußen sich verpflichtete, von seinem Vetorecht nur in Ausnahmefällen Gebrauch zu machen. 48 Der neue Zollvereinsvertrag wurde am 8. Juli 1867 zwischen dem Norddeutschen Bund, den vier süddeutschen Staaten und dem weiterhin zum Verein gehörenden Großherzogtum Luxemburg abgeschlossen. Er wurde auf zunächst 8 Jahre befristet und sollte, falls eine Kündigung unterblieb, dann automatisch um weitere 12 Jahre verlängert werden. Die neue bundesstaatliche Struktur kam in den drei neuen Organen – dem Zollpräsidium, dem Zollbundesrat und dem Zollparlament – zum Ausdruck. Die Gesetzgebung in Zoll- und Handelsangelegenheiten lag von nun an in den Händen eines Zollbundesrates und des Zollparlaments. Der Zollbundesrat ersetzte die bisherige jährliche Generalkonferenz des Vereins. Von den 58 Stimmen entfielen 42 auf den Norddeutschen Bund, 6 auf Bayern, 4 auf Württemberg und je drei auf Baden und Hessen-Darmstadt. Preußen besaß zwar nur 17 Stimmen, stellte aber das Zollpräsidium und hatte als einziger Gliedstaat ein Vetorecht. Das Zollparlament setzte sich zusammen aus den 297 Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages und 85 Vertretern der süddeutschen Staaten, die nach dem gleichen Wahlrecht in das neue Kontrollorgan gewählt wurden. Die jeweilige Legislaturperiode wurde auf drei Jahre festgelegt. Der preußische König besaß das Recht, das Zollparlament einzuberufen, zu eröffnen und zu beschließen. Das Zustimmungsrecht des Parlaments erstreckte sich auf alle Fragen der Tarifgesetzgebung, auf Zoll- und Handelsverträge sowie die Regelung indirekter Steuern, wie sie auf Zucker, Tabak oder Salz erhoben wurden. Diese neue Verfassung entsprach dem Modell eines hegemonialen Bundesstaates und war somit, wie Huber hervorhebt, „eine verfassungsrechtliche Vorform des deutschen Nationalstaats von 1871, den er verfassungstypologisch vorwegnahm“. 49 Inwieweit die neue Struktur des Zollvereins diesen Nationalstaat auch vorbereitete, lässt sich nicht so einfach sagen. Gewiss war es das Ziel Bismarcks, durch den geschaffenen Zoll-Bundesstaat Integrationsprozesse in Gang zu setzen, die den Süden auch auf weiteren Feldern enger an den Norden banden. Auch die kleindeut-

47 Ausführlich hierzu Böhme, Deutschlands Weg (wie Anm. 11), 236. 48 Zum bayerischen Ringen ausführlich Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 67–82. 49 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 30), 635.

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schen Liberalen setzten in dieser Hinsicht große Hoffnungen auf den reorganisierten Zollverein, vor allem auf das Zollparlament. Karl Braun, der schon vor 1866 vehement für ein Zollparlament eingetreten war und dies vor dem Kongress der Volkswirte am 4. August 1866 nochmals bekräftigt hatte, ist das beste Beispiel für die großen Hoffnungen, welche die Nationalliberalen hegten. Auf die die rhetorische Frage, welche Integrationskraft ein Parlament entwickeln könne, das nur über Zolltarife diskutieren dürfe, antwortete er: „Wenn die Vertreter von achtunddreißig Millionen Deutschen, hervorgegangen aus dem allgemeinen Stimmrecht, sich in dem Kapitale des norddeutschen Bundes versammeln, ergeben sich die höheren Ziele ganz von selbst.“ 50 Die Realität sah dann freilich etwas anders aus. Schon in den Debatten über die Annahme der neuen Verträge wurde deutlich, wie gespalten die öffentliche Meinung im Süden in diesen Fragen war. Selbst in Baden, wo die 2. Kammer den neuen Vertrag einstimmig annahm und die liberale Partei den Vertrag als „einen weiteren, vielleicht entscheidenden Schritt zur kleindeutschen Einigung begeistert begrüßte“, gab es in der Öffentlichkeit leidenschaftliche Kritik katholischer und großdeutscher Kreise. 51 Auch in Württemberg, wo die 2. Kammer dem Zollvereinsvertrag mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmte, wurde in der Öffentlichkeit heftig gestritten. Die Stuttgarter Handelskammer sah in dem Vertrag „dankbarst die Erfüllung von Wünschen, deren Realisierung sie längst und dringend angestrebt“ habe. 52 Die demokratische Volkspartei konnte sich dagegen nicht auf eine einheitliche Linie einigen. Vielfach wurde auch hier die Meinung vertreten, dass man die handelspolitische Verbindung mit dem Norden nicht zerreißen dürfe und der Zollvereinsvertrag letztlich auch weniger schlimm sei als der Schutz- und Trutzvertrag von 1866. Auf der anderen Seite gab es entschiedene Gegner des Vertrages, allen voran Moriz Mohl 53, und in einem Leitartikel des Parteiorgans der Volkspartei wurde daher gefordert, den Vertrag abzulehnen und mit Preußen neu zu verhandeln. Am Ende stimmte nur ein Teil der Fraktion der Annahme des Vertrages zu. 54 In HessenDarmstadt gab es in der 2. Kammer des Landtages bei der Abstimmung vom 17., August 1867 eine klare Mehrheit von 31 zu 5 Stimmen für den Zollvereinsvertrag. 55 Am schwierigsten gestaltete sich die Annahme des neuen Vertragswerks im Königreich Bayern. Während die kleindeutsche Partei mit ihren starken Bastionen in der Rheinpfalz und in Teilen Frankens entschieden für die Annahme des Vertrages eintrat und die Gefahr einer Isolierung Bayerns beschwor, stieß der neue Zollverein in der erstarkenden Patriotenpartei auf großen Widerstand. Der Abgeordnete Ruland bezeichnete den Vertrag als weiteres Glied einer Sklavenkette, die Preußen 50 Karl Braun, Das Zollparlament, in: ders., Bilder aus der deutschen Kleinstaaterei, 2. Aufl., Bd. 2, Hannover 1876, 270f. 51 Gall, Der Liberalismus (wie Anm. 43), 404. 52 Zitiert nach Dieter Langewiesche, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, Düsseldorf 1974, 436. 53 Vgl. etwa Moriz Mohl, Mahnruf zur Bewahrung Süddeutschlands vor äußersten Gefahren. Denkschrift für die süddeutschen Volksvertreter, Stuttgart 1867. 54 Ebd., 437f. 55 Köhler/Dipper (Hrsg.), Einheit (wie Anm. 42), 749.

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an Bayern schmiede: „Ich habe die Überzeugung, daß mit Annahme dieses Vertrages das dritte Glied der Kette geschaffen wird, und es mit der Selbständigkeit Bayerns allmälig zu Ende geht.“ 56 Auch der Abgeordnete Joseph Edmund Jörg, der wenig später zum Führer der neuen Bayerischen Patriotenpartei aufsteigen sollte, kritisierte mit heftigen Worten die Aushöhlung der bayerischen Souveränität durch die Mehrheitsentscheidungen im neuen Zollverein und das nur Preußen zustehende Vetorecht. Dass Bayern seine Vertreter in ein gemeinschaftliches Zollparlament schicken durfte, erschien ihm als „wesenlose Dekoration“: Unsere Vertreter werden in geborner Minorität im dortigen Parlamente sitzen. Sie werden majorisiert sein, so oft man sie majorisieren will; und was mich betrifft, so sollte es mich Wunder nehmen, wenn wirklich sich 48 Männer im Lande fänden, die um nichts und wieder nichts geneigt wären, nach Berlin zu gehen, um dort die unwürdige Rolle zu spielen als bloße Majorisierungsobjekte. 57

Nachdem Ministerpräsident Hohenlohe am Schluss der Sitzung noch einmal darauf verwiesen hatte, dass sich der Zollverein doch auch für Bayern im Wesentlichen bewährt habe und eine weitere Verweigerung gegenüber den Forderungen Preußens aussichtslos sei, stimmte die zweite Kammer des bayerischen Landtages am 22. Oktober 1867 mit einer deutlichen Mehrheit von 117 zu 17 Stimmen dem Vertragswerk zu. Vier Tage später lehnte die Kammer der Reichsräte den Vertrag zwar nicht ausdrücklich ab, wollte aber ihre Zustimmung an die Bedingung knüpfen, dass Bayern wie bisher ein Vetorecht bei allen Entscheidungen des Zollvereins behalten sollte. Dies stieß in Franken, Schwaben und vor allem in der Rheinpfalz auf heftige Kritik und führte zu einer breiten Petitionswelle, in der besonders die wirtschaftlichen Nachteile einer Ablehnung beschworen wurden. 58 Nachdem schließlich auch König Ludwig II. am 28. 10. 1867 den stimmfähigen Prinzen befohlen hatte, im Reichsrat für die Verträge mit Preußen zu stimmen, sprach sich in der entscheidenden Sitzung der Reichsräte schließlich eine knappe Zweidrittelmehrheit aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen für die bedingungslose Annahme aus. 59 5. DIE ZOLLPARLAMENTSWAHLEN 1868 Mit der Annahme der Verträge hatten Bismarck und die ihn in dieser Frage unterstützenden Nationalliberalen zwar einen ersten wichtigen Erfolg erzielt. Die Hoffnungen, durch anhaltenden öffentlichen Druck die süddeutschen Regierungen zu weiteren Konzessionen zu bewegen, waren freilich verfrüht. Die im Februar und 56 Zitiert nach Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 98f. 57 Zitiert nach ebd., 100. Zu Jörgs Positionen vgl. auch Karl-Georg Faber, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands von 1866 bis 1871, Bd. 1, Düsseldorf 1963, 328–331. 58 Zur Pfalz vgl. Türk, Jordan (wie Anm. 40), 339. 59 Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 122f. Zu den Debatten im Reichsrat vgl. auch Bernhard Löffler, Die Bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996, 414–418.

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März 1868 stattfindenden Wahlen zum Zollparlament, bei denen bedingt durch das allgemeine Wahlrecht erstmals seit 1848 „neue Schichten zur politischen Repräsentation drängten“ 60, zeigten nur zu deutlich, dass sich große Teile der süddeutschen Bevölkerung nicht so einfach für die Intensivierung der preußisch-kleindeutschen Einigungspolitik mobilisieren ließen, sondern in vielen Regionen genau das Gegenteil der Fall war. 61 In den beiden außerhalb des Norddeutschen Bundes liegenden Südprovinzen des Großherzogtums Hessen wurden 6 Vertreter gewählt. Hier gewannen Kandidaten, beziehungsweise Sympathisanten der nationalliberalen Partei insgesamt vier Mandate. Zu ihnen gehörte unter anderem Ludwig Bamberger, der im Wahlkreis Mainz-Oppenheim gewählt wurde und seit 1866 zu einem der einflussreichsten liberalen Unterstützer der Bismarckschen Einigungspolitik geworden war. 62 Zwei Mandate entfielen auf die Regierungskandidaten Fink und Fabricius, die bewusst als Fachbeamte für Zollfragen angetreten waren, um auf diese Weise zu dokumentieren, dass die Regierung in Darmstadt das Zollparlament auf die handelspolitischen Fragen beschränkt sehen wollte. 63 In Baden, wo Regierung und liberale Landtagsmehrheit einen schnellen politischen Anschluss an den Norden befürworteten, erzielten die Gegner der Bismarckschen Politik im ersten Wahlgang am 18. Februar 1868 einen Stimmengewinn, der die „Befürchtungen der größten Pessimisten“ im liberalen Lager weit übertraf. 64 Erst über die Stichwahl konnten sich die nationalliberalen Bewerber zwar 8 der insgesamt 14 Mandate sichern, im Vergleich zu ihren bisherigen Positionen in Baden war dies freilich ein mageres Ergebnis. Fünf Mandate entfielen auf die gegen die liberale Regierung opponierende katholische Bewegung, und ein Mandat gewann ein großdeutsch-konservativer Adeliger. In Württemberg, wo die Preußengegner mit der Parole „Steuer zahlen … Soldat sein … Maul halten“ in den Wahlkampf gezogen waren, konnten die Nationalliberalen kein einziges Mandat erringen. Die 17 Mandate entfielen auf Regierungskandidaten, Großdeutsche und andere entschiedene Bismarckgegner wie den Nationalökonom Albert Schäffle. 65 Bei den Nationalliberalen stieß dieses Ergebnis auf heftigste Kritik. Heinrich von Treitschke warf den Schwaben mangelnden Patriotismus und fehlende politische Urteilskraft vor. 66 Ebenso hart wie in Württemberg wurde der Wahlkampf in Bayern geführt. Während die Kandidaten der liberalen Fortschrittspartei dafür warben, das Zollparlament zum Ausgangspunkt weiterer Schritt zur nationalen Einheit zu machen, erklärten die Gegner, dass es bei der Wahl letztlich um die Entscheidung zwischen

60 Gall, Liberalismus (wie Anm. 43), 427. 61 Zur Publizistik im Vorfeld der Zollparlamentswahlen vgl. Faber, Publizistik (wie Anm. 57), 334–339. 62 Christopher Kopper, Ludwig Bamberger. Vom Revolutionär zum Vater der Goldmark, Berlin 2015. 63 Hahn, Wirtschaftliche Integration (wie Anm. 5), 305. 64 Gall, Liberalismus (wie Anm. 43), 425. 65 Böhme, Deutschlands Weg (wie Anm. 11), 273. 66 Heinrich von Treitschke, Eine Osterbotschaft an die Schwaben, Heidelberg 1868.

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bayerischer Eigenständigkeit oder Mediatisierung durch Preußen gehe. 67 Die Agitation gegen das protestantische Preußen wurde durch zwei Entwicklungen verstärkt. Zum einen formierte sich während des Wahlkampfes die Bayerische Patriotenpartei als neue politische Sammlungsbewegung, die es geschickt verstand, mit einfachen Parolen wie „Hie Bayern – hie Preußen“ die nun wahlberechtigten breiten Volksschichten, vor allem auch die Landbevölkerung, für sich zu mobilisieren. 68 Zum anderen gab es starke religiöse Einfärbungen der antipreußischen Agitation, zumal auch der katholische Klerus immer stärker in den Wahlkampf eingriff. Die Wahlen endeten mit einem großen Erfolg der Patriotenpartei, die mehr als die Hälfte aller 48 Sitze gewann. Im Vergleich zu den bisherigen Landtagswahlergebnissen kam der Ausgang der Zollparlamentswahlen einem politischen Erdrutsch gleich. In der Oberpfalz und in Niederbayern gewannen die Patrioten alle Wahlkreise, in Oberbayern 5 von 7 und in Schwaben 4 von 6. Zum großen Wahlverlierer wurden die Liberalen, die sich zwar in ihren Hochburgen wie der Rheinpfalz und Teilen Frankens noch gut behaupteten, aber insgesamt nur 13 Abgeordnete ins Zollparlament schicken konnten. Daneben wurden mehrere partei- und fraktionslose Abgeordnete gewählt, darunter auch der Ministerpräsident Hohenlohe-Schillingsfürst. 69 Der Großteil der bayerischen Abgeordneten stand somit von Anfang an allen Bestrebungen skeptisch gegenüber, die das Zollparlament zum Ausgangspunkt weiterer, auch politischer Integrationsprozesse machen wollten. Der Ausgang der Zollparlamentswahlen machte damit deutlich, dass der Bismarckschen Politik in weiten Teilen des Südens das gesellschaftliche Fundament noch fehlte. Gerade weil der Fortbestand des wirtschaftlich so wichtigen Zollvereins ja gesichert war, konnte sich bei den süddeutschen Zollparlamentswahlen der politische Protest gegen die preußische Politik nun voll entfalten. 70 6. DIE BEDEUTUNG DES ZOLLVEREINS FÜR DEN DEUTSCHEN EINIGUNGSPROZESS Nicht nur Bismarck und die Nationalliberalen hatten große Hoffnungen auf die einheitsfördernde Kraft des Zollparlaments gesetzt. Auch ein Demokrat wie Jacob Venedey hatte im Vorfeld der badischen Wahlen vor einer Generalversammlung eines Arbeiterbildungsvereins das Zollparlament als beginnende Gesamtvertretung des deutschen Volkes gewürdigt und eine Wahlenthaltung als Selbstentmündigung des

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Ausführlich hierzu Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 130ff. Friedrich Hartmannsgruber, Die Bayerische Patriotenpartei 1868–1887, München 1986, 33ff. Ausführliche Analyse des Wahlergebnisses bei Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 140ff. Zur Stimmungslage im Süden und ihren politischen Folgen vgl. auch Walter Schübelin, Das Zollparlament und die Politik von Baden, Bayern und Württemberg 1866–1870, Berlin 1936; Michael Horn, Die süddeutschen Abgeordneten im Zollparlament und die nationale Frage 1868–1870, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 155, 2007, 393–425.

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Volkes bezeichnet. 71 Aber schon die Wahlerfolge der Preußengegner unterschiedlicher politischer Couleur enttäuschten solch überschwängliche Hoffnungen. Mit den ersten Sessionen des am 27. April 1868 von König Wilhelm I. eröffneten Parlaments verstärkte sich die Erkenntnis, dass man die nationalpolitische Wirkung des neuen Verfassungsorgans nicht überschätzen durfte. Die nationalliberale Fraktion sprach sich in einer von den hessischen und badischen Abgeordneten Bamberger, Metz und Bluntschli entworfenen Antwortadresse auf die Thronrede des Königs dafür aus, mit Hilfe des neu geordneten Zollvereins eine „vollständige Einigung des ganzen Deutschen Vaterlandes in friedlicher und gedeihlicher Weise“ herbeizuführen. 72 Der Antrag wurde nicht nur von der Mehrheit der antipreußischen süddeutschen Abgeordneten, die sich zu einer „Süddeutschen Fraction“ zusammengeschlossen hatten, verworfen, sondern stieß auch bei vielen konservativen Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages auf Ablehnung. Selbst bayerische Liberale sprachen sich gegen den nationalliberalen Adressentwurf aus, weil er am Ende nur zu einer „nutzlosen parlamentarischen Klopffechterei Süddeutscher gegen Süddeutsche“ führen müsse. 73 Am Ende wurde der Antrag der Nationalliberalen mit 186 gegen 150 Stimmen abgelehnt. Die Mehrheit aus Konservativen, bayerischen Patrioten, Großdeutschen und Partikularisten wollte den Zollverein nicht in Frage stellen, den Wirkungskreis des neuen Parlaments aber auf die Aufgaben begrenzen, die ihm in der Ordnung des Zollvereins zugesprochen waren, und ihr auf die Zoll- und Handelsfragen begrenztes Mandat nicht ausdehnen. Wie schwer aber selbst letzteres manchem süddeutschen Abgeordneten fiel, zeigt sich vor allem an der Haltung der bayerischen Patriotenpartei. Ihre Vertreter nahmen an den wirtschaftlichen Sachfragen eher wenig Anteil, und Karl von Aretin kam am Ende zu dem Schluss, dass sich bei ihm Stellung und Arbeit „mit jeder Sitzungsperiode unangenehmer gestaltet“ hätten und aus Ekel mancher Sitzung ferngeblieben sei. 74 In wirtschaftlicher Hinsicht konnte sich die Bilanz des Zollparlaments freilich durchaus sehen lassen. In der ersten Session stimmte das Zollparlament einem neuen Handelsvertrag mit Österreich zu sowie weiteren Verträgen mit Spanien und dem Kirchenstaat. Es billigte einzelne Abänderungen des Zolltarifs und beschloss eine einheitliche Tabaksteuer, durch die das bisherige System der Ausgleichsabgaben innerhalb des Vereinshandels entfiel. In der zweiten Session wurde eine Neuregelung der Zuckerbesteuerung beschlossen, und in der dritten Session kam es zu weiteren Reformen des Zolltarifs, die noch ganz der freihändlerischen Grundrichtung entsprachen. Schwieriger war es, den mit der Freihandelspolitik verknüpften

71 Jacob Venedey, Das Zollparlament. Rede, gehalten am 8. Januar 1868 in der Generalversammlung des Arbeiterbildungsvereins zu Müllheim im Breisgau, Freiburg 1868. 72 Adressantrag vom 30. April 1868, in: Verhandlungen des Zollparlaments 1868, Berlin 1868, Anlagen, Aktenstück Nr. 7, 96. 73 Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 200. 74 Freya Amann, „Hie Bayern – hie Preußen“? Die Bayerische Patriotenpartei/Bayerische Zentrumspartei und die Konsolidierung des Deutschen Kaiserreichs bis 1889, phil. Diss. München, 120.

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Rückgang der Zolleinnahmen durch neue Abgaben auszugleichen. Ein neuer Petroleumzoll wurde von der Parlamentsmehrheit ebenso verworfen wie die Erhöhung der Tabaksteuer. Am Ende entschied man sich für eine Anhebung der Kaffee- und Zuckerzölle, die schon immer einen Großteil der Zolleinnahmen gestellt hatten. Mit alldem trug das Zollparlament dazu bei, den kleindeutschen Wirtschaftsraum zu festigen und auszuformen. 75 Wichtig waren in diesem Zusammenhang auch die Initiativen, die Ludwig Bamberger im Frühjahr 1870 in der Währungsfrage ergriff. Auf seinen Vorschlag hin setzte das Zollparlament eine Währungsenquete ein, die als wichtiger Schritt zur späteren deutschen Währungsvereinheitlichung angesehen werden kann. 76 In politischer Hinsicht erfüllte das Zollparlament dagegen die großen Integrationshoffnungen am Ende noch nicht. Gewiss schien schon durch das einheitliche Wahlrecht, aber auch durch die Wahl des Präsidenten Eduard von Simson 77, der dieses Amt schon in der deutschen Nationalversammlung von 1848/49 inne gehabt hatte, manches auf die künftige Struktur eines allgemeinen deutschen Parlaments hinzudeuten. Und die praktische Arbeit des Zollparlaments zeigte, dass hier durchaus ähnlich wie im Reichstag des Norddeutschen Bundes 78 dynamische Prozesse und Innovationsbereitschaft zu erkennen waren. Das konnte aber über den starken „Abwehrwillen und die Ressentiments in Süddeutschland gegen eine kleindeutschpreußische Nationalstaatsgründung“ nicht hinwegtäuschen 79: Drei kurze Sitzungsperioden, hineingezwängt zwischen tagende Einzelparlamente, verteilt auf drei Jahre, jede nicht einmal vier Wochen dauernd, hatten zwar erstmals seit 1848/49 Abgeordnete aller deutschen Länder in einem Parlament gesehen, jedoch nicht ausgereicht, um die vielfältigen persönlichen, poltisch-ideologischen, kulturellen und wirtschaftlichen Auffassungen einander anzupassen. 80

Am Ende wurde der Abschluss des deutschen Einigungsprozesses daher erneut auf dem Schlachtfeld entschieden. Dennoch war der 1867 geschaffene Zoll-Bundesstaat ein nicht zu unterschätzender Trumpf in Bismarcks Machtspielen. Dies lag zum einen in den allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeiten des

75 Hahn, Geschichte (wie Anm. 3), 186. 76 Vgl. Guido Thiemeyer, Die deutschen Liberalen, die Reichsgründung und die Entstehung des internationalen Goldstandards 1870–1873, in: Eckart Conze/Ulrich Lappenküper/Guido Müller (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004, 139–168, hier 156f. 77 Gerhard Lingelbach, Martin Eduard von Simson – ein Mann adelt parlamentarische Institutionen. Zum Wirken Simsons als Präsident des preußischen Abgeordnetenhauses, des Reichstages des Norddeutschen Bundes und des deutschen Zollparlaments in: Bernd-Rüdiger Kern/KlausPeter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810–1899). „Chorführer der Deutschen“ und erster Präsident des Reichsgerichts, Baden-Baden 2001, 71–88. 78 Hierzu grundlegend Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867– 1870, Düsseldorf 1985. 79 Horn, Die süddeutschen Abgeordneten (wie Anm. 70), 425. 80 Schmidt, Bayern (wie Anm. 37), 383. Vgl. auch Schübelin, Zollparlament (wie Anm. 70), 135ff.

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Südens. Zum anderen liefen die neuen Verträge ja nur 8 Jahre, so dass das Druckmittel der Kündigung gegeben blieb. Die preußische Kündigungsmöglichkeit hätte daher wohl auch ohne den deutsch-französischen Krieg spätestens Mitte der 1870er eine neue Integrationsdynamik entfalten können. Nach allen bisherigen Erfahrungen wären die süddeutschen Staaten kaum in der Lage gewesen, diesem Druck zu widerstehen und den in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht unentbehrlichen Zollverein aufzugeben. „Insofern war langfristig die nationalpolitische Perspektive der Zolleinigung nicht so negativ wie kurzfristig.“ 81 Dass Bismarck dies zu nutzen gewillt war, zeigt eine Äußerung, die er während der schwierigen Versailler Verhandlungen mit Bayern und Württemberg gegenüber dem Großherzog von Oldenburg gemacht hat. Sollten die Verhandlungen um den Beitritt der süddeutschen Königreiche zu einem Deutschen Reich nicht zum gewünschten Erfolg führen, so ergebe sich 1875 die nächste Gelegenheit zum Abschluss der Reichsgründung, denn in diesem Jahr liefen die Zollvereinsverträge von 1867 aus. 82 Das war gerade dem Königreich Bayern nur zu bewusst und hat die Münchener Entscheidungen von 1870 offenbar auch beschleunigt. Betrachtet man die gesamte Geschichte des Deutschen Zollvereins, so wird man heute nicht mehr im Stile Heinrich von Treitschkes behaupten können, dass 1834 bereits in der Ferne der Kanonendonner von Königgrätz zu hören gewesen sei. 83 Der preußischen Zollpolitik lag zunächst kein klar am Ziel der kleindeutschen Einheit ausgerichtetes Konzept zugrunde. Man kann aber auch nicht behaupten, dass der Zollverein sich für Preußen „nie zu einem effektiven Instrument für die Ausübung politischen Einflusses auf die kleineren Staaten“ entwickelt habe.84 Auch wenn die politische Loyalität der Partnerstaaten gegenüber Preußen in vielen Fällen, vor allem bei den Mittelstaaten begrenzt blieb, so sollte man die vielfältigen Abhängigkeiten und Integrationsansätze nicht unterschätzen. Dies galt für die wirtschaftlichen Aspekte ebenso wie für die finanziellen Erträge des Zollvereins, die vielen Gliedstaaten erst eine Konsolidierung ihrer Staatsfinanzen ermöglichten. Hinzu kam die wachsende Interesse eines wirtschaftlich immer erfolgreicheren Bürgertums, das nicht nur einen großen und freien inneren Markt sowie eine wirkungsvolle Außenhandelspolitik verlangte, sondern auch dauerhafte Institutionen, über die man an solchen Entscheidungsprozessen beteiligt war. 85 Und schließlich profitierte Preußen ganz wesentlich von den Integrationsprozessen auf der Verwaltungsebene des Zollvereins. Die Gliedstaaten des Vereins behielten zwar ihre eigenen Zollverwaltungen. Aber es kam zum gegenseitigen Austausch von Beamten und durch die gemeinsame Arbeit entstand eine neue nationale Funktionselite, die

81 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 32. 82 Meyer, Der Zollverein (wie Anm. 17), 244. 83 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Vierter Teil: Bis zum Tode Friedrich Wilhelms III, 7. Aufl. Leipzig 1919, 379. 84 So Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2006, 454. 85 Vgl. Hans-Werner Hahn, Der Deutsche Zollverein und die nationale Verfassungsfrage, in: ders./Kreutzmann (Hrsg.), Der Deutsche Zollverein (wie Anm. 3), 153–174.

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eine eigene Loyalität zum Zollverein entwickelte, was am Ende Preußen sehr zugute kam. 86 Auch vor solchen Entwicklungen hatte der österreichische Staatskanzler Metternich frühzeitig gewarnt, indem er seinen Münchener Gesandten 1837 fragte, wie Bayern die Kontrolle seiner Mautanstalten durch fremde Beamte ertrage. Der Gesandte bestätigte Metternichs Sorgen mit dem Hinweis, dass Preußen innerhalb des Zollvereins alles tue, um den eigenen „Einrichtungen und der Gesetzgebung überall bei allen Klassen, mit denen sie in Berührung kommen, Anhänger zu verschaffen und besonders die Beamten für sich zu gewinnen“. 87 Viele Beispiele zeigen, dass der Zollverein, wie Rudolf Delbrück schrieb, den meisten der für ihn tätigen Beamten zu einem wichtigen „Stück des eigenen Daseins“ geworden war. 88 Selbst der hohe bayerische Fachbeamte Wilhelm Weber, der nach 1866 ein großes Gutachten gegen die preußische Reorganisationspläne verfasst hatte, stellte den Zollverein nie in Frage und kam nach der Reichsgründung in einer ersten großen Überblicksdarstellung zur Zollvereinsgeschichte zu dem Fazit: Auf dem wirthschaftlichen Boden des Zollvereines haben die großen Ereignisse, welche die jetzige Gestaltung Deutschlands allmählig herbeiführten, ihre Wurzeln, und wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß jede politische Institution nur dann auf Dauer zu rechnen vermag, wenn sie den wirthschaftlichen Interessen des Volkes entspricht, die Geschichte des deutschen Bundestages und des Zollvereines würde einen solchen Beweis in schlagender Weise liefern. 89

Als 1884 das 50. Gründungsjubiläum des Deutschen Zollvereins anstand, verwies Karl Braun, der bei der Reorganisation des Zollvereins so eng mit Bismarck kooperiert hatte, in einem Artikel der Berliner Zeitschrift „Die Gegenwart“ noch einmal darauf, dass der Zollverein Deutschland nicht nur entscheidend zu Deutschlands Wohlstand beigetragen, sondern zugleich die „politische Einigung … vorbereitet und den Übergang vom norddeutschen Bund zum deutschen Reiche gebildet“ habe. 90 Ausgerechnet Bismarck unterband aber jetzt alle großen Feiern. Als die Frage aufkam, ob man diesen Gedenktag „eher als finanzgeschichtliches Datum oder als Anbahnung des deutschen Reiches“ feiern sollte, entschied Reichskanzler Bismarck, dass dieses Jubiläum „nur seitens der beteiligten Finanzverwaltungen“ und nicht als ein Fest des Reiches zu begehen sei.91 Bismarck wollte vermeiden, dass die Gegner seiner neuen Schutzzollpolitik unter Berufung auf die freihändle-

86 Ausführlich hierzu Kreutzmann, Die höheren Beamten (wie Anm. 18). 87 Graf Colloredo an Metternich, 2. Juni 1837, in: Anton Chroust (Bearb.), Gesandtschaftsberichte aus München 1814–1848. Abt. II: Die Berichte der österreichischen Gesandten, Bd. II, München 1941, Nr. 861, 676. 88 Rudolf von Delbrück, Lebenserinnerungen 1817–1867. Mit einem Nachtrag aus dem Jahre 1870, Bd. 1, Leipzig 1905, 271 89 Wilhelm Weber, Der deutsche Zollverein. Geschichte seiner Entstehung und Entwickelung, 2. vermehrte Aufl. 1871, VII. 90 Karl Braun, Zum Zollvereins-Jubiläum, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Jahrgang 25, Nr. 6, Berlin, 9.2.1884, 84. 91 Vgl. die Beratungen im preußischen Staatsministerium vom 23.10. und 29.10.1883, in: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums, Bd. 7, bearb. v. Hartwin Spenkuch, Berlin 1999, 135f.

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rischen Traditionen der früheren preußischen Zollpolitik das Jubiläum für sich nutzen konnten. In seiner Zeit als preußischer Gesandter, Ministerpräsident und Kanzler des Norddeutschen Bundes hatte Bismarck den Zollverein freilich keineswegs als bloße Finanzangelegenheit angesehen. Die Kündbarkeit der Verträge, die realen Abhängigkeitsverhältnisse der süddeutschen Staaten von Preußen und die Interessenlage großer Teile des wirtschaftenden Bürgertums gaben ihm ein wirksames politisches Instrument in die Hand, das er immer wieder auf sehr geschickte Weise nutzte, um wie durch die erfolgte Umwandlung des Zollvereins zu einem Zoll-Bundesstaat die eigenen einheitspolitischen Vorstellungen zu fördern. Hans-Werner Hahn ist emer. Professor für Neuere Geschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena.

PARLAMENTARISMUS IM NORDDEUTSCHEN BUND Klaus Erich Pollmann Kurzfassung: Das Parlament des Norddeutschen Bundes war von dem Selbstbewusstsein einer Konstituante eines neuzugründenden Staates weit entfernt. Vielmehr waren die Abgeordneten von tiefen Selbstzweifeln und der Sorge, für eine bloße Alibirolle im Machtkalkül des preußischen Ministerpräsidenten und Siegers in den Kriegen von 1864 und 1866 herzuhalten, umgetrieben. Die Beschränkung auf Norddeutschland verstärkte einerseits die geringe Anteilnahme der Nation am Verfassunggebungsprozess, war aber andererseits für die Mehrheit der Abgeordneten eine Erfolgsvoraussetzung. Das galt namentlich für die Nationalliberalen, der maßgeblichen Kraft in diesem Parlament. Der Rückgriff auf das demokratische Wahlrecht der Frankfurter Paulskirche von 1849 traf bei der Mehrheit der liberalen Abgeordneten auf große Skepsis und die Befürchtung, dass dieser Schachzug zur Schwächung des Parlamentarismus instrumentalisiert werden sollte. Denn in diese Richtung zielten die beabsichtigten Einschränkungen des passiven Wahlrechts durch die Verweigerung von Diätenzahlungen und Ausschluss der Beamten vom Wahlrecht. Das Leitbild Bismarcks waren schwache Parlamente mit kurzen Tagungsperioden, die keinen Raum für einen starken Einfluss der Volksvertretung ließen. Das systematische Problem, vor das sich der Norddeutsche Reichstag gestellt sah, war das folgende: wie in dem monarchischen Bundesstaat Norddeutscher Bund die konstitutionellen Rechte verankert werden konnten. Davon hingen die Sicherungen von Grundrechten, die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Verantwortlichkeit der Exekutive ab. Folgerichtig verzichtete der Entwurf auf die Einführung verantwortlicher Minister als mit dem Charakter des Norddeutschen Bundes unvereinbar. Die Nationalliberalen waren bereit, auf die juristische Verantwortung, die sich bislang nirgendwo bewährt hatte, zu verzichten, nicht aber auf eine verantwortliche Exekutive. Das Budgetrecht, der Kern des Streits im preußischen Verfassungskonflikt, wurde in dem Entwurf zwar zugestanden, allerdings mit der Ausnahme des Militäretats, der bis zum Ende der Konstituierung des neuen Nationalstaats festgelegt werden sollte. Das Parlament hat sich auf gravierende Kompromisse einlassen müssen. Doch das eigentlich Verhängnisvolle war, dass es auch nach der Übergangsphase nicht gelungen ist, zu einem parlamentarischen Regierungssystem zu gelangen.

Die 150. Wiederkehr der Gründung des Norddeutschen Bundes, die in dem Jahr 2017 stattfindet, hat in dem Gedenkkalender von 1917 keinen herausragenden Platz gehabt. Jedenfalls, so lässt sich mit Gewissheit vorhersagen, dürfte diese Erinnerung in keinem Verhältnis zu dem stehen, was wir mit Blick auf die Reichsgründung 1871 in vier Jahren zu erwarten haben dürften. Es ist keine Frage, welches Jahr im Hinblick auf die Nationalstaatsgründung und die Verfassungsgebung in der Erinnerungskultur als wichtiger eingeschätzt wird. Im Kontrast zu dem Symbolort von europäischem Rang, dem Spiegelsaal von Versailles, sticht der Norddeutsche Bund mit seinem in das preußische Herrenhaus eingemieteten Reichstag, wo auch

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die ruhmreichen Armeeführer, die Sieger von Königgrätz, auf den harten Abgeordnetenbänken Platz nahmen, nüchtern ab. Der Titel Bundespräsident für den preußischen König hebt sich von dem die historisch inspirierte Phantasie anregenden Kaisertitel, zu dem Wilhelm I. in Versailles ausgerufen wurde, unvergleichlich ab. Der Beginn der Beratungen der Abgeordneten war von Selbstzweifeln und Ungewissheit über die dem Parlament zugedachte Rolle geprägt 1. „Die Lage, in der wir uns befinden, ist allerdings wohl die eigentümlichste, in der jemals eine Versammlung gewesen ist. Wir sind zusammengerufen, ohne die geringste Kenntnis zu haben von dem Entwurfe, der uns vorgelegt wurde. Wir wußten nur, daß wir irgendetwas zu beraten haben würden, aber nicht was.“ 2 So beschrieb der Veteran des Konstitutionalismus und maßgebliche Schöpfer der preußischen Verfassung von 1848, Benedikt Waldeck, die Situation in den ersten Tagen des konstituierenden Reichstags des Norddeutschen Bundes, als die Abgeordneten endlich den Verfassungsentwurf in Händen hatten. Auf erläuternde Motive warteten sie allerdings während der gesamten Verhandlung vergebens, so dass sie auf eine authentische Auslegung der Verfassungsbestimmungen verzichten mussten. Diese Ungewissheit bestätigte namentlich die Mitglieder des preußischen Abgeordnetenhauses in ihrem wenige Monate zuvor gefassten Beschluss, die Zustimmung zu dem Verfassungsentwurf von dem abschließenden Votum des preußischen Abgeordnetenhauses abhängig zu machen und dem Reichstag den Status einer konstituierenden Versammlung vorzuenthalten. 3 Das wurde durch verfassungspolitische Gründe bekräftigt. Die Abgeordneten, die zugleich Mitglied des preußischen Landtags waren, sahen sich vor die Aufgabe gestellt, ein Parlament in eine Verfassungskonstruktion hineinzufügen, „wo eine Zentralgewalt eigentlich gar nicht intendiert ist und nicht existiert“. 4 Daher wurde von ihnen bei den entscheidenden Streitfragen der Entwurf, wie es der preußische Ministerpräsident Bismarck spöttisch formulierte, „vor die Assisen des preußischen Landtags zitiert“. 5 Das war nicht unberechtigt, insofern dieser Reichstag nach ihren Vorstellungen ohnedies am besten im preußischen Landtag aufgehen würde, eine Vorstellung, die während der Dauer des Norddeutschen Bundes von zahlreichen Regierungsmitgliedern, Diplomaten, Abgeordneten und Publizisten geteilt wurde. 6 Diese Auffassung änderte sich im Verlaufe des ausgedehnten historischen Diskurses, den dieses Parlament durchführte, ganz erheblich. Die geschichtliche Vergewisserung erstreckte sich auf viele Abschnitte und Aspekte der deutschen und 1 2 3 4 5 6

Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985, 155f. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867, 2 Bde. Berlin 1867, 107. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., Stuttgart 1988, 646. Konstitut. Reichstag, 107. Ebd., 132. Ebd., 459. So Waldeck und zahlreiche andere Abgeordnete; ein Beispiel für die Bundesratsvertreter ist der Braunschweiger von Liebe.

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europäischen Geschichte. Namentlich der englische Parlamentarismus wurde, sei es als Vorbild, sei es als abschreckendes Beispiel, immer wieder in die Debatte einbezogen. Das „tausendjährige Ringen der deutschen Nation“ 7 verdiene die volle Würdigung des Reichstags, wobei das Scheitern aller Bemühungen in diesem säkularen Prozess eher als günstige Fügung der Geschichte betrachtet wurde, da auf diese Weise Fehlentwicklungen, wie sie sich etwa beim Bourbonischen Königtum in Frankreich eingestellt hatten, das Revolution und Cäsarentum aus sich hervorgebracht habe, vermieden werden konnten. 8 Von Karl dem Großen und Otto dem Großen wurde eine Linie zum zeitgenössischen Ultramontanismus, wie die dem Papst loyal gegenüberstehende Richtung der Katholiken polemisch bezeichnet wurde, gezogen. 9 Die Größe Roms wurde zum britischen Empire in Beziehung gebracht. Die Revolutionen in Amerika und in der Schweiz 10 wurden zum normativen Maßstab genommen, die „Verfassungsschablonen“ der Französischen und Belgischen Revolution 11 dagegen als für den Norddeutschen Bund nicht geeignet verworfen. Der Anspruch der Polen auf staatliche Selbstständigkeit wurde kühl negiert. Die „glorreiche Periode“ Preußens 1809–1813 wurde als eines der Fundamente für die Gründung des Norddeutschen Bundes betrachtet. Einig war sich der Reichstag, dass aus den gescheiterten Frankfurter und Erfurter Anläufen zur Verfassungsgründung Lehren gezogen werden müssten – welche es sein sollten, daran schieden sich die Geister. 12 Der Erfurter Reichstag spielte in einer Schlüsselfrage des Norddeutschen Bundes noch eine beträchtliche Rolle. Er wurde als Beleg dafür herangezogen, dass ein Bundesstaat durchaus eine dem Parlament verantwortliche Exekutive enthalten konnte 13, ferner als Beleg für die Verweigerungshaltung des Partikularismus in den Königreichen Sachsen und Hannover und als Warnung davor, dass, wenn die deutsche Nation nicht für die Verfassungsschöpfung begeistert werden könnte, die Verfassungsgründung am Ende genauso scheitern würde, wie es der Erfurter Union 1849/50 widerfahren sei, 14 Denn von einer regen Anteilnahme der Nation konnte auch jetzt bei den Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes in keiner Weise die Rede sein. 15 Die Beschränkung auf Norddeutschland hatte allenfalls kurzfristig für Irritationen in der politischen Öffentlichkeit gesorgt. „Die Mainlinie als Haltestelle für

7 8 9 10 11 12 13 14 15

Ebd., 173. Ebd. Ebd., 326. Ebd., 124. Ebd., 102. Ebd., 123. Ebd., 176. Ebd., 129. Ebd., 692 sowie 179.

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uns, wo wir Wasser und Kohlen einnehmen, Atem schöpfen, um nächstens weiterzugehen“ 16, wurde aber zunehmend geradezu als Erfolgsvoraussetzung betrachtet, die es den süddeutschen Staaten nicht erlauben würde, den Einigungsprozess zu torpedieren, wie denn auch von allen Versuchen, Süddeutschland zu umwerben, Abstand genommen werden sollte. 17 Das blieb allerdings ein ephemerer Standpunkt, der in der Folgezeit, noch während des konstituierenden Reichstags, einer Öffnung gegenüber den süddeutschen Staaten Platz machte. 18 In seiner großen Mehrheit stimmte der Reichstag in der schroffen Absage an Österreich überein. Dieser Staat, der in seiner Rolle als eine der Führungsmächte des Deutschen Bundes, die noch bis wenige Monate zuvor trotz der Rivalität mit Preußen respektiert worden war, wurde jetzt im Reichstag als „Fremdherrschaft“, die zurecht aus Deutschland herausgeworfen worden sei, geschmäht.“ 19 Kein Zweifel, dass die Besinnung auf die vielfältigen deutschen und europäischen Traditionen die Dominanz Preußens als Bezugspunkt und Machtzentrum im Reichstag relativiert hat und den Abgeordneten den Eindruck vermittelte, „daß wir uns ungleich unserer Herkunft in drei Tagen schon deutlich genähert haben“ 20, und zwar noch vor Beginn des Prozesses der Fraktionsbildung. Bis zur Konstituierung aller Fraktionen verging die Hälfte der etwa zweimonatigen Session dieses Reichstags. Auch danach waren die locker zusammengefügten Fraktionen zu einer programmatischen Verständigung bis weit in die entscheidenden Wochen der Verfassungsdebatte nur eingeschränkt imstande. Namentlich die außerpreußischen Abgeordneten hatten große Schwierigkeiten, eine ihnen adäquate Fraktion zu finden. Die Sachsen etwa mussten von Fraktion zu Fraktion wandern, ehe sie schließlich da oder dort Aufnahme gefunden hatten. 21 Als erste Parteirichtung konstituierten sich die Freikonservativen, und zwar in dem Bestreben, sich von den „Kreuzzeitungsmännern“ 22, den Ultrakonservativen, abzusetzen. Zudem drängten die Vertreter des Hochadels auf eine eigene Fraktionsbildung, denn der Adel habe sich nach dem Verlust vieler politischer Herrschaftsrechte im konstitutionellen Zeitalter genauso zu bewähren wie früher am Hofe. 23 Die Konservativen, als gouvernementale Partei gewählt, waren zutiefst desorientiert und verunsichert, zumal sie gänzlich im Ungewissen darüber waren, wieweit

16 Ebd., 112; Vincke hob die glückliche Lage hervor, erst einmal ohne Süddeutschland den Bund einrichten zu können. Ebd., 180. 17 Pollmann, Parlamentarismus, 202. 18 „[…] müsste man an der Zukunft verzweifeln, wenn es nicht in drei Jahren gelingen würde, den Anschluss des Südens herzustellen“. Bennigsen, Konstitut. Reichstag, 163. 19 Ebd., 163. 20 Ebd., 162. 21 Pollmann, Parlamentarismus, 162f. 22 Ebd., 163. 23 Ebd., 163ff.

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Bismarck den Konstitutionalismus noch treiben werde. Ihr wirkungsvollster Sprecher, häufig das provokativ-populistische Sprachrohr Bismarcks, war der demagogisch veranlagte Hermann Wagener. 24 Fast gleichzeitig wie die Freikonservativen konstituierte sich die größte Fraktion, die Nationalliberalen. Die Einheit des Liberalismus war im Herbst 1866 im preußischen Abgeordnetenhaus an der formell den preußischen Verfassungskonflikt abschließenden Indemnitätsvorlage 25 zerbrochen. Nach der Abspaltung von der Fortschrittspartei zog sie die meisten und profiliertesten neu- und außerpreußischen Liberalen an. Anfangs fast nur Koordinierungsinstanz der ihr beigetretenen Abgeordneten fand sie am Ende tendenziell zur innerfraktionellen Abstimmung der im Reichstag zur Debatte stehenden Anträge. Die nationalliberale Fraktion dominierte die Beschlüsse des konstituierenden Reichstags. Diese bewegten sich häufig auf dem schmalen Grat zwischen dem zu befürchtenden Veto des Bundesrats und der Preisgabe essentieller liberaler Verfassungspositionen. Je nachdem, ob die Fraktion geschlossen abstimmte oder eine nicht unbeträchtliche Minderheit anders votierte, fiel die Entscheidung für den Verfassungsentwurf oder eine stärker liberale Prägung der Vorlage aus. 26 Die Fraktion der Linken war im Kern der dezimierte altpreußische linke Flügel der Fortschrittspartei, der die zusätzlichen Vertreter außerpreußischer Staaten nicht zur inneren Einheit der Fraktion integrieren konnte und für die Mehrheitsbildung nur eine untergeordnete Rolle spielte. 27 Größte Widerstände gegen eine Fraktionsbildung gab es lange Zeit bei den Altliberalen, die über eine lockere Zusammenarbeit nicht hinauskamen und den internen Gegensatz zwischen den preußischen und sächsischen Mitgliedern nicht überwinden konnten 28. Eine weitere Fraktion war die Freie Vereinigung. Diese war mit ihren 14 Mitgliedern mehr der Typus einer Klientelgruppe, wie er für die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts typisch war, aber in der Reichsgründungszeit von den sich etablierenden Parteien aufgesogen wurde. 29 Schließlich sind noch die Bundesstaatlich-Konstitutionellen zu erwähnen, ein Zusammenschluss der Hannoverschen Welfen und augustenburgischen Liberalen und zusätzlich einzelnen katholischen Repräsentanten. Diese Fraktion war nur begrenzt einigungsfähig, am ehesten dann, wenn sie sich auf liberal-konstitutionelle

24 Ebd., 164f. Wolfgang Saile, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck, Tübingen 1958. 25 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, 348ff. 26 Pollmann, Parlamentarismus, 165ff. 27 Ebd., 167f. 28 Ebd., 168f. 29 Ebd., 169.

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Ziele verständigte, die häufig über ihre ursprünglichen Grundpositionen weit hinausgingen. Noch während des Norddeutschen Bundes ging der katholische Teil dieser Gruppe in der 1870 gegründeten Zentrumspartei auf. 30 Die anfängliche Skepsis des Reichstags gegenüber dem Verfassungs-Entwurf wich alsbald der Auffassung, dass eine Ablehnung der Vorlage schon wegen der säkularen Bedeutung der Ereignisse des Jahres 1866 nur schwer zu verantworten war. 31 Zudem wurde in diesen Tagen bekannt, dass Preußen durch einen Geheimvertrag mit Sachsen und einigen anderen Bundesstaaten für den Fall des parlamentarischen Scheiterns einen Oktroi der Verfassung verabredet hatte 32, ohne parlamentarische Beteiligung, gestützt auf die Militärmacht. Zudem relativierte sich die anfänglich um sich greifende Befürchtung, der preußische Ministerpräsident könnte es darauf angelegt haben, den Parlamentarismus an sich selber zugrunde gehen zu lassen, und zwar dadurch, dass neben das preußische Abgeordnetenhaus ein gefügigeres Parlament als der Konfliktlandtag mit nur eingeschränkten Kompetenzen gestellt würde. 33 Das Misstrauen war schon durch den Rückgriff auf das Wahlrecht der Frankfurter Nationalversammlung geweckt worden. 34 Die Nationalliberalen, ohnedies von Hause aus nicht unbedingt Freunde des egalitären Wahlrechts, vermuteten nicht ohne Grund eine Interdependenz zwischen der Breite der Partizipationsrechte und der geringen Entscheidungskompetenz des Reichstags. Zwar konnten sie den Status des Parlaments zunächst einmal einigermaßen sichern, – durch die Abwehr des Versuchs, die Legislaturperioden auf fünf oder sechs Jahre zu verlängern, die Begrenzung der Befugnis, das Parlament zu vertagen, durch die Garantie der zuletzt im preußischen Abgeordnetenhaus offen attackierten Redefreiheit, durch die Gewähr der Freiheit der Berichterstattung, dem Schutz vor Verfolgung der Abgeordneten und der Zubilligung des Interpellationsrechts. 35 Es blieben allerdings gravierende Zweifel, auch aufgrund der im Entwurf vorgesehenen Einschränkung des passiven Wahlrechts, bestehen. 36 Zwar konnte der Ausschluss der Wählbarkeit der Beamten ohne ernsthafte Gegenwehr der Regierungsvertreter aufgegeben werden. 37 Von einer solchen Bestimmung wäre schließlich das konservativ-gouvernementale Kandidatenreservoir mindestens so stark betroffen gewesen wie das der Liberalen, so dass die Bismarcksche Intention des präventiven Schutzes der Integration des Staatsbeamtenkörpers dahinter zurückstehen musste.

30 Ebd., 170. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und politischer Katholizismus 1866– 1918. Die deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches, Düsseldorf 1987, 42ff. 31 Konstitut. Reichstag, 408. 32 Huber, Bd. III, 654. 33 Pollmann, Parlamentarismus, 210ff. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980, 392. 34 Pollmann, Parlamentarismus, 37ff. 35 Ebd., 210ff. 36 Ebd., 223ff. 37 Ebd., 225ff.

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In den Debatten zum Wahlrecht überwog die Erörterung der vermuteten Instrumentalisierung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck. Eine Ausnahme bildete Heinrich von Sybel, der sich der nationalliberalen Fraktion angeschlossen hatte. Mit der Autorität des angesehenen Historikers gab er seiner fundamentalen Kritik an dem demokratischen Wahlrecht Ausdruck: „Soweit meine historische Erfahrung reicht, ist die Ausführung des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts für jegliche Art des Parlamentarismus immer der Anfang vom Ende gewesen.“ 38 Dieses Wahlrecht erfordere „Zustände allgemeiner Bildung und allgemeinen Wohlstands, von denen die Gegenwart weit entfernt sei.“ 39 Das Wahlrecht sei kein Individualrecht, sondern ein politisches Herrschaftsrecht, das nach dem Maßstab entwickelt werden müsse, parlamentarische Wirksamkeit dauerhaft zu garantieren. Ebenso apodiktisch verwarf er den direkten Wahlmodus, der die Tendenz habe, an die Leidenschaften zu appellieren und rationale Abwägungen auszuschließen. 40 Am Ende laufe es auf eine die Monarchie unterminierende demokratische Diktatur hinaus. Bismarck hatte diesem Verdikt nur die Wiederholung seiner kompromisslosen Verwerfung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das mit seinem indirekten Wahlverfahren „eine Fälschung der Wahlen, der Meinung der Nation“ darstelle, entgegenzusetzen. 41 Eine andere Beschränkung des passiven Wahlrechts wurde aber von Bismarck selbst um den Preis des Scheiterns der Einigung hartnäckig festgehalten: die Verweigerung der Diätenzahlungen an die Abgeordneten. 42 Diese weit über den realpolitischen Stellenwert festgehaltene symbolpolitische Entscheidung zielte nicht nur auf den Ausschluss der „catilinarischen Existenzen“ 43, der proletarisch unterbürgerlichen Schichten, von der Wählbarkeit, sondern bezweckte die Eindämmung des Parlamentarismus durch kurze Parlamentssessionen, durch die Erschwernis des Zustandekommens beschlussfähiger Mehrheiten und die kompromisslos verfolgte Absicht, mit diesem Reichstag einen anderen Typus von Parlament als den mit Diäten ausgestatten einzelstaatlichen Kammern zu schaffen. Der unfertige Zustand des Norddeutschen Bundes, der gar kein richtiges Staatswesen sei 44, und die Schwierigkeit der Lösung des verfassungspolitischen Problems, „der in der in der Geschichte noch nicht vollzogenen Aufgabe, den monarchischen Bundesstaat mit dem konstitutionellen Recht in Einklang zu bringen“ 45, motivierte namentlich diejenigen Liberalen, die nicht in den Konfrontationslinien

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Konstitut. Reichstag, 427. Ebd. Ebd., 428f. Ebd., 429. Pollmann, Parlamentarismus, 332. Gall, Bismarck, 388f. Konstit. Reichstag, 298. Pollmann, Parlamentarismus, 287.

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des Verfassungskonflikts befangen waren, sich auf den Ansatz der Vorlage einzulassen und mit nationalpolitisch 46 aufgeladener Emphase ihre Kompromissbereitschaft zu signalisieren: ihre Bereitschaft, „jedes Opfer, selbst der Freiheit, für den Augenblick zu bringen“ 47, wobei die Einschränkung, „welches wahrhaft nötig und wirklich notwendig ist“ 48, in der Wahrnehmung weitgehend unterging. Während die Linke, aber auch zahlreiche bisher nicht preußische Vertreter, den Mangel des fehlenden Grundrechtskatalogs auch durch die bundesstaatliche Verfassungskonstruktion nicht gerechtfertigt sahen, fanden sich die Nationalliberalen, zum Teil einhergehend mit einer Diffamierung der Geisterbeschwörung der Frankfurter Grundrechte mit dieser Lücke in der Verfassung schließlich ab. Sie stellten die in den Artikeln 3 und 4 enthaltenen wirtschaftlichen Menschenrechte dagegen: das Bundesbürgerrecht, die Freizügigkeit, die Aufhebung des Passzwangs sowie die Niederlassungsfreiheit; im folgenden Reichstag kamen u.a. die Gewerbefreiheit, das Postgeheimnis, der Schutz der Versammlungsfreiheit bei Reichstagswahlen, mit Einschränkungen auch die Koalitionsfreiheit hinzu. Mit Recht verwiesen die Nationalliberalen auf den dynamischen Charakter der Bundesverfassung 49, dessen Entwicklungspotential von der liberalen Mehrheit erfolgreich erprobt wurde. Dagegen scheiterte die Absicht, diese Dynamik auf die rückständigen Einzelstaaten zu übertragen, in denen der Bund nach einem Antrag der Nationalliberalen die Befugnis erhalten sollte, ein nicht zu unterschreitendes Minimum an politischen Grundrechten in die jeweilige Landesverfassung aufzunehmen, trotz aller Bemühungen, namentlich der Mecklenburgischen Liberalen. 50 Das schwerste Hindernis für die Zustimmung zum Verfassungsentwurf war der in der Vorlage vorgesehene Normaletat für den Militärbedarf, mit einer auf 10 Jahre festgelegten Friedenspräsenzstärke von 1% der Bevölkerung und der Normierung eines festen Pauschalbetrags für jeden Soldaten. 51 Den Nationalliberalen war klar, dass nach den gewonnenen Kriegen von 1864 und 1866 daran grundsätzlich nicht zu rütteln war. Aber wie konnte der über 90% des Bundesetats ausmachende Haushaltstitel 52 von der jährlichen Bewilligung ausgenommen werden, ohne das Budgetrecht im Kern bedeutungslos zu machen? Der Kompromiss, auf den sich Bismarck mit den Nationalliberalen und Freikonservativen nach langen, zum Schluss wenig transparenten Verhandlungen einigte, war die Festlegung des Militäretats für den

46 Grundsätzlich dazu: Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000. 47 Konstit. Reichstag, 114. 48 Ebd. 49 Ebd.,163. 50 Ebd., Antrag Braun, 41. Der Antrag zur Garantie der Redefreiheit in den Mecklenburgischen Staaten wurde ebenso abgelehnt wie der Weg über den Artikel 76 der Bundesverfassung, Verfassungskonflikte beizulegen. Ebd., 312f., 350. 51 Art. 60 u. 62 BVf. Konstit. Reichstag, Anlagen Nr. 124, 84ff. 52 Nämlich 66,4 Mio. Taler von insgesamt 72,2 Mio. gemäß dem Haushalt des Norddeutschen Bundes von 1868. Sten. Ber. über die Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes 1867, Anlagen, Nr. 9.

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Zeitraum der Errichtung des Nationalstaats auf vier Jahre, in der Hoffnung, danach auf Verhältnisse zu treffen, die eine Rückkehr zum normalen Budgetrecht ermöglichten. Wie vage diese Aussicht war, zeigten die zusätzlichen, von den Nationalliberalen beantragten 53 Kautelen, dass nämlich die Einzelstaaten die gesetzlich geforderten Finanzmittel weiter einzahlen sollten und die geltende Friedenspräsenzstärke für die künftigen Gesetze weiter zugrunde gelegt werden sollte 54. Auf dem Schlachtfeld sei, so die preußische Führung, der Anspruch auf die extrakonstitutionelle Stellung der Armee erkämpft worden. Das haben die Nationalliberalen mindestens bis zur zeitweiligen Preisgabe wichtiger konstitutioneller Rechte akzeptiert, legitimiert durch die Beschreibung Preußens, nicht nur als Militärstaat, sondern „als Staat der Gewissensfreiheit, der Gemeindefreiheit und der Kultur“. 55 Außerhalb des Militäretats sollten die Liberalen, so hatte Bismarck es zugestanden, so viel Budgeteinfluss wie möglich erhalten. Das war aber, wie die Zukunft erwies, ein in seiner Tragweite unterschätztes Zugeständnis, denn angesichts der fehlenden Verfassungsmittel, der Regierung das Vertrauen zu entziehen, war das Budgetrecht unvermeidlich der Hebel, die Exekutive unter Druck zu setzen. Das hat der Reichstag gemeinsam mit dem Zollparlament auch praktiziert und dem eilig zusammengestellten „Steuerbukett“ 56 des Bundesrats bzw. Zollbundesrats 1869 eine herbe Niederlage bereitet. Allerdings traten die prinzipiellen Implikationen des Budgetrechts in den Hintergrund, je mehr Gestaltungsmöglichkeiten sich der nationalliberalen Mehrheit bei der Nutzung des Verteilungsinstruments staatlicher Mittel boten. Mit dem von den Nationalliberalen am Ende durchgesetzten vollen Einnahmeund Ausgabebewilligungsrecht sowie der Vorschrift, Einnahmen und Ausgaben jährlich auf den Etat zu bringen, 57 waren geregelte Etatverhältnisse geschaffen, die noch durch das Recht, neben den indirekten auch direkte Steuern und Anleihen zu erheben, ergänzt wurden. Damit war die Hoffnung verbunden, die per Kopf erhobenen Matrikularbeiträge obsolet werden zu lassen – eine trügerische Hoffnung. Der Bund und das spätere Reich blieben finanziell unter Druck und in der Abhängigkeit von den Einzelstaaten. Nirgendwo fiel den Nationalliberalen die Zustimmung so schwer wie bei der Entscheidung, auf den Schlussstein des Konstitutionalismus, der Ministerverantwortlichkeit, welche die Verfassung nach der liberalen Doktrin erst zur Wahrheit mache, zu verzichten. Sie verbürgte nicht allein die unerlässliche Vermittlung zwischen den Verfassungsgewalten, die Sicherung des Rechtsstaatssystems und den

53 Konstit. Reichstag, 615ff.; Anträge Forckenbeck und Miquel 75 und 76, 68f. Dazu auch der Antrag Twesten, dass Preußen im Bundesrat bei Änderungen der bestehenden Heeresverfassung nicht überstimmt werden könne. 54 Pollmann, Parlamentarismus, 417ff. 55 Konstit. Reichstag, 682. 56 Pollmann, Parlamentarismus, 417ff. 57 Konstit. Reichstag, Anlagen Nr. 76, 69.

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Modus der Verständigung von Parlament und Regierung. Mit dem Antrag, die Vorstände der Bundesratsausschüsse zu verantwortlichen Ressortchefs zu machen 58, schienen die Nationalliberalen eine mit der Verfassungsstruktur vereinbare Lösung gefunden zu haben. Der Antrag stieß aber auf den entschiedenen Widerstand Bismarcks, was die Nationalliberalen nicht erwartet hatten und sie an ihrem Kompromisskurs zweifeln ließ. Immerhin konnten sie die parlamentarische Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers im engeren Sinne, das heißt zusätzlich zur Gegenzeichnung das Interpellationsrecht, durchsetzen. Damit stärkten sie zugleich die Stellung des Bundeskanzlers und machten ihn zur entscheidenden Größe im Zusammenwirken der preußischen Regierung und des Bundesrats mit dem Reichstag. Die juristische Ministerverantwortlichkeit, dieses typische Element des Frühkonstitutionalismus, hatten die Nationalliberalen schon zuvor mit der Erklärung preisgegeben, dass die naiven Zeiten des Konstitutionalismus vorüber seien 59. Es hätte sich auch in diesen Verfassungsrahmen nicht gefügt, abgesehen davon, dass sich die rechtliche Verantwortlichkeit, mit der Möglichkeit, die Minister in den Anklagezustand zu versetzen, nirgendwo recht bewährt hat. Die politische Verantwortung war in der Tat der modernere Verfassungsansatz. Allerdings ist es nicht gelungen, daraus eine parlamentarische Verantwortlichkeit abzuleiten, wenn man von dem 1912 eingeführten folgenlosen Missbilligungsvotum absieht. Diese unbestimmte Verantwortlichkeit gegenüber der öffentlichen Meinung konnte keinen Weg in ein parlamentarisches Regierungssystem ebnen. Am Ende der Verhandlungen wurde vornehmlich von den BundesstaatlichKonstitutionellen die mangelnde Rechtssicherung durch diese Verfassung zur Sprache gebracht und die Schaffung eines Bundesgerichts beantragt. 60 Sie brachten ferner die Bundesschiedsgerichtsbarkeit des Deutschen Bundes in Erinnerung. Diese Bestrebungen blieben aber ausnahmslos in der Minderheit, und die Klage des Göttinger Staatsrechtslehrers Zachariae über den schwindenden Rechtssinn in Preußen bzw. dem Norddeutschen Bund behielt ihre subjektive Berechtigung. 61 Verfolgen wir abschließend stichwortartig, was aus der norddeutschen Bundesverfassung geworden ist, und zwar fokussiert auf die Zukunftserwartung der nationalliberalen Reichstagsabgeordneten: 1. Niemals hätten sich die Nationalliberalen vorstellen können, dass das Nebeneinander der beiden großen Parlamente, preußischer Landtag und Reichstag und damit zweier unterschiedlicher politischer Systeme, bis zum Ende des Reichs weiter existiert hätte, noch dazu mit unterschiedlichem Wahlrecht. Das ist umso erstaunlicher, als Bismarck mindestens bis 1869/70 die Übertragung des allgemeinen direkten Wahlrechts auf das preußische Abgeordnetenhaus beabsichtigt

58 Antrag Bennigsen v. 25.3.1867. Konstit. Reichstag, Anlagen Nr. 48, 56. 59 Nationalzeitung Nr. 133 v. 19.3.1868. Das Zitat lautete vollständig: „[...] in welchen man den Grundsatz für das Wesen nahm, ohne für seine Durchführbarkeit zu sorgen.“ 60 Konstit. Reichstag, 671. 61 Ebd.

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und für notwendig gehalten hat. 62 Ein wesentliches Strukturelement des Kaiserreichs, die dynamische Reichsentwicklung durch den preußischen Landtag, der je länger desto mehr von den konservativ agrarischen Eliten beherrscht wurde, abzubremsen, wäre dann vermieden worden. Unvorstellbar für die Nationalliberalen war, dass das später längst zum sozialen Interventionsstaat gewordene Reich immer noch keine konstitutionelle Regierung, noch weniger ein parlamentarisches Regierungssystem hatte und sich nicht zu einem solchen entwickeln würde. Wenn schon keine Grundrechte in der Reichsverfassung, so hätten die Nationalliberalen aber die Dynamisierung der einzelstaatlichen Verfassungen vor allem im Hinblick auf die konstitutionellen Verhältnisse und die Grundrechte erwartet sowie einen zuverlässigen Rechtsschutz, vor allem durch ein oberstes Bundesgericht. Die Verweigerung der Diäten bis 1906, deren Zahlung in den einzelstaatlichen Kammern nie Anstoß erregt hat, zumal die von dem Verbot erhofften Wirkungen, die Einschränkung der parlamentarischen Aktivitäten und des parlamentarischen Einflusses ebenso wie die Vermeidung von Tendenzen zur Entstehung des Berufsparlamentariers krass verfehlt worden war. Die andauernde Ausnahme des Militäretats vom normalen Budgetrecht, auch als sich kontinuierlich ein erheblicher finanzieller Mehrbedarf geltend machte. Schlimmer noch, dass die Forderungen nach zusätzlichen Mitteln auf längere Perioden mit bewusst manipulierten Krisen einhergingen, die in der Regel die liberalen Kräfte im Reichstag geschwächt haben. Die Auswirkungen des Massenwahlrechts, die das Parteiensystem massiv verändert und nach einem Jahrzehnt der liberalen Vorherrschaft den Liberalismus erheblich geschwächt haben. Für die preußisch-deutsche Regierung war dieses Wahlrecht nur durch die bewusste Inszenierung politischer Krisen und unkalkulierbarer Staatsstreichdrohungen zu ertragen. Unerwartet kam auch die zunehmende Einschränkung der Gleichheit des Wahlrechts durch die Zementierung des Wahlkreiszuschnitts, womit die rasante demografische Entwicklung wahlpolitisch neutralisiert wurde. Die Liberalen hatten 1869 fatalerweise selbst die gesetzliche Festlegung der Wahlkreise mit herbeigeführt.

Im März 1867 hatte Johannes Miquel voller Überzeugung gemeint, dass für die anstehende Aufgabe, ganz Deutschland in einen Bundesstaat zu formulieren, der Verfassungsentwurf von 1867 völlig ungenügend sei“ 63. Miquel konnte nicht ahnen, dass das Kaiserreich ein halbes Jahrhundert mit dieser 1870 noch weiter verwässerten Verfassung leben musste. Die Krone Preußens, die der Reichstag bei dem späteren Zutritt der süddeutschen Staaten in ihren monarchischen Rechten ungenügend gesichert sah, konnte

62 Pollmann, Parlamentarismus, 314ff. 63 Konstit. Reichstag, 682.

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damit viel eher zurechtkommen als der Parlamentarismus und die Partizipationsansprüche der Parteien. August Bebel hatte 1867 den Reichstag als das Feigenblatt des Absolutismus bezeichnet. Bis in die 70er und 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind ihm in dieser Bewertung nicht wenige Historiker gefolgt. Davon spricht heute schon längst keiner mehr. An den 1867 neujustierten Machtverhältnissen im deutschen Kaiserreich hat der Reichstag aber wenig ändern können. Klaus Erich Pollmann ist emer. Professor für Geschichte der Neuzeit an der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg.

„MIT DERSELBEN TREUE, MIT DER ICH ZU DEM ALTEN BUNDE GESTANDEN BIN…“ Sachsens Eintritt in den Norddeutschen Bund Jonas Flöter Kurzfassung: Ausgehend von den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Deutschen Bundes werden im Aufsatz ausgewählte verfassungsrechtliche, politische und militärische Konfliktfelder zwischen Sachsen und Preußen untersucht, die mit dem Eintritt Sachsens in den Norddeutschen Bund verbunden waren. Im Zentrum des ersten Teils des Aufsatzes stehen die Verhandlungen zur Verfassung des Norddeutschen Bundes. Diese werden insbesondere vor dem Hintergrund eines durch die wirtschaftliche Entwicklung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestärkten sächsischen Landesbewusstseins und den spezifischen Gegebenheiten in Sachsen nach der Niederlage im Deutschen Krieg 1866 und der Besatzung durch preußische Truppen untersucht. Im Blickpunkt stehen hier die Fragen der Sicherung der einzelstaatlichen Rechte im Norddeutschen Bund, der Militärkonvention zwischen Sachsen und Preußen, der zukünftigen Rolle des sächsischen Gesandtschaftswesens sowie der Weiterentwicklung des Post- und Telegraphenwesens. Im zweiten Teil wird aus sächsischer Perspektive auf die Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes im Februar 1867 und die Wahlen zum ordentlichen Reichstag des Norddeutschen Bundes im August 1867 eingegangen. Hier stehen die Haltungen der sächsischen Wahlvereinigungen zur deutschen Frage sowie zur Sicherung der föderalen Rechte im Norddeutschen Bund im Zentrum des Interesses.

1.VORÜBERLEGUNGEN Im Vorfeld des Deutschen Krieges 1866 verstand es die Berliner Außenpolitik, das Ringen zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland mit der Frage nach der Reform des Deutschen Bundes zu verknüpfen. Der gemeinsame Krieg Österreichs und Preußens gegen Dänemark mündete in eine erbitterte Auseinandersetzung der Kriegspartner um die weitere Behandlung Schleswig-Holsteins. Nach österreichischer Initiative in der schleswigholsteinischen Frage rückten preußische Truppen in das von Österreich verwaltete Holstein ein. Gleichzeitig legte Preußen einen Bundesreformplan vor, der an die territorialstaatlichen Vorstellungen der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 anknüpfte und Österreich aus dem Deutschen Bund ausschloss. Österreich beantragte daraufhin in der Deutschen Bundesversammlung die Mobilmachung des deutschen Bundesheeres gegen Preußen. Die Mobilisierung, die mit neun gegen fünf Stimmen beschlossen worden war, bezeichnete Preußen als rechtswidrig

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und erklärte seinen Austritt aus dem Deutschen Bund. Beides widersprach dem geltenden Bundesrecht. Damit hatte Österreich das Recht auf seiner Seite. Für Sachsens Parteinahme zugunsten Österreichs war die Rechtslage von großer Bedeutung. Artikel XI der Deutschen Bundesakte verpflichtete alle Bundesglieder, „keine Verbindungen einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet wären.“ 1 Der Govone-Vertrag, in dem Preußen und Italien einen gemeinsamen Angriff gegen Österreich vereinbarten, war insofern mit dem deutschen Bundesrecht unvereinbar. Ferner erklärte Artikel 5 der Wiener Schlussakte den Deutschen Bund für einen „unauflöslichen Verein“ aus dem „keinem Mitgliede desselben“ der Austritt freistehe. 2 Mit dem Austritt Preußens aus dem Bund wurde folglich erneut das Bundesrecht gebrochen. Außerdem widersprach Preußens deutsche Politik den sächsischen Vorstellungen zur Reform des Deutschen Bundes. Aufbauend auf der Rechtsgrundlage von 1815 rangen der sächsische König Johann und sein Außenminister Friedrich Ferdinand von Beust um eine föderale Weiterentwicklung des Bundes, die im Konsens mit allen deutschen Regierungen verwirklicht werden sollte. Eine aktive Parteinahme auf österreichischer Seite schien auch aus politisch-strategischen Gründen vorteilhaft. Im Falle einer preußischen Niederlage war nicht nur eine Stärkung Sachsens innerhalb des Deutschen Bundes zu erwarten, auch die Realisierungschancen der sächsischen Bundesreformpläne wären gestiegen. Bei einem preußischen Sieg waren die Gefahren für Sachsen keineswegs so groß, wie im Nachhinein dargestellt. Zur Erhaltung des mitteleuropäischen Gleichgewichts hatte der französische Kaiser Napoleon III. eine süddeutsche Staatengruppe gefordert, zu der auch Sachsen gehörte. Napoleon konnte die Beschränkung preußischer Annexionen auf Norddeutschland letztlich auch durchsetzen. Zudem galt das österreichische Engagement für die Integrität Sachsens als sicher. Der inneren Ausbildung der kleindeutschen Nation standen in den 1860er und 1870er Jahren zahlreiche Faktoren entgegen, die sich insbesondere aus den mitteleuropäischen Entwicklungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergaben. In den 1870er Jahren waren es dann vor allem vier Aspekte. Zum ersten wurden in großem Umfang nichtdeutsche Minderheiten, insbesondere Polen und Dänen, in den Norddeutschen Bund und in das Deutsche Reich aufgenommen, deren sprachliche und kulturelle Integration kaum gelang. 3 Zweitens führten der Kulturkampf und die Sozialistengesetze zur politischen Ausgrenzung von Katholiken und sozialdemokratischen Arbeitern und damit von großen Bevölkerungsgruppen deut1

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Deutsche Bundesakte, Art. XI, in: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abt. I: 1813–1815, Bd. 1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815, bearb. von Eckardt Treichel, München 2000, 1512. Schlussakte der Wiener Ministerkonferenzen, Art. 5, in: Wolfgang Hardtwig/Helmut Hinze (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 7: Vom Deutschen Bund zum Kaiserreich 1815–1871, Stuttgart 1997, 46. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1995, 266–282 – Szilvia Odenwald-Varga, ‚Volk‘ bei Otto von Bismarck. Eine historisch-semantische Analyse anhand von Bedeutungen, Konzepten und Topoi, Berlin/New York 2009, 119–124.

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scher Nationalität. 4 Beide Aspekte spielten in Sachsen eine untergeordnete Rolle. Mit der Annexion sächsischer Gebiete durch Preußen 1815 wurde auch das sorbische Siedlungsgebiet geteilt. Mit etwa 200.000 Sorben gehörte seither der Großteil der sorbischen Bevölkerung zu Preußen. Im verbliebenen sächsischen Teil der Oberlausitz lebten damals noch etwa 50.000 Sorben. Während die preußische Sorbenpolitik auf eine Assimilation der slawischen Minderheit zielte, konnte sich in der sächsischen Oberlausitz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das geistig-kulturelle Leben der Sorben entwickeln. 5 Gleichzeitig war der Prozess der Integration des Königreichs Sachsen in den kleindeutschen Nationalstaat nicht von konfessionellen Konflikten zwischen Protestantismus und Katholizismus geprägt. Mit einem protestantischen Bevölkerungsanteil von 97,6 Prozent besaß Sachsen eine geringe katholische Minderheit, die sich in der sorbischen Oberlausitz und in Dresden konzentrierte. Auch das katholische Herrscherhaus sowie die engen familiären Beziehungen der Albertiner zum Haus Habsburg-Lothringen führten nicht zu konfessionellen Konflikten zwischen dem Herrscherhaus und der protestantischen Mehrheitsbevölkerung. 6 Ein dritter Aspekt, der der Ausbildung der kleindeutschen Nation entgegenstand, bestand in den vorindustriell geprägten Lebenswelten der Bevölkerung, die auf kleinräumige geographische und soziale Einheiten bezogen war und zur Ausbildung abgeschlossener Sozialmilieus führte. 7 Im engen Zusammenhang damit standen – viertens – die staatlichen Entwicklungen in den deutschen Mittelstaaten. Seit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 und dem Wiener Kongress hatten die Mittelstaaten Verfassungen verabschiedet und staatliche Institutionen aufgebaut, die wesentlich dazu beitrugen, ein spezifisches bayerisches, württembergisches oder sächsisches Landesbewusstsein herauszubilden. Das mittelstaatliche Landesbewusstsein war in seiner nationalen Dimension auf das Alte Reich ausgerichtet und nur schwer mit der kleindeutschen Staatsidee vereinbar, die Österreich und das Herrscherhaus Habsburg-Lothringen als wesentliche Träger der historischen Reichsidee ausschloss. Entsprechend wurden der Deutsche Krieg 1866 und die Gründung des Norddeutschen Bundes als Akte nationaler Desintegration empfunden. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Sachsens Haltung zur Ausgestaltung der Verfassung des Norddeutschen Bundes und die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag 1867 untersucht sowie der Frage nach dem Verhältnis von sächsischem Landesbewusstsein und kleindeutschem Nationalbewusstsein nachgegangen. 4 5 6

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Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II (wie Anm. 3), 351–382. Peter Kunze, Kurze Geschichte der Sorben. Ein kulturhistorischer Überblick, Bautzen 2008, 39–42. Siegfried Weichlein, Sachsen zwischen Landesbewußtsein und Nationsbildung 1866–1871, in: Simone Lässig/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Dresden 1997, 249f. Heinz Gollwitzer, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 27/1964, 523–552.

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2. SÄCHSISCHES LANDESBEWUSSTSEIN 1866/67 In Sachsen überlagerten sich mehr als in anderen deutschen Staaten die Prozesse der Industrialisierung und der Nationalstaatsbildung. Anfang der 1870er Jahre befand sich Sachsen an der Schwelle vom Agrar- zum Industriestaat. Der Anteil der in Industrie, Handwerk und Bergbau Beschäftigten und ihrer Angehörigen an der Gesamtbevölkerung lag 1871 mit 51,8 Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt von 32,8 Prozent. In Preußen betrug zu dieser Zeit der Anteil der Industriebevölkerung nur 30,4 Prozent. Damit einhergehend war in Sachsen der Urbanisierungsprozess weit vorangeschritten. Kein anderes Flächenland des Deutschen Reiches wies eine höhere Bevölkerungsdichte auf. 1871 wohnten in Sachsen durchschnittlich 170 Menschen auf einem Quadratkilometer. Im Rheinland beispielsweise lag die Bevölkerungsdichte mit 132 Einwohnern pro Quadratkilometer deutlich darunter. 8 Dieser hohe industrielle Entwicklungsstand stärkte gleichermaßen das sächsische Landesbewusstsein und die exportorientierte sächsische Wirtschaft. Diese strebte seit den 1850er Jahren eine mitteleuropäische Zollunion an, die die Staaten des Zollvereins und der Habsburgermonarchie umfassten und den China- und Orienthandel befördern sollte. 9 Auch aus diesem Grund widersetzte sich die sächsische Politik dem preußischen nationalpolitischen Geltungsanspruch und trat 1866 an der Seite der Habsburgermonarchie aktiv in den Krieg gegen Preußen ein. Mit der militärischen Niederlage unterlagen auch alle sächsisch-mittelstaatlichen Bestrebungen nach einer bundestaatlichen Einigung aller Staaten des Deutschen Bundes. Außerdem war die Niederlage mit der Besetzung Sachsen durch preußische Truppen verbunden, die für weite Teile der sächsischen Bevölkerung als Gefahr für die staatliche Selbstständigkeit angesehen wurde. Auf den Einmarsch preußischer Truppen reagierten große Teile der sächsischen Bevölkerung mit offenem Widerstand und antipreußischen Kundgebungen. Der Widerstand gegen die preußischen Besatzungstruppen war offenbar in der Oberlausitz und im Erzgebirge am heftigsten: „Die gute Sechsstadt Bautzen“, so berichten die Preußischen Jahrbücher, „entwickelte der Occupation gegenüber ungebührlich viel sächsischen Patriotismus und wurde dabei sogar ein wenig handgreiflich. Sie hatte für solch’ unzeitgemäßes Betragen sofort im Belagerungszustand den Daumen auf dem Auge. […] Chemnitz, wo sonst viele gutpreußische Gesinnung, hielt es in seinen unteren Schichten ebenfalls für angemessen, den Preußen durch Demonstrationen Verdruß zu bereiten und mußte sich in ähnlicher Weise wie die alte Wendenstadt an der Spree dafür einen Zügel in den Mund hal-

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Gerd Hohorst/Jürgen Kocka/Gerhard A. Ritter, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1870–1914, München 1975, 73. Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866. Sächsischmittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln-Weimar-Wien 2001, 96–98.

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ten lassen.“ 10 Auch die Dresdener Bevölkerung äußerte mit Demonstrationen ihren Unmut gegen die preußische Besatzung. Im Gegensatz zur antipreußischen Haltung weiter Teile der Bevölkerung gab es einzelne Stimmen, die sich für eine Annexion Sachsens durch Preußen aussprachen. Sprachrohr derer war der gebürtige Dresdener und spätere Berliner Professor Heinrich von Treitschke. Allein in der Annexion Sachsens sah er die Möglichkeit, das sächsische Landesbewusstsein zu brechen: „Jene drei Dynastien [Hannover, Sachsen, Kurhessen] sind reif, überreif für die verdiente Vernichtung; ihre Wiedereinsetzung wäre eine Gefahr für die Sicherheit des neuen deutschen Bundes, eine Versündigung an der Sittlichkeit der Nation“ 11 Mit diesen Auslassungen brachte Heinrich von Treitschke seinen Vater Eduard Heinrich von Treitschke, einen der angesehensten sächsischen Generale und Kommandanten der Festung Königstein, politisch in Verlegenheit. Im „Dresdner Journal“ lehnte er öffentlich die Position seines Sohnes ab und bekundete seine Solidarität zum Königshaus. Die antisächsische Agitation befeuerte auch der zu dieser Zeit in Siebleben bei Gotha lebende Publizist Gustav Freytag, der in einem Artikel „Der Friede und Sachsen“ die Frage diskutierte, ob im Königreich Sachsen nicht die Albertiner gegen die Ernestiner ersetzt werden sollten. Für einen Herzog, so Freytag, sei es leichter, auf Heer und Diplomatie zu verzichten, während es für einen König geradezu zu dessen Kronrechten gehöre. Dazu vertrat der Verfasser der Flugschrift „Vorschläge zur Erhaltung der Selbständigkeit Sachsens“ die Meinung, dass die gesamte propreußische und annexionistische Propaganda allein durch Preußen gesteuert sei und dessen Presse die Meinung der Bevölkerung nicht repräsentiere. 12 3. VERHANDLUNGEN ÜBER DIE VERFASSUNG DES NORDDEUTSCHEN BUNDES Mit dem Friedensvertrag vom 21. Oktober 1866 beendeten Preußen und Sachsen den Krieg. An den Kriegslasten hatte Sachsen aber noch lange zu tragen. Die Rahmenbedingungen für den Friedensvertrag waren bereits im Präliminarfrieden von Nikolsburg am 26. Juli 1866 zwischen Preußen und Österreich festgeschrieben worden. Darin wurden die territoriale Integrität des Königreichs Sachsen, der Abschluss eines separaten Friedensvertrages mit Sachsen sowie der Beitritt des

10 Preußische Jahrbücher 18 (1866), 209. 11 Heinrich von Treitschke, Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, Berlin 21866, 8 (im Original sperr gedruckt) – zitiert auch in: Rudolf Dietrich, Der Kampf um das Schicksal Sachsens in der öffentlichen Meinung 1866/67, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 58 (1937), 208. 12 Zit. nach Dietrich, Kampf um das Schicksal Sachsens (wie Anm. 11), 208.

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Königreichs zum Norddeutschen Bund geregelt. 13 Diese Regelungen wurden auch in den preußisch-sächsischen Friedensvertrag übernommen. Darüber hinaus hatte Sachsen zehn Millionen Thaler Kriegsentschädigung an Preußen zu leisten, die bis zum 30. April 1867 in drei gleichen Raten zu zahlen war. Unter Nutzung des vereinbarten fünfprozentigen Skontos bei vorzeitiger Zahlung, leistete Sachsen bis zum 7. Dezember 1866 alle Zahlungen. 14 Aus sächsischer Perspektive war die vollständige Zahlung der Kriegsentschädigung die Voraussetzung für den Besuch des Königs Johann und des Kronprinzen Albert in Berlin. Die Reise wurde von beiden Seiten als Erfolg gewertet und galt als wesentlicher Beitrag zur Annäherung beider Länder. König Johann hatte bereits mit der Regierungsumbildung vom 24. Oktober 1866 die Weichen in diese Richtung gestellt. Anstelle das Freiherrn von Beust wurde der bisherige Finanzminister, Richard Freiherr von Friesen, zum Außenminister und der Chef des Generalstabs, Alfred Graf von Fabrice, anstelle des engen Beust-Vertrauten, Bernhard von Rabenhorst, zum sächsischen Kriegsminister berufen. Ungeachtet dieser Bemühungen blieb das Verhältnis zwischen Sachsen und Preußen auch während der Verhandlungen um die norddeutsche Verfassung angespannt. Entsprechend skizzierte der sächsische Gesandte in Berlin, Hanns von Könneritz, die Politik Preußens als eine rein großpreußische Machtpolitik: Die heute in Berlin auf der Tagesordnung stehende Friedericianische Politik ist nun einmal für Rechtserwägungen wenig zugänglich und sucht ihre wesentliche Kraft in einer rücksichtslosen Ausnutzung der Machtverhältnisse unter vermeintlicher Beachtung der für das Wachstum des Preußischen Staates sich je nach Umständen darbietenden Klugheitsrücksichten. – Die Handhabung einer solchen Konvenienz-Politik macht es bei den heutigen europäischen Konjunkturen für die in der preußischen Machtsphäre gelegenen mindermächtigen Staaten äußerst schwierig, den an sie herangetretenen Anmutungen erfolgreich entgegenzuwirken. 15

Ähnlich äußerte sich Friesen gegenüber dem König: Der Eintritt in den Norddeutschen Bund ist nicht unsere freie Wahl; wir sind die Besiegten, und der Sieger hat uns den Eintritt als Friedensbedingung auferlegt, wir akzeptieren den Norddeutschen Bund bona fide, aber daraus folgt noch nicht, daß wir ihn für gut und zweckmäßig halten. 16

Angesichts der politischen und militärischen Gegebenheiten konzentrierte sich die sächsische Politik bei den Verhandlungen um die Verfassung des Norddeutschen Bundes darauf, die Rechte des Bundespräsidiums durch erweiterte Kompetenzen der anderen Verfassungsorgane zu beschränken. Grundlage der Stimmenvertei13 Präliminarfrieden von Nikolsburg, 26. Juli 1866, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Stuttgart 1986, 247–249. 14 Helmut Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 48 (1927), 116f. – Richard Dietrich, Der Preußisch-Sächsische Friedensschluss vom 21. Oktober 1866, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 4 (1955), 109–156. 15 Könneritz an Friesen, 9. Dezember 1866, zit. nach: Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund, 126. 16 Friesen an König Johann, 14. Januar 1867, zit. nach ebd.

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lung im Bundesrat war das Plenum des Bundestages des Deutschen Bundes. Preußen führte danach mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt siebzehn Stimmen. Sachsen behielt weiterhin vier Stimmen. Um die Rechte des gesamten Bundesrates gegenüber dem Präsidium zu stärken, schlug Sachsen vor, Verfassungsänderungen statt mit einer Zweidrittelmehrheit, wie im Verfassungsentwurf beantragt, mit einer Dreiviertelmehrheit entscheiden zu lassen. Dieser Vorschlag wurde allerdings abgelehnt. Im Gesamtministerium hatte Johann Paul Freiherr von Falkenstein zur Debatte gestellt, für Sachsen die ständige Vertretung des Bundeskanzlers zu beantragen. Um bei Preußen und den anderen Staaten nicht weiteres Misstrauen zu erregen, wurde auf diesen Antrag verzichtet. Darüber hinaus traten im sächsischen Gesamtministerium grundsätzliche Bedenken bei der Gestaltung des Bundesrates auf. Angesichts der Öffentlichkeitswirksamkeit des Reichstages, der aus allgemeinen Wahlen hervorging, dachte das Kabinett darüber nach, ein Staatenhaus oder ein aus Wahlen hervorgehendes Oberhaus für den Norddeutschen Bund zu beantragen. Aus taktischen Überlegungen sah die sächsische Regierung letztlich davon ab, einen solchen Antrag einzubringen. Wenig Anklang fanden auch die sächsischen Vorschläge, die Rechte des Präsidiums zur Aufsicht über das Post- und Telegraphenwesen sowie über die Erhebung und Verwaltung der Zölle den betreffenden Bundesrats-Ausschüssen zu überweisen. Da für die Kleinstaaten kaum Aussicht darauf bestand, in diesen Ausschüssen vertreten zu sein, fanden die sächsischen Anträge wenig Zuspruch. Überaus skeptisch stand Sachsen Artikel 10 des Entwurfs der Bundesverfassung gegenüber. Danach erhielten die Mitglieder des Bundesrates das Recht, jederzeit im Reichstag zu erscheinen, dort zu sprechen und dabei auch jene Ansichten zu präsentieren, die im Bundesrat nicht mehrheitsfähig waren. Dahinter stand die Sorge, dass Preußen die unitarische Mehrheit im Reichstag dazu nutzen könnte, Anträge einzubringen, die die Kompetenzen des Bundes zu Ungunsten der Einzelstaaten erweiterten. Es stand zu befürchten, dass Preußen diese Bestimmung in erster Linie zu seinen eigenen Gunsten nutzen würde. Dass Bismarcks Überlegungen in diese Richtung gingen, machte er in einem seiner Diktate deutlich: „… es würde aber nicht ausgeschlossen sein, daß die Minorität des Bundestages ihre von den amtlichen Vorlagen der Majorität abweichende Ansicht auch vor dem Reichstage öffentlich plädierte. Es kann dies namentlich für Preußen unter Umständen Bedürfnis sein.“ 17 Da die Bedenken Friesens insbesondere von den Kleinstaaten nicht geteilt wurden, ging der Passus als Artikel 9 in die Norddeutsche Bundesverfassung ein. 18 Die heftigsten Debatten löste Artikel 68 des Entwurfs aus, in dem die Austragung von Streitigkeiten zwischen den Bundesstaaten geregelt wurde:

17 Robert von Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck. Erinnerungen aus den Jahren 1846–1872, Berlin-Stuttgart 1901, 337. 18 Norddeutsche Bundesverfassung, Art. 9, in: Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900 (wie Anm.13), 275.

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Jonas Flöter Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten oder ihren Behörden werden durch den Bundesrath, Verfassungsstreitigkeiten in den einzelnen Bundesstaaten im Wege der Bundesgesetzgebung erledigt. 19

Bismarck und Karl Friedrich von Savigny, der den Entwurf erarbeitet hatte, hatten sich gegen ein Bundesgericht ausgesprochen, das insbesondere von den Kleinstaaten und von Sachsen befürwortet worden war. Ungeachtet dessen, forderte Friesen kein Bundesgericht, sondern beschränkte sich auf eine Überarbeitung des Artikels auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Gegebenheiten der Einzelstaaten. Die Regelung des Entwurfs lade, so Friesen, den Reichstag geradezu ein, Verfassungsstreitigkeiten zu lösen und dabei in die Verfassungsangelegenheiten der Einzelstaaten einzugreifen. In Gesprächen mit Bismarck und dem preußischen Innenminister, Friedrich Graf zu Eulenburg, war für Friesen erkennbar geworden, dass dieser Artikel in erster Linie auf die inneren Verhältnisse Preußens bezogen war. Offenbar wollte Bismarck mit Hilfe des Reichstages das preußische Dreiklassenwahlrecht revidieren, um die liberale Mehrheit im preußischen Landtag zu brechen. Friesen brachte daher einen Revisionsantrag ein, der Eingriffsmöglichkeiten des Reichstages in Preußen nicht ausschloss, gleichzeitig aber Konflikte innerhalb der Bundesstaaten an das Verfassungsrecht der Einzelstaaten zurückband: Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Bundesstaaten, welche nicht rein privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, werden auf Anrufung eines Teils von dem Bundesrathe erledigt. Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der einzelnen Bundesstaaten sind auf dem, in den Landesverfassungen dafür vorgeschriebenen Wege durch die dazu verfassungsmäßig bestimmte Behörde zu entscheiden. Enthalten die Landesverfassungen derartige Bestimmungen nicht, so sind die Beteiligten berechtigt, sich an den Bundesrath zu wenden, welcher zuerst eine gütliche Vereinigung zu versuchen und wenn diese nicht zu erreichen ist, die Differenz zur Entscheidung zu bringen hat. 20

Da diese Formulierung mit einzelnen redaktionellen Änderungen als Artikel 76 in die Bundesverfassung einfloss, 21 waren Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Einzelstaaten der Kompetenz des Bundes entzogen. Alle Bundesstaaten, die keine Schlichtungsorgane besaßen, waren aufgefordert, entsprechende Regelungen verfassungsrechtlich abzusichern. Bedenken erhob Friesen auch gegen den Artikel 21 des Entwurfs, in dem die Frage der Bundesexekution geregelt worden war: Diese Exekution ist in Betreff militairischer Leistungen und in allen Fällen, wo Gefahr im Verzuge ist, von dem Bundesfeldherrn anzuordnen und zu vollziehen, sonst aber von dem Bundesrath zu beschließen und von dem Bundesfeldherrn zu vollziehen. 22

Friesen fürchtete, dass die Formulierung „in Betreff militairischer Leistungen und in allen Fällen“ dazu führen könnte, dass bereits die kleinsten Abweichungen von 19 Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund (wie Anm.14), 139f. 20 Ebd. 21 Norddeutsche Bundesverfassung, Art. 76, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 13), 285. 22 Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund (wie Anm.14), 140.

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den Bundesbestimmungen zur Bundesexekution führen könnten. Mit Unterstützung aller anderen Bundesstaaten wurde Friesens Änderungsantrag angenommen, wonach der Bundesfeldherr das Recht der Anordnung und Vollstreckung nur „in Betreff militairischer Leistungen, wenn Gefahr im Verzuge“, erhielt. 23 Bei den Verhandlungen über die Regelung der militärischen Angelegenheiten des Norddeutschen Bundes standen für Sachsen drei Fragen im Vordergrund: Die eigenständige sächsische Militärverwaltung, die Eidesleistung gegenüber dem Bundesfeldherrn sowie die Ernennung des sächsischen Korpskommandanten. Mit dem Friedensvertrag vom 21. Oktober 1866 war Sachsen das Recht zugestanden worden, seine Armee als geschlossenes Kontingent innerhalb der Bundesarmee zu erhalten. Auch wenn diese Zusage in den Verhandlungen zur Militärkonvention immer wieder in Frage gestellt wurde, blieb sie letztlich aber unangetastet. Die Verhandlungen über die Souveränitätsrechte in den militärischen Fragen waren besonders umstritten. Während die sächsische Regierung bestrebt war, in allen Fragen Zugeständnisse Preußens zu erringen, war Preußen allein bereit, in Fragen der Militärverwaltung nachzugeben. So konnte Sachsen ein eigenes Kriegsministerium und eine eigene Militärverwaltung erhalten. Bis zum Ende des Jahres 1867 führte Sachsen ein eigenes Militärbudget. Danach wurde die sächsische Armee in den Etat des Bundesheeres eingeordnet und Sachsen hatte 225 Thaler pro Soldaten an die Bundeskasse zu entrichten. Im Gegensatz dazu blieben die preußischen Verhandlungsführer und auch König Wilhelm I. in den Fragen der Eidesleistung gegenüber dem Bundesfeldherrn und der Ernennung des sächsischen Korpskommandanten unnachgiebig. Nach anfänglichem Entgegenkommen unterstellte die preußische Seite den sächsischen Bevollmächtigten ein Doppelspiel, wonach Sachsen in politischen Fragen Entgegenkommen zeige, um die Armee im Kriegsfall vollständig in der Hand behalten zu können. Nach Drohungen Bismarcks, die Presse gegen Sachsen mobilisieren zu wollen und die Verhandlungen zu unterbrechen, riet Savigny Friesen, in der Eidesfrage nachzugeben. Friesen versuchte daraufhin, König Johann von dieser Notwenigkeit zu überzeugen: Was soll daraus werden, wenn wir nicht nachgeben? Wenn wir nicht nachgeben, bricht Preußen die Verhandlungen ab, hetzt in der Presse gegen uns, vermehrt seine Besatzungstruppen in Sachsen. Können wir widerstehen? Liegt es im Interesse des Landes, ewig ein Provisorium zu haben? Wenn wir später doch nachgeben müssen, kostet es uns eine Konzession. Wenn wir jetzt nachgeben, erhalten wir vielleicht eine von Preußen, z.B. Räumung des Landes. 24

Der Intervention Friesens folgend, gab König Johann in der Eidesfrage nach. Der Korpskommandant und alle Generale hatten somit ihren Eid auf den Bundesfeldherrn abzulegen. Strittig blieb die Ernennung des sächsischen Korpskommandanten und der Generale. Hierbei wurde ein Kompromiss gefunden, der Preußen aber alle Kon23 Norddeutsche Bundesverfassung, Art. 19, in: Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2 (wie Anm. 13), 275. 24 Frieden an König Johann, Berlin 19.01.1867, zit. nach: Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund (wie Anm. 14), 144.

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trollrechte sicherte. Danach wurden die kommandoführenden Generale nach vorherigem Einverständnis des Bundesfeldherrn durch den sächsischen König ernannt. Der Höchstkommandierende des Armeekorps wiederum wurde auf Vorschlag des sächsischen Königs durch den Bundesfeldherrn ernannt. In einem persönlichen Brief an König Wilhelm drückte König Johann nochmals seinen Wunsch aus, ihm „die formelle Ernennung des künftigen Corpskommandanten […] unter deiner Genehmigung [zu] überlassen“. 25 Dieses Ansinnen wies der preußische König unter Verweis auf den vermeidlich rücksichtsvollen Umgang mit Sachsen nach dem Krieg und dem „ganzen Karakter der Bundesverfassung“ zurück. 26 Diese Entscheidungen flossen in die am 7. Februar 1867 geschlossene Militärkonvention ein. Am 8. Februar unterzeichneten Friesen und Savigny ein Geheimprotokoll, in dem die Bestimmungen über den gegenseitigen Austausch von Offizieren konkretisiert wurden. Nach Artikel 60 des Verfassungsentwurfs konnten Offiziere jedes Bundesstaates durch den Bundesfeldherrn mit oder ohne Beförderung in das preußische Heer oder in ein anderes Kontingent versetzt werden. Im Geheimprotokoll war nun vereinbart worden, dass eine Versetzung sächsischer Offiziere nur bei gleichzeitiger Beförderung erfolgen solle. 27 Diplomatische Vertretungen des Königreiches Sachsen im Ausland sowie auswärtige Gesandte und Konsuln in Sachsen 28:

Kgl. Sächs. Gesandte Auswärtige Gesandte am Kgl. Sächs. Hof Kgl. Sächs. Konsuln Auswärtige Konsuln im Kgr. Sachsen

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Neben der Regelung der militärischen Verhältnisse hatten König Johann und die sächsische Regierung bei den Verfassungsberatungen große Aufmerksamkeit auf 25 König Johann an König Wilhelm, Dresden, 7. Februar 1867, in: Johann Georg Herzog zu Sachsen (Hrsg.), Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und dem Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. von Preußen, Leipzig 1911, 450. 26 König Wilhelm an König Johann, Berlin, 13. Februar 1867, in: ebd., 451. 27 Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund (wie Anm.14), 146. 28 Staats-Handbuch für das Königreich Sachsen 1865/66, Dresden 1865, 514–525 – Staatshandbuch für das Königreich Sachsen 1870, Dresden 1870, 548–555 – Staatshandbuch für das Königreich Sachsen auf die Jahre 1880 und 1881, Dresden 1880, 445–451; Staatshandbuch für das Königreich Sachsen auf die Jahre 1890 und 1891, Dresden 1890, 606–612 – Staatshandbuch für das Königreich Sachsen auf das Jahr 1900, Dresden 1900, 766–773.

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das Gesandtschaftswesen gelegt. Dabei ging es um ein wesentliches Attribut staatlicher Souveränität. Seit Anfang der 1850er Jahre hatte der sächsische Außenminister von Beust das Gesandtschafts- und Konsulatswesen des Königreichs beträchtlich ausgebaut. Die Norddeutsche Bundesverfassung erklärte die auswärtige Politik nun zu einer Bundesaufgabe und ordnete die auswärtige Vertretung dem Bund unter. Ungeachtet dessen blieb den Landesherren das Recht, eigene Gesandtschaften und Konsulate zu unterhalten sowie Gesandte und Konsuln zu akkreditieren. Die Neuordnung des Gesandtschafts- und Konsulatswesens vollzog sich schrittweise. Im Laufe des Jahres 1868 stellten fast alle sächsischen Konsulate ihre Tätigkeit ein. Sachsen unterhielt seither nur noch konsularische Vertretungen in den Hafen- und Handelsstädten Bremen, Hamburg und Frankfurt, den süddeutschen Staaten Bayern und Württemberg sowie bei den deutschen Großmächten und in den USA. Im Gegensatz dazu zog die industrielle Entwicklung Sachsens und der Messeplatz Leipzig eine stetig wachsende Zahl auswärtiger Bevollmächtigter an. 1870 waren dreiundzwanzig Konsuln in Leipzig, zwölf in Dresden und einer in Chemnitz akkreditiert. Im Jahr 1900 waren doppelt so viele Vertreter (zweiunddreißig in Dresden, dreißig in Leipzig, vier in Chemnitz, jeweils einer in Annaberg, Eibenstock, Glauchau, Hohenstein-Ernstthal, Markneukirchen, Plauen und Zittau), insbesondere aus den europäischen sowie den südund nordamerikanischen Staaten, beglaubigt. Die Anzahl der sächsischen Gesandtschaften wurde ab 1869 stufenweise abgebaut. Bis dahin unterhielt Sachsen sechsundzwanzig Gesandtschaften in den deutschen und europäischen Staaten, darunter im Haag, in Lissabon, London, Madrid, Paris, St. Petersburg, Rom und Turin. Im Jahr 1880 führte Sachsen nur noch Gesandtschaften in den deutschen Bundesstaaten und in Wien. Der personelle Einsatz dafür war äußerst gering. So war der Wirkliche Geheime Rat, Max von Minckwitz, gleichzeitig an den thüringischen Staaten, Sachsen-Weimar, SachsenMeiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen sowie Reuß ältere und jüngere Linie akkreditiert. Der Wirkliche Geheime Rat, Oswald Freiherr von Fabrice, betreute von München aus gleichzeitig die Gesandtschaften in Darmstadt, Karlsruhe und Stuttgart. 29 Auch die Anzahl auswärtiger Gesandter am Dresdener Hof ging nach 1867 wesentlich zurück. Waren 1865 Gesandte aus den deutschen Staaten sowie aus Belgien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Mexiko, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Russland, Sardinien, Schweden und Norwegen, dem Königreich beider Sizilien, Spanien und der Toskana in Dresden akkreditiert, so residierten 1870 nur mehr die Gesandten aus den deutschen Staaten sowie aus Belgien, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich-Ungarn, Russland und Spanien in Dresden. Bis 1890 hatte sich die Zahl der beglaubigten Gesandten nicht nur etwas erhöht, sondern angesichts veränderter internationaler Verhältnisse auch verschoben. So hatte Frankreich seine diplomatische Vertretung

29 Staatshandbuch für das Königreich Sachsen auf die Jahre 1880 und 1881, Dresden 1880, 445f.

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in Dresden aufgegeben. Stattdessen waren jetzt Vertreter aus Griechenland, Persien und Portugal beglaubigt. Die Verhandlungen zum Post- und Telegraphenwesen des Norddeutschen Bundes erwiesen sich als unübersichtlich. Während Artikel 48 des Verfassungsentwurfs herausstellte, dass die „Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens für den ganzen Bund gemeinschaftlich“ seien, erklärte Bismarck gegenüber Friesen, dass er keineswegs darauf bestehe, die Einnahmen der Post dem Bund zufließen zu lassen. Beide Minister waren sich darin einig, dass die Post so gestaltet werden müsse, dass sie den größten volkswirtschaftlichen Nutzen gewähre und nach einheitlichen Prinzipen geleitet werde. Von den zweiundzwanzig Staaten des Norddeutschen Bundes besaßen neun ein eigenes Postwesen, Sachsen-Altenburg war seit 1847 mit der sächsischen Post verbunden. In den anderen zwölf Staaten war die Thurn-und-Taxis-Post tätig. Neben Hamburg und Lübeck erzielte die königlich sächsische Post Anfang der 1860er Jahre mit rund einer halben Million Thalern die größten Überschüsse. Im Gegensatz dazu erzielte Preußen nur etwa eineinhalb Millionen Thaler Überschuss. 30 In den Spezialberatungen Friesens mit Savigny und dem Geheimen Postrat, Heinrich Stephan, wurde, beginnend mit dem 1. Januar 1868, eine achtjährige Übergangsfrist für den Aufbau eines einheitlichen Postwesens im Norddeutschen Bund vereinbart. Die oberste Leitung der Post fiel dem Bundespräsidium zu, das das Recht hatte, mit landesherrlicher Bestätigung die vier obersten Postbeamten Sachsens zu ernennen. Für diesen Ernennungsmodus hatten sich vor allem der preußische Handelsminister, Heinrich Graf von Itzenplitz, und Postrat Stephan stark gemacht. Die Ernennung aller anderen Postbeamten verblieb in den Händen der sächsischen Krone. Allerdings hatten alle Postbeamten einen Diensteid auf das Bundespräsidium zu leisten. 4. SACHSEN UND DIE REICHSTAGE DES NORDDEUTSCHEN BUNDES 1867 Der Ende 1866 einsetzende Wahlkampf zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes war maßgeblich durch den Krieg und die anschließende preußische Besatzung in Sachsen geprägt. So wie in allen anderen Staaten des neuen Bundes wurden auch in Sachsen die Wahlen erstmals nach dem allgemeinen Männerwahlrecht durchgeführt. Entsprechend hoch war die Wahlbeteiligung, die in Sachsen bei annähernd 70 Prozent und damit um fünf Prozent höher als in der preußischen Gesamtmonarchie lag. Eine vergleichbar hohe Wahlbeteiligung gab es in den polnischen Gebieten Preußens, wo die Ausweitung des Wahlrechts dazu genutzt wurde, eine politische Vertretung der nationalen Minderheit aufzu-

30 Klocke, Die Sächsische Politik und der Norddeutsche Bund (wie Anm. 14), 148.

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bauen. 31 In Sachsen nahmen die Wahlen zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag den Charakter eines Referendums über den unter Waffengewalt erzwungenen Beitritt zum Norddeutschen Bund an. Im engeren Sinne konnte es aber nur um die Frage eines größeren oder geringeren Mitspracherechts der deutschen Einzelsaaten innerhalb des neuen Bundes gehen. Für eine möglichst weitgehende Selbstständigkeit der Einzelstaaten trat die Mehrzahl der politischen Bewegungen ein. Die Konservativen hatten bereits am 6. Dezember 1866 mit dem Sächsischen Wahlkomitee eine entsprechende Plattform gegründet. Publizistisches Organ des Wahlkomitees war – nachdem im November 1866 die großdeutsch orientierte Leipziger Abendpost von der preußischen Besatzungsmacht verboten worden war – die Sächsische Zeitung. Neben einer weitgehenden Eigenstaatlichkeit und einer grundsätzlich großdeutschen Ausrichtung forderte das Wahlkomitee vor allem die Ausweitung des Norddeutschen Bundes auf Süddeutschland, um die preußische Dominanz im neuen Bund zu mindern.32 Diese Ausrichtung prägte natürlich auch die Auswahl der Kandidaten. Zu ihnen gehörten Ludwig von Zehmen und Karl Georg von Wächter. Zehmen war einer der einflussreichsten sächsischen Rittergutsbesitzer und 1850 von König Friedrich August II. zum Mitglied der Ersten Kammer des sächsischen Landtages ernannt worden. 1862 gehörte er zu den Mitbegründern des großdeutschen Reformvereins und fungierte in diesem als Ausschussmitglied. Ungeachtet seiner grundsätzlichen Antipathie gegen einen preußisch dominierten deutschen Bund sah er nach dem Krieg 1866 keine andere Möglichkeit, als sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren. Eine preußische Annexion musste unter allen Umständen verhindert werden. 33 Gleichzeitig lehnte er eine Fundamentalopposition gegen Preußen ab. Karl Georg von Wächter, Neffe des württembergischen Ministers Karl Eberhard von Wächter, war seit 1852 Professor an der juristischen Fakultät der Universität Leipzig, wurde 1855 vom sächsischen König zum Mitglied des Staatsrats ernannt und stand von 1858 bis 1860 der Universität als Rektor vor. Anlässlich des 450. Gründungsjubiläums der Universität wurde er als Rektor zum Ehrenbürger der Stadt Leipzig ernannt. Wächter galt als einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten seiner Zeit. 34 Auch die großdeutsch gesinnten sächsischen Nationalliberalen traten für die Selbstständigkeit Sachsens ein und lehnten den Norddeutschen Bund ab, da er Österreich ausschloss und ohne Beteiligung des Volkes zustande gekommen war. 31 Klaus-Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985, 529. 32 Albert Richter, Die öffentliche Meinung in Sachsen in den Jahren 1866–1871, Leipzig 1922, 75. 33 „War Sachsen einmal zu einer Preußischen Provinz herabgedrückt, so war seine Selbständigkeit unwiederbringlich verloren.“ Ludwig von Zehmen, Einige Erläuterungen zu der Beratung des Verfassungsentwurfs für den Norddeutschen Bund im ersten Reichstage. Meinen Landsleuten und zunächst meinen Wählern im VII. Wahlbezirke gewidmet, Dresden 1867, 8. 34 Oskar von Wächter, Carl Georg von Wächter. Leben eines deutschen Juristen, Leipzig 1881, 160–189; Professorenkatalog der Universität Leipzig (https://research.uni-leipzig.de/ catalogus-professorum-lipsiensium/leipzig/Waechter_1026/markiere:Wächter/ [14.01.2018]).

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In ihrer Argumentation knüpften sie an die gesamtdeutschen Hoffnungen von 1848 an und forderten den Ausbau der Bundesverfassung nach dem Vorbild der Frankfurter Reichsverfassung. Dies spiegelte sich auch in den Kandidaturen des Dresdener Arztes Franz Jakob Wigard und des Leipziger Naturforschers Emil Adolf Roßmäßler wider. Beide lehnten ursprünglich eine Kandidatur für den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes mit der Begründung ab, dass ihr Mandat für die deutsche Nationalversammlung von 1848 weiterhin fortbestehe. 35 Vor dem Hintergrund der Kriegsereignisse 1866 und der preußischen Besatzung entstanden innerhalb des sächsischen Liberalismus drei Strömungen. Die Mehrheit erkannte im Norddeutschen Bund einen wesentlichen Fortschritt in der nationalen Frage, der durch den Reichstag sanktioniert werden müsse. Die Minderheit sprach sich für die Annexion Sachsens durch Preußen aus und war insbesondere durch die Art, wie die preußischen Truppen ihre Besatzung ausübten, vollkommen diskreditiert. Diese Strömung scheiterte nicht nur bei den Leipziger Stadtverordnetenwahlen im Dezember 1866, sondern auch bei den Reichstagswahlen im Februar 1867. 36 Der Liberalismus, der eine kleindeutsche nationale Einigung unter preußischer Führung anstrebte, war in Sachsen schwach ausgeprägt. Er war nur „im händlerischen Bürgertum Leipzigs und in gewissen industriellen Kreisen der westlichen Grenzgebiete, etwa in Glauchau und Crimmitschau, sowie in einem Teil des Mittellaufs der Zwickauer Mulde, den Schönbergischen Rezeßherrschaften und der Herrschaft Wolkenburg der Grafen von Einsiedel“ vertreten. 37 Bei den Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes setzten sich in allen dreiundzwanzig sächsischen Wahlkreisen ausschließlich Kandidaten durch, die für die Selbstständigkeit Sachsen und gegen die Dominanz Preußens im Norddeutschen Bund eintraten. Den größten Erfolg errang der konservative Kandidat, der oberlausitzische Rittergutsbesitzer Hermann Freiherr von Salza und Lichtenau, der im Wahlkreis Bautzen mit 90,1 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt wurde. Dieser überwältigende Wahlerfolg war nicht zuletzt durch die Übergriffe der preußischen Besatzungstruppen auf die Bevölkerung der Stadt Bautzen befördert worden. 38 Insgesamt war es die ländliche Bevölkerung, die der kleindeutsch-nationalen Entwicklung ablehnend gegenüberstand. Dagegen erzielte die Fortschrittspartei ihre Wahlsiege in den städtischen Wahlkreisen Chemnitz, Dresden und Zittau. Darüber hinaus errangen sie die Mandate in Auerbach, Marienberg und Schwarzenberg. 39 35 Richter, Die öffentliche Meinung in Sachsen (wie Anm. 32), 73 – Weichlein, Sachsen zwischen Landesbewußtsein und Nationsbildung (wie Anm.6), 254. 36 Herbert Jordan, Die öffentliche Meinung in Sachsen 1864 bis 1866, Kamenz 1918, 231f. 37 Dietrich, Der Kampf um das Schicksal Sachsens (wie Anm.11), 204f. 38 Adolf Philipps (Hrsg.), Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1883. Statistik der Wahlen zum konstituierenden und norddeutschen Reichstage, zum Zollparlament, sowie zu den fünf ersten Legislaturperioden des Deutschen Reichstages, Berlin 1883, 136. 39 Weichlein, Sachsen zwischen Landesbewußtsein und Nationsbildung (wie Anm.6), 259.

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Die Wahlen zum ersten ordentlichen Reichstag des Norddeutschen Bundes am 31. August 1867 boten aus sächsischer Perspektive ein sehr ähnliches Bild. Die für einen starken Föderalismus und eine starke Stellung der Einzelstaaten sowie für institutionell abgesicherte Verfassungsgrundsätze eintretenden Abgeordneten hatten sich bereits im konstituierenden Reichstag als Fraktion zur „Bundesstaatlich-konstitutionellen Vereinigung“ zusammengeschlossen. Sie traten in der Augustwahl nun als „Bundesstaatlich-konstitutioneller Wahlverein“ auf. Die Relevanz dieser Wahl zum ordentlichen Reichstag wurde als deutlich geringer eingeschätzt, da die entscheidenden Beratungen zur Verfassung des Norddeutschen Bundes abgeschlossen waren. In Sachsen sank die Wahlbeteiligung auf ein Drittel der Wahlberechtigten. Damit ging nur noch die Hälfte der Wähler vom Februar zur Wahl. 40 Insgesamt hatte sich die Wählerstimmung, die auf eine weitgehende Erhaltung der sächsischen Souveränität gerichtet war, kaum verändert. Als Wahlsieger konnten sich die Nationalliberalen, die Fortschrittspartei und die Arbeiterparteien betrachten. Auf die Nationalliberalen entfielen nun circa 17 Prozent der Stimmen, gegenüber vier Prozent im Februar. Zu den prominentesten Abgeordneten gehörte Hans Blum, der Sohn des 1848 erschossenen Demokraten Robert Blum. Den höchsten Wahlsieg konnte die antipreußisch orientierte Sächsische Fortschrittspartei im ländlich geprägten Wahlkreis Dresden-Land links der Elbe–Dippoldiswalde erzielen. Der Rechtsanwalt Wilhelm Schaffrath konnte hier 95,6 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Im Reichstag schloss er sich der Deutschen Fortschrittspartei an, legte 1869 aber sein Mandat aus Protest gegen die nationalpolitische Entwicklung im Norddeutschen Bund nieder. 41 Erhebliche Gewinne konnte die Sächsische Volkspartei verbuchen. Die im August 1866 in Chemnitz unter Mitwirkung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründete Partei verkörperte ursprünglich eine politische Allianz zwischen antipreußischen bürgerlich-liberalen Kräften und Angehörigen der sozialistischen Arbeiterbildungsvereine in Sachsen. Die Volkspartei konnte die Wahlkreise Glauchau, Zwickau und Schwarzenberg gewinnen und mit August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Reinhold Schraps drei Abgeordnete in den Reichstag entsenden. Mit dem Kupferschmiedemeister Friedrich Försterling zog ein weiterer Arbeitervertreter in den Reichstag ein, der dem Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein der Gräfin Hatzfeldt angehörte. Mit bürgerlicher Unterstützung hatte er den Wahlkreis Chemnitz gewinnen können. Nach spannungsreichen Verhandlungen um die Militärkonvention zwischen Sachsen und Preußen und die Norddeutsche Bundesverfassung entwickelte sich eine zunehmend loyale Haltung der sächsischen Politik gegenüber Preußen. König Johann hatte in seinem Aufruf „An meine Sachsen!“ am 26. Oktober 1866 bereits versichert: Mit derselben Treue, mit der Ich zu dem alten Bunde gestanden bin, werde Ich auch an der neuen Verbindung, in die Ich jetzt getreten, halten und, soweit es in Meinen Kräften steht, Al-

40 Ebd., 258. 41 Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870 (wie Anm. 31), 349.

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Jonas Flöter les anwenden, um dieselbe, wie für unser engeres, so auch für unser weiteres Vaterland möglichst segensreich werden zu lassen. 42

Ziel der sächsischen Politik war es, nach Abschluss der Verhandlungen mit Preußen die Verhandlungsergebnisse zu sichern, um so eine Rechtsgrundlage für die verbliebenen Souveränitätsrechte zu finden. Denn noch immer standen die preußischen Truppen im Land. Entsprechend hatte Friesen Bismarck zugesagt, dass die sächsische Politik auf die konservativen Reichstagsabgeordneten einwirken werde, um im Reichstag eine möglichst reibungslose Verhandlung und Abstimmung zu ermöglichen. Der sächsische Gesandte, Hanns von Könneritz, beteiligte sich an den Beratungen der sächsischen Konservativen in Berlin und stand auch mit den liberalen Abgeordneten im Kontakt. Könneritz riet den sächsischen Reichstagsabgeordneten, sich möglichst nicht der welfischen oder holsteinischen Opposition anzuschließen, sondern mit der großen preußischen konservativen Fraktion zusammenzuarbeiten. Dem widersprach vor allem der Leipziger Abgeordnete von Wächter. Auch wenn die Mehrheit der sächsischen Konservativen Könneritz’ Empfehlung folgte, traten einige Abgeordnete im konstituierenden Reichstag der „Bundesstaatlichkonstitutionellen Vereinigung“ bei, deren Vorsitz der Rittergutsbesitzer und bisherige Vizepräsident der Zweiten Kammer des Sächsischen Landtages, Wilhelm Oehmichen, übernahm. Unter den zehn sächsischen Abgeordneten, die gegen die Norddeutsche Bundesverfassung stimmten, waren nur drei Konservative. In Sachsen selbst drängte die Regierung nach der Verabschiedung der Bundesverfassung durch den Reichstag auf eine rasche Ratifikation der neuen Verfassung durch den Landtag. Nachdem am 16. April 1867 die Bundesverfassung im Reichstag beschlossen und am gleichen Tag durch die Bevollmächtigten der Staaten bestätigt worden war, legte das sächsische Kabinett dem Landtag bereits am 29. April die Bundesverfassung vor. Am 3. Mai nahm die Zweite Kammer mit siebenundsechzig Stimmen, bei sechs Gegenstimmen, und am folgenden Tag die Erste Kammer einstimmig die Verfassungsvorlage an. Überaus zufrieden über diese Entwicklung sprachen zahlreiche preußische Regierungsmitglieder gegenüber dem sächsischen Gesandten, von Könneritz, ihre Anerkennung aus. Die sächsische Regierung veranlasste auch umgehend die notwendigen Änderungen in den Landesgesetzgebungen und setzte rasch die Militärkonvention um. Die Neuorganisation, die bis zum 1. Oktober 1867 vollzogen werden sollte, war bereits am 1. April abgeschlossen. Infolge dessen beendete Preußen die Besatzung – insbesondere die der Hauptstadt Dresden. Ursprünglich war die Räumung Dresdens erst zum 1. Juli vorgesehen. Von den strategisch wichtigen Orten Bautzen und Leipzig zogen die preußischen Truppen allerdings erst Ende Dezember 1867 ab.

42 König Johann „An meine Sachsen!“, Teplitz, 26. Oktober 1866, in: Paul Arras (Hrsg.), Quellenbuch zur Sächsischen Geschichte, Bautzen 1912, 155.

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Die Festung Königstein blieb bis zum Herbst 1871 von preußischen Einheiten besetzt. 43 5. RESÜMEE Mit der Ratifizierung der Militärkonvention und der Bestätigung der Norddeutschen Bundesverfassung durch den sächsischen Landtag hatte Sachsen weite Teile seiner Souveränitätsrechte an den Bundesfeldherrn und das Bundespräsidium und damit an die preußische Krone abgegeben. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts war Sachsen damit von einem einflussreichen mitteleuropäischen Staat, der sich anschickte, in die Reihe der europäischen Großmächte aufzusteigen, zu einem weitgehend rechtlosen Bundesstaat in einem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund abgestiegen. Entsprechend bestand in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre das Ziel der sächsischen Politik vorzugsweise darin, die Kompetenzen des Bundes und damit den Einfluss Preußens im Bund nicht weiter auszudehnen. Während König Johann auf eine strikte Einhaltung der Verfassungsregelungen pochte, zielten Friesens Anstrengungen auf eine konstruktive und produktive Zusammenarbeit mit Preußen. Die zunehmend vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bismarck und Friesen zeigte sich sowohl in den zahlreichen privaten Besprechungen als auch in der häufigen Vertretung im Bundesrat, die Bismarck Friesen übertrug. 44 Zu größerem politischen Einfluss Sachsens innerhalb des Norddeutschen Bundes führte das allerdings nicht. Der Beitritt Sachsens zum Norddeutschen Bund hatte aber auch handelspolitisch gravierende Konsequenzen. Der Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Bundesstaat begrub alle Pläne für einen einheitlichen mitteleuropäischen Verkehrs- und Wirtschaftsraum mit einer Hauptverkehrsroute von Triest über Wien, Prag, Leipzig nach Hamburg. Sachsen blieb auf den norddeutschen Wirtschaftsraum und damit weitgehend auf den preußischen Markt sowie auf den Export nach Nord- und Südamerika orientiert. Jonas Flöter ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig.

43 Rudolf Kötzschke/Hellmut Kretzschmar, Sächsische Geschichte, (Dresden 1935) Augsburg 1995, 362 – Richard Dietrich, Preussen als Besatzungsmacht im Königreich Sachsen 1866– 1868, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 5 (1956), 273–293. 44 Richard Freiherr von Friesen, Erinnerungen aus meinem Leben, 3. Bd., Dresden 1910, 1–105.

„EIN FESTERES BAND FÜR DEUTSCHLAND“. Preußen und der Deutsche Bund Jürgen Angelow Kurzfassung: Durch die mutwillige, von Preußen angestoßene Zerstörung des Deutschen Bundes im Jahre 1866 schien der Beweis erbracht, dass das Verhältnis der Hohenzollernmonarchie zum Deutschen Bund ein destruktives war. Jedenfalls konnten die Inszenierung des Bundesbruchs durch Preußen und die Momentaufnahme des deutschen „Bruderkrieges“ von Zeitgenossen und nachträglichen Betrachtern so bewertet werden. Öffnet man hingegen die Perspektive und bezieht den Gesamtzeitraum des Bundes in die Überlegungen ein, differenziert sich das Bild. Natürlich gab es Konstanten, die das Verhältnis zwischen Preußen und dem Deutschen Bund prägten, unter ihnen auch destruktive. Insgesamt jedoch waren die Bewertung und Behandlung des Bundes von unterschiedlichen Konjunkturen abhängig und insgesamt von großer Variabilität: Sie folgten Leitgedanken der preußischen Machtelite, die bis in die Endphase des Deutschen Bundes relativ konstant blieben sowie inneren Impulsen, die durchaus variabel und personengebunden sein konnten. Sie mussten dem moralischen Gewicht sowie den materiellen und militärischen Ressourcen des preußischen Staates Rechnung tragen, die im Vergleich zum habsburgischen Konkurrenten in einem höheren Tempo zunahmen. Sie waren von den Handlungen und vom Zustand der anderen deutschen Staaten abhängig, insbesondere von der Haltung und den Aussichten Österreichs, als der Bundespräsidialmacht, mit der Preußen in einem dualistischen Spannungsverhältnis stand. Abhängig waren sie auch von denen der Mittelstaaten, die am Bund festhielten oder ihn moderat zu reformieren suchten, ohne sich dabei einig zu werden. Sie nahmen Rücksicht auf die öffentliche Meinung und kommunizierten mit den Vertretern der Nationalbewegung, ohne sich mit ihnen gemein zu machen. Sie beobachteten schließlich die Handlungsoptionen des europäischen Systems, insbesondere die Frage, ob bei gravierenden machtpolitischen Verschiebungen in der Mitte Europas ein Stillhalten der maßgeblichen europäischen Großmächte vorausgesetzt werden konnte und wo – auf europäisch-systemischer Ebene – die roten Linien der eigenen deutschlandpolitischen Veränderungswünsche lagen. Diesen dynamischen Faktoren und den daraus resultierenden Schwankungen auf der Zeitachse nachzugehen und gleichzeitig herauszustellen, worin die Leitideen der preußischen Staatspolitik in Bezug auf die deutschen Verhältnisse bestanden haben, wenn es sie gab, – dies soll im Folgenden skizzenhaft unternommen werden.

Nach dem Ende des antinapoleonischen Befreiungskampfes hatte die sich in der Reformära konstituierende preußische Führung andere Pläne für die zukünftige Verfassung Deutschlands als jenes föderalistische Konzept eines durch Österreich und Preußen indirekt gelenkten Staatenbundes, welches die österreichische Verhandlungsführung im Einklang mit dem restaurativen Zeitgeist, insbesondere dem obwaltenden Souveränitätsprinzip, den Protagonisten der europäischen Ordnung

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und ihrem eigenen gesamtstaatlichen Bedingungsgefüge schlussendlich für gut und richtig befunden hatte. Bei der konzeptionellen Orientierung der Hohenzollernmonarchie waren der Freiherr vom Stein, aber auch die preußischen Kongressteilnehmer Wilhelm v. Humboldt und Karl Fürst v. Hardenberg maßgeblich gewesen. 1 Vom Stein hatte in seiner Petersburger Denkschrift vom 17. September 1812 das Interesse Europas und namentlich Deutschlands dahingehend interpretiert, dass Deutschland „zu einem kräftigen Staat erhoben werde, um Frankreichs Übermacht zu widerstehen und seine Selbständigkeit erhalten zu können, um seine großen Ströme und seine Küsten England zugänglich zu erhalten, um Russland gegen französische Invasionen zu schützen.“ 2 Der von Hardenberg stammende Gedanke einer „fédération constitutionelle“, in der Preußen und Österreich gleichberechtigt die Leitung übernehmen sollten, findet sich bereits im Bartensteiner Vertrag mit Russland aus dem Jahre 1807. 3 An dieser Idee eines deutschen Bundesstaates, in der das Prinzip einer gemeinsamen Leitung durch Österreich und Preußen verfassungsmäßig fixiert werden sollte, hat Preußen auch während der Wiener Kongressverhandlungen festgehalten. Der Gedanke einer stärkeren Zentralisierung Deutschlands befand sich zwar im Einklang mit der Einsicht, die Impulse des antinapoleonischen Befreiungskampfes aufnehmen zu müssen und „eine nach außen starke Nation“ entstehen zu lassen 4, sie war allerdings zu diesem frühen Zeitpunkt kaum durchführbar: Sie vertrug sich zum einen nicht mit der übernationalen, dynastischen Konstruktion der Habsburgermonarchie, deren deutschlandpolitisches Pendent kein Bundesstaat sein konnte, wenn man sie als Gesamtheit erhalten wollte. Zum anderen konnten die nach dem Reichsdeputationshauptschluss übrig gebliebenen Mittel- und Kleinstaaten sowie Freien Städte einer bundesstaatlichen Lösung nichts abgewinnen, da sie ihrer Selbsterhaltung und ihrem Souveränitätswillen widersprach. Und schließlich waren es die Vertreter des deutschen Frühliberalismus selbst, die den restaurativen Kräften scheinbar in die Karten spielten, indem sie die Freiheit der kleineren Staaten verteidigten und dem Bund zum Zeitpunkt seiner frühen Existenz eine gewisse Entwicklungsfähigkeit attestierten. 5

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Zu den Kongressverhandlungen in der deutschen Frage, Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 475–487. Zu den Plänen Steins, Humboldts und Hardenbergs, ebd., 510–530. Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, Band 2. Vom Absolutismus bis zu Napoleon 1648–1815. Vgl. Andreas Kaernbach, Preußen, Olmütz und die Deutsche Frage. Die deutschlandpolitischen Konzepte Preußens im Vorfeld der Dresdner Konferenz, in: Jonas Flöter, Günther Wartenberg (Hrsg.), Die Dresdner Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, Leipzig 2002, 67–82, hier: 69. Denkschrift Wilhelm v. Humboldts an Karl Freiherr vom Stein, Dezember 1813, in: Humboldt, Werke, Bd. 4, 303. Karl von Rotteck, Karl Theodor Welcker (Hrsg.), Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 3, Altona 1836, 91, 96–97 und 112–115. Auszüge bei Peter Burg, Der Wiener Kongress. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, München 1984, 166– 172.

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Zunächst waren die Verhandlungen des Wiener Kongresses vom deutschlandpolitischen Entwurf Hardenbergs (41 Artikel) und dessen in Zusammenarbeit mit Metternich daraus entwickelten „Zwölf Artikel“ vom Oktober 1814 bestimmt gewesen. Letztere sahen eine bundesstaatliche Ordnung mit starken Zentralorganen, kollektiver Exekutive (Rat der Kreisobersten) und der Möglichkeit vor, die kleineren deutschen Staaten zu majorisieren. Die vorgesehene Kreiseinteilung aus sieben Kreisen, die nur aus Vertretern der größeren Staaten bestanden und für das Militär sowie oberste Gerichtswesen zuständig sein sollten, hätte die kleinen deutschen Territorien mediatisiert. Doch das Projekt scheiterte an der preußischen Haltung im polnisch-sächsischen Konflikt und daraus entspringenden österreichischen Vorbehalten gegenüber einer doppelhegemonialen Leitung des Bundes. So ließ sich die von Humboldt und Hardenberg gewollte Verankerung des doppelhegemonialen Prinzips in der Bundesakte nicht durchsetzen. Hardenberg sah nun die Notwendigkeit, Österreich wenigstens jeden Vortritt streitig zu machen und auf einer vollen Gleichberechtigung aller Bundesglieder zu bestehen. 6 In diesem Sinne hatte sich Humboldt, als preußischer Bundestagsgesandter, vom österreichischen Präsidialgesandten Johann Rudolf Graf von Boul-Schauenstein, bestätigen lassen, dass der Vorsitz Österreichs laut Artikel 5 der Bundesakte nur ein rein geschäftsmäßiger war, der keine politischen Vorrechte einschloss. 7 Wenn das so war, dann konnte der Vorsitz im Grunde auch alternieren – eine Forderung, die nach 1848 von preußischer Seite immer wieder erhoben wurde. Dass die preußische Führung 1815 in wichtigen deutschlandpolitischen Forderungen nachgab und defensiv agierte, lag an ihrer schwachen Verhandlungsposition. Preußen, die kleinste europäische Großmacht, besaß zu diesem Zeitpunkt nicht die materiellen und militärischen Mittel, sich durchzusetzen. Zudem hatte es sich, in den Wiener Verhandlungen an der Seite Russlands stehend, in der polnisch-sächsischen Frage isoliert. Innerhalb der deutschen Staatenwelt entwickelten seine Vorstellungen nur geringe Strahlkraft. Doch nicht nur Souveränitätsbewusstsein und Partikularismus standen dagegen, wie Heinrich von Treitschke uns in seiner Deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts wissen lassen will. Zwölf Jahre nach dem Reichsdeputationshauptschluss, der von Napoleon verordneten Rosskur einer Auflösung der territorialen Reichsstruktur, waren dessen Wunden noch nicht verheilt, so dass dem Partikularismus des alten Reiches in Form einer eher föderalistischdezentralen Machtstruktur behutsam begegnet werden sollte. Der Deutsche Bund deutete hier auf einen Kompromiss zwischen Reichstradition und vorsichtiger Modernisierung. Konträr stellte sich auch jener dezidierte Landespatriotismus, der in den Einzelstaaten das Verhältnis von Fürst und Untertan auf eine neue Grundlage stellte und die Vertreter der Nation eine doppelte Identität (zum Beispiel als Deutscher und Bayer, Sachse oder Preuße usw.) annehmen ließ. Von der noch unreifen deutschen Nationalbewegung, die immerhin die nicht existente Nation im Befrei-

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Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes, Göttingen 1991, 24. Ders., Preußen, 71.

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ungskrieg empathisch imaginiert hatte, sich einer exaltiert-nebulösen, am pietistischen Gestus orientierten Sprache bediente 8 und teils kruden rassisch-irrationalen Vorstellungen anhing, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine messbare Schubkraft oder Unterstützung ausgehen. Doch blieb das Verhältnis zwischen Berlin und dem Deutschen Bund in den folgenden Jahren gleichermaßen veränderlich wie ambivalent. Zum einen war es zwischen 1815 und 1866 von verschiedenen Richtungswechseln geprägt, die den Charakter der jeweils nachfolgenden Zeitabschnitte bestimmten. Zum anderen wirkten auf diese Zeitabschnitte sehr unterschiedliche Messgrößen ein, die das Verhältnis oszillieren ließen und dessen eindeutige Qualifizierung verhinderten. Betrachtet man Wandlungen und Zäsuren im Verhältnis zwischen dem Deutschen Bund und Preußen ist kein stringenter Plan erkennbar. Jedoch lassen sich vier Hauptabschnitte unterscheiden: Der Phase des Ringens um die Grundgesetze des Deutschen Bundes und eines relativ großen Zusammenhalts der beiden deutschen Vormächte gegen die Vertreter der Nationalbewegung und des sogenannten „Dritten Deutschlands“ (1815–1830) innerhalb des Bundes folgte ein Periode, in der sich Preußen wirtschafts- und sicherheitspolitisch vom Deutschen Bund abzukoppeln und unter den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, den wirtschaftsliberalen Kräften und sogar den katholischen Milieus Anhängerschaft zu sammeln begann (1830– 1848). Diese Phase wurde durch die deutsche Revolution unterbrochen, die die Existenz des Deutschen Bundes zwischen 1848 und 1851 aussetzte und in politischstaatsrechtlicher Hinsicht weit über die bisherige Konstruktion des Bundes hinauswies. Letzterer wurde im Nachgang der gescheiterten Revolution sowie der erfolglosen post-revolutionären Projekte, der preußischen Unionspolitik und des großösterreichischen Mitteleuropaplanes, mangels anderer durchsetzbarer Alternativen 1851 restituiert. Es folgte eine Phase, in der Preußen die doppelhegemoniale Zusammenarbeit mit Österreich an Zugeständnisse im Deutschen Bund knüpfte, die ihm nicht gewährt wurden, und gleichzeitig das Instrument einer Lahmlegung des Bundes in Anwendung brachte (1851–1859). Der abschließende Abschnitt war durch das Wechselspiel von Kooperation und Konflikt zwischen den beiden deutschen Vormächten gekennzeichnet, wobei Preußen den Deutschen Bund nun dezidiert ausschaltete und alle von einzelnen Mitgliedern ausgehende Reformansätze zurückwies (1859–1866), während Österreich Rückhalt im Deutschen Bund suchte, um seine Position zu verteidigen. Der Konflikt endete mit jenem provokativ vorgebrachten preußischen Reformplan, der Österreich aus dem Bund ausscheiden sehen wollte. Die Entscheidung von 1866 führte zur Auflösung des Deutschen Bundes, an dessen Stelle der Norddeutsche Bundes trat, dessen liberale Verfassung, bundesstaatliche Struktur samt zentralisierter Exekutive und Militärverfassung an die Forderungen der Paulskirche anknüpften und gleichermaßen die Brücke zur Reichsverfassung von 1871 schlugen.

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Zur Sprache der frühen Nationalbewegung, Michael Jeismann, „Feind“ und „Vaterland“ in der frühen deutschen Nationalbewegung 1806–1815, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), Volk – Nation – Vaterland. Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 18, Hamburg 1996, 279–290, hier: 282.

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** Gewiss war es dem Zauber des Neuanfangs geschuldet, wenn Graf Boul-Schauenstein auf der Eröffnungssitzung des Bundestages am 5. November 1816 den Deutschen Bund „als ein Ganzes, als eine politische Einheit“, als ein „umfassendes National-Band“ bezeichnete. 9 Aus der Sicht der preußischen Staatsführung war er aber alles andere, nur nicht das. Die zwischen 1815 und 1822 beschlossenen Grundgesetze des Deutschen Bundes folgten der Logik der Bundesakte und stellten für sie keine Ideallösungen dar. Doch hatte man sich mit ihnen arrangieren müssen, was vor allem dem liberalen Reformflügel innerhalb der Staatsbürokratie sowie den Macht- und Militäreliten zuwiderlief. Das Resultat der Wiener Verhandlungen wäre ein „erbärmliches Machwerk“ und weit hinter seinen Erwartungen gewesen, hatte Wilhelm von Humboldt im Lichte der Verhandlungen formuliert 10. Bereits im November 1814 hatte er verlangt, der Nation ein Mitspracherecht bei der Entstehung der Gesetze einzuräumen. In den Wiener Verhandlungen befürwortete er – seiner liberalen Staatsidee folgend – einen Staatenverein unter Einschluss Österreichs mit Verfassungscharakter und Bundesgericht. 11 Dabei vertrat die preußische Staatsführung andere Ansichten als König Friedrich Wilhelm III. und die „Hofpartei“. Aus der nach Ansicht der preußischen „Bewegungspartei“ innerhalb der Staatsbürokratie verfehlten staatenbündischen Struktur, dem Hauptübel, resultierte eine ganze Reihe von Desiderata, denen nur schwer abzuhelfen war. Berlin ging es um die Stärkung der Bundesexekutive und die Zurückdrängung des überbordenden Partikularismus, um eine effizientere Bundeskriegsverfassung und um wirtschafts- und handelspolitische Regelungen, wie man sie selber durch das preußische Handels- und Zollgesetz von 1818 getroffen hatte, das einen Ausgleich von gewerblich-industriellen und agrarischen Interessen wahrte und den preußischen Staat wirtschaftspolitisch integrierte. Doch das Verfassungsproblem wurde dadurch abgemildert, dass der Deutsche Bund einzelstaatlichen Initiativen und Regelungen keine Hindernisse in den Weg legen konnte. Dies betraf vor allem die Handels- und Wirtschaftspolitik aber auch den Bereich der militärischen Zusammenarbeit und Planung. Die Einsicht, auf diesen Gebieten aktiv werden zu können, sollte das Verhältnis Preußens zum Bund weitgehend und langfristig bestimmen: In seiner Denkschrift „Über die Behandlung der Angelegenheiten des Deutschen Bundes durch Preußen“ hatte Humboldt bereits am 30. September 1816 gezeigt, dass der Hohenzollernstaat seine Interessen im norddeutschen Raum durch bilaterale Verträge ganz und gar unabhängig vom Deutschen Bund wahren konnte. 12 Da der Bund eher abwehrend agieren würde und überdies viel zu locker organisiert sei, könne man auf seine Fortentwicklung nicht vertrauen. Nur 9

Rede des österreichischen Präsidialgesandten auf der ersten Sitzung der Bundesversammlung am 5. November 1816, in: Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–19, bearbeitet von Eckhardt Treichel, Berlin 2016, 169–170. 10 Zit. nach: Dietrich Spitta, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, Berlin 2004, 286. 11 Ebd., 51, 252–256. 12 W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften, Bd. 11.2, 106–107 (Artikel 14).

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auf bilateralem Wege, so Humboldt, könne Preußen Vorteile aushandeln und gewähren. Dass Preußens Staatslenker dem Bund einen dezidierten Föderalismus vorwarfen, der Entscheidungen verhinderte, war nicht unberechtigt. Der Vorwurf bildete die Quelle einer am Bund vorbei geführten, aus Frankfurter Sicht zerstörerischen preußischen Deutschlandpolitik. Die Position des Bilateralismus wurde zu einem wesentlichen Programmpunkt im Repertoire der preußischen Staatsführung. Sie bildete ein Spannungsverhältnis mit dem ebenso möglichen dualistischen Vorgehen an der Seite Österreichs und konnte mal mehr oder mal weniger in Anwendung gebracht werden. Untätigkeit, Entscheidungsschwäche und Selbstbeschränkung wirkten sich allerdings auch unfreiwillig positiv aus. Frühzeitig hatte Humboldt die auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik liegenden Vorteile des Deutschen Bundes erkannt, die er in dessen das europäische Gleichgewicht sichernden Funktion verortete: „Man muss auf keine Weise den wahren und eigentlichen Zweck des Bundes vergessen, insofern er mit der europäischen Politik zusammenhängt. Dieser Zweck ist die Sicherung der Ruhe; das ganze Dasein des Bundes ist mithin auf die Erhaltung des Gleichgewichts durch innewohnende Schwerkraft berechnet. (...) Niemand könnte dann hindern, dass nicht Deutschland als Deutschland ein erobernder Staat würde, was kein echter Deutscher wollen kann, da man jetzt wohl weiß, welche bedeutenden Vorzüge in geistiger und wissenschaftlicher Bildung die deutsche Nation, solange sie keine politische Richtung nach außen hatte, erreicht hat, aber es noch nicht ausgemacht ist, wie eine solche Richtung auch in dieser Rücksicht wirken würde. [...] Sieht man auf die besondere Natur des Bundes, so gibt es, meiner Meinung nach, die wichtigsten Gründe, alle Tätigkeit des Bundes, als eigenen Gesamtstaats, soviel nur immer möglich zu beschränken.“ 13 Zwar geriet die Deutschlandpolitik Preußens mit der „Wende von 1819“, der Schwächung des preußischen Reformflügels durch den Hof, sowie der Disziplinierung und Abberufung liberaler mittelstaatlicher Bundestagsgesandter stärker in das Fahrwasser der österreichischen Politik. Indessen liefen die Karlsbader Beschlüsse mit ihren zentralen Überwachungs- und Repressionsmechanismen, dem Universitätsgesetz, dem Pressgesetz, dem Untersuchungsgesetz und der vorläufigen Exekutionsordnung, letztendlich auf eine Stärkung der bundesstaatlichen Elemente innerhalb des Deutschen Bundes hinaus, so dass sich das Paradoxon ergab, dass der Deutsche Bund seine staatenbündische Struktur mit Mitteln verteidigte, die nun auch in Richtung Bundesstaat wiesen. Doch für den Weg in einen Bundesstaat gab es unterschiedliche Varianten: Der bundesstaatliche Ausbau des Bundes hätte auch in die liberale Richtung erfolgen können, durch eine Entfaltung gemeinschaftlicher Institutionen und Kompetenzen, eines gemeinsamen Zollgebietes, einer nationalen Repräsentation, gleicher Bestimmungen für Pressefreiheit und den Ausbau der Re-

13 Ebd.

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präsentativverfassungen, durch die Stärkung der Zentralgewalt und durch ein oberstes Bundesgericht 14. Diese Variante setzte sich jedoch nicht durch. Der 1819 eingeschlagene repressive Weg dagegen hat zu einer tiefen Entfremdung zwischen Deutschem Bund und den liberalen Vertretern der Nationalbewegung geführt. Immerhin deutete der 1819er Schulterschluss zwischen Berlin und Wien auf eine temporäre Abschwächung des beiderseitigen Dualismus, er brachte für beide deutschen Vormächte den Vorteil vorabgestimmter Verfahren in der Bundesversammlung und damit einer tendenziellen Ausschaltung partikularistischer Interessen und mittelstaatlichen Eigensinns. Am doppelhegemonialen Vorgehen haben alle preußischen Außenminister bis 1848 festgehalten. Hatte doch Wilhelm von Humboldt in der informellen Hegemonie der beiden Großmächte bei formeller Gleichberechtigung aller Mitglieder die eigentliche Existenzbedingung des Deutschen Bundes erkannt. 15 Dabei wurde die überlegene österreichische Diplomatie von Seiten Preußens durch die über den Bund bereits hinausführende Praxis der bilateralen Absprachen zur Arrondierung des norddeutschen Raumes kompensiert. Es sollte nicht übersehen werden, dass Berlin in den 1820er Jahre die Vorarbeiten und Verhandlungen jener wirtschaftspolitischen Vereinbarungen initiierte, die von großer Tragweite auch für die politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert sein sollten. Der am 1. Januar 1834 in Kraft getretene Zollverein führte zu einer wirtschaftlichen und handelspolitischen Arrondierung des deutschen Raumes, mit Ausnahme Österreichs, und war zugleich Ausdruck der Unfähigkeit des Deutschen Bundes, die wirtschaftspolitischen Belange Deutschlands selbstständig zu regeln. Denn obwohl Artikel 19 der Bundesakte von 1815 in Aussicht gestellt hatte, im Nachgang über Handels- und Verkehrsfragen zu beraten, und der Bundestag einer badischen Initiative zur Zolleinigung im Jahre 1819 nachgegangen war, verliefen die Verhandlungen ergebnislos und wurden 1820 abgebrochen. Wenn der Bund selbst nicht in der Lage war, entsprechende Initiativen zu verfolgen, bestanden Spielräume, ursprüngliche Bundeskompetenzen neu zu verteilen. Diese Spielräume wurden durch die preußische Staatsbürokratie, an der Krone vorbei, aufgegriffen, namentlich durch Johann Albrecht Friedrich Eichhorn, der seit 1831 Direktor der 2. Abteilung des Außenministeriums und damit für die deutschen Angelegenheiten zuständig war. Die Sache war im ureigenen Interesse Preußens, dem es um die Überwindung der strukturellen Zerrissenheit seines eigenen Staatsgebietes nach dem preußischen Zollgesetz von 1818 und um übergreifende handelspolitische Regelungen zunächst im norddeutschen Raum ging. Eichhorn kam das Verdienst zu, die Idee der Zolleinheit von den ersten Enklave-Verhandlungen nach 1818 bis zu den Anschlussverträgen seit 1833 mit größter Zähigkeit gegen alle inneren und äußeren Widerstände zum Erfolg geführt zu haben. Ihm und seinen Mitstreitern, insbesondere Finanzminister Friedrich von Motz (1825–30) schwebten ein festeres Band für Deutschland vor, als es der Bund je sein würde. In seiner geheimen Denk-

14 Peter Burg, Der Wiener Kongress. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, München 1984, 89–90. 15 Kaernbach, Preußen, 72.

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schrift vom Juni 1829 konstatierte Motz, dass die Einigung in Zoll- und Handelsfragen zugleich eine politische Einigung sei 16, dass die Verbindung Preußens mit den süddeutschen Staaten „die militärische Sicherheit des deutschen Südens vollenden und den Gegensatz des Südens und des Nordens beseitigen (müsse), dass so erst wieder ein in Wahrheit verbürgtes, im Innern und nach außen festes und freies Deutschland unter dem Schirm und Schutz Preußens entstehen könne.“ 17 Das handelspolitische Thema besaß tatsächlich eine national-verklammernde Wirkung: Zum ersten Mal verzichteten deutsche Regierungen freiwillig auf bedeutende Bereiche ihrer Souveränität im Interesse einer Gemeinschaft und wurden dafür mit sprudelnden Einnahmen belohnt, die in den 1840er Jahren bereits ein praktikables Mittel der sozialen Krisensteuerung wurden. Durch den Austausch von Beamten und die damit verbundene Penetration der mittel- und kleinstaatlichen Verwaltungen begann zudem deren Gewöhnung an die Praktiken der preußischen Bürokratie. Hinzu trat die deutliche wirtschaftliche Verflechtung der Mitgliedsstaaten angesichts der immer machtvoller einsetzenden Industrialisierung. Die politische Brisanz des Sache war klar: Noch vor dem Inkrafttreten des Zollvereins bezeichnete ihn Metternich als einen geduldeten „kleine(n) Nebenbund“ im Deutschen Bund, der seine eigenen Zwecke verfolgte 18. Abgesehen davon war er Kristallisationskern liberaler Ansichten, ein „kräftiges Werkzeug in den Händen der Bewegungspartei“ und für die Abseitsstehenden eine „höchst nachteilige unheildrohende Erscheinung“ 19. Dieses Verdikt fand reziproke Bestätigung: 1839, fünf Jahre nach der Bildung des Zollvereins, konstatierte der hessen-darmstädtische Ministerpräsident Karl Freiherr du Thil, dass Deutschland „durch den Zollverein (...) eine Nation geworden (ist), weit mehr als durch die Bundesakte.“ 20 *** Die französische Julirevolution von 1830 leite eine neue Phase in der Geschichte des Deutschen Bundes und des Verhältnisses zwischen ihm und Preußen ein. Zwar wich der Deutsche Bund von seinem 1819 eingeschlagenen repressiven Kurs bis zur Revolution von 1848 nicht ab, doch verstärkten sich gleichzeitig die Impulse 16 Vgl. Andreas Etges, Von der „vorgestellten“ zur „realen“ Gefühls- und Interessengemeinschaft? Nation und Nationalismus in Deutschland von 1830–1848, in: Jörg Echternkamp, Oliver Müller (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760– 1960, München 2002, 61–80, hier: 68. 17 Zit. Nach: Theodor Flathe, Das Zeitalter der Restauration und Revolution 1815–1851, Nachdruck Paderborn 2015, 200. 18 Metternichs Denkschrift vom 24. Juni 1833, zit. nach: Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4. Bd., Nachdruck Paderborn 2015, 375–376. Vgl. auch HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Deutschen Doppelrevolution 1815–1845/49, München 1989, 131. 19 Metternichs Denkschrift vom 24. Juni 1833, ebd. 20 Schreiben du Thils an den preußischen Außenminister Heinrich Freiherr von Werther, 12. März 1839, zit. nach: Jürgen Müller, Der Deutsche Bund als nationales Band, in: Jürgen Müller (Hrsg.), Deutscher Bund und innere Nationsbildung im Vormärz (1815–1848), Göttingen 2018, 21.

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für den Ausbau des Konstitutionalismus (Braunschweig, Kurhessen, Sachsen, Hannover), darauf fußende Reformen und eine Politisierung der deutschen Öffentlichkeit. Deutschlandpolitisch ging Preußen deutlicher als bisher eigene Wege, die Vorverständigung mit Österreich gelang nur noch punktuell. Die Felder des Konflikts waren vor allem wirtschafts- und sicherheitspolitischer Natur. Der von Motz bereits 1829 formulierte Zusammenhang von Wirtschafts- und Sicherheitspolitik wurde vor allem deutlich, als es in Folge der belgischen Krise zu Militärverhandlungen zwischen Preußen und den deutschen Mittelstaaten und dann auch Österreich kam. In den ab Dezember 1830 geführten Militärverhandlungen Preußens mit Vertretern der Mittelstaaten und Österreichs wurde, angesichts der preußischen Mehrleistungszusagen und offensiveren Verteidigungskonzeptionen, ein eminentes Anlehnungsbedürfnis gerade der süddeutschen Staaten an Preußen deutlich. Während sich die Reaktion des Deutschen Bundes auf kleinere, verspätet vorgenommene militärorganisatorische Verbesserungen beschränkte (Bildung der Reserveinfanteriedivision und Verstärkung der Bundesfestungen), gelang im bilateralen Austausch die Einigung über einen Operationsplan, der für den Kriegsfall den Anschluss aller nichtösterreichischen Bundesarmeekorps an Preußen vorsah (Drei-Armeen-Plan). Schwer wog, dass die Vertreter der mindermächtigen deutschen Staaten diese Pläne gegen den militärischen Machtanspruch Österreichs und dessen defensives Verteidigungskonzept, welches den Rückzug und die Räumung Süddeutschlands vorsah, erfolgreich verteidigten (Berliner Militärprotokoll vom 3. Dezember 1832), während sich Preußen geschickt beiseite hielt und in einer Geheimvereinbarung nur mehr den gesichtswahrenden Kompromiss mit Wien suchte (Punktation vom 17. März 1833). Da vom Frankreich des Bürgerkönigs Louis Philippe keine reale Kriegsgefahr ausging, waren die innerdeutschen Militärverhandlungen weniger konkrete Gefahrenabwehr als auf die Ausbildung der Nation im Sinne einer Gefühls- und Willensgemeinschaft gerichtet. Dasselbe Szenario wiederholte sich, als es im Zuge der „Rheinkrise“ von 1840 zu französischen Rüstungen und dem Aufflackern nationaler Leidenschaften auf beiden Seiten des Rheins kam. Zwar präsentierte sich Preußen in der Öffentlichkeit wiederum als defensor germaniae, doch die österreichische Verhandlungsführung setzte diesmal eine im Grunde defensiven Militärkonvention (28. November 1840) durch, die eine sensationelle preußische Verteidigungsgarantie für die italienischen Besitzungen der Habsburgermonarchie enthielt und die enge Verbindung der süddeutschen Kontingente mit denen Österreichs akzeptierte. Wieder einmal hatte sich die Reaktion des Bundes auf wenig überzeugende Maßnahmen beschränkt, die langfristige Errichtung zweier neuer Bundesfestungen bei Ulm und Rastatt, deren Grundsteinlegungen 1844 erfolgte, die Einführung von regelmäßigen Inspektionen sowie eine Verkürzung der Mobilmachungsfristen. Der gelungene Versuch, die nationale Euphorie in der „Rheinkrise“ zu kanalisieren, führte zu einer Veränderung der Nationalbewegung durch Verstärkung des dynastischen Elements und in Preußen gleichzeitig zu Impulsen, die einen langsamen Umbau der monarchischen Legitimation von einer dynastischen zu einer nationalen annoncierten. Und obwohl sich die preußischen Herrscher dagegen nach Kräften gewehrt haben, sogar bis in den Akt der Reichsgründung hinein, hat das dadurch entstandene Spannungsfeld im

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Bereich der Herrschaftsbegründung doch auf Dauer die Geschäftsgrundlage im Verhältnis zwischen Preußen und dem Bund verändert. Wenn Preußen auf dem Weg zu einem „nationalen Königtum“ war, dann konnte es sich durch die Strukturen des Bundes nicht beschränken lassen, es musste sie notfalls abstreifen. Doch vorderhand änderte sich durch die günstigere demografische und wirtschaftliche Lage der Hohenzollernmonarchie und deren Bereitschaft, sicherheitspolitische Mehrleistungen zu erbringen und freiwilligen Souveränitätsverzicht zu belohnen, nach und nach auch die öffentliche Wahrnehmung, die preußische und deutsche Interessen vielfach identisch setzte 21. Dies wurde auch im Kölner Dombaufest deutlich, das zur Vollendung des Kölner Dombaus am 4. September 1842 stattfand. Anwesend waren unter anderem der österreichische Staatskanzler Metternich, Erzherzog Johann, der spätere Reichsverweser, der vor 1848 wegen seiner liberalen Neigungen im Abseits gehalten wurde. Die Festrede hielt der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der die Einigkeit der deutschen Fürsten und Völker beschwor und damit die Zuhörer begeisterte. Der Trinkspruch des österreichischen Erzherzogs wurde in den Zeitungen verkürzt und entstellt wiedergegeben: „Kein Österreich, kein Preußen mehr, ein einig Deutschland, fest wie seine Berge.“ Die von beiden deutschen Vormächten gespielte nationale Karte hatte einen nationalen Wunschtraum ausgelöst, der die Realität bereits weit überholte. Unterdessen nahm das Gewicht Preußens innerhalb des Deutschen Bundes immer mehr zu, allerdings wurde seine Anfang 1848 gestartete Initiative, in direkten Verhandlungen mit Österreich eine Reform des Bundes durch Stärkung der Bundesexekutive (Radowitz-Plan) einzuleiten, durch den Ausbruch der Revolution und den Sturz Metternichs zunichte gemacht. Die Spielräume der preußischen Deutschlandpolitik blieben bis 1848 relativ begrenzt, da sie nicht zuletzt der europäischen Logik folgten: In Folge der Julirevolution von 1830 hatte das europäische Großmächtesystem eine Veränderung erfahren. Ohne, dass sie das Gesamtsystem in Frage gestellt hätten, koppelten sich die drei konservativen Ostmächte und das liberale Westeuropa stärker voneinander ab. Auf europäischem Parkett spielte Preußen, als kleinste europäische Großmacht, eine eher ausgleichende Rolle. Aufgrund seiner das Interventionsprinzip im Falle Frankreichs und Belgiens ablehnenden Außenpolitik vereinzelte es sich im Gespann der Ostmächte, vor allem ging es zwischen 1830–33 auf Abstand zu Russland. Zwar gelang es in der Folge, die monarchische Zusammenarbeit der „Drei Schwarzen Adler“ zu reaktivieren, dies blieb jedoch auf deren engeren Machtbereich (Polen, Italien und Deutschland) beschränkt. Gravierende deutschlandpolitische Initiativen, die das europäische Gleichgewicht berührt hätten, waren dadurch ausgeschlossen. ****

21 Kaernbach, Preußen, 73.

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Nach der Revolution, in deren Verlauf der Deutsche Bund am 12. Juli 1848 seine Tätigkeit für beendet erklärt und sich zugunsten des Reichsverwesers selbst ausgeschaltet hatte, gab es eine Reihe neuer Verfassungen in den deutschen Staaten, die auch nach der gescheiterten Revolution intakt blieben. In den Verhandlungen der Paulskirche war noch einmal die Unvereinbarkeit des sich herauskristallisierenden kleindeutschen Nationalstaates mit einer großösterreichischen Lösung herausgestellt worden. Beide Lösungen hatten sich vorderhand als undurchführbar erwiesen. Doch war Preußen 1848 auf den Weg des liberalen Verfassungsstaates eingeschwenkt. Damit änderte sich sein Verhältnis zur Nationalbewegung, der es entgegenzukommen suchte. Gleichzeitig wuchs sein Abstand zu einer möglichen Restauration des Deutschen Bundes. Als sich auf österreichische Initiative am 2. September 1850 ein „Rumpfbundestag“ etablierte, der alle Kompetenzen des alten Deutschen Bundes für sich beanspruchte, bedeutete diese klare Frontstellung gegenüber den preußischen Neuordnungsplänen (Unionspolitik), die im Nachgang der Revolution durch Joseph Maria von Radowitz initiiert worden waren. Der Boykott dieses „Rumpfbundestages“ half nichts, denn nach dem Scheitern der Unionspolitik (Olmützer Punktation vom 29. November 1850) musste auch Preußen und seine Anhängerschaft nolens volens auf den Kurs der Restitution eines reformierten Deutschen Bundes einschwenken. Zwar hatte es wegen der preußischen Unionspolitik, die mit der Kurhessen- und Schleswig-Holstein-Frage zu einem Junktim verknüpft worden war, beinahe einen militärischen Konflikt zwischen den beiden deutschen Vormächten gegeben, doch die temporäre Feindschaft stellte keinen irreversiblen Bruch dar, sie war Ausdruck gegensätzlicher Staatsraison und ließ sich durch eine veränderte personelle Konstellation wieder beheben. Zur Wiederaufnahme eines doppelhegemonial-konstruktiven Kurses gegenüber dem wieder auferstehenden Deutschen Bund führte dies allerdings nicht. Denn auf den Dresdner Konferenzen (23.12.1850–15.05.1851), die die Entwicklungsfähigkeit des Deutschen Bundes hätten beweisen sollen und sich stattdessen als „lost moment in history“ erwiesen, ließen sich weder die im preußischen Interesse liegende Reform der Bundesexekutive noch die paritätische Neuregelung der preußisch-österreichischen Herrschaftsteilung zugunsten Preußens durchsetzen. Ebenso scheiterte das noch immer auf dem Tisch liegende österreichische Projekt eines 70-Millionen Reiches, das die nichtdeutschen Gebietsteile der Habsburgermonarchie dem Deutschen Bund in einem erweiterten Rahmen zugeordnet hätte, allerdings ohne eine Volksvertretung 22. Der in seiner alten Form wiederhergestellte Bund wirkte umso anachronistischer, als er noch immer als Garant des überholten Souveränitätsprinzips

22 Felix Fürst Schwarzenbergs Sechs-Punkte-Plan vom Sommer 1850 sah einen Doppelbund vor, in dem Österreich und Preußen gleichberechtigt die Zentralgewalt in Deutschland ausüben sollten. Dieser Bund sah die Aufnahme der nichtdeutschen Gebiete Österreichs vor und hätte so siebzig Millionen Einwohner gezählt, allerdings ohne Volksvertretung. Hinzu gekommen wäre eine Zollunion. Die Preußen eingeräumte Möglichkeit, einen engeren Bund zu bilden, hätte allerdings nicht in einer Reichsgründung münden dürfen. Vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 3., wesentlich überarbeitete Auflage, Stuttgart u. a. 1988, 901.

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angesehen wurde und nun auch als unbeweglich galt. Als wäre die Zeit stehen geblieben, lebte nun auch der Bilateralismus der preußischen Führung wieder auf. Zwar mussten die im Nachgang der Revolution abgeschlossenen Militärkonventionen mit Anhalt-Dessau-Köthen, Anhalt-Bernburg, beiden Mecklenburgs sowie Braunschweig nach der gescheiterten Unionspolitik wieder preisgegeben werden, dennoch blieben die militärischen Verabredungen einfach bestehen. 23 Und sogar Österreich kam in den Genuss bilateraler Gratifikationen: Während sich das am 16. Mai 1851 abgeschlossene Trutz- und Schutzbündnis mit Preußen sensationell auch auf die nichtdeutschen Besitzungen der Monarchie erstreckte und diese Zusage während des Krimkrieges sogar verlängert wurde (26. November 1854), begründete der am 12. Februar 1853 abgeschlossene Handelsvertrag bis zum Abschluss des preußisch-französischen Handelsvertrages ein wirtschaftliches Sonderverhältnis zwischen Berlin und Wien auf der Basis gegenseitiger Meistbegünstigung, während Preußen seine handelspolitische Vormacht mit Hilfe des Zollvereins kontinuierlich ausbaute. Die Dekade nach der Revolution leitete eine neue, kriegerische Periode der europäischen Staatenbeziehungen ein, die von der Zurückweisung des russischen Ausgreifens in Richtung Meerengen (Krimkrieg 1853–56) und dem nationalrevolutionären Krieg um die Vollendung der italienischen Einigung (Oberitalienkrieg 1859) gekennzeichnet war. Die Spielräume für revolutionäre Veränderungen des europäischen Systems begannen sich auszuweiten. Während des Krimkrieges gelang es Preußen, eine Deformation der bündischen Sicherheitspolitik zu Gunsten der österreichischen Präsidialmacht zu verhindern, die sich auf dem Balkan in einen folgenschweren Gegensatz zu Russland hineinmanövriert hatte und den Deutschen Bund in Mithaftung nehmen wollte. Der gegen Russland gerichtete Mobilmachungsantrag des österreichischen Präsidialgesandten Anton von Prokesch-Osten vom Februar 1855 wurde von preußischer Seite und mit Hilfe der Mittelstaaten in „Kriegsbereitschaft nach allen Richtungen“ umgebogen. Freilich spielten hier neben deutschlandpolitischen Motiven vor allem die traditionelle Vorliebe für möglichst geräuschlose außenpolitische Lösungen 24 und die Sorge um eine Destabilisierung des preußisch-russischen Verhältnisses die entscheidende Rolle. Der für die Durchsetzung dieser Linie verantwortliche preußische Bundestagsgesandte Otto von Bismarck hat die Gunst der Stunde sogleich erkannt und unter dem Eindruck der kurz zuvor beendeten Pariser Friedenskonferenz in seinem „Prachtbericht“ beschrieben: Die Verantwortung für die „innere Morschheit des Bundes“, dessen Ansehen in Deutschland und Europa während des Krimkrieges erneut stark gelitten hätte, schrieb er der österreichischen Staatsführung zu. 25 Und es war Preußen nicht 23 Jürgen Angelow, Von Wien nach Königgrätz: Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815–1866, München 1996, 82. 24 Vgl. Jürgen Angelow, Geräuschlosigkeit als Prinzip. Preußens Außenpolitik im europäischen Mächtekonzert zwischen 1815 und 1848, in: Wolfram Pyta (Hrsg.), Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongress 1815 bis zum Krimkrieg 1853, Köln, Weimar, Wien 2009, 155–174. 25 Bismarck an Minister von Manteuffel, 26.4.1856, zit. nach: Herman von Petersdorff u.a. (Hrsg.), Bismarck. Die gesammelten Werke, Bd. 2: Politische Schriften 1. Januar 1855 bis 1.

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zuzumuten, für die Erhaltung des österreichischen Übergewichts in Deutschland und die „erbärmliche Verfassung des Bundes“ existentielle Risiken einzugehen.26 Vielmehr sei es angebracht, sich in der gegenwärtigen Lage als gesuchter Bundesgenosse alle Optionen offen zu halten. 27 Bismarck vertrat bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Auffassung, dass die Frage der Vorherrschaft in Deutschland durchaus auf eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich zusteuern konnte. „Nach der Wiener Politik ist einmal Deutschland zu eng für uns beide; so lange ein ehrliches Arrangement über den Einfluß eines jeden in Deutschland nicht getroffen und ausgeführt ist (...) bleibt Östreich der einzige Staat, an den wir nachhaltig verlieren und von dem wir nachhaltig gewinnen können. (...) Der deutsche Dualismus hat (...) regelmäßig durch einen gründlichen innern Krieg seine gegenseitigen Beziehungen regulirt, und auch in diesem Jahrhundert wird kein andres als dieses Mittel die Uhr der Entwicklung auf ihre richtige Stunde stellen können.“ 28 Natürlich hat Bismarck die Denkschriften Wilhelm von Humboldts gekannt, seines großen Vorgängers im Amt des preußischen Bundestagsgesandten. Er hat sie nicht nur zitiert, er hat sie radikalisiert. Geplant war die gewaltsame Lösung zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber schon berechnet. 29 Sie stellte die ultima ratio des deutschlandpolitischen Kurses der Hohenzollernmonarchie dar, falls sich die Möglichkeiten eines variantenreichen do ut des erschöpfen sollten. Während Preußen jede Konzession an eine Gegenleistung knüpfte, überbewertete die österreichische Seite die prinzipienpolitischen Grundlagen des politischen Handelns der Gegenseite, so auch während des oberitalienischen Krieges von 1859, den es gegen Sardinien-Piemont und das mit ihm verbündete Frankreich Napoleons III. focht. An der Position „ich gebe, damit Du gibst“ hat Preußen bis 1864 beharrlich festgehalten. Wien hingegen hatte sich 1859 der trügerischen Hoffnung hingegeben, dass Preußen ihm auch ohne Gegenleistung in der deutschen Frage zur Hilfe verpflichtet war. Die militärische Verteidigung Oberitaliens schien im Interesse einer Vorneverteidigung der deutschen Grenzen zu liegen, hatte doch Italien „als Vormauer des Reiches“ gegolten. Ein Eingreifen Preußens wäre gegen die Westgrenze gerichtet gewesen. Der Außenkonflikt mit Frankreich an der Seite Österreichs hätte die Integration der Nation zwar vorangebracht und Reformansätze innerhalb des Deutschen Bundes befördert, gleichzeitig aber eine für Berlin unerwünschte Solidarisierung mit Österreich bedeutet und damit großdeutsche Impulse verstärkt. Und obwohl die öffentliche Meinung beinahe einhellig zur Kriegsteilnahme des Deutschen

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März 1859, Berlin 1924, 141. Vgl. auch 140: „Ich kann versichern, daß kaum unter meinen Collegen jemand ist, der für den Fall einer ernsten Gefahr, wie sie in dem Bündniß Frankreichs mit Rußland oder mit Östreich läge, den Bundesverträgen irgend welchen Werth beilegt.“ Ebd., 143. Ebd., 144. Winfried Baumgart hat den Bericht als „ein leidenschaftliches Plädoyer für eine gewaltsame Lösung des preußisch-österreichischen Gegensatzes“ charakterisiert. Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und Nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878. Paderborn, München, Wien, Zürich 1999, 247. Bismarck an Manteuffel, a.a.O., 142.

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Bundes drängte, die „Bayerische Wochenschrift“ am 30. April 1859 sogar einen deutschen Nationalkrieg gegen Frankreich forderte und die deutschen Mittelstaaten, personifiziert durch den sächsischen Ministerpräsidenten Ferdinand von Beust, mit Drohungen gegenüber Paris hervortraten, war Preußen nur bereit, in den Konflikt einzugreifen, wenn nach Artikel 47 der Wiener Schlussakte Bundesgebiet direkt gefährdet war. Erst nach den österreichischen Niederlagen bei Magenta (4. Juni 1859) und Solferino (24. Juni 1859) reagierte es am 4. Juli 1859 mit der Forderung, alle nichtösterreichischen Bundeskontingente unter preußischen Oberbefehl zu stellen, allerdings unter Außerkraftsetzung der Bundeskriegsverfassung, die einem Oberbefehlshaber starre Zügel angelegt hätte. Nachdem Preußen viele Wochen eine Ausweitung der bündischen Sicherheitspolitik durch Blockade aller Initiativen der Bundesversammlung verhindert hatte, strebte es nun ganz offen nach der militärischen Hegemonie in Deutschland, indem es den Deutschen Bund beiseiteschob. Doch Wien entzog sich dem Prozess durch die überaus schnelle Abtretung der Lombardei an den französischen Kaiser, um seine deutsche Anhängerschaft nicht zu verlieren. ***** Die „liberale Wende“ in Preußen und die Niederlage des Habsburgerstaates im oberitalienischen Konflikt hatten 1859 eine neue Phase im Spannungsverhältnis zwischen dem Deutschem Bund und der preußischen Monarchie eingeleitet. Was sich nun abzeichnete, war eine deutliche Ausweitung der deutschlandpolitischen Ziele Preußens, die sich nun nicht mehr allein auf bilaterale wirtschafts- und sicherheitspolitische Vereinbarungen beschränkten, sondern einen Schritt weitergingen und, nach dem gescheiterten Intermezzo der Unionspolitik (1849–50), wiederum die Lösung der „deutschen Frage“ in toto anvisierten. Dabei war die deutschlandpolitische Linie Preußens nach 1859 durch parallel ablaufende Prozesse gekennzeichnet, die konzertiert auf eine Zerrüttung des Deutschen Bundes hintrieben: Zum einen durch die Zurückweisung alternativer Reformvorschläge innerhalb des Deutschen Bundes, zum anderen durch die gleichzeitige Wiederaufwertung des direkten Kontaktes der beiden Vormächte, unter Ausschaltung des Bundes. Die Ereignisse von 1859 hatten die Dysfunktionalität der Bundesexekutive und der Bundesmilitärverfassung deutlich werden lassen. Sowohl auf der Ebene des Bundes als auch auf der der Einzelstaaten war Reformbedarf entstanden. Auch von der mehrheitlich kleindeutsch-liberalen Nationalbewegung wurden Reformschritte gefordert. Preußen beschritt für sich den Weg einer Heeresreform, die die militärischen Kräfte des preußischen Staates deutlich verstärkte und in einen Verfassungskonflikt führte. Letzterer zog noch einmal die Grenze zwischen dem dynastischen Modell einer nationalen „Revolution von oben“ und dem Ausläufer der Revolution, an dem die liberale Öffentlichkeit festhalten wollte. Auch Österreich leitete eine Liberalisierung seines Systems ein. Doch auf der Ebene des Bundes gab es kein Vorankommen. Die Bundesreformpläne der Mittelstaaten und Österreichs, die zu einer Stärkung der Bundesexekutive führen sollten, versprachen weder die Herstellung eines paritätischen Verhältnisses der beiden deutschen Vormächte, einen dualistischen

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Ausgleich oder eine Machtteilung, bei denen die Hohenzollerndynastie hätte mitgehen können, noch folgten sie den liberalen Forderungen nach einer bürgerlichen Repräsentativverfassung und einer stärkeren Hinwendung zur Nation. Damit konnte die Nationalbewegung nicht mehr zufrieden gestellt werden, so dass sich deren mehrheitliche Orientierung auf Preußen verstärkte. Hinzu kam die Selbstblockade der Reforminitiatoren, die sich (wie im Falle Bayerns und Sachsens) nur selten auf ein gemeinsames Projekt einigen konnten. Preußen ist den Versuchen einer Bundesreform seit Ende 1850er Jahre konsequent entgegengetreten und hat sie, wenn es notwendig wurde, direkt blockiert. An seiner Ablehnung scheiterten alle mittelstaatlichen Initiativen (Beust Plan) und 1863 auch der von allen anderen deutschen Fürsten akzeptierte österreichische Bundesreformplan, wodurch die österreichische Deutschlandpolitik weiter in die Sackgasse geriet. Doch noch einmal wurde die innere Lähmung durch einen äußeren Konflikt überdeckt. Gegen Dänemark kam es 1863–64 zu einer Zusammenarbeit der beiden deutschen Vormächte, wieder unter Ausschaltung des Deutschen Bundes. Doch eine längerfristige Zusammenarbeit entwickelte sich daraus nicht, obwohl in den Schönbrunner Verhandlungen vom August 1864 noch einmal eine dynastische Lösung entwickelt worden war, die auf alte Machtteilungspläne zurückging und diese mit einer Offensive in der italienischen Frage zu verbinden suchte. Dieses Anerbieten einer „Jagdgemeinschaft“ für den Fall des österreichischen Abschwenkens auf den preußischen Machtteilungsplans war das letzte do ut des-Angebot, das die preußische Seite der österreichischen unterbreitete, doch die beteiligten Monarchen winkten ab. Während Preußen die drei neu gewonnenen Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg komplett annektieren wollte, um seine Position im Norden Deutschlands auszubauen, bot es Österreich im Gegenzug Hilfe bei der Wiedereroberung der Lombardei an, die 1859 verloren gegangen war. Die ungleiche Rechnung lautete: Sichere Gewinne für Preußen im Norden Deutschlands gegen unsichere für Österreich in Italien. Immerhin wäre die äußere Frontstellung der beiden deutschen Vormächte zum Kitt für die Fortexistenz ihrer dualistischen Hegemonie im Deutschen Bund geworden. Übrig blieb jener fade Kompromiss von Bad Gastein (14. August 1865), der die preußisch-österreichische Vertrauenskrise über antipreußische Demonstrationen im österreichisch verwalteten Holstein Anfang 1866 nicht überstand. An den materiellen und ideellen Bedürfnissen der sich entwickelnden Nation nahm der Deutsche Bund zu diesem Zeitpunkt keinen Anteil mehr. Er hatte sich in vielerlei Hinsicht bereits überlebt. Nun wurde er noch einmal instrumentalisiert, durch den konfliktauslösenden preußischen Reformplan, der Österreich aus dem Bund bereits ausschied, und durch die Anrufung des Bundes durch Österreich, das Rückhalt und Unterstützung im Bund suchte. Preußen hat den Konflikt unter sorgfältiger Abwägung seiner europapolitischen Handlungsspielräume, dem Desinteresse Großbritanniens, der Neutralität Frankreichs, dem wohlwollenden Stillhalten Russlands sowie dem Mitmachen Italiens an seiner Seite, gesucht und eingefädelt. Die vom unsicher agierenden Österreich und den meisten Mittelstaaten wohl oder übel getragene formlose Bundesexekution gegen Preußen suchte den Konflikt zwischen der

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Hohenzollernmonarchie und dem Deutschen Bund zugunsten des Bundes aufzulösen. Im Sinne der Lösung der „nationalen Frage“ war dieses Vorgehen allerdings nicht, da es einen politisch-rechtlichen Status zu konservieren suchte, der weder als zeitgemäß angesehen noch im Sinne der weit vorangekommenen wirtschaftspolitischen Integration des außerösterreichischen Deutschlands war. Die Entscheidung von 1866 befand sich in der Logik der Ereignisse, sie überführte jene Vorstellungen in Realität, die ein „festeres Band für Deutschland“ zu knüpfen gesucht und sich durch die nachfolgenden Ereignisse weiter radikalisiert hatten. Und diese Lösung konnte, nach Lage der Dinge, nur ohne die Habsburgermonarchie erfolgen. Die preußische Staatsführung hat den Deutsche Bund von Anfang an als ein Produkt der Verlegenheit angesehen. Beide, Preußen und der Bund, sind zwischen 1815 und 1866 eine eigentümliche Verbindung eingegangen, die von einem Mit-, Neben- und Gegeneinander geprägt war, wobei das gemeinschaftliche Agieren der frühen Jahre in der Spätphase des Bundes einem Neben- und Gegeneinander Platz machte. Dass die Verfassungskonstruktion des Bundes einzelstaatlichen Initiativen und bilateralen Absprachen keine Zügel anzulegen vermochte, machte das Verhältnis einigermaßen erträglich und ermöglichte es Preußen, dem Bund nicht nur konstruktiv zu begegnen und ihn als Institution zu respektieren sondern auch Einzelabsprachen mit deutschen Staaten vorzunehmen, die zu seiner Zerrüttung führen mussten. Dabei bildete das bilaterale Verhältnis zwischen Berlin und Wien die Zentralachse des Kräftepolygons. Es spannte sich zwischen doppelhegemonialer Leitung des Bundes und scharfer Rivalität, teilweise auf der Bühne des Bundes ausgetragen, jedenfalls mit direkten Folgen für ihn. Preußens Verhältnis zum Deutschen Bund folgte einem Verlauf, der von vielen disparaten und auch unvorhersehbaren Momenten beeinflusst wurde. Es war durch die preußischen Reformpolitiker im Umfeld des Wiener Kongresses konzeptionell umrissen aber nicht genau berechnet worden. Aus sich ändernden Zeitumständen und günstigen Gelegenheiten hatten sich Forderungen und Handlungen abgeleitet, die zumeist dem Gedanken der dynastischen Machtsteigerung folgten. Ein Kontinuum bildete das Festhalten Preußens an einer gleichberechtigten Stellung gegenüber der Präsidialmacht des Bundes sowie sein Beharren auf Einfluss- und Machtteilung. Doch das war alles kein nationales Programm, ebenso wenig jener sich neben dem Bund ausbreitende Bilateralismus, dessen Kontinuität seit den 1820er Jahren gewahrt blieb. Dieses, die Institutionen des Bundes ausschaltende Vorgehen barg freilich auch nationale Entwicklungsimpulse in sich, die früh erkannt und später ausgebaut wurden, wie die Geschichte des Zollvereins oder der Militärabsprachen bewiesen hat. Es wurde in der späten Phase des Bundes um eine neue Rezeptur erweitert, „bei Gefährdung preußischer Interessen den Deutschen Bund zu paralysieren“, um die Mittelstaaten in ihren Entscheidungen erfolgreich an Preußen zu binden, wie sich Bismarck aus-

„Ein festeres Band für Deutschland“. Preußen und der Deutsche Bund

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drückte. Damit gelang es, die österreichische Führung im Bundestag zu untergraben. 30 Da sich in Berlin schließlich dynastische Überlegungen und nationale Einsichten miteinander verbinden ließen, konnte der Umgang mit dem Bund, im Sinne einer nationalstaatlichen Lösung „von oben“, um ein wesentliches, gleichsam revolutionäres Element erweitert werden: Seine gewaltsame Sprengung. Sie wurde 1866 politische Wirklichkeit. Jürgen Angelow ist Professor an der Universität Potsdam und Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin.

30 Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 41), 86ff.

VOM KÖNIGREICH HANNOVER ZUR PREUSSISCHEN PROVINZ Hans-Georg Aschoff Kurzfassung: Von den von Preußen 1866 annektierten norddeutschen Staaten war das Königreich Hannover hinsichtlich seiner territorialen Größe und seiner Einwohnerzahl der bedeutendste. Die Entscheidung König Georgs V. und seines Ministerium im Vorfeld der preußisch-österreichischen Auseinandersetzung zugunsten der Habsburger Monarchie hatte die Einverleibung Hannovers durch Preußen zur Folge. Für Otto von Bismarck bedeutete die Annexion nicht nur eine politische, militärische und wirtschaftliche Machtsteigerung Preußens; sie bildete eine wichtige Voraussetzung, um den Prozess der deutschen Einigung voranzutreiben. Die Einverleibung Hannovers erschien Bismarck vor dieser nationalen Zielsetzung als unumgänglich, weil sich hier zur Zeit des Deutschen Bundes ein ausgeprägtes Souveränitätsbewusstsein geltend gemacht hatte, was sich zum Nachteil Preußens auswirken konnte. Das Zugeständnis der Weiterexistenz einiger hannoverscher Einrichtungen, wie die Eigenständigkeit der evangelisch-lutherischen Landeskirche, die Aufrechterhaltung der Ämterverfassung und der Landdrosteien als Regierungsbezirke, und die Einräumung einer beschränkten provinziellen Selbstverwaltung sollten nach Bismarcks Vorstellungen die Integration der neuen Provinz in den preußischen Staatsverband fördern, aber auch ein Vorbild für eine allgemeine Föderalisierung Preußens sein. Bereits bei den Wahlen zum Norddeutschen Konstituierenden Reichstag im Frühjahr 1867 trat der parteipolitische Dualismus hervor, der die Parteienlandschaft der Provinz während der Bismarckzeit bis 1890 prägen sollte; hinter den Nationalliberalen sammelten sich die Kräfte, die die Annexion akzeptierten, während die welfische Bewegung, die sich in der Deutschhannoverschen Partei (DHP) organisierte, die preußische Politik bekämpfte und eine Wiederherstellung des ehemaligen Königreiches anstrebte. Trotz einer großzügigen Abfindung gelang es der preußischen Regierung nicht, das hannoversche Königshaus zum Verzicht auf seine Thronansprüche zu bewegen. Die zunehmende Schwäche der welfischen Bewegung war ein Zeichen dafür, dass die restaurativen Bestrebungen im Laufe des Kaiserreiches an Bedeutung verloren.

1. DIE WIRTSCHAFTLICHE UND DIE DEMOGRAPHISCHE SITUATION DES KÖNIGREICHES HANNOVER Von den norddeutschen Staaten, die Preußen 1866 annektierte, war das Königreich Hannover 1 aufgrund seiner territorialen Größe und seiner Bevölkerungszahl der bedeutendste. Es umfasste ein Gebiet von gut 38 500 km², das mit Ausnahme des

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Zur Geschichte des Königreichs Hannover: Heinrich Albert Oppermann, Zur Geschichte des Königreichs Hannover von 1832 bis 1860, 2 Bde. Berlin 1868. William v. Hassell, Geschichte

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Großherzogtums Oldenburg, des Herzogtums Braunschweig und des Fürstentums Schaumburg-Lippe im Wesentlichen mit dem heutigen Bundesland Niedersachsen übereinstimmte. Zur Zeit der Annexion belief sich seine Bevölkerungszahl auf gut 1,9 Mio.; Hannover lag damit nach Österreich, Preußen, Bayern und Sachsen unter den Staaten des Deutschen Bundes an fünfter 2, hinsichtlich seines Flächenumfanges an vierter Stelle. Bis zum Ende seiner Existenz blieb das Königreich ein Agrarland, in dem nicht nur die ländliche Bevölkerung den überwiegenden Anteil an der Gesamteinwohnerschaft ausmachte, sondern wo auch über die Hälfte der Bewohner von der Landwirtschaft lebte. Die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungszunahme führte zur Vermehrung eines ländlichen Proletariats. Nur in begrenztem Maße konnte die ländliche Überbevölkerung durch agrarischen Landesausbau aufgefangen werden. Der Mangel an Erwerbsmöglichkeiten war ein wesentlicher Grund für die Auswanderung, die in Hannover beträchtlich höher als in anderen deutschen Staaten war und „vor allem eine soziale und politische Ventilfunktion“ hatte. 3 Im Zeitraum von 1824 bis 1864 verließen ca. 230 000 Personen das Königreich; dies entsprach 40 Prozent des Geburtenüberschusses und rund zwei Drittel der Zunahme der Landbevölkerung. 4 Neben den natürlichen Gegebenheiten des Landes, wie geographische Lage, Mangel an Bodenschätzen usw., trug die Wirtschaftspolitik der Regierung zur „industriellen Verspätung Hannovers“ 5 bei. 6 Sie befürchtete, dass eine rasante Industrialisierung zur Entstehung eines Arbeiterproletariats und zu schwerwiegenden sozialen und politischen Problemen führen würde und versuchte, dies mit den „Mit-

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des Königreichs Hannover, 2 Bde. Bremen/Leipzig 1898–1901. Reinhard Oberschelp, Politische Geschichte Niedersachsens 1803–1866. Hildesheim 1988. Mijndert Bertram, Das Königreich Hannover. Kleine Geschichte eines vergangenen kleinen deutschen Staates. Hannover 2003. Christine/Gerd van den Heuvel, Restauration und Vormärz (1815–1848), in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 4: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Göttingen 2016, 75–195. Nicolas Rügge, Von der Märzrevolution bis zur Reichsgründung (1848–1866/71), in: ebd., 197–281. Iselin Gundermann und Walther Hubatsch (Bearb.), Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945, Reihe A: Preußen, Bd. 10: Hannover, Marburg (Lahn) 1981, 1–370. Wolfgang Köllmann, Bevölkerungsgeschichte 1800–1970, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1976, 9–50, hier 10. Wieland Sachse, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes Hannover im Übergang vom Königreich zur preußischen Provinz (1815–1866), in: Rainer Sabelleck (Hrsg.), Hannovers Übergang vom Königreich zur preußischen Provinz: 1866, Hannover 1995, 13–21, hier 18. Franz Lerner, Die Folgen der Annexion für Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main, in: Grenzbildende Faktoren in der Geschichte, Hannover 1969, 123–175, hier 128. Heide Barmeyer, Gewerbefreiheit oder Zunftbindung? Hannover an der Schwelle des Industriezeitalters, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46/47, 1974/75, 231–262, hier 233. Hans-Werner Niemann, Wirtschaftliche Entwicklung im Zeitalter der Industrialisierung, in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 1), 385–642, bes. 525–536.

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teln einer mobilitätshemmenden, restriktiven Domizilordnung und einer prohibitiven, Zünfte und Gilden begünstigenden Gewerbepolitik“ zu verhindern. 7 Bis zum Ende des Königreiches unterlag das Handwerk zünftigen Regelungen; es bestand keine Gewerbefreiheit. 1861 lebten 30,42 Prozent der Bevölkerung von der Arbeit in Handwerks-, Gewerbe- und Fabrikbetrieben; der tatsächliche Anteil der in Fabriken oder fabrikähnlichen Unternehmen beschäftigten Arbeiter belief sich auf nur 2,2 Prozent. 8 Ansätze zu industriellen Entwicklungstendenzen befanden sich in Linden, um Osnabrück und im Harburger Raum und betrafen vornehmlich die Werftindustrie und den Lokomotivbau, Eisengießereien und Maschinenbau sowie Gummifabriken, Schnapsbrennereien, Zuckerfabriken, Baumwoll- und Wergspinnereien und Baumwollwebereien. 9 Zwar entsprach das Königreich mit einem Eisenbahnnetz von 800 km Länge und einem recht gut ausgebauten Straßensystem zum Zeitpunkt der Annexion verkehrspolitisch durchaus den zeitgemäßen Anforderungen; 10 ansonsten befand es sich „noch weitgehend im Stadium frühindustrieller Entwicklung“, was vor allem im Vergleich zum benachbarten Preußen und zu Sachsen deutlich wurde. 11 2. DIE POLITISCHE ENTWICKLUNG HANNOVERS UNTER KÖNIG GEORG V. Auch verfassungsrechtlich war Hannover nicht auf der Höhe der Zeit. Dies war nicht zuletzt das Resultat der Politik des letzten hannoverschen Königs, Georgs V. (1819-1878), der 1851 die Regierung angetreten hatte. 12 Wie in anderen deutschen

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Wieland Sachse, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes Hannover (wie Anm. 3), 16. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866-1918. Die Deutschhannoversche Partei und das Zentrum in der Provinz Hannover während des Kaiserreiches, Düsseldorf 1987, 22. 9 Wieland Sachse, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes Hannover (wie Anm. 3), 20. 10 Karl Heinrich Kaufhold, Die Anfänge des Eisenbahnbaus in Niedersachsen, in: Dieter Brosius/Martin Last (Hrsg.), Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte. Zum 65. Geburtstag von Hans Patze. Hildesheim 1984, 364–381. 11 Franz Lerner, Die Folgen der Annexion für Hannover (wie Anm. 4), 129. 12 Über Georg V.: Dieter Brosius, Georg V. von Hannover – der König des „monarchischen Prinzips“, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 51/1979, 253–291. Gudrun Keindorf/Thomas Moritz (Hrsg.), „Größer noch als Heinrich der Löwe“. König Georg V. von Hannover als Bauherr und Identitätsstifter, Duderstadt 2003. Cornelia Roolfs, Der hannoversche Hof von 1814 bis 1866. Hofstaat und Hofgesellschaft, Hannover 2005. Hans-Georg Aschoff, Georg V. und das Ende des Königreiches Hannover, in: Heimatland, Jg. 2005, H. 4, 111–115. Ders., Die Welfen. Von der Reformation bis 1918, Stuttgart 2010, 251–263. Peter Steckhan, Welfenbericht. 150 Jahre Familiengeschichte der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg dokumentiert in Photographie und Film, Göttingen 2008, 28–44. Alexander Dylong, Hannovers letzter Herrscher. König Georg V. zwischen welfischer Tradition und politischer Realität, Göttingen 2012.

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Staaten setzte auch in Hannover unter ihm die Reaktionszeit ein. 13 Bereits Zeitgenossen, die den König aus der Nähe beobachten konnten, waren davon überzeugt, dass der Verlust des Augenlichts, den Georg durch eine skrofulöse Entzündung 1829 und einen tragischen Unfall drei Jahre später erlitten hatte, 14 bei ihm „weit gravierendere Folgen gehabt habe als nur die bedauerliche physische Beeinträchtigung“; die Erblindung habe sich „prägend auf den gesamten Charakter Georgs ausgewirkt“ und ihn daran gehindert, „die Realität der Umwelt zu erfassen“; dies habe zur Entwicklung einer „ganz eigenen, wirklichkeitsfremden Vorstellungswelt“ beigetragen. 15 Wesentliche Elemente der politischen Vorstellungen Georgs V. resultierten aus seinem unerschütterlichen Glauben an sein Gottesgnadentum und aus einem extremen Sendungsbewusstsein. Er bewunderte und idealisierte die Vergangenheit des welfischen Hauses als eine der ältesten europäischen Dynastien, deren Tradition er sich verpflichtet fühlte. Der König war davon überzeugt, dass die Vorsehung seiner Familie auch eine große Zukunft zuteilwerden lasse. Die Stärkung der Stellung Hannovers im Rahmen des Deutschen Bundes war ein zentraler Bestandteil seiner Politik. Dabei fehlte es ihm an einer realistischen Beurteilung der Möglichkeiten des Königreiches als deutscher Mittelstaat; insbesondere täuschte er sich über das Machtpotential und die Machtposition des preußischen Nachbarn. Hinsichtlich seines Amtes erlaubte Georg V. keine Einschränkung der monarchischen Souveränität und hielt unbeirrt an einer übersteigerten Idee des „monarchischen Prinzips“ fest. Einer Volksvertretung in Form der Ständeversammlung waren keine entscheidenden Befugnisse einzuräumen. Ebenso wuchs im Laufe der Jahre Georgs Abneigung gegen ein eigenverantwortlich handelndes Ministerium. Während seiner Regierungszeit kam es zu mehrfachen Ministerwechseln und zur Bildung von nicht weniger als sechs verschiedenen Kabinetten. In den liberalen, demokratischen und nationalen Tendenzen der Zeit sah er eine Gefährdung der Grundlagen des Welfenstaates. In seinem Bestreben, dem monarchischen Prinzip in Hannover wieder uneingeschränkte Geltung zu verschaffen, gelang dem König mit Hilfe des Deutschen Bundes die Aufhebung einer Reihe liberaler Errungenschaften des Revolutionsjahres, besonders die Revision des Verfassungsändernden Gesetzes vom 5. September 1848; dadurch wurde der vormärzliche Verfassungszustand mit dem Übergewicht des Adels in der Ersten Kammer der Ständeversammlung und der Ritterschaften in den Provinziallandschaften wiederhergestellt. Eine Reihe weiterer Maßnahmen, deren Inhalt wesentlich von Innenminister Wilhelm Friedrich Otto v. Borries bestimmt wurde, sollte das monarchische Regiment festigen und den Ausbau des bürokratisch-absolutistischen Systems vorantreiben. Hierzu gehörten neben massiver 13 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart u.a. 1970, 209–217. 14 Jürgen Krüger, Blindheit und Königtum. Die Blindheit des Königs Georg V. von Hannover als verfassungsrechtliches Problem, Frankfurt/M. 1992. 15 Dieter Brosius, Die Blindheit König Georgs V., in: Gudrun Keindorf/Thomas Moritz (Hrsg.), „Größer noch als Heinrich der Löwe“ (wie Anm. 12), 10–18, hier 10.

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Wahlbeeinflussung u. a. ein neues Finanzgesetz, das die Krondotation erhöhte und das ständische Etatbewilligungsrecht einschränkte, sowie die „Notgesetze“, die politische und Pressevergehen der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte entzogen und Beamte, auch Richter, mit Entlassung drohten, wenn sie sich gegen die Verfassungsmäßigkeit und Rechtmäßigkeit der vom König verkündeten Gesetze und Verordnungen aussprachen. Gegen diese reaktionären, verfassungsverletzenden Maßnahmen des Ministeriums Borries bildete sich in der Ständeversammlung eine Opposition, die von ehemaligen, einem gemäßigten Konstitutionalismus verpflichteten reformkonservativen Ministern, wie Alexander Levin Graf v. Bennigsen, Alexander Freiherr v. Münchhausen, Johann Karl Bertram Stüve, Georg Theodor Meyer und Ludwig Windthorst, 16 angeführt wurde; sie leisteten energischen Widerstand gegen die monarchisch-autoritäre Ausgestaltung der Staatsverfassung und forderten die Wiederherstellung der Verfassungsnovelle von 1848. Ihr Ausschluss aus der Kammer aufgrund einer rechtlich nicht haltbaren Auslegung des Beamtengesetzes verhalf der liberalen Opposition unter Rudolf v. Bennigsen 17 zum Durchbruch. Die reaktionären Verfassungszustände der Jahre 1855 – 1859 bewirkten, dass gerade „in Hannover der nationale Liberalismus neu erstarkte und daß der Nationalverein von hier seinen Ausgang nahm“. 18 Der Nationalverein 19 hatte sich das Ziel gesetzt, unter Anknüpfung an die kleindeutsch-erbkaiserliche Lösung der Frankfurter Verfassung von 1849 deutsches Nationalbewusstsein zu wecken und zu stärken und auf die deutsche Einigung unter preußischer Führung hinzuwirken. Die hannoverschen Mitglieder des Vereins erwarteten von der Einigung Deutschlands unter der Führung eines liberalen Preußen, wie es sich in der „Neuen Ära“ des liberal-konservativen Ministeriums Hohenzollern-Auerswald darstellte, eine Rückwirkung auf ihren Heimatstaat, insbesondere die Behebung der verfassungsrechtlichen Missstände und die Erweiterung des persönlichen Freiheitsraumes. Damit wurde nicht nur die Verbindung zwischen liberalen Forderungen und nationalen 16 Über Windthorst zuletzt: Margaret L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegner Bismarcks, Düsseldorf 1988. Hans-Georg Aschoff, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation. Das politische Wirken Ludwig Windthorsts, Sögel 1988. Ders./Heinz-Jörg Heinrich (Bearb.), Ludwig Windthorst. Briefe, 2 Bde. Paderborn u. a. 1995/2002. Helmut Lensing, Ludwig Windthorst. Neue Facetten seines politischen Wirkens, Haselünne 2011. Rüdiger Drews, Ludwig Windthorst. Katholischer Volkstribun gegen Bismarck. Eine Biografie, Regensburg 2011. 17 Über Bennigsen: Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen, ein deutscher liberaler Politiker, nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren, 2 Bde. Stuttgart/Leipzig 1910. Dieter Brosius, Rudolf von Bennigsen als Oberpräsident der Provinz Hannover 1888–1897, Hildesheim 1964. Der Nationalliberalismus in seiner Epoche. Rudolf von Bennigsen, hrsg. v. der Rudolf von Bennigsen-Stiftung. Baden-Baden 1981. Jörg-Detlef Kühne, Karl Wilhelm Rudolf von Bennigsen (1824–1902), in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie, Göttingen 2003, 241–245. 18 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 217. 19 Shlomo Na’aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1867, Düsseldorf 1987.

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Bestrebungen geschaffen, sondern auch die Sympathien für Preußen gestärkt, was sich 1866 katastrophal auswirken sollte. 3. HANNOVER IM KONFLIKT ZWISCHEN PREUSSEN UND ÖSTERREICH Georg V. und sein Außenminister Adolf Graf v. Platen-Hallermund hatten ursprünglich die hannoversche Außenpolitik auf einen mittleren Kurs zwischen den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen festzulegen versucht, wenn auch die persönlichen Sympathien des Königs und der Mehrheit seiner Minister beim Habsburger Reich lagen. 20 „Im Gegensatz zu seinem preußenfreundlich gesinnten Vater“ war Georgs V. Haltung „von einer bis an Radikalität grenzenden Abneigung gegen alles Preußische gekennzeichnet“. 21 Leitlinien seiner Außenpolitik waren das Festhalten am Deutschen Bund und die Sicherung der Bundesverfassung, die ein Höchstmaß an einzelstaatlicher Souveränität zu garantieren schien. Der deutschen Einheitsidee stand er verständnislos gegenüber. Das Ansinnen, der König von Hannover solle einen Teil seiner Souveränitätsrechte zugunsten einer fremden Vormacht oder einer Volksvertretung aufgeben, „erschien ihm geradezu als Sakrileg“. 22 Als sich die Beziehungen zwischen Preußen und Österreich in den Jahren 1865/66 verschlechterten, war man sich im hannoverschen Außenministerium der Gefahr eines Krieges zwischen beiden Großmächten bewusst; die spätere Option für Österreich, das nach Bekanntgabe des Bismarckschen Antrags auf Reform des Deutschen Bundes in besonderem Maße als Bewahrer der Bundesverfassung auftrat, war allerdings nicht von Anfang an gegeben. 23 Insbesondere wollte v. PlatenHallermund die Konflikte mit Preußen möglichst gering halten, während die militärische Führung Hannovers eine eindeutige Neigung zu Österreich zeigte. Platens Einschwenken auf einen „preußenfeindlichen“ Kurs war nicht zuletzt der Rücksicht auf die politischen Vorstellungen Georgs V. und dessen persönlichen Sympathien für Österreich sowie dem Glauben an einen möglichen Sieg der Habsburger Monarchie und die daraus resultierenden Territorialgewinne für Hannover geschuldet. So brach Hannover im Mai 1866 die Neutralitätsverhandlungen mit Preußen ab;

20 Vgl. Fredy Köster, Hannover und die Grundlegung der preußischen Suprematie in Deutschland 1862–1864, Hildesheim 1978. Ders., Das Ende des Königreichs Hannover und Preußen. Die Jahre 1865 und 1866, Hannover 2013. 21 Jürgen Krüger, Blindheit und Königtum (wie Anm. 14), 125. 22 Mijndert Bertram, Das Königreich Hannover (wie Anm. 1), 101. 23 Fredy Köster, Das Ende des Königreichs Hannover (wie Anm. 20), 68–109.

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dies geschah in der Überzeugung, dass die unbewaffnete Neutralität Preußen eindeutig begünstigte und gleichbedeutend mit einer „unwiderruflichen Hinnahme der preußischen Hegemonie“ zumindest im nördlichen Deutschland war. 24 Georg V. glaubte, Neutralitätsbestrebungen jeglicher Art aufgrund der preußischen Sommation vom 15. Juni aufgeben zu müssen; diese Sommation forderte in ultimativer Form ein Bündnis mit Preußen, die Reduzierung der hannoverschen Streitkräfte auf den Friedensstand sowie die Unterstützung der preußischen Bundesreformpläne und die Anerkennung des preußischen Oberbefehls über die Truppen der verbündeten Staaten. Die Ablehnung des Ultimatums, die Georg V. mit den Worten rechtfertigte, als „Christ, Monarch und Welf“ könne er nicht anders handeln, 25 bedeutete die Entscheidung für Österreich; sie zog die preußische Kriegserklärung nach sich und führte letztlich zum Verlust der hannoverschen Eigenstaatlichkeit. Am Vorabend des Deutschen Krieges beging Georg V. den folgenschweren Fehler, kein formelles Bündnis mit Österreich abzuschließen und sich auch nicht mit den süddeutschen Staaten auf eine gemeinsame Strategie zu verständigen, während man in den Kriegszustand mit Preußen hineingeriet. 26 Nach der Kriegserklärung rückten von Minden und Harburg her die preußischen Truppen auf die Landeshauptstadt zu. 27 General Eduard Vogel von Falckenstein, dem als Kommandeur des preußischen VII. Armeekorps das Amt des Militärbefehlshabers und damit die Regierungs- und Verwaltungshoheit in den besetzten Gebieten zukam, veröffentlichte am 19. Juni eine Bekanntmachung über die Errichtung der Militärregierung in Hannover. Danach wurden die hannoverschen Minister, mit Ausnahme des Ministers des Königlichen Hauses, ihrer Funktion enthoben und die Geschäftsführung der Ministerien den jeweiligen Generalsekretären übertragen. Die Verwaltung sollte unverändert nach den hannoverschen Gesetzen und Bestimmungen fortgeführt werden und die Beamten in ihren Stellen verbleiben. 28 Neben den Militärbefehlshaber trat als Leiter der engeren Verwaltungsgeschäfte der Zivilkommissar Hans Freiherr v. Hardenberg. Am 28. Juli 1866 übernahm General Konstantin Bernhard v. Voigts-Rhetz als Generalgouverneur anstelle des Militärbefehlshabers die oberste Gewalt in Hannover. 29 Während des Einmarsches der preußischen Truppen ins Königreich Hannover begab sich Georg V. zusammen mit dem Kronprinzen Ernst August nach Göttingen,

24 Dieter Brosius, Georg V. von Hannover (wie Anm. 12), 282. Fredy Köster, Das Ende des Königreichs Hannover (wie Anm. 20), 128–138. 25 Nicolas Rügge, Von der Märzrevolution (wie Anm. 1), 274. 26 Fredy Köster, Das Ende des Königreichs Hannover (wie Anm. 20), 138–155. 27 Ernst Pitz, Deutschland und Hannover im Jahre 1866, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 38/1966, 86–158, hier 113–117. Hans-J. Schmidt-Stein, Der Verwaltungsvollzug der Annexion Hannovers durch Preußen – einzelne Aspekte, Hannover 2005. 28 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat. Annexion und administrative Integration 1866-1868, Hildesheim 1983, Nr. 1, 187f. 29 Hans-J. Schmidt-Stein, Der Verwaltungsvollzug der Annexion Hannovers durch Preußen (wie Anm. 27), 15f.

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wo sich die hannoversche Armee sammelte, um von hier nach Süden zu marschieren und sich mit den süddeutschen Bundestruppen zu vereinigen. Allerdings hatte eine vorherige Koordination mit den süddeutschen Verbündeten nicht stattgefunden. Insgesamt kennzeichneten die hannoversche Kriegsführung „Planlosigkeit und Organisationsmängel“; 30 die Armee war unzulänglich ausgerüstet. Am 21. Juni brach das Heer von Göttingen auf; es bestand aus 20.600 Mann, davon 13.000 Mann Infanterie, 2.200 Mann Kavallerie, 1.000 Mann Artillerie mit 52 Geschützen, 2.000 unausgebildeten Rekruten sowie Train und Pioniere. 31 Gegen den Widerstand hoher Militärs suchte der auf die „Waffenehre“ bedachte König den offenen Kampf. Die am 27. Juni bei Langensalza in Thüringen gegen die verbündeten preußischen und gothaischen Truppen ausgetragene Schlacht, die erste größere militärische Auseinandersetzung auf dem westlichen Kriegsschauplatz während des Deutschen Krieges, galt als „Sieg“ Hannovers, obwohl dessen Armee in der Nacht zum 29. Juni, z. T. bedingt durch die Erschöpfung der Soldaten und Munitionsknappheit, kapitulieren musste. Der „preußisch-hannoversche Krieg“ hatte lediglich anderthalb Wochen gedauert. Die hannoversche Armee hatte mit 378 Toten und 1501 Verwundeten weit höhere Verluste erlitten als die gegnerische Seite, die 196 Tote und 634 Verwundete zu beklagen hatte. 32 Viele Soldaten verloren ihr Leben nicht durch feindliche Kugeln, sondern starben an Wundinfektion infolge der „himmelschreienden Missstände bei der Versorgung der Verwundeten“. 33 Beide Seiten hatten sich bemüht, der Zivilbevölkerung so wenig Schaden wie nur möglich zuzufügen. Gemäß der Kapitulationsvereinbarung mussten die hannoverschen Unteroffiziere und Mannschaften ihre Waffen niederlegen und wurden in die Heimat entlassen. Die Offiziere hatten sich auf Ehrenwort zu verpflichten, nicht mehr gegen Preußen zu kämpfen. Nachdem Georg V. den hannoverschen Offizieren am 24. Dezember 1866 die Möglichkeit eingeräumt hatte, ihren Abschied zu beantragen, trat die Mehrheit (60 Prozent) des aus knapp 800 Personen bestehenden hannoverschen Offizierskorps in die preußische Armee ein und wurde fast ausschließlich den altpreußischen Regimentern zugewiesen; der Rest ließ sich pensionieren oder nahm andere Dienste an, wobei der hannoversche Adel die sächsische Armee bevorzugte. 34 Für königstreue Hannoveraner galt die Schlacht von Langensalza in den

30 Nicolas Rügge, Von der Märzrevolution (wie Anm. 1), 275. 31 Ernst Schubert, 1866 und die Folgen: Die Schlacht von Langensalza und der Untergang des Königreichs Hannover, in: Arne G. Drews (Hrsg.), Der lange Abschied. Das Ende des Königreichs Hannover 1866 und die Folgen, Göttingen 2009, 10–32, hier 16. 32 Nicolas Rügge, Von der Märzrevolution (wie Anm. 1), 275. 33 Ernst Schubert, 1866 und die Folgen (wie Anm. 31), 20. 34 Klaus-Dieter Kaiser, Die Eingliederung der ehemals selbständigen norddeutschen Truppenkörper in die preußische Armee in den Jahren nach 1866, Phil. Diss. FU Berlin. Berlin 1972, 40–56. Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 158–168. Hans-J. Schmidt-Stein, Der Verwaltungsvollzug der Annexion Hannovers durch Preußen (wie Anm. 27), 121–138.

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Folgejahren als Ruhmesblatt der hannoverschen Armee; für sie war es „ein letztes siegreiches Aufbäumen gegen den überlegenen Nachbarstaat“. 35 4. DIE ANNEXION HANNOVERS DURCH PREUSSEN Die Annexion der norddeutschen Staaten Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt durch Preußen rundete infolge der territorialen Verbindung der Ostprovinzen mit dem Rheinland das preußische Staatsgebiet ab und brachte damit eine der wesentlichen raumpolitischen Entwicklungslinien des Hohenzollernstaates zum Abschluss. 36 Obwohl man schon vor 1866 in preußischen Regierungskreisen die Möglichkeit einer Annexion Hannovers oder Teile davon nicht für ausgeschlossen hielt, darf es als gesichert gelten, dass Bismarck als Leiter der preußischen Politik noch kein festes Annexionsprogramm hatte. Erst im Laufe des Juli nach dem preußischen Sieg über Österreich bei Königgrätz (3. Juli 1866) entschied er sich unter dem Eindruck der für Preußen günstigen politischen Gesamtlage für die Vollannexion Hannovers und der anderen norddeutschen Staaten. Neben der Rücksicht auf die Öffentliche Meinung in Preußen, die nach den überraschenden Siegen immer stärker auf territoriale Gewinne drängte, war für diesen Entschluss die Haltung der europäischen Großmächte, vor allem Frankreichs, entscheidend; Kaiser Napoleon III. suchte ein Ausgreifen der preußischen Macht über den Main hinaus zu verhindern, gestand aber Vollannexionen im Umfang von drei bis vier Millionen Einwohnern in Norddeutschland zu. Auch die anderen europäischen Großmächte zeigten kein reges Interesse an der Eigenstaatlichkeit Hannovers. Das durch den Krieg geschwächte Österreich war in erster Linie um die Wahrung der eigenen Großmachtstellung bemüht und setzte sich aus traditionellen und strategischen Gründen für die territoriale Integrität Sachsens ein. Großbritannien sah in einem starken Preußen ein Gegengewicht gegen Russland und Frankreich, die als Gegner seiner maritimen und kolonialen Interessen galten. Die weitgehende Isolation, in der sich Russland 1866 befand, und die Tatsache, dass Preußen der einzige mögliche Bündnispartner unter den europäischen Großmächten war, veranlassten das Zarenreich, von energischen Schritten zur Sicherung der Selbständigkeit Hannovers abzusehen, obwohl Zar Alexander II. wenigstens verbal gegen die Austilgung ganzer Dynastien opponierte. 37

35 Dieter Brosius, Niedersachsen. Das Land und seine Geschichte in Bildern, Texten und Dokumenten, Hamburg 2006, 168. 36 Hans Patze (Hrsg.), Staatsgedanke und Landesbewusstsein in den neupreußischen Gebieten (1866), Marburg/Ulm 1985. Hans-Georg Aschoff, Die preußische Annexion von Kurhessen, Schleswig-Holstein, Nassau und Frankreich 1866. Motive und Auswirkungen, in: Niedersachsen. Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Heimat und Natur seit 1895. Spezial 2/2016, 38–42. 37 Armin Reese, Die Haltung der auswärtigen Mächte zur Annexion Hannovers 1866, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 43/1971, 141–167. Vgl. auch Hans-Georg Aschoff, Was blieb von der Personalunion?, in: Katja Lembke (Hrsg.), Als die Royals aus Hannover kamen. Hannovers Herrscher auf Englands Thron, Dresden 2014, 264–275.

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Für Bismarck bedeuteten die Annexionen nicht nur eine politische, militärische und wirtschaftliche Machtsteigerung Preußens; sie bildeten eine wichtige Voraussetzung, um den Prozess der deutschen Einigung voranzutreiben. Die Einverleibung Hannovers erschien ihm vor dieser nationalen Zielsetzung als unumgänglich, weil sich hier zur Zeit des Deutschen Bundes ein ausgeprägtes Souveränitätsbewusstsein und eine proösterreichische Haltung geltend gemacht hatten, was sich bei kriegerischen Auseinandersetzungen zum Nachteil Preußens auswirken konnte. Auf heftigen Widerstand stießen die Annexionspläne bei König Wilhelm I. Die Beseitigung von Dynastien und ihrer Staaten widersprach seiner legitimistischen Auffassung und seinem Rechtsgefühl. Der preußische König war sich bewusst, dass ein derartiges „revolutionäres“ Vorgehen dem monarchischen Prinzip schadete und seinen eigenen Thron in Gefahr bringen konnte. Traditionellem Satisfaktionsdenken entsprechend forderte er von Österreich und dessen Bundesgenossen Gebietsabtretungen. Hinsichtlich Hannovers sprach er sich für eine Abtretung der Fürstentümer Göttingen und Ostfriesland oder eine radikale Verkleinerung auf ein Gebiet um Hannover und Celle aus. 38 In den dramatischen Auseinandersetzungen am 24. und 25. Juli gelang es Bismarck, mit Hilfe des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm den König zum Verzicht auf Gebietsabtretungen Österreichs und der süddeutschen Staaten zu bewegen und seine Zustimmung zu Vollannexionen in Norddeutschland zu erlangen. Noch einmal stießen in der Kronratssitzung vom 15. August nach der Intervention des Zaren die gegensätzlichen Ansichten über die Frage der Annexionen aufeinander. Der König wich vor der Argumentation Bismarcks, der Minister und des Kronprinzen zurück, die sich auf die Öffentliche Meinung und die Stimmung der siegreichen Armee beriefen. Wilhelm I. setzte lediglich durch, dass dem Haus Hannover die Sukzession im Herzogtum Braunschweig nach dem Erlöschen der dort regierenden älteren Welfenlinie vorbehalten blieb. 39 Im Prager Frieden (23. August) garantierte Preußen den Territorialbestand des Habsburgerstaates, während Österreich der Auflösung des Deutschen Bundes sowie den Territorialveränderungen in Norddeutschland und der Gründung eines unter preußischer Führung stehenden Norddeutschen Bundes zustimmte. 40 Bismarcks Auffassung fand Eingang in die königliche Botschaft vom 16. August 1866 an die beiden Häuser des preußischen Landtages, in der König Wilhelm I. seinen Entschluss zur Annexion des Königreiches Hannover, des Kurfürstentums Hessen, des Herzogtums Nassau und der Freien Reichsstadt Frankfurt bekannt gab. Am 7. September nahm das preußische Abgeordnetenhaus mit 273 zu 14 Stimmen 38 Werner Leffler, Ursachen und Anfänge der Deutschhannoverschen (welfischen) Bewegung 1866–1870, Wismar 1932, 15f. 39 Text: Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 15. August 1866, in: Hans Philippi , Preußen und die braunschweigische Thronfolgefrage 1866-1913. Hildesheim 1966, 187–190. Ernst Engelberg, Bismarck, Bd.1: Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985, 603– 621. Otto Pflanze, Bismarck, Bd. 1: Der Reichsgründer, München 1997, 315–321. 40 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 576f. Text: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Stuttgart u. a. 1986, Nr. 185, 249–252.

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und am 11. September das Herrenhaus mit allen gegen eine Stimme das Annexionsgesetz an. 41 Danach sollte bis zum Inkrafttreten der preußischen Verfassung in den annektierten Gebieten am 1. Oktober 1867 ein zeitlich begrenztes Übergangsstadium, eine „Periode königlicher Diktatur“, gelten; während dieser Zeit war die Regierung befugt, ohne Beteiligung des Landtages auf dem Verordnungsweg die notwendigen Assimilierungsmaßnahmen zu treffen. Der Abstimmung im Abgeordnetenhaus waren erregte Debatten vorausgegangen, in denen Vertreter der katholischen Fraktion und der Linken das Eroberungsrecht als unmoralisch angegriffen und zumindest eine Volksabstimmung als Korrektiv gefordert hatten. Die preußischen Konservativen standen vor einer Zerreißprobe, weil sie sich zwischen einem legitimistischen Rechtsstandpunkt und der Loyalität gegenüber dem preußischen König entscheiden mussten. 42 Am 20. September vollzog Wilhelm I. das Gesetz. Das Patent vom 3. Oktober, das die Besitznahme und Einverleibung der annektierten Länder verfügte, wurde am 6. Oktober in Hannover verkündet. 43 Die oberste Verwaltung der neuen Provinz blieb weiterhin in den Händen General VoigtsRhetz‘, der neben den militärischen Funktionen als Oberbefehlshaber das Amt des Ziviladministrators mit den Befugnissen eines Oberpräsidenten vereinigte. Hardenberg blieb ihm als Zivilkommissar direkt unterstellt. Die noch bestehenden Departementsministerien wurden als Abteilungen dem Generalgouvernement eingegliedert. Eine der ersten Unifikationsmaßnahmen war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (13. Oktober 1866). 44 5. GEORG V. NACH DER SCHLACHT VON LANGENSALZA Neben der Legitimität und Legalität des preußischen Vorgehens 45 hat die Frage nach der Abwendung der Annexion sowohl bei den Zeitgenossen als auch in der wissenschaftlichen Literatur teilweise leidenschaftliche Kontroversen ausgelöst. Wenn auch die Gründe der Einverleibung Hannovers in erster Linie in den Zielset-

41 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 35, 271f. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 577– 585. 42 Heide Barmeyer, Bismarck, die Annexionen und das Welfenproblem 1866-1890. Der unvollendete nationale Verfassungsstaat in Verteidigung und Angriff, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 48/1976, 397–432, hier 406f., 411–416. 43 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 39, 282f. 44 Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 160. 45 Heide Barmeyer, Bismarck, die Annexionen und das Welfenproblem 1866–1890 (wie Anm. 42), 410-422. Stephan Verosta, Die Völkerrechtswidrigkeit der Annexion Hannovers durch Preußen 1866, in: Dieter Blumenwitz/Albrecht Randelzhofer. (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Berber zum 75. Geburtstag, München 1973, 523–548. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 580–583.

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zungen der preußischen Politik lagen, so trug die Haltung Georgs V. nach Kriegsbeginn mit zur Auflösung seines Staates bei. U. a. legten Königin Marie und der englische Gesandte in Hannover, Sir Charles Wyke, Georg nach den Schlachten von Langensalza und Königgrätz nahe, Verhandlungen mit Preußen einzuleiten; er sollte eine mögliche Verständigung nicht durch eine Reise nach Wien gefährden, sondern seinen Aufenthalt in der Nähe des Landes nehmen. 46 Georg lehnte Verhandlungen mit Preußen ab; v. Platen-Hallermund bestärkte ihn in dieser Haltung und empfahl in Verkennung der politischen Lage die Fortsetzung der engen Anlehnung an Österreich und Frankreich. Der König begab sich Ende Juli nach Wien, um den Friedensverhandlungen näher zu sein und die österreichische Regierung um Verwendung für sein Land zu bitten. Diese Unterstützung blieb ihm allerdings versagt. „Nun rächte es sich, dass man kein förmliches Bündnis mit Österreich eingegangen war“. 47 Während sich Kaiser Franz Joseph erfolgreich für den Fortbestand des Königreiches Sachsen einsetzte, zeigte man kein Interesse an der Weiterexistenz Hannovers. Georgs Gesuch um Aufnahme von Friedensverhandlungen, das er am 27. Juli nach dem Präliminarfrieden von Nikolsburg an den preußischen König richtete, 48 wurde nicht mehr beantwortet. Er musste sich auf einen an alle europäischen Höfe gesandten Protest gegen die Annexion als „verbrecherischen und verabscheuungswürdigen Raub“ und als Verletzung „aller Grundsätze des Völkerrechts“ beschränken. 49 In dem Bestreben, alles Mögliche zur Sicherung der Eigenständigkeit und territorialen Integrität seines Staates zu unternehmen, befand sich Georg V. vermutlich in Übereinstimmung mit der Mehrheit der hannoverschen Bevölkerung. Wesentliche Voraussetzungen für das Ende des Königreiches hatte er selbst durch seine autokratische Regierungsweise und reaktionäre Innenpolitik geschaffen, die die hannoversche Bevölkerung spaltete, die Monarchie diskreditierte und seine eigene Herrschaft schwächte. Erfolglos blieben auch Versuche von Vertretern der hannoverschen Aristokratie, durch Erklärungen und persönliche Vorstellungen beim preußischen König und bei Bismarck die Annexion abzuwenden. Dazu gehörten die Besuche von Georg Herbert Graf zu Münster, dem Erblandmarschall im Königreich Hannover, und einer ritterschaftlichen Deputation in der preußischen Hauptstadt sowie eine von Münster initiierte und von über 200 Rittergutsbesitzern unterzeichnete Erklärung, die jedoch auf Veranlassung der preußischen Besatzungsbehörden hin zurückgezogen werden musste. 50 46 Vgl. Geoffrey Malden Willis (Hrsg.), Hannovers Schicksalsjahr 1866 im Briefwechsel König Georgs V. mit der Königin Marie, Hildesheim 1966, 55–66. 47 Mijndert Bertram, Das Königreich Hannover (wie Anm. 1), 128. 48 Text: William v. Hassell, Geschichte des Königreichs Hannover, Bd. 2, 2. Abt.: Von 1863 bis 1866, Leipzig 1901, Beilage V. 49 Text des Protestes Georgs V. vom 23. Sept. 1866: Wilhelm Hopf (Hg.), Die deutsche Krisis des Jahres 1866. Hannover ³1906, 421–429, hier 428. 50 Winfried Sühlo, Georg Herbert Graf zu Münster. Erblandmarschall im Königreich Hannover. Ein biographischer Beitrag zur Frage der politischen Bedeutung des deutschen Uradels für die Entwicklung vom Feudalismus zum industriellen Nationalstaat, Hildesheim 1968, 98–101.

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6. DIE HALTUNG DER BEVÖLKERUNG NACH DER ANNEXION Die Stimmung der Bevölkerung blieb unmittelbar nach der preußischen Besetzung des Königreiches Hannover nicht zuletzt als Folge politischer Lethargie ruhig und gefasst. 51 Erst der Ausgang der Schlachten von Langensalza und Königgrätz, die durch den Krieg bedingten wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie die andauernde Ungewissheit über die Zukunft führten zu Menschenansammlungen und Zusammenstößen mit den preußischen Ordnungskräften. Spontan entstand eine Reihe von Hilfs- und Unterstützungskomitees für die verwundeten hannoverschen Soldaten und ihre Hinterbliebenen; sie wurden von Honoratioren vor Ort koordiniert, traten in Beziehung zu einem zentralen Unterstützungskomitee in der Stadt Hannover und bildeten ein flächendeckendes Netzwerk, das unter den Einfluss der hannoverschen Opposition geriet. 52 Vor allem in der ehemaligen Landeshauptstadt herrschte eine erregte Stimmung, die durch die Anwesenheit der Königin Marie im Schloss Herrenhausen und ihr demonstratives Verhalten gefördert wurde. Auch als die Königin einige Zeit später auf die Marienburg südlich von Hannover übersiedelte und damit weiterhin den Anspruch der Dynastie auf das Königreich unterstrich, galt sie für die preußische Seite als Zentrum oppositioneller Agitation; der preußische Druck und die Schikanen ihr gegenüber verstärkten sich, so dass Marie im Juli 1867 die Marienburg verließ und sich zu Georg V. nach Hietzing begab, einem Wiener Vorort, wo der König in der Villa seines Vetters Herzog Wilhelm von Braunschweig vorübergehend Unterkunft gefunden hatte. 53 Auch in Celle und Lüneburg kam es in der zweiten Julihälfte 1866 zu spontanen Demonstrationen und Ausschreitungen, gegen die preußisches Militär und die Polizei einschreiten mussten. Als sich die Annexion immer deutlicher abzeichnete, äußerte sich der Unwille gegen Preußen in plan- und zusammenhanglosen Einzelhandlungen, wie das Absingen von Spottliedern, Drohbriefe an Anschlussfreudige, der Gebrauch von gelb-weißen Fahnen usw., ohne dass sich Spuren organisierter Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 17–26, bes. 20f.; Text der Erklärung der Ritterschaftsmitglieder vom 3. August 1866, in: ebd.: Nr. 12, 221f. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 28f. 51 Ernst Pitz, Deutschland und Hannover im Jahre 1866 (wie Anm. 27), 120–135. Heide Barmeyer, Annektion und Assimilation. Zwei Phasen preußischer Staatsbildung, dargestellt am Beispiel Hannovers nach 1866, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 45/1973, 303–336, hier 306–313. 52 Arne G. Drews, 1866: Widerstand in einem besetzten Land, in: Arne G. Drews (Hrsg.), Der lange Abschied. Das Ende des Königreichs Hannover 1866 und die Folgen (wie Anm. 31), 63– 69, hier 65f. 53 Alexander Dylong, Hannovers letzter Herrscher (wie Anm. 12), 192. Vgl. auch Geoffrey Malden Willis (Hrsg.), Hannovers Schicksalsjahr 1866 im Briefwechsel König Georgs V. mit der Königin Marie (Anm. 46). Über Königin Marie: Anna E. Röhrig, An der Seite des blinden Königs. Königin Marie von Hannover (1818-1907), in: Elisabeth E. Kwan/Anna E. Röhrig, Vergessene Frauen der Welfen, Göttingen 2008, 148–159. Alexander Dylong, Marie, Königin von Hannover. Die Frau an der Seite König Georgs V., Göttingen 2018.

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Konspiration finden ließen. Die Androhung des Kriegsrechtes trug zur Eindämmung öffentlicher Kritik bei. 54 Deutlichen Ausdruck fand der Widerwille breiter Bevölkerungsschichten gegen die Einverleibung des Königreiches in einer Reihe von Resolutionen; zu ihnen gehörte eine Petition mit 30 000 Unterschriften 55 und ein Protest an die Großmächte mit mehreren zehntausend Unterschriften nach der Verkündigung der Annexion.56 Demgegenüber stand seit Anfang August eine Reihe von Resolutionen aus dem handel- und gewerbetreibenden Bürgertum, die um eine Vereinigung mit Preußen baten und die neue politische Ordnung begrüßten. 57 7. DER PARTEIPOLITISCHE DUALISMUS IN DER PROVINZ HANNOVER a. Die Nationalliberalen Die Eingliederung Hannovers in das Königreich Preußen führte zu einer Polarisierung der hannoverschen Bevölkerung in Annexionsfreunde und -gegner und trug mit zu dem parteipolitischen Dualismus bei, der das Parteiensystem der Provinz während der ganzen Bismarckzeit kennzeichnete. 58 Die Stellung zur neuen politischen Ordnung war das Hauptunterscheidungsmerkmal der beiden großen hannoverschen Wählergruppen, die sich bei den Wahlen zum Norddeutschen Konstituierenden Reichstag im Februar 1867 bildeten und die sich später als Nationalliberale Partei und Deutschhannoversche Partei (DHP) gegenüberstanden. Gerade bei diesen ersten Wahlen bestand der Unterschied zwischen beiden politischen Gruppierungen nicht primär im Gegensatz von liberal und konservativ, sondern von regierungsfreundlich und oppositionell. Diese parteipolitische Frontenbildung lässt sich in ihren Ansätzen in die Zeit des Königreiches zurückverfolgen. Im preußenfreundlichen Lager befanden sich die Befürworter der neuen politischen Ordnung. Unter der Führung Rudolf v. Bennigsens und des Osnabrücker Bürgermeisters Johannes Miquel 59 schlossen sich Personen zusammen, die in hannoverscher Zeit die liberale

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Arne G. Drews, 1866: Widerstand in einem besetzten Land (wie Anm. 52), 67. Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 21. Arne G. Drews, 1866: Widerstand in einem besetzten Land (wie Anm. 52), 63, 93. Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 9, 215f.; Nr. 34, 269–271; Nr. 36, 272–275; Nr. 45, 297f. 58 Hans-Georg Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des 1. Weltkrieges (1866/71– 1918), in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 1), 283–382, hier 291–296, 336–350. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 42–64. 59 Hans Herzfeld, Johannes von Miquel. Sein Anteil am Ausbau des Deutschen Reiches bis zur Jahrhundertwende, 2 Bde. Detmold 1938. Thorsten Kassner, Der Steuerreformer Johannes von Miquel. Leben und Werk. Zum hundertsten Todestag des preußischen Finanzministers. Ein Beitrag zur Entwicklung des Steuerrechts, Osnabrück 2001. Jürgen Vortmann, Johannes von

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Opposition gegen die Regierung gebildet hatten und als Mitglieder des Nationalvereins für die kleindeutsche Einigung eingetreten waren. Während die Bundesreformpläne Bismarcks und die bundesstaatliche Einigung unter preußischer Führung von den hannoverschen Liberalen nach dem Ausbruch des Krieges im Sommer 1866 im Allgemeinen begrüßt wurden, waren sie in der Frage der Annexion Hannovers anfangs gespalten. Ein Teil, unter ihnen Bennigsen, trat für die Erhaltung des Königreiches im Rahmen eines Bundesstaates ein; gewünscht wurde die Annexion Hannovers von der Mehrheit der Liberalen in Ostfriesland, Osnabrück und Hildesheim. Nachdem die Unabänderlichkeit der Annexion deutlich geworden war, zeichnete sich das liberale Lager durch das eindeutige Bekenntnis zur neuen politischen Ordnung aus. Die reaktionäre Politik unter Georg V. und das Scheitern von Liberalisierungsmaßnahmen erleichterten es den hannoverschen Liberalen, sich mit der Einverleibung des Königreiches durch Preußen abzufinden. Trotz Reserven gegenüber Preußen wegen der dortigen inneren Entwicklung trug die Priorität, die schon die hannoverschen Anhänger des Nationalvereins dem nationalen vor dem liberalen Gedanken eingeräumt hatten, dazu bei, den Kompromiss mit dem preußischen Staat und Bismarck zu schließen, in dem man den Vorkämpfer der deutschen Einigung sah. Ihre Anhängerschaft fanden die Liberalen vor allem in den städtischen gewerbe- und handeltreibenden Bevölkerungsgruppen. Darüber hinaus bildeten die Gebietsteile, die erst im 18. und 19. Jahrhundert an Hannover gefallen waren und in denen schon vor 1866 die liberale Opposition stark gewesen war, ihre Hauptstützpunkte. So war der Landdrosteibezirk Stade, der aus den früheren Herzogtümern Bremen und Verden sowie aus dem Land Hadeln bestand und wo die Partei trotz ihres bürgerlichen Charakters an dem an freiheitlichen, beinahe republikanischen Traditionen reichen Bauerntum der Weser- und Elbemarschen einen festen Rückhalt gewann, eine ihrer Hochburgen. In den ehemaligen Fürstentümern Hildesheim und Osnabrück konnte sich die Partei vor allem auf die protestantische Bevölkerung stützen. 60 Einen Sonderfall stellte Ostfriesland dar, das erst 1815 von Preußen abgetreten und dessen Integration in den hannoverschen Staatsverband aufgrund des ausgeprägten provinziellen Bewusstseins sowie durch eine ungeschickte Beamten-Personalpolitik behindert worden war. Hier kam im Sommer 1866 der von der Mehrheit der Bevölkerung getragene Wunsch nach Annexion am deutlichsten zum Ausdruck. Darüber hinaus entstand eine Bewegung, die aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen die Trennung Ostfrieslands von der Provinz Hannover und seinen Anschluss zusammen mit dem Emsland an die Provinz Westfalen zu erreichen suchte. Diese Anschlussfrage führte zu einer Spaltung der ostfriesischen Liberalen, von denen ein

Miquel, in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen (wie Anm. 17), 246–251. 60 Bernhard Ehrenfeuchter, Politische Willensbildung in Niedersachsen zur Zeit des Kaiserreiches. Ein Versuch auf Grund der Reichstagswahlen von 1867 bis 1912, insbesondere seit 1890, 2 Bde. Phil. Diss. Göttingen 1951 (Masch.schr.), hier Bd. 1, 265–271.

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Teil weiterhin für die Zugehörigkeit zur Provinz Hannover eintrat. Die Wahlen bedeuteten einen Sieg der Anschlussfreunde; ihre Pläne scheiterten jedoch hauptsächlich am Widerstand Bismarcks und des preußischen Staatsministeriums. Dennoch blieb Ostfriesland seit dem Sommer 1867 eine Hochburg der Nationalliberalen Partei. 61 b. Die hannoversche Opposition Die Anhänger des oppositionellen Lagers lehnten die preußische Politik in weiten Bereichen, insbesondere die Annexion des Königreiches Hannover, aus unterschiedlichen Gründen ab. 62 Die außerordentlich heterogene Oppositionsbewegung umfasste Konservative, Großdeutsche, Katholiken, z. T. Arbeiter der Richtung Lassalles und Anhänger eines demokratischen Liberalismus, die befürchteten, dass das mit dem Stigma des Verfassungsbruchs belastete Preußen eine liberale Ausgestaltung des neuen Bundesstaates verhinderte. Den eigentlichen Kern dieser Opposition stellten die „Welfen“ dar, wie sie mit Bezug auf die entthronte hannoversche Dynastie von ihren Gegnern genannt wurden. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem der hannoversche Adel, Teile der alten hannoverschen Beamtenschaft und der orthodoxen lutherischen Geistlichkeit sowie der Handwerkerschaft und der ländlichen Bevölkerung hauptsächlich in den altwelfischen Stammlanden. Auf der welfischen Seite standen auch die hannoverschen Altliberalen, die zur Zeit des Königreiches für den Ausbau des Konstitutionalismus gekämpft, aber auf der Eigenstaatlichkeit Hannovers bestanden hatten und deren bekanntester Vertreter der ehemalige Märzminister Johann Carl Bertram Stüve war. Zu den Gründen, die diese Bevölkerungsschichten zur Ablehnung der Annexion und zur Opposition gegen die preußische Regierung führten, zählten neben konservativer und legitimistischer Gesinnung und der Verletzung des hannoverschen Selbstgefühls vor allem die Einführung der drei-

61 Aloys Schulte/Eduard Schulte, Der Plan der Angliederung von Ostfriesland, Emsland und Osnabrück an die Provinz Westfalen 1866–1869, in: Hermann Aubin/Eduard Schulte (Hrsg.), Der Raum Westfalen, Bd. II,2: Untersuchungen zu seiner Geschichte und Kultur, Berlin 1934, 161– 209. Heinrich Schmidt, Politische Geschichte Ostfrieslands (Ostfriesland im Schutze des Deiches 5), Leer 1975, 424–435. 62 Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 45–52. Werner Leffler, Ursachen und Anfänge der Deutschhannoverschen (welfischen) Bewegung 1866–1870 (wie Anm. 38), bes. 87–97. Hans Prilop, Die Vorabstimmung in Hannover. Untersuchungen zur Vorgeschichte und Geschichte der Deutsch-hannoverschen Partei im preußisch-deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Phil. Diss. Hamburg 1954, bes. 103–176. Evan Burr Bukey, The Guelph Movement in Imperial Germany 1866–1918, Ann Arbor Mich 1970. Stewart A. Stehlin, Bismarck and the Guelph Problem 1866– 1890. A Study in Particularist Opposition to National Unity, Den Haag 1973. Torsten Riotte, „Seiner Majestät allergetreueste Opposition“. Welfische Bewegung und politische Sprache in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 82/2010, 411–438.

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jährigen Wehrpflicht, die im Gegensatz zu dem bis dahin geltenden Stellvertretersystem stand, außerdem Härten während der Besatzungszeit, wie die hohe Einquartierungslast, Verhaftungen und Entlassungen aus dem Staatsdienst, und die von der preußischen Regierung durchgeführten Unifikationsmaßnahmen, durch die hannoversche Einrichtungen den preußischen angeglichen werden sollten. Der Grund für den Anschluss des Adels an die Oppositionsbewegung, deren Führung er in den folgenden Jahren übernahm, lag nicht in erster Linie in der Furcht vor sozialer Nivellierung und dem Verlust einträglicher Staatsämter, wie die preußischen Gegner behaupteten; seine Opposition ergab sich in starkem Maße aus ideellen und Gefühlswerten, wie die Verletzung des Rechtsbewusstseins, Abneigung gegen das „Preußische“ sowie Anhänglichkeit an den Eigenstaat, in dem er lange Zeit ein wichtiges Mitbestimmungsrecht besessen hatte, und Treue zum Königshaus. 63 Während die orthodoxe lutherische Geistlichkeit glaubte, die hannoversche Landeskirche könne durch eine Vereinigung mit der Kirche der preußischen Union ihre Selbständigkeit verlieren, befürchteten große Teile der Beamtenschaft Entlassung, Versetzung oder geringere Besoldung. Für die Bauern brachte die preußische Herrschaft eine Erhöhung der Steuern, während die Handwerker befürchteten, durch die Konkurrenz der in Preußen weiter als im Hannoverschen fortgeschrittenen Industrie und durch die Einführung der Gewerbefreiheit in Verarmung und Proletarisierung zu geraten. Eine Hochburg der welfischen Bewegung war die Stadt Hannover, wo Teile der Stadtbevölkerung nach dem Ende Hannovers als Residenzstadt wirtschaftliche Nachteile voraussahen und wo sich die Lassalleanische Arbeiterschaft aus Furcht vor dem durch die Annexion begünstigten Einströmen billiger Arbeitskräfte aus dem Osten und aus Abneigung gegen die Nationalliberalen als Vertreter der Unternehmer sowie des Besitz- und Bildungsbürgertums der welfischen Opposition anschloss. Die gemeinsame Gegnerschaft gegen die Nationalliberalen führte auch die Katholiken Hannovers der welfischen Bewegung zu. 64 Sie machten ungefähr ein Siebtel der Bevölkerung aus und stellten im Emsland, im Osnabrücker und Hildesheimer Raum sowie im Eichsfeld die Majorität oder eine beachtliche Minderheit dar. Die Ereignisse von 1866 lehnte die katholische Bevölkerung aufgrund ihrer großdeutschen Orientierung ab; die Annexion verwarf man als Rechtsbruch und aus Loyalität gegenüber dem Welfenhaus. Wollten die Katholiken bei Wahlen in Hannover Einfluss gewinnen, mussten sie sich wegen ihres geringen Bevölkerungsanteils mit anderen politischen Gruppierungen verbinden. Die Verbindung mit den Welfen bot sich deshalb an, weil die Nationalliberalen aufgrund ihrer kirchen- und kulturpolitischen Vorstellungen für Katholiken nicht wählbar waren, man mit den Welfen aber in der Abwehr von Säkularisierungsbestrebungen und im Ausbau des Föderalismus gemeinsame politische Ziele besaß. 63 Vgl. Marlis Sadeghi, Wilhelm Freiherr von Hammerstein (1808–1872). Ein hannoverscher Politiker in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Hannover 2012, 284–324. 64 Hans-Georg Aschoff, Der Kulturkampf in der Provinz Hannover, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 115/1979, 15–67, hier 20f. Ders., Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 49.

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Die Heterogenität der Oppositionsbewegung führte dazu, dass den Kandidaten zum Norddeutschen Konstituierenden Reichstag ein gemeinsames Programm fehlte; Vorbehalte gegen die neue politische Ordnung, die Forderung nach größtmöglicher Aufrechterhaltung hannoverscher wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Einrichtungen sowie das Auftreten gegen Zentralisierungstendenzen und das preußische Übergewicht im kleindeutschen Reich verbanden die unterschiedlichen Gruppierungen. Wichtige Initiativen zur Belebung und Organisation der Wahlbewegung gingen von hannoverschen Adligen und ehemaligen hohen Staatsbeamten aus, wie Alexander v. Münchhausen, Wilhelm v. Hammerstein, Alexander v. Rössing, Karl Erxleben, Karl Lichtenberg und Ludwig Windthorst. 65 Mangelnde Organisation, verspätet einsetzende Agitation und Unklarheiten über politische Ziele trugen zur unerwarteten Niederlage der Oppositionspartei in den Wahlen zum Norddeutschen Konstituierenden Reichstag bei, die unter großer Wahlbeteiligung stattfanden. Die Opposition erhielt knapp 130 000 Stimmen, während auf die regierungsfreundlichen Kandidaten, hauptsächlich die Nationalliberalen und die ostfriesischen Liberalen, 144 000 Stimmen entfielen. Von den 19 hannoverschen Wahlkreisen gewannen die oppositionellen Kandidaten nur neun. 66 Wegen ihres plebiszitären Charakters verdeutlichten die Wahlen, denen das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht der Männer zugrunde lag, dass ein halbes Jahr nach der Annexion die neue politische Ordnung von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannt worden war. 8. DIE HANNOVERSCHEN ABGEORDNETE IM NORDDEUTSCHEN KONSTITUIERENDEN REICHSTAG In dem am 24. Februar 1867 eröffneten Konstituierenden Reichstag 67 schlossen sich die oppositionellen welfischen Abgeordneten mit anderen neu- und nichtpreußischen, föderalistisch orientierten Abgeordneten in einer lockeren fraktionsähnlichen Vereinigung, dem „Bundesstaatlich-Konstitutionellen Verein“, zusammen und beteiligten sich aktiv an den Beratungen über den Entwurf der Bundesverfassung. 68 Ihre Änderungswünsche beinhalteten hauptsächlich die Aufnahme von 65 Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 51f., 64. 66 Über die Wahlen in der Provinz Hannover: Johannes Flathmann, Die Reichstagswahlen in der Provinz Hannover 1867–1896, Hannover 1897, hier 9–15. Günther Franz, Die politischen Wahlen in Niedersachsen 1867 bis 1949. Mit einem Anhang: Die Wahlen 1951 bis 1956, Bremen-Horn ³1957, hier 10–23. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 52–64. Vgl. auch Robert Leinert, Die ReichstagswahlErgebnisse in der Provinz Hannover 1867–1907, Hannover 1911. 67 Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867-1870, Düsseldorf 1985. Bernd Haunfelder/Klaus Erich Pollmann (Bearb.), Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867–1870. Historische Photographien und biographisches Handbuch, Düsseldorf 1989. 68 Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 64–74.

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Grundrechteartikeln, eine deutliche Umschreibung der Kompetenzen der Staatsorgane, die Verankerung der Ministerverantwortlichkeit, die Einrichtung eines Oberhauses und eines Bundesgerichtes für Verfassungsstreitigkeiten sowie die Sicherung des parlamentarischen Budgetrechtes. Die hannoversche Frage wurde im Reichstag nur einmal von Münchhausen aufgegriffen, der auf den verfassungslosen Zustand in der Provinz und die damit verbundenen Beschränkungen von Grundrechten hinwies. Ein formaler Protest gegen die Annexion wurde nicht erhoben, weil man den Reichstag nicht als das zuständige Gremium ansah. Die Ablehnung des Verfassungsentwurfes durch die Mehrheit der oppositionellen hannoverschen Abgeordneten lag in der Zurückweisung ihrer Änderungswünsche begründet, konnte aber auch als Protest gegen die Annexion interpretiert werden. Die regierungsfreundlichen hannoverschen Abgeordneten verbanden sich im Reichstag mit anderen neu- und nichtpreußischen Liberalen sowie mit Vertretern der „Neuen Fraktion der Nationalen Partei“, die sich im Herbst 1866 im preußischen Landtag von der Deutschen Fortschrittspartei abgesondert und ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Bismarck und zur Unterstützung seiner Nationalpolitik erklärt hatte. Aus diesem Zusammenschluss ging die „Nationalliberale Partei“ hervor, die neben der Freikonservativen Partei die parlamentarische Basis der Regierung darstellte und in der Bennigsen eine leitende Position übernahm. 69 Sein Einfluss reichte weit über seine Fraktion hinaus. Er gehörte zu dem engeren Kreis von Fraktionsführern, die untereinander und mit Bismarck in zähen Verhandlungen Kompromissformulierungen erarbeiteten und ein Scheitern der Verfassungsberatungen verhinderten. Zwar hielten die Nationalliberalen prinzipiell an der Verbindung von nationaler Machtstaatsidee und liberalem Rechtsstaatsdenken fest; sie wiesen jedoch in der politischen Praxis dem Einheitsgedanken eindeutige Priorität vor den liberalen Verfassungswünschen zu. Die Unterstützung der Macht- und Einigungspolitik Bismarcks ging innerhalb der Nationalliberalen Partei in besonderem Maße von den Abgeordneten der annektierten Gebiete und somit auch von den Hannoveranern aus, die in einem geringeren Maße als die preußischen Liberalen von der Erinnerung an den Verfassungskonflikt belastet waren. Herausragende Beispiele für die Kompromissbereitschaft der Nationalliberalen waren das Aufgeben der Forderung nach Reichstagsdiäten und die Zustimmung zur Beschränkung des Budgetrechtes in Militärangelegenheiten. 70 Am Widerstand Bismarcks scheiterte der Antrag Bennigsens auf Einführung kollegialischer und verantwortlicher Bundesminister, was die parlamentarische Entwicklung Deutschlands beschleunigt hätte. Dagegen gelang es dem Reichstag, aufgrund der „Lex Bennigsen“ das Amt des Bundeskanzlers neu zu umschreiben. Der Bundeskanzler sollte nach dem Verfassungsentwurf lediglich ein vom Bundespräsidium und vom 69 Ansgar Lauterbach, Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866–1880), Frankfurt/M. u. a. 2000, 44–48. Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870 (wie Anm. 67), 165–167. 70 Über die Verfassungsberatungen: Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870 (wie Anm. 67), 198–257. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 655–668.

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Bundesrat abhängiges Organ sein, wurde aber durch das Amendement Bennigsen, das ihm zwar nicht der staatsrechtlichen, aber der politischen Ministerverantwortlichkeit unterwarf, zum selbständigen Leiter der Bundes- bzw. der Reichspolitik. Einen vollen Erfolg erreichte der Reichstag mit seiner Forderung nach der uneingeschränkten Budgetgewalt. Nach dem Verfassungsentwurf sollten nur die Ausgaben des Bundes für einen Zeitraum von drei Jahren der Budgetgewalt der Legislative unterworfen werden; der von der Reichstagsmehrheit angenommene Antrag Miquel sicherte der Legislative die jährliche Budgetfeststellung mit sämtlichen Einnahmen und Ausgaben. In den Fragen der Ministerverantwortlichkeit und des Budgetrechtes gab es Berührungspunkte und Übereinstimmung zwischen den hannoverschen Abgeordneten der liberalen und der oppositionellen Partei; Unterschiede zwischen beiden Gruppierungen bestanden darin, dass die oppositionellen Abgeordneten für einen ausgeprägten Föderalismus eintraten, während die hannoverschen Nationalliberalen sich im allgemeinen für einen Ausbau der Bundeskompetenzen einsetzten. 9. DIE REICHSTAGSWAHLEN VOM SOMMER 1867 UND DIE LANDTAGSWAHLEN IN DER PROVINZ HANNOVER Nachdem der Konstituierende Reichstag seine Hauptaufgabe, die Verabschiedung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, erfüllt hatte, wurde er aufgelöst. Durch Publikationspatente setzten die einzelstaatlichen Regierungen die Bundesverfassung zum 1. Juli 1867 in Kraft. 71 Die Wahlen zum ersten Reichstag waren für den 31. August ausgeschrieben. Sie endeten in der Provinz Hannover mit einer Niederlage der oppositionellen Partei. 72 Diese konnte bei äußerst schwacher Wahlbeteiligung nur fünf Abgeordnete ins Parlament schicken, während das regierungsfreundliche Lager 13 Nationalliberale und einen Freikonservativen durchbrachte. Gründe für die Niederlage der Opposition lagen in der weitverbreiteten politischen Lethargie, in der Uneinigkeit und Resignation im welfischen Lager, wo sich die Überzeugung immer stärker ausbreitete, dass man im Reichstag wenig für die Belange Hannovers erreichen könne. Geschwächt wurde die oppositionelle Wahlpropaganda auch durch die Erfolge der Vertrauensmännerversammlung, die durch Verhandlungen mit Berliner Regierungsstellen den territorialen Bestand des ehemaligen Königreiches und hannoversche Einrichtungen zu sichern versuchten. Im Herbst 1867 fanden in der Provinz Hannover zum ersten Mal Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus statt, denen im Unterschied zu den Reichstagswahlen das Dreiklassenwahlrecht zugrunde lag. Die Provinz war in 36 Wahlkreise eingeteilt, die größtenteils mit den 1867 eingeführten Steuerkreisen identisch waren 71 Text: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), Nr. 198, 272–285. 72 Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866-1918 (wie Anm. 8), 74–77.

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und durchschnittlich 58 000 Einwohner umfassten. 73 Für die äußerst niedrige Wahlbeteiligung, die sich auch bei den folgenden Landtagswahlen wiederholen sollte, waren die Schwerfälligkeit des Wahlverfahrens und die Stimmenthaltung weiter Teile der oppositionellen Wähler verantwortlich. Im Allgemeinen waren die Chancen für die Welfen durch das Dreiklassenwahlrecht, das die den Nationalliberalen nahestehenden Schichten begünstigte, beträchtlich eingeschränkt. Die Öffentlichkeit der Wahl hielt potenzielle oppositionelle Wähler aus Angst vor Repressalien entweder von der Wahl ab oder ließ sie für regierungsfreundliche Kandidaten stimmen. Im welfischen Lager setzte sich die Meinung durch, sich nur dort an den Landtagswahlen zu beteiligen, wo Aussicht auf Erfolg bestand. Dies führte dazu, dass bei Landtagswahlen mit Ausnahme des Wahlkreises 4 (Meppen), der eine Domäne Windthorsts war, 74 und des Wahlkreises 8 (Melle), wo ebenfalls die katholische Bevölkerung den Ausschlag gab, die hannoverschen Mandate fast ausschließlich an die Nationalliberalen fielen. 10. DIE EINGLIEDERUNGSMASSNAHMEN NACH DER ANNEXION HANNOVERS Sowohl der preußische König als auch Bismarck hatten mehrmals öffentlich zugesagt, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staatsverband unter schonender Behandlung berechtigter Eigentümlichkeiten durchzuführen. Bismarck versprach sich davon die Förderung des Integrations- und Befriedungsprozesses. Die Integration der neuen Gebiete bot ihm außerdem einen Ansatzpunkt für notwendige Verwaltungsreformen des preußischen Gesamtstaates im Zeichen von Dezentralisation und Stärkung der Selbstverwaltung. Die Eingliederung der Provinz Hannover sollte als Vorbild für die allgemeine Föderalisierung Preußens dienen und eine günstige Wirkung auf die süddeutschen Staaten ausüben. 75 Bismarcks Vorstellungen und Pläne wurden von der Mehrheit der preußischen Minister nicht geteilt; vor allem die Minister des Inneren, der Finanzen, des Han-

73 Thomas Kühne, Handbuch der Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus 1867-1918. Wahlergebnisse, Wahlbündnisse und Wahlkandidaten, Düsseldorf 1994, 502–584. Ders., Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, 222. Außerdem Bernhard Mann (Bearb.), Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988. Georg-Christoph von Unruh, 75 Jahre hannoversch-niedersächsische Landkreise. Vom hannoverschen Amtsbezirk zum niedersächsischen Landkreis, Hannover 1960, 46f. 74 Helmut Lensing, Ludwig Windthorst (wie Anm. 16), 122–213. 75 Ernst Andrée, Entwickelung der hannoverschen Provinzialverwaltung, in: Sechzig Jahre der Hannoverschen Provinzialverwaltung, hrsg. v. Landesdirektorium. Hannover 1928, 3–56. Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 81–147. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 29–31.

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dels, des Kultus und der Justiz setzten ihm passiven Widerstand entgegen. Preußischer Partikularismus, Ressortegoismus und bürokratisch-zentralistische Gesinnung lagen ihren Bemühungen zugrunde, die Möglichkeiten des Übergangsjahres auszunutzen und preußische Verhältnisse auf die neuen Gebiete zu übertragen. Bismarcks Abwesenheit von Berlin aufgrund einer langwierigen Krankheit und seine Inanspruchnahme durch die Verfassungsverhandlungen im Reichstag trugen dazu bei, dass vor allem im Frühjahr und Frühsommer 1867 die preußischen Ministerien zum Teil gegen seinen Willen eine Flut von Unifikationsmaßnahmen über Hannover erließen. 76 Zu diesen Maßnahmen gehörten die Einführung der preußischen Gewerbegesetzgebung, der Einkommen-, Gewerbe- und Gebäudesteuer, die an die Stelle direkter Steuern traten und eine Mehrbelastung bedeuteten, die Inkraftsetzung des preußischen Strafrechts und der Strafprozessordnung sowie die Rückführung des Oberappellationsgerichts in Celle auf den Stand eines Appellationsgerichts und die Schaffung eines höchsten Gerichtshofes für die neuen Provinzen in Berlin. Die Übertragung der hannoverschen Staatskapitalien auf die Generalsteuerkasse in Berlin bildete einen besonderen Konfliktpunkt zwischen Bismarck und den opponierenden Ministern und verstärkte die Unzufriedenheit in Hannover. Hinzu kamen Änderungen in der hannoverschen Beamtenschaft. Bismarck hielt es für unabdingbar, unzuverlässige und feindselige Richter und Beamte zu entfernen. Namentlich die Obergerichte mussten seiner Meinung nach während des Übergangsjahres eine preußisch gesinnte Majorität erhalten, damit sie später den eingetretenen Wechsel der Verhältnisse nicht als illegal behandelten. Während die Staatsanwaltschaften in der Regel mit altpreußischen Beamten besetzt wurden, was in Hannover im Mai 1867 zur Entlassung Ludwig Windthorsts als Kronoberanwalt führte, wurden aufgrund des Widerstandes des preußischen Justizministers Leopold Graf zur Lippe nur wenige Richter versetzt oder pensioniert. So blieb der Präsident des ehemaligen Oberappellationsgerichtes, Otto Albrecht von Düring (1807-1875), 77 im Amt, ein „überragender und auch rechtswissenschaftlich ausgewiesener“ Jurist, 78 der nun an der Spitze des Appellationsgerichtes stand. Ein Zeichen für die „zurückhaltende Personalpolitik“ 79 war die Karriere Adolph Leonhardts (1815-1880). 80 Er stand seit

76 Carl Nordmann, Zusammenstellung der sämmtlichen für das ehemalige Königreich Hannover in der Zeit vom 20. September 1866 bis zum 1. October 1867 erlassenen Gesetze, Verordnungen usw., 3 Bde. Hannover 1868. 77 Susanne Schott, Düring, Otto Albrecht von, in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen (wie Anm. 17), 336. 78 Harald Franzki, 275 Jahre Oberlandesgericht Celle, in: Deutsche Richterzeitung 64/1986, 441– 448, hier 446. 79 Karl Eduard Claussen, Justizverwaltung 1867-1918, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/GeorgChristoph v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, 452–465, hier 453. 80 Susanne Kristen/Kathrin Borrmann, Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt (1815–1880). Minister und Justizpolitiker, in: Joachim Rückert/Jürgen Vortmann (Hrsg.), Niedersächsische Juristen (wie Anm. 17), 196–201.

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1838 im hannoverschen Staatsdienst und wurde 1863 Generalsekretär im Justizministerium. 1865 erfolgte seine Ernennung zum Justizminister und nach der Annexion zum Vizepräsidenten des Oberappellationsgerichts in Celle. Am 1. September 1867 wurde er Präsident des neuen Oberappellationsgerichts in Berlin und noch im selben Jahr preußischer Justizminister. Dieses Amt hatte er bis 1879 inne. Da das Königreich Hannover „dem Kern nach bereits vorab“ eine Justizreform vollzogen hatte, brachten die Reichsjustizgesetze von 1877 für die dortigen Gerichte „keine ganz durchgreifenden Neuerungen mehr mit sich“. 81 Bei der übrigen Beamtenschaft betrafen Änderungen während des Übergangsjahres vor allem die höheren Stellen. So wurden die Landdrosten beinahe vollständig ausgewechselt; ein Viertel der Amtmänner und die Hälfte der Amtsassessoren wurden pensioniert oder versetzt; die Mehrheit der Unterbeamten, die Amtsvögte und die in der Regel nationalliberal und antiwelfisch gesinnten Magistrate blieben fast ausnahmslos im Amt. Für die Integration der Provinz Hannover waren die Kirchen, die eine wesentliche politische Orientierungsfunktion erfüllten, nicht ohne Bedeutung. Dies traf insbesondere auf die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers zu, der die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung angehörte. 82 Sie hatte erst kurz vor der Annexion im Landeskonsistorium eine einheitliche Oberbehörde erhalten. Die Kirchenvorstands- und Synodalordnung von 1864 hatte die Synodalverfassung eingeführt und einen Schritt zu größerer Unabhängigkeit vom Staat bedeutet. Nach der Annexion blieb die Sicherung ihrer Selbständigkeit das Hauptanliegen der Landeskirche. König Wilhelm I. teilte die Absicht des Berliner Oberkirchenrats, sie der preußischen Kirche der Union anzugliedern. Diese Versuche scheiterten am entschiedenen Widerstand Bismarcks und Kultusminister Heinrich v. Mühlers, die die Eingliederung der Provinz nicht noch durch kirchliche Wirren erschweren wollten. Die führenden Persönlichkeiten der hannoverschen Landeskirche, der Präsident des Landeskonsistoriums Karl Lichtenberg und Konsistorialrat Gerhard Uhlhorn, standen zwar politisch dem welfischen Lager nahe; um die Selbständigkeit der Landeskirche nicht zu gefährden, vermieden sie die Konfrontation mit der preußischen Staatsgewalt und legten die Kirchenleitung auf einen politischen Neutralitätskurs

81 Karl-Heinrich Matthies, Zur Geschichte der Gerichte im Landgerichtsbezirk Göttingen, in: Edgar Isermann/Michael Schlüter (Hrsg.), Justiz und Anwaltschaft in Braunschweig 1879-2004. 125 Jahre Oberlandesgericht und Rechtsanwaltskammer Braunschweig, Braunschweig 2004, 48–56, hier 50. Allgemein: Eike von Boetticher, Die Justizorganisation im Königreich Hannover nach 1848 und ihre Ausstrahlungskraft auf die Staaten des Deutschen Bundes und das Reich bis 1879, Hannover 2015. 82 Wolfgang Rädisch, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und der preußische Staat 1866–1885, Hildesheim 1972. Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 168–176. Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8), 32f. Hans Otte, Evangelische Landeskirchen, in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 1), 1013–1062, hier 1035–1038, 1047–1052.

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fest. Dagegen bedeuteten die ersten Wahlen zur Landessynode von 1869 einen eindeutigen Sieg der konfessionell-orthodoxen Richtung über den kirchlichen und politischen Liberalismus und machten deutlich, dass die welfische Oppositionspartei an der Landeskirche weiterhin einen festen Rückhalt besaß. 83 Ähnlich gestaltete sich die Situation in der Katholischen Kirche. 84 Während beim niederen Klerus und bei den Gläubigen, vor allem in der Diözese Osnabrück, erhebliche Vorbehalte gegen die neue politische Ordnung bestanden, bemühten sich die Bischöfe von Hildesheim und Osnabrück, Eduard Jakob Wedekin und Johannes Heinrich Beckmann, um ein gutes Verhältnis zur preußischen Regierung. Dies wurde durch das fortschrittliche preußische Staatskirchenrecht gefördert, das den Kirchen einen größeren Freiheitsraum als das hannoversche gewährte. Konkrete Schritte zur Sicherung hannoverscher Eigentümlichkeiten und zum Aufbau provinzieller Selbstverwaltung wurden im Sommer 1867 durch die Berufung hannoverscher Vertrauensmänner nach Berlin unternommen, die schon während der Besatzungszeit von Bismarck avisiert und vor allem von hannoverschen Liberalen wiederholt gefordert worden war. 85 Bennigsen, der mit der Benennung der Vertrauensmänner beauftragt wurde, beschränkte sich auf Mitglieder der beiden letzten hannoverschen Ständeversammlungen; neben den Inhabern der drei wichtigsten Ämter der alten Ständeversammlung benannte er je sieben Vertreter der Ritterschaften, der Städte und des ländlichen Grundbesitzes. In dieser Gruppe hatten die Nationalliberalen gegenüber den welfischen Vertretern ein Übergewicht, das noch durch die führende Rolle Bennigsens und Miquels verstärkt wurde. Jedoch traten in den Verhandlungen, die vom 29. Juli bis 3. August 1867 mit Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg und Finanzminister August von der Heydt geführt wurden, bei der Verteidigung der hannoverschen Einrichtungen die gewohnten Gegensätze zurück. Dieses einmütige Auftreten der Vertrauensmänner, die bevorstehenden Wahlen, die nach der Absicht des Ministeriums das regierungsfreundliche Lager in der Provinz stärken sollten, sowie die konziliante Haltung Eulenburgs trugen entscheidend zum Erfolg der Hannoveraner bei. Eulenburg hatte sich im Laufe des Sommers Bismarcks Linie genähert, löste sich vom konservativ-preußischen Ressortpartikularismus und entwickelte sich zu einem liberal-konservativen Verwaltungsreformer. Neben Fragen, wie dem Hannoverschen Klosterfonds, den bäuerlichen Teilungs- und Verkoppelungsangelegenheiten, der Organisation der Landeskirche und der Rechtsprechung in Ehesachen, die im allgemeinen in einem für Hannover günstigen Sinn entschieden wurden, konzentrierten sich die Berliner

83 Wolfgang Rädisch, Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers und der preußische Staat 1866–1885 (wie Anm. 82), 86f. 84 Hans-Georg Aschoff, Der Kulturkampf in der Provinz Hannover (wie Anm. 64), 24–27. Ders., Katholische Kirche, in: Stefan Brüdermann (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens (wie Anm. 1), 1063–1101, hier 1071–1076. Thomas Scharf-Wrede, Das Bistum Hildesheim 1866–1914. Kirchenführung, Organisation, Gemeindeleben, Hannover 1995, 29–40. 85 Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 81–123. Hans-Georg Aschoff, Von der Reichsgründung bis zum Ende des 1. Weltkrieges (1866/71– 1918) (wie Anm. 58), 298–301.

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Verhandlungen auf die beiden Sachkomplexe: Organisation der staatlichen Verwaltungsbehörden und provinzialständische Verfassung. Den Vertrauensmännern gelang es u. a., die hannoversche Ämterverfassung weitgehend zu erhalten. In hannoverscher Zeit lag auf den Ämtern, deren Bezirk im Durchschnitt 4 - 5000 Einwohner umfasste und die damit wesentlich kleiner als die preußischen Kreise waren, das Hauptgewicht der Verwaltung; als leistungsfähige Organisationsform eines Mittelstaates hatten sie vor allem wegen ihrer Volksnähe auch über die Grenzen Hannovers hinaus allgemeine Anerkennung gefunden. Man einigte sich auf einen Kompromiss Robert Graf Hue de Grais‘, „des führenden preußischen Verwaltungsbeamten und Theoretikers des Verfassungsrechts in seiner Zeit“. 86 Danach sollten die Ämter in ihrem alten Umfang und Aufgabenbereich bestehen bleiben, jedoch mehrere Ämter und selbständige Städte zu einem „Steuerkreis“ mit eng umgrenzten Kompetenzen zusammengeschlossen werden. Diesen Kreisen wurden als Gebietskörperschaften die Militär- und Steuersachen zugewiesen. 87 Die preußische Seite gab in dieser Frage nach, weil man sich der Reformbedürftigkeit der Kreisordnung der östlichen Provinzen bewusst war und eine spätere Anpassung der hannoverschen Amts- und Kreisverfassung an preußische Verwaltungsnormen möglich blieb. Entgegen der ursprünglichen Absicht der preußischen Regierung bewahrten auch die sechs hannoverschen Landdrosteien (Aurich, Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Osnabrück, Stade) als Mittelbehörden ihre Existenz. Bedeutsamer waren die Erfolge der Vertrauensmänner in der Frage der provinziellen Selbstverwaltung. Sie bekämpften auf das heftigste die von den preußischen Ministern vorgetragene Möglichkeit einer Zusammenfassung der sieben hannoverschen Provinziallandschaften zu drei kommunalständischen Verbänden, weil diese Lösung die Gefahr einer Zerstückelung der Provinz heraufbeschwor. Die preußische Seite kam dem Wunsch nach Errichtung eines Provinziallandtages aus Vertretern des größeren Grundbesitzes, der Städte und der Landgemeinden nach, womit ein Schritt zur Sicherung der territorialen Integrität Hannovers getan wurde. Die Provinzialstände verwalteten selbständig unter Mitwirkung und Aufsicht der Staatsregierung die Kommunalangelegenheiten der Provinz und die provinzialständischen Institute und Vermögensrechte. Für die laufenden Geschäfte wurde ein Landesdirektorium, bestehend aus dem Landesdirektor und zwei Schatzräten, gebildet. Der Aufgabenkreis der Provinzialverwaltung, über die der Oberpräsident die Staatsaufsicht ausübte, erstreckte sich vornehmlich auf den Straßenbau, auf Landesmeliorationen, die Unterhaltung und Unterstützung sozialer Einrichtungen sowie das jüdischen Schul- und Synagogenwesen der Provinz. Zur finanziellen Sicherung der provinziellen Selbstverwaltung sah das Gesetz vom 7. März 1868 eine jährliche Zuweisung von 500 000 Taler aus dem preußischen Staatshaushalt vor,88 nachdem die Ausscheidung eines festen Kapitals am Widerstand der preußischen

86 Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), 99. 87 Günther Franz, Verwaltungsgeschichte des Regierungsbezirks Lüneburg, Bremen 1955, 84. 88 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 102, 607f.

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Konservativen gescheitert war, die in der Einrichtung eines Provinzialfonds die Bevorzugung einer der preußischen Provinzen vor anderen sahen, außerdem aber Hannover als Domäne der Nationalliberalen nicht begünstigen wollten. Die Auseinandersetzung um den hannoverschen Provinzialfonds im preußischen Abgeordnetenhaus war ein erstes Vorspiel des späteren schweren Zerwürfnisses zwischen Bismarck und den Konservativen und bereitete die parteipolitische Frontenbildung der folgenden Jahre mit vor. 89 Die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen der preußischen Regierung und den hannoverschen Vertrauensmännern fanden ihren Niederschlag u. a. in den königlichen Verordnungen vom 22. August 1867 „Über die provinzialständische Verfassung des vormaligen Königreichs Hannover“ 90 und vom 12. September 1867 „Über die Amts- und Kreisverfassung in der Provinz Hannover“. 91 Wenn auch die mit Bismarcks Reformplänen verknüpften weitreichenden Erwartungen hinsichtlich einer Föderalisierung Preußens nicht erfüllt wurden und der zentralistisch-bürokratische Charakter des preußischen Staates nicht ernstlich in Frage gestellt wurde, so stärkte die Einführung der provinziellen Selbstverwaltung in Hannover die provinzielle Komponente in Preußen und trug zur Schaffung leistungsfähiger moderner Kommunalverbände bei. Der Aufbau und die Zuständigkeit des hannoverschen Provinzialverbandes dienten als Vorbild für die Verwaltungsreformen in den altpreußischen Provinzen während der 1870er Jahre. 92 Später als in den anderen annektierten Provinzen erlosch in Hannover am 14. September 1867 durch die Trennung von Zivil- und Militärverwaltung die preußische Militärregierung. Zum ersten Oberpräsidenten wurde der in den Provinzen Sachsen, Hessen und Hannover begüterte Standesherr Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode 93 berufen. Bismarck konnte seine Ernennung gegenüber dem von Eulenburg favorisierten streng konservativen Altpreußen Ferdinand Otto Freiherr v. Nordenflycht, dem damaligen Regierungspräsidenten in Frankfurt/Oder, durchzusetzen. Stolberg-Wernigerode empfahl sich Bismarck wegen seiner engen Beziehungen zu Hannover, seiner Unabhängigkeit von der preußischen Bürokratie sowie als Anhänger der provinziellen Selbstverwaltung. Als Mitglied des hohen Adels brachte er Autorität für sein Amt mit; aufgrund seines Reichtums konnte man einen gewissen Repräsentationsstil erwarten. Die Tatsache, dass Stolberg-Wernigerode nicht der preußischen Beamtenschaft angehört hatte, trug zu seiner guten Aufnahme in Hannover bei. Der neue Oberpräsident sah die Integration Hannovers in den 89 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 588f. 90 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 88, 526–529. 91 Text: Heide Barmeyer, Hannovers Eingliederung in den preußischen Staat (wie Anm. 28), Nr. 89, 530–536. 92 Heide Barmeyer, Annektion und Assimilation (wie Anm. 51), 328–336. 93 Heinrich Heffter, Otto Fürst zu Stolberg-Wernigerode, Bd. 1., Husum 1980. Konrad Breitenborn, Im Dienste Bismarcks. Die politische Karriere des Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode, Berlin 1984, bes. 142–163. Ders., Die Lebenserinnerungen des Fürsten Otto zu Stolberg-Wernigerode (1837–1896), Wernigerode 1996, bes. 75–93. Heide Barmeyer, Die hannoverschen Oberpräsidenten 1867–1933, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Die preußischen Oberpräsidenten 1815–1945, Boppard am Rhein 1985, 137–181, hier 139–146.

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preußischen Staatsverband als seine wichtigste Aufgabe an. Dies suchte er durch eine verständnisvolle Zusammenarbeit mit den provinzialständischen Organen und die Vermeidung von Provokationen der welfischen Opposition zu erreichen. Trotz seines behutsamen und vermittelnden Vorgehens gelang ihm eine wesentliche Schwächung der welfischen Bewegung nicht. Zusammen mit preußischen Ministern verhinderte er die von Bismarck beabsichtigten weitreichenden Umbesetzungen in der hannoverschen Beamtenschaft. Nach der Entlassung Hardenbergs im Herbst 1867, die Stolberg-Wernigerode wegen dessen selbständigen Handelns betrieben hatte, waren seine wichtigsten Mitarbeiter im Oberpräsidialamt der bisherige Regierungsassessor und nachmalige Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium Kurt Starke aus Magdeburg sowie ab 1872 der spätere preußische Kultusminister Robert Bosse. Als Standesherr hielt Stolberg-Wernigerode Distanz zur Nationalliberalen Partei, die ihm als zu liberal und zu bürgerlich erschien. Neben Georg Herbert Graf zu Münster-Derneburg, dem Landtagsmarschall der hannoverschen Provinzialstände, bemühte er sich um den Aufbau der Freikonservativen Partei in Hannover; er war 1871 an der Gründung der „Deutschen Reichspartei“ beteiligt und wurde im selben Jahr als freikonservativer Abgeordneter im hannoverschen Wahlkreis V (Melle/Diepholz) und 1874 im Wahlkreis XIII (Goslar/Zellerfeld) in den Reichstag gewählt. Nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Oberpräsidenten 1873 war Stolberg-Wernigerode u. a. noch als deutscher Botschafter in Wien (18761878) tätig, wo er in bestem Einvernehmen mit Außenminister Julius Graf Andrássy den Abschluss des Zweibundes vorbereitete; danach amtierte er als Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums (1878-1881), als Minister des Königlichen Hauses (1885-1888) und als Präsident des Preußischen Herrenhauses (18721877, 1893-1896). 11. REGELUNGEN MIT DEM HANNOVERSCHEN KÖNIGSHAUS Eine günstige Wirkung auf die Provinz Hannover erhoffte sich Bismarck von der Regelung der vermögensrechtlichen Verhältnisse des entthronten hannoverschen Königshauses. 94 Durch eine großzügige finanzielle Abfindung glaubte er, Georg V. zum Thronverzicht und zur Anerkennung der Annexion veranlassen zu können. In den seit Anfang 1867 geführten Verhandlungen mit den hannoverschen Unterhändlern Ludwig Windthorst und Karl Erxleben erreichte die preußische Regierung auf-

94 Hans Philippi, Zur Geschichte des Welfenfonds, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31/1959, 190–254. Dieter Brosius, Welfenfonds und Presse im Dienste der preußischen Politik in Hannover nach 1866, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 36/1964, 172–207. Robert Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds. Mainz 1968. Stewart A. Stehlin, Bismarck and the Guelph Problem 1866–1890 (wie Anm. 62), 48–97, 196– 211. Eberhard Naujoks, Bismarcks auswärtige Pressepolitik und die Reichsgründung (1865– 1871), Wiesbaden 1968. Evan B. Bukey, The Exile Government of King George V of Hanover 1866–1871, in: Canadian Journal of History 5/1970, 71–93.

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grund des hartnäckigen Widerstandes der hannoverschen Seite keine derartige Verzichtsklausel; dennoch setzte sich Bismarck weiterhin für einen Vertragsabschluss ein, weil dieser als eine faktische Anerkennung der Annexion interpretiert werden konnte. Der am 29. September 1867, unmittelbar vor dem Inkrafttreten der preußischen Verfassung in der Provinz Hannover, ausgehandelte Abfindungsvertrag räumte Georg V. das Eigentum am Schloss Herrenhausen und an der Domäne Calenberg sowie eine jährliche Rente ein; diese bestand aus den Zinsen eines Abfindungskapitals in Höhe von 16 Mio. Talern für die verlorenen Einnahmen aus Domänen, Forsten und oberlehnsherrlichen Rechten sowie als Ersatz für Schlösser, Gärten und Grundeigentum. Als Gegenleistung erstattete Georg V. hannoversche Staatsgelder in Höhe von 19 Mio. Talern zurück, die er 1866 nach England hatte bringen lassen. 95 Die Erwartung, dass die reichlich bemessene Abfindung Georg V. von der öffentlichen Geltendmachung seiner Ansprüche auf Hannover abhalten würde, erfüllte sich nicht. Anlässlich seiner Silberhochzeit im Februar 1868 kündigte er erneut die baldige Wiederherstellung des Welfenreiches und des Welfenthrones an. Die preußische Regierung sistierte daraufhin den Vollzug des Abfindungsvertrages. Aufgrund einer Königlichen Notverordnung vom 2. März 1868, der Anfang 1869 auch das Parlament zustimmte, wurde das Vermögen des entthronten Königshauses vorläufig sequestriert. 96 Die Erträgnisse des beschlagnahmten Kapitals, die um die Revenuen aus dem sequestrierten Vermögen des hessischen Kurfürsten vermehrt wurden und sich damit auf eine jährliche Summe von ca. 1 Mio. Taler beliefen, flossen in einen der parlamentarischen Kontrolle entzogenen Dispositionsfonds der Regierung, den Welfenfonds. Die Mittel dieses Fonds dienten in der Folgezeit nicht nur der Bekämpfung der welfischen Agitation, wie in der Königlichen Verordnung vorgesehen, sondern wurden u. a. auch zur Beeinflussung der Presse im regierungsfreundlichen Sinn und für Zwecke des „Centralen Nachrichtenbüros“, der damaligen Zentrale der Politischen Polizei, verwandt. Nach der Reichsgründung stieg der vom Auswärtigen Ressort beanspruchte Anteil am Welfenfonds stark an. Die preußische Regierung rechtfertigte die Beschlagnahme des welfischen Privatvermögens mit dem Argument, dass man dem ehemaligen hannoverschen König keine Mittel zu Angriffen auf den preußischen Staat zur Verfügung stellen dürfe. Zu den antipreußischen Widerstandsaktionen zählte man sowohl die welfische Presseagitation in Hannover und Frankreich als auch die Bildung der Welfenlegion. In der Umgebung Georgs V., dessen wichtigste Ratgeber Platen-Hallermund und der ehemalige Pressechef Oskar Meding waren, glaubte man, unter Ausnutzung außenpolitischer Konflikte und europäischer Krisen, vor allem durch die militärische

95 Text: Onno Klopp, Das preußische Verfahren in der Vermögenssache des Königs von Hannover, Wien 1869, 50–55. Hans-Georg Aschoff/Heinz-Jörg Heinrich (Bearb.), Ludwig Windthorst. Briefe (wie Anm. 16), Bd. 1, 203–210. 96 Text: Onno Klopp, Das preußische Verfahren in der Vermögenssache des Königs von Hannover (wie Anm. 95), 120–123. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 (wie Anm. 13), 589f.

Vom Königreich Hannover zur preußischen Provinz

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Niederlage Preußens in einem Krieg gegen Frankreich, dem Ziel der Wiederherstellung Hannovers näherkommen zu können. Eine günstige Gelegenheit bot der preußisch-französische Konflikt um Luxemburg im Frühjahr 1867. Um die Kriegsbereitschaft in Frankreich zu schüren, wurde Meding nach Paris geschickt, wo er durch die Gründung einer Zeitung („La Situation“), die Herausgabe eines Pressedienstes und die Subvention französischer Blätter die öffentliche Meinung Frankreichs im antipreußischen Sinn beeinflussen sollte. Die aufgewandten Kosten standen in keinem Verhältnis zu der beabsichtigten Wirkung. 97 Um in dem erhofften Krieg als Mitkämpfender gegen Preußen auftreten zu können, billigte Georg V. Pläne hinsichtlich der heimlichen Rekrutierung hannoverscher Freiwilliger. 98 Seinen anfänglichen Bedenken lagen die Furcht vor preußischen Repressalien und die Ablehnung des demokratischen Charakters einer Volkserhebung zugrunde. Als sich im Mai 1867 eine Gruppe ehemaliger hannoverscher Soldaten und preußischer Gestellungsflüchtiger in Holland sammelte, geschah dieser erste Schritt zur Bildung der „Welfenlegion“ zwar ohne Wissen des Königs; Georg duldete jedoch das Unternehmen und stellte in den folgenden Jahren die finanziellen Mittel zur Unterhaltung der aus 700 bis 800 Soldaten bestehenden Legion zur Verfügung. Nach der Ausweisung aus Holland und der Schweiz hielt sich die Legion seit Januar 1868 in Frankreich auf. Das Ausbleiben der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Preußen und Frankreich, das preußische Amnestieangebot für rückkehrende Soldaten und die Einstellung der finanziellen Unterstützung infolge des Sequesters über das welfische Privatvermögen führten Anfang 1870 zur Auflösung der Welfenlegion. Sie hatte wegen der geringen Effektivstärke zu keiner Zeit eine ernste Gefahr für den preußischen Staat dargestellt. Gefährlicher war sie nach Bismarcks Ansicht als Symbol welfischen Widerstandswillens gegen die preußische Annexion. Im Kriegsfall konnte die Tatsache, dass deutsche Soldaten im gegnerischen Lager kämpften, die öffentliche Meinung in der Provinz Hannover und in den süddeutschen Staaten im antipreußischen Sinn beeinflussen. Zeit seines Lebens hielt Georg V. den Anspruch auf Hannover aufrecht. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung stellte er die Unterstützung subversiver antipreußischer Bestrebungen ein. Er zog sich mehr und mehr auf ein privates Dasein zurück, für das im Sommer die Villa Thun in Gmunden und im Winter das Palais Lothringen in Penzing bei Wien den Rahmen abgab. Mitte der 1870er Jahre ließ er sich wegen des milderen Klimas in Paris nieder. Trotz des

97 Wilfried Radewahn, Die Pariser Presse und die deutsche Frage unter Berücksichtigung der französischen Pressepolitik im Zeitalter der Bismarckschen Reichsgründung (1866–1870/71). Frankfurt/M. u.a. 1977, 325–343. 98 Renate Duckstein, Die Welfenlegion. Die Politik des Königs Georg von Hannover in den Jahren 1866 bis 1870 im Zusammenhang mit der großen europäischen Politik, Phil. Diss. Göttingen 1922. Stewart A. Stehlin, Bismarck and the Guelph Problem 1866–1890 (wie Anm. 62), 67–97. Anne-Katrin Henkel, Die Hannoversche Legion (Welfenlegion) und Preußen. Ein Beitrag zur welfischen Exilpolitik in der Phase der Reichsgründung (1866–1871), in: Braunschweigische Heimat 80/1994, 3–87.

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preußischen Sequesters und erheblicher finanzieller Verluste infolge von Fehlspekulationen verfügte er über ausreichende Mittel für einen seiner Stellung angemessenen Lebensstil. 99 In der Zeit des Exils entstand das idealisierte Bild seiner Person, dem sich auch frühere Kritiker nicht entziehen konnten. Georg V. galt als „Repräsentant des Rechtes gegenüber dem Repräsentanten der Gewalt“. 100 Über seine Anhänger in Hannover übte er weiterhin Einfluss auf die Provinz aus. Seine Person und sein Haus waren das Symbol hannoverscher Eigenstaatlichkeit und wurden zu einem bedeutenden Integrationsfaktor der sich parteipolitisch organisierenden welfischen Bewegung. Georg V. starb am 12. Juni 1878 in Paris. Gegen eine Bestattung im Mausoleum in Herrenhausen hatte man von preußischer Seite nichts einzuwenden; sie wurde jedoch von den Führern der welfischen Partei verhindert, die den Anschein vermeiden wollten, als habe der König im Tod seinen Frieden mit Preußen geschlossen. Georg V. wurde am 24. Juni in der St. George’s Chapel von Schloss Windsor beigesetzt. Nach der Reichsgründung organisierte sich die hannoversche Oppositionsbewegung in der Deutschhannoverschen Partei (DHP), die mit der Forderung nach Restauration des ehemaligen Königreiches als wichtigstes politisches Ziel zwar ein integrierendes Element für ihre heterogene Wählerschaft besaß, mit dieser Zielsetzung aber auch den Weg zu einer geographisch begrenzten Regionalpartei betrat.101 In der Folgezeit trennten sich Gruppen von ihr, weil sie den hannoverschen Rechtsund Proteststandpunkt nicht vertreten konnten. Wenn die DHP trotz dieser Abspaltungen in der zweiten Hälfte der Bismarckzeit die stärkste politische Kraft der Provinz Hannover wurde und zeitweise mit zwölf Abgeordneten im Reichstag vertreten war, so hatte dies seinen Grund in der Unterstützung durch Wähler, die die Regierungspolitik ganz oder in weiten Teilen ablehnten, wie die sozialdemokratischen Wähler zur Zeit des Sozialistengesetzes oder die Katholiken während des Kulturkampfes. Die Wilhelminische Ära war für die DHP eine Zeit des Niedergangs. Am Ende des Kaiserreiches verfügte sie nur noch über ca. 14 Prozent der Wählerstimmen der Provinz. Zu den zahlreichen Gründen für ihren Niedergang zählten auch die wachsende zeitliche Entfernung zum Jahr 1866 und die Schwächung des mittelstaatlich-dynastischen Bewusstseins. Die Schwäche der DHP war ein Zeichen für die weitgehende Integration der Provinz Hannover in den preußischen Staatsverband. Hans-Georg Aschoff ist Hochschuldozent i. R. für Neuere Geschichte und Kirchengeschichte an der Leibniz Universität Hannover.

99 Peter Steckhan, Welfenbericht (wie Anm. 12) 34–44. Hans-Georg Aschoff, Die Welfen (wie Anm. 12), 260–263. Heinz Schießer, Die Welfen am Traunsee. 130 Jahre Schloss Cumberland im Salzkammergut, Göttingen 2017, 10–25. 100 Onno Klopp, Das preußische Verfahren in der Vermögenssache des Königs von Hannover (wie Anm. 95), 14. 101 Hans-Georg Aschoff, Welfische Bewegung und Politischer Katholizismus 1866–1918 (wie Anm. 8).

ZWISCHEN PREUSSEN UND HANNOVER Die schwierige Lage des Herzogtums Braunschweig nach der Gründung im Norddeutschen Bund Klaus Erich Pollmann Kurzfassung: Das Herzogtum Braunschweig hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts viel von Glanz und Größe, die das Land seit dem Mittelalter besessen hatte, eingebüßt. Aber es hatte die Neuordnung der Staaten durch den Wiener Kongress ohne Verlust seiner Selbständigkeit überstanden und gehörte zu den norddeutschen Staaten, die zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts eine – gemäßigt – liberale Verfassung erhielten. Sie war das Ergebnis einer revolutionären Erhebung gegen seinen Herzog Carl II. Das wirtschaftlich prosperierende Land geriet in den folgenden Jahrzehnten unter den Druck seiner rivalisierenden Nachbarn Hannover und Preußen. Die liberale Handelspolitik Preußens lag im Interesse Braunschweigs. Anders als Hannover konnte das Land seine Existenz in der Phase der Nationalstaatsbildung behaupten und wurde Mitglied des preußisch geführten Norddeutschen Bundes. Die starrsinnige, auf unbedingte Wahrung seiner kleinstaatlichen Rechte bedachte Militärpolitik Herzog Wilhelms brachte das Land wiederholt an den Rand seiner Existenz. Die realitätsblinde Haltung des Herzogs konnte auch die propreußisch-nationalliberale Einstellung des Braunschweiger Bürgertums nicht verhindern. Andererseits verhalf die konstruktive Bundespolitik der braunschweigischen Ministerialbürokratie dem Land zu Einfluss und Anerkennung, gestützt auf seine wirtschaftliche Stärke. Dennoch schwebte jahrzehntelang das Damoklesschwert der Annexion durch Preußen über dem Land. Nach dem Tod Herzog Wilhelms 1884 drohte die Übernahme des Thrones durch den depossedierten hannoverschen Herzog bzw. dessen Thronerben, was Preußen mit militärischer Gewalt zu verhindern entschlossen war. Dieser Konflikt hielt das Land bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs in Erregung und blockierte die innere Entwicklung des Landes.

1. MERKMALE DER LANDESGESCHICHTE Das Herzogtum Braunschweig ist den Kleinstaaten zuzurechnen, die im Jahre 1866 durch die Bündnisverträge vom 18.8.1866 dem Norddeutschen Bund beitraten. Aber es konnte auf eine bedeutende Vergangenheit zurückblicken. „Es war verhältnismäßig klein, bildete kein geschlossenes Territorium, blieb vielmehr dauerndem Wandel unterworfen, lag durchaus verkehrsgünstig, war geschmückt durch glanz-

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volle Erinnerungsorte sächsischer wie kaiserlicher Geschichte und bewahrte bedeutende historische Traditionen“ 1. Es hat im Lauf der Jahrhunderte seine Gestalt immer wieder verändert. Aber seit 1235 fand das zuvor vornehmlich im Süden angesiedelte welfische Fürstenhaus, das dieses Land seit den mittelalterlichen Anfängen mit der Unterbrechung seiner Eingliederung in das Königreich Westfalen zur Zeit der napoleonischen Herrschaft (1806-1815) regiert hat, seine neue Heimat im Norden Deutschlands. Über die Jahrhunderte hinweg war das Herzogtum mit seinen Herrschaftszentren Braunschweig und Lüneburg „kein moderner Territorialstaat, sondern ein Konglomerat weit gestreuter Herrschaftsrechte zwischen Elbe und Werra.“ 2 Die Herrschaftsrechte wurden wiederholt aufgeteilt, so bereits 1267/69 in die Herrschaftsbereiche Braunschweig und Lüneburg. 1671 verlor die Stadt Braunschweig ihre jahrhundertelang unabhängige Stellung, die bis dahin gesamtwelfische Stadt fiel nunmehr allein an Braunschweig-Wolfenbüttel. 3 Aus der großen territorialen Neuordnung, die auf dem Wiener Kongress 1815 beschlossen wurde, ist das Herzogtum Braunschweig im Wesentlichen unversehrt hervorgegangen, wozu vermutlich der legendäre militärische Einsatz der beiden gefallenen Herzöge Karl Wilhelm Ferdinand und Friedrich Wilhelm als preußische Feldherren im Kampf gegen Napoleon erheblich beigetragen hat. In das europäische Revolutionsjahr 1830 fiel die Braunschweigische Revolution mit dem Schlossbrand und der Vertreibung des Herzogs Karl II. 4, an der neben den Unterschichten das Bürgertum ebenso wie der Adel beteiligt waren. Ihr Ergebnis war die neue Landschaftsordnung von 1832 5, eine gemäßigt liberale und für die damaligen Verhältnisse fortschrittliche Verfassung. Sie gehört einschließlich einer Reihe von vorbildlichen Reformgesetzen, namentlich die Ordnung für die Ablösung der grundherrlichen Rechte und die Gemeinheitsteilungsordnung von 1834, die den ländlichen Grundbesitz von seinen Fessel befreiten und den Aufstieg der Landwirtschaft im Herzogtum ermöglichte 6, zu den bleibenden Resultaten. Eine Spätfolge der Revolution von 1830 war der nahezu gewaltfreie Verlauf der Revolution von 1848 7, in der die „Märzforderungen“, u.a. die Pressefreiheit, die öffentliche und mündliche Rechtspflege sowie die Einführung von Geschworenengerichten widerstandslos bewilligt wurden. Als wichtiger Handelsplatz war Braunschweig auf eine freihändlerische Handels- und Zollpolitik angewiesen. Dabei musste das Land seinen Platz zwischen den

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Bernd Schneidmüller, Die neue Heimat der Welfen (1125–1252), in: Horst-Rüdiger Jarck, Gerhard Schildt (Hrsg.), Die braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region, Braunschweig 2000, 177. Ulrich Schwarz, Die Entstehung des Landes Braunschweig im späten Mittelalter (1292–1495), in: ebd., 231. Christof Römer, Das Zeitalter des Hochabsolutismus (1635–1735), in: ebd., 549. Otto Böse, Karl II. Herzog von Braunschweig und Lüneburg, Braunschweig 1956. Klaus Erich Pollmann, Die Braunschweigische Verfassung von 1832, Braunschweig 1982. Karl Heinrich Kaufhold, Wirtschaft und Gesellschaft vor der Industrialisierung, in: Braunschweigische Landesgeschichte, 726. Gerhard Schildt, Von der Restauration zur Reichsgründungszeit, in: ebd., 777ff.

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großen Nachbarn Preußen und Hannover finden. Es hatte eine schwierige Wahl zwischen der zollpolitischen Vormacht Preußen und dem Nachbarstaat Hannover zu treffen, das den Zugang zur Nordseeküste ermöglichte. Das Land schloss sich deshalb 1828 dem Mitteldeutschen Handelsverein bzw. 1834/36 dem von Hannover dominierten Steuerverein an, revidierte diese Entscheidung aber 1841 mit dem Beitritt zum preußisch geführten Zollverein, der der heimischen Wirtschaft weitaus bessere Perspektiven bot. Allerdings löste diese Umorientierung langjährige Auseinandersetzungen mit Hannover aus, zumal die Hannover benachbarten braunschweigischen Gebietsteile im Steuerverein verblieben. Erst der Beitritt Hannovers zum Zollverein im Jahr 1854 beendete diese für das Land prekären zollpolitischen Verhältnisse. 8 Die Nachbarschaft zu Preußen und Hannover blieb aber weiterhin die dominierende Rahmenbedingung für die Braunschweigische Politik. Mit Hannover war das Land dazu noch durch die gemeinsame welfische Dynastie verbunden. In Braunschweig regierte die ältere, in Hannover die jüngere Linie. Schon zu Beginn der zwanziger Jahre hatte sich diese Beziehung durch das Vormundschaftsrecht des hannoversch-englischen Königs Georgs IV. über den unmündigen Herzog Karl II. bemerkbar gemacht, und in einer längeren Perspektive kündigte sich eine erneute Verbindung der beiden Häuser Braunschweig und Hannover an. Denn der 1830 auf den Thron gelangte Herzog Wilhelm war unverheiratet und kinderlos. 9 Ein Thronerbe innerhalb der älteren Linie war allenfalls aus den Nachkommen des 1830 vertriebenen Herzogs Karl II., dem Bruder des Herzog Wilhelm, zu gewinnen. Solange die beiden Großmächte des Deutschen Bundes, Österreich und Preußen, in der Bundespolitik gemeinsam vorgingen, bot der Bund den Kleinstaaten bis zu einem gewissen Grad Schutz und Sicherheit. Das Herzogtum Braunschweig hatte das in der Bewältigung der Folgen der Revolution von 1830, der Zustimmung zu der wegen seiner Misswirtschaft erfolgten Vertreibung Herzogs Karl II. und der Bestätigung Wilhelms als neuen Herzog, existenzsichernd erfahren. Die restaurative Politik des Bundes, namentlich die Demagogenverfolgungen und die Einschränkung der Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit 10, hatten in Braunschweig aufgrund der gemäßigten Politik des Herzogtums zu keinen größeren Konflikten und Krisen geführt. Das Stimmrecht in der Bundesversammlung übte Braunschweig in einer gemeinsamen Kurie mit Nassau aus, was die Willensbildung in Bundesfragen nicht unbeträchtlich auf die in Frankfurt versammelten Bundesvertreter verlagerte, ungeachtet der von der Herzoglichen Regierung ausgeübten Instruktionserteilung.

8 Kaufhold, Wirtschaft, 728. 9 Paul Zimmermann, Herzog Wilhelm, Frankfurt 1925, Nachdruck 1978. 10 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, München 1995, 343ff.

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2. EIN WIDERSTREBENDER VERBÜNDETER PREUSSENS Die Abhängigkeit von den beiden führenden Mächten im Bund, namentlich von der Großmacht Preußen, wurde dem Herzogtum Ende 1864 brüsk vor Augen geführt. Mit sechs anderen hatte die Kurie Braunschweig/Nassau gegen den Antrag der beiden Großmächte auf die Aufhebung der Bundesexekution gegen Holstein gestimmt,11 die im Oktober 1863 beschlossen worden war. Obwohl das Braunschweigische Votum die Gültigkeit des Beschlusses nicht verhindert hat, reagierte Preußen darauf mit dem massiven Vorwurf, zu einer offenbaren Kompetenzüberschreitung des Bundes, die den Bestand des Bundes gefährden würde, „in fahrlässiger Weise ihre Stimme hergegeben zu haben.“ 12 Dass es hier letzten Endes um die Existenz des Kleinstaats ging, geht daraus hervor, dass die preußische Note die Souveränität Braunschweigs als einen Anachronismus bezeichnete, „der in allen anderen Ländern Europas im Laufe der Jahrhunderte dem Streben der Nationen nach den Vorteilen größerer Gemeinwesen“ 13 habe weichen müssen. Es habe durch sein Stimmverhalten den seine Existenz verbürgenden Deutschen Bund in Gefahr gebracht. In mancher Weise erscheint dieser Vorgang wie eine Vorwegnahme der existenzbedrohenden Krise von 1866. Im April 1866 stellte sich Braunschweig augenscheinlich auf die österreichische Seite. Das Land erkannte dessen Fürsorge „für die Erhaltung des Bundesfriedens“ an und zeigte sich entschlossen, „jede Werbung Preußens von vornherein kurz abzulehnen.“ 14 Allerdings sollte dies keine bedingungslose Parteinahme für Österreich sein, sondern die Unterstützung jeder Aktion zur Bewahrung des Bundesfriedens und die Absicht, „unbedingte Neutralität“ zu wahren. 15 Deshalb folgte Braunschweig auch nicht der österreichischen Aufforderung zur Beteiligung an der Mobilmachung der nichtpreußischen Armeekorps des Bundesheeres gegen Preußen, da dies eine Verletzung der Gasteiner Konvention sei. 16 Bei der Abstimmung über die Mobilmachung am 14.6. lief das Herzogtum Gefahr, zu Unrecht zu der antipreußischen Koalition gerechnet zu werden, da Nassau „die prävalierende Stimme führte“. 17 Anders als 1864 hatte Bismarck diesmal das Land „in freundlichster Form“ aufgefordert, dem Antrag die Zustimmung zu verweigern und nicht in „einem Akt der Feindseligkeit“ gegen Preußen anzutreten. „In dem anbrechenden Kriege werden wir uns alsdann nur durch das Interesse Preußens und der zu ihm stehenden

11 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., Stuttgart 1988. 12 Karl Lange, Braunschweig im Jahre 1866, Braunschweig 1929, 11. 13 Ebd., 12. 14 Ebd., 19. 15 Ebd., 29. 16 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, 503ff. Die Konvention regelte die Realteilung der Verwaltung der Schleswig-Holsteinischen Herzogtümer. 17 Lange, Braunschweig, 30.

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Staaten leiten lassen.“ 18 Braunschweig ließ bei der Abstimmung am 14.6. entgegen dem Votum seiner Kurie eine abweichende Erklärung abgeben. Allerdings trat Braunschweig dem Protest gegen den preußischen Austritt aus dem Bund als Rechtsverstoß gegen Artikel 1 der Bundesakte bei. Von diesem Zeitpunkt an suchte Braunschweig in dem ausbrechenden Krieg neutral zu bleiben. Der Aufforderung des Bundes, für den Krieg zu rüsten, verweigerte sich das Land. Ebenso wenig folgte es dem Appell seines welfischen Verwandten König Georg, der sich bereits im Krieg gegen Preußen befand, ihm als Hannoverscher Feldmarschall mit seinen Truppen nachzufolgen. 19 Die Neutralitätserklärung war aber während der militärischen Auseinandersetzung keine Garantie mehr für die Erhaltung der Selbständigkeit des Landes, auch als der Herzog diese mit der Versicherung verband, sich niemals an der Seite der Gegner Preußens an den Kriegshandlungen zu beteiligen. Die preußische Warnung, dass die Garantie des vollen Besitzstands und der Souveränität nur seinen Bundesgenossen, nicht aber den neutral bleibenden Staaten gelte, änderte daran vorerst noch nichts. 20 Schon am 16.6.1866 war in identischen Noten an 19 nördlich des Mains gelegene Staaten, darunter auch Braunschweig, ein Bündnisangebot, verbunden mit der Aufforderung, ihre Truppen unverzüglich zur Kriegsbereitschaft zu rüsten, gemacht worden. 21 Zu den 17 Staaten, die dieses Bündnisangebot annahmen, gehörte auch Braunschweig. Allerdings folgte es der Mobilisierungspflicht nur zögernd, nachdem es diese zunächst ganz abgelehnt hatte. Dabei blieb der Herzog auch noch am 22.6., mit der Begründung, dass es eine „moralische Unmöglichkeit“ sei, „seine Truppen gegen die Hannoversche Armee fechten zu lassen.“ 22 Erst nachdem „die Hannoversche Armee zu existieren aufgehört hat“ 23, womit also offensichtlich gerechnet wurde, wolle er den Bündnisvertrag dem dann einzuberufenden Landtag zur Ratifizierung vorlegen. Es ist etwas überraschend, dass sich Bismarck damit einverstanden erklärte. Vor Ende der Kampfhandlungen wurde das Braunschweigische Kontingent nicht in Gang gesetzt, trotz des wiederholten Drängens von preußischer Seite. Schließlich ließ der preußische Ministerpräsident, um seinem Ärger Ausdruck zu geben, in die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, ein ihm zugängliches Presseorgan, eine scharfe Kritik an dem Vorgehen Braunschweigs an die Öffentlichkeit bringen. Die dortige Regierung habe die Mobilmachung so lange verzögert, dass die Truppen erst „nach eingetretenem Waffenstillstand mit Österreich und den süddeutschen Staaten habe in Marsch gesetzt werden können.“ 24 Andere Konsequenzen als diese ostentative Rüge hatte die offenkundige Unlust, die die Zurückhaltung anderer

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Ebd. Ebd., 33. Bismarck am 19.6.1866, ebd., 34. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, 563f. Lange, Braunschweig, 42. Ebd., 43. Ebd., 70.

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Kleinstaaten noch deutlich übertraf, vorerst nicht. Während sich in diesen Augusttagen das Schicksal des hannoverschen Nachbarstaats mit der Annexion durch Preußen besiegelte, trat Braunschweig mit zunächst 17 anderen verbündeten Staaten dem sich anbahnenden Bund bei, zu dem bald vier weitere ehemalige Kriegsgegner, die der Annexion entkamen, hinzustießen. Die Entscheidungen auf Braunschweigischer Seite traf in erheblichen Maße der Herzog persönlich, dem aber seine Minister widerspruchslos folgten. Das galt anfangs auch für die Ständeversammlung, soweit sie in die Willensbildung einbezogen wurde. Diese unterstützte zunächst die auf Wahrung des Friedens und des Bundesrechts ausgerichtete Haltung der Herzoglichen Regierung. Auch eine Adresse der Bürgerschaft der Stadt Braunschweig folgte diesem Grundsatz und ermutigte den Herzog, weiterhin der Devise zu folgen: „Recht muß Recht bleiben.“ 25 Es gab aber auch andere Stimmen und Meinungen. Eine Petition aus Schöningen und Umgebung, unterzeichnet von 400 Bewohnern überwiegend bäuerlicher Herkunft, drückte zwar ihr Misstrauen gegenüber dem Bismarckschen Parlamentsantrag von 9.4.1866 aus, ließ sich aber dadurch zu dem Vorschlag inspirieren, die Frankfurter Reichsverfassung vom 28.3.1849 in Erinnerung zu bringen, deren Inkraftsetzung ein Ausweg aus der Kriegsgefahr sein könnte. 26 Dagegen ließ sich eine Bittschrift aus Wolfenbüttel 27 vorbehaltlos auf den Parlamentsantrag Bismarcks ein und forderte die Landesregierung auf, bei der Bundesversammlung für die Berufung eines deutschen Parlaments zu wirken. Sie unterstützte auch die machtpolitisch-taktische Maßgabe Bismarcks, einen Wahltermin noch vor einer näheren inhaltlichen Festlegung zu bestimmen, so entschieden, wie es zum damaligen Zeitpunkt nirgendwo der Fall war. Unter den 250 Unterzeichnern dieser Bittschrift waren führende Mitglieder des Nationalvereins und liberale Mitglieder der Landesversammlung. Die Landesregierung wich einer konkreten Stellungnahme aus und erklärte lediglich ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Beitritt zu diesem Bündnis, sofern sich die übrigen eingeladenen norddeutschen Staaten zur Mitwirkung bereiterklärten. 28 Auf der Linie des Nationalvereins lag die Forderung der Bittschrift, der Krone Preußens schon jetzt die deutsche Reichsgewalt zu übertragen und als Grundlage für die Parlamentsberatungen die deutsche Reichsverfassung von 1849 vorzulegen. 29 Ein Ausschuss des Landtags forderte das Staatsministerium unter Hinweis auf die bekannt liberale Politik des Herzogtums auf, die Berufung eines deutschen Parlaments mit allen Kräften beim Bunde zu fördern. 30 Noch entschiedener war die Stellungnahme des zum 16.7.1866 schließlich einberufenen Landtags. Die Kommission hatte zwar einstimmig die Empfehlung aus-

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Ebd., 40. Ebd., 23. Bittschrift v. 25.4.1866, ebd., 24. Ebd., 37. Ebd., 25. Ebd., 38.

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gesprochen, den Anträgen der Regierung auf Beitritt zum Bündnis und zur Bewilligung der Kosten für die Truppenaufstellung „unbedingt vollständig und so rasch als möglich zu erteilen. 31 Die Emphase des Kommissionsberichts stand im auffälligen Gegensatz zu den Ausflüchten und der Verschleppungstaktik des Herzogs und seiner Regierung, die dann auch explizit im Kommissionsbericht kritisiert wurde. 32 Schon die geographische und politische Lage des Herzogtums hätte es unmöglich gemacht, dieser Aufforderung auszuweichen. Die zuvor hingenommene Entscheidung für die Neutralität wurde nun verworfen, zumal der Deutsche Bund in der „deutschen Nation niemals Freunde gehabt habe.“ 33 Zu Änderungen an dem preußischen Bundesreformplan hielt sich die Kommission nicht berufen. Im Interesse der Bismarckschen Reformpolitik hielt die Kommission die Bereitschaft zur Beschränkung der Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten für erforderlich, zumal die „souveräne Macht der kleinen Staaten schon jetzt eine nichtige gewesen“ und machtpolitisch bedeutungslos sei. 34 Offenbar wollten die liberal-nationalen Wortführer sich deutlich von der zuvor proösterreichischen Haltung des Herzogs absetzen, der jede eindeutige Befürwortung der preußischen Nationalpolitik vermieden hatte. Damit sei er kein geringes Risiko für die Selbstständigkeit des Landes eingegangen. Dass dies ohne Folgen blieb, lag einmal an Differenzen zwischen der Lagebeurteilung des preußischen Königs und Bismarcks, wonach es geboten zu sein schien, nach der Annexion Hannovers die Zukunft des benachbarten welfischen Herrschaftshauses offen zu lassen. Die Landesversammlung teilte zwar das emphatische propreußische Bekenntnis der Liberal-Nationalen nicht, nahm aber dennoch den Antrag der Kommission einstimmig an. 35 Die widerstrebende Haltung der Herzoglichen Regierung setzte sich gleich nach der Konstituierung des Norddeutschen Bundes fort. Während die übrigen norddeutschen Staaten Militärkonventionen mit Preußen abschlossen, zuletzt die beiden Mecklenburg im Juli bzw. November 1867, ließ das Herzogtum Braunschweig den Zeitpunkt, zu dem die preußische Politik den Abschluss erwartete, nämlich den 1.8.1867, verstreichen. 36 Das stärkste Motiv für die Bereitschaft zum Abschluss einer Militärkonvention war die damit verbundene Hoffnung auf eine Erleichterung der finanziellen Belastungen, die sich aus dem Militäretat des Bundes ergaben. Für den Braunschweigischen Herzog aber war das kein vorrangiges Ziel. Priorität für ihn hatte vielmehr die Beibehaltung der bisherigen Organisation des

31 Ebd., 60. 32 „Angesichts einer vom Ausland drohenden Intervention wäre (bei Wahrung der Neutralität) unter allen Umständen die politische Ehre verloren.“ Ebd., 61. 33 Ebd., 60. 34 Ebd., 62. 35 Ebd., 63. 36 Karl Lange, Bismarcks Kampf um die Militärkonvention mit Braunschweig 1867–1886, Weimar 1934.

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braunschweigischen Militärs, möglichst in einer „geschlossenen gemischten Brigade.“ 37 Auf finanzielle Erleichterungen, „welche nur durch das Aufgeben militärhoheitlicher Rechte zu erreichen sein würden“, sei kein Wert zu legen. Das blieb allerdings in der Folgezeit nicht durchgängig die Devise. Die Regierung kritisierte die finanziellen Zugeständnisse an die Staaten, die eine Militärkonvention abgeschlossen hatten, als eine Ungerechtigkeit, ja sogar einen Verfassungsverstoß, da die Höhe der Militärkosten in der Verfassung exakt vorgeschrieben waren. 38 Die Absicht, diese Verfassungswidrigkeit vor den Bundesrat zu bringen, blieb allerdings unausgeführt. Mit der Zustimmung des Reichstags zu den Militärkonventionen im Oktober 1867 war die Verfassungsmäßigkeit durch die Abstimmung des Reichstags entschieden. 39 Die militärorganisatorischen Absichten Braunschweigs wurden aber im Wesentlichen verfehlt. Das Infanterieregiment, die Kavallerietruppe und die Fußbatterie wurden in die Armeestruktur Preußens integriert. Lediglich die traditionellen Uniformen sollten – nach einer mündlichen Vereinbarung – für eine Übergangszeit beibehalten werden. 40 Trotz dieses Misserfolgs hielt der Herzog kategorisch an der Ablehnung einer Militärkonvention mit Preußen fest. Zwar erwies sich die Rekrutierung des Offiziersnachwuchses für die braunschweigischen Regimenter als schwierig, so dass die Einsatzbereitschaft dieser Einheiten gefährdet war. Das veranlasste die preußische Militärführung immer wieder zu Interventionen, „um das braunschweigische Kontingent vor dem Zustande unausbleiblicher Zerrüttung zu bewahren.“ 41 Trotzdem bestand nur noch wenig Aussicht, „den notorisch widerwilligen Bundesgenossen“ 42 zum Abschluss einer Militärkonvention zu veranlassen. Je mehr die Sorge vor einer welfischen Restauration die Phantasie Bismarcks beschäftigte, desto mehr drängte er darauf, „die Hand auf den letzten braunschweigischen Husaren legen zu können.“ 43 Da die Konvention aufgrund der hartnäckigen Weigerung des Herzogs nicht zu erzwingen war, war die Besetzung der Stellen der Regimentskommandeure unbedingt dem König von Preußen vorzubehalten. Darüber hinaus hat Bismarck wiederholt eine Reichsexekution gegen Braunschweig, d.h. die militärische Besetzung und die Übernahme der dortigen Regierung betrieben. Das scheiterte jedoch immer wieder am Widerstreben des preußischen Königs. 44

37 Ebd., 6. 38 Ebd., 14f. 39 Bei der Debatte zur Vorlage der nachträglichen Genehmigung der Militärkonventionen am 22.10.1867 hielt eine Reichstagsminderheit den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit aufrecht. Dazu der Abgeordnete Waldeck: „Die Genehmigung der Verträge (sei) eine Abdankung des Reichstags“. Sten. Ber. Über die Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes 1867, 571. 40 Lange, Militärkonventionen, 11. 41 Ebd., 27. 42 Ebd. 43 Ebd., 21. 44 Ebd., 28ff.

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Niemand zweifelte daran, dass es einzig und allein die Person des Herzogs war, die eine solche nirgendwo sonst nachweisbare Verweigerungshaltung einnahm, womit er sein Herzogtum in ernste Existenznöte brachte. Weder sein Ministerium noch die Landesversammlung vermochten ihn davon abzubringen. Zweimal, 1867 und 1870, brachten die Abgeordneten diesen Punkt vor den Herzog, der aber eine Stellungnahme dazu ablehnte. 45 Gemäß seinen monarchischen Vorbehaltsrechten und der Verfassung zurecht. Und doch war es erstaunlich, dass die nationalliberalen Träger der Nationalstaatsgründung so wenig Veränderungsdruck auszuüben vermochten. Erst 1886 konnte die Landesversammlung einer Militärkonvention zustimmen, nachdem Herzog Wilhelm 1884 gestorben war. 46 Die norddeutschen Kleinstaaten waren bei der strategischen Ausrichtung ihres Verhaltens über den Beitritt zum Bündnisvertrag weitgehend auf sich allein gestellt. Die Frage des Braunschweigischen Ministers Campe nach einem möglichen Zusammenschluss dieser Staaten blieb ohne Resonanz. 47 Eine einzige Konferenz in Gotha hatte sie am 29.3.1866 zusammengeführt und hatte das Ergebnis gebracht, auf dem Bundesrecht zu beharren und sich nur unter Protest Preußen zu unterwerfen. 48 Bei der Werbung um die Kleinstaaten als „natürliche Bundesgenossen“ versprach Preußen als Gegenleistung für den Anschluss ihrer Kontingente an die preußische Armee die Achtung ihrer Rechte und Interessen. 49 Eine gleiche Zusage für den Fall der unbewaffneten Neutralität, wie sie dem Königreich Hannover gemacht worden war, blieb den Kleinstaaten verwehrt. Ein einheitliches Vorgehen der thüringischen Staaten war spätestens nach der Konferenz vom 24.5.1866 nicht mehr gegeben. Der Minister Larisch gab für Sachsen-Altenburg die Erklärung ab, dass es nicht im Interesse der deutschen und thüringischen Staaten liege, „Preußen zum Vorteil Österreichs schwächen zu lassen.“ 50 Ähnlich wie Braunschweig klammerten sich die meisten der Kleinstaaten damals noch an die – zuvor vom preußischen König genährte – Hoffnung, mit einer neutralen Haltung ungeschoren davon zu kommen. Die Einsicht, dass die bloße Neutralitätserklärung von Preußen nicht als ausreichend angesehen werde, sondern dass ernsthafte Konsequenzen drohten, ist nicht nur Braunschweig, sondern auch anderen Kleinstaaten äußerst schwer gefallen. Als Beispiel steht dafür Hamburg, dem zeitweilig eine Okkupation drohte. Allerdings hatte sich Bismarck am 19.6.1866 mit einer befreundeten Neutralität zufrieden geben wollen. Später hat er die Absicht der Okkupation durch die Androhung politischer und finanzieller Nachteile ersetzt. 51 Unter dem Druck einer Volksversammlung stellten sich Senat und Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg schließlich auf

45 46 47 48 49 50 51

Ebd. Ebd., 52ff. Karl Lange, Bismarck und die Norddeutschen Kleinstaaten im Jahre 1866, Berlin 1930, 21. Ebd., 22. Ebd., 35. Ebd., 38. Ebd., 65ff.

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die Seite Preußens. 52 Bei den meisten Kleinstaaten spielten die Vorbehalte gegen die preußischen Bundesreformpläne wenn überhaupt nur eine geringe Rolle. Anders war dies bei Oldenburg, den beiden Mecklenburg sowie Hamburg, das Bismarck zeitweilig für den gefährlichsten Gegner gehalten hat. 53 Dass sich Meiningen und Reuß ä. L. schließlich im Lager der Kriegsgegner wiederfanden, lag nicht nur an ihrer Verweigerungshaltung, sondern auch an der preußischen Führung, die wenig unternahm, um diese beiden Staaten auf ihre Seite zu ziehen. 54 Es waren nicht die großen konstitutionellen Fragen, die den Herzog und sein Ministerium bei dem Bekanntwerden des Entwurfs der Bundesverfassung bewegten, also nicht das Wahlrecht, das Budgetrecht, die Verfassungsstruktur, auch nicht der Militäretat, sondern die Bewahrung des Einflusses auf die braunschweigischen Kontingente. Die von Braunschweig gestellten Änderungsanträge zum Entwurf der Militärverfassung bezogen sich auf das Verfügungsrecht des Landesherren an den Braunschweigischen Truppen: – das Recht, die Offiziere der Braunschweiger Einheiten zu ernennen und zu befördern – die vorherige Information des Landesherrn bei deren Versetzung in andere Bundesstaaten – das nur in Ausnahmefällen auszuübende Dislokationsrecht des Bundesfeldherrn – die Überlassung des Aushebungsverfahrens dem einzelnen Bundesstaat – das Recht der Bestätigung kriegs- und ehrengerichtlicher Urteile für den Landesherrn – die Fortbildung der Militärgesetzgebung auf dem Wege der Bundesgesetzgebung vorzusehen – die eidliche Verpflichtung auf den Landesherrn – die Beibehaltung der – im Vergleich zu Preußen – günstigeren Pensionsregelung in Braunschweig – eine Änderung des Art. 68 in dem Sinne, „daß die Erklärung des Kriegszustands durch den Bundesfeldherrn nur auf Antrag der beteiligten Bundesregierungen geschehen dürfe.“ 55 Durchsetzen konnte Braunschweig keinen einzigen dieser Wünsche. Als Trostpreis verblieb dem Land nur die Beibehaltung der Uniformen für einen Übergangszeitraum. Der Herzog wollte sich damit jedoch nicht zufrieden geben und machte, um seine Stellung gegenüber den Braunschweigischen Einheiten zu behalten, den Vorschlag, die verschiedenen Truppengattungen seines Landes auf die Infanterie zu

52 Ebd., 129. Der Großherzog von Sachsen-Weimar klammerte sich ebenso lange an den Gedanken der Neutralität; am Tage der Kapitulation von Langensalza erfolgt schließlich die „fast bedingungslose Annahme der Forderungen.“ Ebd., 153. Mecklenburg-Strelitz stimmte am Ende unter dem Druck drohender Besetzung zu. Ebd., 132. 53 Ebd., 224-227. 54 Ebd., 184-203. 55 Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel (NSAWF), 12 A NEU, Fb 5, Nr. 689.

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konzentrieren. Die preußische Armeeführung riet dringend von einer solchen Organisationsänderung ab, zumal sie den vom Herzog gewünschten Zweck verfehlt hätte. Denn der kommandierende General dieser Truppe wäre vom preußischen König zu ernennen. 56 Außerdem exponierte sich die braunschweigische Regierung nur noch bei den Bestimmungen zum Postwesen. Mit der Unterstützung der Hansestädte wandte sie sich gegen die Zentralisierung der Post, die für das Land einen erheblichen Einnahmeverlust bedeutet hätte. Hier war Braunschweig erfolgreicher. Zwar ließ sich an den Regelungen des Verfassungsentwurfs nichts ändern, aber die preußischen Unterhändler gestanden dem Land eine Übergangsfrist bis 1875 zu. So lange wurden Braunschweig die bisherigen Einnahmen zugesichert. 57 3. DER BRAUNSCHWEIGISCHE BEVOLLMÄCHTIGTE BEIM BUNDESRAT In dem Gesandten Friedrich von Liebe 58 hatte das Herzogtum Braunschweig einen kompetenten Vertreter in Berlin, der die Entwicklung in dem neuen Staatswesen des Norddeutschen Bundes aufmerksam verfolgte. Wenn es Braunschweig nicht direkt betraf, hatte er für die Abstimmungen im Bundesrat einen erheblichen Handlungsspielraum. Er war nahezu ununterbrochen bei den Sitzungen des Bundesrats im Plenum und in den Ausschüssen präsent und gehörte nicht zu den Mitgliedern, die sich gerne vertreten ließen. Er verfolgte nicht ohne Besorgnis die Häufung der Geschäfte, die sich durch das „Übermaß des Parlamentsbetriebs“ 59, nicht allein durch die Sessionen des Reichstags und des Zollparlaments, sondern auch des preußischen Landtags, ergaben, für den der Bundesrat zwar keine formelle Zuständigkeit hatte, dessen Verhandlungsergebnisse aber vielfache Auswirkungen auf die Vorlagen für den Bundesrat hatten. Wie viele andere Beobachter hielt er das Nebeneinander von Reichstag und preußischem Landtag auf die Dauer nicht für tragfähig, und zwar wegen der Überforderung des Bundesrats und des Reichstags 60, auch wenn er die Abgeordneten – trotz der Diätenverweigerung im Reichstag – auf dem Weg zu Berufsparlamentariern sah 61. Er hielt es für erforderlich, dass der Bundesrat in Permanenz tagte, damit genügend Zeit für die Bearbeitung und die rechtzeitige Fertigstellung der Vorlagen zur Verfügung stand. 56 Ebd., 5 N 260. 57 Ebd. 58 Friedrich von Liebe war 1851 zum Geschäftsträger am preußischen Hof berufen worden. 1861 wurde er Braunschweigischer Minister, 1867 Ministerresident in Preußen sowie Bevollmächtigter beim Bundesrat. In der Nachfolge Campes führte er für Braunschweig die Verhandlungen der Verbündeten Regierungen mit dem Reichstag über die Verfassung des Norddeutschen Bundes. 59 NSAWF, 12 A Neu, Nr. 47, 15.3.1868. 60 Ebd., 31.05.1867. 61 Ebd., 23.04.1868 u. 04.8.1867.

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Die Berufung Rudolf (von) Delbrücks 62 zum Präsidenten des Bundeskanzleramts hielt Liebe für einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Effektivität des Bundesrats. Die faktische Leitung der Bundesratsausschüsse durch preußische Ministerialdirektoren aber tendiere zur Verstärkung der preußischen Dominanz, die Liebe ohnedies durch die unitarische Richtung der preußischen Politik gegeben sah 63, trotz der föderalistischen Struktur des Norddeutschen Bundes. Liebe behielt eine skeptische Distanz zum Parlamentarismus und lehnte die Einführung verantwortlicher Ministerien ab, da der Bund im Wesentlichen legislatorische Kompetenzen habe. 64 Aber er hielt doch den Reichstag, die parlamentarische „Hochdruckmaschine“ 65, für ein notwendiges Gegengewicht gegen die preußische Bürokratie. Gelegentlich äußerte er die Befürchtung, „daß das parlamentarische Leben verbraucht sein wird, ehe man es entbehren kann“. 66 Auch gegenüber den Liberalen, die damals die braunschweigischen Reichstagsmandate unter sich ausmachten und die öffentliche Meinung des Landes beherrschten, hielt er Distanz. Die liberale Dominanz im politischen System des Norddeutschen Bundes hielt er für problematisch. Das Parteiensystem solle den Gegensatz von Zentralismus und Föderalismus widerspiegeln. Die Parteien sollten frei von ideologischen Konzepten und dogmatischen Vorstellungen sein. Föderalistisch bedeutete für ihn die angemessene Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Mitgliedsstaaten. Zu Besorgnis gaben Liebe die Bundesfinanzen Anlass, da die Kompetenzen zur Bewilligung von Steuern und Einnahmen auf drei Parlamente aufgeteilt waren und das eine Parlament dem anderen die undankbare Aufgabe der Bewilligung der zum Etatausgleich notwendigen Einnahmen überließ. Der Reichstag hatte in den Verhandlungen des konstituierenden Parlaments für die Kompetenz gesorgt, direkte Steuern beschließen zu können. 67 Anders als die Vertreter der meisten Kleinstaaten, die von direkten Steuern die Minderung der Last der Matrikularbeiträge erhofften, blieb Liebe in diesem Punkt skeptisch, da er die davon ausgehende unitarische Wirkung befürchtete. 68 Der braunschweigische Staat wurde nicht wie eine Reihe anderer Kleinstaaten durch die Matrikularbeiträge in eine Finanzkrise von existentieller Bedrohung gebracht. 69 Allerdings widersprach Liebe, darin unterstützt von Hamburg und den beiden Mecklenburg, dem Antrag, die Matrikularbeiträge nach der Steuerleistung und nicht der Bevölkerungszahl zu bemessen. 70 Das hätte für Braunschweig, das neben den beiden Mecklenburg als einziges Land die Militärlast ohne

62 Rudolf (von) Delbrück war von 1867 bis 1876 Leiter des Bundes- bzw. Reichskanzleramts. Seine Ernennung zum preußischen Staatsminister im Jahr 1868 unterstreicht die Verquickung der leitenden Ämter Preußens und des Norddeutschen Bundes. 63 NSAWF, 12 A Neu, Nr. 47, 13.5.1868. 64 Ebd., Nr. 48,1, 20.03.1869. 65 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt 1980, 391. 66 NSAWF, 12 A Neu, Nr. 47, 26.04.1868. 67 Reichstag des Norddeutschen Bundes, Anlagen, Nr. 16, III, 2. 68 NSAWF, 12 A Neu, Nr. 47, 13.05.1868. 69 Ebd., 08.08.1867. 70 Ebd., 11.04.1867.

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Abstriche zu zahlen hatte, eine zusätzliche Belastung bedeutet. Die Vertreter des Landes kämpften nicht oft für materielle Interessen, dann aber, wie im Fall der Verwendung der Telegrapheneinnahmen, mit großer Entschiedenheit. 71 Nach dem sich abzeichnenden Sieg über Frankreich im September 1870 stellte sich Liebe die Frage, ob das Verfassungssystem des Norddeutschen Bundes imstande sei, die süddeutschen Staaten zum Beitritt zu bewegen und zu integrieren.72 Der Braunschweigische Bevollmächtigte erwartete zuversichtlich, dass der Bundesstaat weit weniger zentralistisch sein würde. Er hielt eine Lockerung der Verfassungsstruktur, eine Mischung von Allianz und Verfassung, halb international, halb national, 73 für wahrscheinlich, was er mit der Hoffnung verband, dass doch das Nationale und der Patriotismus dominant bleiben würden. Dass am Ende doch nur Sonderrechte für Bayern und abgeschwächt für Württemberg zugestanden wurden, die Verfassung in der Substanz aber unverändert blieb, hätte von Liebe nicht erwartet. Allerdings blieb die von den Liberalen für unerlässlich gehaltene Stärkung der zentralistischen Züge der Verfassung ebenfalls aus. 74 Im Oktober 1868 schrieb Liebe nach Braunschweig: „In Bezug auf die inneren Angelegenheiten soll noch immer die Einführung des allgemeinen Stimmrechts, von dem Gefahren und Übelstände besorgt werden, viel Anstoß erregen.“ 75 Er führte den steigenden Einfluss des Ultramontanismus und „das Umsichgreifen kommunistischer Ideen“ auf das demokratische Wahlrecht zurück. 76 Ein Symptom für das Anwachsen der Arbeiterbewegung sei der damals stattfindende Arbeiterkongress in Berlin. Er hätte auch auf die Arbeiterorganisation im Herzogtum Braunschweig verweisen können, die in direktem Zusammenhang mit dem allgemeinen Wahlrecht stand. Die 1863 von Lassalle gegründete Partei hatte es, ungeachtet der Bismarckschen Absicht, es zur Stärkung der monarchisch-konservativen Kräfte zu instrumentalisieren, zur Basis der Parteistrategie und Agitation gemacht. Die 1865 gegründete Lassalleanische Gemeinde in Braunschweig 77 trat bei den Reichstagswahlen von 1867 in allen drei Wahlkreisen des Landes mit eigenen Kandidaten an, mit beachtlichen Stimmanteilen, auch wenn die Mandate mit großer Mehrheit an die Vertreter des Liberalismus fielen. 78 Die Braunschweiger Sozialdemokraten beschränkten sich mit ihrer Agitation nicht auf die städtischen Zentren, sondern bemühten mit einigem Erfolg darum, auf dem Land Fuß zu fassen. 1868 schloss sich die Partei der Internationalen Arbeiterassoziation an. Im folgenden Jahr war die

71 72 73 74 75 76 77 78

Ebd., Nr. 5, 14.01.1867. Ebd., Nr. 47, 18.09.1870. Ebd., 07.09.1870. S. dazu meinen Beitrag „Parlamentarismus im Norddeutschen Bund“ in diesem Band. NSAWF, 12 A Neu, Nr. 47, 13.10.1868. Ebd. Georg Eckert, 100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie, Hannover 1969, 51ff. Die oft zitierte Feststellung des Braunschweiger Liberalen Wilhelm Kulemann „es sei selbstverständlich, daß ein zurechnungsfähiger Mensch, der nationalliberalen Partei angehörte“, ließ von vornherein die sozialdemokratischen Anhänger außer Betracht. Wilhelm Kulemann, Politische Erinnerungen, Berlin 1911, 28.

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Braunschweiger Gemeinde mit Bracke, Bonhorst und Spier führend an dem Bruch mit dem diktatorischen Parteiführer Schweitzer und dem Aufbau der „Eisenacher“ Partei beteiligt. Die Braunschweiger Sozialdemokraten übernahmen den Vorort und damit die Führung im Neuaufbau dieser Partei. 79 Sie unterstützte den Krieg gegen Frankreich zur Besiegung Napoleons III., forderte dann aber einen ehrenvollen Frieden für das republikanische Frankreich. Dieses Manifest brachte Bracke und vier weiteren Ausschussmitgliedern die Verhaftung unter den Bedingungen des Kriegsrechts ein. In Ketten gelegt, wurden sie unter erniedrigenden Umständen nach Lötzen an der Ostgrenze Preußens transportiert. 80 4. DAS HERZOGTUM IM KAISERREICH Das Herzogtum Braunschweig gehörte, sieht man von den Stadtstaaten ab, gewiss zu den wohlsituierten norddeutschen Kleinstaaten. Es stand wirtschaftlich solide da. Die Industrialisierung hatte namentlich den Maschinen- und Eisenbahnbau vorangebracht. Die Landwirtschaft war durch Domänenbesitz und prosperierende selbständige Bauern geprägt. 81 Die Verkehrsinfrastruktur und die Landesverwaltung waren gut ausgebaut. Vor allem verfügte es über solide Finanzen, nachdem der Erlös der Staatseisenbahnen weitgehend in die Ausstattung der Landesstruktur angelegt worden war. 82 Es hatte keine größeren Probleme, die erhöhten Anforderungen des Norddeutschen Bundes bzw. seit 1871 des Reiches zu erfüllen. Dennoch war und blieb die Zukunft des Landes ungewiss. Zwar war Braunschweig von dem Schicksal Hannovers verschont geblieben, aber die Folgen der Annexion sollten das Land in vielfältiger Weise treffen. Den Untergang der Hannoverschen Monarchie hatte die braunschweigische Bevölkerung mit geringer Empathie verfolgt. 83 Was sie aber bewegte, waren die Auswirkungen auf das eigene, nunmehr an allen Grenzen von dem Großstaat Preußen umgebene Land. Das Herzogtum blieb Hannover auch nach der Annexion durch die gemeinsame welfische Dynastie verbunden, zumal bei dem Gesundheitszustand des kinderlosen Herzogs Wilhelms für einen baldigen Thronwechsel Vorsorge getroffen werden musst. Schon 1867 hatte die staatsrechtliche Kommission der Landesversammlung eine Thronbesetzung durch Preußen für wahrscheinlich gehalten und für diesen Fall die vertragliche Sicherung der Landesverfassung und Selbständigkeit des Landes angestrebt. Im Dezember 1870 hatte eine Reihe von Abgeordneten das Ministerium 79 80 81 82

Eckert, Sozialdemokratie, 79ff. Ebd., 129. Kaufhold, 724ff. Schildt, Die Industrialisierung, in: Braunschweigische Landesgeschichte, 801. Dazu auch die positive Einschätzung der Leistungsfähigkeit des Landes durch den preußischen Gesandten v. Normann aus dem Jahr 1884 zit. in: Hans Philippi, Preußen und die braunschweigische Thronfolgefrage 1866–1913, 61–64. 83 „Ein Bedauern über das Verschwinden Hannovers von der Landkarte“ war nirgends zu spüren. Kulemann, 13.

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aufgefordert, den verfassungsmäßigen Erbanspruch der Hannoverschen Linie auf das Herzogtum Braunschweig zu beseitigen, sofern der abgesetzte Welfenkönig Georg V. bei dem Aufbau der bewaffneten Welfenlegion Landesverrat begangen habe. 84 Im März 1871 wünschte die Landesversammlung die Garantie der Reichsgewalt für die Aufrechterhaltung der Verwaltung bei Eintreten der Thronfolge und – bis zur Thronbesteigung des Nachfolgers – die Regierungsübernahme durch den deutschen Kaiser. 85 1873 bereitete die Regierung des Herzogtums ein Regentschaftsgesetz für den Fall der Thronerledigung vor, um jede Störung des Landes in dem Übergangszeitraum zu vermeiden. Gegen die in der Landesversammlung eingebrachte Gesetzesvorlage legten Kaiser und Reichskanzler in schroffer Form Verwahrung ein und verbanden dies mit der Androhung für den Fall des Thronanspruchs der Hannoverschen Linie, „das Herzogtum als Gegenstand kriegerischer Okkupation von Preußen“ zu behandeln. 86 In der Presse wurde gezielt die Information gestreut, es sei der Wunsch des Landes, entweder mit Preußen vereinigt zu werden oder aber den reichsunmittelbaren Status eines Reichslandes, nach Analogie Elsaß-Lothringens, zu erhalten. 87 Einen solchen realitätsfernen Vorschlag sollte Jahrzehnte später der Alldeutsche Verband machen, in dessen imperiale Vorstellungen der monarchische Duodezföderalimus nicht mehr passen wollte. 88 1879 kam im zweiten Anlauf ein Regentschaftsgesetz zustande, das die Entscheidung über die Nachfolge von der Zustimmung des Kaisers und des Bundesrats abhängig machte. Bismarck sicherte Braunschweig zu, das Bedürfnis nach Selbständigkeit nicht anzutasten, ließ aber gleichzeitig Militärbefehle vorbereiten, im Fall drohender Störung des Friedens im Herzogtum zu intervenieren. Bis zum schließlichen Tod von Herzog Wilhelm im Jahr 1884 blieb das Land unter Drohung der Besetzung, um einen eventuellen Aufstand mit Waffengewalt zu unterdrücken. 89 Mit der Entscheidung für die Regentschaft des Prinzen Albrecht hielt Preußen die dynastische Entwicklung einschließlich der Option einer Personalunion mit Preußen offen. Bei der nächsten Regentschaftswahl 1907 aber weigerte sich die Landesversammlung, der preußischen Wunschvorstellung zu folgen. Das Land war es müde, weiterhin als bloßes Objekt der Entwicklung betrachtet zu werden. Hinzu kamen enttäuschende Erfahrungen mit dem Regenten Prinz Albrecht, die Schwächung des Liberalismus im Herzogtum, das nicht ungeschickte Agieren der neuaufgekommenen Welfenbewegung und schließlich die geringere Autorität Kaiser Wilhelms II. und des Reichskanzlers von Bülow, der sich die Landesversammlung nicht willenlos fügen wollte.

84 Hans Philippi, Bismarck und die Braunschweigische Thronfolgefrage, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 32/1960, 264. 85 Ebd., 265. 86 Ebd., 272. 87 Ebd., 270. 88 Karl Lange, Braunschweig Reichsland? Die Alldeutschen und die Thronfolgefrage, in: Braunschweigisches Jahrbuch 60/1979, 109–141. 89 Philippi, Bismarck und die Braunschweigische Thronfolgefrage, 289.

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Endgültig beendet waren der Welfenkonflikt und die Gefährdung der Existenz des Herzogtums mit der spektakulären Heirat der Hohenzollernprinzessin Viktoria Luise und dem Welfenprinzen Ernst August im Mai 1913, nachdem die Bundesratsbeschlüsse gegen die Zulassung der Hannoverschen Welfen zum braunschweigischen Thron aufgehoben worden waren. Die Normalität eines Kleinstaats im deutschen Kaiserreich sollte aber nur ein Jahr anhalten. Dann unterminierte der Erste Weltkrieg die Grundlagen der monarchischen Staatenwelt, bis schließlich 1918 die Novemberrevolution den Herzog vom Thron vertrieb. Spätestens jetzt mussten im Rückblick die Konflikte und Abwehrmaßnahmen gegen die Zulassung der Welfen auf dem braunschweigischen Thron, die das Land seit der Gründung des Norddeutschen Bundes begleitet hatten, anachronistisch und bizarr erscheinen. Klaus Erich Pollmann ist emer. Professor für Geschichte der Neuzeit an der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg.

SCHWERPUNKT II: „BEDINGT EINSATZBEREIT!“ DIE GEMEINSAME SICHERHEITSUND VERTEIDIGUNGSPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION

THE REVIVAL OF THE WESTERN EUROPEAN UNION NATO Europe and the Pre-history of Maastricht Ralph Dietl Abstract: The two phases of the revival of the Western European Union (WEU) at the end of the Cold War deserve thorough analysis. The first stage of the WEU revival is a response to the recreation of superpower détente in 1983. The second phase is directly connected with the solution of the German question at the end of the Cold War. In both cases an ‘Atlanticist’ agenda dominated the revival. A Europe puissance was not allowed to emerge. The WEU revival prepared the European Security and Defense Identity (ESDI) of NATO. The US-SU transformation of systemic bipolarity dictated the agenda. The superpowers and the ‘Atlanticist’ European NATO members sought to avert a shift towards systemic multi-polarity. The phenomenon of the WEU reform is almost detached from the EC treaty process. A European Army concept was never envisaged.

The European Defense Community (EDC) saga of 1950–1954 still inspires. The EDC is the classic point of reference for all those academics and politicians who plead for the formation of a European Army as the crowning jewel of the European construction. Defense remains the ultimate frontier. Defense cooperation is the Rubicon to be trespassed in order to form a European Federation. 1 Federalists dream of a United States of Europe. 2 In search of a Weberian ideal type the EDC Project of the 1950s attracts academic and political attention. The future European Defense Force (EDF) has to be answerable to a European Central Command and controlled by a European Political Union (EPU). However, the chosen icon – the historic EDC Project – does not remotely resemble the imagined ideal-type of the European Federalists of the 21st Century. The historic EDC was a political straightjacket for the Germans and thus a far cry from a model European Army concept for today’s European Union. 3 In 1954–1955 the West-Europeans keenly embraced Churchill’s alternative to the EDC Project, namely the revision of the Brussels Treaty Organization of 1948. The Paris Treaties established the ‘re-christened’ BTO as a subunit of the North Atlantic Treaty Organization (NATO). The Western European Union

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Jolyon Howorth, The Future of Europe, Los Angeles, 2018. See: Publications of the Lothian Foundation and of Europäische Zentrum für Föderalismusforschung, Tübingen. Ralph Dietl, Emanzipation und Kontrolle, Europa in der Westlichen Sicherheitspolitik, 1948– 1958, vol 1, Stuttgart, 2006.

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(WEU) Arms Control Agency (ACA) enabled a sovereign West-Germany to form national armed forces answerable to the NATO. ‘Europe’ remained a nested entity within the wider NATO framework. During the Cold War the WEU had a triple function. It controlled the build-up of the West-German armed forces, it offered NATO Europe an option to co-decide military procurement matters and it served as a NATO European caucus for defense policy. Military expertise was provided by NATO and in rare army procurement cases by the in-official FINABEL organization, i.e. the Army Chiefs of Staff of France, Italy, the Netherlands, Germany and Belgium. Attempts to turn the WEU into a European pillar of the Atlantic Alliance all faltered. The WEU Arms Control Agency instituted for the control of WestGermany’s military potential remained the only noteworthy WEU institution. NATO provided for the defense of the European Continent. In brief, by 1955 a clear-cut division of tasks between NATO and the European institutions had emerged. 4 NATO provided hard security for the ‘West’. The European institutions dealt with the economic reconstruction, the moral and democratic renewal of the ‘Old Continent’ and provided soft security for the European theatre. 5 After 1967 NATO developed a common Eastern policy. With the adoption of the Harmel Report a kind of ‘Atlanticist’ foreign and defense policy emerged. Harmel harmonized superpower and European détente. 6 The European Political Co-operation (EPC) of the EC remained limited to the co-ordination of the political aspects of European economic integration. 7 The division of tasks between NATO and the European institutions remained frozen up to the end of the so-called Second Cold War of 1979– 1983. This contribution to the Yearbook deals with the revival of the WEU shortly after the end of the Second Cold War of 1979–1983. The Reagan Administration campaign for ‘freedom’ had repercussions on international relations. The US President sought to destroy the shackles of the past that hindered a US revivalism. 8 The Carter legacy was assailed on all fronts. National security affairs were re-organized. Priorities shifted. The co-creation of a new world order shifted center stage. The emerging recreation of superpower détente nourished European fears of a US-SU condominium in world affairs. The Reagan Administration obviously planned to end European penetration of US decision-making. In brief, The Reagan team sought to break the entrapment-abandonment cycles that characterized Alliance affairs and 4 5

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Ibid; Ralph L. Dietl, ‘The WEU: A Europe of the Seven 1954–1969’, in: Journal of Transatlantic Studies, 7, 4 (2009), 431–452. Lutz Köllner, Klaus A. Maier, Wilhelm Meier-Dörnberg, i.a., Die EVG-Phase, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, Bd. 2, München 1990; Hans-Erich Volkmann, Walter Schwengler (eds), Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung, Boppard am Rhein 1985. Gustav Schmidt, The History of NATO: The First Fifty Years, New York 2001. Frederic Jouhet, ‘The Maastricht Treaty on European Union. Is Western Europe Truly Getting Closer to Unity’, in: Columbia Journal of European Law (1995), 285–304, 293f. Michael Cox, ‘Whatever Happened to the Second Cold War? Soviet-American Relations, 1980–1988’, in: Review of International Studies 16, 2 (1990), 155–172, 157ff.

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froze the Cold War system. 9 The ‘Reagan Reversal’ of 1983 clearly indicated an interest of the US Administration to modernize bipolarity and to co-create with the Soviet Union a new ‘Europe’ between the superpowers. 10 The revival of the WEU was the European response to the emerging revolution in international affairs. 11 Europeanists commonly do establish a firm link between the acceleration of European Integration in the 1980s and the revival of the WEU. Both developments are frequently interpreted by academia as the two sides of the same coin. 12 The latter assumption is wrong. The revival of the WEU antedated both the EC’s 1992 Project and the Single European Act of 1986. There was no spill-over effect into the issue area of defense. Europeanists overestimate the radiating influence of the EC treaty process and disregard the impact of the superpower co-creation on European behavior and the international system. The strategic environment matters. The revival of the WEU in the years 1984–1987 was not even a Europeanist phenomenon. The revival of the WEU is Janus-faced. The revival of the WEU strengthened both (1) European defense co-operation and (2) ‘Atlanticism.’ The WEU member-states did not seek to enhance Europe’s autonomy in defense affairs to obtain a break-out option from systemic bipolarity. France was the only advocate of a ‘Europe puissance’. The other WEU member-states, West-Germany in particular, sought to renew the ‘Atlantic bridge’. The NNWS sought to establish a new Atlantic bargain. It was in the national interest of the NNWS to align their national security concept to the framework set by the superpowers. 13 This book chapter is divided into two parts. Both parts will highlight the importance of the Cold War framework for the European construction. The first subchapter reviews the (1) revival of superpower détente under the Reagan Administration, (2) the revolution in arms control and (3) the revolution in military affairs. The core focus in that chapter is on NATO European responses to the Strategic Defense Initiative (SDI) and the emerging superpower condominium. 14 The second sub-chapter deals with the wider arms control agenda after the historic US-SU Reykjavik Summit. The growing superpower entente created huge waves in transatlantic relations. Western European responses demanded a ‘European Reykjavik’ – i.e. a broadening of the arms control agenda. Both the WTO and NATO developed comprehensive arms control concepts. The US and SU developed core visions of a

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Jane Sharp, After Reykjavik. Arms Control and the Allies, in: International Affairs 63, 2 (1987), 239–257. Beth Fischer, The Reagan Reversal and the End of the Cold War Endgame, Columbia: University of Missouri Press 1997. Ralph L. Dietl, SDI. Ronald Reagan, NATO Europe and the Nuclear and Space Talks, Lanham/New York/Bolder/London: Lexington 2018, Chapter: Conclusion. Anne Deighton (ed), Western European Union, 1954–1997, Defence, Security, Integration, Oxford: St. Anthony’s College 1997. George Ross, ‘After Maastricht: Hard Choices For Europe’, in: World Policy Journal 9, 3 (1992), 487–513; Stanley Hoffmann, ‘The European Community and 1992’, in: Foreign Affairs 68, 4 (1989), 27–47. David Calleo, Europe’s Franco-German Engine, Washington: Brookings 1998.

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new European and global order. Both the Soviet Union’s ‘Common House of Europe’ and America’s ‘New Atlanticism’ sought to preserve the bipolar system configuration. The Europeanist counter vision of a merger of a European Union with the WEU challenged systemic bipolarity and prepared the ground for the ‘hour of Europe’: the creation of a multi-polar world order. Yet again, the treaty process is of secondary importance for the European construction. SUPERPOWER DÉTENTE: NATO EUROPEAN RESPONSES AND THE REVIVAL OF THE WEU The year 1979 changed the Cold War. NATO’s dual track decision – i.e. the decision to deploy GLCM and Pershing II in the European theatre – to ‘balance’ the Soviet SS-20 torpedoed superpower détente. The decision to modernize US Forward Based Systems (FBS) in Europe derailed the SALT process. SALT II remained un-ratified. The danger of a multilateral SALT III settlement for FBS disappeared. 15 The European instigated ‘dual track decision’ destroyed the strategic matrix. The settlement of the Cuban Missile Crisis was invalidated – i.e. the joint withdrawal of modern IRBM from forward positions. 16 The settlement of the Cuban Missile crisis assured that none of the superpowers was threatened by modern IRBM forces. The settlement broke the escalation ladder and thus enhanced superpower security. Nuclear annihilation was now limited to the European Continent. The European NATO dual-track decision of 1979 re-established the escalation ladder. 17 The deployment decision enhanced the credibility of US extended deterrence, but undermined superpower détente. The ‘Western’ threat to the Soviet Union multiplied. The price was the Second Cold War. A deeply shaken Soviet Union responded asymmetrically. The Soviet intervention in Afghanistan and the Polish crisis finally ended co-existence and revived the competition of an earlier era. In brief, the widely discussed Second Cold War started in Europe – not at the periphery. Western European insecurity triggered the Second Cold War. 18 Well, Carter’s Alliance focus triggered the Second Cold War. The Reagan Administration gradually broke with the Carter legacy. The Europeanization of NATO decision-making was rolled back. The replacement of Secretary of State Alexander Haig – a staunch Atlanticist – eased a revival of superpower détente. 19 George Shultz re-directed na-

15 Ralph L. Dietl, Beyond Parity. Europe and the SALT Process in the Era Carter, 1977–1981, Stuttgart: Steiner 2016, Chapter III, 3, IV, 4 and V, 2. 16 Philip Nash, The Other Missiles of October: Eisenhower, Kennedy and the Jupiter, 1957–1963, Chapel Hill: North Carolina Press 1997. 17 Helmut Schmidt, IISS, Buchan Lecture, Survival 20, 1 (1978), 2–10. 18 Dietl, SDI, Conclusion. 19 Dietl, SDI, chapter 1 and 2; see also: Jack Matlock, ‘The End of Détente and the Reformulation of American Strategy 1980–1983’, in: Kiron Skinner (ed), Turning Points in Ending the Cold War, Palo Alto: Hoover Institution Press 2007.

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tional security policy. Reagan’s vision of a world without nuclear arms was structured. The Reagan Administration’s ‘grand design’ was based on three core pillars: (1) a staged INF or phased FBS settlement; (2) a revolution in military affairs and (3) the formation of a global astrodome. The ‘Reagan Reversal’ of 1983 altered the power game. The US Administration stunned global audiences with its new defense vision. The US toyed with (1) a multilateralization of arms control, (2) propagated a single warhead later on an air-breathing deterrent force and (3) sought to replace Mutually Assured Destruction (MAD) by Mutually Assured Security (MAS). In brief, Reagan declared deterrence unethical. The planned introduction of a global defense shield in space was deemed indispensible to push a ‘global zero’ agenda. The invalidation of ballistic missiles eased a multilateralization of strategic arms control and thus a step-by-step de-nuclearization of NWS. Smart air-breathing forces had to offer the superpowers a limited strike option to punish or deter aggression by N-parties prior to (1) the establishment of a global astrodome and (2) the elimination of all classes of nuclear weapons. 20 The US ‘blueprint’ for a Cold War endgame and the revival of superpower détente revolutionized West-West and East-West relations. Reagan’s admired art of improvisation was secondary. 21 The Reagan Administration’s emerging geopolitical vision forced the world to improvise and adjust to America’s renewed geopolitical leadership. As Robert Mac Farlane highlights Gorbachev’s perestroika and glasnost might just be a core facet of an overall Soviet adjustment program to Reagan’s new world order vision. 22 Even the selection of Gorbachev as General Secretary might have been a Soviet reaction to the Reagan challenge. Mikhail Gorbachev delivered. The new General Secretary’s comprehensive reform agenda fostered superpower détente, prepared a superpower entente and eased a modernization and transformation of bipolarity. The superpower diplomacy of the era Reagan-Gorbachev was soon structured by the joint US-SU vision to denuclearize global defenses. The Geneva and Reykjavik Summits of 1985 and 1986 planned the joint elimination of all strategic nuclear weapons. Two strategies for ‘global zero’ emerged. Gorbachev pleaded for a forced multilateralization of the strategic arms control negotiations in order to phase out all nuclear deterrent forces simultaneously. Reagan presented his vision of a cocreation of global defense architecture. The ‘weaponization of space’ was indispensable to make N-party systems ‘impotent’ and ‘obsolete’. The NWS thus would be forced to give up their obsolete deterrent forces and join the global disarmament

20 Scowcroft Commission Report or the Report of the President’s Commission on Strategic Forces, April 1983, https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=umn.31951d008227328;view=1up; seq=1 (access date: 25 Aug 2018). 21 James Graham Wilson, The Triumph of Improvisation. Gorbachev’s Adaptability, Reagan’s Engagement, and the End of the Cold War, Ithaca: Cornell University Press 2015. 22 ‘It is good that we transferred the leadership from Thatcher to Reagan.’ Postscript, The Diary of Chernyaev 1987, edited by Svetlana Savranskaya, Briefing Book No. 250, Washington: National Security Archive 2008, 26 April 1988; Robert MacFarlane, ‘Ronald Reagan: Architect of Perestroika’, cit in: Cox, Second Cold War, 155–172.

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effort of the superpowers. 23 The Nuclear and Space Talks (NST) established in March of 1985 formed the forum to co-plan the elimination of all strategic nuclear weapons. The superpowers agreed on the reduction agenda. 24 The N-party question remained unsettled. Moscow still insisted on an early multilateralization of the START negotiations. The US objected. Momentarily, the superpowers could not pressure global disarmament. France and the United Kingdom would defend their relative position in the international system, break NATO and develop a European Nuclear Force. A multi-polar world order was neither in the interest of the United States nor of the Soviet Union. The formation of a global astrodome was an indispensable intermediate step on the path to a world without nuclear weapons. The US-SU Reykjavik Summit was a shock for NATO Europe. The emerging superpower co-creation challenged ‘European’ security. The NATO Allies were all too aware that the ‘deep cuts’ reduction program demanded at a certain juncture a multilateralization of strategic arms control. Both the Gorbachev Plan, i.e. the Soviet concept to obtain ‘global zero’ by radical reductions, and the US SDI project, which linked superpower disarmament to the introduction of defensive architectures, envisaged a multilateralization of arms control, a replacement of the strategy of mutually assured destruction and an abandonment of the principle of nuclear deterrence. 25 The European NWS deemed both (1) the ‘deep cuts’ disarmament program and (2) the territorial defense scheme a threat to ‘European’ and national security. The NWS would be forced by both superpowers to disarm and accept the formation of a de-nuclearized Europe between the superpowers. NATO’s response to both the disarmament agenda and its appendix, the SDI project, was thus extremely hostile even vitriolic. The wider SDI vision finally crystallized. British attitude towards SDI remained as ‘hostile’ as in the previous years. HMG had first ridiculed the ‘Star Wars’ concept as a ‘Maginot line in space’, thereafter had forged alliances with members of Congress to dislodge the SDI concept and finally had agreed to a revival of the Western European Union to enhance European hedging power. 26 Both the Whitehall bureaucracy and the Foreign and Commonwealth Office (FCO) considered SDI a frontal assault on Britain’s standing in the world. President Reagan’s frequent public denunciations of nuclear deterrence as immoral undermined NATO’s forward strategy and the modernization of Britain’s deterrent forces. Margaret Thatcher needed all her authority to preserve the public impression of an Anglo-American unity in defense affairs. The engine of the

23 George Shultz, Reykjavik Revisited. Steps Towards a World Free of Nuclear Weapons Palo Alto: Hoover Institution Press 2008; Last Conversation Between Gorbachev and Reagan in Reykjavik, 12 Oct 1985, Perestroika in the Soviet Union: 30 Years On, edited by Svetlana Savranskaya and Anna Melyakova, Briefing Book No. 504, Washington: National Security Archive 2015. 24 Dietl, SDI, Conclusion. 25 Ibid 26 Dietl, SDI, 57.

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US-UK special relationship was far from running smoothly. The triumphal re-election of Ronald Reagan in 1984, however, had forced HMG to fall in line with US framework setting. Reagan’s domestic standing was unassailable. HMG thus had angrily embraced the SDI project. 27 HMG had decided to partake in the US project in order to be able to steer the architectural planning and to preserve deterrence. The Reykjavik Summit finally revealed Reagan’s plan of a US-SU SDI sharing scheme. The ‘global astrodome’ concept only underlined the need to enhance European voice opportunity in defense affairs. The British attempt to penetrate US decision-making was backed by most Continental European Allies – except France. France adopted a balancing strategy. The WEU SDI working group served the ‘bandwagoning’ Europeans as an instrument to co-ordinate the NATO European response to the SDI project. 28 The French response to Reagan’s gradually crystallizing defense vision was the revival of the concept of a Europe de la Defense. The ‘weaponization of space’ threatened the French force de frappe. European unity had to be strengthened to forestall a superpower co-creation that threatened to seal the fate of the ‘Old Continent’. French adjustment policies commenced long before the advent of the Reagan era superpower summitry and long before the Reykjavik shock. The SDI Address of March 1983 had triggered ‘European’ responses to the Reaganite defense vision. The French planned to co-ordinate the civilian EC EUREKA high technology programs with military R&D conducted by the WEU Standing Armaments Committee. 29 The financing of the EUREKA R&D projects would be ‘European’. The complementary military applications would be financed by the respective national defense budgets. The WEU revival had to strengthen European autonomy. European theatre security depended on the enhancement of European defense co-operation. Paris banked on enhanced conventional and nuclear deterrence. Deterrence depended on offensive weapons capabilities and the preservation of an advanced retaliatory power. The French objected to any WEU projects that made the SDI concept applicable to the European theater. Territorial defenses for the European theatre just undermined deterrence. The ABM Treaty approach of limited point defenses governed French national security policy. The ‘balance of terror’ had to be preserved. 30 The threat of a superpower condominium forced Paris to lift the WEU arms control regime in order to enhance European high tech weapon R&D and European weapon procurement. 31 The WEU Standing Armaments Committee

27 BM Delegation-AA, Betr. WEU Ministerrat der Außen- und Verteidigungsminister in Rome am 26 und 27.10. 1984, 28 October 1984, PA-AA, ZW 148647; Pakenham-Private Secretary, Ballistic Missile Defense: UK Policy Toward The Strategic Defense Initiative SDI, 5 Nov 1984, National Archives of the United Kingdom [TN], FCO 46/4180. 28 Dietl, SDI, 44. 29 Ibid, Chapter 3. 30 Dietl, SDI, 41. 31 Ulrich Lappenküper, Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München: Oldenbourg 2011, 199.

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(SAC) had to facilitate missile technology co-operation. Simultaneously, Paris revived the concept of a Franco-German ‘core Europe’ to immunize the FRG from participation in an SDI R&D project. The ‘dangerous’ Reagan vision was not allowed to capture West-German decision-making. NNWS surely sympathized with the US-SU global disarmament agenda. ‘Global zero’ enhanced the status of NNWS in the international system. The French EUREKA and WEU initiatives revived the Atlanticist-Europeanist divide in West-German politics. The concept of an ‘ever closer union’ could ease the emancipation of West-Germany in the international system. The European partners would be forced to undo the shackles of the past, i.e. WEU arms control regime, to assure a West-German co-development of modern weapon systems for a Europe puissance. The West-German Ministry of Defense preferred West-Germany’s emancipation by way of a participation in SDI research & development. The US SDI project had the potential to end the nuclear era and to erase the class system of the NPT regime of 1968. In a post nuclear order the defense capability would be decided by the economic potential. The economic power-house FRG thus would easily surpass France and the United Kingdom as a player in national security affairs. 32 The West-German Chancellor Helmut Kohl opted for a ‘dual track strategy’. The Europeanist approach received amble support. A Franco-German ‘Schulterschluß’ assured West-Germany’s liberation from the WEU arms control regime. The preference of the Hardthöhe (German MoD) to push a European Defense Initiative (EDI), i.e. an SDI type defense for the European theatre, was co-equally pushed. 33 The removal of the WEU arms control regime allowed the FRG to codevelop not just offensive missile systems but also interceptor missile technologies. The FRG planned to become a partner in the development of either a ‘Western’ or preferably a global high tech defense project. The latter approach was the brain child of the former Minister of Defense Franz J. Strauß. It was backed by former Minister of Defense Kai-Uwe von Hassel, the Chairman of ‘High Frontier Europe’. 34 The Minister of Defense, Manfred Wörner, was a late convert. Global disarmament automatically enhanced Germany’s position in the international system. 35 The WEU therefore had to be tasked to organize European participation in a global defense project. The WEU revival was not allowed to prepare the disengagement of a Europe puissance from Euro-Atlantic structures. 36 In brief, the FRG and HMG did not revive the WEU to decouple European security from the United States. Both opted for an ‘Atlanticist’ approach. The reasons differed. London sought to abort or alter Reagan’s collective security concept, Bonn by contrast

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Dietl, SDI, 37, 39. Ibid, Chapter 2. Ibid Ibid Manfred Wörner, ‘A Missile Defense for NATO Europe’, in Zbigniew Brzezinski, Promise or Peril. The Strategic Defense Initiative, Washington: Ethics and Public Policy Center 1990, 306–318.

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warmly supported Reagan’s wider vision and dreamed of a future ‘partnership in leadership’. The WEU revival was thus not allowed to challenge Western unity. 37 THE COLD WAR ENDGAME AND THE EMERGENCE OF THE MAASTRICHT TREATY, 1989–1993 The Geneva and Reykjavik Summits of 1985 and 1986 revealed the scope of the superpower co-management of global affairs and of global security. The disarmament agenda was a mere facet of a wider design. A revolution in military affairs was in the making with geopolitical repercussions. The superpowers jointly planned to overcome the nuclear order. 38 Margaret Thatcher was shaken. Deterrence was at stake. France and HMG soon developed a catalog of preconditions for the participation of the European nuclear weapon states in strategic arms control. Both states demanded a 50% cut in the superpower potentials, the reduction of tactical nuclear weapons, biological and chemical weapons elimination and the reduction of the conventional asymmetry in the European theatre as a precondition for their participation in strategic arms control. 39 Both superpowers had already realized at Reykjavik that steps were needed to broaden the arms control agenda to (1) engage the European powers and (2) to reduce the asymmetry in conventional weaponry. A ‘European’ Reykjavik had to be devised. Confidence building measures would ease a multilateralization of arms control. The resistance of the European powers to superpower détente and entente had to be broken. The European powers continued to block the ‘global zero’ agenda. The hostile position of the European NWS hindered progress on all fronts. 40 The Soviet General Secretary started to engage the Europeans. Mikhail Gorbachev revived the old Brezhnev era concept of a ‘Common House of Europe’ to erase Western European fears of superpower détente. The prospect of an all-European security architecture could speed the unraveling of the Iron Curtain. 41 Gorbachev simultaneously offered unilateral reductions as confidence building measures. 42 The Soviet Union was willing to reduce the conventional imbalance in Europe to unblock arms control and to undo NATO planning for a modernization of theatre nuclear forces – the follow-on to Lance (FOTL). The INF Treaty had to lead to a real reduction of nuclear weapons in Europe. The SU objected to a mere shift of capabilities to short-range nuclear forces. 43 NATO attempts 37 Dietl, SDI, Chapter 2. 38 Vladislav Zubok, ‘‘With his back against the wall’: Gorbachev, Soviet Demise, and German Reunification’, in: Cold War History 14, 4 (2014), 619–645, 626. 39 Dietl, SDI, 121. 40 Ibid, Chapter V. 41 Gorbachev’s Address to the Council of Europe in Strasbourg, 6 July 1989, Briefing Book 504, Doc 21. 42 Gorbachev’s UN Address, 7 Dec 1988, https://astro.temple.edu/~rimmerma/gorbachev speech _to_UN.htm; Alan R. Collins, ‘GRIT. Gorbachev and the End of the Cold War’, in: Review of International Studies, 24, 2 (1998), 201–219. 43 Dietl, SDI, 118.

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to compensate the loss of INF systems with a modernization of TNF had to be blocked. The SU furthermore co-operated with the US to forestall an alternative defense, namely the formation of a Europe puissance. A Franco-German core Europe had to be averted to preserve bipolarity. The years 1986–1989 witnessed the willful deconstruction of the Cold War order by the superpowers. Both the US and the SU worked towards a transformation but preservation of bipolarity. The system of Yalta had to be demolished. Secretary General Gorbachev pushed perestroika and glasnost in order to establish the Soviet Union as the leader of democratic socialism. Democratic socialism and US Republicanism were to compete peacefully and constructively in the name of a progressive world order. The two superpowers had to forge an entente to establish a ‘denuclearized’ Europe between the superpowers. This ‘nuclear free zone’ from the Arctic, to the Baltic, to Central Europe and the Balkan was planned as an intermediate measure on the path to a world without nuclear weapons. 44 Both European wing powers envisaged the unification of the European Continent. Multipolarity, however, was not allowed to emerge. 45 The system configuration of bipolarity had to survive the unification of Europe. The Soviet Union thus did not block the transformation of Eastern European societies; it even instigated the transformation. Moscow furthermore sought to adopt a NATO type model for the Warsaw Treaty Organization (WTO). Compatible structures were about to emerge on both sides of the Iron Curtain. The Soviet Union adopted de facto the Bahr model of a Pan-European architecture. The Bahr plan envisaged the formation an umbrella organization while the bloc architectures would temporarily continue to exist.46 Moscow faced one problem: the speed of the transformation was difficult to control. The denunciation of the Brezhnev Doctrine, i.e. the wholehearted embrace of the CSCE principle of self-determination, had broken a dam. 47 The democratization movement in Eastern Europe led to a current that ended with the fall of the Berlin Wall and the velvet revolution. The Iron Curtain disintegrated as foreseen by the superpowers, but earlier and quicker than expected. 48 The Bush Administration noted

44 Donna J. Klick, ‘A Balkan Nuclear Weapon Free Zone. Viability of the Regime and Implications for Crisis Management’, in: Journal of Peace Research 24, 2 (1987), 111–124. 45 Minutes of Yakovlev’s Conversation with Brzezinski, 31 Oct 1989, Briefing Book No 504, Doc 22. 46 Egon Bahr, Ostwärts und nichts vergessen! Kooperation statt Konfrontation, Hamburg: VSA 2012. 47 Memorandum of a Conversation between M.S. Gorbachev and Karoly Grosz, General Secretary of the Hungarian Socialist Workers Party, Moscow, 23–24 March 1989, ‘US Policy and the Revolutions of 1989’, in: Svetlana Savranskaya, Thomas S. Blanton, Vladislav Zubok, Masterpieces of History. The Peaceful End of the Cold War in Europe, 1989, Budapest: Central European University 2010, Doc 52. 48 ‘The unnatural division of Europe will now come to an end – that Europe behind the wall will join its neighbors to the West, prosperous and free’, George H.W. Bush, Leiden 17 July 1989, cit in: Robert L. Hutchings, ‘Europe Between the Superpowers’, in: Skinner (ed), 191–217, ibid, 217.

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with unease that some Western European meddled in Eastern Europe in order to disable the Soviet Union to control the transformational process. These Western European players prioritized an alternative ‘European’ order. The fall of the Iron Curtain finally raised the issue of the future security architecture. The existence of the bloc organizations was not questioned. Both were anchors of stability. It was, however, envisaged that both the WTO and NATO would finally be replaced by a CSCE based Pan-European security organization. The latter was to provide for equal security from Vladivostok to Vancouver. 49 The US had considered the formation of a Northern Hemispheric ‘Commonwealth of Free Nations’ since spring of 1989. This was a counter-vision to Gorbachev’s vision of a ‘Common House of Europe’. 50 New structures were urgently needed. Furthermore, the German unification demanded a framework. A unified Germany was not allowed to dominate the Continent. Margaret Thatcher feared a German hegemony in Central and Eastern Europe. 51 Most neighbors in Europe shared the fears of the British Prime Minister. The German ‘threat’ became acute with the 10 Point Program of Helmut Kohl of 28 November 1989. 52 Thereafter three different frameworks were debated: (1) a neutral unified Germany as a member of a Pan-European security order, (2) Germany integrated into and controlled by NATO and (3) a unified Germany embedded in a strengthened European Community. The 10 Point Program itself did not offer any guidance. A clear prioritization of frameworks was not discernible. West-Germany needed Four Power approval for the unification of East, West-Germany and Berlin. The Allies with rights on Germany had clearly distinguishable prioritizations. 53 The US response to the Ten Point Program was encouraging but conditional. Secretary of State Baker highlighted four core principles: (1) self-determination, (2) NATO membership, (3) gradual unification and (4) inviolability of the Eastern border. 54 In brief, the United States first and foremost made unification dependent on Germany’s continued membership in Western structures. The armed forces of a unified Germany had to remain integrated into the military structures of NATO. The Bush Administration totally objected to apply the French NATO model to a unified Germany. The US flatly objected to a withdrawal of a unified Germany from the military structure of NATO. Secretary of State Baker told his German homologue Hans-Dietrich Genscher that a ‘political NATO membership should be enjoyed by all of Germany, whereas militarily the GDR remained

49 Hall Gardner, NATO Expansion and US Strategy in Asia, New York: Palgrave 2013, 160. 50 Brent Scowcroft, Memorandum for the President, The NATO Summit, 20 March 1989, George H.W. Bush Library [GBL] George H.W. Bush Presidential Files, NSC, Arnold Kanter File, CF00779. 51 Hanns-Jürgen Küsters, Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramts 1989 –1990, München: Oldenbourg 2011, 66. 52 Zubok, Reunification, 628. 53 9 October 1989, The Diary of Anatoly Chernyaev 1989, edited by Svetlana Savranskaya, Briefing Book No. 275, Washington DC: National Security Archive 2009. 54 Küsters, 65.

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outside NATO.’ 55 Baker firmly resisted Genscher’s toying with the Bahr Plan.56 The French by contrast developed an alternative framework. Mitterrand planned Germany’s integration into a full-fledged European Union. The ‘1992 Project’ of the European Union could be further developed. 57 François Mitterrand had started to revive the ‘deserted construction site Europe’ in 1984. The WEU had been revived to cope with the challenges posed by the renewed superpower détente. 58 The Single European Act of 1986 provided the platform for the formation of an ever closer union. Mitterrand supported a European Political Union to establish ‘Europe’ as an independent actor between the superpowers. 59 The unified Germany was to be firmly embedded in a European Union that harmonized its foreign and security policy. The Soviet Union objected both ‘Western’ models due to their long-term negative impact on the systems configuration. Moscow proposed a dual membership of Germany in the WTO and NATO. The dual-membership would cease to exist with the replacement of the bloc architectures by a Pan-European security organization. An EC ‘European’ framework was problematic. France and Germany had ambitions to use ‘Europe’ to break bipolarity. Gorbachev warned Bush at the Malta Summit in December 1989 that former French President Valery Giscard d’Estaing foresaw the creation of a full-fledged European Union as an autonomous actor in international relations. 60 The EC member-states prioritized a straightforward multi-polar world order. The superpowers had to replace Yalta with Malta. A ‘Diktat’ of Malta was not permissible. Europeans would decry the new order as a new Yalta, as a new superpower imposition. At the Malta Summit superpower-cocreation peaked. Bush and Gorbachev confirmed the enduring strategic partnership of the superpowers. The superpowers had dislodged the Cold War old order. The superpowers now were tasked to co-create the new world order. The US would not alter the course and take advantage of the temporary economic and political domestic weakness of the Soviet Union. Perestroika had to succeed. President Bush expressively told Gorbachev that he had conducted himself ‘in ways not to complicate your life.’ 61 The transformation of the Soviet Union, of the European and the global 55 Kristina Spohr, ‘Germany, America and the Shaping of Post-Cold War Europe: A Story of German International Emancipation Through Political Unification, 1989–1990’, in: Cold War History 15,2 (2015), 221–243, 237. 56 Ibid, 240. 57 Mark Gilbert, ‘A Shift of Mood: The 1992 Initiative and Changing US Perceptions of the European Community, 1988–1989’, in: Kieran Klaus Patel, i.a., European Integration and the Atlantic Community in the 1990s, Cambridge: CUP 2013, Chapter 13, 243–264. 58 Lappenküper, 201. 59 Anna Kurylowicz-Rodzoch/Malgorzata Zawistowska, “Development of Co-operation in EU Common Foreign and Security Policy”, in: Polish Quarterly of International Affairs, 8 (1999), 145–160, 148, 149; Hutchings, 205. 60 Dietl, SDI, 124f. 61 ‘M.S [Mikhail Sergeyevitch Gorbachev] acted like he and Bush were old pals – frank and simple, and openly well intentioned […] M.S. knows that the negotiations on [strategic arms] are not the deciding factor. The deciding factor is that the USSR and US are no longer enemies. This is the most important thing”, 2 January 1990, The Diary of Chernyaev 1990, edited by

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order had to be managed in common. Both parties did not only bury the Cold War era, but pushed the formation of a ‘Common House of Europe’ based on the principle of equal security. Malta finally replaced détente with entente. 62 The US and the SU, however, considered the preservation of the block organizations. The latter bolstered bipolarity. From this perspective a NATO membership of a unified Germany blocked both (1) a disaggregation of bipolarity and (2) the advent of a multipolar world order with a European Union as a co-equal player. The Soviet leadership, however, remained worried about the repercussions of German unification on Soviet society. The Central Committee stressed on 26 January 1990 that the NATO membership of a unified Germany was unacceptable. The SU should consider walking-off the CFE and START negotiations to signal disagreement with an integration of a unified Germany into NATO. An ‘Anschluß’ of the GDR had to be averted too – so Valentin Falin. 63 The Soviet Union therefore considered the formation of a German Confederation formed out of the GDR, Berlin and the FRG. Moscow thus envisaged a double layered all-German – all-European Confederation. 64 Mitterrand’s European Confederation plans clearly influenced Soviet thinking. 65 Mitterrand’s wider European concept, however, was finally dislodged by the Dublin EC Summit’s embrace of German unification in an ‘ever closer union’. Moscow was now forced to cope either with a full-fledged EU with all its systemic consequences or German NATO membership. The US pushed the later model. The beleaguered Soviet Union – that feared for its territorial integrity – gradually accommodated. The final breakthrough occurred during the visit of Secretary of State Baker in Moscow on 17–19 May 1990. The US and SU agreed on a package of pre-conditions and confidence building measures to ease Soviet agreement for a German NATO membership. The package envisaged (1) a CFE troop status to limit both stationed and German forces in Central Europe, (2) SRTNF arms control, (3) a WMD-NBC rule, (4) a troop status for Soviet forces, (5) a revision of NATO’s strategy, (6) a guarantee of the Oder-Neisse Eastern German border, (6) a strengthening of the CSCE process and (7) a German-Soviet economic treaty that serviced perestroika and upheld all GDR obligations towards the SU. These measures had to be accom-

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Svetlana Sevranskaya Briefing Book No. 317, Washington: National Security Archive 2010; Spohr, 230. Dietl, SDI, 124f. Andrej Gravchev, Gorbachev’s Gamble: Soviet Foreign Policy and the End of the Cold War, Cambridge: Polity Press 2008, 152. David Shumaker, ’Gorbachev and the German Question: Soviet-West German Relations, 1985–1990’, Greenwood Publishing Group 1995, ProQuest Ebook Central: http://ebookcentral. proquest.com/lib/qub/ detail.action?docsID=3000399 (accessed: 27 Sep 2017), 135. Frederic Bozo, ‘France, the United States, and NATO: Between Europeanization and Re-Atlanticization, 1990–1991’, in: Kieran Klaus Patel, i.a., European Integration and the Atlantic Community in the 1990s, Cambridge: CUP 2013, Chapter 14, 265–284.

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panied by a START accord and the radical reduction of all nuclear offensive weapons. 66 The Shevardnadze-Baker Accord was finally accompanied by ‘informal assurances – a standard diplomatic practice – against NATO expansion.’ 67 The Soviet Union was assured of its proper place in a new European security architecture. According to Gorbachev’s Memoirs the ‘spirit of 1990’ excluded the option of a NATO expansion beyond the territory of the GDR. 68 The Soviet decision to accept the unification of Germany was eased by the timely implementation of the ‘Western’ pledge to transform NATO. Bush told Kohl prior to the London Summit that the envisaged NATO Declaration of June 1990 will give ‘a clear message […] that NATO is changing.’ 69 The NATO Declaration strengthened the political co-operation within NATO, embraced the principle of a ‘no first use’ of nuclear weapons and confirmed the transformation of NATO strategy. The Soviet Union was officially declared a ‘strategic partner’. 70 The new NATO was preparing itself to implement future decisions by the UN Security Council and by a future Organization for Security and Co-operation in Europe (OSCE). NATO was to serve a new world order. NATO was to prepare a new collective security order. The NATO July Summit provided additional assurances. NATO pledged not to station NATO forces in East Germany. NATO offered the SU temporary stationing rights in Eastern Germany. This ‘significant step’ – to use the vocabulary of Gorbachev – moved the Soviet leadership to finally accept NATO membership of a unified Germany. 71 The US post-Cold War strategy banked on NATO. The NATO Secretary General Wörner encouraged Bush to stay his course. Germany ‘must avoid the classic German temptation: to float freely and bargain with both East and West.’ 72 A ‘New Atlanticism’ had to be devised to cope with the ‘New Europe’. 73 The Bush Administration was obliged to seek French support for a thorough transformation of NATO. 74 The US and France had already started to discuss the re-integration of France into the military structures of NATO. France had left NATO’s military structure to preserve French nuclear autonomy. In 1966 France had envisaged to form a kernel for an autonomous Europe with radiating influence beyond the Iron Curtain. The core aim of de Gaulle had been multi-polarity. The Iron Curtain had

66 Küsters, 169. 67 Joshua R. Itzkowitz Sifrinson, ‘Deal of No Deal? The End of the Cold War and the US Offer to Limit NATO Expansion’, in: International Security, 40, 4 (2016), 7–44, ibid, 11. 68 Ibid, 13. 69 Bush-Kohl, 21 June 1990, Küsters, 123. 70 Mikhail Gorbachev, Memoirs, New York: Doubleday 1996, 511. 71 Shumaker, 137; ‘[…] respond to Gorbachev’s consent to Germany’s entry into NATO. After all the world does not know about the agreement made with Bush in Washington.”, 14 June 1990, The Diary of Chernyaev 1990, edited by Svetlana Savranskaya, Briefing Book, No. 317 (Washington: National Security Archive 2018). 72 Gilbert, 243. 73 Wolfram Hilz, Europas verhindertes Führungstrio. Die Sicherheitspolitik, Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens in den Neunziger Jahren, Paderborn: Schöningh 2005, 104. 74 Hilz, 101.

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now vanished. The US strategy to preserve bipolarity demanded a French re-integration into NATO to forestall a gradual de-coupling of Euro-Atlantic security and thus a marginalization of US influence in a re-unified Europe. This US attempt initially looked promising due to French concerns about the Ten Point Program of Chancellor Kohl. West-Germany had been acting too unilaterally and had shocked friends and foes alike. The Franco-American deliberations that lasted from Key Largo to Martinique faltered due to French interests in a NATO directorate and due to French demands for wide-ranging alterations of the existing NATO command structures. 75 The French furthermore sought options for autonomous actions by members of the European NATO caucus. 76 The US balked. Washington planned to preserve NATO’s exclusive competence for defense – territorial or ‘out or area’. The Bush Administration therefore felt obliged to uphold a division of tasks between NATO and the European Institutions and to restrict the competences of a future European Union in defense affairs. In brief, the US sought to freeze the Cold War division of tasks between NATO and the nested European Community. Hard security had to remain the remit of NATO. A somewhat disillusioned President Mitterrand – who had toyed with a NATO directorate – finally turned to a deepening of European integration ‘to curb German power’ – to speak with Margaret Thatcher. 77 The Federal Republic had acted unilaterally when it came to the unification of Germany. This German unilateralism had to end. The European option to create a European Union with a Common Foreign and Security Policy (CFSP) thus had its own attractions. The ‘icy atmosphere’ and ‘tribunal inquiry’ the FRG’s leader had faced at the Strasbourg EC Summit of 8–9 December 1989 made the author of the Ten Point Program, Chancellor Helmut Kohl, realize that ‘European’ consent was needed to obtain a speedy unification. The latter – a European consent – had not been foreseen. FM Genscher had brusquely objected a ‘European’ voice opportunity on German unification: ‘you are not part of the game.’ 78 The Western European EC partners, however, had too loudly objected to both (1) the ‘2+4 formula’ and (2) Germany’s defense of this exclusive forum. The EC members claimed that the unification of Germany altered Europe. Kohl was therefore forced to accept a deal. France promised to support the unification of Germany in case a Europeanized Germany serviced a future EU. The FRG had to accept the role as the integrator of Europe. Kohl bowed to the wishes of the EC partners: ‘For us Germans – so Kohl – there are no niches in world politics and Germany should not be able to evade its responsibilities’ towards its European neighbors. In other words, Germany acknowledged that the European partners

75 Bozo, 266ff. 76 Hilz, 102. 77 Margaret Thatcher, Downing Street Years, New York: Harper Collins 1993, 760, Michael Cox, ‘Learning from History? From Soviet Collapse to the New Cold War’, in: Cold War History 14, 4 (2014), 461–485, 467. 78 Küsters, 71, 103.

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would not ‘stomach’ German domination in ‘Europe’. 79 The shadow of the Second World War, German occupation and the holocaust mattered. Mitterrand and Kohl – actively supported by the President of the European Commission Jacques Delors – now pushed the idea of a European Political Union. After the unification of Germany by grace of the ‘2+4 process’ a European Union had to emerge that was capable to defend European principles and values. This was clearly stated by Jacques Delors in his infamous Bruges Speech. Delors’ federalist dream envisaged a European Union with a Common Foreign and Security Policy (CFSP). 80 The WEU had to serve as a vehicle for the implementation of EU decisions. A future merger of the two organizations was envisaged. Delors even reflected about a crowning of the European defense structure by a European nuclear defense organization. The Dublin EC Summit of April 1990 embraced the Franco-German incentive and established an IGC for Political Union to accompany the IGC on Monetary Union. The West German embrace of the French concept of an ‘ever closer union’ bought the EC’s placet for German unification. The skeptical EC partners, now, agreed to the unification of Germany. 81 By July 1990 the framework for Germany’s reunification had been decided. Germany remained a NATO ally and was to be embedded in a European Union. Germany would be aligned with the United States as a ‘partner in leadership’ in order to ease the implementation of the US world vision. 82 The ‘vestiges of the old confrontation’ would not be abolished but transformed. 83 A ‘wing-walker strategy’ – to use a term by SACEUR Galvin – applied until a Pan-European security organization based on the CSCE was to emerge as a factor in international relations. In brief, the US and NATO supported the concept of a ‘Europe whole and free’. In November 1990 NATO and the Warsaw Treaty Organization even declared the ‘indivisibility’ of European security. A Pan-European security space was in the making. Superpower co-creation was still functioning. The role of the future ‘Europe’ had still to be decided. The London Declaration of July 1990 had used the expression of a ‘European Security Identity’. 84 The Rome EC Summit started an intra Alliance conflict about the division of tasks between the future European Union and of NATO. The Italian concept of an alignment of the WEU with the European integration process created headaches in London and Washington. The discussed formation of forces answerable to the WEU might prepare the WEU for ‘out of area’ tasks. The enlargement of the WEU member-ship could furthermore marginalize 79 Alistair Miskimmons, Germany and the CFSP of the European Union. Between Europeanization and National Legislation, Basingstoke: Palgrave 2007, 42. 80 Thatcher, 761; Michael J. Baun, ‘The Maastricht Treaty as High Politics: Germany, France and European Integration’, in: Political Science Quarterly 100, 4 (1995–1996), 605–624, 609. 81 Gilbert, 243–264, 244f. 82 Spohr, 224. 83 Jiri Dienstbier, cit in: David S. Yost, NATO Transformed. The Alliance New Role in International Security, Washington: US Institute of Peace 1998, 48. 84 Yost, 6, 48, Hilz, 105; Jeffrey Palmer, ‘The New European Order: Restructuring the Security Regime Under the Conference on Security and Cooperation in Europe’, in: Temple International and Comparative Law Journal, 5 (1991), 51–76, 56, 60.

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NATO’s role for European security. NATO itself could not enlarge without ruining the reform process in the Soviet Union and thus the essential continuation of cocreation in strategic arms control and non-proliferation policies. The US constantly sought to preserve NATO as the sole institution with competences in defense – defense referred to territorial defense as much as ‘out of area’ tasks. The Bartholomew Memorandum of February 1991 warned the European Allies not to overinvest in European defense capabilities. The latter attempts undermined superpower co-creation and US preponderance in the ‘West’. The Copenhagen NAC principles ‘should guide the formation of a European Security Identity.’ An EC ‘common defense policy’ was not permissible. The US welcomed a European common and security policy, but NATO’s integrated command structure was not allowed to be affected or questioned by the European institution building. WEU consultations were not allowed to interfere with NATO’s six core functions: (1) deterrence and defense against the Soviet Union (2) deterrence and defense against N-parties, (3) preservation of the strategic balance, (4) management of a non-hegemonic security environment, (5) support for democratic governance, (6) vital defense consultation and arms co-operation. The WEU was in all cases not allowed ‘to take independent military action’ or to decide arms control positions.85 The task of the WEU had to be limited to ‘out-of-area’ policing under a UN umbrella. The European challenge to NATO’s preponderance waned with the collapse of the Federal Republic of Yugoslavia. The Yugoslav Crisis finally derailed the vision of a ‘Common House of Europe’. The ‘crystal house’ was not entirely shattered, but seriously cracked. Cracked was also Europe’s ambition to devise a more autonomous EU with defense capabilities. The declared ‘hour of Europe’ hit the EC totally unprepared. 86 The CFSP was still on the drawing board – a work in progress. The WEU was still a forum without defense structures. Britain objected to plans to pre-maturely utilize the WEU for peace enforcement or peace keeping missions on the Balkan. 87 The US was not totally averse to a strengthening of the WEU. France, however, would have to commit to a re-integration into the military structures of NATO. 88 Without a re-integration of France into NATO military structures the WEU had to remain a caucus for defense policy coordination. The WEU remained a construction site. Crawford correctly stresses that the Yugoslav War finally led to the rebirth of NATO as the prime security provider for the wider Europe. A marginalization of the OSCE, the WEU and of the nascent CFSP was the consequence.

85 Transatlantic Relations: The Next Five Months, March 1991, Memorandum for Bartholomew, i.a., Meeting of European Strategy Steering Group, 11–13 March 1991, GBL, G.H.W. Bush Presidential Files, NSC, David C. Gompert File, Subject Files CF 01301, European Strategy Group, Annex: America’s Post War Agenda in Europe. 86 Josip Glaurdic, The Hour of Europe: Western Powers and the Break-up of Yugoslavia, New Haven/CN: Yale UP 2011. 87 Hilz, 120. 88 David Gompert, Memorandum for Brent Scowcroft, European Views on NATO’s Future, 12 Nov 1990, GBL, G.H.W. Bush Presidential Files, NSC, David C. Gompert File, Subject File, CF 01301, France.

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The revival of NATO challenged superpower co-creation. US defense planning started to prioritize the preservation and modernization of the entire ‘Western’ security architecture. The all-European vision of the ‘velvet revolution’ was gradually but steadily disintegrating. The Pan-Europeanism of the ‘Wendezeit’ was replaced by a strengthening of the ‘Western’ framework organization. In brief, the US-SU co-creation that had made the lifting of the Iron Curtain possible and had terminated the system of ‘Yalta’ crumbled after the German unification. Yugoslavia mattered. The Lithuanian ongoing drive for independence mattered, too. The Lithuanian declaration of independence and the Soviet response thereto finally undermined both the Soviet reform of the Warsaw Pact and the wider co-creation of European security with the United States. Soviet attempts to re-strict the principle of self-determination to legally recognized states split the superpower communality. George Bush warned Gorbachev that Baltic constituencies in the US would force his Administration to adopt countermeasures in case the ‘Baltic spring’ would be stopped by force. 89 The unified Germany and France who had contacted the President of Lithuania in 1990 to request a suspension of the declaration of independence in order to ease Soviet agreement to the unification of Germany and herewith the formation of a European Union under Franco-German leadership now supported Lithuanian independence. 90 The bloodshed of 13 January 1991, i.e. the use of Alpha Forces and of the KGB, to forestall a separation of Lithuania had left a mark. 91 The unified Germany whose amended Constitution demanded the ‘realization of a united Europe’ started to push an EC foreign policy that de-stabilized the Eastern bloc cohesion. The Warsaw Pact communality – battered by the loss of the GDR – crumbled further. The dysfunctional WTO soon fell victim to the new Eastern policies. The OSCE was to be the second victim. The Paris CSCE Conference of 19–21 November 1990 had declared the CSCE Council of Foreign Ministers the ‘hub of panEuropean security.’ 92 The emerging OSCE was, however, de facto aborted prior to its forthcoming creation. The EU – so the West German government – had to emerge as the second kernel of the future security order. The OSCE had to serve as a mere forum for consultation – like the CSCE beforehand. Worse, the US soon started to prioritize an unequal development of the three Helsinki baskets in order to forestall clashes of competences in an emerging US global order that strengthened NATO and a nested EU directed by the ‘partner in leadership’: the unified Germany. 93 The third victim was the Soviet Union itself. The Soviet Republics were seeking independence. Western Europe observed the dissolution with satisfaction – 89 Gorbachev, Memoirs, 540, 577; Saki Dockrill, The End of the Cold War Era, London: Hodder Arnold, 205, 126f.; 11 January, 13 January, 14 January, January 15, January 24, 1991, The Diary of Anatoly S. Chernyaev 1991, edited by Svetlana Savranskaya, Briefing Book No. 345, Washington: National Security Archive 2011. 90 Thatcher, Downing Street, 761. 91 Gorbachev, Memoirs, 577; Robert G. Kaiser, ‘Gorbachev: Triumph and Failure’, in: Foreign Affairs 70, 2 (1991), 160–174, 167. 92 Gorbachev, Memoirs, 548. 93 Gilbert, 258.

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a competing power center vanished. The US by contrast did not support the dissolution of the Soviet Union. The US defended bipolarity. The extension of Western institutions originally was meant to forestall a European drive for multi-polarity. The Soviet Union – America’s prioritized strategic partner – was not allowed to disintegrate. George Bush famously reminded a Kiev audience during a stopover on the way back from the Moscow Summit (July 1991) that ‘freedom is not the same as independence.’ 94 The Ukraine had to settle on autonomy within a reforming Soviet Union. The Soviet Union of a Mikhail Gorbachev was an indispensable strategic partner for global security. In the words of Brent Scowcroft: the US ‘has an interest in the stability of the Soviet Union.’ 95 The Soviet Union nevertheless was at the brink of destruction. The dissolution process was unstoppable without a violation of the principle of self-determination. Independence had a ring among the leaders of the Soviet Republics. The Russian Soviet Republic was no exception. The President of the Russian Soviet Republic Boris Yeltsin possibly even conspired against the Soviet system in order to preserve the option to establish a new postSoviet communality among independent states. The granting of ‘independence’ and the formation of a Commonwealth was meant to salvage the special relationship among the superpowers. 96 Scowcroft considered Yeltsin’s policy as dangerous. It was ‘painful to watch Yeltsin rip the Soviet Union brick by brick […].’ 97 This view is shared by Gorbachev himself who still believes that without ‘Yeltsin’s intrigues’ he would have succeeded to preserve the integrity of a reformed Soviet Union.98 Yeltsin’s policy, however, made sense. A new Commonwealth of Independent States (CIS) could replace the SU as the strategic partner of the United States for the 21st Century. Yeltsin prioritized the global entente with the United States to the preservation of the Soviet system. A post-communist Commonwealth of Independent States had to replace the player Soviet Union as a co-creator of the new world order. Yeltsin sacrificed Communism to maintain strategic bipolarity. The new Russian Republic just had to integrate the post-Soviet space successfully to preserve a balance of power. Yeltsin’s assumptions of a radiating influence of Moscow were overly optimistic. The existing centrifugal forces were acknowledged by the metropolis but underestimated. The center totally neglected the option of a meddling of Western powers in Soviet regional affairs. Boris Yeltsin implemented his strategy. He banked on a core union of the Slavic Republics. The Soviet Union was declared nil and void by the Presidents of the Russian Republic, the Ukraine and Belarus in December 1991. The dissolution of the Soviet Union occurred during the 94 Bush cit in: Dockrill, 132; The End of the Soviet Union, edited by Svetlana Savranskaya and Thomas Blanton, Briefing Book No. 576 Washington: National Security Archive 2016, 1 Aug 1991; Arnold L. Horelick, The West’s Response to Perestroika and Post Soviet Russia, Santa Monica: RAND 1995, 3. 95 Cox, Learning, 471, 473f. 96 Gravchev, Chapter 5. 97 Scowcroft, cit in: Dockrill, 135. 98 Jack Matlock, ‘‘The Dreamer’. The World According to Gorbachev’, in: Foreign Affairs, 79 (2000), 168–172, 168.

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same month the NATO Rome Summit set the old Western defense organization on a new track and shortly before the EC gathered in Maastricht to finalize the signing of the Treaty on European Union. 99 The Maastricht Treaty created a CFSP that in time would comprise a common defense policy and would ultimately guide a common defense. 100 Duplications of NATO functions were not envisaged. The future Union ‘would respect the obligations of member states’ within the NATO framework. The vague wording of the Maastricht Treaty was a reflection of the turbulent times.101 The Maastricht Treaty lacked both (1) a concept of comprehensive all-European security and (2) a clear strategic guidance for the future CFSP of the ‘core Europe’. The prioritization of the ‘EU construction undermined the process of flexible and ad hoc security cooperation.’ 102 The EC was ‘fiddling’ with an EU Constitution while Eastern Europe and the ‘Eurasian Continent is burning’. 103 In other words the EC concerned itself with institution building instead of security. The EC members embarked on a ‘policy of economic and political exclusion’ without making a contribution to a PanEuropean security order. 104 Turkey was marginalized, CSCE machinery duplicated, institutional choices were sidelined in order to create an artificial European autonomy space. The EC member-states objected to the growing co-operation between NATO and the Central Eastern states in the North Atlantic Cooperation Council (NACC). The latter was just acceptable in case Washington agreed to a firm European Security and Defense Identity (ESDI). 105 The WEU was turned into the defense arm of the future EU. With the Petersberg Declaration of 19 June 1992 the WEU member-states created the option to police the globe. 106 The debated extension of the WEU membership threatened yet again NATO’s primacy. The WEU’s extension into the East forced NATO to extend its security umbrella. Washington was objecting to expansionism of purely European institutions. ‘While we bar the front door to NATO membership, the EC augments our security commitments

99 Michael Mandelbaum, ‘Coup de Grace: The End of the Soviet Union’, in: Foreign Affairs 71, 1 (1991–1992), 164–183, 173ff; Vitaly Korotich, ‘The Ukraine Rising’, in: Foreign Policy, 85 (1991–1992), 73–82; Dimitri Simes, ‘Russia Reborn’, in: Foreign Policy 85 (1991–1992), 41– 62, 55. 100 Kurylowicz-Rodzoch/Zawistowsk, 151f. 101 Douglas T. Stuart, Can Europe Survive Maastricht?, Carlisle/PN: SSI 1994, 5; see also: Directorate of Intelligence, The Dynamics and Momentum in Europe for the Organization of a European Security Identity, 6 March 1991, GBL, G.H.W. Bush Presidential Files, NSC, David C. Gompert, box 1, CF 01301. 102 Stuart, 6. 103 Ibid, 6. 104 Ibid, 24. 105 Marie-Claude Plantin, ‘NATO Enlargement as an Obstacle to France’s European Designs’, in: Charles-Philippe David and Jacques Levesque, Future of NATO. Enlargement, Russia and European Security, MQUP 1999, ProQuest E-book, http://ebookcentral-proquest.com/lib/qub/ detail.action? docID=3331169 (accessed 29 Sep 2017), 97. 106 Ibid, 96.

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through the backdoor via the WEU.’ 107 The US thus was involuntarily forced to consider Volker Rühe’s plea to swiftly integrate Eastern European countries into NATO. 108 Soon an intra-Alliance conflict emerged about the EU’s future role for European security. The US was relieved that the Maastricht Treaty was so far unratified. The EU’s CFSP thus remained dysfunctional up to 1994. During this time period NATO created the Combined Joint Task Force (CJTF) concept for joint NATO/EU/WEU ‘out or area’ interventions. Thus no need emerged to build up an EU military capability. The EU was not allowed to duplicate NATO functions. Between 1992 and 1994 NATO also started to embrace the concept of an institutional enlargement to stabilize the wider Europe. The ‘Western’ security architecture expanded to the East. The originally planned distribution of tasks among the UN, OSCE, NATO, WEU and EU was shattered. The ‘Common House of Europe’ concept had been relegated in importance. What remained was a marginalized Russia. Yeltsin’s attempts to cement the special strategic relationship with Washington were only partially successful. The Russian President was keen to co-develop the concept of a ‘global defense shield’ to assure the implementation of the vision of a new world order co-managed by the European wing powers. 109 The transforming Russian Federation, however, lacked resources to transform the Commonwealth of Independent States into an ‘autonomous’ player in international relations. The ethnic conflict in the post-Soviet space and on the Balkan allowed the US to establish its global pre-eminence. The Russian Federation remained a somewhat weakened global strategic partner. The EU remained a soft security provider; the WEU a mere appendix. *** The Ukraine Crisis and Brexit will revolutionize the EU’s Common Security and Defence Policy (CSDP) that had developed after 1998. Both developments will reopen a debate about a division of tasks between diverse European security providers. Institutional choices might re-emerge. Institutional choice will be the core topic of the future. The shifting of the tectonic plates will demand new architectures to administer global and regional security for the 21st Century. A world order debate is in the process of re-emerging. The Cold War endgame will provide ample guidance for the future of global security planning. 110 Core players have to be assured fair tectonic plates to assure a new balance of power administered by the US as the

107 Memorandum for Robert Zoellick, 26 March 1992, Implications for NATO of European WEU Membership, GBL, G.H.W. Bush Library, NSC, David Gompert Files, Subject Files, box 1, CF 10301, European Strategy Steering Group. 108 Paul Letourneau and Philippe Herbert, ‘NATO Enlargement: Germany’s Euro-Atlantic Design’, in: David/Levesque, Chapter VII, 111. 109 Dietl, SDI, Chapter 5. 110 Alexei Pushkov & Miroslav Polreich, ‘Building a New NATO at Russia’s Expense’, in: Foreign Affairs, 73 (1994), 173–175.

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arbiter mundi. The US thus has to remain in command of the commons. The relations with the Russian Federation will have to be ‘reset’ yet again. The Russian Federation is an indispensable partner for global governance. It has been the entente of the United States and the Soviet Union that ended the Cold War. Both superpowers co-operated to create a collective security order for the 21st Century. 111 A revival of the concept of a new world order of equal security, peace and justice is urgently needed. The envisaged new world order never materialized due to the worst geopolitical catastrophe of the 20th Century: the disintegration of the Soviet Union. The crude enlargement process just created new fault lines and temporarily relegated collective security to the dustbin of history. History, however, never ends. New options emerge that have to be constructively grasped to end the nuclear age and to establish a global order of peace and justice. Ralph L. Dietl ist Senior Lecturer in International and European History an der Queen’s University Belfast.

111 Hutchings, 191–217, 191.

MÖGLICHKEITEN DER SICHERHEITSPOLITISCHEN ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DER EU UND JAPAN IM RAHMEN DER GEMEINSAMEN SICHERHEITS- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK (GSVP) Takumi Itabashi, Tokio Abstract: The EU and Japan share common values, principles, and interests. As a result of globalization and a new security situation, cooperation between Europe and Japan ࡳ alongside cooperation with the USA ࡳ is becoming increasingly important. This article examines the possibilities for EU-Japan cooperation in the field of security policy. In particular, this article analyses the actual situation of cooperation between Japan and the EU in the field of anti-piracy measures and capacity building in developing countries.

Zu den Sicherheitsherausforderungen in der Gegenwart gehören nicht nur Kriege, sondern auch Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Menschenhandel, Klimawandel und Pandemien. Dabei kommt es zu zahlreichen Überlappungen der Sicherheitspolitik Europas und Asiens. Die globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, die unter dem Namen „Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe“ 1 im Juni 2016 vorgestellt wurde, lautet deshalb wie folgt: Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen europäischem Wohlstand und der Sicherheitslage in Asien. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Asiens für die EU – und umgekehrt – sind Frieden und Stabilität in Asien eine Grundvoraussetzung für unseren Wohlstand. Wir werden die Wirtschaftsdiplomatie vertiefen und unsere Rolle für die Sicherheit in Asien ausbauen. [...] Wir werden zudem ein umfassenderes politisches Konzept für Asien entwickeln, mit dem Ziel, mehr praktische Beiträge zur Sicherheit Asiens zu leisten 2.

In diesem Zusammenhang sind die Beziehungen zwischen der EU und Japan besonders bedeutsam. Die EU und Japan teilen gemeinsame Werte, Grundsätze und Interessen. In Folge von Globalisierung und neuer sicherheitspolitischer Lage wird die Zusammenarbeit zwischen Europa und Japan – neben der Zusammenar1

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Vgl. Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe: A Global Strategy for the European Union’s Foreign and Security Policy, June 2016. (https://europa.eu/globalstrategy/sites/ globalstrategy/files/regions/files/eugs_review_web_0.df) Siehe Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa. Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, 2016, 32. (https://europa. eu/globalstrategy/sites/globalstrategy/files/eugs_de_0.pdf)

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Takumi Itabashi

beit mit den USA – zunehmend wichtiger. Der vorliegende Aufsatz betrachtet die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von EU und Japan im Bereich der Sicherheitspolitik. 1. SIND DIE EU UND JAPAN „NATÜRLICHE“ PARTNER? In den 1980er Jahren waren Europa und Japan in einen umstrittenen „Handelskrieg“ verwickelt. Seitdem haben sich jedoch beide Seiten bemüht, ihre Beziehung weit über den Wirtschaftsbereich hinaus auf die Bereiche Politik und Sicherheit bis hin zu Bildung und Kultur auszuweiten. Im Jahr 1991 verabschiedeten Japan und die Europäische Gemeinschaft (EG) eine gemeinsame Erklärung, welche die Kooperationsfelder im Bereich von Politik und Sicherheit festlegte 3. Im Jahr 2001 verabschiedete man einen Aktionsplan zur Förderung der Zusammenarbeit auch in den Bereichen Bildung und Kulturaustausch 4. Diese Schritte führten dazu, dass die Beziehungen zwischen Japan und der EU mit ihren Mitgliedsstaaten stetig enger wurden 5. Über den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas wird viel diskutiert, doch darf darüber die Stellung Japans nicht vergessen werden. Nach wie vor ist Japan die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Auch Japans Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist pro Kopf ist immer noch fünfmal so hoch wie in China 6. Während für die EU Japan (nach China) den zweitgrößten Handelspartner in Asien darstellt, ist für Japan die EU der drittgrößte Handelspartner überhaupt. Der Gesamthandel zwischen der EU und Japan beträgt etwa 124,5 Mrd. Euro 7. Tatsächlich sind Japan und die EU heute „natürliche“ Partner. Denn die EU und Japan teilen eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Erstens, die EU als auch Japan sind immer noch globale Handelsmächte, deren Wirtschaften 35,8% des Welthandels ausmachen 8. Zweitens, beide Akteure befinden sich im Zustand einer relativen Rezession: während sich die EU mit einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Krisen konfrontiert sieht, stagniert Japans Wirtschaft seit Mitte der 1990er Jahren. Die EU und Japan sollten also von einer engen Kooperation profitieren können. Drittens, die EU als auch Japan betrachten sich als Civilian Powers, die in erster Linie mit Hilfe ziviler Maßnahmen bzw. „soft power“ ihre globale Rolle erfüllen wollen. Viertens, beide verstehen sich als globale Partner, wel3

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Vgl. Joint Declaration on Relations between the European Community and its Member States and Japan, The Hague, 18 July 1991. (http://eeas.europa.eu/archives/ docs/japan/docs/joint_ pol_decl_en.pdf) Vgl. An Action Plan for EU-Japan Cooperation, European Union - Japan Summit, Brussels 2001. (http://www.mofa.go.jp/region/europe/eu/summit/action0112.html) Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der EG/EU und Japan vgl. Frattolillo 2013 u. Keck 2013. Vgl. Reiterer 2018: 51. 7 Vgl. European Commission. Countries and regions, Japan. (http://ec.europa.eu/trade/po licy/ countries -and- regions/countries/japan/) Für die folgenden Beispiel vgl. Gaens 2017: 4 ff.

Möglichkeiten der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit

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che dieselben Grundwerte in Bezug auf Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit teilen. Fünftens, Japan und die EU sind sogenannte „Aid Superpowers“. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind weltweit die größten Geber für die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA); Japan ist der viertgrößte Geber in der Welt. Sechstens, während die EU einen Comprehensive Approach zur Herstellung von Frieden und Stabilität in der Welt verfolgt, verfolgt Japan mit seinem Konzept der Human Security einen ähnlichen Ansatz. Siebtens, obwohl sich die Beziehungen zwischen der EU und Japan bisher hauptsächlich auf Wirtschaft und Handel konzentrierten, teilen beide gemeinsame Erfahrungen im Bereich der praktischen Sicherheitszusammenarbeit. Beispielsweise haben beide Akteure ein Interesse daran, den Seeverkehr als wichtigen Transportweg zu sichern, da sich 90% des Handels zwischen Europa und Ostasien via des Indischen Ozeans vollzieht. Im Jahr 2014 kooperierte Japans Marine (Maritime Self-Defense Force, JMSDF) mit der EU Naval Force (NAVFOR) „Operation Atalanta“ 9 zur Bekämpfung der Piraterie im Golf von Aden. Ferner leistete Japan in den letzten Jahren finanzielle und technische Unterstützung für Missionen der EU in Niger als Beitrag zum sicherheitsbezogenen Kapazitätsaufbau. In der Vergangenheit kooperierten Japan und die EU auch im westlichen Balkan, im Irak und in Afghanistan miteinander 10. Die nächste Stufe der Beziehungen zwischen der EU und Japan ist bereits eingeleitet. Auf dem 24. Gipfeltreffen zwischen der EU und Japan, das im Juli 2017 in Brüssel stattfand, erreichten die Partner eine grundsätzliche Einigung über zwei bahnbrechende Abkommen: im Bereich Wirtschaft über das Japan-EU Economic Partnership Agreement (EPA) und Bereich Sicherheitspolitik über das Japan-EU Strategic Partnership Agreement (SPA). Die Verhandlungen begannen im Jahr 2013 und die Abkommen wurden im Verlauf von 18 Gesprächsrunden ausgehandelt 11. Das SPA verleiht der aktuellen Sicherheitszusammenarbeit zwischen der EU und Japan einen wichtigen institutionellen Rahmen. Als rechtsverbindliches Abkommen deckt es alle relevanten Bereiche der Zusammenarbeit ab, einschließlich der Errichtung regionaler Sicherheit, Terrorismusbekämpfung, Katastrophenhilfe, Abrüstung, Nichtverbreitung atomarer, biologischer oder chemischer Waffen und dem Schutz globaler öffentlicher Güter (Global Commons)12.

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Mission der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) seit Dezember 2008. 10 Vgl. Atanassova-Cornelis 2010: 491. 11 Vgl. Ministry of Foreign Affairs of Japan, Japan-EU EPA (Outline). (http://www .mofa.go.jp/ files/000013835.pdf) 12 Zusätzlich zu diesen Dokumenten, die einen umfassenden Rahmen für die Beziehungen bieten, haben die EU und Japan eine Reihe von spezifischen sektoralen Abkommen über Bereiche wie Kernenergie (1989 und 2006), gegenseitige Anerkennung (2001), Wettbewerb (2003), Forschung (2007 und 2011), Zoll (2008), Rechtsberatung in Strafsachen (2009), Wissenschaft und Technologie (2015) abgeschlossen. Vgl. Reiterer 2018: 49.

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2. DER COMPREHENSIVE APPROACH EUROPAS UND JAPANS ANSATZ DER HUMAN SECURITY Japan und Europa haben seit Langem Entwicklungshilfe entsprechend ihren jeweiligen geopolitischen Prioritäten durchgeführt 13. In einer zunehmend globalisierten Welt überlappten sich jedoch die Regionen, auf die sich Japans und Europas Hilfen konzentrieren (z.B. in Afrika). Die Entwicklungszusammenarbeit geht heute über die Förderung des Wirtschaftswachstums in den Regionen hinaus und richtet sich auf die Stärkung von Governance und Resilienz in fragilen Staaten in Vor- oder Nachkonfliktsituationen. Bei der Unterstützung solcher Staaten teilen Japan und Europa gemeinsame Ziele, wie die Herstellung von Frieden, Stabilität, Wohlstand und Resilienz. Bei der Unterstützung fragiler Staaten am Horn von Afrika und der Sahelzone hat die EU einen Ansatz verfolgt, bei dem Instrumente der Ökonomie, Sichertheit und Kultur zur Anwendung kamen. Dieser Ansatz ist als „Comprehensive Approach“ oder „Whole of Government Approach“ bekannt geworden. Unabhängig vom Etikett wird hier der Wille zum Ausdruck gebracht, eine umfassende Entwicklungshilfe zu leisten. Obwohl weniger bekannt als die europäische Initiative, vertritt auch Japan einen umfassenden Ansatz für ausländische Hilfsprojekte. Die im Februar 2015 angekündigte „Charta der staatlichen Entwicklungshilfe“ beschreibt Japans Ansatz der Human Security für die Entwicklungszusammenarbeit 14. Human Security ist ein Konzept, das die Rechte von Einzelpersonen durch ihren Schutz und ihre Ermächtigung bestätigt. Das Ziel ist die Sicherung der „Freiheit von Angst“ (engl. „freedom from fear“) und „Freiheit von Not“ („freedom from want“) für alle Personen. In der Vergangenheit konzentrierte sich Japans Entwicklungshilfe auf Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung (= „Freiheit von Not“), heute will man auch die Zusammenarbeit zur Förderung der „Freiheit von Angst“ unterstützen. Somit ist auch Entwicklungsförderung im Bereich der Kultur ein wichtiges Merkmal von Japans Ansatz der Human Security geworden. Der Comprehensive Approach der EU und Japans Ansatz der Human Security ähneln sich in Bezug auf die zugrunde liegenden Methoden und Ziele. Im Folgenden sollen mögliche Bereiche für eine neue und verstärkte Zusammenarbeit zwischen Japan und Europa eingehender betrachtet werden. Die EU und Japan als Partner mit globaler Verantwortung teilen grundlegende Werte und Prinzipien bei der Unterstützung fragiler Entwicklungsstaaten, insbesondere im Bereich des Kapazitätsaufbaus.

13 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Fukushima 2015: 21 ff.; Khandekar 2018: 174 ff. 14 Vgl. Cabinet decision on the Development Cooperation Charter (㛤Ⓨ༠ຊ኱⥘), Ministry of Foreign Affairs of Japan, 10. Februar 2015 (Provisional English Translation), I-(2)-B. (http://www.mofa.go.jp/files/000067701.pdf)

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3. BEKÄMPFUNG VON PIRATERIE Auf dem 23. Japan-EU-Gipfel in Tokio am 29. Mai 2015 diskutierten Japans MiQLVWHUSUlVLGHQW 6KLQ]ǀ $EH GHU 3UlVLGHQW GHV (uropäischen Rates Donald Tusk und der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker über die Möglichkeit einer künftigen Teilnahme Japans an GSVP-Missionen der EU 15. Die Zusammenarbeit zwischen der GSVP und Japans Hilfs- und Sicherheitskooperationsinitiativen ist dabei nicht neu. So arbeiten Japan und die EU seit vielen Jahren bei der Bekämpfung von Piraterie vor der Küste Somalias und im Golf von Aden zusammen 16. Seit März 2009 haben Zerstörer der japanischen Marine (JMSDF) an Missionen teilgenommen. Im Juni 2009 wurden dabei zwei Seefernaufklärer (Information Collecting Aircraft) vom Typ P-3C eingesetzt. Die Einheiten der japanischen Marine versorgte die Kräfte anderer Staaten mit Informationen, die Operationen im selben Gebiet durchführten. Dazu gehörten auch Marineeinheiten der EU Naval Force (NAVFOR) Operation Atalanta. Am 18. Januar 2014 führte die Zusammenarbeit zwischen Japan und der EU zur Verhaftung von Piraten, als ein Hubschrauber des japanischen Zerstörers („JDS Samidare“) und einer der Seefernaufklärer ein verdächtiges Dhow entdeckten und darüber das Combined Task Force 151 (CTF 151) Headquarter informierte. Daraufhin wurde ein Hubschrauber von dem französischen EU-NAVFOR-Seeschiff „FS Siroco“ entsandt, was schließlich zur Festnahme von fünf Piraten und zur Befreiung der Dhow-Besatzung führte. Der derzeitige Kommandeur der EU-NAVFOR-Force, Konteradmiral Hervé Bléjean, sah diesen Vorgang als „eine außergewöhnlich effektive internationale Zusammenarbeit“ an 17. Japan und Europa führen außerdem seit Oktober 2014 gemeinsame Manöver („joint exercises“) durch. Im Oktober und November 2014 nahm der JMSDFZerstörer „JS Takanami“ an Manövern mit italienischen, deutschen und niederländischen Seeschiffen teil, die Kommunikation und taktisches Manövrieren sowie Hubschrauberstarts und -landungen umfassten 18. Die gemeinsamen Operationen zur Pirateriebekämpfung im Golf von Aden können insgesamt als erfolgreich bezeichnet werden. Europa und Japan bieten darüber hinaus Entwicklungshilfe für Somalia und die umliegenden Staaten an und helfen, vor Ort maritime Sicherheitsbeamte auszubilden. Neben diesen Maßnahmen zur Verbesserung der lokalen Governance-Fähigkeiten und der wirt15 23rd Japan-EU Summit, Joint Press Statement, Tokyo, 29. Mai 2015, Abs. 6. (http://www .mofa.go.jp/mofaj/files/000082848.pdf) 16 Vgl. Ueta 2018: 20. 17 Vgl. die Website von EU NAVFOR, „First pirate attack in 2014 in the Gulf of Aden resulted in apprehension of suspects by EU Naval Force“ (20. Januar 2014). (http://eunavfor.eu/firstpirate-attack-in-2014-in-the-gulf-of-aden-resulted-in-apprehension-of-suspects-by-eu-navalforce/) 18 Vgl. z.B. die Website von EU NAVFOR, „EU Naval Force flagship ITS Andrea Doria conducts counter-piracy exercise with Japanese warship JS Takanami in the Gulf of Aden“ (17. Oktober 2014). (http://eunavfor.eu/eu-naval-force-flagship-its-andrea-doria-conducts-counter -piracy-exercise-with-japanese-warship-js-takanami-in-the-gulf-of-aden/)

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schaftlichen Entwicklung sollten Europa und Japan eine weitere Zusammenarbeit im Bereich des Kapazitätsaufbaus anstreben, um die lokale Selbständigkeit weiterzuentwickeln. 4. JAPANS ERFAHRUNGEN MIT DEM OFFICIAL DEVELOPMENT ASSISTANCE (ODA) ALS GRUNDLAGE FÜR EINE KOOPERATION MIT DEN GSVP-MISSIONEN DER EU Nach dem 22. Japan-EU-Gipfeltreffen in Brüssel am 7. Mai 2014 hat Japan mit den Missionen der GSVP kooperiert, um in Niger und Mali den Kapazitätsaufbau zu unterstützen19. Die EU hatte im August 2012 bereits eine zivile GSVP-Mission zur Ausbildung und Beratung des nigerianischen Sicherheitssektors ausgesendet. Diese wurde im Dezember 2014 durch Zuschüsse von japanischer Seite ergänzt. Zur Unterstützung der Koordination zahlte Japan 202 Mill. Yen (umgerechnet ca. 1,5 Mill. Euro) im Jahr 2014 und weitere 226 Mill. Yen (ca. 1,7 Mill. Euro) im Jahr 2016, um damit drahtlose Kommunikationsgeräte und mit drahtlosen Kommunikationssystemen ausgestattete Patroullienfahrzeuge anzuschaffen. Diese Ausrüstung wurden für alle sieben Niger-Regionen bereitgestellt 20. Darüber hinaus enschiedt die EU im April 2014 über die Entsendung einer zivilen GSVPMission, um die Sicherheitsfähigkeit Malis zu verbessern. Im März 2015 gewährte Japan eine Zahlung von 492 Mill. Yen (ca. 3,7 Mill. Euro) für den Aufbau von Malis nationaler Polizeischule. Ferner zahlte Japan in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt 850 Mill. Yen (ca. 6,4 Mill. Euro) für die Anschaffung von Sicherheitsausrüstungen für Polizei und Justizbehörde in Mali 21. Japans Zusammenarbeit mit den GSVP-Missionen wurde dadurch erleichtert, dass man bereits über Erfahrungen mit dem Programm der Official Development Assistance (ODA) verfügte 22. Die ODA hatte zuvor die Wiederherstellung von Infrastruktur im Irak bei Friedensoperationen des japanischen Militärs (SelfDefense Forces, SDF) unterstützt. Eine ähnliche Koordination zwischen ODA und SDF führte man auch bei der Friedenskonsolidierung (Peacebuilding) in TimorLeste und bei der Katastrophenhilfe für Haiti durch. Unlängst nahm die japanische SDF an der UNO-Mission im Südsudan (UNMISS) teil und leistete einen Beitrag zur Friedenskonsolidierung durch die Reparatur von Straßen und anderer Infrastruktur. Diese Erfahrungen – wenn auch nicht alle Missionen erfolgreich verliefen – haben den Weg für eine Zusammenarbeit Japans mit der GSVP-Mission zum Kapazitätsaufbau geebnet. 19 Vgl. „The EU and Japan Acting together for Global Peace and Prosperity,“ 22nd EU-Japan Summit, Joint Press Statement, Brussels, 7. Mai 2014, Abs. 17. (http://www.mofa.go.jp/mofaj /files/000037966.pdf) 20 Vgl. die Website des Japanischen Außenministeriums (Japanisch). (http://www.mofa.go. jp/mofaj/ gaiko/oda/data/gaiyou/odaproject/africa/niger/index_01.html) 21 Vgl. die Website des Japanischen Außenministeriums (Japanisch). (http://www.mofa.go.jp /mofaj/gaiko/oda/data/gaiyou/odaproject/africa/mali/index_01.html) 22 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Fukushima 2015: 24 ff.

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5. MÖGLICHKEIT DER ZUSAMMENARBEIT BEIM KAPAZITÄTSAUFBAU Beim Comprehensive Approach beschränkt sich die Unterstützung nicht auf die Bereitstellung von Infrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung. Er zielt auch darauf ab, Governance zu stärken und lokale Gemeinschaften beim Kapazitätsaufbau zu unterstützen. Damit soll die Widerstandfähigkeit (engl. „resilience“) gegen Krisen gefördert und organisierter Kriminalität oder Terrorismus vorgebeugt werden. Kapazitätsaufbau ist jener Bereich, der wohl das größte Potential für zukünftige Kooperationen Japans mit der EU besitzt23. Die Richtlinien des nationalen Verteidigungsprogramms aus dem Jahr 2010 legten zum ersten Mal fest, dass das japanische Militär (SDF) für den Kapazitätsaufbau eingesetzt wird. Dort heißt es: Die SDF sind bestrebt, Fähigkeiten und Vorkehrungen zu verbessern, die für unterschiedliche Missionen, schnelle Einsätze und langfristige Operationen gelten, so dass sie aktiv an internationalen Aktivitäten der Friedenszusammenarbeit teilnehmen können. [...] Die SDF werden ihre Fähigkeiten für internationale Aktivitäten der Friedenszusammenarbeit verbessern, indem sie [...] ihre Bildungs- und Ausbildungssysteme verbessern 24.

Im Jahr 2011 stellte die japanische Regierung dann ihr sicherheitsbezogenes Kapazitätsaufbauprogramm vor 25. In diesem Zusammenhang sind die folgenden Dokumente vom 17. Dezember 2013 bedeutsam, die hier auszugsweise übersetzt werden sollen: – Dokument 1: National Security Strategy Um eine nahtlose Unterstützung in sicherheitsrelevanten Bereichen zu erreichen, wie unter anderem durch die weitere strategische Nutzung von ODA und Kapazitätsaufbauhilfe sowie durch die Koordination mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wird Japan ein System entwickeln, das potenziellen Empfängerorganisationen Unterstützung bietet [...] 26.



Dokument 2: National Defense Program Guidelines Da der Kapazitätsaufbau zur Stabilisierung des Sicherheitsumfelds und zur Stärkung der bilateralen Verteidigungszusammenarbeit wirksam ist, wird Japan den Kapazitätsaufbau in enger Abstimmung mit diplomatischen politischen Initiativen, einschließlich der Official Development Assistance (ODA), fördern und mit gemeinsamen Ausbildungen und Übungen sowie internationalen friedenserhaltenden Maßnahmen abstimmen. Japan wird auch die Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern intensivieren, die diese Unterstützung aktiv bereitstellen, um den Bereich der unterstützten Länder sowie den Umfang der Unterstützung zu erwei-

23 Vgl. Ebenda: 25. 24 Siehe: „National Defense Program Guidelines for FY 2011 and beyond (᪂ࡓ࡞㜵⾨኱⥘)“, approved by the Security Council and the Cabinet on December 17, 2010, Ministry of Defense of Japan, 22. Dezember 2011 (Provisional English Translation), V-2-(3) und V-3-(2)-C. (http://www.mod.go.jp/e/d_act/d_policy/pdf/guidelinesFY2011.pdf) 25 Vgl. die Website des Japanischen Verteidigungsministeriums (Japanisch). (http://www.mod. go.jp/j/yosan/genkiwaku/pdf/2011/008.pdf) 26 Zit. aus: „National Security Strategy (ᅜᐙᏳ඲ಖ㞀ᡓ␎)“, Cabinet Secretariat of Japan, 17. Dezember 2013 (Provisional English Translation), IV-4-(4). (http://www.cas.go.jp/jp/ siryou/131217anzenhoshou/nss-e.pdf)

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Takumi Itabashi tern 27. [...] Unter Nutzung der Fähigkeiten der SDF wird Japan kontinuierlich Unterstützung beim Kapazitätsaufbau [leisten], um die Fähigkeit der Entwicklungsländer selbst zu verbessern [...] 28.



Dokument 3: Medium Term Defense Program Durch die Nutzung der Fähigkeiten der SDF wird das japanische Verteidigungsministerium den betroffenen Ländern helfen, ihre militärischen Fähigkeiten in Bereichen wie humanitäre Hilfe (HA)/Katastrophenhilfe (DR), Entsorgung von Landminen [...] und Militärmedizin zu verbessern, um das Sicherheitsumfeld zu stabilisieren und die Beziehungen zu den Verteidigungsbehörden dieser Länder zu verstärken 29.

Diese hier beschriebenen Maßnahmen erlauben es Japan, Entwicklungshilfe für Länder in Südostasien und anderswo bereitzustellen, die ihre Kapazitäten in Sicherheits- und Verteidigungsbereichen – unter anderem humanitäre Hilfe oder Katastrophenhilfe, maritime Sicherheit oder UN-geführte friedenserhaltende Missionen - verbessern wollen. Die Hilfe nimmt jeweils eine von drei Formen an: eine langfristige Bildung und Ausbildung in den Empfängerländern (1); kurzfristige Seminare und Ausbildung in den Empfängerländern (2); ein kurzfristiges Einladungsprogramm in Japan (3)30. Das japanische Kapazitätsaufbauprogramm basiert auf der Logik, dass Entwicklungshilfe dieser Art die internationale Sicherheitslage insgesamt verbessert und damit gleichzeitig zur Sicherheit in Japan beiträgt. Ebenfalls können die Beziehungen zu den Empfängerländern gestärkt werden, welches die Stellung Japans in der internationalen Gemeinschaft festigt. Die Kapazitätsaufbauhilfe durch andere Organisationen, wie z.B. der japanischen Küstenwache (Japan Coast Guard, JCG) in Kooperation mit der Japan International Cooperation Agency (JICA) im Bereich der Pirateriebekämpfung, ermöglicht es, die Küstenwachen in Südostasien auszubilden 31. Die Verbesserung der Kapazitäten von Küstenwachen in südostasiatischen Ländern (z.B. Philippinen, Malaysia und Indonesien) und der Küstenländer in der Nähe von Somalia und dem Golf von Aden ist äußerst wichtig, um die Sicherheit von Seewegen zu gewährleisten. Die JCG bietet vorbeugende Unterstützung durch Entsendung ihrer Patrouillenschiffe und Flugzeuge für Manöver, der Entsendung von Experten und Aufnahme von Auszubildenden aus diesen Ländern an 32. Meiner Meinung nach könnte dieses Entwicklungsmodell als Vorbild für andere Regionen dienen. 27 Zit. aus: „National Defense Program Guidelines for FY2014 and beyond“, Ministry of Defense of Japan, 17. Dezember 2013 (Provisional English Translation), III-4-(1). (http://www. mod.go.jp/j/approach/agenda/guideline/2014/pdf/20131217_e2.pdf) 28 Ebd., IV-1-(2). 29 Siehe: „Medium Term Defense Program. FY2014-FY2018 (୰ᮇ㜵⾨ຊᩚഛィ⏬)“, approved by National Security Council and the Cabinet, Ministry of Defense of Japan, 17. Dezember 2013 (Provisional English Translation), III-2-(3). (http://www.mod.go.jp/j/approach/agenda/guideline/2014/pdf/Defense_Program.pdf) 30 Siehe: Ministry of Defense, Japan’s Defense Capacity Building Assistance, April 2016, 1. (http://www.mod.go.jp/e/publ/pamphlets/pdf/cap_build/pamphlet.pdf) Für Beispiele für die Unterstützung des japanischen Kapazitätsaufbaus vgl. ebenda: 2. 31 Vgl. Fukushima 2015: 25. 32 Vgl. Japan Coast Guard, März 2017, S. 11. (http://www.kaiho.mlit.go.jp/e/english.pdf)

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6. DER WEG FÜR EINER ZUKÜNFTIGE ZUSAMMENARBEIT Japan hat seinen Bemühungen um einen Comprehensive Approach für die Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der im Jahr 2015 beschlossenen Sicherheitsgesetze verstärkt 33. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den GSVP-Missionen der EU, insbesondere in den Regionen Afrika und Asien. Dabei ist es wichtig, eine solide ideelle Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen der EU und Japan zu schaffen. Für die Intensivierung der gegenwärtigen und auch zukünftigen Kooperationen bedarf es meiner Einschätzung nach einem weiteren Ausbau der ideellen und politischen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus sollten sich sowohl die EU als auch Japan verstärkt mit „Public Diplomacy“ beschäftigen, um die Öffentlichkeit über die aktuellen Umstände der Zusammenarbeit zu informieren. Takumi Itabashi ist Professor für Politikwissenschaft an der Seikei University, Faculty of Law, Tokio

33 Vgl. Ippeita Nishida, “Japan is Back, Including a New Defence Posture”, Friends of Europe, 6. Oktober 2014. (http://www.friendsofeurope.org/security-europe/japan-back-including-newdefense-posture)

AUFSÄTZE

WIEDERBELEBUNGSVERSUCHE Ernst Rudolf Huber und Hans-Joachim Schoeps, Preußen und die Jugendbewegung nach 1945 Herausgegeben und eingeleitet von Ulf Morgenstern / Daniel Benedikt Stienen Kurzfassung: In der vorliegenden Edition wird der unwahrscheinliche Briefwechsel zwischen Ernst Rudolf Huber (1903–1990) und Hans-Joachim Schoeps (1909–1980) vorgelegt. Unwahrscheinlich deswegen, weil Huber einer der bekanntesten Exponenten der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft war, der im Dritten Reich eine steile Karriere gemacht hatte, und Schoeps als jüdischer Deutscher seine Familie durch den Holocaust verlor, und selbst im schwedischen Exil überlebte. Hans-Joachim Schoeps und Ernst Rudolf Huber lernten sich erst nach 1945 kennen und hätten sich auch aus dem Weg gehen können. Was sie dennoch zusammenführte, waren Wiederbelebungsversuche der Jugendbewegung und das gemeinsame Interesse an der preußischen Geschichte. Schoeps war in der Nachkriegszeit Professor an der Universität Erlangen geworden, während Huber seine Professur an der Reichsuniversität Straßburg verloren hatte. Die Korrespondenz setzte zu einer Zeit ein, als ein Gefälle zwischen dem Herausgeber einer neuen Zeitschrift und dem um Rezensionsexemplare bittenden Anstellungslosen herrschte, das sich nie ganz auflöste. Entlang der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik tauschten die am Ende eigentümlich aus der Zeit gefallen wirkenden borussophilen Professoren in insgesamt 49 vollständig wiedergegebenen Schreiben wissenschaftliche Einsichten, Sonderdrucke, Tagungsplanungen des Freideutschen Kreises und organisatorische Alltäglichkeiten aus. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 blieben dabei ausgespart, die Verwandlung des „Trümmerfelds der bürgerlichen Welt“ in die durch Prosperität und Liberalisierung geprägte Bundesrepublik fand auffallend geräuschlos statt.

Wie viele ihrer Generation waren Ernst Rudolf Huber (1903–1990) und HansJoachim Schoeps (1909–1980) als Schüler und Studenten Angehörige der Jugendbewegung, auch wenn weder der spätere Verfassungshistoriker noch der Religions- und Preußen-Historiker heute zu den prominenten Vertretern von ehemals jugendbewegten Gestaltern der Bundesrepublik gerechnet werden. 1 Gleichwohl 1

Auf den mehr als 800 Seiten eines einschlägigen Kompendiums finden sich Huber und Schoeps nicht, Barbara Stambolis (Hrsg.), Jugendbewegt geprägt: Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, 819 Seiten. Vgl. dagegen Winfried Mogge, Jude, Preuße, Jugendbewegter. Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 14 (1982/83), 227–

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prägte beide an der Schwelle vom Kaiserreich zur Weimarer Republik das jugendbündische Zusammensein ebenso wie andere – so die Jahre später formulierten übereinstimmenden Erinnerungen an ein Lebensgefühl und ein Gemeinschaftserlebnis, das sie im Jahr 1947 zusammenführte. 2 In den 1920er Jahren waren sich der protestantische Kaufmannssohn aus dem oldenburgischen Oberstein Huber und der Sohn eines jüdischen Berliner Oberstabsarztes Schoeps noch nicht begegnet, was verschiedene Ursachen haben mochte, etwa den Altersunterschied von sechs Jahren, die räumliche Distanz zwischen Berlin und dem linksrheinischen Fürstentum Birkenfeld oder die aus der Binnendifferenzierung innerhalb des jugendbewegten Spektrums resultierenden, gelegentlich nur geringen Schnittmengen zwischen einzelnen Bünden. Gründe, warum man sich innerhalb der mehrere zehntausend Köpfe zählenden bündischen Jugend begegnen konnte oder auch nicht, gab es viele. Hans-Joachim Schoeps und Ernst Rudolf Huber lernten sich erst in der zweiten Nachkriegszeit kennen, als der eine aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt und, offenbar als Wiedergutmachungs-Maßnahme im Schnellverfahren habilitiert 3, Professor an der Universität Erlangen geworden war, während der andere seine Professur an der Reichsuniversität Straßburg verloren und eine neue noch nicht in Aussicht hatte. Ihr zufälliges Treffen fand im Zeichen einer von Zeitgenossen später als von Aufbruch und Erleichterung über das Ende der Diktatur gekennzeichneten Phase statt, die nur scheinbar im Gegensatz zur allgemeinen Niedergeschlagenheit unter dem Eindruck der „deutschen Katastrophe“ 4 stand. Neben der Resignation stand die Neugier auf das Kommende unter den Bedingungen einer eben beginnenden Epoche und ihrer noch ungeahnten Möglichkeiten. Hans-Joachim Schoeps wurde 1909 in Berlin als ältestes Kind einer assimilierten jüdischen Familie geboren. Seine Memoiren lesen sich bis zum Jahr 1933 wie ein klassischer, bildungsbürgerlicher Lebenslauf: Studium unter Wahrneh-

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240, und Ewald Grothe, „Das mißliche Geschäft der Selbstbespiegelung“. Ernst Rudolf Huber und die deutsche Jugendbewegung, in: Eckart Conze/Susanne Rappe-Weber (Hrsg.), Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945, Göttingen 2018, 199–213. Für die Erfahrungsräume und die Erwartungshorizonte dieser jugendbewegten Generation des Freideutschen Kreises ausführlich: Thomas A. Kohut, Eine deutsche Generation und ihre Suche nach Gemeinschaft. Erlebte Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gießen 2017. Vgl. für Huber Ewald Grothe, Auf der Suche nach der „wahren Verfassung“. Ernst Rudolf Huber (1903–1990). Eine Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber: Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015, 9–18; bzw. für Schoeps Frank-Lothar Kroll, Geistesgeschichte in interdisziplinärer Sicht. Der Historiker Hans-Joachim Schoeps, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Erlangen, Erlangen/Jena 2000, 314–336, bes. 317f. Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Die letzten dreißig Jahre. Rückblicke, Stuttgart 1956, 149; Gary Lease, Der Briefwechsel zwischen Karl Barth und Hans-Joachim Schoeps, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte (1991), 105–137, hier 131, Dokument 17. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946.

Wiederbelebungsversuche

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mung eines breiten Fächerangebotes mit Stationen in Berlin, Heidelberg, Marburg und Leipzig. Aus einer vornehmlich autodidaktisch geformten Neigung für religionswissenschaftliche Fragestellungen folgte 1932 die Promotion bei Joachim Wach mit einer Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie der Neuzeit. 5 Politische Sympathien hegte Schoeps in dieser Zeit für die Volkskonservative Vereinigung und den Herrenklub, an dessen Zeitschrift Der Ring er zeitweise mitwirkte. 6 Schoeps’ Reaktion auf die nationalsozialistische Machtübernahme war zutiefst widersprüchlich und ist nicht erst posthum Gegenstand kontroverser bis polemischer publizistischer und historiographischer Debatten geworden: Einerseits bediente er sich einer Rhetorik, die in dem nachgeborenen Leser nicht zuletzt dadurch ungläubiges Staunen hervorruft, da sie mit dem zeitüblichen Pathos für eine ständische Eingliederung der deutschen Juden in das „neue Deutschland“ eintrat. Dieser Eingliederung sollte der Ausschluss oder vielmehr die Befreiung von zionistischen und kommunistischen Elementen vorausgehen. Zugleich trat er den totalitären Zügen des Regimes und dessen immer vehementerem Antisemitismus entgegen. Schoeps’ organisatorischen Höhepunkt stellte die Gründung des jugendbewegten Deutschen Vortrupps – Eine Gefolgschaft deutscher Juden im Jahr 1933 dar, der zwei Jahre später zwangsaufgelöst wurde. 7 Ergänzt wurde die oppositionelle Beschäftigung durch Tätigkeiten bei der konservativen deutschjüdischen Zeitschrift Der Schild, bei den Rundfunksendungen Wolfgang Frommels sowie in immer intensiverem Maße bei der bekennenden Kirche. 8 Seit 1938 im schwedischen Exil9, entdeckte Schoeps den preußischen Staat unter Friedrich Wilhelm IV. für sich, den er als Idealform eines autoritären (bei Schoeps schon seit Weimarer Zeit ein stets positiv belegter Begriff 10), national indifferenten und betont religiösen zugleich aber interreligiös toleranten Staates glorifizierte. Ein solches Preußen stellte er als historischen und zugleich utopischen Gegenentwurf zur totalitären, national-chauvinistischen und antisemitischen Realität des nationalsozialistischen Regimes dar. Die Suche nach diesen idealen Strängen sollte – neben der religionswissenschaftlichen Arbeit – in den folgenden 5 6

Vgl. Schoeps, Dreißig Jahre (wie Anm. 3), 69–85. Vgl. ebd., 86–88; Manfred Schoeps, Der Deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Diss. Phil. Erlangen-Nürnberg 1974; André Postert, Von der Kritik der Parteien zur außerparlamentarischen Opposition. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalsozialismus, Baden-Baden 2014. 7 Carl J. Rheins, Deutscher Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden, 1933–1935, in: Leo Baeck Institute Yearbook 26 (1981), 207–229. 8 Vgl. Schoeps, Dreißig Jahre (wie Anm. 3), 95–114. 9 Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Das wissenschaftliche Werden von Hans-Joachim Schoeps und seine Vertreibung aus Deutschland 1938. Eine Dokumentation aus den Briefen von H.-J. Schoeps an Martin Rade im Nachlaß M. Rade – Marburg, in: ZRGG 32 (1980), 319–352. 10 Zur Karriere des Begriffes vom „autoritären Staat“ und seiner ideologischen Ausformung vgl. Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, 253–260.

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Jahrzehnten sein publizistisches Wirken bestimmen. 11 Es verwundert somit nicht, dass Schoeps nach Kriegsende zu der kleinen Gruppe der jüdischen Rückkehrer gehörte. 1946 remigrierte Schoeps nach Deutschland, im Jahr darauf erfolgte die Habilitation in Marburg 12 und die anschließende Berufung nach Erlangen, letztere dank tatkräftiger Unterstützung des Schweizer Theologen Karl Barth, mit dem Schoeps bereits vor 1933 in Kontakt gestanden hatte. 13 Der Werdegang Ernst Rudolf Hubers verlief zunächst nicht grundlegend anders als der von Schoeps. 1903 in eine protestantische Kaufmannsfamilie in (Idar)Oberstein geboren, studierte er in Tübingen und München zunächst an der philosophischen, später an der juristischen Fakultät. In Bonn wurde er 1926 bei dem Staatsrechtler Carl Schmitt promoviert. 14 Neben dem juristischen Vorbereitungsdienst strebte Huber mit der Habilitation auf Grundlage einer Arbeit aus dem Wirtschaftsverwaltungsrecht eine akademische Laufbahn an. Seinem Mentor Schmitt, der ihn nachhaltig ermutigte, diente der Bonner Privatdozent in der Folge auch außerhalb der Universität mit juristisch-politischen Zuarbeiten, etwa im Umfeld des Prozesses Preußen gegen das Reich. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten machte Huber, seit März 1933 Mitglied der NSDAP, akademisch Karriere als Professor in Kiel (1933), Leipzig (1937) und Straßburg (1941). Hubers 1939 in zweiter Auflage unter dem Titel „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ erschienenes Buch erlangte Lehrbuchcharakter. Trotz anderer Forschungen zur Verfassungs- und Militärgeschichte und der durch Kollegen und Schüler überlieferten relativ freien Diskussionsatmosphäre in seinem Umfeld brachte Huber seine exponierte juristische Parteinahme für die Zwangs- und Willkürmaßnahmen des Nationalsozialismus nach dessen Ende den Ruf ein, neben seinem diesbezüglich ähnlich notorischen Lehrer Carl Schmitt der „Kronjurist“ des Dritten Reiches gewesen zu sein. Im November 1944 hatte Huber Straßburg vor den anrückenden Amerikanern verlassen. Im Schwarzwald fand seine siebenköpfige Familie Unterkunft bei dem befreundeten Historiker Hermann Heimpel, der seit dem Ende der linksrheinischen Reichsuniversität in Göttingen lehrte. 15 1962 kam auch Huber aus dem

11 Vgl. Frank-Lothar Kroll, Hans-Joachim Schoeps und Preußen, in: Gideon Botsch/Joachim H. Knoll/Anna-Dorothea Ludewig (Hrsg.), Wider den Zeitgeist. Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), Hildesheim/Zürich/New York 2009, 105–137, hier 111–117. 12 Schoeps selbst formulierte dazu elegant, die Marburger Philosophische Fakultät habe sein „bis dahin publiziertes wissenschaftliches Oeuvre in Verbindung mit den zahlreichen Manuskripten, die ich mitbrachte, als ausreichende[n] Ersatz für eine besondere Habilitationsschrift angesehen.“ Schoeps, Dreißig Jahre (wie Anm. 3), 140f. 13 Vgl. Lease, Briefwechsel (wie Anm. 3), 137, Anm. 1. 14 Vgl. Reinhard Mehring, „Steine als Geschenk“. Hubers Revision von Schmitts „Dezisionismus“, in: Ewald Grothe (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber. Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015, 21–49. 15 Ulf Morgenstern, Die riskante „Rückkehr in das gesegnete rheinische Land“. Über Ernst Rudolf Hubers sächsische und elsässische Jahre und deren Darstellung in seinen „Straßburger

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weltfernen Wilhelmshaven-Rüstersiel an die niedersächsische Landesuniversität, in der seine vorherige akademische Wirkungsstätte, die Hochschule für Sozialwissenschaften, aufging. In Freiburg, wo er bis zu seinem Tod lebte, schuf der bis auf sechs Jahre vor der Emeritierung im Jahr 1968 universitär marginalisierte Huber sein Lebenswerk, ein Mammutwerk zur deutschen Verfassungsgeschichte von der Französischen Revolution bis zum Jahr 1933. 16 In einer zugespitzten Qualifizierung und mit den historischen, juristischen und moralischen Kategorien und Standards der parlamentarisch-demokratischen Gegenwart stammen wesentliche Schriften Hubers vor 1945 von dem „Chefdogmatiker des nationalsozialistischen Staatsrechts“; ob er das bis 1943 oder bis 1945 blieb und wie er mit dieser Rolle in seiner zweiten Lebens- und Schaffenshälfte umging, werden zukünftige Forschungen beurteilen. Sie können sich mit dem hier vorgelegten Briefwechsel auf eine Quellenart stützen, deren Entstehungszusammenhang per se einen persönlicheren Reflexionswinkel auf das eigene Tun vor 1945 zuließ, als das beim Setzen von Fußnoten für kenntnisreiche Kollegen in Dokumenten-Editionen nicht wegzudenkende fachliche Gesicht-Wahren der Fall sein konnte. Die Frage, wann und in welchem Grad Huber Reue über sein aktives Stützen des Unrechts empfand, zielt (auch wenn sie nicht explizit angesprochen wird) ins Zentrum des hier vorgelegten Schriftwechsels mit einem akademischen Kollegen, der im Exil überlebt hatte und dessen Familie im Holocaust ums Leben gekommen war. Es geht bei der Veröffentlichung des über das Vehikel der Jugendbewegung begonnenen Briefwechsels nicht darum, einem der „bekannten Edelnazis“17 durch einen versöhnliche Töne dokumentierenden Dokumentenabdruck „mehr Verständnis zuteil“ werden zu lassen als anderen und „nach Relativierungen ihrer Verantwortlichkeit, sei es wegen ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit, ihrer bürgerlichen Ausstrahlung oder ihrer geschickten Selbstdarstellung ex post“ 18, zu suchen. Im Gegenteil. Gerade vor dem Hintergrund der „intellektuellen Leistungsfähigkeit“ Hubers und seiner „bürgerlichen Ausstrahlung“ kann der Austausch mit Schoeps zeigen, ob er nur um eine „geschickte Selbstdarstellung ex post“ bemüht war. Gelegentliche Selbstzweifel, situationsbedingte Ungereimtheiten bei Antworten, die Beharrlichkeit in der Sache, vor allem aber die lange Dauer (und gelegentliche Belanglosigkeit) des unveröffentlicht gebliebenen Briefgesprächs sprechen dagegen, dass Huber den Diskurs mit einem deutschen Juden als Mittel zur Rückgewinnung von Renommee benutzte.

Erinnerungen“, in: ders./Ronald Lambrecht (Hrsg.), „Kräftig vorangetriebene Detailforschungen“. Aufsätze für Ulrich von Hehl zum 65. Geburtstag, Leipzig/Berlin 2012, 243–273. 16 Ewald Grothe, Eine ‚lautlose‘ Angelegenheit? Die Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 980–1001. 17 Florian Meinel, Unser Jahrhundert, in: Der Staat 54 (2015), 231–239, hier 231. 18 Christoph Möllers, Erwiderung auf Ewald Grothe und Reinhard Mehring, in: Der Staat 55 (2016), 97–101, Zitat S. 97.

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Die Beschäftigung mit dem wissenschaftlichen Werk und den privaten Briefen Ernst Rudolf Hubers bietet anders als bei Carl Schmitt kein vordergründig intellektuelles Faszinosum, sondern vielmehr ein mentalitätsgeschichtliches: Seine staatsrechtlichen Reflexionen kreisen wie die allgemein gesellschaftlichen um Tradition und Transition. Letztere schwankten wie bei anderen ehedem Systemkonformen zwischen Zweifeln und Reue einerseits 19 und dem anhaltenden Selbstvertrauen eines Gestalters anderseits, einem Charakterzug, der in noch stärkerem Maße auf den Briefpartner Schoeps zutraf. In dem 1947 einsetzenden Briefwechsel war Schoeps auch klar derjenige, dessen Zeit gekommen zu sein schien, während Huber zu jenen gehörte, die zunächst die Ergebnisse ihrer Entnazifizierungsverfahren abwarteten und danach nur vorsichtig, in Hubers Falle möchte man fast sagen: zögerlich die Rück- oder Neuerlangungen von Posten und Anstellungen anstrebten. 20 Innerhalb der Jugendbewegung war er nicht der einzige Belastete, der neuerlichen Anschluss und Gelegenheit zur Mitarbeit suchte. 21 Eine Besonderheit ist hingegen der hier vorgelegte persönliche Briefaustausch mit einem der wenigen remigrierten deutschen Juden innerhalb der Universitätswelt; zumal mit einem eigenwilligen Kopf, dessen baldiger Outsider-Status nicht allein auf der schwierigen, von der deutschen Mehrheitsgesellschaft verweigerten Integration gründete 22, sondern auf einer aus der Zeit gefallenen Borussophilie, gepaart mit Planspielen für eine Wiederherstellung der Monarchie. 23 Zwar gab es andere jüdische Remigranten mit politischen Antennen 24 und auch solche, die wieder in die

19 Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005; Peter Hüttenberger, Deutsche Gesellschaft 1945, in: Manfred Funke u. a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, 316–330. 20 S. u. a. Axel Schildt: Im Visier: Die NS-Vergangenheit westdeutscher Intellektueller. Die Enthüllungskampagne von Kurt Ziesel in der Ära Adenauer, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 37–68; zu Huber ausführlich Grothe, Eine ‚lautlose‘ Angelegenheit? (wie Anm. 16). 21 Jürgen Reulecke, Eine unbegreifliche Last? Vom Umgehen mit Scheitern, Schuld und Versagen am Beispiel der jugendbewegten ‚Jahrhundertgeneration‘, in: Stefan Zahlmann/Sylka Scholz (Hrsg.), Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Gießen 2005, 165–178. 22 Stefanie Schüler-Springorum/Irmela von der Lühe/Axel Schildt (Hrsg.), „Auch in Deutschland waren wir nicht mehr wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008. 23 Hans-Joachim Schoeps, Kommt die Monarchie? Wege zu neuer Ordnung im Massenzeitalter, Ulm 1953. Zu der Beziehung von Schoeps und Huber in dieser Frage s. bereits Hans-Christof Kraus, Eine Monarchie unter dem Grundgesetz? Hans-Joachim Schoeps, Ernst Rudolf Huber und die Frage einer monarchischen Restauration in der frühen Bundesrepublik, in: ders./Heinrich Amadeus Wolff (Hrsg.), Souveränitätsprobleme der Neuzeit. Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages, Berlin 2010, 43–69. 24 Alfons Söllner, Zwischen totalitärer Vergangenheit und demokratischer Zukunft. Emigranten beurteilen die deutsche Entwicklung nach 1945, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remigration, München 1991, 146–170.

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Jugendbewegung gingen. 25 Aber eine Konstellation wie bei Huber und Schoeps aus einem ehemaligen Nationalsozialisten und einem jüdischen PreußenHistoriographen dürfte schwerlich noch einmal zu finden sein, auch wenn die gleiche Generationenzugehörigkeit und die jugendbewegte Vergangenheit viele Gemeinsamkeiten schufen. In dem hier edierten Briefwechsel gehört das Thema „Jugendbewegung“ neben Fragen der preußischen Geschichte und der gelegentlichen Erörterung tagesaktueller politischer Ereignisse und Entwicklungen zu den drei inhaltlichen Schwerpunkten. Letztere kamen erst allmählich hinzu; die Anbahnung des Briefkontaktes stand noch ganz unter dem Eindruck des ersten gemeinsamen jugendbewegten Treffens. Nach „Altenberg“ 26 dominierte zunächst die Selbstvergewisserung des eigenen freideutschen Standortes den Schriftwechsel, aber auch redaktionelle Fragen eines Tagungsberichtes nahmen breiten Raum ein. Dieses Thema erscheint nur auf den ersten Blick profan. Tatsächlich war Huber viel daran gelegen, sich nach der Altenberger Aussprache über die eigene Stellung im Nationalsozialismus im schriftlichen Bericht nicht an exponierter Position erwähnt zu wissen. Aber auch unverfänglichere Dinge wie die Gestaltung der freideutschen Zeitschrift beschäftigten beide im Sommer 1947. Ab Herbst 1948 spielten Vereinsinterna eine größere Rolle. Der „Freideutsche Kreis“ sollte institutionell ausgestaltet und gefestigt werden, was Schoeps und Huber zu einem erhöhten Briefaufkommen veranlasste. Unter anderem war die Konstituierung eines „politischen Arbeitskreises“ geplant. Friedrich Kreppel, der im Hintergrund die Fäden zog, sah als dessen hauptamtlichen Sekretär den noch anstellungslosen Ernst Rudolf Huber vor. 27 Es bedurfte allerdings nur einiger weniger Monate, bis sich bei Huber wie bei Schoeps Verdruss an der „Vereinsmeierei“ im „Freideutschen Kreis“ einstellte. Dem eigenen Gestaltungswillen waren durch die Eigendynamik der Vereinsarbeit Grenzen aufgezeigt worden; die Entwicklung des „Freideutschen Kreises“ sahen beide rasch als verfehlt an. Die 1950er Jahre waren geprägt von internen Streitereien, insbesondere zwischen Hans-Joachim Schoeps und Werner Kindt. Sie fanden ihren Höhepunkt in einem gegen Schoeps anberaumten Ehrgerichtsverfahren wegen homoerotischer Annäherungsversuche, durch das er aus dem Freideutschen Kreis entweder ausgeschlossen wurde oder einem Ausschluss durch Austritt zu25 Micha Brumlik, „Wer je die Flamme umschritt …“ Die jüdische Jugendbewegung Deutschlands und ihr Fortleben in der Nachkriegszeit, in: Barbara Stambolis (Hrsg.), Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahmen, Göttingen 2015, 47–59. Sabine Hering/Harald Lordick/Gerd Stecklina (Hrsg.), Jüdische Jugendbewegung und Soziale Praxis, Frankfurt 2017. 26 Die Gruppe konstituierte sich zunächst als „Altenberger Konvent“, nannte sich auf dem Treffen auf dem Ludwigstein Oktober 1947 dann „Freideutscher Konvent“ und wechselte 1948 die Bezeichnung in „Freideutscher Kreis“. Vgl. Heinrich Ulrich Seidel, Aufbruch und Erinnerung. Der Freideutsche Kreis als Generationseinheit im 20. Jahrhundert, Witzenhausen 1996, 34–43. Vgl. aber auch 48. 27 Dokumente 1–5, 11.

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vorkam. Huber erklärte Schoeps gegenüber, weiterhin zu ihm zu stehen; fortan wurde das Thema „Jugendbewegung“ jedoch nicht mehr angesprochen. An den solidarischen Austritten einiger prominenter Mitglieder des Kreises beteiligte sich Huber offenbar nicht. Obwohl Schoeps seine Verbitterung über das Verhalten des Freideutschen Kreises kaum verbergen konnte, änderte er in der Neuauflage seines Memoirenbandes 1963, einiger Abänderungen zum Trotz, seine nach außen hin getragene affirmative Haltung zu den Freideutschen nicht. 28 Der aus den Schreiben der 1950er Jahre hervorstechende zweite Themenkomplex betraf die Frage nach den historischen Zielen Otto von Bismarcks 29 und der Brüder Gerlach 30 sowie die der Aktualität Preußens und der Möglichkeit einer Rückkehr zur Monarchie in Deutschland. Wenn schon im Ringen um eine Rezension Hubers von Erich Eycks Biographie über Wilhelm II. für Schoeps’ neue „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ (ZRGG) der von beiden als historisch am spannendsten empfundene Boden das Kaiserreich war (Dok. 12–15, 17–19, 21–23), so kamen sie diesbezüglich nach der bald nach ihrem Erscheinen berühmten Rede von Hans-Joachim Schoeps zum 250. Preußen-Jubiläum im Jahr 1951 erst richtig in Fahrt (Dok. 26). Über die bereits publizierten Briefe vom 23. November und vom 2. Dezember 1951 (hier Dok. 26 und 27) hinaus blieben die Themen „Preußen“ und „Monarchie“ bestimmend (s. bes. Dok. 32, 39, 40). Die gedankliche Tiefe bei der Bewertung von Bismarcks Umgang mit den preußisch-monarchischen Traditionen zeigt, wie sehr sich beide auf Nebenfeldern ihrer primär staatsrechtlichen bzw. religionsgeschichtlichen Spezialgebiete in verfassungsgeschichtlichen Fragen eingearbeitet hatten und sich diesbezüglich als in Leidenschaft für den Gegenstand verbundene Experten schätzten. Dass der Briefwechsel in den ausgehenden 1950er Jahren ausdünnte, lag mehr an der beruflichen Beanspruchung beider, als daran, dass sie das Interesse aneinander verloren hätten. Vortragseinladungen Hubers (Dok. 45) bezeugen, dass der Faden bis in die 1970er Jahre nicht abriss. Allerdings hatten sich zu dieser Zeit die Anknüpfungspunkte durch die Jugendbewegung verloren 31 und auch die Reorganisation der akademischen Welt, wie sie beiden in der unmittelbaren Nachkriegszeit als brennendes Problem vor Augen gestanden hatte, war in eine im Grunde solide, wenn auch durch gesellschaftliche Umbrüche und Verwerfungen gegen

28 Dokumente 13, 16, 18, 20, 24, 36, 40. Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Hans-Joachim Schoeps, Hans Blüher und der Männerbund. Überlegungen zu Hans-Joachim Schoeps und dem Thema Homosexualität, in: Gideon Botsch/Joachim H. Knoll/Anna-Dorothea Ludewig (Hrsg.), Wider den Zeitgeist. Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), Hildesheim/Zürich/New York 2009, 177–198, hier 189–192. 29 Otto von Bismarck (1815–1898), preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler. 30 Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877), preußischer Politiker und Publizist. Leopold von Gerlach (1790–1861), preußischer Offizier und Generaladjutant König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen. 31 Huber blieb bis ins Alter „jugendbewegt“, konnte aber mit den jugendlichen Mitgliedern seines Bundes nichts mehr anfangen. Vgl. Ernst Rudolf Huber an Hellmut Becker, undatiert [Juni 1978]. In: GStA PK, VI. HA, Nachlass Hellmut Becker, Nr. 1292.

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Ende der 1960er Jahre herausgeforderte Evolution übergegangen. Das „Trümmerfeld der bürgerlichen Welt“ 32 war einem durch Prosperität und Liberalisierung geprägten Alltag in der parlamentarisch demokratischen Bundesrepublik gewichen. Das Vertrauen und die gegenseitige Hochachtung, die die beiden so verschieden durch die Jahre des Dritten Reichs gekommenen Intellektuellen in der Phase des „verdichteten Epochenbewusstsein[s] und der Erfahrung des umfassendsten Zusammenbruchs“ 33 erworben hatten, bedurfte nicht der regelmäßigen Bestätigung. Arriviert und dem Pensionsalter nahe, brauchten Huber und Schoeps den regelmäßigen geistigen Austausch nicht mehr in dem Maße, wie dies in den Jahren nach dem Kennenlernen der Fall gewesen war, als „Kreise, Bünde und Intellektuellen-Netzwerke […] eine wichtige Rolle für die politische und kulturelle Selbstverständigung der deutschen Gesellschaft vom späten Kaiserreich bis in die frühe Bundesrepublik“ 34 spielten. EDITORISCHE NOTIZ Der Briefwechsel zwischen Ernst Rudolf Huber und Hans-Joachim Schoeps liegt in 49 Briefen und Postkarten vor. 45 stammen als Schreiben Hubers bzw. Schreibmaschinendurchschläge eigener Schreiben von Schoeps aus dem Nachlass von Schoeps, der sich in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz befindet (im Folgenden abgekürzt als SBB-PK). Nur vier (Nr. 45–48) sind dem Nachlass Hubers im Bundesarchiv Koblenz entnommen. Der sowohl hand- als auch maschinenschriftliche Briefwechsel umfasst den Zeitraum von Juni 1947 bis März 1977. Alle Dokumente werden in originaler Orthographie wiedergegeben. Uneinheitlichkeiten in der Rechtschreibung und der Interpunktion wurden beibehalten. Grammatikalische Anpassungen bei kleineren Fehlern wurden stillschweigend vorgenommen, bei größeren Eingriffen und Verbesserungen sind die Stellen im Text kenntlich gemacht. In den Anmerkungen finden sich Erläuterungen zu übergeordneten Zusammenhängen und erwähnten Ereignissen sowie biographische Details und bibliographische Nachweise und Verweise. Hamburg/Berlin im Oktober 2019

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32 Entlehnt aus dem Titel von Barbara Wolbring, Trümmerfeld der bürgerlichen Welt. Universität in den gesellschaftlichen Reformdiskursen der westlichen Besatzungszonen (1945–1949), Göttingen 2014. 33 Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik, Paderborn 2012, 36. 34 Frank-Michael Kuhlemann/Michael Schäfer (Hrsg.), Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke. Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017.

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NR. 1 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 26. Juni 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 198 Lieber Herr Schoeps, haben Sie sehr herzlichen Dank für Ihren Brief und die darin enthaltenen Auszüge des Altenberger Protokolls. Der Charakter der Niederschriften bestärkt mich in meinen Bedenken gegen die in Altenberg 35 geplante Veröffentlichung, und auf die Gefahr hin, Ihnen damit lästig zu fallen, möchte ich Ihnen Folgendes zu bedenken geben: Die Veröffentlichung von Diskussionsprotokollen hat nach allen Erfahrungen immer etwas Mißliches. Das lebendige Rundgespräch entzieht sich nach seinem Charakter der unmittelbaren schriftlichen Fixierung. Das gilt selbst für wissenschaftliche Diskussionen, obwohl sich in wissenschaftlichen Gremien immer Leute finden, die druckreif sprechen, auch werden solche Diskussionen ja oft von vornherein mit der Absicht veranstaltet, sie durch Veröffentlichung mitzuteilen. Das gleiche gilt für parlamentarische Debatten. In unserm Falle aber lag allen Beteiligten, die sich in dem Altenberger Gespräch geäußert haben, jede literarische Ambition fern. Das gab den meisten Äußerungen die Spontaneität des gesprochenen Wortes – das aber ist ein fast unüberwindliches Hindernis für die Übertragung in literarisches Deutsch. Die mir zugänglich gewordenen Niederschriften, und das gilt etwa auch für meine Bemerkungen, bedurften jedenfalls einer vollständigen Neuformulierung, wenn sie schriftlich fixiert werden sollten. Dabei ginge aber gerade das Spezifische und Beste des Altenberger Gesprächs verloren, eben das, was an Atmosphäre, an unmittelbaren Erlebniswerten, an Unter- und Obertönen in den Diskussionen der beide Tage mitschwang. Ich fürchte, die literarische Formung wird dazu führen, daß für die Teilnehmer die Echtheit des Berichts verloren ginge, eben die Echtheit, die nicht in den einzelnen Worten, sondern im Ganzen eine einzigartige Begegnung und einer nicht reproduzierbaren Stimmung liegt. Ich fürchte auch noch, daß für die Nicht-Teilnehmer, denen der Bericht vor Augen käme, unverständlich bliebe, was sich in Altenberg eigentlich ereignet hat. Auch für unsere Freunde müßte ein falsches Bild entstehen. (Daß wir uns gegen absichtsvolle Entstellungen unserer Feinde nicht schützen können, versteht sich, und

35 An Pfingsten 1947 hatten im Kloster Altenberg bei Wetzlar ca. 80 Jugendbewegte der 1920er Jahre den Freideutschen Kreis gegründet. Naturgemäß gingen bei der Größe der Gruppe die Meinungen über die zukünftige Ausrichtung und das Wirken in der Öffentlichkeit auseinander. Vgl. Winfried Mogge, Der Altenberger Konvent 1947 – Aufbruch einer jugendbewegten Gemeinschaft in die Nachkriegsgesellschaft, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 18 (1993), 391–418; Jürgen Reulecke, „Wo stehen wir?“ Der Freideutsche Kreis 1947/48: Von Altenberg zum Ludwigstein, in: Eckart Conze/Susanne Rappe-Weber (Hrsg.), Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg, Göttingen 2015, 273–288, bes. 276.

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ich meine nur, daß man ihnen die Polemik nicht erleichtern sollte, indem man eine notwendig unzulängliche literarische Dokumentation über unsere Tagung veranstaltet.) Damit aber bin ich schon beim zweiten. Ich bin der Ansicht, daß sich vieles von dem, was in Altenberg gesagt worden ist, der Veröffentlichung unter den gegebenen Verhältnissen entzieht (daß auch eine bloße Verbreitung in unserem engen Kreise praktisch auf eine Veröffentlichung hinausläuft, versteht sich. Dinge dieser Art haben heute in Deutschland eine sehr schnell sich erweiternde Publizität.) Viele der Altenberger Äußerungen, und gerade die besten unter ihnen, würden bei einer solchen Veröffentlichung eine Polemik auslösen, die absolut unerwünscht ist. Wenn man heute das Stichwort „Jugendbewegung und Nationalsozialismus“ ausgibt, entsteht eine verzerrende Debatte, die wenn nicht verhängnisvoll, so doch jedenfalls gefährlich sein würde – verhängnisvoll und gefährlich aber für die Sache selbst. Wir haben in Altenberg gesehen, wie unendlich differenziert dieses Problem ist; nichts wäre schlimmer, als es der vergröbernden Diskussion der Journaille auszuliefern, die sich dabei mit Wollust mißverstandener oder mißdeuteter Feststellungen aus unserm Kreise bedienen würde. Die kindische Idee würde das Opfer einer Denunziation schlimmster Art, wenn wir durch eine Publikation diese Frage zur öffentlichen Aussprache stellen. Ich wiederhole, daß heute jedes gedruckte Wort den Weg in die Öffentlichkeit findet, ob wir wollen oder nicht. Wir sollten auch, meine ich, keinen voreiligen literarischen Ehrgeiz haben. Was sich in Altenberg ereignete, wird, wenn es keine bloße gemütvolle Reminiszenz, sondern ein wirkliches Ereignis war, seine besondre Form der Aktivität, ja selbst der echten Publizität besitzen, durch die ständige Integration der neugeknüpften Beziehungen, durch Briefe und neue Begegnungen, durch wiederholte Treffen, durch die Berichte, die von Mund zu Mund gehen. Wir sollten unser volles Vertrauen in diese Art von Wirksamkeit und sich fortzeugender Kraft setzen. Das „Protokoll“ wird den Prozeß der Integration, der in Altenberg angelaufen ist nicht vertiefen, sondern eher beeinträchtigen, eben weil das Echte und Wirkliche des Ereignisses in der Form des Protokolls nicht reproduzierbar ist. Ich könnte mir eine andere Form literarischer Reproduktion denken, nämlich die Form des selbständigen Berichts über die Tagung im Ganzen. Ein solcher Bericht müßte dann unsere Begegnung in geistiger Verarbeitung wiedergeben. Er müßte das Erlebnis, die Stimmung, die Atmosphäre widerzuspiegeln suchen, welche Landschaft, Baulichkeit und das Licht, das uns umgab, der Blick über das Lahntal, den wir ständig vor Augen hatten, das Gefühl der Geborgenheit und der unmittelbaren Vertrautheit, in der wir uns als zu meist Unbekannte vom ersten Augenblick an einig wußten, – er müßte vieles Andere mehr an diesen Imponderabilien im Wort zu fassen suchen. In diesem Rahmen wäre dann der Gesamtverlauf der Diskussion einzubetten, was ohne wörtliche Wiedergabe, ja sogar ohne Angabe der Namen möglich wäre. Ein solcher Bericht unterscheidet sich von einem Protokoll wie das Gemälde von der Photographie. Und mir bedeuteten diese Tage soviel, daß ich sie eines Gemäldes für würdig erachten möchte, während ich die Seelenlosigkeit der photomechanischen Wiedergabe fürchte.

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Daß ich in meinem Falle besondre Gründe habe, mir jetzt und noch auf unabsehbare Zeit eine gewisse Reserve bei Publikationen aufzuerlegen, 36 ist bei meinen Bedenken nicht der entscheidende Grund. Aber ich möchte Ihnen doch auch nicht verschweigen, daß ich z. Zt. nicht gerne mit meinem Namen in einer Veröffentlichung hervortreten möchte, 37 am wenigsten in einer Veröffentlichung zu dem hier behandelten Problem, soviel ich darüber gewiß noch zu sagen hätte.38 Ich bin gewiß bereit, mich jedem Gegner zu stellen, wenn es an der Zeit ist. Aber ich habe keinen Anlaß, die Meute in einem Augenblick auf mich zu ziehen, in dem ich nicht nur wehrlos, sondern schlechthin aktionsunfähig bin. Dies ist eine persönliche Anmerkung, die nur für Sie bestimmt ist (natürlich auch für Kirsch 39, falls Sie mit ihm über diese Sache sprechen). Aber ich glaube, daß Sie meine delikate Lage begreifen, nachdem Sie mein autobiographisches Exposé gelesen haben. 40

36 Hubers politisches Engagement vor 1945 war bekannt und einige Mitglieder des Freideutschen Kreises sahen in ihm immer noch den ehemals NS-treuen Juristen, vgl. etwa einen Brief Friedrich Vorwerks (Evangelisches Verlagswerk) an Hans-Joachim Schoeps, 25.10.1948, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 109, in dem davon die Rede ist, dass es Sorgen bereite, „E.H. zum Sekretär des Po. Arbeitskreises“ zu machen. 37 Anspielung auf das Entnazifizierungsverfahren Hubers, vgl. Ulf Morgenstern, „Philosophie und Vaterland“. Ernst Rudolf Huber und Hellmut Becker, in: Ewald Grothe (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber. Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015, 71–99, hier 86; und ausführlich Ewald Grothe, Eine „lautlose“ Angelegenheit? Die Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 980–1001. 38 Sämtliche der 369 Titel der in der „Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973“ enthaltenen Bibliographie erschienen bis 1944 bzw. nach 1949. Die erste namentlich gezeichnete Veröffentlichung Hubers in der Nachkriegszeit war 1951 eine Besprechung von Erich Eycks „Das persönliche Regiment Wilhelms II. in Schoeps’ Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte. Vgl. unten Anm. 115. 39 Wilhelm Michael Kirsch (1899–1976), ehemaliger Wandervogel, ab 1945 Professor in Erlangen mit Schwerpunkt Genossenschaftswesen, ab 1950 in Marburg, vgl. Eberhard Dülfer, In memoriam Wilhelm Michael Kirsch 1899–1976, in: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen 26 (1976), 111–113. Kirsch und Huber, ebenfalls ein Wandervogel, waren seit ihrer Jugend freundschaftlich verbunden. Vgl. Ulf Morgenstern, Kiel – Leipzig – Straßburg – Göttingen. Oder doch wieder nach Kiel? Über ein juristisches „Old-Boys-Network“ und die vermeintlich zufälligen Berufungswege befreundeter Wissenschaftler, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 16 (2013), 313–339, hier 336. 40 Gemeint ist das als maschinenschriftlicher Durchschlag erhaltene Manuskript „Persönliche Entwicklungen“ aus dem Jahr 1946 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlass 1505/716), abgedruckt nach dem Exemplar im Nachlass Rudolf Smends (Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriftenabteilung, Cod. Ms. R. Smend A 389/Beil.) bei Ewald Grothe (Hrsg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber. Briefwechsel 1926–1981, Berlin 2014, 520–556, unter dem Titel „Exposé, 1946/47“. Vgl. dazu Ewald Grothe, Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 216–235, und ders., „Strengste Zurückhaltung und unbedingter Takt“. Der Verfassungshistoriker Ernst Ru-

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Es wäre im Anschluß an Altenberg noch Vieles zu sagen, ich lebe in ständiger Auseinandersetzung mit dem, was dort aufgebrochen ist, und meine Bedenken, die dieser Brief Ihnen vorträgt, rühren allein daher, daß ich die Dinge ernst und in ihrem vollen Wert, ihrer ganzen Tragweite nehme. Sie werden mich deshalb nicht dahin mißverstehen, daß ich mich entziehen oder daß ich den in Bewegung gesetzten Vorgang hemmen wollte. Es geht mir darum, ihn rein und ungestört zu halten, daher allein dieses warnende Wort. Lassen Sie mich bitte wissen, wie Sie es aufnehmen, und schreiben Sie mit der gleichen Offenheit, mit der ich mich einem Plan widersetze, der Ihnen wichtig sein muß. Ich bin überzeugt, daß es uns trotz dieser Differenz um das gleiche Anliegen geht. Könnten Sie sich nicht dazu entschließen, einen Bericht in der von mir vorgeschlagenen Form zu schreiben? Ich warte noch auf die „Vorträge“, die ich bald zu erhalten hoffe, wenn Norman Koerber 41 sie zurückgegeben hat. Und erinnern Sie Kirsch vielleicht daran, daß er mir Ihr Streitgespräch mit Blüher 42 schicken sollte. Seien Sie sehr gegrüßt von Ihrem Ernst Rudolf Huber PS. Ich bitte auch zu bedenken, daß für künftige Tagungen die absolute Unbefangenheit des Rundgesprächs empfindlich gestört würde, wenn die Teilnehmer damit rechnen müßten, ihre Diskussionsbeiträge nicht nur protokolliert, sondern auch veröffentlicht zu sehen. Jeder würde sich dann bewußt sein, nicht nur für den Kreis der anwesenden Freunde, sondern für ein anonymes Publikum zu sprechen. Es kann sonst zu Reden zum Fenster hinaus kommen, statt zu einer Selbstprüfung und zu einem Bekenntnis pro foro interno. 43 Wir müssen uns die Möglichkeit des unbedachten Wortes wahren. Und wir müssen die Freiheit des Gesprächs für diejenigen herstellen, denen das öffentliche Wort sonst verwehrt ist, etwa denen, die unter den Bedingungen der Ostzone oder unter anderen Bedrohungen leben. H

dolf Huber und die NS-Vergangenheit, in: Eva Schumann (Hrsg.), Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, 327–348. 41 Norman Körber (1891–1973), Jurist. Vgl. Lukas Möller, Hermann Schafft – pädagogisches Handeln und religiöse Haltung. Eine biografische Annäherung, Bad Heilbrunn 2013, 86, Anm. 552; Rüdiger Ahrens, Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015, 403f. 42 Hans Blüher (1888–1955), Philosoph und Privatgelehrter. Huber bezieht sich auf einen Briefwechsel zwischen Schoeps und Blüher, der mit dem Ziel der Veröffentlichung geführt wurde: Hans Blüher/Hans-Joachim Schoeps, Streit um Israel. Ein jüdisch-christliches Gespräch, Hamburg 1933. Siehe auch: Keilson-Lauritz, Hans-Joachim Schoeps (wie Anm. 28). 43 Lat.: im vertraulichen Kreise.

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NR. 2 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, Erlangen, 2. Juli 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 198 Lieber Ernst Rudolf Huber! Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief vom 26. Juni, der uns, d. h. Kirsch, Voigt44 und mir natürlich viel zu denken gibt. Gleichwohl komme ich zu dem Resultat, daß die Gründe, die für die Herausgabe des Tagungsberichtes sprechen, überwiegen. Sie können nicht wissen, wie stark die Kunde von der Tagung sich durch Deutschland verbreitet hat, welche Schwierigkeiten durch eine vom Geist verlassene Aktion Wyneken 45 bereits entstanden sind und dass wir alles Interesse daran haben müssen den wesentl. Eindruck von Altenberg im Druck bekannt zu geben. Ich habe mich für einen Weg entschieden, der zwischen Photographie und Gemälde verläuft. Ich glaube, der Tagungsbericht 46 ist mir gut gelungen. In etwa 10 bis 14 Tagen wird er komplett vorliegen. Ich werde es nun einfach so machen, daß ich Ihnen eine Kopie der Druckvorlage zuschicke, die Sie prüfen sollen, ob sie Ihre Befürchtungen verstärkt oder Ihre Bedenken zerstreut. Ich gebe Ihnen anheim, Ihren Namen durch ein Pseudonym zu ersetzen, was gern möglich ist, da die in Altenberg gewesenen wissen, wer gemeint ist und es die anderen ja nichts angeht. Wenn es nicht so dumme Geheimnistuerei wäre, hätte ich auch nichts dagegen, alle Namen durch Pseudonyme wiederzugeben. Auf Namen ganz verzichten möchte ich nicht, weil ja das lebendige Bild von Rede und Gegenrede, wenn auch stark retouchiert durch meine Redaktion, spürbar bleiben soll. Die Leute, denen ich den Bericht bisher vorgelesen habe, bestätigen mir, dass ich die Altenberger Atmosphäre eingefangen habe. Aber Sie müssen selber lesen und urteilen, wie weit das zutrifft. Die Vordruckhefte sollen Sie im Laufe dieses Monats noch bekommen, nachdem auch Kirsch sie gelesen hat. Das Blüherbuch möge er Ihnen direkt zuschicken. Mit herzlichen Grüssen!

44 Wahrscheinlich Fritz Voigt (1910–1993), Ökonom (seit 1947 in Erlangen), Teilnehmer des Altenberger Konvents 1947. Vgl. Mogge, Altenberger Konvent (wie Anm. 35). 45 Gustav Wyneken (1875–1964), Reformpädagoge. Der am 14. Oktober 1946 auf Burg Ludwigstein verfasste Aufruf wurde nach der Gründungserlaubnis der Freideutschen Arbeitsgemeinschaft im März 1947 im Mai d. J. durch den Sprecher der Freideutschen Arbeitsgemeinschaft Göttingen verschickt – wahrscheinlich auf Betreiben Wynekens, vgl. Barbara Stambolis/Jürgen Reulecke (Hrsg.), 100 Jahre Hoher Meißner (1913–2013). Quellen zur Geschichte der Jugendbewegung, Göttingen 2013, 248, Anm. 19. Zur Kontroverse um Wyneken vgl. außerdem Möller, Hermann Schafft (wie Anm. 41), 285–292; Seidel, Aufbruch und Erinnerung (wie Anm. 26), 33f. 46 Freideutscher Rundbrief 1, September 1947, 1–15.

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NR. 3 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 10. Juli 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 98 Lieber Herr Schoeps, Dank für das Manuskript über Altenberg und die beigefügten Anlagen. Ich habe einen guten ersten Eindruck, möchte aber für die genauere Durchsicht wenige Tage Zeit. Gegenüber Ihrem trefflichen Referat wirkt die Wiedergabe der Aussprache, wie mir scheint, etwas matt, was wohl nicht gut vermeidbar ist. Ließen sich aus dem Vielen, was Philip[p]s47 – Frankfurt gesagt hat, nicht einige von Ihnen gut stilisierte Sätze einfügen? Sein Anliegen war wichtig und es wäre schade, wenn das, was er angeschlagen hat, ganz aus dem Konzert der Stimmen verschwände? Da Sie Hermann Maus 48 Referat kennen, übersende ich Ihnen die Abschrift eines Briefs, den ich ihm vor einem halben Jahr dazu schrieb. 49 Es steht darin einiges zu der Problematik des Altenberger Gesprächs. Was mich der Aussprache etwas unfroh macht, ist die Verquickung mit dem unseligen Schuld-Problem. Was ich in Altenberg und auch in diesem Brief angerührt habe, ist nicht die Frage der moralischen Schuld, sondern die der historisch-politischen Verantwortung – ich würde sagen: der historischen Kausalität, wenn dieses Wort nicht naturwissenschaftlich vorbelastet wäre. Wenn es uns um die echte Analyse der Situation geht, so kommt es nicht darauf an, subjektive Schuldkomplexe, sondern objektive Zusammenhänge festzustellen. Das ist nur möglich, wenn man auf Confessio wie auf Apologia in diesem Zusammenhang verzichtet.

47 Möglicherweise der Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Howard Philipps mit Ehefrau Hedwig. Vgl. Mogge, Altenberger Konvent (wie Anm. 35), 414. 48 Hermann Mau (1913–1952), Historiker, Assistent Hermann Heimpels in Leipzig und Straßburg, stand von 1937 bis 1944 auch mit Huber in engem Kontakt. Mau lehrte 1944/45 als Privatdozent in Jena, danach bis zu einer Verhaftung durch den NKWD in Leipzig. Ab 1948 in München, war er Generalsekretär des Deutschen Instituts für die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit (später Institut für Zeitgeschichte) und Privatdozent an der LudwigMaximilians-Universität. 49 Ein Durchschlag des Briefes an Hermann Mau vom 22. Januar 1947 ist erhalten in Bundesarchiv Koblenz, N 1505, 461. Auf vier eng beschriebenen Seiten setzte sich Huber mit Maus „‚Traktat‘ über die Jugendbewegung“ auseinander. Huber schickte seine Kritik auch an seinen Schüler Hellmut Becker (vgl. einen Brief Beckers an Huber vom 27. Februar 1947), der den Text von Mau bereits kannte und diesem ebenfalls ausführlich geschrieben und konstatiert hatte, Mau sei gegenüber einer früheren Fassung „ein grosses Stück weitergekommen“ (Becker an Mau am 3. Januar 1947, beide Schreiben BA Koblenz, N 1505, 246). Hermann Maus einschlägiger Text (Die deutsche Jugendbewegung. Rückblick und Ausblick, in: ZRGG 1 (1948), 135–149) nahm also Anregungen von beiden auf.

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Ich lege Ihnen einen 3 1/2 Jahre alten Vortrag 50, mein letztes gedrucktes opus, bei, ohne sicher zu sein, daß heute noch spürbar ist, was damit vor so langer Zeit gesagt sein sollte. Bald mehr! Für heute nur diesen Gruß Ihr Ernst Rudolf Huber NR. 4 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 13. Juli 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 198 Lieber Herr Schoeps, den „Altenberger Bericht“ sende ich Ihnen in der Anlage zurück. Ich möchte, daß Sie ihn sehen, bevor er an Beer 51 geht. Dabei möchte ich betonen, daß ich eine Durchsicht durch Beer für sehr wichtig halte, angesichts des publizistischen Taktund Mitgefühls, das er besitzt. Aber zunächst zu meinen Vorschlägen, die in Ihrem Manuskript auf S. 11 a und b, 12 a, 13 a und b, sowie 14a und b eingefügt sind. Ich habe an Hand meiner eigenen Altenberger Aufzeichnungen (Stichwortnotizen während der Diskussionen) nicht nur die beiden Stellen, an denen ich zu Wort komme, neuformuliert, sondern auch gewagt, die Beiträge von Philip[p]s, Claudia Bader 52, Ehmer 53 und Kreppel 54 etwas ausführlicher und, wie ich hoffe, lebendiger zu gestalten. Es scheint mir notwendig zu sein, eine Reihe von charakteristischen und prägnanten Äußerungen des Gesprächs wiederzugeben. Sie waren in der Diskussion sehr häufig, und ich bedaure, mir nicht noch mehr notiert zu haben, vor allem leider nichts vom zweiten Tag. Die Vorschläge, die ich mache, sind natürlich „stilisiert“, wie auch Ihr Bericht es ist, aber ich hoffe hie und dort das Wesentliche getroffen zu haben. Ich finde z. B., daß Claudia Baders Frage an Sie über den Dt. Idealismus mit ein paar Worten vorbereitet werden muß, und daß es überhaupt nötig ist, auf das einleitende Bader-Philip[p]s-Gespräch, das dann abgebogen wurde, mit einem Wort hinzuweisen. Es hat eben doch sehr Wesentliches angerührt und war keineswegs so abseitig wie es einigen Teilnehmern erschien. Wir müssen nur noch besser hören lernen! Für die Ernsthaftigkeit, mit der

50 Im Nachlass Schoeps nicht erhalten; in Frage kommt am wahrscheinlichsten Ernst Rudolf Huber, Goethe und der Staat, Straßburg – April 1944. Mit dem Zusatz: „Ein Vortrag, gehalten an der Reichsuniversität Straßburg am 23. Januar 1944. Als Manuskript gedruckt. Nicht im Buchhandel erhältlich.“ 51 Rüdiger Robert Beer (1903–1985), Journalist und Schriftsteller. 52 Claudia Bader (1900–1974), Theologin und Pfarrerin. 53 Wilhelm Ehmer (1896–1976), Journalist und Verleger. 54 Friedrich Kreppel (1903–1992), Pädagoge.

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die Frage der persona in unserm Kreise besprochen wurde, schienen mir aus Ehmers und Kreppels Äußerungen einige charakteristische Sätze nachzutragen. Den Bericht über das von mir Gesagte habe ich gleichfalls etwas ausführlicher gestaltet, um es verständlicher zu machen und um Mißverständnisse abzuwehren. Ihren Vorschlag, meinen Namen beiseite zu lassen, nehme ich gerne an. Ein Pseudonym einzusetzen schiene mir zu absichtsvoll. Finden Sie die von mir gewählte Form nicht auch am unverfänglichsten? Daß ich mich einem ehrlichen Kampf mit offenem Visier stellen würde, wissen Sie. Aber ich scheue es, durch meinen Namen das Gekläff gegen die Altenberger Sache herauszufordern, wie ich es auch vermeiden möchte, mich meinen Gegnern vorzeitig zu zeigen. 55 Auf den beiden ersten Seiten habe ich an drei Stellen kleine Stil-Änderungen vorgeschlagen: plumpsten, KZ-ler und Reue sind drei Worte, von denen ich finde, daß sie dem Altenberger Geist nicht gemäß sind. Aus dem gleichen Grunde schlage ich vor, im ganzen Text sowohl die Abkürzung NS., die in den Zwölf Jahren üblich war, wie das Jargon-Wort „Nazi“ oder „Nazismus“ zu vermeiden. Wir sollten in diesen Äußerlichkeiten keine Zugeständnisse mehr machen. Denn dies eine haben wir in den Zwölf Jahren gelernt, daß Zugeständnisse im Stil, in der Gebärde, in der Methode und in der Form der Anfang des Verrats am Wesen sind. Durch die Jargon-Formeln wird nichts widerlegt – und was wir überwinden wollen, ist eine Sache von welthistorischem Rang und Gewicht – sonst lohnte es sich nicht, in eine geistige Auseinandersetzung mit ihr zu treten. Einem solchen Gegner sollte man seinen vollen Namen lassen – auch um deutlich zu machen, daß wir uns nicht nur gegen die sinnentleerte Propagandaform des „NS.“ oder gegen die Entartungserscheinung des bonzokratischen oder gangsterhaften „Nazismus“, sondern gegen den Nationalsozialismus selbst wenden, 56 wenn wir in dieses Gespräch um geistige Dinge eintreten. Wer abkürzt, arbeitet mit Schablonen und verfehlt die Sache selbst. Sie fragten, ob Sie aus einem meiner Briefe an Kirsch eine Stelle über Altenberg entnehmen können. Herzlich gern, wenn es Ihnen brauchbar erscheint. Doch wäre es mir wichtig, den Zusammenhang zu kennen. Herzliche Grüße Ihres Ernst Rudolf Huber

55 Vgl. Anm. 36 und 37. 56 Ganz ähnlich äußerte sich Huber in seinen während der letzten Kriegsmonate verfassten, im Zusammenhang und in Kenntnis seiner eigenen „Zugeständnisse im Stil, in der Gebärde, in der Methode und in der Form“ persönlich auffällig distanzierten „Straßburger Erinnerungen“ (BA Koblenz, N 1505, 773). Diese Ambivalenz in der Beurteilung des Nationalsozialismus durch einen ehemaligen Nationalsozialisten behandelt Morgenstern: Die riskante Rückkehr (wie Anm. 15).

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NR. 5 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 10. August 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 98 Lieber Herr Schoeps, ich habe sehr gehofft, an dem Treffen in Eichstädt 57 teil nehmen zu können. Leider halten mich eine ganze Reihe von Umständen hier fest, von denen der Mangel eines Passierscheins der geringste ist. Eine plötzlich an mich herangetragene Terminarbeit von einiger Bedeutung nötigt mich zum Verzicht auf diese Wiederbegegnung, so wichtig mir diese gewesen wäre, da sich nun zeigen muß, ob Altenberg ein bloßes Erinnerungstreffen oder eine renovatio war. Ich antworte Ihnen daher schließlich auf Ehmers Brief vom 24.7. 58 Wenn wir nicht an Kindts 59 Titel (aus Lizenzgründen) gebunden sind, würde ich Ihrem Vorschlag „Freideutscher Rundbrief“ beitreten. „Mitteilungsblatt“ ist ein wenig zu vereinsmäßig und paßt schlecht zu „Bewegung“. Ehmers Vorschlag „Der Freideutsche“ ist mir ein wenig zu anspruchsvoll. Der von Ehmer gewählte „Fackelreiter“ mißfällt mir; er ist schlechtes Kunstgewerbe und kaum durch eine echte Tradition legitimiert. 60 Ich nehme an, daß Ihnen ein wirklicher St. Georgsritter61 in Erinnerung war und daß Sie ihn haben auftreiben können. Es ist sehr wichtig, daß wir ein Zeichen von wirklicher Symbolkraft von Anfang an verwenden. Für den Druck würde ich schwarz auf gelb vorziehen – das ist eine wirkliche Tradition und wirkt sachlicher als das etwas romantische „Blaugelb sind unsere Farben!“ 62

57 Recte: Eichstätt. Details konnten nicht ermittelt werden. 58 Nicht ermittelt, evtl. an abgelegener Stelle im Nachlass Hubers überliefert. 59 Werner Kindt (1898–1981), Journalist und Pädagoge. Vgl. Ann-Katrin Thomm, Alte Jugendbewegung, neue Demokratie. Der Freideutsche Kreis Hamburg in der frühen Bundesrepublik, Schwalbach/Ts. 2010, 379; Ahrens, Bündische Jugend (wie Anm. 41), 402; Christian Niemeyer, Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, 38–52. 60 Das Mitteilungsblatt erschien in der Folge ab September 1947 unter dem Titel „Freideutscher Rundbrief“, später unter dem Titel „Freideutsche Blätter“. 61 St. Georg, als Schutzheiliger der Wanderer Patron der Pfadfinder und der Jugendbewegung. 62 Anspielung auf die Zeitschrift „Wandervogel. Zeitschrift für deutsches Jugendwandern“, die 1927 aufgrund ihrer auffälligen Gestaltung in „Die gelbe Zeitung“ umbenannt wurde. „Blaugelb“: Anspielung auf das Gedicht „Der Dragoner“ von Hermann Löns. Löns’ Gedichte fanden durch die Vertonung des Gedichtbandes „Der kleine Rosengarten“ durch Fritz Jöde im Jahre 1916 insbesondere in der Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit einige Verbreitung, vgl. Hermann Löns, Der kleine Rosengarten. Volkslieder, Jena 1918, 26f. Dazu: Thomas Dupke, Mythos Löns. Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns, Wiesbaden 1993, 89–91.

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Beer sandte mir Ihre Gerlach Arbeit 63, die ich mit großer Teilnahme in einem schnellen Zug gelesen habe. Bevor ich Ihnen dazu schreibe, möchte ich sie nocheinmal sorgfältig durchgehen. Sie ist mir ungemein wertvoll, da ich selbst gerade jetzt über die gleiche Zeit arbeite. Ich werde Ihnen dazu ausführlich schreiben, auch einiges Kritische, da dies sicher in Ihrem Sinne ist. Ich will davon jetzt nichts vorwegnehmen, so sehr es mich treibt, in diese Auseinandersetzung einzutreten. Zunächst also nur meinen sehr herzlichen Dank für die Übermittlung der Arbeit, die an einem historischen Beispiel in den Kern unserer gegenwärtigen Problematik stößt. Den Wyneken-Ahlborn-Aufruf 64, sowie die Göttinger „Freischarbriefe“ gebe ich Ihnen mit Dank zurück. Der erste ist ein mißglücktes Parteiprogramm, das andere ein erfreuliches Dokument neuen Anfangs. Grüßen Sie bitte in Eichstädt die Altenberger Freunde und haben Sie alle viele gute Wünsche für das Gelingen! Stets Ihr Ernst Rudolf Huber NR. 6 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, Erlangen, 18. September 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 198 Lieber Herr Huber! Vor etwa 4 Wochen kündigten Sie mir einen ausführlichen Brief zu der Arbeit über Gerlach 65 an, die Sie mir zurückschicken wollten. Da diese noch nicht angekommen ist, bin ich etwas besorgt deswegen und wäre für Nachricht dankbar im Falle, daß Sie die Arbeit schon abgeschickt haben sollten. Werden wir uns auf dem Ludwigstein 66 sehen? Herzliche Grüße!

63 Schoeps holte 1954 den Nachlass Ernst Ludwig von Gerlachs an die Universität Erlangen und zeigte sich später als Autor und vor allem durch die Edition „Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805–1820, Berlin 1966“ als profunder Kenner der „Gebrüder Gerlach“. Welche (Vor-)Arbeit zu welchem der Brüder hier gemeint ist, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Vgl. Anm. 65, sowie Stephan Nobbe, Das Gerlach-Archiv am Seminar für Religions- und Geistesgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg, in: Kurt Töpner (Hrsg.), Wider die Ächtung der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Joachim Schoeps, München/Esslingen 1969, 233–249. 64 Vgl. Anm. 45. 65 Vgl. Hans-Joachim Schoeps: Unveröffentlichte Briefe Otto von Bismarcks an Ludwig von Gerlach, in: ZRGG 2 (1949), 2–20.

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Ihr gez. H.J. Schoeps in Abwesenheit von Herrn Prof. Schoeps f.d.R. L.R. 67 NR. 7 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 21. September 1947 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 30 Lieber Herr Schoeps, entschuldigen Sie bitte meine Säumnis. Ich war in den letzten vier Wochen durch mancherlei Dinge sehr in Anspruch genommen, zumeist durch die Alltagsprobleme meiner gegenwärtigen Existenz, die sich dadurch weiter kompliziert haben, daß meine Frau seit einiger Zeit eine Anwaltspraxis in Freiburg vertretungsweise übernommen hat. Dafür ist die Hauswirtschaft zu einem Teil an mich übergegangen, und so sind meine Tage sehr ausgefüllt, ohne daß ich an den Schreibtisch komme. 68 Doch zur Sache! Ihr Manuskript über Ernst Ludwig von Gerlach 69 hat mich sehr gefesselt. Es bietet auch dem Kenner des preußischen Konservativismus neue und überraschende Aspekte. Der eigenwillig-starrsinnige Repräsentant der altpreußischen „Reaktion“ wird aus der polemischen Situation seiner Zeit herausgehoben und zum Träger eines überzeitlich gültigen Systems. Die verschütteten Wahrheiten, für die er kämpfte, werden lebendig. Es ist Ihnen gelungen, aus dem vielverstreuten, fast verlorenen Werk dieses selbstbewußten Aussenseiters ein System seines Denkens zu entfalten, mit dem Gerlach zum ersten Male, wenn ich es recht sehe,

66 Burg Ludwigstein bei Witzenhausen. Zentrum der Jugendbewegung. Vom 15.–17. Oktober 1947 fand hier das zweite Treffen des Freideutschen Kreises mit rund 230 Teilnehmern statt. Vgl. Seidel, Aufbruch und Erinnerung (wie Anm. 26), 36. 67 f.d.R. = für die Richtigkeit. L. R. = Lisa Röcke, Röcke war die Sekretärin von Hans-Joachim Schoeps. 68 Carl Schmitt gegenüber hatte Huber bereits im Juni 1947 erwähnt, dass seine Frau „seit dem 1. September vorigen Jahres eine berufliche Arbeit übernommen hat.“ Sie arbeite als Vertreterin einer Anwältin in Freiburg und komme nur an den Wochenenden in die Familienunterkunft nach Falkau im Schwarzwald. Er hätte deshalb „die Hausarbeit übernommen, eine Funktion, für die ich nicht sehr viel natürliches Talent einzusetzen“ habe. Vgl. einen Brief Hubers an Schmitt vom 11. Juni 1947, in: Grothe (Hrsg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber (wie Anm. 40), 323–327, Zitate 323f., sowie die Anm. 1458 ebd. 69 Später als Teil I gedruckt in: Hans-Joachi Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter König Friedrich Wilhelms IV., Stuttgart, 1952.

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in gleichem Rang neben Stahl70 und Radowitz 71 tritt. Sein großer Gegensatz gegen Bismarck wird anschaulich und begreiflich; er wird aus einer bloßen ParteiKontroverse zu einem Gegensatz säkularen Rangs. Die innere Problematik dieses Jahrhunderts, das ich trotz allem zu den großen rechne, tritt an diesem Beispiel sinnfällig hervor. Die Entdeckung des „konservativen Rechtsstaatsprinzips“ ist bedeutend und wird Ihrer Schrift, wenn sie erscheint, eine nachhaltige Wirkung sichern. Ich könnte viele Punkte der vollen Uebereinstimmung mit dem Manuskript feststellen. Ich will darauf verzichten und mich einigen kritischen Fragen zuwenden, da Ihnen gewiß an der Diskussion mehr liegt als an der bloßen Konstatierung des Einverständnisses. Ein erster Hinweis: Es fehlt mir an der Darstellung etwas vom biographischen und politischen Milieu – etwas von der Atmosphäre, in der die Persönlichkeit und die Gedankenwelt Gerlachs sich formte – etwas von dem menschlichen und historischen Klima, in dem ein Mann wie Gerlach und eine geistige Haltung wie die seine allein möglich waren. Für den genauen Kenner der Zeit klingt alles dies durch Ihre Darstellung hindurch; aber da es Ihnen sicher darum geht, auch dem Nicht-Kenner den Zugang zu dieser Welt aufzuschließen, sollte mehr darüber gesagt werden – über den großen Strom der Erweckungsbewegung, der Gerlach früh ergriff, über die entscheidende Begegnung mit Hallers 72 „Restauration der Staatswissenschaften“ 73, über die Art der Verbindung mit dem Kronprinzen und späteren König 74, über das enge Zusammenwirken mit den konservativen Gesinnungsfreunden (von denen z.B. Bethmann-Hollweg 75 kaum erwähnt ist) und über die Konflikte mit ihnen, auch über das enge Verhältnis zu Bismarck bis hin zur Olmützer Punktation. 76 Vielleicht fehlt ein Abschnitt über Gerlachs Persönlichkeit, seine äussere und innere Entwicklung, seine Beziehungen, Begegnungen und Konflikte – oder aber dieses Substantiell-Konkrete seiner Existenz müßte in das Gedanklich-Abstrakte seines Systems, so wie Sie es entwickelt haben, hineinkomponiert werden, sozusagen als ein Gegenthema, das mit seinen vielfältigen Variationen die Darstellung erst plastisch machen würde. Ein Zweites: Ich habe selbst die Neigung, in geisteswissenschaftlichen Studien dieser Art aus dem verstreuten Material ein System zu erarbeiten. Aber ich kenne deshalb auch die Gefahr, daß man das Zeitbedingte gegenüber dem Unbedingten vernachlässigt und sich so in die Abstraktion verliert. Gerlach hat selbst kein System geschrieben, und er konnte es nicht. Tut man ihm nicht ein wenig 70 71 72 73 74 75

Friedrich Julius Stahl (1802–1861), Rechtsphilosoph und Jurist. Joseph (Maria) von Radowitz (1797–1853), Politiker und Diplomat. Carl Ludwig von Haller (1768–1854), schweizerischer Staatsrechtler und Politiker. Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staat-Wissenschaft, 3 Bde., Winterthur 1816–1834. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1795–1861), reg. 1840–1858/61. Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1877), Begründer des Evangelischen Kirchentags und Kopf der Wochenblattpartei. 76 Abkommen vom 29. November 1850 zwischen Preußen, Österreich und Russland, in dem Preußen auf den Führungsanspruch zu Gunsten Österreichs und der Wiedererstarkung des Deutschen Bundes verzichtete.

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Gewalt an, wenn man aus den Aufsätzen und Äusserungen vieler Jahrzehnte nun ein in sich geschlossenes gedankliches System zubereitet? Ich stelle diese Frage so offen, weil ich mich ihr in entsprechenden Fällen selbst ausgesetzt habe. Man kann diese Gefahr nur überwinden, wenn man das Unbedingte jeweils mit der konkreten Situation verbindet, in der es gesagt ward. Sie haben das an manchen Stellen getan, an manchen anderen würde man wünschen, daß es gleichfalls geschehen wäre, da damit auch die Fragwürdigkeit mancher der Gerlach’schen Positionen deutlicher würde. In manchen seiner Aussagen scheint er Recht für unsere Zeit zu haben, während er in der eigenen Zeit im Unrecht war! Ich greife, um dies zu illustrieren, die Problematik des Gerlach’schen Verhältnisses zu Bismarck heraus. Was Sie darüber sagen, hat für mein Gefühl das Bedenkliche einer halben Wahrheit, und wenn wir auch bei unsern begrenzten Möglichkeiten des Erkennens kaum imstande sind, zur ganzen Wahrheit vorzudringen und oft froh sein müssen, einen Zipfel der Wahrheit zu ergreifen, so ist doch die halbe eine große Gefahr. Sie ist es umso mehr, wenn sie sich mit den ad hoc zurechtgemachten Ideologien einer ‚neuen Geschichtsauffassung‘ berührt. Sie haben an diesen Ideologien keinen Teil; diese Schrift über den preußischen Konservativismus ist ein so schönes und ermutigendes Zeugnis für die Unabhängigkeit des Geistes von den Propagandaformeln der Gegenwart! Eben deshalb darf ich Ihnen sagen, daß ich das Gefühl habe, Sie seien Bismarck gegenüber von einer gewissen Voreingenommenheit nicht frei. Daß es nicht mehr möglich ist, Bismarck mit dem naiven Patriotismus des engen nationalstaatlichen Denkens zu sehen, bedarf der Hervorhebung nicht. Sollte uns aber dadurch nicht gerade der Blick frei werden für den eigentlichen und wahren Bismarck, der nicht nur ein guter Preuße und Deutscher, sondern auch ein echter Europäer war, in vielem weit eher ein Nachfahre Metternichs 77 und in jeder Hinsicht alles andere als ein Vorläufer Hitlers. 78 (Ich empfehle dazu die ausgezeichnete Besprechung der Eyck’schen 79 Biographie 80 von Rothfels 81 in der von Gurian 82 herausgegebenen amerikanischen Zeitschrift, die Ihnen sicher zugänglich ist; ich habe den Titel leider vergessen). Ein kritisches Verhältnis zu Bismarck ist uns nötig, aber von

77 Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859), österreichischer Politiker und Diplomat. 78 Adolf Hitler (1889–1945), „Führer“ und Reichskanzler. 79 Erich Eyck (1878–1964), Historiker, jüdischer Emigrant. 80 Erich Eyck, Bismarck. Leben und Werk, 3 Bde., Erlenbach-Zürich 1941–1944. Vgl. Ewald Grothe, Die liberale Zerstörung einer Legende. Erich Eycks Bismarck-Biographie und ihre Rezeption, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 27 (2015), 103–118. Die Bedeutung der von Eyck angestoßenen Diskussion ist in ihrer Wirkung für die (west-)deutsche Nachkriegshistoriographie nicht zu unterschätzen. Winfried Schulze charakterisierte sie als „Nagelprobe der Revisionsbereitschaft der politischen Historiker“. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, 224. 81 Hans Rothfels (1891–1976), Historiker, jüdischer Emigrant. Hans Rothfels: Problems of a Bismarck Biography, in: The Review of Politics 9 (1947), 362–380. 82 Waldemar Gurian (1902–1954), Politikwissenschaftler, jüdischer Emigrant.

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einem polemischen sollte man sich frei halten, gerade in unserer Zeit der polemischen Umwertung der historischen Werte. Ich halte es für einen fundamentalen Fehler geschichtlicher Deutung, wenn wir bei dem Versuch zur Analyse unserer gegenwärtigen Situation und ihrer Voraussetzungen eine Linie von Friedrich dem Großen 83 über Bismarck zu Hitler ziehen 84, wie dies auch von Ihnen an einer Stelle andeutend geschieht. Um darauf polemisch zu erwidern: Die Linie geht von Rousseau 85 über Robespierre 86 zu Hitler, wobei ich einige Zwischenglieder überspringe. Friedrich und Bismarck gehören zu einer andern Welt. Sie gehören zur Welt der Autorität, nicht der Majorität (um Stahls berühmte Formel aufzugreifen), zur Welt der Hierarchie, nicht der Masse, zur Welt der objektiven Ordnung, nicht der emotionalen Gemeinschaft, zur Welt der Metaphysik und Religion, nicht der Weltanschauung und Ideologie, zur Welt der Bindung an ein Unbedingtes, nicht zur Welt der subjektiven Ueberzeugungen, sei diese auch noch so sehr weltanschaulich „untermauert“ oder maskiert. Bei Friedrich und Bismarck ist Recht noch Recht und Unrecht noch Unrecht. Daß beide Unrecht getan, Gewalt geübt, nach Macht und Ruhm gegriffen haben, unterscheidet sie von keinem der Großen dieser Welt. Daß dämonische Mächte in ihnen lebendig und wirksam waren, ist kein Einwand – denn wo gäbe es in dieser Welt Größe ohne Dämonie. 87 Das Verhängnisvolle für ihn und uns war nicht die Dämonie Hitlers, sondern war die Tatsache, daß das Dämonische hier seinen Sitz im Subalternen aufgeschlagen hatte, sodaß sich dieses grauenvolle Mißverhältnis zwischen Vitalität, Elan, Energie und Dynamik auf der einen Seite und Substanz auf der anderen Seite ergab. Die Dämonie Friedrichs und Bismarcks aber war in großen Naturen ge-

83 Friedrich II. von Preußen (1712–1786), reg. 1740–1786. 84 Direkt nach dem Krieg war das Aufspüren von Kontinuitätslinien „von Bismarck bis Hitler“ ein gängiges Deutungsmuster zur Erklärung der nationalsozialistischen Katastrophe, vgl. etwa: Fritz Harzendorf, So kam es. Der deutsche Irrweg von Bismarck bis Hitler, Konstanz 1946; Wolfram von Hanstein, Von Luther zu Hitler. Ein wichtiger Abriß deutscher Geschichte, Meißen 1947; Eduard Hemmerle, Der Weg in die Katastrophe. Von Bismarcks Sturz bis zum Ende Hitlers, München/Kempten 1948. Siehe dazu auch: Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln 1971. 85 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), franz. Philosoph. 86 Maximilien de Robespierre (1758–1794), franz. Revolutionär. 87 Hubers Formulierung floss – wenn auch nur mit indirektem Bezug auf ihn – in einen Studentenbericht über ein von Schoeps in Erlangen abgehaltenes Seminar über die Rezeption Friedrichs II. ein: „Es ist ein fundamentaler Fehler geschichtlicher Deutung, eine Linie von Friedrich dem Großen über Bismarck bis zu Hitler ziehen zu wollen. Friedrich und Bismarck gehören in eine andere Welt, bei ihnen ist Recht noch Recht und Unrecht noch Unrecht. Wenn sie auch nach Macht und Ruhm gestrebt und dabei Gewalt geübt haben, so ist das kein Einwand. Denn wo gäbe es Größe in dieser Welt ohne ‚Dämonie‘? Wir schließen uns der Meinung Ernst Rudolf Hubers an, der in dem Politiker Friedrich nicht den Repräsentanten der reinen Machtidee sehen kann, so skrupellos dieser oft sein Interesse wahrzunehmen wußte.“ Thomas Ellwein/Waldemar Brückmann, Friedrich der Große im Spiegel der Nachwelt, in: ZRGG 1 (1948), 222–244, hier 243f.

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bunden, und so ergab sich hier bei allen Ausbrüchen und Ausschreitungen doch die Fähigkeit zum Gleichgewicht – die Möglichkeit, aus dem Unrecht in das Recht, aus der Rebellion in die Ordnung, aus dem Krieg in den Frieden zurückzukehren. Bei allem Gegensatz, in dem Gerlach zu Friedrich und Bismarck stand, gehört er doch, wenn man an die Erscheinung der modernen Maschinen- und Massenwelt denkt, mit ihnen zusammen auf die Gegenseite. Unter säkularem Aspekt sind auch Friedrich und Bismarck die Repräsentanten einer konservativen Rechtsidee. Das mag Ihnen befremdlich klingen. Ich glaube zu wissen, was alles an Unrecht, Rechtsbruch und Gewalttat man beiden vorzuhalten vermag; aber dies ist hier nicht das Problem, um das es geht. Wer sich wie Gerlach auf die politische Reflektion beschränkt und von der Aktion fernhält, vermeidet leicht, Unrecht zu tun; aber er trägt auch nichts dazu bei, daß das Recht in der Welt wirklich werde. Wer politisch handelt, wird notwendig in Situationen versetzt, in denen er nicht anders als Unrecht tun kann; nur ihm aber wird auch das Glück zu teil, das Recht nicht nur denkend zu erfassen, sonders es handelnd zu verwirklichen. Aus meinem Aufsatz über Friedrich 88 wissen Sie, daß ich mich nicht entschließen kann, in dem Politiker Friedrich den Repräsentanten der reinen Machtidee zu sehen, so skrupellos er in manchen Fällen im Stile seiner Zeit sein Interesse mit Macht wahrzunehmen wußte. Auch im Unrecht behielt er ein inneres Verhältnis zum Recht, und so war es ihm möglich, seinen Staat nicht nur im Innern nach Maßstäben des Rechts neu zu ordnen, sondern ihn auch trotz aller Kriege zum Glied einer innereuropäischen Rechtsordnung zu machen. Das alles gilt in noch höherem Maße von Bismarck. Das wodurch er groß ward, sind nicht seine Kriege, sondern seine Friedensschlüsse; nicht seine Exzesse, sondern die Fähigkeit zum Maßhalten, die er seiner vulkanischen Natur abrang, bestimmen seine historische Leistung. Daß er altes Recht vernichtete, um neues Recht zu schaffen, nimmt seiner Rechtsidee nicht den konservativen Charakter. Konservativ ist nicht, wer das Tote mit Hilfe ideologischer Fiktionen für lebendig ausgibt. Gerlachs Eintreten für das alte Reichssystem, für die österreichische Hegemonie, für dynastische Legitimität und Ständetum beruht auf solchen ideologischen Fiktionen, die sich mit dem Tod nicht abfinden wollen. Konservatives Rechtsdenken müßte demgegenüber verlangen, daß das Recht als etwas Lebendiges begriffen wird, das dem Gesetz des Lebens und damit auch dem Tod unterworfen ist. Deshalb kann auch der Konservative sich vom alten Recht, wenn es sich überlebt hat, lösen; wer dies nicht vermag, ist nicht konservativ, sondern reaktionär. Mir scheint deshalb trotz allem der wahre Konservativismus nicht durch Gerlach, sondern weit eher durch Stein 89 und Bis-

88 Ernst Rudolf Huber: Der preußische Staatspatriotismus im Zeitalter Friedrichs des Großen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 103 (1942/43), 430–468. 89 Lorenz von Stein (1815–1890), Staatsrechtler. Zu Hubers Auseinandersetzung mit Stein vgl. Dirk Blasius, Positionen und Begriffe. Zur Bedeutung Lorenz von Steins für Ernst Rudolf Huber und Carl Schmitt, in: Ewald Grothe (Hrsg.), Ernst Rudolf Huber. Staat – Verfassung – Geschichte, Baden-Baden 2015, 261–278.

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marck repräsentiert zu sein (wobei ich sehr bewußt und im Gegensatz zu Ihnen Stein an die Seite Bismarcks stelle, denn auch in ihm war die Bereitschaft zum Unrecht nicht geringer als das Bewußtsein des Rechts!). Um es genau zu sagen: Man kann als Konservativer in bestimmten Lagen zu revolutionären Maßnahmen gezwungen sein. Bismarck hat die deutsche und die europäische Ordnung durch einen großen Umsturz verändert; aber er hat dadurch die deutsche und die europäische Ordnung für ein halbes Jahrhundert gerettet, während sie nach dem Gerlach’schen Rezept sicher alsbald und vollends in Trümmer gegangen wäre. Täuschen wir uns doch darüber nicht: Gerlach war nicht nur ohne Sinn für die Bedeutung der sozialen Frage und damit für die kommende Funktion des Arbeitertums; ihm fehlte auch jeder Sinn für das bürgerlich-nationale Element im Staat und damit für die eigentlich dynamische Kraft im geistigen, sozialen und politischen Dasein des 19. Jahrhunderts. Welche innere Weite an Bismarck, daß er, der der Welt des junkerlichen Feudalismus doch weit mehr verhaftet war, als der Gerichtspräsident Gerlach, den Weg zu diesen Kräften des bürgerlichen Nationalismus fand; welche Tragik, daß dieses Bündnis dann in dem Schicksalsjahr 1878 zerbrach! Aber trat nicht auch hier der echtere Konservativismus, auch das echtere Rechtsbewußtsein in der Bereitschaft hervor, die überlebte Ständeordnung fallen zu lassen und den vitalen Kräften der bürgerlichen Gesellschaft den Weg in den Staat freizugeben? Gab es eine großzügigere und gerechtere Handlung als die Uebernahme des gleichen Wahlrechts in die Verfassung von 1867/71, und war es nicht echterer Konservativismus, so vorzugehen, statt sich für das Dreiklassenwahlrecht zu entscheiden, mit dem man über kurz oder lang die Revolution der Massen provozieren mußte? War es nicht trotz allem, was heute gegen den bürgerlichen Nationalismus des 19. Jahrhunderts gesagt werden kann, konservativer, der Nation ihr Recht auf staatliche Einheit zu erstreiten, statt für das Pseudo-Recht der partikularstaatlichen Souveränität einzutreten? Diese Fragen ließen sich bis ins Unendliche variieren. Ich will mit ihnen allen nur dies eine sagen: Ich glaube nicht, daß Gerlach gegenüber Bismarck den echteren Konservativismus vertrat. Ich verzichte darauf, auf Gerlachs Theologie einzugehen. Auch hier habe ich mancherlei Bedenken, die insbesondere die Stellung der lutherischen Orthodoxie gegenüber der Evangelischen Union 90 und der liberalen Theologie betreffen. Es wäre gewiß sonderbar, wenn ich mich mit dem politischen oder theologischen Liberalismus identifizieren wollte, aber nicht-liberal sein, heißt eben doch nicht einfach orthodox oder reaktionär sein. Die Chance des Konservativismus lag im 19. Jahrhundert in diesem Weg abseits von Reaktion und Revolution. Bismarck ist ihn gegangen, aber es gab, wenn ich es richtig sehe, niemanden, der ihn im Protestantismus mit gleicher Entschiedenheit gegangen wäre. Ich breche damit dieses lange Schreiben ab. Wenn ich auf Einzelheiten Ihrer Arbeit eingehen wollte, so ließe sich ein Ende kaum finden. Denn sie wirft eben die Fragen auf, die ungelöst geblieben sind und um die wir heute ringen, in einer 90 1817 durch Friedrich Wilhelm III. erfolgte Union der lutherischen und der reformierten Gemeinden in Preußen.

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fast aussichtslosen Position. Nehmen Sie diesen Brief bitte nicht als einen Widerspruch, sondern als einen Zuspruch, als ein Zeichen nämlich des dankbaren Interesses an Ihrem Gegenstand und Ihrer Darstellung. Ob ich zum Ludwigstein kommen kann, ist sehr ungewiß, doch werde ich alles tun, um es möglich zu machen. Der Zeitpunkt ist etwas unglücklich für mich, da im Oktober die letzten ländlichen Arbeiten fällig sind. Ich hätte von Ihnen gerne mehr über Eichstätt 91 gehört. Kreppel schrieb mir kurz darüber, auch über seinen Widerspruch gegen die Veröffentlichung des Altenberger Berichts. Seien Sie sehr gegrüßt und grüßen Sie Kirsch, wenn Sie ihn sehen, ebenso Voigt und Seidl 92. Ihr Ernst Rudolf Huber NR. 8 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 22. Juni 1948 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber Huber! Kurz die Anfrage, ob Du bereit wärst, für die ZRGG 93, die Dir hoffentlich gefällt, das Werk von Eyck über Bismarck zu besprechen. Ich nehme an, Du besitzt das Werk, anderenfalls steht es Dir leihweise aus unserer Seminar-Bücherei zur Verfügung. Es ist so wichtig und Deine Gesichtspunkte sicher so bedeutsam (wie ich aus Deinem Brief über Gerlach an mich ersehen habe), daß ich Dir gern 3–4 Druckseiten petit-Satz für die Anzeige einräume. Ob Du sie mit Namen zeichnen kannst oder nicht spielt keine Rolle. Wir sehen uns wohl auf Kreppels und Steltzers 94 Arbeitswoche. 95 Herzliche Grüße!

91 Details konnten nicht ermittelt werden, vgl. Anm. 57. 92 Wohl: Bruno Seidel (1909–1970), Politikwissenschaftler in Erlangen, später in Wilhelmshaven und Göttingen. Vgl. Gerhard Leibholz, Bruno Seidel † 21. August 1970, in: Politische Vierteljahresschrift 11 (1970), 510f. 93 Die ZRGG erschien ab 1948 und wurde von Hans-Joachim Schoeps und Ernst Benz herausgegeben. Vgl. Gideon Botsch, „Ein Käfer mit schillernden Flügeln“. Hans-Joachim Schoeps, Ernst Benz und die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, in: ders./Joachim H. Knoll/Anna-Dorothea Ludewig (Hrsg.), Wider den Zeitgeist. Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps (1909–1980), Hildesheim/Zürich/New York 2009, 273–312. 94 Theodor Steltzer (1885–1967), preußischer Verwaltungsbeamter und Offizier, Widerstandskämpfer während des Zweiten Weltkriegs, Ministerpräsident Schleswig-Holsteins 1946/47. 95 Sie fand vom 31. Juli bis zum 2. August 1948 auf Kloster Altenberg statt. Bei der Gelegenheit sollte in vertraut-engem Kreis die Gründung eines politischen Zirkels besprochen werden. Vgl. Friedrich Kreppel an Ernst Rudolf Huber vom 7. Juni 1948, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 199.

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NR. 9 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 24. Juni 1948 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ordner 198 Lieber Schoeps, herzl. Dank für Deinen Brief vom 22. d. M. Sehr gerne bin ich bereit, das Werk von Eyck über Bismarck zu besprechen. Da ich es leider nicht besitze, muß ich dich bitten es mir leihweise zu überlassen. – Ich habe die ZRGG. mit großer Freude gesehen, kann sie aber leider nicht selber halten. Dank für deinen Aufsatz über die Prä-Adamiten 96, der mich sehr gefesselt hat. Ich hoffe, daß die Zeitumstände mir das Reisen nicht künftig verbieten und daß wir uns in den nächsten Monaten in Altenberg oder Assenheim 97 begegnen. Auf der Ostertagung hast Du sehr gefehlt. Herzliche Grüße Dein E. R. Huber NR. 10 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 27. September 1948 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber E.R. Huber! Ich schicke Dir heute das Buch von Henri Brunschwig: Le Crise de l’etat prussien 98 mit der Bitte, es für meine Zeitschrift zu besprechen. Das Bismarck-Werk von Eyck konnten wir bisher noch nicht bekommen, wir stehen aber mit dem Verlag deswegen in Verhandlungen.

96 Hans-Joachim Schoeps, Der Praeadamit Isaak de la Peyrère, in: Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums vom 19. Dezember 1947, 5f. (Nr. 51). 97 Treffen des Freideutschen Kreises fanden 1948 nur in Altenberg und auf der Burg Ludwigstein statt. Vgl. Seidel, Aufbruch und Erinnerung (wie Anm. 26), 125. 98 Henri Brunschwig, La Crise de l’État prussien a la fin du XVIIIe siècle et la genèse de la mentalité romantique, Paris 1947.

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NR. 11 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 23. Oktober 1948 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber Hans-Joachim Schoeps, sehr herzlich danke ich Dir für das hübsche Bändchen mit den gewichtigen Aufsätzen 99 über Burckhardt 100, Nietzsche 101 und Kafka. 102 Ich habe sie alle drei in einem Zuge gelesen, stets gefesselt und angeregt, zuweilen auch zum Widerspruch, im Ganzen aber sehr berührt, nicht nur durch die Präzision des Gedankens und den Glanz der Sprache, sondern nicht weniger durch die Aufschlüsse und Durchblicke auf die Situation des Menschen in dieser Zeit. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich zu Kafka nie einen Zugang gehabt habe und ihn auch heute nicht finden kann. Sehr dankbar bin ich Dir ferner für die Zusendung des Buches von Henri Brunschwig: La Crise de l’état prussien, das ich mit großem Interesse lese und gerne in Deiner Zeitschrift besprechen will. 103 Ich bin ferner sehr gerne bereit, die mir weiter angetragenen Rezensionen zu übernehmen, und zwar 1. Eycks Buch über Wilhelm II. 104 2. Ritter, Europa und die deutsche Frage. 105 Da ich beide Bücher nicht besitze, wäre ich Dir für die Zusendung sehr dankbar. Ungemein wertvoll wäre es mir, wenn es Dir gelänge, das Bismarck-Buch von Eyck zu beschaffen und mir zur Rezension zuzuleiten. Auf dem Ludwigstein 106 konnte ich leider nicht sein, da ich durch mancherlei Fron- und andere Dienste hier festgehalten war. Ich habe mich nur schwer ent-

99 Hans-Joachim Schoeps, Gestalten an der Zeitenwende. Burckhardt, Nietzsche, Kafka, Berlin 1936. 100 Jacob Burckhardt (1818–1897), Schweizer Kulturhistoriker. 101 Friedrich Nietzsche (1844–1900), deutscher Philologe und Philosoph. 102 Franz Kafka (1883–1924), Schriftsteller. 103 In der Bibliographie in der Festschrift Huber von 1973 ist keine Besprechung nachgewiesen. 104 Erich Eyck, Das persönliche Regiment Wilhelms II. Politische Geschichte des deutschen Kaiserreichs von 1890 bis 1914, Erlenbach-Zürich 1948; Ernst Rudolf Huber, Das persönliche Regiment Wilhelms II., in: ZRGG 3 (1951), 134–148. Die ungekürzte Fassung fand später Eingang in: Ernst Rudolf Huber, Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, Stuttgart 1965, 224–248. 105 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948. Eine Rezension lässt sich nicht nachweisen. 106 Ort der zweiten Jahrestagung, Mitte Oktober 1948. Schoeps hielt einen Vortrag über die „Deutung der Zeit“, Ernst Rudolf Huber war für einen Vortrag zum Thema „Verfassung und politische Wirklichkeit“ vorgesehen. Vgl. Plan für die Freideutsche Herbstwoche auf dem

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schlossen, fern zu bleiben, da ich Dich und die andern Freunde gerne gesehen hätte. Kreppel und Vorwerk 107 haben mir etwas über den Ludwigstein berichtet, auch über die Diskussion unseres Projekts „Freideutscher Studienkreis“. Ich habe den Eindruck, daß der Vorschlag durch die Betriebsamkeit von Wiegand 108, Glatzel 109 u.a. etwas auf das falsche Geleise gerät. Es wäre gut, wenn Du Dich hier mit Deinem ganzen Gewicht einschalten würdest, um unserm Vorhaben den Stil zu erhalten, der uns entspricht. Es ist übrigens nicht in meinem Sinne, daß Kreppel meine Anwärterschaft für den Posten des Sekretärs mit solchem Nachdruck betreibt. 110 Ich habe schon bei der August-Besprechung in Altenberg 111 erklärt, daß ich mich für diesen Posten nicht qualifiziert fühle und daß es der Sache selbst nicht dienlich wäre, wenn ich in dieser Funktion exponiert würde. Der Plan sollte nach meiner Ansicht zunächst einmal ohne Rücksicht auf diese Personalfrage, die ich für sekundär halte, weiterentwickelt werden. Es wäre mir wertvoll, etwas über Deine Ludwigstein-Eindrücke zu hören. Sehr herzliche Grüße Deines Ernst Rudolf Huber

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Ludwigstein, Stand: 23. August 1948, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 199. Friedrich Vorwerk (1893–1969), Publizist und Verleger. Gerhard Wiegand, Bankkaufmann. Frank Glatzel (1892–1958), Jurist. Wiegand und Glatzel sind auf dem vom 11. bis 17. Oktober tagenden Konvent zu Leitern der neu gegründeten „Politischen Arbeitsgruppe“ ernannt worden. Vgl. Seidel, Aufbruch und Erinnerung (wie Anm. 26), 42. Friedrich Kreppel schwebte die Gründung eines politischen Arbeitskreises vor, dessen – offenbar besoldeter – geschäftsführender Sekretär Huber werden sollte. Dessen Vergangenheit ließ ihn für eine Reihe prominenter Mitglieder jedoch als eine ungeliebte Wahl erscheinen. Vgl. etwa die Schreiben: Friedrich Kreppel an Hans-Joachim Schoeps vom 30. September 1948, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 109 bzw. Friedrich Vorwerk an Hans-Joachim Schoeps vom 25. Oktober 1948, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 109, sowie Wilhelm Ehmer an Hans-Joachim Schoeps und Friedrich Kreppel vom 23. Januar 1949, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 199. Ehmer befürchtete, Huber wolle in prominenter Position auftreten und brachte, zumal Beer Huber kategorisch ausschloss, stattdessen Klaus von Bismarck (1912–1997) für die Position ins Gespräch, der aus der Bündischen Jugend kam und den 1946 gegründeten Jugendhof Vlotho leitete. Kreppels Bitte an Schoeps, im Mitgliederkreis für Huber zu werben (Friedrich Kreppel an Hans-Joachim Schoeps vom 25. Januar 1949, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 109) zerschlug sich aufgrund des Widerstandes anderer Mitglieder (Friedrich Kreppel an Hans-Joachim Schoeps vom 22. Februar 1949, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 199). Ort der ersten Jahrestagung an Pfingsten 1948.

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NR. 12 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, Erlangen, 25. Oktober 1948 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Sehr geehrter Herr Huber! Im Auftrage von Herrn Prof. Schoeps teile ich Ihnen mit, daß wir den Eyck: Wilhelm II. in den nächsten Tagen an Sie absenden. Wir bitten aber um Rücksendung, nachdem Sie die Rezension geschrieben haben, da wir das Buch dringend für unsere Seminarbücherei brauchen. Das Buch von Ritter, das wir Ihnen gleichfalls schicken und das von Brunswig benötigen wir nicht mehr. Ferner soll ich Ihnen mitteilen, daß die Freideutsche Landsgemeinde Bayern vom 30.10. bis 1.11. ein Treffen in Schloß Ising am Chiemsee abhält. Prof. Schoeps bittet Sie sehr zu kommen. Verb. ab München: 12.25. ab Traunstein mit Omnibus Richtung Schneitsee 17.15. Mitzubringen sind Lebensmittelmarken. Hoffentlich können Sie es noch ermöglichen. Wir bekamen die Einladung aus techn. Gründen sehr spät. Mit den besten Empfehlungen! NR. 13 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Falkau, 4. Mai 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber Schoeps! Eben erhalte ich Ihre Karte vom 2. Mai. Ich bin gerade dabei, die Besprechung des Buches von Eyck über Wilhelm II. abzuschließen. Ich brauche dafür nur noch wenige Tage. Würden Sie wohl erlauben, daß ich das Buch noch bis zum kommenden Montag (8. Mai) hier behalte? Es geht dann bestimmt an Sie ab. Ich stecke jetzt mitten in dem überaus interessanten Stoff, und Sie werden es verstehen, daß ich es nicht über mich bringen kann, die angefangene Arbeit jetzt eben vor der Beendigung abzubrechen. Ich muß sehr um Entschuldigung bitten, daß ich so lange gezögert habe. Aber ich fand während des Winters nicht die nötige Zeit, stellte die Arbeit dann für die Osterwochen zurück, mußte aber unvorhergesehen Mitte März für vier Wochen verreisen, sodaß mir alles liegen blieb. Jetzt beschäftige ich mich nur mit diesem Thema, und ich hoffe, etwas Brauchbares für Sie zustande zu bringen. Ich fürchte allerdings, daß man der Bedeutung des Gegenstandes und des Autors mit einer kurzen Besprechung etwas breiter, vielleicht sogar in Form eines Rezensionsaufsatzes anlege? Mir läge viel daran, den Begriff des „persönlichen

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Regiments“ etwas ausführlicher zu entwickeln und zu zeigen, daß es sich bei Wilhelm II. 112 nur um die Fassade eines „persönlichen“ Regiments handelte, während tatsächlich in allen entscheidenden Phasen der wilhelminischen Aera konstitutionell regiert worden ist. Zu einer „Ehrenrettung“ des Kaisers und des monarchischen Prinzips in dieser seiner letzten Phase führt dieses Ergebnis (leider) nicht. Im Gegenteil: diese „Fassaden-Politik“ war das Schlimmste, was uns (und der Monarchie) widerfahren konnte. Ich glaubte, Ihnen schon geantwortet zu haben, daß ich brennend gern die Bismarck-Biographie von Eyck besprechen werde. Es scheiterte bisher daran, daß Sie mir das Werk nicht zur Verfügung stellen konnten. Wenn Sie jetzt dazu in der Lage sind, so bin ich für die Zusendung sehr dankbar. Ich würde Sie dann auf die Rezension nicht so lange wie bei Wilhelm II. warten lassen. Im März und April traf ich wiederholt mit Friedel Kreppel zusammen, einmal auch in Frankfurt mit Ernst Schütte 113, Dr. Schmidt 114, Philipps 115 und Achinger 116. Wir sind uns glaube ich darüber einig, daß der Freideutsche Kreis sich in einer schleppenden Krise befindet und daß es Zeit für eine Entscheidung ist. Ob die „Studiengemeinschaft“ die Basis für einen Durchbruch ist – sozusagen aus der Freideutschen Position in die Freideutsche Aktion – ist mir nicht sicher. Aber es muß gewagt werden! Sehr hoffe ich, Sie bald zu sehen. Inzwischen herzliche Grüße Ihres Ernst Rudolf Huber NR. 14 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 6. Mai 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 111 Lieber Huber! Selbstverständlich haben Sie die Zeit, die Sie benötigen, um die Besprechung des Buches von Eyck über Wilhelm II. abzuschliessen. Das grosse dreibändige Werk über Bismarck muss ich jetzt zur Benutzung für die Studenten in der Bibliothek für das angelaufene Bismarck-Seminar bereit halten. Ich schicke es Ihnen auf jeden Fall in den letzten Juni-Wochen zu. Wenn Sie es dann 2 – 3 Monate behalten

112 Wilhelm II. (1859–1941), reg. 1888–1918, preußischer König und deutscher Kaiser. 113 Wahrscheinlich der bei Winfried Mogge erwähnte Frankfurter Arzt Dr. Ernst Schütte. Vgl. Mogge, Altenberger Konvent (wie Anm. 35), 415. 114 Dr. Hans Schmidt, Kaufmann, vgl. Mogge, Altenberger Konvent (wie Anm. 35), 414. 115 Vgl. Anm. 47. 116 Mutmaßlich Hans Achinger (1899–1981), Sozialwissenschaftler.

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wollen für die geplante Rezension, ist es mir recht, denn es steht eine Unmenge drin. Aus beiden Besprechungen kann gut ein kleiner Aufsatz werden. Ich hoffe, dass wir uns Pfingsten in Altenberg wiedersehen und ein gutes Gespräch miteinander führen können, auch über alle inzwischen eingelaufenen Fragen. Viele herzliche Grüsse Ihr NR. 15 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 2. August 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 111 Lieber Ernst Rudolf Huber! In Altenberg hast Du mir den Erhalt der Rezension Erich Eyck, Wilhelm II., für die allernächste Zeit in Aussicht gestellt. Ich bekam zwar das Buch von Dir zurück, aber keinesfalls bisher die Besprechung. Bitte sei doch so gut und sende sie jetzt und auch eine Mitteilung, wann wir mit dem Eingang der wahrscheinlich länger geratenen Rezension des Eyck’schen Bismarckbuches rechnen dürfen. Beste Grüsse Dein Sch

NR. 16 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 14. September 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 111 Lieber Schoeps, entschuldige bitte, daß ich auf wiederholte Mahnungen wegen der Rezension Eyck nicht früher geantwortet habe. Ich war, seit wir uns Pfingsten in Altenberg sahen, in meiner Zeit zunächst sehr bedrängt, da wir im Juli nach Freiburg umgezogen sind. Vorher nahm der Behördenkrieg, später nahm das Drum und Dran des Umzugs und der neuen Etablierung mich stark in Anspruch. Im August war ich mit meiner Frau für 14 Tage in Ferien, dann mußte ich beruflich nach Frankfurt. Ich will aber jetzt sofort an die Ausarbeitung der Besprechung gehen. Ich habe eine Fülle von Notizen dafür, sodaß es sich nur darum handelt, die Zeit zu finden, den Rohstoff in Form zu bringen. Ich hoffe, Dir das Manuskript sehr bald zusenden zu können. Auch an den Bismarck von Eyck will ich dann bald herangehen.

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Im Juli besuchte mich Ehmer hier; vor wenigen Tagen war ich [in] Wiesbaden mit Kreppel zusammen. Wir sprachen über das geplante Altenberger Zusammentreffen. Ob ich teilnehmen kann, ist noch ungewiß, da ich in der nächsten Zeit eine Reihe von Terminen einzuhalten habe, die ich schwer miteinander vereinigen kann. Ich hoffe aber, mich trotzdem für Altenberg freimachen zu können. Was die „Gesellschaft Altenberg“ angeht, so behagt mir der von Kreppel dokumentierte „Vierer-Gründungsakt“ nicht recht. Ich hätte vorgezogen, die Gesellschaft im Stillen wachsen zu lassen, statt sie ausdrücklich zu konstituieren. 117 Es sollte in unserer konstruktionswütigen Zeit Gebilde geben, die auf Konzeption statt auf Konstruktion beruhen. Was macht Kirsch? Ich habe lange nichts von ihm gehört, hoffe aber sehr, daß es ihm gesundheitlich besser geht. Herzliche Grüße Deines Ernst Rudolf Huber NR. 17 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 19. September 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 111 Lieber Freund Huber! Anliegend schicke ich Dir eine Karte des Verlages Münchner Verlag bisher F. Bruckmann 118, die bei uns einging. Bitte lasse uns doch nicht am steifen Arm verhungern, sondern schicke uns die überfällige Besprechung dieses Buches. Auch die Besprechung Eyck: Kaiser Wilhelm und Bismarck wäre uns sehr willkommen, zumindest eine Mitteilung, wann diese letzteren zu erwarten stehen und wie umfangreich sie sind. Auf Wiedersehen in Altenberg! Dein F.d.R. (Stoehr, Sekretärin)

117 Kreppel hatte am 28. Juni 1949 an Schoeps, Huber und Ehmer geschrieben: „Liebe Freunde! Aufgrund unserer Besprechungen und unseres inzwischen stattgehabten Briefwechsels schlage ich vor, unsere gebundene Gemeinschaft als ‚Gesellschaft Altenberg‘ zu konstituieren und als Zeitpunkt dieser Konstituierung den 1. Juli 1949 zu betrachten.“ Die Adressaten betrachtete Kreppel als „Gründungsglieder“. Zur Aufnahme sei „das einstimmige Votum aller Zugehörigen notwendig, ein Mindestbeitrag „von monatlich DM 5,-“ werde erhoben. BA Koblenz, N 1505, 246. 118 Die ZRGG erschien seit 1948 in diesem Verlag.

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NR. 18 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 22. Oktober 1949 119 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber Schoeps, ich fühle mich sehr in Deiner Schuld. Der Bericht über Eycks Wilhelm II. ist jedoch inzwischen im Manuskript abgeschlossen, und ich könnte ihn schnell für Dich fertig machen. Leider ist mir die Sache weit umfangreicher geraten, als ich es vorhatte. Der Entwurf, den ich da liegen habe, umfaßt ca. 40 Seiten, ist also jedenfalls zu lang für Deine Zeitschrift. Es war ja ursprünglich überhaupt nur an eine Rezension des üblichen Formats gedacht. Schreibe mir doch bitte möglichst umgehend: 1) ob es bei einer kleineren Rezension bleiben soll, die ich dann aus dem vorhandenen Manuskript extrahieren könnte; 2) oder ob Du einen „Rezensionsaufsatz“ über dieses Thema bringen könntest und wie lang dieser im äussersten Falle sein dürfte; 3) bis wann Du das Manuskript im einen oder anderen Fall haben müßtest. Auch über die Frage der Zeichnung des Beitrags müßten wir uns verständigen. Ich habe, gerade bei einem so heiklen Thema, Bedenken, mein Visier, das ich auch sonst geschlossen halte, zu öffnen. Auch die übrigen rückständigen Rezensionen, insbesondere Ritter, werde ich Dir bald schicken können. Leider konnte ich nicht in Altenberg sein, da mich dringende Verpflichtungen hier fest hielten. Ich bin leider noch ganz ohne Nachricht über den Verlauf der Veranstaltung. Von Ehmer erhielt ich den Entwurf einer Altenberger „Proklamation“. Ich kann mich dazu nicht eher äussern, bis ich weiß, aus welchen Gründen eine organisatorisch so stark gefestigte Form und ein so anspruchsvolles Programm gewählt worden ist. Ich fürchte, daß wir damit mehr versprechen, als wir halten können. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mir Deine Eindrücke von der Tagung und Deine Ansicht über den Ehmer’schen Entwurf mitteilen wolltest. Ich will nur ungern derjenige sein, der, ohne dabei gewesen zu sein, erneut die Bedenken geltend macht, über die wir uns schon oft ausgesprochen haben. Aber vorläufig scheinen mir diese Bedenken nicht widerlegt zu sein. Vordringlich wichtig scheint mir auch zu sein, wie das Verhältnis der Gesellschaft Altenberg zum Freideutschen Kreis fixiert werden soll. Trotz aller Beden-

119 Am Seitenende handschriftliche Notiz von Schoeps: „Hellmuth vorläufig in meinem Namen antworten, Aufsatz nicht länger als äußerst 7 Druckseiten. Evtl. verbinden wir damit meine Rezension für die Welt. Ich würde ihm nach Rückkehr noch antworten. Briefe mit Hellmuths Kopie in Wiedervorlage.“ Hellmuth = Hellmut Diwald (1924–1993), Publizist, Assistent Schoeps’; Rezension = Hans-Joachim Schoeps: Bismarck und die Klippe der Entnazifizierung. Zu Erich Eycks Bismarck-Werk, in: Die Welt, 4. November 1949.

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ken gegen die letzte Konventstagung halte ich es für notwendig, die Gesellschaft Altenberg in einem freundschaftlichen Verhältnis zum Fr.Kr. 120 zu halten. Das wird nicht einfach sein, da sicher bereits ein tiefes Mißtrauen entstanden ist. Die Geschichte der Jugendbewegung ist eine Geschichte von Sezessionen. Mir ist unbehaglich dabei, daß wir dabei sind, auf diesem Weg der permanenten Dekomposition fortzuschreiten. 121 Herzliche Grüße Dein Ernst Rudolf Huber NR. 19 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 4. November 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Sehr verehrter Herr Professor! Im Auftrage von Herrn Professor Schoeps möchte ich Sie bitten, aus Ihrem Manuskript über das Eyck’sche Buch für die Zeitschrift eine Rezension im Umfange von etwa 7 Druckseiten zusammenzustellen, das wären etwa 10 eineinhalbzeilige Schreibmaschinenseiten. Sobald Herr Prof. Schoeps von Berlin zurück ist, wird er selbst noch einmal sofort an Sie schreiben. Mit vorzüglicher Hochachtung! NR. 20 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 21. November 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 200 Lieber Huber! Hab schönen Dank für Deinen Rundbrief vom 15.11. Ich habe wenig dazu zu sagen, weil ich in der Analyse unserer Kümmerlichkeit Dir vollkommen zustimme. Ich neige nur noch zu grösserer Konsequenz und würde sagen, dass ich eine besondere Gesellschaft Altenberg nicht für wünschenswert oder gar für notwendig halte. Wir haben innerhalb des Freideutschen Kreises die Möglichkeit zu Zusam-

120 Fr.Kr. = Freideutscher Kreis. 121 Vgl. zu Hubers Anspruch und Konzeption einer (ehemals) jugendbewegten Gemeinschaft im Jahr 1949 grundlegend sein im Nachlass Carl Schmitts überliefertes, umfängliches Manuskript „Idee und Realität eines Freideutschen Bundes“, ediert bei Grothe (Hrsg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber (wie Anm. 40), 504–519.

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menkünften im engeren Freundes- und Vertrauenskreis, sobald wir es wollen. Wozu also noch etwas darüber hinaus. Dass allerdings der Freideutsche Kreis als Ganzes uns – oder wenigstens mich – zu langweilen anfängt, ist nicht zu verhehlen. Da Du selbst ja nachgewiesen hast, dass wir auch als kleineres Team aktionsunfähig bleiben werden, könnten sich aber überschüssige Aktivitäten auch nicht zugunsten dieses kleineren Teams auswirken. Das ist betrüblich, ist aber leider so. Dass ich selbst genügend Solidarität und „Staatsraison“ besitze, um auch weiterhin im Rahmen meiner zeitlichen und kräftemässigen Möglichkeiten auf die wichtigeren Tagungen des Kreises zu kommen, bleibt davon unberührt. Herzliche Grüsse Dein Sch NR. 21 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 15. Dezember 1949 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 200 Lieber Ernst Rudolf Huber! Heute muss ich Dich wieder einmal nach der so lange schon ausstehenden Rezension des Buches von Eyck „Kaiser Wilhelm II.“ mahnen. Es wird mir langsam unangenehm, immer wieder dasselbe zu schreiben, aber vielleicht könntest Du jetzt doch mal die – wie Du letzthin schriebst schon längst fertige Rezension abschicken. Ausserdem hast Du ja noch eine weitere Reihe von Büchern zur Besprechung vorliegen, die wir in unserem letzten Schreiben einzeln aufführten. Wie steht es mit deren Besprechung? Könntest Du uns nicht wenigstens einmal schreiben, wann wir mit diesen Rezensionen rechnen können. Mit freundlichem Gruss Dein NR. 22 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 16. März 1950 122 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Sehr geehrter Herr Professor! 122 Der Brief wurde nicht von Schoeps selbst, sondern von seiner Sekretärin Stöhr und seinem Mitarbeiter Hellmut Diwald verfasst. Siehe Kürzel im Briefkopf „Di/St.“.

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Wir haben durch wiederholte Briefe darauf hingewiesen, dass wir die von Ihnen übernommenen Besprechungen unbedingt in der kürzesten Zeit veröffentlichen müssen, wenn wir nicht allerernsteste Schwierigkeiten mit den Verlagen bekommen wollen. Versetzen Sie sich doch bitte einmal in unsere Lage. Wir sind gezwungen, unbedingt den Verpflichtungen nachzukommen, die wir bei einer Rezensierungsübernahme von Büchern eingegangen sind und müssen unseren Rezensenten volles und blindes Vertrauen schenken, dass sie uns bei der Erfüllung dieser Verpflichtungen auch unterstützen. Es ist daher äusserst unangenehm für uns, dass wir, nachdem wir Sie durch Monate hindurch immer wieder mahnten und baten, uns doch die längst fälligen Besprechungen zu senden, noch immer vergeblich darauf warten. Wir möchten Sie noch einmal dringendst bitten, doch endlich die Besprechungen sofort an uns abzusenden und bitten Sie für diesen Wunsch um Verständnis. Hochachtungsvoll! NR. 23 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 29. März 1950 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 176 Lieber Schoeps, ich fühle mich sehr in Deiner Schuld, da ich mein Versprechen der Mitarbeit an Deiner Zeitschrift so schlecht gehalten habe. Es ist nicht böser oder schlechter Wille, auch nicht mangelndes Interesse. Ich schrieb Dir schon vor längerer Zeit, daß das Manuskript über Eycks Wilhelm II. fertig sei; es war nur viel zu lang. Die Kürzung machte mir viel Kopfzerbrechen, weil es unendlich schwierig ist, dem komplexen und delikaten Gegenstand in Kürze auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Ich habe das Manuskript nun auf die Hälfte des ursprünglichen Umfangs zusammengestrichen und sende es Dir in der Anlage mit der Bitte um Durchsicht zu. Wenn Du es auch jetzt noch zu lang oder aus anderen Gründen nicht geeignet findest, so schicke es mir bitte unbesorgt zurück. Die Arbeit ist, auch wenn ich sie nicht veröffentlichen kann, für mich nicht umsonst getan. Also fälle Deine Entscheidung bitte in voller Unbefangenheit. Was ich sonst an Rezensionen für Dich übernommen habe, hoffe ich bald erledigen zu können. Es sind zumeist Dinge, die sich in Kürze erledigen lassen, bis auf Eycks Bismarck, der eine ausführliche Behandlung erfordert, zumal jetzt auch A. O. Meyers Biographie 123 erschienen ist.

123 Arnold Oskar Meyer, Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann, Leipzig 1944, Nachdruck Stuttgart 1949.

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Ich war in der Arbeit durch mehrfache Erkrankung sehr behindert 124, dazu durch mancherlei literarische Kärrnerdienste sehr in Anspruch genommen. 125 Bitte entschuldige daher meine Säumnis. Herzliche Grüße und herzliche Wünsche für die Ferienzeit! Dein Ernst Rudolf Huber NR. 24 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 1. Juli 1951 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 116 Lieber Schoeps, lass Dir zunächst sehr herzlich danken für Deine Schrift „Die Ehre Preußens“126, die mich sehr berührt hat. Ich bewundere den Mut, mit dem Du unpopuläre, und die Noblesse, mit der Du heikle Fragen behandelt hast, und ich bin sehr glücklich darüber, daß dieses Wort aus diesem Anlaß gesprochen wurde. Vielleicht würde ich auf einige Einzelfragen näher eingehen, auch die eine oder andere Einwendung zu machen haben, wenn ich nicht durch Deinen Brief vom 9. Juni 127 an Werner Kindt zu sehr mit Deiner persönlichen Stellung zu unserm Kreis beschäftigt wäre. Ich lasse alles beiseite, was die sog. Existenzfrage dieses Kreises betrifft. Wir haben sie oft beredet und zerredet; sie ist wichtig, ebenso wichtig wie die Existenzfrage, die wir an uns als Einzelne immer wieder zu stellen haben. Aber sie ist zugleich auch damit beantwortet, daß wir da sind und so sind, eben in dem Geprägt- und Bestimmtsein durch Erlebnisse und Erfahrungen, zu denen die Dinge, die uns verbinden, notwendig gehören, bei allen Fragwürdigkeiten, über die wir uns keiner Täuschung hingeben.

124 Carl Schmitt gegenüber erwähnte Huber in einem Brief vom 7. Februar 1950 einen Krankenhausaufenthalt (Grothe (Hrsg.), Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber (wie Anm. 40), 355), Ewald Grothe berichtet in einer Anmerkung von einer Leistenbruchoperation. An Hellmut Becker schrieb Huber am 14. März 1950, dass er im Dezember des Vorjahres im Krankenhaus gelegen habe (BA Koblenz, N 1505, 246). 125 Gemeint sind Hubers vielgestaltige Arbeiten zur Verfassungsgeschichte. Nachdem der noch anonym von ihm herausgegebene Band „Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 1: Deutsches Verfassungsrecht im Zeitalter des Konstitutionalismus (1806–1918), Tübingen 1949“, erschienen war, folgte der namentlich gezeichnete zweite Band „Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919–1951), Tübingen 1951“. 126 Hans-Joachim Schoeps, Die Ehre Preußens. Festrede zum 250. Gründungstag des Preußischen Staates, Stuttgart 1951. 127 Weder Konzept noch Durchschlag sind in den Nachlässen von Schoeps und Huber überliefert.

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Zu Deinem Brief an Kindt Folgendes: Ich bin der Ansicht, daß die Mitteilung Kindts an den Arbeitsausschuß ebenso unnötig wie in der Form verfehlt war. Man sollte denken, daß die Mitglieder des Arbeitsausschusses über das, was in den Gazetten stand, ohnedies unterrichtet waren, sodaß es eines solchen Hinweises, wenn er nur informatorischen Charakter haben sollte, nicht bedurfte. Wenn aber eine Mitteilung, gleichviel welchen Inhalts und welchen Zwecks, ausging, so hätte Dir vorher eine Möglichkeit zu eigener Erklärung gegeben werden sollen. Insoweit stimme ich Dir völlig zu. Ich meine weiter: Wären wir ein intakter Kreis, so müßte jedem, gegen den ehrenrührige Behauptungen in der Oeffentlichkeit verbreitet werden, die Möglichkeit gegeben sein, sich gegenüber dem Arbeitsausschuß, besser noch: gegenüber dem Obmann, zu erklären. Wir haben in Altenberg viele Stunden über eine Ehrenordnung debattiert. Wie nutz- und sinnlos das alles war, zeigt sich, sobald die Ehrenfrage einmal praktisch wird. Ich meine jedoch: Es war bei allem Zorn, der Dich, wie ich gut verstehe, erfüllt, nicht richtig, daß Du aus diesem Anlaß Deinen Austritt aus dem Konvent erklärt hast. Der Arbeitsausschuß ist nicht der Konvent; noch viel weniger ist ein einzelnes Mitglied des Arbeitsausschusses der Konvent. Durch Deinen Austritt machst Du uns alle, die wir dem Konvent angehören, sozusagen kollektiv verantwortlich für diesen unnötigen und verfehlten Brief. Du mißt dadurch dem Briefschreiber eine repräsentative Funktion bei, die er nicht hat. Vor allem aber scheint mir, daß Du die Motive, aus denen der Brief hervorgegangen ist (gleichviel wie unnötig und verfehlt er war), nicht richtig wiedergibst, wenn Du sie dahin auslegst, daß der Briefschreiber sich „Verleumdungen einer antisemitischen Hetzpresse zu eigen“ gemacht habe. Ich lasse dahingestellt, ob bei der Erwähnung Deines Namens in den Zeitungen in Zusammenhang mit der Promotion Auerbach 128 antisemitische Tendenzen eine Rolle gespielt haben; immerhin meine ich, daß diese Zeitungsmeldungen auch in Blättern gestanden haben, die gegen jeden Verdacht des Antisemitismus gefeit sind. Jedenfalls aber scheint es mir nicht zutreffend zu sein, daß Kindt sich diese Meldungen „zu eigen“ gemacht habe. Daß man Notiz von Verdächtigungen nimmt, kann doch nicht heißen, daß man sie sich zu eigen macht.

128 Philipp Auerbach (1906–1952), Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte in Bayern. Er beging Suizid, nachdem er u. a. wegen Bestechung und Untreue sowie des unberechtigten Führens eines Doktortitels verurteilt worden war. Der Prozessverlauf ging mit antisemitischen Schmähungen einher. Die von Schoeps begleitete und in dessen Zeitschrift wohlwollend besprochene Dissertation („Wesen und Formen des Widerstands im Dritten Reich“ o. O. 1949) wurde vom Gericht als Produkt eines studentischen Ghostwriters betrachtet. Vgl. Hannes Ludyga, Philipp Auerbach (1906–1952). „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“, Berlin 2005, 127; Julius H. Schoeps, Begegnungen. Menschen, die meinen Lebensweg kreuzten, Berlin 2016, 21–39. Zu Auerbachs Dissertation s. die mit „K. T.“ gezeichnete Rezension: Auerbach, Wesen und Formen, in: ZRGG 2 (1949/50), 289f.

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Ueberhaupt aber ist mir bedenklich, wenn Anschuldigungen, gleichviel ob berechtigte, wie offenbar im Falle Auerbach, oder unberechtigte, wie offenbar in Deinem Fall, nur deshalb, weil sie sich gegen einen Juden richten, als Ausdruck des Antisemitismus angesehen werden. Ich habe uneingeschränktes Verständnis dafür, daß Du in dieser Frage besonders verletzlich bist; wie sollte es nach allem, was hinter uns liegt, anders sein. Aber mir scheint, daß wir den Antisemitismus überhaupt nur dann überwinden können, wenn das Denken in rassischen Kollektivitäten von der einen wie von der anderen Seite aus gänzlich ausgeschaltet wird. Es ist zu allen Zeiten von Menschen jeder Art Böses und Gutes geschehen; wir sollten weder das Eine noch das Andere einer Kollektivität zurechnen. Wenn Auerbach sich vergangen hat, so hat er sich vergangen, nicht das Judentum; sind die Beschuldigungen gegen ihn grundlos und wird er rehabilitiert, so wird er rehabilitiert, nicht das Judentum. Jede andere Art von Argumentation halte ich in diesem Zusammenhang für falsch. (Es mag auf anderer Ebene repräsentatives Schuldigwerden und repräsentative Verdienste geben; es wäre ein schwieriges geschichtsphilosophisches und ethisches Problem, wo und wann eine solche Repräsentation in Schuld oder Verdienst anzunehmen wäre. Doch ist das nicht die Frage, um die es hier geht.) Ich weiß nicht, ob ich Dir verständlich machen konnte, daß dieser Brief geschrieben ist aus freundschaftlicher Gesinnung für Dich und aus der Sorge darum, daß das Bemühen, die Abgründe zu überwinden, vergeblich sein könnte. Ich hätte schon in Rothenfels 129 gerne gesagt, daß man Ressentiments nicht durch GegenRessentiments, daß man den Haß nicht durch den Gegen-Haß überwinden kann, so wie man nach einem berühmten Wort der Revolution nicht durch GegenRevolution, sondern nur durch das Gegenteil von Revolution zu begegnen vermag. Unser Unglück kommt nicht nur aus der Revolution, sondern auch aus der Kette der Gegen-Revolutionen. Wir sollten von jeder Form des Anti- frei werden, auch von der Erwiderung von Demonstrationen durch Anti-Demonstrationen. Ich glaube, daß wir beide in dieser Freiheit das eigentliche Prinzip konservativer Haltung sehen. Versteh mich daher bitte recht, wenn ich meine, daß ein antidemonstrativer Austritt kein konservativer Akt ist, wohingegen mir scheint, daß der Sinn des Konvents für uns darin bestand, auf einem kleinen und bescheidenen Feld zu echter Konservation zu kommen. Dieser Brief geht nur an Dich. Ich glaube nicht, daß ich in dieser Sache etwas tun sollte, bevor ich mich mit Dir verständigt habe. Ich habe deswegen bisher an niemanden in dieser Sache geschrieben und ich will es auch nicht tun. Herzlich Grüße Deines Ernst Rudolf Huber

129 Ort der Jahrestagung 1951.

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NR. 25 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 6. Juli 1951 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 116 Lieber Huber! Hab recht schönen Dank für Deinen Brief vom 1. ds. Mts. Seine freundschaftliche Gesinnung hat mir sehr wohlgetan. In Sachen des Konvents habe ich inzwischen mein Einverständnis damit erklärt, mich dem Ehrenrat des Konvents zu stellen. Ich bin hinsichtlich der Frage des Austritts resp. Wiedereintritts sehr gelassen, weil im Grund ja die Feststellung auf Rothenfels richtig war, dass man aus diesem Kreis gar nicht austreten könne. Bei Licht besehen reduziert sich ja der ganze „Fall“ auf die Feststellung, dass der gute Werner Kindt ein furchtbares Trampel ist. Was Du mir an grundsätzlichen Dingen schreibst, ist alles richtig und ich kann es ganz übernehmen. Vielleicht war meine Reaktion auch nicht die bestmögliche, wenn Du sie auch ausdrücklich als verständlich anerkennst. Das Echo, das ich von Seiten der Öffentlichkeit auf meinen Offenen Brief 130 hin gehabt habe, war sehr lehrreich aber nicht in jeder Hinsicht erbaulich. Ich berichte Dir bei unserem nächsten Treffen Näheres. Kommst Du mal in diese Gegend? Ich bin bei Kirschs zum Historiker Kongress 131 Mitte September. Wenn Du auch dahin kommen solltest, wäre das prächtig. Und nun nochmals herzlichen Dank für Deinen Brief und die besten Grüsse Dein Sch NR. 26 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 23. November 1951 132 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86 Lieber Freund Huber! Der Brief, den ich Dir heute schicke, geht mir sehr schwer aus der Hand. Ich hätte Dir das alles viel lieber mündlich gesagt. Aber da ich keine Möglichkeit sehe, in

130 Ungekürzt abgedruckt in: Erlanger Nachrichten vom 13. Juni 1951. Heuss’ Antwort: Theodor Heuss, Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hrsg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt und Werner Wolfram, Berlin 2012, 242–245. 131 Der Historikertag fand 1951 in Marburg statt, wohin Wilhelm Michael Kirsch 1949 von Erlangen berufen worden war. 132 Gedruckt bei: Kraus, Eine Monarchie unter dem Grundgesetz (wie Anm. 23), 53–55.

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den nächsten Wochen nach Freiburg zu kommen, die Sache aber eilt, vertraue ich es unter dem Siegel der Verschwiegenheit dem Papier an. Es handelt sich um folgendes: Meine Rede vom 18.1.1951 133 hat ungeahnte Nach- und Fernwirkungen gehabt. Ich bin durch sie in das Vertrauen des derzeitigen Chefs des Hauses Hohenzollern 134 gezogen worden, und mir ist in einer Reihe von Gesprächen die Aufgabe immermehr angetragen worden, die politische Situation zu analysieren in Bezug auf die Möglichkeiten einer monarchischen Restauration. Zur Lösung dieser Aufgabe habe ich eine Reihe von Freunden, vornehmlich aus dem Freideutschen Kreis, herangezogen, und vor 14 Tagen haben wir (Kreppel, Schütte, Reemtsen 135 und ich) eine Aussprache im Hause des Prinzen Louis Ferdinand in Bremen gehabt. Wir wollen am ersten Januarwochenende136 des neuen Jahres in Marburg einen Kreis von politischen Experten zusammenrufen, für die die Frage nach der Wünschbarkeit einer Monarchie bereits klarsteht und die lediglich die Frage möglicher Wege zur künftigen Realisierung prüfen wollen. Das Hauptproblem ist ein verfassungsrechtliches, und deshalb ist es der einmütige Wunsch aller hierüber Befragten, dass ich Dich bitten soll, Dich als den besten Kenner des Verfassungsrechts der konstitutionellen Monarchie bei der gegenwärtigen Republik an die Ausarbeitung eines Exposés zu machen, ob und welche Wege vom Boden der bestehenden Bonner Verfassung aus möglich oder denkbar sind. Völlig unmassgeblich und laienhaft will ich Dir wenigstens andeuten, welche Wege ich mir überlegt habe. Ob sie gangbar sind oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. 1. Man versucht, ähnlich wie die Kommunisten es in Westdeutschland versucht haben, eine Art Volksbefragung zustande zu bringen, ob der entsprechende Passus des Bonner Grundgesetzes, dass der Westdeutsche Staat eine Bundesrepublik sei, abgeändert werden solle. Das liefe also auf eine Volksabstimmung hinaus über die Frage ob Republik oder Monarchie erwünscht sei. 2. Die zweite Möglichkeit wäre, einen Bundestagsbeschluss oder, falls das unmöglich sein sollte, eine Volksabstimmung herbeizuführen, ob hinsichtlich der Wahl des Bundespräsidenten das Bonner Grundgesetz rückwärts revidiert werden soll auf den Status der Weimarer Republik, welche eine plebiszitäre Wahl des Präsidenten vorsah. In diesem Fall würde man versuchen, durch einen überparteilichen Wahlblock die Präsidentschaftskandidatur aufzustellen und den Weg Louis Napoleons zu wiederholen. Während ich diese Andeutungen diktiere, wird mir völlig klar, wie schwierig das ist, Dir die Schlussglieder längerer Überlegungen mitzuteilen, ohne dass Du an den vorangegangenen Besprechungen teilgenommen hast. Möglicherweise stimmst Du mir gar nicht in allen Voraussetzungen zu. Ich werde Dir in den 133 134 135 136

Abgedruckt als „Die Ehre Preußens“, vgl. Anm. 126. Louis Ferdinand von Preußen (1907–1994). Wahrscheinlich Reemt Reemtsen (1912–1990), Richter. Das Treffen fand am 5. Januar 1952 in Marburg statt.

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nächsten Tagen das Manuskript eines Vortrags schicken, mit dem ich den Schritt über die damalige Broschüre hinaus zu dem heutigen Plan gegangen bin, aus dem dann alles deutlicher wird. Aber Du verstehst gewiss die Intention und kannst mir die Frage beantworten, ob Du überhaupt bereit bist, an diesen Plänen mitzuwirken, die eine Art staatsrechtliches Exposé über die uns bewegende Frage zu verfassen und sie zu dem Treffen nach Marburg mitzubringen. Ich versichere Dir, dass alles streng vertraulich ist und behandelt wird. Unsere Pläne befinden sich vorläufig und wahrscheinlich noch auf lange Sicht im Stadium theoretischer Überlegungen und politischer Lagediagnosen. Gleichwohl ist auch für dieses Stadium die Rückendeckung insofern gegeben, als die in Frage kommenden Bonner Stellen über das, was wir überlegen, Bescheid wissen. 137 Es handelt sich ja hier nicht um eine Freideutsche Angelegenheit, wenn auch einige unserer Freunde aus Überzeugung daran interessiert sind. Anliegend übersende ich Dir eine vorläufige Namensliste der Herren, die wir nach Marburg einladen wollen. Die Liste erbitte ich aber wieder zurück, wenn Du sie durch Namen ergänzt hast, die Du hierfür noch eingeladen haben willst. Aber der Personenkreis soll möglichst nicht dreissig Teilnehmer übersteigen. Vorwerk bat mich Dich zu fragen, ob Du bereit wärst, das neue Buch aus seinem Verlag für die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte zu besprechen, allerdings kann ich Dir nur 30–40 Zeilen bewilligen. Es handelt sich um das Werk von Werner Weber: Spannungen.... 138 Bitte äussere Dich bald hierzu. Für heute einen herzlichen Gruss Dein Sch

137 Eine undatierte Liste führt für die Eltviller Tagung neben zahlreichen anderen Persönlichkeiten u. a. hochrangige Mitarbeiter aus dem Umkreis des Bundestagspräsidenten und aus dem Bundesministerium für Arbeit (und Sozialordnung). Vgl. Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 202. Bis 1954 kamen noch Hans-Joachim von Merkatz (1905– 1982, führender Politiker der Deutschen Partei), Otto John (1909–1997, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Freund Louis Ferdinands von Preußen) und Eugen Gerstenmaier (1906–1986, CDU-Politiker und ab 1954 Bundestagspräsident) hinzu. Vgl. Die Ehre Preußens, in: Der Spiegel vom 3. März 1954. 138 Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1951. Eine Rezension des Titels durch Huber konnte weder für die ZRGG noch für eine andere Zeitschrift nachgewiesen werden.

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NR. 27 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 2. Dezember 1951 139 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86 Lieber Jochen Schoeps, Ich habe Dir sehr für das Vertrauen zu danken, das Dein Brief vom 23. November mir entgegenbringt. Wir sind uns wohl einig darüber, daß die Zeiten abgelaufen sind, in denen es uns gestattet war, romantischen Utopien anzuhängen; auch für bloße historische Apotheosen oder für eine Metaphysik der Staatsformen ist die Frage, die in Deinem Brief angeschnitten ist, zu ernst. Ich nehme an, daß Du in dieser Sache jede Aktivität ablehnen würdest, wenn Du nicht die Gewißheit hättest, daß sie mit einem äussersten Maß von politischem Realismus betrachtet und behandelt würde. Royalismus, der keine Flucht in Romantik, Utopie, Historismus oder Metaphysik ist, scheint mir von folgender Einsicht bestimmt zu sein: In einer Welt, die daran krankt, daß sie der echten Legitimität und Autorität entbehrt, ist es notwendig, den politischen Zentralpunkt wiederherzustellen, von dem eine neue Legitimität und Autorität ausstrahlen könnten. Das wird im Wege einer bloßen Restauration niemals möglich sein; die monarchische renovatio setzt mehr als eine faktische Machtergreifung oder eine legale Ueberleitung voraus. Sie könnte nur gelingen, wenn sie die staatsrechtliche Formgebung einer geistigen und sozialen Wandlung wäre, die sich im ausser-staatsrechtlichen Raum zu vollziehen hätte. Die spezifisch staatsrechtlichen Probleme sind daher von sekundärem Rang. Wenn ich mich auf Deine Frage hin ihnen sich zuwende, so wäre in aller Kürze Folgendes zu sagen: 1) Art. 79 des Grundgesetzes schließt jede Verfassungsänderung schlechthin aus, durch die die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ angetastet wird. Es wird nicht wenige geben, die in dieser Unantastbarkeits-Klausel eine absolute Garantie des republikanischen Prinzips sehen. Ich halte diese Ansicht zwar für nicht begründet, meine vielmehr, daß eine parlamentarische Monarchie nach englischem Modell, ja daß sogar eine konstitutionelle Monarchie im Sinn der deutschen Tradition staatsrechtlich legal auf dem Wege der Verfassungsänderung würde eingeführt werden können. Immerhin liegt hier eine erste Schwierigkeit. (Zur Entscheidung wäre das Bundesverfassungsgericht zuständig). 2) Einen Volksentscheid, wie ihn die WeimRVerf. kannte, hat das Grundgesetz bewußt ausgeschlossen; inbesondere kann die Verfassung nicht im Wege der Volksabstimmung geändert werden. Eine staatsrechtlich anerkannte Volksbefragung über „Monarchie oder Demokratie“ kann daher nicht durchgeführt werden. Der Versuch, eine extra-konstitutionelle (sozusagen „private“) Volksbefragung

139 Gedruckt bei Kraus, Eine Monarchie unter dem Grundgesetz (wie Anm. 23), 55–57.

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durchzuführen, würde wahrscheinlich als „verfassungsfeindlich“ unterdrückt werden. 3) Es gibt daher auch keine Möglichkeit, das Grundgesetz auf dem Weg der Volksabstimmung dahin zu ändern, daß die plebiszitäre Präsidentschaft wiedereingeführt wird. 4) Verfassungsänderungen können auf keinem anderen Weg als durch Beschluß des Bundestags (2/3 der gesetzlichen Mitgliederzahl) unter Zustimmung des Bundesrats(ebenfalls 2/3 der Stimmen) durchgeführt werden. Es erscheint rebus sic stantibus ziemlich ausgeschlossen, die qualifizierte Mehrheit in Bundestag und Bundesrat auch nur für eine plebiszitäre Präsidentschaft zu gewinnen. Parteien und Länder sind in gleichem Maße daran interessiert, daß der Präsident ohne unmittelbare plebiszitäre Legitimität, ohne ursprüngliche Autorität und ohne eigene Macht ist. 5) Diese Erwägungen stehen auch im Schatten des fortdauernden Anspruchs der Alliierten Mächte auf Verfassungskontrolle und Verfassungsintervention gegenüber allen Vorgängen in Deutschland, die sie als eine Störung der freiheitlichdemokratischen Ordnung (wie sie sie verstehen) ansehen könnten. 6) Es gibt, wenn ich es recht sehe, nur einen einzigen legalen Weg zu dem Ziel, das Du verfolgst, das ist der Weg über die Wiedervereinigung Deutschlands. Mit ihr wird das Grundgesetz, wie es selbst bestimmt, obsolet. Es wäre m.E. aus vielen Gründen angezeigt, in einer gesamtdeutschen Verfassung die plebiszitäre Wahl des Reichspräsidenten und das in der WeimRVerf. vorgezeichnete Minimum präsidialer Kompetenzen wiederherzustellen, darunter vor allem militärischer Oberbefehl 140, auswärtige Gewalt, Recht zur Ernennung und Entlassung des Kanzlers und der Minister, Recht zur Ernennung der Beamten und Richter, Verfügung über den Ausnahmezustand und über die Bundesexekution. Der Weimarer Reichspräsident war (wie ursprünglich auch der amerikanische und der französische Präsident) ein Ersatz-Monarch. Es wäre logisch und realistisch, diesen Weg über eine präsidiale Platzhalterschaft (oder Verweserschaft) zurückzugehen. 7) Mir scheint, daß auch aus anderen Gründen der Weg zur Monarchie nur über das Plebiszit gehen kann (also weder über die parteienstaatliche ParlamentsOligarchie noch über den von anderen oligarchischen Gruppen getragene Staatsstreich). Der Weg müßte über eine legitimierende und autoritätsbegründende historische Leistung führen. Dafür gibt es nur einen entscheidenden Ansatzpunkt: Wiederherstellung der Einheit und Freiheit. 8) Auch die massen-plebiszitäre Legitimation hat ihre spezifische Problematik. Ueberhaupt gibt es Bedenken gegen die royalistische Restauration, die aus [dem] Royalismus kommen.... Insbesondere ist das Bedürfnis, das Amt des Staatsoberhaupts zu neutralisieren und dem Pluralismus der Massenkräfte ein von der Masseneinheit konstituiertes Symbol des Ganzen überzuordnen, eine bloß technisch-rationale Motivation. Wenn diese nicht von irrationalen Energien

140 Im Original: „militäOberbefehl“.

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durchdrungen und verwandelt wird, wäre das Ergebnis im Grunde kein Königtum, sondern eine Art Erb- oder Wahl-Präsidentschaft. Allerdings haben die Erfahrungen gelehrt, daß einem technisch-rational begründeten Herrschaftssystem leicht mehr an echter Legitimität und Autorität zuwachsen kann als einer pseudocharismatischen Diktatur. Ich überlasse es Deiner Entscheidung, ob Du Dir nach diesen Andeutungen von meiner Teilnahme etwas versprichst. 141 Für eine Unterhaltung in vertrautem Kreise stehe ich immer zur Verfügung. Die Namensliste, die Du angekündigt hast, lag Deinem Brief nicht bei. Meine Teilnahme würde in gewissem Umfang auch von der Zusammensetzung des Marburger Kreises abhängig sein. Herzliche Grüsse Dein Ernst Rudolf Huber NR. 28 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 4. Dezember 1951 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86 Lieber Ernst Rudolf Huber! Ich danke Dir sehr für Deine ausführliche Stellungnahme zu meiner Anfrage, die genau das darstellt, was ich mir erhoffte. Ich bitte Dich nun aber sehr, doch wenn irgend möglich, zu dem Treffen zu kommen. Anlegend schicke ich Dir die Liste der Teilnehmer, die ich aber zurückerbitte. Ich nehme an, dass Du gegen keinen derselben Einwendungen hast. Wenn Du noch jemanden dazugeladen haben willst, so bitte ich umgehende Benachrichtigung. Die Einladung selbst erhältst Du in den nächsten Tagen. Im Moment untersuche ich noch die Möglichkeiten, etwas Geld für Fahrgeldzuschüsse und dergl. aufzutreiben. Herzlichen Gruss Dein Sch 1 Anlage 142

141 Huber nahm an der Tagung in Marburg nicht teil. Vgl. Protokoll der Tagung vom 5. Januar 1952, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86. 142 Mutmaßlich identisch mit der in Anm. 137 erwähnten Liste.

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NR. 29 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 1. Januar 1952 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86 Lieber Jochen Schoeps, hab Dank für Deine Grüße zu Weihnachten. Ich hatte gehofft, Dir früher antworten zu können; aber ich wollte erst klar sehen, wie es mit meiner Teilnahme an dem Marburger Gespräch wird. Leider hat sich jetzt ergeben, daß ich am nächsten Wochenende hier gebunden bin. Ich würde Dir die Gründe gerne genauer auseinandersetzen, und Du würdest dann einsehen, daß ich mich bestimmten Verpflichtungen besonderer Art, in denen ich stehe, auch in diesem Fall nicht entziehen kann. Brieflich kann ich nur andeuten, daß ich in einer vordringlich wichtigen Sache bestimmte termingebundene Funktionen auszuüben habe und daß mir die Verlegung einer Besprechung, die am nächsten Wochenende stattfinden soll, nicht gelungen ist. Ich bedaure es ganz besonders, für Marburg nicht zur Verfügung zu stehen, und ich bitte Dich, mich als durch höhere Gewalt verhindert anzusehen. Ich hätte gerne bei unserm Zusammensein eine Einzelfrage besprochen, die sich mündlich besser als schriftlich hätte klären lassen. Ich bin mit dem Kunsthistoriker Hubert Schrade 143 befreundet, dessen Buch „Der verborgene Gott“ (Kohlhammer 1949) 144 Dir vielleicht bekannt ist. Ich schätze es als eine religionsgeschichtliche Leistung von besonderem Rang, und Du solltest es, wenn Du es nicht kennst, lesen. Es gibt von Schrade einige ungedruckte Vorträge, so über den Turm von Babel und einen anderen über das Gottesbild Michelangelos. Ich habe Schrade sehr zugeredet, diese Vorträge zu veröffentlichen, und ich könnte mir denken, daß Du für einen davon für Deine Zeitschrift interessiert sein würdest. Schrade möchte in erster Linie den Michelangelo-Vortrag publizieren; der BabelVortrag scheint ihm noch nicht ganz druckreif zu sein. Laß mich doch bitte wissen, ob Du daran interessiert sein würdest, Schrade als Mitarbeiter zu gewinnen. 145 Er ist, obwohl dem Fach nach Kunsthistoriker in besonderem Maße religionshistorisch qualifiziert (Ägypten, vord. Orient, Judentum, Hellas, europ. Mittelalter), nach Art und Haltung ein echter Ostpreuße; die Vorurteile, 146 die hie oder da gegen ihn bestehen, stammen aus ridikülem Ressentiment. 143 Hubert Schrade (1900–1967), Kunsthistoriker, Professor in Heidelberg seit 1931, von 1941 bis 1944 in Straßburg, wo er als Prorektor und Dekan der Philosophischen Fakultät zum Freundeskreis Hubers gehörte. Nach der Verlagerung der Reichsuniversität Straßburg nach Tübingen lehrte Schrade dort, zuletzt von 1954 bis zu seiner Emeritierung als Ordinarius. Schrade galt als überzeugter Nationalsozialist, der sich aktiv durch die Verfolgung rassisch und politisch unterdrückter Kollegen hervortat. 144 Hubert Schrade, Der verborgene Gott. Gottesbild und Gottesvorstellung in Israel und im alten Orient, Stuttgart 1949. 145 Dazu ist es nicht gekommen. 146 Vgl. Anm. 143.

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Hab für das beginnende Jahr von Herzen die besten Wünsche. Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen. Ich hoffe, in ein paar Monaten freier über meine Zeit disponieren zu können als jetzt. Viele Grüße, auch von meiner Frau. Dein Ernst Huber NR. 30 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 15. Dezember 1952 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Kasten 86 Lieber Huber! Vor einigen Tagen hast Du eine Einladung bekommen für eine Tagung am 3./4.I.1953 in Eltville. Ich möchte Dich dringend bitten, uns diesmal Deine Teilnahme nicht zu versagen. Die Sache tritt jetzt in das Stadium der Konkretisierung und Dein staatsrechtlicher Rat ist uns dringend erwünscht. Wenn es Dir irgend möglich ist, so komm diesmal und gib bitte rechtzeitig diesbezüglich Nachricht. Mit den besten Grüssen bin ich Dein

NR. 31 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 31. März 1953 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 121 Lieber Jochen Schoeps, eben im Moment meiner Abreise erreicht mich Deine Karte. 147 Ich werde den April über nicht hier sein; im Mai würde ich in der Lage sein, Ms. oder Korrekturen durchzusehen. Vielleicht hat n 148 bis dahin Zeit. Herzliche Grüsse Dein Ernst Huber

147 Im Nachlass Schoeps ist kein Konzept überliefert, im Nachlass Huber ist die Karte nicht auffindbar. 148 Die gemeinte Person lässt sich nicht ermitteln, da die vorangegangene Postkarte von Schoeps nicht erhalten ist.

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NR. 32 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 27. Mai 1953 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 101 Lieber Jochen Schoeps, erst die freie Woche nach Pfingsten hat mir die Muße gegeben, um Dein Manuskript „Das Saeculum und die Monarchie“ 149 sorgfältig zu lesen. Du weißt, daß mir zweifelhaft ist, ob eine öffentliche Diskussion dieser Frage den Dingen, die eine innere Wandlung voraussetzen, dient. Aber auch wenn ich diesen grundsätzlichen Einwand beiseite lasse, habe ich manchen Zweifel an der Durchschlagskraft Deiner Argumente. Die Analyse der „heutigen Situation“, von der Du ausgehst (Masse, Technik, Nivellierung), verstärkt die Zweifel, ob die organischen Voraussetzungen der Monarchie wiederherstellbar sind. Die historische Fundierung hätte ich etwas breiter und tiefer gewünscht. Im Staatstheoretischen wäre vielleicht die Unterscheidung der verschiedenen Typen der Monarchie deutlicher zu entwickeln gewesen. Das Hauptproblem scheint mir hier darin zu liegen, daß in der Welt, in die wir gestellt sind, die demokratisch-plebiszitäre Legitimität die einzig praktikable Basis staatlicher Institutionen geworden ist, daß aber die echte und notwendige Funktion der Monarchie darin bestehen müßte, kraft unabhängiger Autorität ein Gegengewicht gegenüber dem demokratisch-plebiszitären Prinzip zu sein. Das ist dort möglich, wo eine ungebrochene monarchische Tradition besteht. Sie bei uns zu erneuern, ist so schwierig, weil es kaum möglich ist, historische Träger des monarchischen Amtes, die unserer Zeit überzeugend erscheinen könnten, darzustellen; das was Deine Schrift der Monarchie nachrühmt, ist kaum an einem einzigen Fall wirklich zu belegen; weder Friedrich der Große noch Wilhelm I. 150 verkörpern den Typus, an den Du denkst. Das eigentlich Schlimme ist, daß das politische Trauma Wilhelm II. alles überschattet; seine Figur ist von so tragischem Gewicht, weil er mit seiner Modernität zugleich die Voraussetzungen eines der Zeit gemäßen Kaisertums in sich trug und daß er eben durch diese Modernität sein Haus, sein Volk und das Reich in den Abgrund geführt hat. Da über diese historischen Schicksale der deutschen Monarchie zu sprechen kaum möglich ist, bleibt die Diskussion leicht im Abstrakten oder im Technischen hängen. Ich fürchte schließlich, daß Deine Konzeption zu stark preußisch-norddeutsch bestimmt ist; was für den Fall einer Renovatio im Hinblick auf den deutschen Osten zutreffend ist, ist dem Süden gegenüber eine schwer akzeptable Lösung; die konfessionelle Problematik der Sache kann nicht ignoriert werden, wobei ich nicht sagen will, daß man sie öffentlich erörtern sollte. Nach wie vor meine ich, der 149 Abgedruckt als: Hans-Joachim Schoeps, Kommt die Monarchie? Wege zu neuer Ordnung im Massenzeitalter, Ulm 1953. 150 Wilhelm I. von Preußen (1797–1888), reg. 1861/71–1888, König von Preußen und Deutscher Kaiser.

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Chef des Hauses Preußen sei keineswegs der einzige diskutable Prätendent 151, und es ist mir sehr fraglich, ob es richtig ist, wenn er in Deiner Schrift am Ende so deutlich hervortritt. Daß ich im übrigen Dein Manuskript mit lebhaftem Interesse gelesen habe, brauche ich sicher nicht besonders zu betonen; aber vielleicht ist es im Moment wichtiger, die Einwendungen auszusprechen als sich in pauschalen Zustimmungen zu ergehen, die weder Dir noch der Sache nützen. Sei aber jedenfalls sehr bedankt dafür, daß Du mir Einsicht in die Schrift gewährt hast. Ich hätte gerne über diese und andere Fragen auf Stahleck 152 mit Dir gesprochen; aber es war einfach unmöglich für mich zu kommen. Nun hoffe ich auf eine andere Gelegenheit, Dich zu sehen. Herzliche Grüße Dein Ernst Huber NR. 33 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 2. Juni 1953 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 121 Lieber Rudolf Huber! Ich danke Dir schön für Deine Stellungnahme, die mir recht wichtig ist. Die Einwände grundsätzlicher Art, die Du mir machst, sind mir einleuchtend und entsprechen auch eigenen Überlegungen, die ich schon angestellt hatte. Andererseits sage ich mir aber, dass es wünschbar ist, die Möglichkeit einer monarchischen Lösung überhaupt zu diskutieren, um sie so ins Bewusstsein zu heben. Denn die Alternative dazu ist, dass sonst gar nichts geschieht. Und wenn ich den preussischen Prätendenten vorschlage, dann deshalb, weil ohne die Nennung eines Namens die ganze Sache abstrakt akademisch bliebe. Über die Chancen baldiger Realisierung habe ich ähnlich skeptische Vorstellungen wie Du. Herzlichen Dank jedenfalls. Anliegend übersende ich Dir als kleinen Dank zwei Sonderdrucke, die Dich vielleicht interessieren. 153 Hoffentlich sehen wir uns in absehbarer Zeit mal wieder, mündlich lässt sich doch alles viel besser ausdrücken. Es gäbe nach all den Jahren mancherlei zu besprechen. Noch eine Bitte: Hast Du nicht vielleicht wieder einmal einen Beitrag für meine ZRGG? Wir sind zwar mit Artikelsendungen reichlich gesegnet, aber ich

151 Vgl. zu der Vielzahl (letztlich erfolgloser) dynastischer Erneuerungsbestrebungen Joachim Selzam, Monarchistische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Erlangen-Nürnberg 1994. 152 Burg Stahleck in Bacharach, Ort des Jahrestreffens des Freideutschen Kreises 1953. 153 Im Nachlass Hubers nicht überliefert.

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würde sehr gerne einmal wieder etwas aus Deiner Feder bringen. 154 Überlege es Dir mal und schreibe mir gelegentlich darüber. Herzliche Grüsse und alles Gute stets Dein Sch NR. 34 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 15. Juni 1954 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 123 Lieber Huber! Ich habe Dir vor einem guten halben Jahr die Arbeit von Dr. Gunst über das Souveränitätsproblem 155 zugeschickt mit der Bitte um kurze Besprechung (wenige Zeilen genügen) für die ZRGG. Der Autor mahnte mich wiederholt. Sei doch so gut und schreibe das mal zwischendurch. Vorige Woche war ich übrigens bei unserem Freunde Kirsch in Marburg zu Besuch. Es scheint ihm recht gut zu gehen. Und Dir? Wie geht es Dir? Man hört leider überhaupt nichts; gib mal Laut. Mit den besten Grüssen bin ich Dein Sch NR. 35 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 6. November 1955 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 125 NEUE ANSCHRIFT Freiburg i. Br. In der Röte 2 Prof. Dr. Ernst Rudolf Huber

154 Huber kam der Bitte in der Folge nicht nach. 155 Dietrich Wilhelm Gunst, Der Begriff der Souveränität im modernen Völkerrecht. Eine wissenschaftliche Analyse, Berlin 1953.

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NR. 36 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Freiburg, 28. Januar 1957 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 127 Lieber Jochen Schoeps, hast Du wohl die Freundlichkeit, mir einen Dienst zu tun? Wieviele Studenten hatte die Universität Erlangen wohl im Jahr 1805? Ich habe die Zahlen für die anderen preußischen Universitäten; aber Erlangen fehlt mir. Die Erlanger Universitätsgeschichte von Deuerlein 156 ist hier leider nicht vorhanden. Ich brauche die Angabe sehr dringend für die Korrekturen meiner „Verfassungsgeschichte“ 157, da Bd. 1 (bis 1830) gesetzt wird. Durch eine möglichst umgehende Antwort würdest Du mich sehr verpflichten. Friedel Kreppel schrieb mir neulich wegen unseres Zusammentreffens in Frankfurt. Ich hätte an dem Gedankenaustausch gern teilgenommen. Denn der deplorable Eindruck freideutschen Spiessertums vom letzten Pfingstfest treibt mich noch sehr um. Und durch den Altenberger Anfang haben wir ja doch Verantwortung auf uns genommen für diese Fehlentwicklung. Doch ist das ein weites Feld. Und unter der Flut von Fehlentwicklungen ist diese freideutsche ja noch verhältnismäßig harmlose Natur, wenngleich für uns besonders kränkend. Man sollte sich öfter sehen! Vielleicht doch bald einmal irgendwo zwischen Berg und Meer? Herzliche Grüsse Dein Ernst Huber NR. 37 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 1. Februar 1957 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 127 Lieber Ernst Huber, die von Dir gewünschte Zahl für 1805 ist 216 immatrikulierte Studenten 158, wovon 56 mit Karzer bestraft wurden.

156 Ernst Deuerlein, Geschichte der Universität Erlangen in zeitlicher Übersicht, Erlangen 1927. 157 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957, 2. Aufl. 1967. 158 Huber nahm die Angabe in den Wilhelm Michael Kirsch gewidmeten Band auf, vgl. S. 285 des Nachdrucks der 2. Aufl., Stuttgart 1990.

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Auch ich würde es sehr begrüssen, wenn wir uns endlich einmal wiedersehen. Friedel Kreppel hat Pfingsten für das geplante Treffen ins Auge gefasst. Willst Du nicht mal wieder für die ZRGG etwas beisteuern? Eine Kurzanzeige über die Dissertation Souveränität von [Gunst] steht von Dir noch aus. Mit herzlichen Grüssen Dein Sch NR. 38 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 28. April 1958 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 131 Lieber Ernst Rudolf Huber, in den Semesterferien habe ich Deine Deutsche Verfassungsgeschichte Band I159 durchstudiert. Ich habe den Wunsch, dieses Werk in meiner Privatbibliothek zu besitzen, nicht nur in der unseres Seminars. Aber DM 59.-- ist mir zu teuer. Kannst Du mir das Werk zum Autorenrabatt zur Fortsetzung bei Deinem Verlag bestellen? Ich wäre Dir dankbar. Von meiner kleinen Schrift „Konservative Erneuerung“ 160 habe ich Dir vom Verlag Klett ein Exemplar zusenden lassen, weil Dich der Inhalt vermutlich interessieren wird. Auf mein „Anderes Preußen“161 wirst Du wohl bei Deinen Vorarbeiten zu Band II gestoßen sein. Benutze aber bitte nur die 2. Auflage, die 1957 im Verlag Dr. Hans Peters, Honnef/Rhein erschienen ist. Kommst Du nach Herborn 162, ich würde mich freuen. Mit herzlichen Grüßen Dein Sch

159 Vgl. Anm. 157. 160 Hans-Joachim Schoeps, Konservative Erneuerung. Ideen zur deutschen Politik, Stuttgart 1958. 161 Vgl. Anm. 69. 162 Ein Freideutsches Treffen fand 1958 nicht statt, möglicherweise handelte es sich dabei um eine Tagung der Gesellschaft für Geistesgeschichte.

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NR. 39 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Wilhelmshaven-Rüstersiel, 2. Juni 1958 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 210 Lieber Jochen Schoeps! Sehr herzlich danke ich Dir für Deine beiden Briefe, sowie für die Zusendung Deiner Schrift „Konservative Erneuerung“ und der 2. Auflage Deines Buches „Das andere Preussen“. Ich bin sehr gerne mit dem von Dir vorgeschlagenen Tausch gegen den 1. Band meiner „Verfassungsgeschichte“ einverstanden, der Dir vom Verlag zugegangen ist. Ich freue mich sehr über das Interesse, das Du an diesem Buche nimmst. Ich sitze z.Zt. mit Eifer an dem 2. Band 163, und für ihn ist das „Andere Preussen“ mir von höchstem Nutzen. Wir sind uns, nehme ich an, trotz Deiner Vorliebe für Gerlach darin einig, dass es sehr verfehlt sein würde, eine Antithese Bismarck kontra Gerlach aufzurichten und dabei Bismarck mit der Machtstaatsidee, die Gerlachs mit der Rechtsstaatsidee gleichzusetzen. Solche ideologischen Fronten helfen uns nicht weiter. Aber ich renne bei Dir sicher offene Türen ein, indem ich das ausspreche. Die Konzeption Deines Buches ist für mich sehr eindrucksvoll, und ich habe auch im einzelnen sehr viel daraus gelernt und noch zu lernen. Auch die Schrift „Konservative Erneuerung“ 164 beschäftigt mich sehr. Es sollte wieder einmal eine Gelegenheit geben, sich über dieses Kernproblem unserer Zeit zu unterhalten! Leider bin ich durch das Hin und Her zwischen Freiburg und Wilhelmshaven 165 jetzt mit meiner Zeit so in Anspruch genommen, dass ich mir Extratouren gar nicht mehr leisten kann. Daher war es mir zu meinem Bedauern auch unmöglich, die Einladung zu Deiner geisteswissenschaftlichen Arbeitstagung anzunehmen. Ich möchte mich aber für die Einladung noch einmal ausdrücklich und besonders bedanken. Mit herzlichen Grüssen Dein Ernst Huber

163 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, Stuttgart 1960. 164 Schoeps, Konservative Erneuerung (wie Anm. 160). 165 Von 1957 bis 1962 lehrte Huber an der Hochschule für Sozialwissenschaften WilhelmshavenRüstersiel, danach bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1968 an der Universität Göttingen.

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NR. 40 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Wilhelmshaven-Rüstersiel, 25. Januar 1959 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 133 Lieber Jochen Schoeps! Ich möchte nicht länger darüber schweigen, daß ich mit dem Obmann des Freideutschen Kreises R.R. Beer 166 in einem Briefwechsel über die Rechtmäßigkeit des gegen Dich ergangenen angeblichen „Spruchs“ des Ehrengerichts stehe. Ich will Dich mit der Zusendung meiner Schriftstücke nicht belästigen, sondern will für jetzt nur sagen, daß ich diesen Spruch nicht als rechtmäßig und infolgedessen auch nicht als rechtswirksam ansehe. Ob ich mir im Freideutschen Kreis angesichts der dort herrschenden verschwommenen Mentalität damit Gehör verschaffen kann, weiß ich nicht. Aber ich werde in dieser Sache keine Ruhe geben. Soviel darüber! 167 Im Zuge meiner verfassungsgeschichtlichen Arbeiten bin ich erst jetzt zu einem sorgfältigen Studium des „anderen Preußen“ gekommen. Es ist ein großartiges Buch, hat in der neuen Auflage noch ausserordentlich gewonnen und ist für meine eigene Arbeit eine wahre Fundgrube. Ich werde einen Abschnitt über den Konservativismus im Vormärz, an dem ich gerade schreibe, sehr wesentlich auf Dein Buch stützen können 168 und freue mich ganz besonders über diesen geistigen und moralischen Kontakt zwischen uns. Daß mit diesem Buch über die Position Bismarcks noch nicht das letzte Wort gesagt ist, ist sicher auch Deine Meinung.

166 Rüdiger Robert Beer, s. Anm, 51. 167 Schoeps wurde die homoerotische Annäherung an den minderjährigen Sohn eines Mitglieds des Freideutschen Kreises zur Last gelegt, weswegen ein Ehrengerichtsverfahren gegen ihn eröffnet wurde. Hubers Schriftwechsel mit Mitgliedern des Freideutschen Kreises in diesem Streitfall ist in einem eigenen Faszikel in seinem Nachlass überliefert (BA Koblenz, N 1505/880: „Freideutscher Kreis. – Fall Hans-Joachim Schoeps“). Auf 60 Blatt ist darin das in den Jahren 1958 und 1959 zwischen den führenden Mitgliedern des Kreises geführte Streitgespräch um die Frage überliefert, ob Schoeps wegen der Nichtanerkennung des Ehrengerichts ausgeschlossen werden solle. Es stand dabei nicht die seinerzeit nach Paragraph 175 StGB strafbewährte Handlung an sich im Mittelpunkt, sondern Schoeps’ Weigerung, das Gremium, dem er selbst angehörte, als befugt anzusehen. Auch Huber erkannte den Spruch vom 1. Februar 1958 nicht an, sondern setzte sich für Schoeps ein (Huber an Beer am 12. Oktober 1958 und am 1. Januar 1959; Huber an Lemberg am 15. Dezember 1959). Wie sehr es Huber angesichts der formaljuristischen Argumentation um die Rehabilitierung von Schoeps oder nur um die Einhaltung der rechtlichen Normen oder um eine Verbindung von beidem ging, bedarf der Interpretation, wird aber nicht eindeutig zu klären sein. 168 In der dem Kapitel IV. vorangestellten Bibliographie findet sich „Das andere Preußen“ als fünftneueste Veröffentlichung am Ende der Auflistung. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, (wie Anm. 164), 325.

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Aber für die Position der Gerlachs, Stahls und Wageners 169 ist es ganz hervorragend, wobei mir selbst gerade auch an Wagener sehr viel liegt, der in vielem eben doch der Fortsetzer meines eigenen „Heros“ Lorenz v. Stein gewesen ist. Als Anmerkung nur eine Kleinigkeit: Es ist an drei Stellen die Rede davon, Clemens Brentano 170 sei Konvertit gewesen. Das ist von Dir natürlich nicht wörtlich gemeint, kann von eiligen Lesern aber mißverstanden werden. Brentano war von Anfang an katholisch; aber natürlich ist es durchaus gerechtfertigt, bei ihm von einer „inneren Konversion“ zu sprechen. Es handelt sich als nur darum, den Leser, soweit er unkundig ist, vor einem Mißverständnis zu bewahren. Ich hoffe, wir sehen uns einmal! Herzliche Grüße Dein Ernst Rudolf Huber NR. 41 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 25. Oktober 1960 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 135 Lieber Ernst-Rudolf Huber! Eben habe ich den Band 2 Deiner „Deutschen Verfassungsgeschichte“ angeblättert und den lebhaften Wunsch, denselbigen zu besitzen. Band 1 hast Du mir netterweise im Austausch gegen „Das andere Preußen“ dediziert. Jetzt möchte ich das gleiche gegen mein neuestes Buch „Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie als Geistesgeschichte“ 171 vorschlagen. Ich hoffe, daß wir uns in Hofgeismar 172 sehen. Bis dahin alles Gute und freundliche Grüße gez. Hans-Joachim Schoeps (nach Diktat abgereist; f. d. R. -Kohl-)

169 Hermann Wagener (1815–1889), Jurist, Chefredakteur der Neuen Preußischen Zeitung und sozial-konservativer Politiker. 170 Clemens Wenzeslaus Brentano de La Roche (1778–1842), Schriftsteller und neben Achim von Arnim der Hauptvertreter der sogenannten Heidelberger Romantik. 171 Hans-Joachim Schoeps, Was ist der Mensch? Philosophische Anthropologie als Geistesgeschichte der neuesten Zeit, Göttingen 1960. 172 Es handelte sich dabei mutmaßlich um eine in der Evangelischen Akademie Hofgeismar abgehaltene Tagung.

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NR. 42 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, Göttingen, 25. Juni 1963 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 133 Lieber Jochen Schoeps, herzlichen Dank für Deinen Brief vom 7. Juni. Ich bin gern bereit, Deine angezeigte Publikation zu besprechen, wenn eine Zeitschrift mich darum angeht. Ich selbst kann mich nicht gut darum bemühen. Ich könnte mir aber denken, daß z.B. die neue Zeitschrift „Der Staat“ (Schriftleiter Dr. Roman Schnur 173, Heidelberg) bereit sein würde, mir die Rezension zu übertragen, wenn man es ihr nahelegt. Allerdings möchte ich bitten, daß in einem etwaigen Schreiben an die Zeitschrift nicht schon erwähnt wird, daß ich mich zu der Rezension bereit erklärt hätte. Das könnte nach einer unziemlichen Pression aussehen, die uns ja fern liegt. Der Band III der „Verfassungsgeschichte“ 174, nach dem Du fragst, wird zum Herbst erscheinen, der ihm zugeordnete Band 2 der „Dokumente“ 175 etwa in einem Jahr. Mit herzlichen Grüßen Dein Ernst Rudolf Huber NR. 43 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 27. Juni 1963 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 143 Lieber Ernst Rudolf Huber! Besten Dank für Deine Bereitschaft, meinen Gerlach-Quellenband 176 besprechen zu wollen. Ich habe Herrn Schnur in Deinem Sinne angefragt, wie Du aus beiliegender Kopie ersehen kannst. 177

173 Roman Schnur (1927–1996), Staatsrechtler. 174 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart u. a. 1963. Das Vorwort der ersten Auflage ist datiert „Ende Juli 1963“. 175 Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Stuttgart 1964. Das Vorwort der ersten Auflage ist datiert „im Januar 1964“. 176 Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.), Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805–1820, Berlin 1963. Eine Rezension der Anthologie durch Huber konnte nicht nachgewiesen werden. 177 Ein Schreiben an Schnur ist nicht erhalten, dafür eines an Ernst-Wolfgang Böckenförde, den seinerzeitigen Schriftleiter der Zeitschrift „Der Staat“, vom 1. Juli 1963, in: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 143.

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Mit herzlichen Grüssen Dein Sch NR. 44 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 9. Dezember 1965 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 153 Lieber Ernst Rudolf Huber! Könntest Du mir einen großen Gefallen tun und bei der Feststellung der Quellen anliegender Aussprüche behilflich sein. Sie kommen alle in meiner neuen „Preußischen Geschichte“ 178 vor. Vor Jahren habe ich mir die Quellen auch notiert, aber die Belege sind verloren gegangen. Das ist der Rest, den ich bis jetzt nicht nachweisen konnte. Vielleicht weißt Du den Ursprung des einen oder anderen Zitates. Mit herzlichem Dank für die Bemühungen bin ich mit freundlichen Grüßen Sch NR. 45 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, Erlangen, 8. April 1976 Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 659 Lieber Ernst Rudolf Huber! Ich bin sehr froh darüber, daß nach so langen Jahren der Unterbrechung der Kontakt zwischen uns wieder geglückt ist. Wir sehen mit Vergnügen Deinem Vortrag Ende Oktober ds. Jahres entgegen und Dein Vorschlag der Zweiteilung entspricht völlig unseren Intentionen. Es ist erfreulich, daß auch Du diese Teilung von der Sache her für möglich hältst. Auf gesundes Wiedersehen, Dein Jochen Schoeps

178 Hans-Joachim Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 1966.

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NR. 46 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps 179, Menzenschwand, 20. Juni 1976 Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 659 Lieber Hans Jochen Schoeps! Bei der Rückkehr von einer Griechenland-Reise finde ich die vom 24. Mai datierte Einladung zur Teilnahme an der Tagung in Erlangen am 2./3. Juli vor. 180 Zu meinem großen Leidwesen bin ich an diesen Tagen durch eine Verpflichtung gebunden, die ich jetzt, wenige Tage vor dem Termin, nicht mehr rückgängig machen kann. Ich muß deshalb bitten, meine Nicht-Teilnahme zu entschuldigen. Darüber hinaus aber hat sich leider ergeben, daß ich, entgegen meiner Hoffnung, mit dem Druckfertigmachen des Manuskripts der Verfassungsgeschichte Bd. V 1, nicht termingerecht zu Streich gekommen bin. Ich war in den letzten Monaten so stark durch die Korrekturen der Edition „Staat und Kirche“ Band II181 (vornehmlich den Kulturkampf umfassend) in Anspruch genommen, daß ich die Arbeiten am Manuskript der „Verfassungsgeschichte“ erneut vernachlässigen mußte. Um die dem Verlag gegebene Zusage einigermaßen einhalten zu können, muß ich mich in den nächsten Monaten nun wirklich ausschließlich der langwierigen Schlußredaktion des verfassungsgeschichtlichen Manuskripts widmen. Ein Referat für Hofgeismar zu übernehmen, wie ich zugesagt hatte, wird mir daneben unmöglich sein. Ich will gern, wenn ich bis dahin mit der Verfassungsgeschichte zu Ende gekommen bin, in Hofgeismar sein, muß aber bitten, mich von dem zugesagten Referat zu entbinden. 182 Eine Lücke wird dadurch ja auch kaum entstehen, da Herr Novotny das Thema für den Vormärz behandeln wird. 183 Mit sehr herzlichen Wünschen für die Vorbesprechung und mit guten Grüßen, auch an die Teilnehmer der Erlanger Tagung Dein

179 Adressiert an die Gesellschaft für Geistesgeschichte e. V. 180 Das Tagungsthema lautete „Romantik, Restauration, Vormärz 1815–1830 (I)“. 181 Ernst Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hrsg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Staat und Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutionalismus und des Kulturkampfs (1848–1890), Berlin 1976. 182 Der Vortrag war angekündigt mit dem Titel: „Staat und Kirche 1815–1830“. Huber nahm an der Tagung nicht Teil. Vgl. SBB PK, NL 148, Kasten 88, Teilnehmerliste, Romantik, Restauration, Vormärz I: 1815–1830, 19. Jahrestagung der Gesellschaft für Geistesgeschichte. 183 Alexander Novotny (1906–1986), österreichischer Historiker. Sein Vortragstitel lautete: „Staat und Kirche im Vormärz“.

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NR. 47 Ernst Rudolf Huber an Hans-Joachim Schoeps, ohne Ortsangabe, ohne Datum Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 659 Lieber Hans Jochen Schoeps! Erlaube mir bitte, das Schreiben vom 20. Januar 184 wegen Hofgeismar auf diese Weise ausführlicher zu behandeln. Ich war in diesen beiden Monaten, neben der ständigen Arbeit am fünften Band der „Verfassungsgeschichte“ vor allem mit den Korrekturen des Bandes II von „Staat und Kirche“ beschäftigt; Du weißt aus Erfahrung, wie zeitraubend und zermürbend eine solche Edition ist; ich bitte um Nachsicht, daß ich in dieser Zeit nicht zu der ausführlichen Antwort gekommen bin, die ich Dir und der „Gesellschaft für Geistesgeschichte“ schulde. Ich darf vorausschicken, daß ich die Arbeiten von Hofgeismar von Anfang an mit großer Teilnahme verfolgt habe und daß ich es mir nur mit Rücksicht auf meine eigene zeitliche Belastung versagt habe, den wiederholten freundlichen Einladungen zu folgen. Ich sitze sozusagen seit Jahren in Klausur, um endlich die Verfassungsgeschichte zu Abschluß zu bringen; ich habe mir geschworen, nichts mehr zu übernehmen, solange ich nicht mit diesem monströsen Vorhaben über den Berg bin. Ich habe nun noch das Ärgste vor mir: den Abschluß und das Druckfertigmachen der beiden Halbbände, in die ich den Band V zerlegen muß. Das wird mich noch rund zwei Jahre kosten – wenn es gut geht! Du wirst verstehen, daß es mir nicht leicht ist, auf Deine Aufforderung zu erwidern; denn eigentlich müßte ich mich an meinen Schwur halten und bitten, auf meine Mitwirkung zu verzichten. Ich muß mir jedoch sagen, daß es auch andere Pflichten gibt, als die eidlich bekräftigten. Wenn ich überhaupt zu dem von Dir geleiteten Kreis noch Verbindung gewinnen kann, und daran ist mir gelegen, so erscheint mir die jetzt gebotene Möglichkeit die letzte zu sein. Ich verbinde deshalb mit dem Dank für die mich ehrende Aufforderung die Erklärung meiner Bereitschaft zur Mitarbeit an dem in Aussicht genommenen Thema. Auch zur Teilnahme an der Vorbesprechung in Erlangen bin ich gern bereit. Ich nehme an und halte es auch für unumgänglich, das Thema „Staat und Kirche“, wie dies für die andern Themen vorgesehen ist, zeitlich mit der Zäsur 1830 zu teilen, also auf der Herbst-Tagung 1976 nur die Jahre 1815–1830 zu behandeln. Das reißt zwar Zusammengehörendes auseinander (etwa den MischehenKonflikt, den Unionsstreit und anderes); hat aber doch auch den Vorteil, daß die Epoche bis 1830 in Darstellung und Diskussion nicht von vornherein im Licht der späteren Konflikte steht – wie ja überhaupt alles Geschichtsverständnis dadurch getrübt ist, daß man den (meist schlimmen) Ausgang der Dinge kennt, während 184 Gemeint ist der 20. Juni, siehe Dokument 46, in dem die Tagung von Hofgeismar behandelt wird.

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der „Zeitgeist“ von der Vielfalt und der Offenheit der Chancen bestimmt war. Doch dies nur nebenbei! Friedrich Kreppel war gerade bei mir, und wir haben die Frage Hofgeismar dabei auch kurz besprochen. Ich gebe ihm, Dein Einverständnis voraussetzend, eine Durchschrift dieses Briefs. Mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen Dein NR. 48 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, Erlangen, 18. Oktober 1976 Bundesarchiv Koblenz, N 1505, Nr. 659 Lieber Ernst Rudolf Huber! Hab vielen herzlichen Dank für den neuen Band II der Edition „Staat und Kirche“ 185, der ja gerade in meinen besonderen Interessenraum fällt. Ich habe aus Deinen Büchern immer sehr viel gelernt. Als kleines Dankeschön erhältst Du gleich nach Erscheinen noch im November den Band I meiner neuen „Deutschen Geistesgeschichte der Neuzeit“. 186 Auch dies wird ein fünfbändiges Werk und wohl manches enthalten, was auch Dich interessieren wird. Schön wäre es, wenn Du diesmal doch nach Hofgeismar kommen könntest. Mit herzlichen Grüßen Dein Hans Joachim Schoeps NR. 49 Hans-Joachim Schoeps an Ernst Rudolf Huber, [Erlangen], 14. März 1977 Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, NL 148, Ordner 275 Lieber Ernst Rudolf Huber! Ich hoffe, Du bist inzwischen in den Besitz meiner „Deutschen Geistesgeschichte der Neuzeit“ gelangt und das Buch gefällt Dir. Heute habe ich eine Frage an Dich, weil ich annehme, daß nur Du sie beantworten kannst. Sie ergibt sich aus der Fortsetzung meiner Forschungen. Ich meine 185 Vgl. Dok. 47. 186 Hans-Joachim Schoeps, Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit, Bd. 1: Das Zeitalter der Reformation, Mainz 1977.

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die Devise des aufgeklärten Absolutismus: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“. 187 Wer hat das wohl formuliert? Irgendwo stieß ich auf den Namen Karl Friedrich v. Moser 188 und habe Einiges von ihm gelesen (nicht alles), wurde aber nicht fündig. Vielleicht kannst Du mir helfen. Neuerdings bin ich bei solchen Sachen sehr mißtrauisch geworden, denn am Ende ist es womöglich nur die geschickt abkürzende Formulierung eines Universitätsprofessors des 20. Jahrhunderts. Herzliche Grüße Dein Sch Ulf Morgenstern ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-von-BismarckStiftung, Friedrichsruh. Daniel Benedikt Stienen ist wiss. Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin.

187 Zugespitzter Leitsatz der Reformen Kaiser Josephs II. (1741–1790), reg. 1765–1790. 188 Friedrich Karl von Moser (1723–1798), Staatswissenschaftler.

DAS GLOBALE LEBEN DES BERNHARD EUNOM PHILIPPI 1811–1852 Ein Naturaliensammler zwischen Preußen und Chile Ingo Löppenberg Kurzfassung: Der Aufsatz stellt mit Bernhard Eunom Philippi eine in Deutschland eher unbekannte Persönlichkeit in den Vordergrund, dessen Biographie das Engagement des Preußischen Staates verdeutlichen soll, mit Hilfe der finanziellen Unterstützungen von Sammlungsreisen eine Sammlung von Naturalien in Berlin aufzubauen, die denen in London und Paris ebenbürtig waren. Dabei werden hier die verschiedenen Handlungsoptionen des Sammlers im Feld aufgezeigt, die er als agent nutzen konnte, um die finanziellen Förderungen durch den Staat zu erhalten. Demgegenüber werden die Optionen der preußischen Behörden als principal aufgezeigt, die Handlungen des agent im Feld zu kontrollieren und zu bewerten. Bisher nicht verwendete Quellen ergänzen und erweitern zusätzlich zu dieser Fragestellung die Biographie von Bernhard Eunom Philippi und die Geschichte der Preußisch-Chilenischen Beziehungen im Vormärz.

Bernhard Eunom Philippi gehört zu den in Deutschland eher unbekannten historischen Persönlichkeiten. In Chile hingegen erinnern an ihn verschiedene Monumente an Stationen seines Lebensweges. In Puerto Varas steht ein Gedenkstein mit einer Inschrifttafel, die an die Ansiedlung von deutschen Siedlern am Llanquihue-See erinnern. Eine zweite Inschrifttafel, die 2015 vom Deutsch-Chilenischen Verein gestiftet wurde, erinnert an „[d]em Förderer unserer Einwanderung aus Deutschland“. 1 In Puerto Montt steht eine Gedenkwand mit einem Bronzerelief, das Bernhard in chilenischer Uniform zeigt, und zum Gedenken seines 100. Todestages 1952 aufgestellt wurde. 2 An seinen Tod erinnert ebenfalls eine Inschrifttafel an jener Stelle, an der Bernhard 1852 in seiner Funktion als chilenischer Gouverneur getötet wurde. 3 Hintergrund aller dieser Monumente ist die Erinnerung an die Funktion Bernhard Eunom Philippis als Kolonisator und Auswanderungsagent der Chilenischen Regierung und als Beamter des chilenischen Staates. 1 2 3

https://www.alamy.com/stock-photo-puerto-varas-chile-november-11-2015-monument-in-me mory-of-bernardo-100612401.html [13.08.2019]. https://www.monumentos.gob.cl/monumentos/monumentos-publicos/bernard-eunom-philippi [13.08.2019]. https://condorzeitung.wordpress.com/2013/11/24/streit-um-ein-denkmal/ [13.08.2019].

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Auch in Deutschland konzentrierten sich die Forschungen vornehmlich auf Philippis staatliche Ämter. Neben einigen Kurzbiographien 4 behandeln längere Untersuchungen schwerpunktmäßig seinen Anteil an der Einwanderung von Deutschen nach Chile. Bei diesen Untersuchungen muss eine ältere Literatur von Deutsch-Chilenen, welche im Zeitraum von 1910 bis 1950 entstand, und Studien um das Deutsche Auswandererwesen zur Zeit des Nationalsozialismus von einer aus den 70er Jahren stammenden sozialgeschichtlichen Forschung unterschieden werden. 5 Im Kontext der Gruppe der älteren Literatur erschien 1938 sogar ein NSJugendbuch mit dem Titel „Bernardo Philippi oder die Begegnung mit der wilden Erde“, welches von Veit Bürkle alias Karl Heinrich Bischoff verfasst wurde und noch 1942 eine zweite Auflage erhielt. 6 Erst seit kurzem wird auch auf seine Bedeutung als Sammler von Naturalien verwiesen. 7 Diese Tätigkeit behandelt der vorliegende Aufsatz. Er fragt entlang der Biographie Bernhard Eunom Philippis nach den Bedingungen des Sammelns auf Reisen, nach der Vernetzung Bernhards mit den wissenschaftlichen Institutio4

5

6 7

Uta Lindgren, Philippi, Bernhard, in: Neue Deutsche Biographie 20/2001, 392–393. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/.html [13.08.2019]; Wolfgang Crom, Philippi, Bernhard Eunom, in: Thomas Adam (Ed.), Germany and the Americas. Culture, Politics and History. A multidisciplinary Encyclopedia Volume 3 O–Z, Santa Barbara 2005, 880– 882; Dietmar Henze, Philippi, Bernhard Eunom, in: Ders. (Hrsg.), Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. Band 4 Pallegoix–Saposchnikow, Darmstadt 2011, 97–98. Zur ersten Gruppe gehören: Georg Schwarzenberg, Oberstleutnant Bernhard Eunom Philippi. Sein Leben und sein Wirken, in: Geschichtliche Monatsblätter. Quellensammlung und Beiträge zur Geschichte der Deutschen Einwanderung nach Chile 1 H.4/1916, 37–52; KurtBauer-Ose, Bernhard Eunom Philippi. Seine deutsche Sendung im Lande Chile, in: Hans Joachim Beyer/Otto Lohr (Hrsg.): Große Deutsche im Ausland. Eine volksdeutsche Geschichte in Lebensbildern, Stuttgart 1939, 115–125; Emil Held W., Bernhard Eunom Philippi und die deutsche Besiedlung Suedchiles, in: ders./Helmut Schuenemann/Claus von Plate (Hrsg.), 100 Jahre deutsche Siedlung in der Provinz Llanquihue. Festschrift, Santiago de Chile 1952, 13–34. Zur zweiten Gruppe gehören: George F.W. Young, Bernardo Philippi. Initiator of German Colonization in Chile, in: The Hispanic American Historical Review 51/1971, 478– 496; ders., Germans in Chile. Immigration and Colonization 1849–1914, New York 1974; Jean-Pierre Blancpain, La tradition paysanne allemande au Chile. La colonie de Llaanquihue (1850–1920), in: Cahiers des Amériques Latines. Serie Sciences de l'homme 4/1969, 3–43; ders., Les allemands au Chile (1816–1945), Köln 1974; ders.: Origines et caractères des migrations germaniques en Amérique latine au XIXe siècle, in: Jahrbuch für Geschichte von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft Lateinamerikas 25/1988, 349–383. Siehe dazu Alan R. Kabat/Eugene V. Coan, The Life and Work of Rudolph Amandus Philippi (1808–1904), in: Malacologia 60/2017, 1–30, 20. Regine I. Heberlein, Writing a National Colony. The Hostility of Inscription in the German Settlement of Lake Llanquihue, Amherst 2008, 89–112; Stefanie Gänger, Colecciones y Estudios de Historia Natural en las Colonias de Llanquihuey y Valdivia, c. 1853–1910, in: Historia 396/2011, 77–102; Kabat/Coan, Life and Work, 17. In der Auflistung von Brigitte Hoppe „Deutsche Naturforscher in Südamerika im 19. Jahrhundert“ taucht Philippi nicht auf, vgl. Brigitte Hoppe, Nach dem Vorbild Humboldts in Südamerika: Erweiterung der Kenntnisse und Erkenntnisse durch deutsche Naturforscher, in: Ottmar Ette/Walther L. Bernecker (Hgg.), Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu Alexander von Humboldt, Frankfurt am Main 2001, 195 –218, 215–218.

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nen und staatlichen Behörden in Preußen und den ökonomischen Zwängen und schicksalhaften Zufällen, die die Handlungen des Naturaliensammelns lenkten. Im Zentrum steht folglich die agency, verstanden als Handlungskompetenz, Bernhard Eunom Philippis gegenüber seinem Auftraggeber, den Berliner Institutionen, und den principals, im globalen Kontext, der hier explizit als die transozeanischen Verbindungen zwischen Preußen und Chile verstanden wird. 8 Dieser Blick auf die Praxis des Sammelns von Naturalien und der mit ihr verbundenen Handlungen, die auch die Finanzierung durch den preußischen Staat in den Blick nimmt, soll versuchen, die von George F.W. Young aufgestellte These, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Bernhards Sammelreisen in Chile und seinen Kolonisationsversuchen dort gab, neu zu bewerten. Für Young war es wahrscheinlich, dass Bernhard den Kontakt nach Berlin und eine Förderung seiner Reisen nur deshalb forcierte, um in Chile weiterhin seine Kolonisationsversuche durchzuführen. Seine Tätigkeiten in Chile seit 1841, explizit auch seine naturhistorischen Sammelreisen, seien immer auf dieses Ziel gerichtet gewesen. 9 In dieser Analyse stimmte Regine I. Heberlein Young bei. Für sie ist es ebenfalls deutlich, dass „Philippi´s colonialist endeavors grew logically out of his scientific explorations.“ 10 In diesem Aufsatz hingegen wird diese These vom Kopf auf die Füße gestellt. Die von Bernhard für die chilenische Regierung durchgeführten Kolonisationsversuche erwuchsen aus der Notwendigkeit heraus, sich nach mehreren Fehlschlägen in eine ökonomische Lage zu versetzen, um die Schulden in Berlin, die er durch Naturalien abbezahlen wollte, zu tilgen. Auch gab es keinen „contract“, wie es Young und ihm folgend, Heberlein, schreiben, 11 die Bernhard verpflichteten für die preußische Regierung geographisches Wissen in der Form von Karten und Aufsätzen in der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin zu veröffentlichen, um so imperiale oder kolonialistische Projekte vorzubereiten. Die bisherige Deutungshoheit Bernhard Eunom Philippis als Kolonisator in Chile bedingt sich nicht nur aus der Memorialkultur, sondern in hohem Maße in den bisher verwendeten Quellen. Hauptsächlich wurden bisher Archivalien aus Chile verwendet, wie zum Beispiel die Erinnerungen seines Bruder Rudolf Amandus Philippi (1808–1904). 12 Für den vorliegenden Aufsatz wurden erstmalig 8

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, der unter dem Titel „Schicksal und Zwang, Ökonomie und Zufall. Handlungsoptionen im globalen Leben des Bernhard Eunom Philippi 1811– 1852“ an der Universität Köln im Rahmen der Ringvorlesung „oftmals kommt es anders, als man plant…Akteure, Pläne und deren Nebenwirkungen in der europäischen Geschichte“ im Jahr 2016 gehalten wurde. Ich bedanke mich herzlich bei Prof. Jürgen Elvert für die Gelegenheit dazu. Zum Verhältnis von agency und principal vgl. Dietmar Rothermund, Organisierte Handlungskompetenz: Europas Entwicklung und die außereuropäische Welt, in: Harald Fischer-Tiné (Hrsg.): Handeln und Verhandeln. Kolonialismus, transkulturelle Prozesse und Handlungskompetenzen, Münster 2002, 1–10, hier 1. 9 Young, Germans, 32–33. 10 Heberlein, Writing, 89. 11 Ebd., 94; Young, Germans, 33. 12 Vgl. zur Biographie neben Kabat/Coan, Life and Work auch Gerd Wunder, Die Brüder Bernhard Eunom Philippi, 1811–1852, und Rudolf Amandus Philippi, 1808–1904, in Chile, in:

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hauptsächlich die Aktenbestände der Berliner Institutionen, der Auftraggeber Philippis, herangezogen. Als besonders wertvoll erwiesen sich dabei die Bestände des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. 13 Diese Bestände in Berlin verdeutlichen, auch dies zeigt das Beispiel Bernhards, dass in Preußen bereits sehr früh ein großes Interesse an der Erforschung der überseeischen Welt außerhalb Europas vorhanden war, ohne dass es konkrete kolonialistische oder imperiale Projekte gab. Weder kann die Rede davon sein, dass wegen „[d]er mangelhaften finanziellen Unterstützung entsprechend […] viele Naturhistoriker mit keinerlei Verständnis oder Anerkennung oder gar zweckentsprechender materieller Unterstützung für ihr Vorhaben rechnen“ 14 konnten, noch, dass die Förderung von naturhistorischen Reisen „sich in den Naturwissenschaften nur auf wenige durch die Akademie der Wissenschaft getragene Expeditionen beschränkte.“ 15 Gerade das Beispiel von Bernhard zeigt, dass die zur Verfügung gestellten Förderungssummen groß waren und mehrere Institutionen (Ministerien, König, verschiedene Sammlungen, wissenschaftliche Gesellschaften, Familie) an dem Prozess auf verschiedenste Arten involviert waren. Gerade für den Wettkampf um Prestige, welches sich in seltenen Stücken in den Sammlungen der europäischen Hauptstädte manifestierte, war die Sendung von Reisenden nach Übersee eine zentrale Handlungsoption für die preußischen Institutionen in der Wissenschaftspolitik und dies bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 16

13 14 15 16

ders. (Hrsg.), Lebensläufe. Bauer, Bürger Edelmann, Band 2, Sigmaringen 1988, 359–373; Eberhard Schrader, Rudolph Amandus Philippi 1808–1904. Leben und Werk, in: Philippia 11/2004, 321–334. Die Erhebung erfolgte im Rahmen eines Gerda-Henkel-Stipendiums von 2011–2013. Ich bedanke mich bei der Gerda-Henkel-Stiftung für die Gewährung des Stipendiums. Hoppe, Vorbild, 203. Annelore Rieke-Müller, Der Löwe brüllt nebenan. Die Gründung Zoologischer Gärten im deutschsprachigen Raum 1833–1869, Köln u.a. 1998, 237. Vgl. allgemein zu dem internationalen Wettkampf um Prestige Ingo Löppenberg, Aus dem Dschungel um die Welt zum Nordpol – Preußens und Österreichs wissenschaftlicher Wettkampf um Prestige anhand von Forschungsexpeditionen im 19. Jahrhundert, in: Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.), Auf den Weg in den Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947, Berlin 2018, 155–168. Zu Sammlern von Naturalien für die Berliner Zoologische Sammlung vgl. allgemein Carsten Kretschmann, Räume öffnen sich. Naturhistorische Museen in Deutschland des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, 171–184 und als Fallbeispiel Sabine Hackethal/Frank Tillack, Im Auftrag Preußens: Friedrich Sellow in Brasilien (1814–1831), in: Axel Kwet/Manfred Niekisch (Hgg.): Amphibien und Reptilien der Neotropis. Entdeckungen deutschsprachiger Forscher in Mittel- und Südamerika, Rangsdorf 2016, 64–79. Dieser Wettkampf um Prestige galt auch für Forschungsreisen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften siehe dazu Ingo Löppenberg, „Schätze für die Bibelkunde“. Die Orientreisenden Johann Martin Augustin Scholz und Constantin von Tischendorf im Feld neuzeitlicher Wissenschaften, in: Forum Vormärz Forschung 20/2014, 219–236.

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JUGENDJAHRE UND WELTREISE 1811–1832 Bernhard Eunom Philippi wurde am 19. September 1811 in Charlottenburg bei Berlin geboren. Sein Vater war der Geheime Rechnungsrevisor und Rechnungsrat der Oberrechenkammer zu Berlin, Wilhelm Eberhard Philippi (1761–1836), der bereits seit 1806 in dritter Ehe mit Bernhards Mutter Anna Maria Krumwiede (1775–1833) verheiratet war. Der aus Hamm stammende Sohn eines Schneiders und Teilnehmers an den Befreiungskriegen hatte aus zwei früheren Ehen bereits fünf Kinder. Bernhards älterer Bruder Rudolph Amandus Philippi war bereits am 14. September 1808 ebenfalls in Charlottenburg bei Berlin geboren worden. Obwohl der Vater katholisch war, wurden beide Kinder evangelisch getauft. Wilhelm begann später ein Verhältnis mit einer Magd der Familie, was nicht zu einer Scheidung führte, da die Mutter von Rudolph und Bernhard „über die Heiligkeit der Ehe sehr strenge Begriffe hatte“, wie es Rudolph 1898 in seinen Lebenserinnerungen formulierte. Am Ende war aber das Verhältnis zwischen den Ehepartnern ein „freundliches“, was sich positiv auch auf die Brüder auswirken sollte, die aber nun unter der Obhut der Mutter standen. 17 Anna Maria sorgte für eine breite, humanistische Ausbildung ihrer Söhne. Sie brachte beiden das Lesen mit Hilfe von Homers „Illias“ und dem Werk „Cid“ von Johann Gottfried Herder bei. Anna zog mit den beiden Söhnen 1818 nach Yverdon in die französische Schweiz, wo die Brüder eine nach den Grundsätzen von Pestalozzi lehrende Schule besuchten. Vier Jahre bis 1822 blieben sie dort, dann wurde die Schule geschlossen. Rudolph formulierte es rückblickend: „Ihr verdanken wir ganz allein, was wir geworden sind […].“18 In Berlin besuchten die Brüder zunächst gemeinsam das Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster. Doch für Bernhard war diese Schulform nicht die richtige. Rudolf schrieb dazu in seinen Lebenserinnerungen 1898: Mein Bruder Eunom Bernhard […] war in vielen Beziehungen sehr verschieden von mir. Ich war ein schwächliches Kind, er dagegen sehr robust und von bedeutender Muskelkraft. Eine natürliche Folge dieser Verschiedenheit war, daß ich Anlage zum Lernen und zum häuslichen Studieren hatte während ihm das Stillsitzen in der Schule nicht behagte, so daß er immer ziemlich schlechte Zensuren nach Hause brachte, namentlich für das Lateinische und Griechische. 19

Erst ein Schulwechsel Bernhards zum Realgymnasium brachte hierin Besserung: Erst als er vom Gymnasium weggenommen war und in das Berliner Realgymnasium […] eintrat, änderte sich die Sache. Er interessierte sich sehr für Zeichnen, Mathematik, Physik und Chemie, […]. Er sprach in den späteren Jahren fließend außer dem Französischen, das er in der Pestalozzischen Anstalt gelernt hatte, auch Englisch und Spanisch, aber freilich nicht immer nach den Regeln der Grammatik. 20

Bereits in diesen Jahren wurden verschiedene Elemente bei Bernhard deutlich, die ihn später als Sammler in preußischem Auftrag prädestinieren sollten. Seine na17 18 19 20

Die Zitate nach Schrade, Rudolph, 322. Ebd. Zur Biographie siehe Wunder, Brüder, 359; Kabat/Coan, Life and Work, 2. Wunder, Brüder, 359. Ebd.

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türliche Körperkraft, seine Sprachbegabung und seine praktischen Fähigkeiten waren es, die ihm später auch von Berliner Gelehrten bescheinigt wurden. Nach dem Realgymnasium wollte Bernhard seinen natürlichen Neigungen und dem Rat des Vaters folgend Ingenieuroffizier werden und begann bei den Gardepionieren in der preußischen Armee. Da er aber bei der Prüfung zum Offizier scheiterte, ergriff er eine vollkommen andere Richtung und wurde Seemann in der preußischen Handelsmarine und heuerte auf der PRINCEß LOUISE an. 21 Im Deutschen Vormärz war Preußen keine militärische Seemacht. Mit der Königlichen Preußischen Seehandlung besaß es unter dem Präsident Christian von Rother (1778–1849) aber ein Instrument zur Wirtschaftsförderung, deren Aufgabe auch die Förderung von überseeischen Handelsbeziehungen für die preußischen Industrie- und Gewerbezweige bildete. Dazu wurden Schiffe zunächst gechartert und dann später im eigenen Auftrag gebaut. Diese Schiffe fuhren besonders häufig nach Nord- und Südamerika, versuchten aber auch den preußischen Handel mit China zu stimulieren. 22 Eines dieser Schiffe war die 1825 von der Seehandlung gekaufte Vollschiff PRINCEß LOUIS, gebaut auf der Werft von Sager in Vegesack/Bremen im Jahr 1824 mit 393 Bruttoregistertonnen. Dieses Schiff umsegelte in preußischen Diensten sechsmal den Planeten, fuhr viermal nach Westindien (Karibik), dreimal nach Rio de Janeiro (Brasilien) und ebenfalls dreimal nach New Orleans (USA). 1846 wurde es verkauft. 23 Als Bernhard 1830 auf dem Schiff anheuerte wurde es gerade für seine zweite Weltumsegelung ausgerüstet. Die von Burmester aus den Akten veröffentlichte Mannschaftsliste der Besatzung verzeichnet allerdings keinen Bernhard Eunom Philippi, listet aber einen gewissen „Philip Emonsen“ aus Berlin auf, der als „Junge“ für 4 Taler Heuer im Monat aufgeführt wird. 24 Da es mit dem Schiffsarzt Meyen einen zuverlässigen Augenzeugen für die Teilnahme von Bernhard an der Weltreise gibt, ist dies höchstwahrscheinlich Bernhards Eintrag. Dr. Franz Julius Meyen (1804–1840) reiste auf der PRINCEß LOUISE als Schiffsarzt mit. 25 Er hatte vom preußischen Staat den Auftrag bekommen auf die21 Ebd., 360. 22 Siehe dazu Wolfgang Radtke, Die preussische Seehandlung zwischen Staat und Wirtschaft in der Frühphase der Industrialisierung, Berlin 1981; ders., Die Preußische Seehandlung, in: Wolfgang Kirchner, Bankier für Preußen. Christian Rother und die Königlich-Preußische Seehandlung, Berlin 1987; Johann F. Meuss, Die Unternehmungen des Königlichen Seehandlungs-Instituts zur Emporbringung des preußischen Handels zur See, Berlin 1913. 23 Heinz Burmester, Weltumsegelung unter Preußens Flagge. Die Königlich Preußische Seehandlung und ihre Schiffe, Hamburg 1988, 24–25; Stefan Hartmann, Unternehmungen der preußischen Seehandlung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel des Schiffs „Prinzessin Louise“, in: Oswald Hauser (Hg.), Vorträge und Studien zur preußisch-deutschen Geschichte, Köln u.a. 1983, 87–150. Ich schließe mich der Schreibweise von Burmester an, da er sich auf den Bielbrief bezieht, siehe Burmester, Weltumsegelung, 38. 24 Ebd., 43. Young schreibt, dass Bernhard als „cabin boy“ an der Reise teilnahm. Young, Bernardo, 479. 25 Burmester, Weltumsegelung, 41–42. Zur Biografie vgl. Petra Werner, Franz Julius Ferdinand Meyen: gefördert und frühvollendet. Zwischen Poesie und totem Zoo, in: HiN. Internationale

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ser Weltreise Naturalien für die Sammlungen der Hauptstadt Berlin zu sammeln. Meyen war 1804 in Tilsit geboren worden. Nach einer Ausbildung zum Apotheker zog er nach Berlin, um dort Medizin zu studieren. Der Kontakt mit namenhaften Naturforschern wie dem Botaniker Heinrich F. Link (1767–1851), dem Afrikareisenden und Vorsteher der Zoologischen Sammlung Martin Hinrich Karl Lichtenstein (1780–1857) und dem Anatomen Karl Asmund Rudolphi (1771– 1832) übten einen großen Einfluss auf Meyen aus. 26 Er selbst erhoffte sich unzweifelhaft einen Karriereschub durch diese Reise. Er musste allerdings zustimmen, seine naturwissenschaftlichen Tätigkeiten jederzeit zugunsten seiner ärztlichen Aufgaben einzuschränken. Außerdem war er vollkommen abhängig vom Kapitän Johann Wilhem Wendt (1802–1847), da dieser nicht verpflichtet war, die Route des Schiffes für wissenschaftliche Zwecke zu ändern. Dafür zahlte die Seehandlung nicht nur die Fahrt, Unterbringung und Logis auf dem Schiff, sondern auch eine Heuer von 300 Taler. 27 Dennoch reichte dieses Geld nicht aus. Das Anlegen der Naturaliensammlungen hatte große Summen verschlungen. Meyen selbst hatte wohl 5.600 Taler ausgegeben, wovon die Preußische Seehandlung ihm 3.582 Taler, 4 Silbergroschen und 3 Pfennige bezahlt hatte. 28 Neben der mitgebrachten Sammlung wollte Meyen nun einen Reisebericht der Weltumsegelung veröffentlichen, ein Projekt, das den Beifall des Kultusministers Karl vom Stein zum Altenstein (1770–1840) fand: „Eine solche Beschreibung der Reise eines Preußischen Schiffes um die Welt ist noch nicht erschienen und es lässt sich von dem Dr. Meyen erwarten, daß solche auf einen, dem Preußischen Staate würdigen Art erfolgen wird.“ Dies sollte auch explizit als Dank für die von Dr. Meyen eigens aufgebrachte Summe für die Naturaliensammlungen angesehen werden: „Dem viel versprechenden jungen Mann wird dabei zugleich Gelegenheit zu Theil werden, seinen Ruf als Naturforscher zu begründen und sich in dieser Beziehung fernerer Verdienste um den Staat und die Wissenschaft zu erwerben.“ Altenstein bat den König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) einmalig um 1.500 Taler und anschließend 500 Taler auf zwei Jahre für Dr. Meyen und seinen Reisebericht. 29 Tatsächlich bekam er im Anschluss nicht nur die 2.500 Taler aus dem Königlichen Dispositionsfonds für das Verfassen eines Reiseberichtes 30 mit dem Titel „Reise um die Erde ausgeführt auf dem Königlich preussischen Seehandlungsschiffe Prinzess Louise, commandirt von Captain W. Wendt, in den Jahren 1830,

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Zeitschrift für Humboldt-Studien XVIII, 34/2017, 147–164; Irmgard Müller, Botanische und zoologische Ergebnisse der Weltumsegelung Franz Julius Meyens 1830–1832, in: Harald Lorenz (Hg.), Beiträge zur neueren Geschichte der Botanik in Deutschland, Stuttgart 1988, 265–282. Ebd., 267–268. Hartmann, Unternehmungen, 99; Müller, Ergebnisse, 266–267. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (=GStAPK) I. HA Rep. 89 Nr. 21361, Kultusminister Altenstein an den König Friedrich Wilhelm III., Berlin 25.10.1832, o.p. Ebd. GStAPK, I. HA Rep. 89 Nr. 21361, König Friedrich Wilhelm III. an Kultusminister Altenstein, Berlin 18.11.1832, o.p.

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1831 und 1832“ zugesprochen, sondern er wurde auch 1834 außerordentlicher Prof. der Botanik an der Universität zu Berlin. Er verstarb allerdings jung 1840. Die Begegnung mit Dr. Meyen veränderte Bernhards Leben grundlegend. Meyen nahm ihn mindestens bei einer seiner naturhistorischen SammelExkursionen mit. Am 28. März 1831 ritten Dr. Meyen und Bernhard in Arica/Peru los. Die Provinz Arica gehörte damals noch zu Peru und wurde erst nach dem Salpeterkrieg 1879–1884 chilenisch. Meyen schrieb dazu in seinem Reisebericht: „Unser Freund, der Capitain Wendt, war so gütig und erlaubte, dass ein junger Mann von unserer Schiffsmannschaft, mit Namen Philippi, der auf dieser Reise der Prinzes Louise seine Carriere als Seemann anfing, uns begleiten durfte.“ 31 Die Reise selbst führte von Arica über Tacna zum Titicacasee und von dort weiter über Arequipa zum Hafen Islay, wo die PRINCESS LOUISE warten wollte.32 Bei dieser längeren Forschungsreise war es Dr. Meyen nicht möglich gewesen alle seine Instrumente und Sammlungs-Utensilien mitnehmen zu können, da deren Transport zu teuer gewesen wäre. 33 Außerdem bemängelte Dr. Meyen in einem Bericht nach Berlin die fehlende Bereitschaft der lokalen Behörden und der Bevölkerung ihn zu unterstützen: Hier hat man keine Begriffe von Menschen, die die schrecklichen Beschwerden bei der Übersteigung der Cordillere überstehen, bloß um Blumen zu suchen, Schmetterlinge zu fangen und Steine zu sammeln, die ihnen nur im Wege liegen. Wer nicht als Handelsmann kommt, ist hier ebenso verdächtig wie im Innern von Afrika […]. 34

Trotz dieser Widrigkeiten wird er im jungen Bernhard sicherlich die Begeisterung zum Sammeln von Naturalien geweckt haben und ihm auch bereits die verschiedenen Techniken des Sammelns, des Bearbeitens und der Konservierung der aus den drei Reichen (Pflanzen, Tiere, Mineralien) stammenden Naturalien gezeigt haben. Bereits von dieser Weltreise schickte Bernhard jedenfalls 1831 in Weingeist eingelegte Amphibien an die Zoologische Sammlung in Berlin. 35 Auch sammelte er auf den Sandwich-Inseln, heute Hawaii, einige Muscheln, die dann später von seinem Bruder Rudolf, der zwischenzeitlich Medizin studiert hatte und selbst 1830 auf einer Forschungsreise in Sizilien war, wissenschaftlich bearbeitet und veröffentlicht wurden. 36 Neben verschiedenen Naturalien brachte Bernhard 31 Franz Julius Meyen, Reise um die Erde ausgeführt auf dem Königlich preussischen Seehandlungsschiffe Prinzess Louise, commandirt von Captain W. Wendt, in den Jahren 1830, 1831 und 1832. Historischer Bericht Erster Theil, Berlin 1834, 436. 32 Die Reise von Arica bis zum Titicaca-See in Ebd., 436–493. Die Reise vom See nach Islay in Franz Julius Meyen, Reise um die Erde ausgeführt auf dem Königlich preussischen Seehandlungsschiffe Prinzess Louise, commandirt von Captain W. Wendt, in den Jahren 1830, 1831 und 1832. Historischer Bericht Zweiter Theil, Berlin 1835, 1–48. 33 Meyen, Reise Erster Theil, 436. 34 Bericht Dr. Meyen an Kultusminister Altenstein, Lima 20.05.1831 zit. n. Hartmann, Unternehmungen, 110. Vgl. Müller, Ergebnisse, 269. 35 Siehe dazu die Aktenstücke in Museum für Naturkunde Berlin, Historische Schrift- und Bildgutsammlungen, Bestand: Zool. Mus., Signatur: S I Philippi, E. B. Die dort enthaltenen Schriftstücke sind von der Forschung noch nicht verwendet worden. 36 Kabat/Coan, Life, 20.

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auch einige Artefakte aus Peru mit. „Herr Philippi“ legte diese in einer Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1834 oder 1835 vor. Sie stammten aus einem altperuanischen Grab bei Arica und er „begleitete die Vorzeigung mit Bemerkungen. Das größte Interesse erregte unter diesen Gegenständen ein Maiskolben als Beweis des Vorhandenseyns dieses Gewächses in Amerika, vor der dortigen Ankunft der Europäer.“ 37 Dies zeigt, dass Bernhard tendenziell bereit war, nicht nur naturhistorische Gegenstände zu sammeln, sondern sein Angebot auch auf kulturhistorische Dinge erweitern konnte. Dadurch war er in der Lage für mehrere Institutionen über die Grenzen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften hinweg zu sammeln, was seine Chancen auf eine finanzielle Förderung steigerte. Allerdings zeigte sich bereits auf dieser frühen Exkursion, wie zerbrechlich die Naturalien waren und wie die Gefahren einer solchen Reise nicht nur eine Bedrohung für die menschlichen Teilnehmer, sondern auch für die Sammlungsgegenstände waren. „Wir sammelten hier viele schöne Käfer, die sich unter den größeren Steinen aufhielten, doch leider sind später, durch den Sturz meines Begleiters mit seinem Pferde, alle die Insekten verloren gegangen, welche wir von Puno an bis zu den Altos de Toledo gesammelt hatten.“ 38 Die wertvollen Naturalien waren durch einen schicksalhaften Unfall unwiderruflich zerstört worden. Ein Umstand, der sich wie ein roter Faden durch das Sammlerleben von Bernhard ziehen sollte. SEEFAHRTEN UND RÜCKKEHR NACH CHILE 1832–1840 Im Jahr 1832 legte die PRINCEß LOUISE im April wieder in Hamburg an. Bernhard wurde Seekadett und erhielt eine Ausbildung in Danzig und Hamburg, bis er schließlich das Steuermannspatent erwarb. Von Danzig aus fuhr er auf der JOHANN FRIEDRICH Mitte 1833 nach St. Petersburg. 39 Im November 1834 reist er als „Dritter Steuermann Philippi“ erneut unter Kapitän Wendt auf der Princeß Louise nach New Orleans und kam im März 1835 zurück nach Hamburg. 40 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Bernhard auch die nächsten beiden Reisen der PRINCEß LOUISE in die Karibik als Steuermann begleitete. Vom Juni 1835 bis August 1836 segelte das Schiff zweimal auf der Route Hamburg-Havanna. 41 1837 war Bernhard als dritter Steuermann wieder auf der PRINCEß LOUISE Richtung Südamerika unterwegs. Und erneut traf er einen Naturforscher, der als 37 Zweite jährliche Übersicht der Thätigkeit der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin vom 03. Mai 1834 bis 02. Mai 1835 von dem zeitigen Director H. Lichtenstein vorgetragen am 02. Mai 1835, Handschriften-Lesesaal der Staatsbibliothek Berlin, Nachl. Nr. 339 Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Kasten 1 Nr. 1, o.p. Unter Einschluss der Reisen Bernhards auf der PRINCEß LOIUSE bliebe Mai-Oktober 1834 oder April-Mai 1835 als Zeitraum möglich. 38 Meyen, Reise Zweiter Theil, 8. 39 Held, Bernhard, 14. 40 Hartmann, Unternehmungen, 122–124. 41 Ebd., 125–126.

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Schiffsarzt mitreiste, der seinem Leben eine neue Wendung geben sollte, Dr. Carl Segeth (?–1890). Carl war Sohn eines Bergsteigers aus Tarnowitz in Schlesien und arbeitete als Compagnie-Chirurgus in Spandau. Er konnte mehrere Referenzen aufweisen, die ihn zu dieser Forschungsreise befähigten. Kultusminister Altenstein schrieb über Segeths doppelte Funktion als Bordarzt und als Naturaliensammler an Präsident von Rother: Was seine medizinisch-chirurgischen Kenntnisse anbetrifft, so hat er von seinen Studien, wie von seinen Dienstjahren her, die besten Zeugnisse, und hinsichtlich seiner Qualifikation als Sammler und Beobachter hat er auf früheren Landreisen gezeigt, wie viel er mit geringen Mitteln zu leisten versteht, indem sein Vater durch seine Bemühungen eine nicht geringe ornithologische Sammlung besitzt; 42

Segeths eigentliches Ziel sollten die Philippinen sein. Der König gewährte eine Reiseunterstützung von 1.600 Taler auszahlbar in zwei Tranchen in Höhe von 800 Taler über zwei Jahre. 43 Das Kultusministerium gewährte ergänzend 100 Taler aus dem Fonds für Höhere Unterrichtsanstalten. 44 Auf den Philippinen kam Segeth aber nicht an, denn bereits in Valpariso verließ er mit Bernhard und einem weiteren Matrosen das Schiff. Eigentlich hatten Segeth und Bernhard beschlossen, gemeinsam ein Handelsgeschäft mit Naturalien zu gründen. Doch Segeth selbst entschied sich für die Heirat mit einer reichen chilenischen Witwe und ließ sich als Arzt in Valparaiso nieder. Bernhard selbst musste allein die Naturalien erjagen, sammeln, konservieren und verpacken. Aufgrund dieser Entwicklung und dadurch, dass er goldene Uhren, die Bernhard mit Gewinn verkaufen wollte, um in Chile unabhängig Reisen zu können, nicht verkauft hatte, gerieten sie in Streit und beide trennten sich. Es kam sogar zu einer Duellforderung. 45 Bernhard versuchte sich daraufhin im Zeitraum von 1837 bis 1838 in den verschiedensten ökonomischen Tätigkeiten. Er arbeitete als Goldwäscher, als Gründer einer Fabrik für Pottasche und als Farmer für Mais und Züchter von Papageien. Doch alles blieb erfolglos und eine schwere Krankheit zwang ihn, sich aus dem peruanischen Hochland an die Küste im Süden Chiles zu begeben. 46 Dort nun rüstete Bernhard eine eigene Sammlungsreise per Boot aus. Er wollte das Archipel von Chiloë und die Chonos-Inseln erforschen und Naturalien sammeln. Er konzentrierte sich also auf das, was er von Dr. Meyen und Dr. Segeth gelernt hatte, eine Tätigkeit, in der er ausreichende Erfahrung besaß, und mit der er hoffen konnte, seinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Über die Reise führte er ein Tagebuch, das sein Bruder Rudolf für ihn nach seiner Rückkehr als Grundlage für einen Bericht an die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin verwende42 Kultusminister Altenstein an Präsiden von Rother, Berlin 08.10.1836, zit. n. Hartmann, Unternehmungen, 127. 43 GSTAPK I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 2 Titt. 23 LITT A Nr. 25, König Friedrich Wilhelm III. an das Kultusministerium, Berlin 10.12.1836, 16. 44 GSTAPK I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 2 Titt. 23 LITT A Nr. 25, Das Kultusministerium an Dr. Segeth, Berlin 31.10.1836, 9. 45 Hartmann, Unternehmungen, 133–134; Young, Germans, 32. 46 Ebd.; Heberlein, Writing, 96; Wunder, Brüder, 362.

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te. Rudolf, inzwischen ein anerkannter Wissenschaftler in Deutschland, eröffnete mit seinem wissenschaftlichen Prestige seinem Bruder erneut den Zugang zur wissenschaftlichen Gemeinschaft und den mit ihr verbundenen Fördernetzwerken. Nach dem mehrjährigen Fernbleiben Bernhards in Chile musste er erst in Preußen wieder in Erinnerung gerufen werden. Dabei durften nicht seine ökonomischen Misserfolge im Zentrum stehen, sondern seine Befähigung als Naturaliensammler. Dies war die Intention für den veröffentlichten Bericht. Dieser schildert, wie Bernhard mit einem Walfischboot, einem Franzosen und zwei Peonen (indigenen Ruderern) das Archipel von Chiloë erforscht hatte. Die „Nachrichten“ hatte Rudolf „aus dem ausführlichen Tagebuch meines Bruders geschöpft, welcher nach einem dreijährigen Aufenthalt in Peru und Chili, um dort Naturalien einzusammeln, jetzt glücklich mit dem größten Theil seiner Sammlungen wieder in der Heimath angelangt ist, um sich zu einer neuen Reise der Art vorzubereiten.“ 47 Das „ausführliche Tagebuch“ sollte Sorgfältigkeit in der Verzeichnung der Naturalien demonstrieren und dass Bernhard „mit dem größten Theil seiner Sammlung wieder in der Heimath angelangt“ war, die Erfolgsaussichten für die neue Reise hervorstellen. Ergänzt wurde dies um die Tatsache, dass der Leiter der zoologischen Sammlung Lichtenstein in der Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde „über Herrn Philippi´s, dem Königl. Museum überlassene Sammlungen, insbesondere über die Eigenthümlichkeiten der Fauna“ 48 sprach. Rudolf schilderte nicht die „zum Theil interessanten Jagdabentheuer“, sondern gab eine Rettungsaktion seines Bruders wieder, die diesen als zupackenden, energischen, ja heldenhaften Reisenden zeigten, der sich und seine Gefährten aus einer lebensbedrohlichen Situation rettete. Nur sein beherztes Eingreifen habe das leckgeschlagene Boot vor dem Abdriften von der Gruppe abgehalten, die sonst auf einer Klippe ohne Ausrüstung gefangen gewesen wäre. Dies zeigte, dass Bernhard ein erfahrener Reisender war, der es auch in brenzligen Situationen verstand, Ruhe zu bewahren und das Blatt zum Guten zu wenden. 49 Außerdem verfasste Bernhard selbst eine Zusammenfassung seiner Reiseerlebnisse unter dem Titel: „Naturgeschichtliche Betrachtungen der von 1836/1840 unternommenen Reisen in Peru, Chile und Argentinien“. 50 Diese lag aber nur handschriftlich vor und es ist nicht sicher, wer davon Kenntnis nahm. Aber sowohl diese Handschrift als auch der veröffentlichte Bericht und die mitgebrachten Naturalien an die Berliner Museen verdeutlichen, dass es Bernhards hauptsächli-

47 Herr Lehmann las: Einige Nachrichten über den Archipel von Chiloë und die Chonos-Inseln, aus dem Tagebuche von Hrn. E. B. Philippi ausgezogen und mitgetheilt von Hrn. Dr. R. A. Philippi, in: Monatsberichte über die Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 2/1840, 40–48, 40. 48 Ebd., 48. 49 Ebd., 46. 50 In Ibero-Amerikanisches Institut, Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlass Philippi. Für die Sammlungsreisen Bernhards ist dieser Bestand noch nicht benutzt worden, siehe dazu https://www.iai.spk-berlin.de/bibliothek/nachlaesse/einzelnachlaesse/ phillipi-bernhard-eunom-1811-1852.html [21.08.2019].

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ches Ziel war, sich innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft Preußens zu bewegen und als Naturaliensammler nach Chile zurückzukehren. DER SAMMELAUFTRAG AUS BERLIN 1840–1841 Die Rückkehr nach Deutschland 1840 und das baldige Rühren der Werbetrommel Bernhards und seines Bruders bei den preußischen Behörden und den wissenschaftlichen Gemeinschaften um eine finanzielle Förderung für eine erneute Sammlungsreise nach Chile, produzierte zunächst viel Papier für die Akten. Bernhard besuchte selbst Berlin und sprach bei verschiedenen Wissenschaftlern vor. Er schrieb Ende Juli außerdem direkt an das Kultusministerium. 51 Dabei bat er um eine nicht bezifferte „Unterstützung“ für eine Reise nach Südamerika. Er verwies auf seine Erfahrung im Reisen, besonders auf die im preußischen Auftrag durchgeführte Weltumsegelung. Auch schilderte er den Umstand, dass er zusammen mit Dr. Meyen den Titicaca-See besucht und zu den Kordilleren gereist sei. 52 Sein ehemaliger Reisegefährte Dr. Meyen stellte ihm im August 1840 ein sehr gutes Zeugnis aus. 53 Auch Johann Friedrich Klotzsch (1805–1860), der Leiter des Botanischen Museums Berlin, sprach sich positiv über Bernhard aus. Er verwies dabei auf Nachrichten von einem Herrn A. H. Rodbertus aus Manila, mit dem Bernhard mehrere Exkursionen bei einer seiner Weltumsegelungen gemacht habe. 54 Dennoch musste Bernhard lange warten. Erst im Oktober wurde sein Antrag an den König weitergeleitet. In einem gemeinsamen Antrag schrieben der Kultusminister Adalbert von Ladenberg (1798–1855) und der Finanzminister Albrecht von Alvensleben (1794–1858) an König Friedrich Wilhelm IV. (1795– 1861). Sie baten um eine finanzielle Reiseunterstützung für Bernhard. Zunächst beschrieben sie seine Persönlichkeit und seine körperliche Konstitution als Erfolgsfaktoren: Von Charakter erscheint er, nach allen inzwischen eingeholten Zeugnissen, durchaus liebenswerth; seinen von Natur festen Körper hat er durch zehnjähriges Reisen noch mehr abgehärtet, hat sich Gewandtheit in den am meisten verbreiteten Sprachen erworben, und sein Muth, seine Reiselust sind durch eine lange Reihe bitterer Erfahrungen nicht abgekühlt worden. 55

Beide verwiesen auch auf seine Erfahrung als Reisender in dem entsprechenden Zielgebiet, in dem auch darauf verwiesen wurde, dass Bernhard bereits in Peru 51 I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, E. Bernhard Eunom Philippi an das Kultusministerium, Berlin 24.07.1840, 149–151. 52 Ebd. 53 I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Dr. Meyen an das Kultusministerium Berlin 11.08.1840, 154–155. 54 I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Johann Friedrich Klotzsch an Heinrich Friedrich Link, Schoeneberg 16.08.1840, 159. 55 GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Kultusminister Ladenberg und Finanzminister Alversleben an den König Friedrich Wilhelm IV., Berlin 09.10.1840, o.p.

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und Chile für die naturhistorischen Sammlungen gesammelt habe. Ergänzend wurde auch auf die Möglichkeiten zur kulturhistorischen Forschung hingewiesen: „Auch ist er im Zeichnen erfahren, und würde, wo sich etwa auf seinem Wege Spuren und Ruinen alter Gebäude finden sollten, diese aufzunehmen im Stande sein […].“ 56 Letzterer Punkt war besonders in Hinblick auf die historische und archäologische Begeisterung des Königs nicht unbedeutend. Daneben konnten die beiden Minister auch verschiedene Zeugnisse über Philippi vorlegen. So hatte sich zum Beispiel der Weltreisende und ehemalige Reisegefährte Bernhards, Dr. Meyen, sehr positiv über ihn ausgesprochen. Ziel und Zweck der Sammlungsreise Bernhards war es: „den Sammlungen durch besondere Reisende von außen her frischen Zufluß zu verschaffen, um sie auf der Höhe der Wissenschaft erhalten zu können.“ 57 Ein Umstand, der als „dringend nothwendig“ 58 bezeichnet wurde. Sie führten an: Wenn sich die hiesigen Sammlungen, obwohl die jüngste unter ihren Europäischen Schwestern, in den Jahren 1818–1827 so schnell und so sehr gehoben haben, daß sie ebenso wie die Pariser, Londoner u.s.w. bei jeder irgend umfassenden Arbeit zu Rathe gezogen werden müssen, so ist dies nur durch Einsendungen der Reisenden mit verhältnißmäßig viel geringeren Kosten als in irgend einem anderen Lande errichtet worden. 59

Bernhard sollte nun also erneut in Chile und Peru für die Sammlungen in Berlin und den anderen Universitäten im Königreich Preußen sammeln und dafür 1.000 Taler per annum für 2 Jahre erhalten. 60 Der König gewährte die Reiseunterstützung kurz darauf. 61 Das Kultusministerium trug zusätzlich die Kosten in Höhe von 126 Taler für Messinstrumente, die Bernhard auf seiner Reise mitnehmen und benutzen wollte, aus dem Fonds für Höhere Unterrichtsanstalten. 62 Um den Erfolg der Reise abzusichern und damit auch die Investitionen Preußens in das Unternehmen von Bernhard, wurden ihm vom Direktor der Zoologischen Sammlung Lichtenstein mehrere „Instruktionen“ mitgegeben. Neben „schriftlichen Anleitungen“ für die „Zubereitung der eingesammelten Gegenstände“ waren dies Verhaltensregeln für das Verpacken und den Transport der Gegenstände vom 23.11.1840. 63 Punkt 7 bestimmte, dass die Gegenstände möglichst in viele kleine Sendungen verschickt werden sollten. Sie sollten nur nach Häfen in 56 57 58 59 60 61

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Der König an den Kultus- und den Finanzminister Sans-Soucci,08.11.1840, o.p. 62 I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Das Kultusministerium an die Generalkasse, Berlin 14.12.1840, 206. 63 GStAP, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Instruktionen Lichtenstein Berlin 23.11.1840, 70–71, 70v. Diese waren Bernhard bereits im September 1840 gegeben worden, damit er die Techniken wohl üben konnte. „6. In Bezug auf die Zubereitung der eingesammelten Gegenstände wird ganz auf die schriftlichen Anleitungen Bezug genommen, die Herr Philippi bereits vor 2 Monaten uebergeben worden sind.“ Ebd.

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Deutschland, Holland oder Frankreich expediert und nach Berlin weiter verschickt werden, keinesfalls über England. Auch sollten die Gegenstände nur nach dem Ankaufswert beim Zoll angegeben werden, nicht nach dem tatsächlichen Wert. Dies waren Regeln, um die Kosten des Versands niedrig zu halten. 64 Punkt 8 regelte, dass die Sendungen „wohl zubereitet und verpackt“ werden sollten und spätestens alle 6 Monate eine Sendung abgehen sollte. Die Sicherheit der Investition für den Auftraggeber und für Bernhard als agent wurde so im gegenseitigen Interesse garantiert. 65 Der Punkt 9 regelte die Informationspflicht Bernhards gegenüber den preußischen Institutionen: Kurze Berichte, Tagebücher, ungefähre nummerische Verzeichnisse des Gesammelten oder zum mindestens briefliche Benachrichtigungen über die Ausführung des Reiseplans in seinen einzelnen Theilen, nebst Anzeige der weiter vorzunehmenden Expeditionen, dürfen wohl wenigstens aber so oft oder mit jeder irgend vorkommenden Gelegenheit erwartet werden. 66

Zur Sicherheit sollten alle Berichte immer doppelt verschickt werden. 67 Nur dieser beständige Informationsfluss sicherte es dem principal, dass der agent vor Ort ganz in seinem Sinne den Instruktionen gemäß arbeitete. Das mehrmonatige Warten, das eifrige Verfassen von Anträgen und das Einholen von Zeugnissen hatten sich am Ende gelohnt. Bernhard besaß eine große Summe für seine Reise in Höhe von 2.000 Talern, Instrumente im Wert von 126 Taler und hatte umfangreiche Anweisungen für die zu machenden Sammlungen von Lichtenstein erhalten. Von einer geringen finanziellen Ausstattung oder von nur wenigen Expeditionen im Auftrag der Akademie der Wissenschaften kann kaum zu sprechen sein, wobei hier auch auf die Ausstattungen von Dr. Meyen und Dr. Segeth verwiesen werden muss. SCHICKSALSSCHLÄGE UND ENTDECKUNGEN IN CHILE 1841–1849 Nach seiner Rückkehr nach Chile wollte Bernhard umgehend mit dem Sammeln beginnen. Allerdings war er aufgrund seiner verspäteten Abreise in Hamburg im April 1841 von dort erst im Juli in Valparaiso angekommen. Dort machte ihm die Regenzeit schwer zu schaffen. Er schrieb im November einen Brief an den Generaldirektor der Museen Ignaz von Olfers (1793–1871) und schilderte, wie die Regenzeit sein Vorankommen behindere. Er beschloss, die Seen im Department los Llanos zu untersuchen, da diese „selbst den Creolen“ noch unbekannt waren. 68 Von dort hoffte er einige seltene Naturalien nach Berlin schicken zu können.69 Dies zeigt, wie sich Bernhard versuchte gegenüber seinem Auftraggeber abzusi64 65 66 67 68 69

Ebd., 70v–71. Ebd., 70. Ebd., 71. Ebd., 71. Ebd., 67v. I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Abschrift Bernhard Eunom Philippi an Generaldirektor Olfers, Arique 09.11.1841, 67–69.

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chern, was die eigenständige Planänderung betrifft und diesem zugleich zu versichern, dass sich dies nicht negativ auf das Unternehmen auswirken würde, sondern andere, seltene Naturalien verspräche. 1841 bis 1842 bereiste Bernhard die Region um die Provinz Valdivia und „entdeckte“ im Februar 1842 den See Llanquihue. Letztere „Entdeckung“ schilderte nicht er persönlich, sondern er ließ den Bericht von seinem Bruder Rudolf an die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin weiterleiten. 70 In Chile war für Bernhard die Lage sehr schwierig geworden. Sein Bruder blieb die wichtigste Verbindung zu den preußischen Behörden in Deutschland. So übersandte Rudolf einen Auszug aus einem Brief seines Bruders vom April 1842 an den Kultusminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn (1779– 1856): In welcher fürchterlichen Lage befinde ich mich nicht? Ohne einen Heller in der Tasche muß ich von der Gnade meines Freundes (des Dr. Frick aus Berlin) leben, und abwarten, was für Antworten auf meine wiederholten Briefe einlaufen werden. – Meine Haare gehen haufenweise aus, und diese Jahre werden mich über die Maßen alt machen. 71

In Chile hatte der preußische Vertreter in Valparaiso aus Berlin keine Anweisung für eine zweite Rate, die für das Dermoplastik eines Phalcoboenus Chimango gesammelt von Philippi ca. 1838–1852. Fotografie, Museum für Naturkunde, Berlin @Carola Radke, MfN

70 XXXI. Herrn O. [sic!] Philippi´s Excursion nach dem großen Landsee Quetrupe, Pata oder Llanquihue, mit getheilt durch dessen Bruder Herrn Prof. Dr. Philippi an Herrn C. Ritter (Von d. 10. Sitzung), in: Monatsberichte über die Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 4/1843, 190–200. 71 GStAPK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Dr. R. A. Philippi an den Kultusminister Eichhorn, Kassel 20.11.1842, 140. Tatsächlich zeigen ihn alle späteren Portraits aus Chile stets mit Halbglatze, vgl. Held, Bernhard, 12 und Wunder, Brüder, 360.

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Jahr 1842 fällig gewesen wäre, erhalten. Bernhard war also ohne finanzielle Mittel. Dieser Umstand lag paradoxerweise daran, dass auf Bernhards Nachrichten aus Chile, dass er die Reiseroute ändern müsse, die Wissenschaftler in Berlin eine noch größere Reiseunterstützung für Bernhard von den preußischen Behörden erhalten wollten. Generaldirektor Olfers und Direktor Lichtenstein schrieben zwei positive Gutachten über die Reise und den neuen Reiseplan von Bernhard an den Kultusminister Eichhorn. 72 Dieser stimmte sich wiederum mit dem Finanzminister Ernst von Bodelschwingh (1794–1854) ab und beide reichten erneut einen Antrag beim König ein. 73 Sie baten um ein weiteres Jahr Reiseunterstützung in Höhe von 1.000 Taler für Bernhard. In ihrer Argumentation folgten sie seinen Aussagen. Bernhard war viel später als geplant erst im April 1841 nach Südamerika gereist, da er solange in Hamburg auf ein Schiff dorthin warten musste. Erst im Juli war er schließlich in Valparaiso angekommen, wo er aufgrund der Regenzeit kaum seine Instruktionen erfüllen konnte. Daher musste er umdispositionieren und bat um ein weiteres Jahr Reiseförderung. 74 Dies zeigt, wie mächtig der agent im Feld gegenüber seinem principal war, da letzterem Kontrollmöglichkeiten vor Ort nur eingeschränkt, zum Beispiel durch Konsularberichte oder Nachrichten von den Kapitänen der Seehandlungsschiffe, zur Verfügung standen. Der König gewährte die Verlängerung der Reiseunterstützung um ein weiteres Jahr. 75 Sein Bruder Rudolf blieb der Verbindungsmann nach Berlin. Er figurierte als Kommunikationsknotenpunkt, der die Berichte Bernhards vorher filterte und so nur das für die Wissenschaftler in Berlin Interessante weitergab. Statt die Briefe direkt und ohne Redaktion nach Berlin zu schicken, verfasste Rudolf auf den Briefen basierende Berichte. Den ersten Bericht über die Reise Bernhards las Carl Ritter in der Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin am 4. Juni 1842 vor. 76 Für die Herstellung einer naturhistorischen Sammlungen war das schlechte Wetter ein schwer zu kalkulierender Faktor gewesen: „Wegen der ungünstigen Jahreszeit sind die Sammlungen noch nicht so reichhaltig ausgefallen, wie zu wünschen wäre“, doch um mögliche Besorgnisse in Berlin auszuräumen, hieß es sofort im Anschluss: „doch ist schon eine ziemliche Sendung bereit und wartet

72 I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Generaldirektor Olfers an Kultusminsiter Eichhorn, Berlin 22.03.1842, 66; I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Gutachten Lichtenstein die Reise des Bernhard Philippi betreffend, Berlin 07.04.1842, 62–65. 73 I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Kultusminister Eichhorn und Finanzminister von Bodelschwingh an den König, Berlin 14.05.1842 o.p. Vgl. dazu auch den Vorgang in der Akte I. HA Rep. 137, I Nr. 77 Bd. 3. 74 Ebd. 75 I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Der König an Kultusminister Eichhorn und Finanzminister von Bodelschwingh Charlottenburg 30.05.1842, o.p. 76 O.V., IV. Herr C. Ritter gab Nachrichten von Herrn Philippi d. J. neuer Reise in SüdAmerika, nach einem Schreiben seines Bruders, des Herrn Dr. R. A. Philippi, d. d. Kassel, 6. April 1842 in: Monatsberichte über die Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 4/1843, 36–39.

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nur auf die Gelegenheit nach Valparaiso und Hamburg abgeschickt zu werden.“ 77 Die Sammlung umfasste etwa 100 Vogelbälge, worunter mehrere seltene Arten, namentlich verschiedene Exemplare des pflanzenmähenden Rara, Phytotoma Rara, welchen Vogel nach Molina kein Naturforscher wieder beobachtet hat und andere; eine Kiste mit Insecten, Conchylien, Krebsen und Sämereien etc. 78

Deutlich wird hier die Strategie von Rudolf durch die konkrete Nennung der Zahl 100, der Verwendung des Attributes „seltene“ und der Feststellung „kein Naturforscher wieder beobachtet hat“ der Sammlung seines Bruders einen quantitativen und qualitativen Wert zuzuschreiben, der die Förderung der Reise, trotz des ungünstigen Wetters, rechtfertigte. Doch über den Erfolg der Reise Bernhards mussten die Berliner Wissenschaftler entlang der Instruktionen entscheiden. Als Hauptgutachter für die gesammelten Gegenstände figurierte Direktor Lichtenstein. Im Oktober 1842 verfasste er ein Gutachten über die erste Sendung von Bernhard: Die Vögel sind größtenteils im Innern von Chili gesammelt, und meißten seltene Sachen, einige vielleicht ganz neu. Leider haben sie auf dem Transport durch Mottenfraß etwas gelitten, und sind überhaupt nicht mit der gewünschten äußersten Sorgfalt behandelt, die aber auch vielleicht unter den gegebenen Umständen von dem Reisenden nicht zu fordern war. Unter den Insekten ist weniger Neues und Seltenes. Nichts, was sich durch besondere Schönheit auszeichnet. Die Fische und Mollusken sind von den Küsten der Südsee, und auch unter ihnen manche Art, die noch vor einigen Jahren hoch im Preise stand. 79

Der gesamte Wert, ohne die botanischen Gegenstände, lag bei 336 Taler und 4 Silbergroschen. 80 Das Gutachten von Lichtenstein zeigt, dass nicht nur die korrekte Handhabung der Naturalien im Sammeln, erlegen, abbalgen, konservieren und verschicken bewertet wurde, also die handwerkliche Qualität („nicht mit der gewünschten äußersten Sorgfalt“), sondern es auch eine ästhetische Beurteilung der Naturalien gab („durch besondere Schönheit auszeichnet“), die sich auf den Preis auswirkte. Auch verwies er auf die Veränderlichkeit von Preisen auf dem freien Markt („die noch vor einigen Jahren hoch im Preise stand“). Hinzu kam die Quantität der Naturalien in den Sammlungen in den europäischen Hauptstädten („einige vielleicht ganz neu“, „weniger Neues und Seltenes“). Dies waren die Bewertungsfaktoren für den Wert der Gegenstände, die sich so auf die Handlungen von principal und agent auswirkten. Deutlich wird hier außerdem moniert, dass Bernhard nicht den Instruktionen gefolgt sei, auch wenn dies mit „den gegebenen Umständen“ und „Mottenfraß“ teilweise entschuldigt wird. Beide Fälle zeigen, dass die besonderen Umstände (langanhaltender Regen, Schädlingsbefall) für die gesammelten Gegenstände eine Gefahr waren, die weder vom principal noch vom agent vollständig kontrolliert werden konnte. 77 Ebd., 39. 78 Ebd. 79 GStAPK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Bericht Lichtenstein über eine Naturaliensendung von Philippi, Berlin 25.10.1842, 134–135, 134v. 80 Ebd., 135.

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Auch eine zweite Sendung Bernhards befriedigte nicht im vollen Ausmaß. Diese Sendung besaß nur einen Wert von 218 Taler und 3 Silbergroschen. Viele der seltenen Stücke waren allerdings erneut durch Motten beschädigt und teilweise zerstört worden. „Im Ganzen sind wir dem Herrn Philippi das Zeugniß schuldig, daß er es nicht an Fleiß fehlen lässt, und der Weisung, öftere kleinere Sendungen, statt weniger großer zu machen, treulich nachgekommen ist.“ 81 Neben dieser Meinung aus Berlin gibt es noch die Aussauge des Schweizer Naturforschers Johann Jakob Tschudi (1818–1889), der von 1838 bis 1842 Peru bereiste. Dieser schrieb am 24. März 1842 aus Tarna an seinen Jugendfreund Alfred Escher (1819–1882): „Der preuß. Steuermann Hr. Bernhard Philippi reißt in Chile, schade daß er keine gründlichen Prinzipien in irgendeinem Theile der Naturwißenschaften hat um größern Nutzen aus seiner Reise zu ziehen.“ 82 Ein Grund für diese negative Einschätzung liegt sicher in dem unterschiedlichen Selbstverständnis der Reisen: freilich ist es wahr, daß ich ein sammelnder Naturforscher bin, und glaube, daß jeder Reisende in fremden Landen der die möglichst nüzlichen Früchte aus seiner Reise ziehen will, ein solcher sein muß, aber ich glaube das nur ist zu viel, ich fühle mich zu etwas Beßerm bestimmt als zum bloßen Sammeln & habe mir seit dem Anfange meines Unternehmens als heilige Pflicht vorgesetzt, aus der Reihe jener einseitigen & unbedeutenden Reisenden zu treten, die gleich commis-voyageurs, die Natur als Handelsartikel betrachten. 83

Für Tschudi war Bernhard eindeutig ein „commis-voyageur“ im Gegensatz zu ihm selbst, den „sammelnde[n] Naturforscher“. Rudolf hingegen hatte seinen Bruder durch den in seinen Bericht an die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin eingefügten Satz „welchen Vogel nach Molina kein Naturforscher wieder beobachtet hat“ 84 als eben diesen bezeichnet und ihn somit dem studierten Reisenden Tschudi gleichgestellt. Immerhin wendete sich 1843 scheinbar das Blatt für Bernhard in Chile, denn dort hatte er endlich die zweite und die neu bewilligte dritte Rate der Reiseunterstützung erhalten. Er hatte das Jahr 1842 dazu genutzt, sich der chilenischen Regierung anzudienen und hatte im Mai und Juni 1842 seine Erkundungen zu Papier in der Form einer Karte der Region um den See Llanquihue gebracht. Erstmalig legte er der chilenischen Regierung ein Projekt für die Ansiedlung von Deutschen Einwanderern vor, welches diese aber nicht beantwortete. Eine erneute Reise in die Region im Februar und März 1843 führte immerhin dazu, dass Domingo Espiñeira (1812–1880) auf Bernhard aufmerksam wurde. 85 Espiñeira organisierte die chilenische Expedition zur Magellanstraße, um diese Region für Chile in Besitz zu nehmen. Bernhard schloss sich dieser Expedition an, auch in der Hoffnung durch Sammlungen in dieser Region seine Schulden in Berlin begleichen zu kön81 GStAPK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil V A Nr. 1 Bd. 6, Lichtenstein an Kultusministerium, Berlin 31.12.1842, 154–155, 155. 82 Johann Jakob Tschudi an Alfred Escher, Tarma, Donnerstag, 24. März 1842, in: https://www.briefedition.alfred-escher.ch/briefe/B0265/ [21.08.2019]. 83 Ebd. 84 O.V., Ritter Nachrichten, 39. 85 Young, Germans, 35.

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nen. Sein Selbstverständnis wird dadurch deutlich, dass er sich ihr als „naturalista prusiano don Bernardo Philippi“86, so seine Bezeichnung in den offiziellen Dokumenten der Expedition, anschließt. Die Expedition wurde für die chilenische Regierung ein großer Erfolg. Bernhard gelang es sich durch verschiedene Aktionen auszuzeichnen. Doch eine angelegte Naturaliensammlung für Berlin musste auf der Rückfahrt über Bord geworfen werden, um Schiffbrüchige aufzunehmen. 87 Doch immerhin wurde er von der chilenischen Regierung Ende 1843 zum Pionierhauptmann ernannt, was sicherlich eine Art der Genugtuung für Bernhard war, der am preußischen Offiziersexamen gescheitert war. 88 Auch scheint er nun endlich das Geld aus Preußen erhalten zu haben, aber er stürzte sich nicht gleich in eine erneute Reise, sondern versuchte sich mit dem Geld eine sichere Heimstatt aufzubauen, um von dort aus regelmäßig auf Sammlungsreise zu gehen. Zusammen mit dem preußischen Konsul Ferdinand Flindt (unbekannt) gründete er Anfang 1844 eine private Ansiedlungsgesellschaft. Deutsche Siedler aus Valparaiso und aus Hessen sollten sich in dem von Bernhard „entdeckten“ Gebieten ansiedeln. Das Unternehmen scheiterte, da er kaum Vieh kaufen konnte und sein eigenes Gutshaus mehrfach angesteckt wurde. Dabei verbrannte Ende 1845 eine große Sammlung für die Berliner Institutionen, die Bernhard trotz der mühevollen Kolonisierungsarbeit nebenbei noch angelegt hatte. 89 Eine Sammlung über Bord geworfen und eine Sammlung von Brandstiftern angezündet: seine Zukunft erschien Bernhard düster und die Schulden gegenüber den Berliner Institutionen drückten auf seine Schultern. In dieser Zeit sind wohl auch folgende Verse entstanden, die von der Sehnsucht nach der Heimat des in Chile leben Preußen zeugen: Es war mal eine Zeit, wo Bernhard glücklich war; doch die ist gar zu weit, sie kehrt nimmer dar. / Das Trugbild ist verschwunden, er möchte gern zurück, möchte gern gesunden am warmen Liebes-Blick. / Er war im Vater-Haus von Liebenden umringt, er ging zur Welt hinaus, zum Trugbild, das ihm blinkt. / Ja, glaubt mir Armen: hier fern vom Vaterland, hier kennt man kein Umarmen treu wie am Heimatstrand. / Drum lass sich nie bethören, wems Glück zu Haus noch grünt; denn wohl kann ichs beschwören, dass fürchterlich ers sühnt. 90

Bernhard konnte mittellos und ohne Naturalien nicht nach Preußen zurück. Also trat er wieder in den Dienst der chilenischen Regierung. Er wurde 1846 Kapitän im Ingenieurskorps der chilenischen Arme und arbeitete in der Provinz Valdivia als Provinzingenieur. In dieser Zeit legte er keine Naturaliensammlung an und schickte auch keine Nachrichten mehr nach Preußen. Kurz darauf wurde er zum offiziellen Agenten der chilenischen Regierung für die Auswanderung aus 86 Alfonso Aguirre Humeres, Relaciones históricas de Magallanes: la toma de posesión del Estrecho y fundación de una Colonia por la República de Chile en 1843, Santiago de Chile 1943, 180. 87 GStAPK, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VA Nr. 1 Bd. 7, Bernhard Eunom Philippi an Kultusminister, Kassel 18.10.1850, 287–288, 287v. 88 Bauer-Ose, Bernhard, 119. 89 Ebd., 119–120; GStAPK, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VA Nr. 1 Bd. 7, Bernhard Eunom Philippi an den Kultusminister von Raumer, Kassel 18.10.1850, 287–288, 287v. 90 Zit. n. Schwarzenberg, Oberstleutnant, 52.

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Deutschland ernannt. Ein Jahr später stieg er zum Sergeant-Major auf und wurde Berater für Immigration bei Präsident Manuel Bulnes Prieto (1799–1866). Allerdings erarbeitete Bernhard keine weiteren Siedlungsprojekte. Erst im Juli 1848 wurde Bernhard nach Deutschland geschickt, um dort katholische Kolonisten anzuwerben. 91 PREUSSISCHE VERPFLICHTUNGEN UND CHILENISCHER DIENST 1849–1852 1848 war Bernhard zurück in Deutschland und besuchte zunächst seinen Bruder in Kassel. Von dort aus schrieb er mehrere Broschüren für Ansiedlungswillige im Süden Chiles. Den von der chilenischen Regierung ihm überantworteten Auftrag führte er nach bestem Wissen aus. 92 Doch auch seine Verpflichtungen gegenüber der preußischen Regierung hatte er nicht vergessen. Bernhard schrieb am 18.Oktober 1850, also nach fünf Jahren, an das Kultusministerium. 93 In diesem Schreiben erklärte er, warum er bisher nicht in der Lage gewesen war weitere Sendungen nach Berlin zu schicken. Da die zweite Rate der Reiseunterstützung erst zeitgleich mit der dritten angekommen war, konnte er im zweiten Jahr seines Aufenthaltes 1843 nichts für die Berliner Institutionen sammeln, da er andere Arbeiten annehmen musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. 94 Die Sammlungen an Naturalien, die er auf der oben geschilderten Expedition im Auftrag der chilenischen Regierung zur Magellanstraße gemacht hatte, die aufgrund der geringen Schiffskapazität ohnehin nur sehr gering waren, mussten über Bord geworfen werden, um Schiffbrüchige aufzunehmen. 95 Eine neue Sammlung aus der Provinz Valdivia verbrannte in seinem Haus, mit allen seinen anderen Gütern, Ende 1845. 96 Bernhard hatte also nie seine Verpflichtungen gegenüber seinen Auftraggeber vergessen. Allein zwei Unglücke vernichteten seine Möglichkeit, seine Aufgaben zu erfüllen und seine Schulden abzutragen. Anschließend verlor er durch den Konkurs eines Bankhauses sein komplettes Vermögen und musste wieder für die chilenische Regierung arbeiten und wurde im Anschluss daran krank. 97 Dann wurde er beauftragt in Deutschland Kolonisten anzuwerben. In Berlin hatte er sich mit Direktor Lichtenstein getroffen, um von 91 Young, Germans, 55–57. 92 Siehe dazu Young, Bernardo, 489–495. 93 GStAPK, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VA Nr. 1 Bd. 7, Bernhard Eunom Philippi an den Kultusminister, Kassel 18.10.1850, 287–288. Die anderen Briefe von ihm und seinen Bruder Rudolf an das Kultusministerium aus dem Zeitraum 1844–45 in der Akte unter 25–29, 61–62 und 167–168. Ein weiterer Brief von Bernhard an den Kultusminister Eichhorn, Valparaiso 29.01.1844 in Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriftenabteilung: Slg. Darmstaedter, Signatur: Slg. Darmstaedter Amerika 1844: Philippi, Bernardo E., Blatt 3. 94 GStAPK, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VA Nr. 1 Bd. 7, Bernhard Eunom Philippi an den Kultusminister, Kassel 18.10.1850, 287–288, 287. 95 Ebd., 287v. 96 Ebd. 97 Ebd., 287v–288.

Das globale Leben des Bernhard Eunom Philippi 1811–1852

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ihm Instruktionen für weitere Sammlungen zu erhalten. Philippi war bemüht, in seiner neuen Position als Gouverneur seine Verpflichtungen gegenüber dem preußischen Staat zu erfüllen. 98 Ein Angebot, dass der preußische Staat wohlwollend annahm. Nicht nur Bernhard hatte sich bei der Preußischen Regierung gemeldet, auch Dr. Segeth hatte 1850 einen Vorschlag für den Versand von Naturalien aus Chile an die Regierung geschickt. In einem Gutachten von Direktor Lichtenstein dazu wurde auch über Bernhard geschrieben. Lichtenstein verwies auf die Schuld von Bernhard aus dem Jahr 1840, die noch nicht abgetragen worden war und die dieser bei einem Besuch in Berlin gegenüber Lichtstein akzeptiert hatte. Bernhard war bereit weitere Sendungen an die Sammlungen zu verschicken, um die Schulden zu decken. 99 Doch die ehemals lobenden Töne der früheren Anträge waren einer nüchternen Einschätzung gewichen: „Der Major Philippi ist ein durchaus redlicher und verständiger Mann, dem nur die gelehrte Bildung und dasjenige Maß naturhistorischer Kenntnisse fehlen, die ihn zu einem reisenden Sammler befähigen.“ 100 Dennoch hielt Lichtenstein an Bernhard fest. Zum einen ging es um das Land Chile selbst: „Chile ist ein an merkwürdigen und eigenthümlichen Produkten so reiches Land und bisher so wenig ausgebeutet, daß es für alle unsere Sammlungen sehr erwünscht sein muß, dort einen Korrespondenten zu haben […].“101 In Verbindung der Regionen die Bernhard hauptsächlich bereiste mit der Region von Segeth und einer weiteren Reise des Konsuls Hesse nach Zentralamerika hatte Preußen drei Reisende in Südamerika. Deren Unternehmungen „bekämen dadurch einen Zusammenhang, der die über jene Gegend zu verwertenden Aufschlüsse zunächst den Preußischen Universitäten zuführen würde und zwar in einer Weise, die für den Staat mit einem nur sehr geringen Aufwand an Kräften und Kosten verknüpft wäre.“ 102 In Bernhards Fall waren dies gar keine Kosten, da er noch Schulden bei der preußischen Regierung hatte. Bernhard ging also im August 1851 zurück nach Chile und war fest entschlossen, neue Sendungen vorzubereiten. Doch in Chile erwartete ihn nicht nur sein Bruder Rudolf, der ebenfalls 1850 nach Chile ausgewandert war, sondern auch die Nachricht, dass er nicht Direktor der Deutschen Kolonie in Valdivia, sondern Statthalter der Provinz Magellanstraßewurde. Dort wurde Bernhard am 1. November 1852 von Indigenen getötet. 103 In seinem Tagebuch verzeichnete Bernhard noch wenige Tage vorher, das reiche Vorkommen an Tieren und Pflanzen in der Region am Strand von Punta Arenas. Auch die Berliner Sammlungen hatte er noch im Blick, als sie drei Skelette von Patagoniern fanden: „[…] nichtsdestoweniger beschlossen wir alles sorgfaeltig zu sammeln und mitzunehmen, da der

98 Ebd., 288. 99 GStAPK, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 2 Titt. 23 LITT A Nr. 25, Lichtenstein an Kultusministerium, Berlin 25.04.1851, 163–166v, 165–166. 100 Ebd., 165v. 101 Ebd., 165. 102 Ebd., 166. 103 Young, Bernardo, 495.

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Ingo Löppenberg

Schaedel eines Feuerlaenders von grosser Seltenheit sein muss.“ 104 Bis zum Schluss blieb Bernhard seinen Verpflichtungen gegenüber Preußen treu. DIE AKTE WIRD GESCHLOSSEN Auch wenn der Tod Bernhard von seine Verpflichtungen gegenüber dem preußischen Staate losgelöst hatte, für die preußische Bürokratie war dies noch nicht der Fall. Kultusminister Raumer schrieb vier Jahre nach dem Ableben Bernhards 1856 an den König Friedrich Wilhelm IV., dass zu den 3.000 Talern noch 178 Taler, 20 Silbergroschen und 1 Pfennig an Transport- und Wechselkosten hinzugekommen wären. Die von Philippi eingesandten Gegenstände hatten aber nur einen Wert von 845 Taler und 27 Silbergroschen gehabt, seine Schuld bei der Preußischen Regierung betrug also noch 2.369 Taler, 25 Silbergroschen und 7 Pfennige. Da die Berliner Institutionen aber aufgrund seines Todes in Chile mit keinen weiteren Sendungen rechnen konnten und Bernhard kein Erbe hinterlassen hätte, müsste das Geld nun anderweitig bezahlt werden, um den Vorgang und damit die Bücher abschließen zu können. Der Kultusminister verwies letztmalig auf die Sendungen Bernhards aus den Jahren 1842–1844. Dann hatten mehrere Unglücksfälle – wie ein Verlust einer Sammlung durch Überfall, dem Abbrennen seines Wohnhauses in Valparaiso, dem Bankrott seiner Bank in Chile – neue Sendungen verhindert. Bernhard habe aber noch bei seinem Besuch in Berlin im Dezember 1850 Lichtenstein versichert, erneut Sendungen zu schicken, wofür er seinen Gouverneursposten im Auftrag der chilenischen Regierung verwenden wollte. Raumer bat nun den König, das Geld aus dessen Königlichen Dispositionsfonds zu gewähren. 105 Friedrich Wilhelm IV. kam dieser Bitte nach und beglich die Außenstände des Verstorbenen gegenüber dem preußischen Staat. 106 Die Akte Bernhard Eunom Philippi konnte geschlossen werden. Ingo Löppenberg, Diepholz, arbeitet als freiberuflicher Historiker zu regionalen Themen der Wissenschafts- und Unternehmensgeschichte.

104 B. Philippi, Tagebuchfragment zitiert nach Heberlein, Writing, FN 177, 201. 105 GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Kultusminister von Raumer an den König Friedrich Wilhelm IV., Berlin 02.12.1856. o.p. 106 GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode Nr. 19872, Der König Friedrich Wilhelm IV. an Kultusminister von Raumer, Berlin, 08.12.1856. o.p.

Wir kommen nicht daran vorbei, die Rolle von Wegbereitern zu spielen. 1 (Herbert Marcuse)

AUF DISTANZ ZUR ARBEITERKLASSE Die „Neue Linke“ in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Bundesrepublik: Theorie, Strategie und Fraktionierung unter dem Einfluss Herbert Marcuses Matthias Stangel Kurzfassung: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der akademisch geprägten Strömung der mit der Chiffre „1968“ versehenen Protestbewegung, die sich selbst als Teil der „Neuen Linken“ verstand. Es wird zunächst kurz auf den Ursprung dieses Begriffes eingegangen und dabei insbesondere die Entstehung der Neuen Linken in der Bundesrepublik nachgezeichnet. In diesem Zuge rückt der Sozialistische Deutsche Studentenbund als zugleich maßgeblicher Akteur der APO in den Fokus – und hierbei die innerverbandliche Fraktionierung, die überwiegend durch ein unterschiedliches Strategie- und Theorieverständnis der tonangebenden „Antiautoritären“ hervorgerufen wurde. Eine prägende Rolle spielten dabei die Werke und Theorie Herbert Marcuses, weshalb eine diesbezügliche Untersuchung ein zentraler Bestandteil des Beitrages ist. Eine bewusst eng an die Primärquellen angelehnte und mit Originalzitaten versehene Analyse soll zeigen, wie die Neuen Linken unter dem Einfluss Marcuses sukzessive von der klassischen Revolutionstheorie (und damit der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt) abrückten und sich etwa in der Praxis auf internationale Befreiungsbewegungen fokussierten. Ein aktueller Ausblick, der den Gegenwartsbezug zu dieser Positionsverschiebung aufzeigt, rundet den Beitrag ab.

EINLEITENDE ANMERKUNGEN ZU PROBLEMKREISEN DER FORSCHUNG Zwei Jubiläen bilden den Rahmen der folgenden Ausführungen: So jährt sich zum einen im Jahre 2019 der Todestag Herbert Marcuses zum 40. Mal. Jedoch beging schon zuvor eines der umstrittensten Phänomene bundesdeutscher Zeitgeschichte ein größeres Jubiläum: Im Jahre 2018 lagen die Ereignisse rund um die unter dem Begriff der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) firmierende Protestbewegung in der Bundesrepublik stattliche 50 Jahre zurück. Mittlerweile existiert eine nahezu unüberschaubare Fülle von Literatur vor und es erscheinen stets neue Detailstudien, doch soll mit diesem Beitrag auf nur zwei nach wie vor bestehende

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Marcuse, Herbert, Befreiung von der Überflussgesellschaft, in: Kursbuch 16/1969, 185–198, 198.

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Problemkreise in der öffentlichen Debatte wie auch der wissenschaftlichen Forschung aufmerksam gemacht werden: Zum einen wird das Phänomen „1968“ immer noch von hitzigen Debatten zwischen Apologeten und Kritikern der Ereignisse und Wirkungen begleitet. 2 So wird einerseits die positive Nachhaltigkeit der Geschehnisse betont und in diesem Zuge werden etwa alle Demokratisierungstendenzen sowie die beginnende Aufarbeitung des „Dritten Reiches“ nach 1945 einseitig der „68er-Bewegung“ zugeschrieben und als deren Erfolg verbucht. Symptomatisch ist hierfür das frühe Urteil von Jürgen Habermas, wonach die Protestbewegung zu einer „Fundamentalliberalisierung“ der westdeutschen Gesellschaft beigetragen habe. Die Geschehnisse rund um „1968“ waren, so Habermas weiter, „für die politische Kultur der Bundesrepublik ein Einschnitt, in den heilsamen Folgen nur übertroffen von der Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten.“ 3 Diese Einschätzung dominiert auch heute noch weite Teile der öffentlichen Debatte, der Forschung wie auch des Zeitgeistes insgesamt, obwohl bereits zum 40. Jubiläum profunde Untersuchungen vorlagen, die zu Recht darauf hinweisen, dass man „1968“ nicht ohne die bereits zuvor einsetzenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse sowie insbesondere auch die schon begonnene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der 1950er/60er-Jahre verstehen kann. 4 Zur Auseinandersetzung um diese Epoche bundesrepublikanischer Geschichte gehören dann andererseits die Stimmen, die auf die „stufenweise Entgrenzung der Gewalt“ 5 in den Reihen der APO sowie auf die allgemein totalitären Züge der Protestbewegung 6 hinweisen und ebenso die nachhaltig negativen Folgen von „1968“, etwa im Bereich der Bildungs-

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Als exemplarisch für zwei Pole in diesem Meinungsstreit können aktuell gelten Dutschke, Gretchen, 1968. Worauf wir stolz sein dürfen, Hamburg 2018; dazu gegensätzlich Weißmann, Karlheinz, Kulturbruch ’68. Die linke Revolte und ihre Folgen, 2. Auflage, Berlin 2018. Habermas, Jürgen: Interview mit Angelo Bolaffi, in: ders., Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a.M. 1990, 21–28, hier 26. Dazu Langguth: „Die Studentenrevolte konnte auf den einsetzenden Umbrüchen aufbauen und erst dadurch ihre eigene Dynamik gewinnen“; aus: ders., 1968 – eine Kulturrevolution? Warnung vor einer Verklärung der Studentenrevolte, in: Academia, 2/2008, 93–94; vgl. ebenso Frese, Matthias/Paulus, Julia, Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels – die 1960er Jahre in der Bundesrepublik, in: dies./Teppe, Karl (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003; 1–23; Wengst, Udo (Hrsg.), Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1968, München 2011; zur These einer reinen Forcierung der Transformationsprozesse durch die APO äußert sich ebenfalls Frei, Norbert, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, dort 137–138. Aus Kraushaar, Wolfgang, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008, 88–89; eine umfassendere Analyse der Bedeutung der Gewaltfrage und deren Auswirkungen über die APO hinaus findet sich z.B. in Kailitz, Susanne, Auseinandersetzungen mit der Gewalt. Frankfurter Schule, Studentenbewegung und RAF, in: Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Bd. 16, Baden-Baden 2004, 83–102; Eisel, Stephan, 1968 und die Folgen: Die Gewaltfrage, in: ders./Langguth, Gerd, Mythos ‘68. Zur APO und ihren Folgen, Sankt Augustin 2001, 21–41. Dazu insbesondere Aly, Götz, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a.M. 2008.

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und Familienpolitik oder eine linke Deutungshoheit sowie entsprechende Sprachregelungen in der heutigen Debattenkultur, in den Fokus rücken. 7 Mit dieser anhaltenden Kontroverse ist ein weiterer Problemkreis verbunden: Einerseits werden im Rahmen dieser Auseinandersetzung vorwiegend Bewältigung oder Verklärung betrieben, eine präzise Analyse des Geschehenen steckt noch in den Anfängen. Doch war man beim letzten Jubiläum im Jahre 2008 von einer notwendigen objektiven Historisierung noch weit entfernt, 8 lässt der gegenwärtige Forschungsstand diesbezüglich zumindest Ansätze erkennen und gibt Hoffnung auf ein weiteres Voranschreiten in dieser Richtung. 9 Indem nun aktuelle Untersuchungen diesen Faden aufnehmen und damit die „68er-Bewegung“ in einen größeren zeitlichen 10 Zusammenhang einordnen und ebenso der Frage nach internationalen Verknüpfungen 11 nachgehen, tragen sie maßgeblich zur Historisierung und vor allem zur Entzauberung des Mythos von „1968“ bei. Andererseits scheitert diese Aufgabe aber unter anderem immer noch an einer unklaren Verwendung der Begrifflichkeiten. So sahen manche Protagonisten der Protestbewegung die Demonstration gegen den kongolesischen Herrscher Moïse Kapenda Tschombé am 18. Dezember 1964 in West-Berlin als „Beginn unserer Kulturrevolution“ 12 an (und dies eben auch nach den Geschehnissen des 2. Juni 1967). Daher wird im Zuge einer verkürzten Betrachtungsweise nach wie vor das jubiläumsbegründende Jahr „1968“ als eigenständiger Begriff und als Chiffre für den gesamten Ereigniszeitraum sowie all 7

So nur exemplarisch Lübbe, Hermann, Endstation Terror. Rückblick auf lange Märsche, Stuttgart 1978; Becker, Hartmuth/Dirsch, Felix/Winckler, Stefan (Hrsg.), Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, 2. Auflage, Graz 2004; aktuell etwa Engels, David, „Der Hass auf ‚Tausend Jahre‘“, in: Cato, 3/2018, 43–46; Grau, Alexander, „Die Rechtfertigungsideologie enthemmter Konsumkinder“, in: Cicero (online) vom 6. Januar 2018 (https://www.cicero.de/kultur/68-68er-gesellschaft--hedonismus-marx-marcuse, Abrufdatum: März 2018). 8 Diesen Umstand kritisierten schon damals Hodenberg, Christina von/Siegfried, Detlef (Hrsg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Dirsch, Felix, Kulturrevolution oder Studentenbewegung? Ansätze zur Historisierung der Ereignisse von „1968“, in: ZfP 1/2008, 5–32. 9 Siehe dazu etwa Hodenberg, Christina von, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018; ebenfalls die breit angelegte Arbeit von Brown, Timothy S., West Germany and the Global Sixties. The Antiauthoritarian Revolt, 1962–1978, Cambridge 2013; siehe ferner die zwar binational angelegte, aber aufschlussreiche Studie von Behre, Silja, Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um „1968“ in deutsch-französischer Perspektive, Tübingen 2016. 10 So etwa die aktuelle und bemerkenswerte Studie von Gassert, Philipp, Bewegte Gesellschaft. Protest in Deutschland seit 1945, Stuttgart 2018. 11 Vgl. dazu insbesondere Klimke, Martin, 1968 als transnationales Ereignis, in: APuZ 14– 15/2008, 22–27, der hier die Frage nach einer internationalen Dimension der Protestbewegung aufwirft; sowie Gildea, Robert (Hrsg.), Europe’s 1968. Voices of Revolt, Oxford 2013, wobei hier die Herausgeber versuchen, anhand von Interviews eine kollektive europäische Protestbiographie zu erstellen – das Ergebnis verharrt jedoch in den subjektiven Eindrücken der Befragten und wird zudem nicht in den historischen Kontext eingebettet. 12 So Dutschke, Rudi, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: ders./Bergmann, Uwe/Léfèvre, Wolfgang/Rabehl, Bernd, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek bei Hamburg 1968, 33–93, 63.

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seiner Folgen verwendet. 13 Dies bringt die erwähnten Folgen mit sich, dass größere Zusammenhänge verwischt und etwa die „Inkubationsphase“ 14 der Protestbewegung ausgeblendet werden. Wirft diese Vorgehensweise vor allem Probleme bei der Einteilung der Geschehnisse in verschiedene Phasen und einer damit zusammenhängen Gewichtung auf, so ist auf inhaltlicher Ebene weiterhin festzustellen, dass es im Rahmen vieler Untersuchungen und Analysen immer noch an einer präzisen und trennscharfen Differenzierung mangelt. Oftmals werden übergreifende Begrifflichkeiten für ein heterogenes Phänomen gewählt: Der Begriff „APO“ bezeichnet keineswegs eine einheitliche Organisation mit einem geschlossenen Programm und homogenen Zielvorstellungen. Vielmehr handelte es sich um eine Sammelbezeichnung für eher netzwerkartig verknüpfte Gruppierungen aus dem gesamten linken Spektrum der Bundesrepublik, die außerhalb des etablierten Systems auf den primär bedeutsamen Themenfeldern Abrüstung, Notstandsgesetze, Hochschulreform und Vietnamkrieg spontan und informell miteinander kooperierten. Dabei vertraten die einzelnen Gruppen in voller Selbständigkeit eigene Positionen und bewegten sich in ihren Zielsetzungen zwischen Revolution und Reform. 15 Vor dem Hintergrund einer Verschachtelung voneinander abzugrenzender Strömungen stellte die Studentenbewegung eine Unterströmung der übergreifenden Außerparlamentarischen Opposition dar und hier spielte wiederum die maßgeblich von Herbert Marcuse beeinflusste antiautoritäre „Neue Linke“ eine tragende Rolle. Denn insbesondere der studentische Teil der Außerparlamentarischen Opposition, der im weiteren Verlauf zur eigentlichen „Kraft- und Ideenquelle“ 16 der Bewegung werden und damit das oftmals irrtümliche Bild von einer reinen „Studentenrevolte“ prägen sollte, zeigte sich anfällig für übergeordnete Erklärungsmuster der Nachkriegssituation, die nun aber ideologisch neu ausgelegt wurden. Bereits in den 1950er Jahren wandten sich Gruppen linker Intellektueller von der sowjetmarxistischen Doktrin ab und bestritten eigene Wege, die aufgrund vielfältiger theoretischer Einflüsse und eines ideologischen Eklektizismus zwischen der Sozialdemokratie und dem orthodoxen Marxismus-Leninismus der UdSSR verliefen. Diese neue ideologische Prägung schlug sich folglich in der (Selbst-)Bezeichnung als „Neue Linke“ nieder und ihrem Selbstanspruch nach wollten sie „als Avantgarde die kommunistische oder sozialistische Dogmatik durch ihre Neuinterpretation der heiligen Texte aufbrechen, ihr Misstrauen gegenüber erstarrten Ideologien und einengenden Institutionen, aber auch ihren Aufklärungswillen in Aktion umsetzen.“ 17 13 Dazu Kraushaar, Wolfgang, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. 14 Ebd., 342. 15 Für eine Gesamtdarstellung der Ereignisse, Zusammenhänge und Personen sei hier nur exemplarisch verwiesen auf die nach wie vor grundlegenden Überblickswerke von Frei, Norbert, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Kraushaar, Wolfgang, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008; ferner Rathkolb, Oliver/Stadler, Friedrich (Hrsg.), Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen 2010. 16 So Kraushaar, Achtundsechzig, 291. 17 Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band V: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, 312. Eine präzise Entstehungsgeschichte der Neuen Linken lässt sich nur schwer darstellen; vgl. Backes, Uwe/Jesse, Eckhard, Neue Linke und Neue Rechte.

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DIE NEUE LINKE IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND In der Bundesrepublik Deutschland lagen die Ursprünge dieser neuen und gegen die vorherrschenden Meinungen, Ideen und Institutionen gerichteten Denkweise in den dezentralen Zirkeln der städtischen Künstlermilieus. Die Mitglieder der im Jahre 1957 gegründeten Situationistischen Internationalen (SI) wollten mittels provokativer, aktionistischer sowie demonstrativer Kunstformen in den politischen Bereich hineinwirken und „das Projekt Revolte, Aufstand und Veränderung, das die zerrissene Arbeiterbewegung aufgegeben hatte, neu aufnehmen“. 18 Die Konzeptionen der Künstlerbewegung wurden dabei maßgeblich von der Münchner Gruppe SPUR, welche von 1959 bis zu ihrem Ausschluss im Jahre 1962 als deutsche Sektion der SI auftrat, für die Bundesrepublik übersetzt. Zwar befasste sich die Gruppe mit einer Verbindung von Kapitalismus- und Konsumkritik, diese blieb jedoch noch in einem ästhetisch-künstlerischen Zusammenhang verhaftet und zeigte nicht zuletzt auch aufgrund ihres sporadischen Charakters keinen revolutionären Ansatz, der zu praktischen Resultaten hätte führen können. Dementsprechend wurde den situationistischen Künstlern eine „zu artistisch-provokativer Selbstgenügsamkeit erstarrende Praxis“ vorgeworfen und eine Fraktion um Dieter Kunzelmann gründete daher nach der Abspaltung von der Gruppe SPUR Ende 1962 die praxisorientierte Subversive Aktion. 19 Diese unterstrich direkt in ihren programmatischen Frühschriften mit dem Titel „Unverbindliche Richtlinien“ die Bedeutung von Provokation, Verweigerung sowie Rebellion und sah sich selbst als „eine direkt auf Aktion ausgerichtete Pariaelite“, wobei wiederholt betont wurde, dass „Kritik […] in Aktion umschlagen [muss]“, denn nur „Aktion entlarvt die Herrschaft der Unterdrückung“ und trage zur „Entblößung gesellschaftlicher Repression“ bei. 20 Demgemäß setzte sich die strategische Ausrichtung der Subversiven Aktion aus einer Mischung aus Provokation und revolutionären Elan zusammen, bei der die Praxis (Aktion) der Theorie Ein Vergleich, in: dies. (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 5/1993, 7–28, hier 11. Zu Begriffsursprung und Entstehung der Neuen Linken siehe zeitgenössisch Seifert, Jürgen, Die Neue Linke. Abgrenzung und Selbstanalyse, in: Frankfurter Hefte 1/1963, 30–40; sonst Mattson, Kevin, Intellectuals in action. The origins of the New Left and radical liberalism 1945–1970, Pennsylvania 2002. 18 Rabehl, Bernd, Die Provokationselite. Aufbruch und Scheitern der subversiven Rebellion in den sechziger Jahren, in: ders./Lönnendonker, Siegward/Staadt, Jochen, Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD. Band 1: 1960–1967, Wiesbaden 2002, 400–512, hier 405. Zu Geschichte, Konzeptionen und Zielen der SI siehe Ford, Simon, Die Situationistische Internationale. Eine Gebrauchsanleitung, Hamburg 2007; Ohrt, Roberto (Hrsg.), Das große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst, Hamburg 2000; ein Archiv mit Primärquellen findet sich unter http://www.si-revue.de/situationistische-internationale (Stand: September 2019). 19 Böckelmann, Frank/Nagel, Herbert (Hrsg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Ljubljana 2002, 69 (Zitat ebd.). 20 Baldeney, Christofer/Gasché, Rodolphe/Kunzelmann, Dieter (Hrsg.), Unverbindliche Richtlinien 2, München/Berlin/Assens 1963, wiederabgedruckt in: Böckelmann/Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion, 99–121, hier 114–115.

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(Kritik) übergeordnet wurde. Darüber hinaus betonte die Gruppierung die Notwendigkeit eines „organisierten Ungehorsams“, die Verweigerung des Konsumismus sowie eine „neuen Tradition der Revolte“, welche in Verbindung mit der Stoßrichtung gegen autoritäre Strukturen und der Forderung nach individueller und kollektiver Freiheit als Bruch mit der „festgefahrenen Welt“ und damit auch als Absage an den traditionellen Sozialismus verstanden werden konnten. 21 Insgesamt wies der theoretisch-ideologische Hintergrund der Subversiven Aktion, zusammengefügt aus den „Intensionen von Marx, der komplexen Psychologie und der Psychoanalytischen Bewegung“ 22 sowie den Einflüssen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, auf das ideologische „Amalgam aus Marxismus und Psychoanalyse“ 23 der Neuen Linken hin, deren Aktionen und Ideen ab Mitte der 1960er Jahre in einem stetigen Prozess die bundesdeutsche APO prägen sollten. DIE NEUE LINKE ALS TEIL DER STUDENTENBEWEGUNG: DOMINANZ UND FRAKTIONIERUNG Konsequenterweise suchten manche Protagonisten der Subversiven Aktion nach einer organisatorischen Einbindung zur Verwirklichung des vorgenommenen Aktionismus. Diese Intentionen wurden etwa von zwei der bekanntesten Aktivisten der späteren APO, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, verfolgt, die als „Abhauer“, das heißt als Flüchtlinge aus der DDR, Anfang 1964 zur Berliner Gruppe der Subversiven Aktion gestoßen waren. Dort gerieten sie bald aufgrund ihrer vorrangigen Beschäftigung mit Fragen der politischen Ökonomie, ihrer „marxistischen Methode“, der Einführung des Faktors „Dritte Welt“ in den Zusammenhang einer „revolutionären Taktik“ und der Betonung des subjektiven Faktors sowie daraus resultierender Anleitungen für die Praxis in einen Konflikt mit den „Westlern“ der Münchner Gruppe um Frank Böckelmann. 24 Im Rahmen einer Demonstration gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Moïse Tschombé am 18. Dezember 1964 kam es 21 Siehe hierzu Baldeney/Gasché/Kunzelmann (Hrsg.), Unverbindliche Richtlinien 2, in: Böckelmann/Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion, 114–115; Rabehl, Die Provokationselite, in: ders./Lönnendonker/Staadt, Die antiautoritäre Revolte, 413. 22 Baldeney/Gasché/Kunzelmann (Hrsg.), Unverbindliche Richtlinien 2, in: Böckelmann/Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion, 119. 23 Wolfrum, Edgar, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, 266; Koenen stellt fest, dass für den eklektischen „Marxismus“ der Neuen Linken galt: „Zitate und Zeichen, Bilder und Codes, Stile und Habitus spielten letztlich eine viel größere Rolle als materielle Interessen, politische Programme oder theoretische Begriffe.“ Aus Koenen, Gerd, Rotwelsch und Zeichensprache. Die „Neue Linke“ von 1968 und der Marxismus, in: Fleischer, Helmut (Hrsg.), Der Marxismus in seinem Zeitalter, Leipzig 1994, 77–93, 89. 24 Siehe dazu etwa Böckelmann/Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion, 149 bzw. 155. Bernd Rabehl berichtet von einer Mischung aus „Misstrauen“ und „Faszination“ mit denen die westdeutschen Protagonisten der Subversiven Aktion den „Abhauern“ begegneten: So waren sie zwar einerseits begeistert vom charismatischen Redner Dutschke, lehnten jedoch andererseits die theoretischen Konzeptionen Dutschkes und Rabehls ab. Rabehl zieht entsprechend sein Fazit: „Wir

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zu einer gelungenen Kooperation zwischen der Fraktion um Dutschke und Teilen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), bei der vor allem auch neue Demonstrations- und Protestformen in Anlehnung an die neu-linke strategische Ausrichtung erprobt wurden. Denn im Gegensatz zu den eher ritus- und prozessionsartigen Manifestationen der traditionellen Linken wurde hierbei nun auf Mittel der Provokation und der begrenzten Regelverletzung zurückgegriffen – stets mit der Absicht, die maximale Aufmerksamkeit der Medien und somit das Interesse der Öffentlichkeit zu erreichen sowie Reaktionen der Politik herauszufordern. Noch Ende 1964 traten Dutschke und Rabehl dem SDS in West-Berlin bei und hofften dort als antiautoritäre und subversive Fraktion „ein Sprungbrett oder einen Resonanzboden zu finden, um die eigenen Ideen zu verbreiten“. 25 Der SDS galt bis dahin eher als „mehr oder minder verschrobener Zirkel marxistischer Akademiker, der in praxisferner innerer Emigration an verblichenen Theorien bastelte“. 26 Für Dutschke stellte der Eintritt verschiedener Protagonisten der Subversiven Aktion in den Studentenbund einen „Einbruch der Diffusion und des Aktivismus“ dar und darüber hinaus erhielten auf diese Weise „Kategorien der Provokation und der Phantasie als Momente in der Entfaltung der direkten Aktion einen realen Einzug in den SDS“. 27 Dieser Beitritt glich also vielmehr einer Unterwanderung und logischerweise stießen das neue „spontane und antiautoritäre Element“ 28 sowie die „Einführung unkonventioneller Aktionsformen“ 29 auf den Widerstand der alteingesessenen Mitglieder. Daraus resultierte eine Fraktionierung innerhalb des heterogenen Verbandes mit entsprechenden Auseinandersetzungen zwischen einem links-orthodoxen, eher dogmatisch-kommunistisch gestimmten Flügel („Traditionalisten“) und der erwähnten Gruppe um Rudi Dutschke („Antiautoritäre“), welche sich bis zum Niedergang des SDS hinziehen sollten. Kernpunkt der Streitigkeiten war ein anderes Strategie- und Theorieverständnis der antiautoritären Fraktion. Dazu gehörten beispielsweise eine stärkere Betonung von Praxis und Aktion, ein „situativer Gebrauch von Theorie, der die einzelnen Theoriefetzen eklektisch zusammenfügte je nach Lage, Erklärung und Agitationsziel“ 30, sowie ein deutliches Interesse an „antiimperialistischen Kampagnen und Aktionen, aber nicht

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haben uns eigentlich als ‚West‘ und ‚Ost‘ nicht verstanden in der Subversiven Aktion.“ So Rabehl in einem Gespräch mit dem Verfasser am 20. Juli 2009. Rabehl, Die Provokationselite, in: ders./Lönnendonker/Staadt, Die antiautoritäre Revolte, 422. Neusüss, Arnhelm, Die Außerparlamentarische Opposition, in: Schoeps, Hans Julius/Dannenmann, Christopher (Hrsg.), Die rebellischen Studenten. Elite der Demokratie oder Vorhut eines linken Faschismus?, 2. Auflage, München 1968, 47–67, 61. Dutschke, Rudi, Glanz und Elend der Neuen Linken. Teil II, in: das da 10/1975, 33–36, hier 35. Wesel, Uwe, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, München 2002, 18. Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, 265. Rabehl, Bernd, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik. Ursachen und Auswirkungen des politischen Existenzialismus in der Studentenrevolte 1967/68, in: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Band III: Aufsätze und Kommentare. Register, Hamburg 1998, 34–64, hier 38.

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an den inneruniversitären Problemen“. 31 Hinzu kam eine nahezu diametrale Haltung Dutschkes hinsichtlich der Organisationsfrage, da dieser die Bedeutung von Kampagnen, wie etwa gegen den Springer-Konzern oder die Notstandsgesetze, hervorhob und dem traditionalistischen Konzept der klassischen Arbeiterpartei eine Absage erteilte, welches den Antiautoritären insgesamt als „zu legalistisch, zu bürokratisch, zu wenig aktivistisch“ erschien. 32 Binnen weniger Jahre konnte sich diese Sichtweise innerhalb des SDS durchsetzen, ihre Vertreter wurden zur prägenden Kraft und der Studentenverband dadurch insgesamt zum „Motor“ 33 der Außerparlamentarischen Opposition. Dies lag nicht zuletzt daran, dass der intellektuelle Sozialismus antiautoritärer Spielart „unangreifbarer [war] als der herkömmliche dogmatische Sozialismus, der sofort mit der politischen Realität der Sowjetunion und der DDR in Verbindung gebracht wurde“. 34 Bei diesen antiautoritären Konzeptionen war, wie es sich auch schon in den programmatischen Ausführungen der Subversiven Aktion angedeutet hatte, besonders der Einfluss des deutsch-amerikanischen Soziologen und Vertreters der „Kritischen Theorie“ 35 Herbert Marcuse (1898–1979) spürbar. Zwar sind aufgrund des ideologischen Eklektizismus vieler Protagonisten der APO, die sich je nach Bedarf bei verschiedenen Theorien und Vordenkern bedienten, die Werke Marcuses sicherlich nur als eine ideologische Quelle anzusehen, aber gerade für den antiautoritären Teil der Studentenbewegung waren sie die maßgeblich prägende. Entsprechend gab Marcuse analog zur wachsenden Einflussnahme der subversiv-antiautoritären Gruppe innerhalb des SDS vermehrt die Stichworte in den intellektuellen

31 Dutschke, Glanz und Elend, in: das da 10/1975, 35. 32 Koenen, Gerd, Phantasmagorien einer Weltrevolution. Die „Neue Linke“ von 1968, in: Backes, Uwe/Courtois, Stéphane (Hrsg.), „Ein Gespenst geht um in Europa.“ Das Erbe kommunistischer Ideologien, Köln u.a. 2002, 285–322, 303. Diese Konzeptionen Dutschkes werden besonders deutlich im „Organisationsreferat“, das er gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS am 5. September 1967 in Frankfurt/Main vortrug. Abgedruckt in: Miermeister, Jürgen (Hrsg.), Rudi Dutschke. Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, Berlin 1980, 89–95, 94/95. 33 So Kraushaar, Achtundsechzig, 291. 34 Langguth, Gerd, Mythos ‘68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, München 2001, 27. 35 Laut Marcuse wurde der bereits im Jahre 1937 von Max Horkheimer eingeführte Begriff von den Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zu dem Zweck benutzt, „die traditionelle marxistische Theorie kritisch zu prüfen, ihre Tragfähigkeit und Reichweite zu untersuchen, eine Anstrengung, die angesichts der strukturellen Veränderungen des kapitalistischen Systems für unerlässlich erachtet wurde. Der Begriff bezeichnet die Wendung der analytischen Arbeit von der ökonomischen Sphäre hin zur gesellschaftlichen Totalität.“ Aus Marcuse, Herbert/Lubasz, Heinz/Schmidt, Alfred u.a., Radikale Philosophie: die Frankfurter Schule, in: Marcuse, Herbert (Hrsg.), Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1996 (EA 1978), 121–141, hier 124. Einen profunden Einblick in die Begriffsgeschichte, Inhalte und Bedeutung bietet z.B. Honneth, Axel, Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 2007.

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Debatten der APO und galt schließlich als der „wirkliche Ideengeber der Revolte“. 36 Obwohl die bedeutende Rolle Herbert Marcuses im Rückblick auch außerhalb des Kreises ehemaliger Beteiligter durchaus anerkannt wird, wenn dieser etwa als „der Philosoph der 68er“ und „ihr geistiger Ziehvater“ 37 bezeichnet wird, so ist dem Einfluss Marcuses auf die studentische Protestströmung und dort insbesondere auf die antiautoritäre Neue Linke seitens der Forschung bisher erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. 38 Doch gerade weil mit diesem Aspekt auch bedeutende theoretisch-strategische Umorientierungen bei einem großen Teil des linken Spektrums einhergingen, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind, ist eine entsprechende Analyse umso notwendiger. DIE THEORIE HERBERT MARCUSES UND SEIN EINFLUSS AUF DIE ANTIAUTORITÄRE NEUE LINKE Die Werke Herbert Marcuses boten den protestierenden Studenten in mehrfacher Hinsicht ideologische Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten zur theoretischen Unterfütterung ihrer Konzeptionen und Forderungen. Zudem hatte Marcuse in seinen Werken sowie im Rahmen seiner zahlreichen Vorlesungen in der Bundesrepublik den Begriff der „Neuen Linken“ konkretisiert, welcher daraufhin von der Mehrzahl der Protagonisten der Außerparlamentarischen Opposition als Selbstbezeichnung übernommen wurde. Als Kennzeichen der neu-linken Strömung verwies Marcuse auf die Abkehr vom orthodoxen Marxismus und Sozialismus, die Loslösung von der Fixierung auf die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt und darauf, dass auch die Neue Linke selbst nicht klassenmäßig zu definieren wäre, sondern sich vornehmlich aus den Reihen der Intelligenz sowie der radikalen Jugend rekrutiere. Ihre antiautoritäre Ausprägung erfuhren die Neuen Linken nach Marcuse dadurch, dass sie gleichermaßen im Gegensatz zur „zentralisierten bürokratischkommunistischen Organisation wie der halbdemokratischen liberalen“ standen, ein

36 So Rabehl, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, in: Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 46. 37 So Jochen Stöckmann anlässlich des 25. Todestages Marcuses im Jahre 2004, in: http://www.deutschlandfunk.de/der-philosoph-der-68er.871.de.html?dram:article_id=124871 (Abrufdatum: März 2018). 38 Als Ausnahme kann hier etwa die kritische Analyse gelten von Jesse, Eckhard, Die Totalitarismuskonzeption von Herbert Marcuse, in: Schmeitzner, Mike (Hrsg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, 355–375; siehe ebenfalls Müller, Tim B., „Alle Wege der Marxismusforschung führten nach New York“, in: FAZ vom 26. September 2007, N3. Auf eine objektive Darstellung wartet immer noch Marcuses mangelnde Distanz zur Gewaltfrage; siehe etwa Sedlmaier, Alexander, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, Berlin 2018. Hier wird zwar die ebenfalls in diesem Beitrag dargelegte Konsumkritik Marcuses eingehender analysiert, jedoch werden Gewalttaten der Protestbewegung großzügig als Zeichen des Aufbegehrens gegen den „Konsumterror“ bewertet.

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„starkes Element der Spontaneität, ja des Anarchismus“ aufwiesen und dadurch reflexartig eine „Abneigung gegen bereits etablierte Führer, Apparatschiks jeder Sorte und Politiker, wie weit links sie auch stehen mögen“, demonstrierten. 39 Zu dieser neuen Sichtweise trug Marcuse bei, indem er bereits Mitte der 1960er Jahre der noch jungen Radikalopposition im SDS, die zu diesem Zeitpunkt noch eher zu einer reformistischen als einer revolutionären Ausrichtung neigte, seine Überzeugung vom „paradoxen Wesen der Sowjetgesellschaft, in der ein höchst methodisches Herrschaftssystem der Freiheit den Boden bereiten soll und die Politik der Unterdrückung als die der Befreiung gerechtfertigt wird“, 40 vermittelte. In seiner Kritik, die in dieser Form ein Novum innerhalb des linken Spektrums darstellte und entsprechend breit rezipiert wurde, stellte er die Sowjetunion als „repressives totalitäres Regime“ dar. Da dieses mittels „repressiver Tendenzen“ eine „unfreie Gesellschaft“ hervorbringe und sich zudem durch einen gesonderten Bürokratismus auszeichne, sei die Bezeichnung „sozialistisch“ im Marx’schen Sinne für das sowjetische System unzutreffend. 41 Zwar führte Marcuse dies auch auf die zwanghafte Lage des Ost-West-Konfliktes zurück, wonach ebenfalls die sozialistischen Länder dem „Zwang der globalen Konkurrenz und den Geboten der Koexistenz“ unterworfen seien. 42 Nichtsdestotrotz wandte er sich gegen eine doktrinäre Interpretation des Marxismus, bei der nur „der Staat definiert, was Sozialismus und Kommunismus sind und diese Definition durchsetzt.“ 43 Marcuse beließ es jedoch nicht bei der Kritik am Sowjetsystem und einer daraus resultierenden Abkehr vom traditionellen Parteienmarxismus, sondern verurteilte in erster Linie die Beschaffenheit der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Diesem sogenannten Spätkapitalismus setzte er eine zugleich pessimistische und visionär-utopische Zeitdiagnose als auch eine – zumindest in den Augen seiner Anhänger – Philosophie der individuellen Freiheit entgegen. Marcuse war davon überzeugt, dass „das Schicksal der menschlichen Freiheit und des menschlichen Glücks im Kampf der Triebe ausgefochten und entschieden wird“, und durch eine materialistische Freud-Interpretation sollte der unterdrückten Bevölkerungsmehrheit ein Ausweg aus ihren „entfremdeten“ Arbeitsverhältnissen aufgezeigt werden. 44 Denn 39 Aus: Marcuse, Herbert, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 1969, 130–131; vgl. ebenso Marcuses spezifizierte Ausführungen zur Neuen Linken im Rahmen seiner Vorträge und Diskussionen an der FU Berlin vom 10.–13. Juli 1967, in Kurnitzky, Horst/Kuhn, Hansmartin (Hrsg.), Herbert Marcuse. Das Ende der Utopie, Berlin 1967, hier 48. 40 Aus Marcuse, Herbert, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 3. Auflage, Darmstadt/Neuwied 1974, 95. 41 Siehe ebd., 128 bzw. 162. 42 So Marcuse in Busch, Günther, Ist die Idee der Revolution eine Mystifikation? Herbert Marcuse antwortet auf vier Fragen, in: Kursbuch 9/1967, 1–6, hier 2. 43 Aus Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 239–240. 44 Aus Marcuse, Herbert, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Siegmund Freud, Frankfurt a.M. 1970, 27. Zur Fremdbestimmung der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit äußerte sich Marcuse wie folgt: „Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung werden Ausmaß und Art der Befriedigung durch ihre eigene Anstrengung bestimmt, aber diese Anstrengung ist Arbeit für einen Apparat, den sie nicht selbst lenken, der als eine unabhängige Macht wirkt, der die Individuen sich zu unterwerfen haben, wenn sie leben wollen.

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Marcuse attestierte dem Spätkapitalismus zwar ein Stadium des technologischen Fortschritts und materiellen Reichtums, dabei zeichne sich die fortgeschrittene Industriegesellschaft jedoch gleichzeitig dadurch aus, dass die scheinbar vielfältigen Wahl- und Änderungsmöglichkeiten der Bevölkerung nur oberflächlich gegeben seien: In Wahrheit bleibe der Status quo der unfreien Gesellschaft unveränderbar und es werde auf einem höchstmöglichen Niveau der Freiheit nur die Unfreiheit aller reproduziert. Darüber hinaus unterstellte Marcuse den westlichen kapitalistischen Gesellschaften eine Tendenz zum Totalitarismus: Anhaltspunkte dafür sah er in einer einseitigen Technisierung der Vernunft, einem hohen Vernichtungspotentials als Folge des ausufernden Militärapparates und einer umfassenden Naturbeherrschung im Zusammenspiel mit einer Rationalisierung und Verwaltung bis in die Privatsphäre sowie in der manipulativen Einflussnahme der Massenmedien. 45 Entsprechend geißelte Marcuse die „bestehende Pseudo-Demokratie“ im Spätkapitalismus, die sich durch eine geschaffene „Harmonie zwischen Herrschern und Beherrschten“ auszeichne. 46 Demnach fröne die Bevölkerungsmehrheit, durch Medienmanipulation, wohlfahrtsstaatliche Integration und politische Zugeständnisse sediert, willfährig einem systemstabilisierenden Konsumismus und trage dadurch nur zu einem Kreislauf der sich ständig reproduzierenden Verhältnisse bei. Daraus ergäben sich die „Verewigung des Existenzkampfes, die zunehmende Notwendigkeit, Nicht-Notwendiges zu produzieren und zu konsumieren“, sowie die Zementierung des spätkapitalistischen Systems, das zwar „für Änderungen innerhalb, aber nicht jenseits seines institutionellen Rahmens offen ist.“ 47 Entscheidend war diesbezüglich für Marcuse vor allem, dass es der kapitalistischen Überflussgesellschaft mittels „der sozialen Mechanismen der Manipulation, Indoktrination und Repression“ 48 gelungen war, die in historischer Hinsicht eigentlich stets revolutionäre Arbeiterklasse ebenfalls nahezu komplett in das herrschende System zu integrieren. Denn „durch eine sozial gesteuerte Lähmung des Bewußtseins […] sowie durch die Entwicklung und Befriedigung der Bedürfnisse“ konnten die Ausbeutungsverhältnisse verewigt werden, da die Arbeitnehmerschaft nun nur noch die vorrangige Rolle des gleichgeschalteten Konsumenten erfülle. 49 Mit dieser Analyse des Spätkapitalismus lieferte Marcuse „einige Waffen der Kritik der studentischen Opposition“. 50 Entscheidend war dabei, dass Marcuse trotz einer scheinbaren Stabilität des kapitalistischen Systems seiner Anhängerschaft

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[…] Die Menschen leben nicht ihr eigenes Leben, sondern erfüllen schon vorher festgelegte Funktionen. Während sie arbeiten, befriedigen sie damit nicht ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten, sondern arbeiten entfremdet.“ Aus Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 49 [Hervorhebung im Original]. Siehe dazu Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 5. Auflage, München 2005, dort etwa 23. Marcuse, Versuch über die Befreiung, 99 bzw. 28. Ebd., 78 bzw. 105. Marcuse, Befreiung von der Überflussgesellschaft, in: Kursbuch 16/1969, 186. Aus Marcuse, Versuch über die Befreiung, 33. So Jacob Taubes in Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 83.

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dennoch eine „Befreiungsperspektive“ 51 eröffnete: So hielt er einen sozialistischen Alternativentwurf zum bestehenden Kapitalismus nicht für utopisch, sondern war von der Möglichkeit seiner Realisierung überzeugt. Denn der Widerspruch des Spätkapitalismus bestünde vor allem darin, dass die Ressourcen zur Befreiung zwar genügend vorhanden seien, vom System aber gerade „zur Verewigung der Knechtschaft“ verwendet würden. 52 Entsprechend entwickelte Marcuse in seinen Werken eine Perspektive revolutionärer Veränderung, die in wesentlichen Punkten von der klassischen Revolutionstheorie marxistisch-leninistischer Prägung abwich und entscheidend zu einer theoretisch-strategischen Neuausrichtung seiner Anhängerschaft unter den Neuen Linken beitragen sollte. „RANDGRUPPENTHEORIE“ UND INTERNATIONALISMUS STATT REVOLUTION DER ARBEITERKLASSE Ein wesentlicher Punkt in Marcuses Analyse war seine Feststellung, dass die Arbeiterklasse nicht mehr in der Lage sei, die „Kontinuität der repressiven Bedürfnisse“ 53 zu durchbrechen. Mehr noch: In seinen Augen hatten die Arbeiter auch kein subjektives Interesse mehr an radikalen Veränderungen, sondern sie waren, wie in seinen Ausführungen zum Spätkapitalismus deutlich geworden ist, vom System ihres revolutionären Willens beraubt worden oder hatten sich bereitwillig mit diesem arrangiert. Ein Indiz dafür war für Marcuse nicht zuletzt die regelrechte Ablehnung, die Angehörige der Arbeiterklasse den protestierenden Studenten entgegenbrachten, welche ja eigentlich für die „Befreiung“ der Werktätigen demonstrierten. 54 Die Arbeiterschaft stellte demnach nicht mehr die Massenbasis für die aufkommende Radikalopposition dar und konnte konsequenterweise nicht mehr als entscheidende Trägergruppe und revolutionäres Subjekt einer sozialistischen Revolution angesehen werden. Marcuse verlagerte den Fokus hingegen auf die unterprivilegierten Gruppen („Randgruppen“) der Gesellschaft, zu welchen er das „Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen“ 55 zählte. Diese seien in ihrem oppositionellen Potential zwar durchaus revolutionär, aber eben noch ohne revolutionäres Bewusstsein, weshalb als vordringliche Aufgaben die Vermittlung des „richtigen“ Bewusstseins, die Einsicht in die bestehenden Verhältnisse und die Entwicklung der Bedürfnisse angesehen wurden. Nun sollte diese Agenda eben jenen „Schichten der Gesellschaft, die auf Grund ihrer Position und

51 Marcuse benannte als politisches Ziel seiner Analyse „die Befreiung des Menschen von unmenschlichen Daseinsbedingungen“. Siehe dazu Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, 185; ebenso ders., Befreiung von der Überflussgesellschaft, in: Kursbuch 16/1969, 189. 52 Marcuse, Versuch über die Befreiung, 122. 53 Marcuse, in: Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 15. 54 Marcuse beschrieb die Haltung der Arbeiternehmer u.a. als „emotionale Abneigung gegenüber der nonkonformistischen Intelligenz“. Siehe ebd., 32. 55 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 267.

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Erziehung Zugang zu den Tatsachen und dem Gesamtzusammenhang der Tatsachen haben“ 56, obliegen. Dazu zählte Marcuse vor allem die studentische Opposition, welche als intellektuelle Avantgarde „kraft ihrer privilegierten Position den ideologischen und materiellen Schleier der Massenmedien und der Indoktrination durchstoßen“ könnte, und infolgedessen eine Funktion als potentieller Katalysatoren der Rebellion ausüben würde. 57 Im Zuge des „Paradigmenwechsels vom Primat der Ökonomie (‚Basis‘) hin zur repressiven Funktion der Kultur (‚Überbau‘)“ 58 befeuerte Marcuse den Glauben der Radikalopposition an die eigene Vorreiterrolle und trug so zu der nicht selten eintretenden Selbstanmaßung und Selbstüberschätzung bei. Diese äußerte sich beispielsweise darin, dass über die Differenzierungen und Bestimmungen, wann und bei wem denn nun Toleranz oder Unterdrückung gelten sollte, „jeder, der gelernt hat, rational und autonom zu denken“ 59, entscheiden sollte. Da dies jedoch nur auf die studentische Opposition zutreffen konnte, die aufgrund ihres akademischen Hintergrundes gegenüber der Restbevölkerung in einer privilegierten Position sei, stellte Marcuse für sich und seine Anhänger einen exklusiven Anspruch: „Im allgemeinen können wir in der Tat sagen: wir sind diejenigen, die die Demokratie verteidigen.“ 60 Die Vertreter des antiautoritären Flügels der Außerparlamentarischen Opposition übernahmen entsprechend wesentliche Positionen Marcuses und integrierten diese in ihre eigenen politischen Konzeptionen. So war etwa auch Rudi Dutschke von „Konzessionen der Herrschenden an die Beherrschten“ innerhalb des spätkapitalistischen Systems überzeugt, welche letztlich nur die Arbeiterklasse in die herrschende Gesellschaft integrieren, somit ihres revolutionären Potentials berauben und letztlich die Stabilität des Systems garantieren sollten. 61 Analog zu Marcuses Ausführungen ging Dutschke davon aus, dass es „dem System gelungen ist, durch langjährige funktionale Manipulation die Menschen auf die Reaktionsweise von Lurchen zu regredieren“. Dementsprechend sah er nun die antiautoritäre Neue Linke dazu privilegiert, „die subtilen Herrschaftsmechanismen zu durchschauen, an

56 Marcuse, in: Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 49. 57 Aus Marcuse, Befreiung von der Überflussgesellschaft, in: Kursbuch 16/1969, 196; siehe dazu auch ders., Versuch über die Befreiung, 82–83. 58 So Kuzias, Thomas, Cultural Marxism (Kulturmarxismus). Schlagwort aus Übersee oder belastbares Deutungsschema?, in: Etappe 22/2013–2015, 14–20, hier 14. 59 Marcuse, Herbert, Repressive Toleranz, in: ders./Wolff, Robert Paul/Moore, Barrington, Kritik der reinen Toleranz, 6. Auflage, Frankfurt a.M. 1968, 91–128, 117 [Hervorhebung M.S.]. 60 Marcuse, in: Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 78. Dieser Selbstanspruch implizierte ein bis heute vorherrschendes einseitiges Toleranzverständnis, denn nach Marcuse konnte die „befreiende Toleranz“ nur „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts […] und Duldung von Bewegungen von links“ bedeuten; siehe Marcuse, Repressive Toleranz, in: ders./Wolff/Moore, Kritik der reinen Toleranz, 120. 61 Diese Ansicht wiederholte Dutschke an verschiedenen Stellen, siehe z.B. Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, in: ders./Bergmann/Léfèvre/Rabehl, Rebellion der Studenten, z.B. 57.

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ihrer Beseitigung zu arbeiten“ und „die Befreiung der Lohnabhängigen […] durch ihre praktisch-umwälzende Bewußtwerdung“ voranzutreiben. 62 Ferner kam Marcuse den radikalen Studenten dadurch entgegen, dass er stets die praktische Umsetzung seiner utopischen Entwürfe betonte und dem aktivistischen Element einen hohen Stellenwert einräumte. Angetrieben durch einen „existentiellen Ekel“ 63 (Dutschke) vor den Verhältnissen in der spätkapitalistischen Gesellschaft übernahm die antiautoritäre Linke Marcuses Konzeption einer „Großen Weigerung“. Diese bestand darin, Widerstand gegen das herrschende System durch die „methodische Loslösung vom Establishment und eine methodische Weigerung, die auf eine radikale Umwertung der Werte abzielt“, zu demonstrieren. 64 Marcuses theoretische Forderungen nach „direkter Aktion und grobem Ungehorsam“ 65 spiegelten sich in der Praxis in den neuartigen Demonstrationsformen der Außerparlamentarischen Opposition und beispielsweise in den Angriffen gegen die SpringerPresse wider, welche den „Punkt der funktionalen Beherrschung der Massen durch Manipulation“ 66 offen legen sollten. Die Strategie der „direkten Aktion“ war insbesondere beim traditionellen Flügel der Neuen Linken nicht unumstritten, stand sie doch im Gegensatz zur Überzeugung der klassischen Marxisten, dass sich politische Aktivität eng mit dem Wirken in die Arbeiterorganisationen verbinden müsste. 67 Auch Dutschkes Aktivismus und Voluntarismus speisten sich offenkundig aus den Analysen Marcuses und setzten diese fort. So betonte der Wortführer der APO, dass „die materiellen Bedingungen für die Aufkündigung des ‚Bündnisses‘ zwischen Beherrschten und Herrschenden schon längst reif [sind], alles vom bewußten Willen der Menschen ab[hängt], die von ihnen schon immer gemachte Geschichte endlich der Kontrolle und den Bedürfnissen des Menschen zu unterwerfen“. 68 Aber nicht nur bei der „Transformation des orthodoxen Klassenkampfmarxismus in einen modernen Kulturmarxismus“ 69 spielte Marcuse eine entscheidende

62 Dutschke, Rudi, Besetzt Bonn!, in: Pardon, September 1967, in: Miermeister (Hrsg.), Geschichte ist machbar, 96–99, hier 97 bzw. 99. 63 Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, in: ders./Bergmann/Léfèvre/Rabehl, Rebellion der Studenten, 91. 64 Marcuse, Versuch über die Befreiung, 19. 65 Siehe ebd., 103. 66 So Dutschke in Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 117. 67 In den SDS wurde die neue Ausrichtung maßgeblich von Michael Vester am Beispiel der USamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in die Debatte eingeführt; vgl. Vester, Michael, Die Strategie der direkten Aktion, in: neue Kritik 30/1965, 12–20; Rabehl, Bernd, Der SDS und die Strategie der direkten Aktionen in Westeuropa, in: nk 50/1968, 26–53. 68 Dutschke, Rudi, Demokratie, Universität und Gesellschaft, in: Larsson, Bernard (Hrsg.), Demonstrationen. Ein Berliner Modell, Voltaire Flugschrift 10, 2. Auflage, Berlin 1968, 143–157, 156. 69 So Kuzias, Cultural Marxism (Kulturmarxismus), in: Etappe 22/2013–2015, 17.

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Rolle: So lässt sich an dieser Stelle ebenfalls konstatieren, dass durch ihn „das Moment der internationalen Dimension der sozialen Befreiung“ in den SDS gelangte. 70 Dabei griffen zwei Elemente ineinander: Zum einen betonte Marcuse, dass die APO parallel zum Widerstand gegen das spätkapitalistische System auch als „Opposition gegen den Terror außerhalb der Metropole“ 71 auftreten müsse, wobei er sich insbesondere auf den Krieg in Vietnam bezog. In seiner Konzeption eines weltumfassenden Systems des Spätkapitalismus, welche bereits wesentliche Aspekte der gegenwärtigen Globalisierungskritik von links vorwegnahm, forderte Marcuse eine Unterstützung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt durch den Kampf in den Metropolen, da „nur die innere Schwächung der Supermacht […] schließlich die Finanzierung und Ausrüstung der Unterdrücker in den rückständigen Ländern beenden [kann]“. 72 Zum anderen erschien die Konzentration auf die antikolonialen Aufstände in fernen Ländern als nahezu logische Konsequenz aus Marcuses Ausführungen über die Arbeiterklasse in den westlichen Metropolen. Da diese als Folge von erfolgreicher Manipulation und Integration in das System keine revolutionäre Kraft mehr darstellte und demzufolge für die Radikalopposition als Projektionsfläche revolutionärer Konzeptionen bzw. als Identifikationsgröße ausfiel, wurden die neuen Revolutionäre der Dritten Welt, analog zu Marcuses „Randgruppentheorie“, „zum eigentlichen Volk verklärt“. 73 Diese theoretische Positionsverschiebung sollte im Verlauf der 1960er Jahre die antiautoritäre Neue Linke und damit die Ausrichtung des gesamten Studentenverbandes prägen. Die Neuorientierung unter dem Einfluss Marcuses stieß auf die erbitterte Kritik des traditionalistischen Flügels, der dies als schwindende Wahrnehmung des eigenen Klassengegensatzes sowie als Abkehr vom überlieferten Muster der historischen Klassenkämpfe deutete und entsprechend als „bündnisfeindlich, praxisfern und antikommunistisch“ 74 geißelte. Konkret führte die sukzessive Entfremdung von der Arbeiterklasse ebenfalls dazu, dass die Lösung der sozialen Frage nicht mehr in einem nationalen Rahmen gedacht wurde; vielmehr trat die nationale Frage insgesamt in den Hintergrund und wurde durch einen vielfach abstrakten Internationalismus überlagert. Ein Prozess, der in der politischen Praxis beispielsweise maßgeblich die Deutschlandpolitik des SDS beeinflussen sollte – und zu dessen Gegnern bemerkenswerterweise der Antiautoritäre Rudi Dutschke

70 So Dutschke in einem Brief an Ernst Bloch vom 17. Juli 1974, in: Bloch, Karola/Schröter, Welf (Hrsg.), Lieber Genosse Bloch…Briefe Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch, MössingenTalheim 1988, 91. 71 Marcuse, in: Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 51. 72 Marcuse, Versuch über die Befreiung, 120. 73 Thamer, Hans-Ulrich, Sozialismus als Gegenmodell. Theoretische Radikalisierung und Ritualisierung einer Oppositionsbewegung, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, 741–758, 750. 74 Bauß, Gerhard, Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin. Ein Handbuch, Köln 1977, 219.

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zählte. 75 Marcuse hingegen fand für sein Wirken, dessen Folgen sich noch heute beobachten lassen, auch in persönlicher Hinsicht eine ganz eigene Interpretation, charakterisierte er sich doch selbst als „absolut unverbesserlichen und sentimentalen Romantiker“. 76 NACH „1968“: DER NIEDERGANG DER PROTESTBEWEGUNG UND EIN BLICK AUF IHRE NACHWIRKUNGEN Die Jahre 1967/68 stellten zweifellos die ereignisreichste Zeitspanne der Protestbewegung in der Bundesrepublik und einen Höhepunkt der Ereignisse dar. Zugleich machten sich aber bereits im Jahre 1968 aus mehreren Gründen Zerfallserscheinungen bemerkbar, die auf einen baldigen Niedergang der Bewegung hindeuteten. Eine Ursache ist dabei besonders interessant, steht sie doch in direktem Zusammenhang mit den oben dargelegten Ausführungen: Denn gerade im von den Theorien Marcuses beeinflussten studentischen Teil setzte ein Umdenken dahingehend ein, dass die Proteste mit der bisherigen sozialen Basis und den gegebenen politischen Grundlagen nicht zum Erfolg führen konnten und daher in dieser Form an ihr Ende gekommen waren. Die Folgen waren die Abkehr eines Großteils der Aktivisten von der zuvor noch vehement vertretenen „Randgruppentheorie“ Herbert Marcuses, eine theoretische wie auch strategische Kehrtwende und eine diesbezügliche Umorientierung ab den Jahren 1969/70. So wurde etwa im sich bereits auflösenden SDS eine Wende eingeläutet, die sich durch eine vermehrte Abkehr vieler studentischer Protagonisten der Protestbewegung von ihrem ehemals elitären Habitus als Intellektuelle auszeichnete. Stattdessen waren eine zunehmende Hinwendung zur ehemals verpönten Arbeiterklasse als neu- oder wiederentdecktes revolutionäres Subjekt im klassisch marxistischen Sinne sowie eine generelle Betonung der Praxis zu beobachten. Im Klima einer generell zunehmenden Radikalisierung und dem „Drang nach neuer Bindung“ 77 folgend durchbrachen sie das Klima universitärer Isolation und opferten bereitwillig den ehemaligen Antiautoritarismus zugunsten eines neuen Verlangens nach Zentralisierung und Anleitung. 78 Damit besiegelte die „proletarische Wende“ einerseits das Ende der sogenannten „68er“-Bewegung und gab andererseits den Impuls für die Entstehung einer neuen Bewegung, welche in den 1970er Jahren das linksradikale Spektrum maßgeblich prägen sollte: die „K-

75 Siehe dazu Stangel, Matthias, Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Baden-Baden 2013, dort insbesondere Kap. 4; ebenfalls ders., „...warum ich aber dennoch stolz bin.“ Rudi Dutschke und das Geschichts- und Klassenbewusstsein der Deutschen, Seedorf 2019 (in Vorbereitung). 76 So Marcuse in: Kurnitzky/Kuhn (Hrsg.), Das Ende der Utopie, 45. 77 Koenen, Gerd, Mein 1968, in: ders./Veiel, Andreas, 1968. Bildspur eines Jahres, Köln 2008, 6–27, 22. 78 Koenen, Gerd, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 2004, 185.

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Gruppen“, bei denen es sich um straff organisierte, größtenteils sektenhaft anmutende und ideologisch auf den Maoismus sowie einen knallharten Stalinismus ausgerichtete Kleinstparteien und Splittergruppen handelte. 79 Dieser ideologische backlash beseitigte jedoch keineswegs vollständig die zuvor implementierte Prägung und so ist in dem hier dargelegten Einfluss Herbert Marcuses auf die Protestbewegung durchaus ein Zusammenhang zu einem aktuell erkennbaren Phänomen zu sehen. Denn ganz im Sinne der „Randgruppentheorie“ Marcuses kann eine zunehmende Verlagerung der Themenschwerpunkte beobachtet werden, die von der etablierten Linken bis hin zur sogenannten Antifa reicht. In diesem Zuge gilt die dort vorherrschende politische Konzentration dann etwa einem verstärkten Minderheitenschutz, Sprach-, Gender- und Diversitätsthemen sowie einer Priorisierung des Internationalismus und Multikulturalismus, wozu ebenfalls der Komplex der Flüchtlingspolitik zu zählen ist. Diese Themensetzung hat einerseits einen innerlinken Disput hervorgerufen, in dessen Rahmen etwa seitens der klassischen, traditionellen und marxistisch geprägten Linken bemängelt wird, dass zum einen eine solcherart ausgerichtete linke Politik nichts mehr mit der Lebenswirklichkeit der gesellschaftlichen Schichten zu tun habe, deren Interessen man eigentlich vertrete (an dieser Stelle wird oft stellvertretend das Bild der „Aldi-Kassiererin“ bemüht). 80 Zum anderen wird darüber hinaus noch kritisiert, dass sich durch ein solches Gebaren der heutige „Antifaschismus“ oftmals an der Seite des Neoliberalismus wiederfände und die Agenda der Globalisierung sowie multinationaler Konzerne erfülle. 81

79 Zum Phänomen der K-Gruppen siehe Stangel, Die Neue Linke und die nationale Frage; dort insbesondere Kap. 6 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 80 Die hauptsächlich auf einer überbetonten Moral fußende Argumentationsweise der heutigen, post-materialistisch geprägten Linken wird exemplarisch kritisiert von Stegemann, Bernd, Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik, Berlin 2018. Auch beim Thema Flüchtlingspolitik scheinen sich innerlinke Stimmen zu mehren, die darauf hinweisen, dass ein funktionierender Sozialstaat am besten innerhalb der vorgegebenen Grenzen des Nationalstaates und einer kalkulierbaren Anzahl der dort Lebenden seine Leistungen garantieren kann; siehe dazu etwa Hassel, Anke, Die linke Antwort: Migration regulieren, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2018, 33–36; Nida-Rümelin, Julian, Aufstehen?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10/2018, 15–18. Vgl. dazu auch Hofbauer, Hannes, Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert, Wien 2018. 81 Zu dieser innerlinken Kritik siehe etwa Witt-Stahl, Susanne, Auf dem Weg zur Knechtschaft. Der deutsche Antifaschismus ist auf den Hayek gekommen, in: dies./Sommer, Michael, „Antifa heißt Luftangriff!“ Regression einer revolutionären Bewegung, Hamburg 2014, 17–56; exemplarisch kann hier auch die Positionierung von Sahra Wagenknecht angeführt werden, die die falsche Prioritätensetzung im linken Spektrum kritisiert und etwa anmerkt: „Der Kampf um Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung ist links. Aber den kann man nicht führen, wenn man die wichtigste Form der Diskriminierung, die ökonomische Diskriminierung, ausblendet.“ Aus: „Offene Grenzen für alle – das ist weltfremd“, Interview mit Sarah Wagenknecht, (Abrufbar unter: https://www.focus.de/politik/deutschland/linkspartei-fraktionschefinim-interview-sahra-wagenknecht-offene-grenzen-fuer-alle-das-ist-weltfremd_id_8442307.html, Abrufdatum: September 2019); ähnlich auch Oskar Lafontaine, der zum Zusammenhang von sozialer Frage und Zuwanderung bemerkt, man dürfe „die Lasten der

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Matthias Stangel

Die Positionsverschiebung der politischen Linken und die oftmals postulierte Abkehr von den „kleinen Leuten“, der Arbeiterschaft und den Mittellosen in dieser Gesellschaft schlägt sich aber andererseits auch in durchaus messbaren Prozessen und Ergebnissen nieder. Denn in dieser Entfremdung von der einstigen Klientel, mag man auch heute nicht mehr vom „revolutionären Potential“ sprechen, welche mitunter deutliche Zeichen der Geringschätzung, gar der Verachtung trägt, 82 liegt einer der Gründe für das Überlaufen der verstoßenen Schichten zum politischen Gegner und den damit einhergehenden Wahlniederlagen der sozialdemokratischen, aber auch anderer Parteien des linken Lagers – ein mittlerweile in mehreren Ländern Europas zu beobachtendes Phänomen. 83 In der Bundesrepublik können zum Beleg dieser These aktuelle Wahl- und insbesondere Wählerwanderungsanalysen, etwa zur Bundestagswahl 2017, herangezogen werden: Bei diesen Wahlen erreichte die SPD, die damit zum dritten Mal hintereinander bei einer Bundestagswahl an Stimmen verloren hat, das schlechteste Wahlergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte. Ein detaillierter Blick auf das Ergebnis zeigt, dass die Sozialdemokraten einen nicht zu unterschätzenden Teil ihrer Wählerschaft an die Alternative für Deutschland (AfD) verloren haben, in Zahlen ca. 470.000 Wähler. Ebenso hat die AfD weite Teile der früheren Wählerschaft der Partei Die Linke, insbesondere im Osten Deutschlands, für sich gewinnen können – ca. 400.000 Wähler wechselten auf diesem Wege die Partei. 84 Auch wenn diese Wahlentscheidung sicherlich in vielen Fällen auf eine Proteststimmung zurückzuführen ist und monokausale Erklärungen ohnehin, nicht nur bei Wahlanalysen, zu kurz greifen, liegt ein wesentlicher Grund für den Wahlerfolg der AfD darin, dass die Partei überdurchschnittliche Stimmerfolge bei den Arbeitern und Arbeitslosen erzielen konnte – und somit gerade bei den Gruppen, die traditionell ihr Wahlkreuz bei den Parteien des linken Lagers gemacht haben, sich aber nun von diesen mehr und mehr verlassen zu fühlen scheinen. 85 Mögen auch alle anderen Argumente nicht zur Selbstreflektion beitragen, so

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Zuwanderung über verschärfte Konkurrenz im Niedriglohnsektor, steigende Mieten in Stadtteilen mit preiswertem Wohnraum und zunehmende Schwierigkeiten in Schulen mit wachsendem Anteil von Schülern mit mangelnden Sprachkenntnissen nicht vor allem denen aufbürden, die ohnehin bereits die Verlierer der steigenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sind“. Aus: Augstein, Jakob: „Wider die Globalisierung des Egoismus“, in: Der Freitag 42/2017 (online unter https://www.freitag.de/autoren/jaugstein/wider-die-globalisierung-desegoismus, Abrufdatum: März 2018). Siehe dazu exemplarisch Baron, Christian, Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten, Berlin 2016. Zur Schilderung, wie und warum beispielsweise ein großer Teil der Arbeiterschaft im Nordosten Frankreichs mittlerweile zum Front National übergelaufen ist, siehe Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims, 6. Auflage, Berlin 2016. Eine detaillierte Wahlanalyse findet sich etwa bei Neu, Viola/Pokorny, Sabine, Bundestagswahl in Deutschland am 24. September 2017. Wahlanalyse, Berlin 2017 (online unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_50152-544-1-30.pdf?180301154334, Abrufdatum: April 2018); die hier angegebenen Zahlen finden sich auf S. 21 der Studie. Vgl. Beitzer, Hannah, „Als den Volksparteien das Volk davonrannte“, in: Süddeutsche Zeitung vom 25. Dezember 2017 (online unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahlals-den-volksparteien-das-volk-davonrannte-1.3798822); N.N.: „Wahl-Analyse: Woher die

Auf Distanz zur Arbeiterklasse

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könnte doch zumindest die immer weiter fortschreitende Abfolge von Wahlniederlagen eine am Machterhalt bzw. an der Wiedererringung von Mehrheiten interessierte Linke zum Umdenken anregen. 86 Matthias Stangel lebt als Lektor und Publizist in der Nähe von Köln.

Stimmen für die AfD kommen“, in: Berliner Zeitung vom 7. November 2017 (online unter: https://www.bz-berlin.de/deutschland/wahl-analyse-woher-die-stimmen-fuer-die-afd-kommen); N.N.: „Ältere männliche Arbeiter wählen AfD“, in: Junge Freiheit vom 20. Juli 2017 (online unter: https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2017/aeltere-maennliche-arbeiterwaehlen-afd/); Abrufdatum jeweils April 2018. 86 Dass die Problematik zumindest teilweise erkannt worden ist, darauf verweisen beispielsweise Äußerungen des ehemaligen stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Peer Steinbrück: „Die Sozialdemokratie hat bisher nicht richtig wahrgenommen, dass es neben dem klassischen Verteilungskonflikt eine neue Konfliktlinie in der Gesellschaft gibt: einen Wertekonflikt – einige sprechen sogar von einem Kulturkampf – zwischen denjenigen, für die Einwanderung, Globalisierung und Multikulturalismus positiv besetzt sind, und denjenigen, die sich kulturell zurückgelassen und fremd im eigenen Land fühlen [...]. Wie die Sozialisten in Frankreich ist auch die SPD in Gefahr, sich mehr um Antidiskriminierungspolitik und Lifestylethemen zu kümmern und darüber die Befindlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft außer Acht zu lassen.“ Aus Medick, Veit/Sauga, Michael, „Wahnsinniger Unfug“. Spiegel-Gespräch mit Peer Steinbrück, in: Der Spiegel vom 3. März 2018, 36–38, hier 36; zum Scheitern der politischen Linken in Deutschland vgl. auch Abé, Nicola/Feldkirchen, Markus u.a., „Die Abgehängten“, in: Der Spiegel vom 20. Januar 2018, 14–19.

REZENSIONEN

Hendrik Born: Es kommt alles ganz anders. Erinnerungen eines Zeitgenossen an die Volksmarine der DDR und das Leben danach. Mittler Verlag, Hamburg 2018. 509 Seiten, 19,95 €. Wie gewonnen, so zerronnen – dieses Sprichwort passt auf die knapp zwei Jahre, in denen der 1944 geborene Hendrik Born zunächst die Uniformjacke mit den Insignien eines Konteradmirals und später diejenige eines Vizeadmirals tragen durfte. In seiner von Ende 1984 an ausgeübten Position in Peenemünde als Chef der 1. Flottille der Volksmarine erfolgte die Erhebung zum Flaggoffizier durch Erich Honecker im Staatsratsgebäude in Ost-Berlin am 7. Oktober 1988, dem 39. Jahrestag der DDR-Gründung; die nächste Beförderung fand in Rostock (wenige Wochen nach dem Mauerfall) am 11. Dezember 1989 statt – verbunden mit dem „Befehl zum Einsatz als Chef der Volksmarine“, den Theodor Hoffmann, Admiral und Verteidigungsminister in der Regierung von Hans Modrow, erteilte. Feiern wollte Ende 1989 mit dem neuen Teilstreitkräfte-Chef von zirka 14.000 Marineangehörigen und 4.500 Zivilbeschäftigen niemand mehr – außer dem eigenen Fahrer, mit dem er immerhin eine Flasche französischen Cognac leerte. Denn es herrschte eine große Verunsicherung in den DDR-Streitkräften, verbunden mit vagen Hoffnungen auf die „Waffenbrüderschaft“ mit der Sowjetunion und – nach der Volkskammer-Wahl vom 18. März 1990 – auf die „Ein Staat, zwei Armeen“-Formel von Pfarrer Rainer Eppelmann, des neuen Verteidigungsministers in der Regierung von Lothar de Maizière; dadurch sollte verhindert werden, dass nach Herstellung der deutschen Einheit Nato-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert würden. Das alles war jedoch durch das Kaukasus-Treffen von Bundeskanzler Kohl und Generalsekretär Gorbatschow Mitte Juli 1990 „Makulatur“ geworden. Dabei lobt Born „seine“ Volksmarine in allerhöchsten Tönen, hebt ihre unermüdliche Einsatzbereitschaft an 365 Tagen im Jahr hervor (durch einen Druckfehler sind es im Buch nur 356) und weiß den zu benennen, der die Waffenbrüderschaft „verraten“ und die DDR samt Nationaler Volksarmee „verkauft“ habe. Dank „Michail Sergejewitsch“ sei „alles für die Katz“ gewesen: Sprunghaftigkeit und „radikale Ansätze ohne eine erkennbare Strategie“ des Kreml-Chefs sorgten bei Born und bei dessen russischer Ehefrau schon Mitte der achtziger Jahre für ein „ungutes Gefühl“. In seinem 500 Seiten umfassenden und von Namen (bis hinunter auf die verdienstvolle Ebene der Fahrer und Sekretärinnen) nur so strotzenden Lebensrückblick, dem leider weder ein Personen- noch ein Sachregister beigefügt ist, bekennt der mit Ablauf des 2. Oktober 1990 „im Zusammenhang mit der Reduzierung der NVA und Strukturveränderungen aus dem aktiven Wehrdienst“ (so der Urkundentext) entlassene Vizeadmiral außer Dienst Born in aller Offenheit: Ich bin heute noch erstaunt, wie rasant dieser Narr historischen Ausmaßes sein Riesenreich zugrunde richten konnte. Die einzige und mächtige Klammer, die den Vielvölkerstaat zusammengehalten hatte, waren die Kommunistische Partei und teilweise die Armee. Zunächst unterminierte er die Partei, indem er durch seine Politik der Glasnost seinem Volk und der ganzen Welt die Verkrustung und Dekadenz der Parteiführung auf allen Ebenen vorführte.

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Rezensionen Die Partei verlor ihre Macht, und damit Gorbatschow als Generalsekretär ebenfalls. Als einer der nächsten Schritte entmachtete er das Militär.

Er habe sich für „unantastbar und unfehlbar“ gehalten. Den Mitgliedern der Moskauer Führungsschicht habe der Glaube an eigene Ideen gefehlt; sie hätten sich nur darum bemüht, „sich und den Seinen ein angenehmes Leben zu gestalten“. Inund ausländische „Kräfte“ hätten die Chance erkannt, „die der politische Tölpel Gorbatschow ihnen eröffnete, und ihn in seiner Eitelkeit bestärkt“. Kohl habe „diesen Schwätzer zunächst an sich gar nicht mal zu Unrecht mit Goebbels“ verglichen, der amerikanische Präsident Reagan bezeichnete ihn als Ausgeburt des Bösen, was an sich auch nicht so falsch war, wenn man es aus der sowjetischen Sicht sah. Später wurde Gorbatschow ein ‚guter Freund‘ von Kohl, dann ließ dieser ihn fallen und der Trunkenbold Jelzin war als nützlicher Idiot ein noch besserer Freund des Westens. Klar, dass Putin, der diesen zweifelhaften Freundschaften einen Riegel vorschob und dem Volk wieder Würde, Selbstvertrauen und eine neue Existenzgrundlage verschaffte, nicht beliebt im Westen ist

konstatiert Born. Damit präsentiert er sich offen und ehrlich – wenn auch die westlichen Bemühungen um Russland ausblendend und das Krim-Abenteuer des jetzigen Kreml-Chefs indirekt verteidigend oder zumindest entschuldigend – als Putin-Versteher. Larmoyanz liegt dem Memoirenschreiber fern, aber Enttäuschung bildet ein Leitmotiv des Buches – über die Sowjetunion und über die DDR. Der aus kleinsten Verhältnissen stammende, in Loitz im Kreis Demmin geborene und in Stralsund aufgewachsene Born, der „in Ermangelung deutscher Helden“ die Kriegserlebnisse und Erinnerungen sowjetischer Heerführer las und „eine noch kindlich geprägte Hochachtung vor den Leistungen der Sowjetsoldaten und den sowjetischen Menschen in diesem Kriege“ entwickelt hatte („So erschien es mir nur richtig, mit dem Faschismus aufzuräumen und etwas völlig Neues und Gerechtes aufzubauen, so, wie ich es in den Anfängen der DDR miterlebte“), spürte ab 1972 während seines vierjährigen Lehrgangs an der Militärakademie der Seestreitkräfte der UdSSR in Leningrad, dass er ein „stark überhöhtes Idealbild“ von der Sowjetunion hatte. Ihm fiel auf, dass „vermehrt die Erfolge aus der Vergangenheit hervorgehoben wurden. So zeigte man immer häufiger Filme über den Sieg der Roten Armee über Nazideutschland“: Unser doch recht enges und schwarz-weiß geprägtes Weltbild wurde unmerklich umgekrempelt. Zunächst versuchten wir, viele offensichtliche Widersprüche in unserer neuen Umgebung zu bagatellisieren oder schönzureden. Aber die Zeremonien und das ganze politische Vokabular waren regelrecht erstarrt. Bei Festveranstaltungen stand stets ein freier Stuhl im Präsidium für Leonid Breschnew als Ehrenvorsitzender der Veranstaltung.

Born berichtet über das militärische Hauptstudium in einer internationalen Gruppe, das sich als „Schule der Waffenbrüderschaft“ der Warschauer-Pakt-Staaten erwiesen habe, die vom Gastland Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges „mit Füßen getreten“ worden sei, indem es „alle seine Waffenbrüder wie Ballast abgeworfen“ habe. Zum Glück lernte Born an der Newa mit Enessa die Frau fürs Leben kennen, die viel zu seinem besonderen Verständnis der russischen Seele bei-

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trug. In den ersten Wochen fragte ein sowjetischer Dozent die Lehrgangsteilnehmer, ob sie „die Memoiren von Karl Dönitz schon studiert hätten“: Wir bekamen wieder einmal fast einen Kulturschock. Hätten wir das Buch zu Hause nur besessen, wäre es um unsere Karriere wohl schlecht bestellt gewesen. Doch in den speziellen sowjetischen Buchhandlungen für Militärliteratur lagen dieses Buch und Memoiren anderer Feldherren der Wehrmacht in russischer Sprache vor. Uns wurde klargemacht, dass ein Soldat den Gegner vorurteilslos studieren muss und aus der Geschichte zu lernen hat. Die Ideologie hat hier keinen Platz. So war eines der ersten Bücher, das ich auf Russisch gelesen habe, der Dönitz. Das hätte mir mal jemand in der DDR voraussagen sollen!

Born machte eine steile Karriere; meist gehörte er zu den „Prämierten“, nie zu den „Deprimierten“. In der Volksmarine seien manchmal „Unfähige weggelobt“ worden, die „folgerichtig im Ministerium“ gelandet seien; er selbst habe „nicht in Stuben alt werden“ wollen, sondern auf See. Wäre da nur nicht die Große Politik und die neue Militärdoktrin des Warschauer Paktes gewesen. Hinzu kamen interne Probleme: „Der Milliarden-Kredit, den der bisherige ‚Erzfeind‘ des Kommunismus, Franz Josef Strauß, der DDR besorgte, hatte schlagartig gezeigt, wie schlimm es wirtschaftlich um unser Land bestellt sein musste.“ Zudem habe sich der Unterschied im Lebensstandard „als immer gravierender“ herausgestellt: So war es fast folgerichtig, dass DDR-Bürger in zunehmendem Maße Ausreiseanträge in die BRD stellten. Bis Ende 1988 sollte die Zahl die 100.000 überschreiten. Um ein Ventil zu öffnen, gab die DDR-Führung vielen Anträgen statt. Das erzeugte nur einen größeren Sog.

Die „alarmierende Entwicklung in der DDR als Ganzes“ ließ laut Born sogar in der fast vollständig isolierten militärischen Enklave im Sperrgebiet Peenemünde aufhorchen, „weil wir zunehmend Mannschaften zur Unterstützung der Volkswirtschaft zu entsenden hatten. So auch in die Braunkohle und in die Werftindustrie“. Der Honecker-Besuch in der Bundesrepublik 1987 habe den Eindruck erweckt, „dass beide Länder eigentlich zusammengehörten“: Anstatt den Weg der Verständigung gemeinsam mit der BRD weiterzugehen und eine mögliche Konföderation ins Auge zu fassen – diese Freiheit hatte die DDR-Führung im Ergebnis der totalen Öffnungspolitik von Gorbatschow nun –, versteifte sich das Politbüro um Honecker auf die Gewissheit des Sieges des Sozialismus. Diese abstruse realitätsferne Politik erzeugte nicht nur in der Zivilgesellschaft Unverständnis. Sie erzeugte bei vielen DDR-Führern ein Gefühl der Perspektivlosigkeit

konstatiert Born. Also eine verpasste Chance, die große Freiheit für die DDR zu erlangen? Das alles ohne die friedliche Revolution von 1989? Daran will der frühere Vizeadmiral glauben, beziehungsweise geglaubt haben. Von August bis Oktober 1989 – die DDR lag in letzten Zuckungen – musste Born auf Befehl von oben einen Lehrgang an der Militärakademie in Dresden besuchen. „Hautnah“ erlebten die „Kommandeure aus unserer Seminargruppe“ die Ereignisse am Hauptbahnhof der Elb-Metropole bei der Durchfahrt der ausreisenden DDR-Bürger aus der Tschechoslowakei am 4. Oktober in die Bundesrepublik: „Wir schrieben an den Verteidigungsminister, Armeegeneral Keßler, und baten, den Lehrgang zu beenden und uns zur Truppe zurückzuversetzen. Er ant-

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wortete, dass er dazu keine Veranlassung sehe.“ Daraufhin waren die Lehrgangsteilnehmer der Meinung, das Politbüro, dem auch Keßler angehörte, sei nicht mehr Herr der Lage; die Forderungen des Neuen Forums und der Masse der Demonstranten sind nicht staatsfeindlich und wären teilweise ohne Probleme umzusetzen. Wir werden als Armee des Volkes unsere Einheiten nicht gegen diese Menschen einsetzen, schon gar nicht auf sie schießen. Später hat sich gezeigt, dass alle mir bekannten Kommandeure eine ähnliche Haltung einnahmen.

Chapeau für Borns Bekanntenkreis! Am 18. Oktober erfolgte der Sturz Erich Honeckers. Dessen Nachfolger hätten überhastet die DDR, die nicht bankrott gewesen sei, aufgegeben, behauptet Born. Durch eine von Ost-Berlin initiierte „Kooperation oder sogar Konföderation mit der BRD“ sowie durch Beteiligungen und Investitionen der westlichen Länder zur Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft hätte „Bewährtes aus der DDR“ bewahrt werden können. Dann kam der 9. November, der Geburtstag seiner mittlerweile längst als Historikerin in Rostock promovierten Frau: „Wir saßen bei einer Flasche Wein zusammen und sahen im Fernsehen den Lapsus historischen Ausmaßes von Günter Schabowski mit den bekannten chaotischen Folgen der Grenzöffnung.“ Born will sofort gesagt haben: „Nun ist es mit der DDR vorbei.“ So war es auch, wenngleich noch ein Karrieresprung bevorstand und Born Chef einer Marine wurde, für die es „praktisch“ in der Ostsee „keinen Gegner mehr“ gab. Dass es von westdeutscher Seite 1990 nicht selten an Fingerspitzengefühl beim Umgang mit den ostdeutschen Brüdern und Schwestern gefehlt hat, machen die geschilderten Erlebnisse deutlich. Offensichtlich sind Hoffnungen geweckt worden (bis hin zu Übernahmemöglichkeiten oder Pensionsansprüchen), die eigentlich niemand erfüllen wollte; es ging allerdings vorübergehend vor allem darum, die Waffenträger der DDR irgendwie zu sedieren. Vom „totalen Sieg“ über den Warschauer Pakt, bei der lediglich die Kapitulationsurkunde gefehlt habe, ist bei Born die Rede. Am 5. September 1990 gab es „einen letzten Schlag in die Magengrube“ durch den ersten und letzten Besuch des Vizeadmirals Hans-Joachim Mann, des Inspekteurs der Bundesmarine, bei der Volksmarine. Die Bundesmarine ging damals – so Born – von einer eigenen Reduzierung von 50 Prozent aus, so dass ihr die Volksmarine „höchst unwillkommen“ gewesen sei und sie alle ostdeutschen Schiffe „an die Kette legen“ wollte. Zum Trost bestand das westdeutsche Angebot, die ausscheidenden Berufssoldaten der Volksmarine in die Industrie, in das Bankwesen oder „zu anderen Institutionen, welche ein ständiges Interesse für ausscheidende Kader der Marine“ bekunden, zu vermitteln. Bevor die beiden Marine-Chefs gemeinsam in einem Verkehrsboot zur 4. Flottille aufbrachen, wollte Born dem Besucher aus Bonn einen Admirals-Ehrendolch der Volksmarine übergeben. Diesen hatte der Adjutant vergessen, bereitzustellen. So überreichte ich kurzerhand meinen Dolch. Später ging mir die Zweideutigkeit dieser Geste auf. Man könnte die Szene auch so deuten: Ein geschlagener Admiral überreichte dem Sieger seinen Degen.

Mitte September fiel am Rhein die Entscheidung, keinen General oder Admiral in die Bundeswehr zu übernehmen – und zwar gegen den Willen Eppelmanns, der

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aber dafür sorgte, „dass die drei Chefs der Teilstreitkräfte und wenige andere hohe Offiziere als Berater im Auftrage des Verteidigungsministeriums eingesetzt“ werden sollten. Auf verschiedene Firmen verteilte sich das im letzten Viertel des Buches skizzierte, insgesamt wohl lukrativ erfolgreiche und mit vielen Reisen in den Osten Europas verbundene „Leben im Westen“ bis zur Rente Ende August 2009; daran schloss sich die Mitarbeit in der „Deutschen Gesellschaft für Schiffahrtsund Marinegeschichte“ bis 2018 an. Spätestens seit den Historisch-Taktischen Tagungen (HiTaTa) der Deutschen Marine 2017/2018 war es laut Born für die Veranstalter „Normalität“, die Volksmarine der DDR „als eine deutsche Flotte in die Marinegeschichte einzuordnen“. Dass im heutigen Traditionsverständnis die NVA weiterhin als „Klassen- und Parteiarmee“ bezeichnet wird, stört den Memoirenschreiber: Eine Armee, in der die übergroße Mehrheit keiner Partei angehörte, die Soldaten allerdings im Sinne des sozialistischen Staates politisch geschult und im Politikunterricht angehalten wurden, den militärischen Auftrag mit Höchstleistungen zu erfüllen, scheint mir nicht die Kriterien eines Instruments der Partei zu erfüllen. Auch bestand die NVA, wie alle Armeen, aus Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren und nicht aus Klassen. Natürlich war die NVA, wie alle Strukturen des Landes, von der SED durchdrungen. Doch leisteten die Soldaten ihren Eid auf die DDR und nicht auf die SED und ihre Aufgaben waren in der Verfassung und nicht im Parteistatut verankert. Ein Einsatz im Innern (nur so konnte die SED militärisch geschützt werden) war laut Verfassung ausgeschlossen. Als Koalitionsarmee bekam die NVA ihre militärischen Aufträge vom Vereinten Oberkommando der Warschauer Vertragsstaaten und nicht vom Politbüro der SED.

Aber befand sich die DDR nach eigenem Selbstbild nicht mehr in ständiger Konkurrenz und Konfrontation mit dem „Klassenfeind“ in der Bundesrepublik? Spielte die Verfassung der DDR plötzlich jene Rolle, die ihr jetzt posthum von einem der höchsten ehemaligen Militärs zugebilligt wird? Und war nicht die DDR – ob nun Staatsapparat oder bewaffnete Formationen – vor allem das SED-Regime, eben weil die Partei das Sagen hatte? Bis auf solche Retro-Schönschreibereien samt Traditions-Seemannsgarn handelt es sich um höchst informative, über die Marinegeschichte weit hinausgehende Memoiren des einstmals jüngsten Admirals/Generals der DDR. Rainer A. Blasius, München

Die Historischen Mitteilungen warten in diesem Jahr mit zwei Schwerpunkten auf: Innerhalb der Schwerpunktreihe „Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870)“ vereint Wolf D. Gruner im zweiten Teil „Die Neuordnung in Norddeutschland nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes“ wieder eine Vielzahl von aktuellen Perspektiven renommierter Autoren zu dem Thema.

ISBN 978-3-515-12704-2

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Der zweite Schwerpunkt des Jahrbuchs liegt auf Tagungsbeiträgen zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union. Des Weiteren beinhaltet der Aufsatzteil Beiträge zu unterschiedlichen Themen der Neueren und Neuesten Geschichte. Rezensionen komplettieren den aktuellen Band.

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