Historische Mitteilungen 30: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) / Michael Salewskis „Veränderungen“ 3515123261, 9783515123266

Die "Historischen Mitteilungen" warten in diesem Jahr mit zwei Schwerpunkten auf: Zum einen mit dem Themenbere

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INHALTSVERZEICHNIS
SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870)
(THOMAS STAMM-KUHLMANN) Geleitwort
(WOLF D. GRUNER)
Einleitung
(ULRICH LAPPENKÜPER) Im Banne der „Fibre National“. Frankreich und der Norddeutsche Bund 1866 bis 1870
(WOLF D. GRUNER)
Die Süddeutschen Staaten:
Vom Deutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870)
(JÜRGEN MÜLLER) Harter Prexit. Der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund 1866
(JOHN R. DAVIS)
Großbritannien, das Ende des Deutschen Bundes und
der Norddeutsche Bund (1866–1870)
(MATTHIAS STICKLER)
„Wiedereintritt nach Deutschland“?
Österreich-Ungarn und der Norddeutsche Bund
SCHWERPUNKT II:
MICHAEL SALEWSKI (1938–2010)
(JAN KUSBER)
Michael Salewskis „Veränderungen“.
Eine Einführung
(MICHAEL SALEWSKI (†))
Veränderungen oder: Wie geht Geschichte?
Geistesgeschichtliche Betrachtungen
AUFSÄTZE
(SIMON GROTH)
Giesebrechts „Geschichte der Deutschen Kaiserzeit“.
Über ein Schlüsselwerk der deutschen Mediävistik
(PETER HENNING)
Das Modell der subjektiven Authentizität für die Analyse publizistischer
Tagebücher am Beispiel der Tagebücher Erich Ebermayers 1933–1939
(IBOLYA MURBER) Mitteleuropäisches Krisenmanagement nach dem Ersten Weltkrieg. Wege Österreichs und Ungarns in eine Konsolidierung
TAGUNGSBERICHT
(NOAM ITTERSHAGEN)
„Bedingt einsatzbereit!“ Die Gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU. Entwicklung, Erkenntnisse und Perspektiven
REZENSIONEN
(MARTIN SCHIPPAN)
Maike Rauchstein: Fremde Vergangenheiten. Zur Orientalistik des
Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1791)
(INGO LÖPPENBERG)
Hans-Christof Kraus/Frank-Lothar Kroll: Historiker und Archivar im
Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen Kloosterhuis
(THOMAS JANSEN)
Michael Gehler: Europa.
Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt
AUTORENVERZEICHNIS
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Historische Mitteilungen 30: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) / Michael Salewskis „Veränderungen“
 3515123261, 9783515123266

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Band 30 · 2018 Franz Steiner Verlag

Historische Mitteilungen Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft herausgegeben von jürgen elvert matthias asche birgit aschmann markus a. denzel jan kusber sönke neitzel joachim scholtyseck thomas stamm-kuhlmann

Historische Mitteilungen · Band 30

Historische Mitteilungen Band 30 (2018) Schwerpunkt I: Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) Gastherausgeber: Wolf D. Gruner Schwerpunkt II: Michael Salewskis „Veränderungen“ Gastherausgeber: Jan Kusber

Franz Steiner Verlag

Historische Mitteilungen Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V. herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Elvert ( federführend) / Prof. Dr. Matthias Asche / Prof. Dr. Birgit Aschmann / Prof. Dr. Markus A. Denzel / Prof. Dr. Jan Kusber / Prof. Dr. Sönke Neitzel / Prof. Dr. Joachim Scholtyseck / Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann Wissenschaftlicher beirat Prof. Dr. Winfried Baumgart / Prof. Dr. Michael Kißener / Prof. Dr. Ulrich Lappenküper / Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl / Prof. Dr. Bea Lundt / Prof. Dr. Christoph Marx / Prof. Dr. Jutta Nowosadtko / Prof. Dr. Johannes Paulmann / Prof. Dr. Wolfram Pyta / Prof. Dr. Wolfgang Schmale / Prof. Dr. Reinhard Zöllner redaktion Benjamin Naujoks, Universität zu Köln, Historisches Institut, Gronewaldstr. 2, D – 50931 Köln, E-Mail: [email protected] www.steiner-verlag.de/HMRG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISSN 0936-5796 ISBN 978-3-515-12326-6 (Print) ISBN 978-3-515-12329-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870) TEIL I: DIE GROSSMÄCHTE UND SÜDDEUTSCHLAND THOMAS STAMM-KUHLMANN Geleitwort ................................................................................................................ 7 WOLF D. GRUNER Einleitung ............................................................................................................... 11 ULRICH LAPPENKÜPER Im Banne der „Fibre National“ Frankreich und der Norddeutsche Bund 1866 bis 1870 ........................................ 39 WOLF D. GRUNER Die Süddeutschen Staaten: Vom Deutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870) ....................... 63 JÜRGEN MÜLLER Harter Prexit Der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund 1866 .......................................... 99 JOHN R. DAVIS Großbritannien, das Ende des Deutschen Bundes und der Norddeutsche Bund (1866–1870) .................................................................. 119 MATTHIAS STICKLER „Wiedereintritt nach Deutschland“? Österreich-Ungarn und der Norddeutsche Bund ................................................. 149 SCHWERPUNKT II: MICHAEL SALEWSKI (1938–2010) JAN KUSBER Michael Salewskis „Veränderungen“ Eine Einführung ................................................................................................... 167

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Inhaltsverzeichnis

MICHAEL SALEWSKI (†) Veränderungen oder: Wie geht Geschichte? Geistesgeschichtliche Betrachtungen .................................................................. 171 AUFSÄTZE SIMON GROTH Giesebrechts „Geschichte der Deutschen Kaiserzeit“ Über ein Schlüsselwerk der deutschen Mediävistik ............................................ 311 PETER HENNING Das Modell der subjektiven Authentizität für die Analyse publizistischer Tagebücher am Beispiel der Tagebücher Erich Ebermayers 1933–1939 ............ 337 IBOLYA MURBER Mitteleuropäisches Krisenmanagement nach dem Ersten Weltkrieg Wege Österreichs und Ungarns in eine Konsolidierung ...................................... 359 TAGUNGSBERICHT NOAM ITTERSHAGEN „Bedingt einsatzbereit!“ Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Entwicklung, Erkenntnisse und Perspektiven ...... 379 REZENSIONEN MARTIN SCHIPPAN Maike Rauchstein: Fremde Vergangenheiten. Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1791) ................................ 385 INGO LÖPPENBERG Hans-Christof Kraus/Frank-Lothar Kroll: Historiker und Archivar im Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen Kloosterhuis ........................................ 391 THOMAS JANSEN Michael Gehler: Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt......................................... 395

SCHWERPUNKT I: VOM DEUTSCHEN BUND ÜBER DEN NORDDEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870)

TEIL I: DIE GROSSMÄCHTE UND SÜDDEUTSCHLAND

GELEITWORT Thomas Stamm-Kuhlmann

Die Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte hat das 150. Jubiläum der Gründung des Norddeutschen Bundes zum Anlass genommen, um vom 28. bis zum 30. September 2017 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in BerlinDahlem eine wissenschaftliche Konferenz abzuhalten. In den Referaten der maßgeblichen Kenner werden die Reaktionen des europäischen Umfeldes auf die Neugestaltung Mitteleuropas zwischen 1866 und 1870 ebenso behandelt wie die Schicksale jener deutschen Staaten, die Mitglieder des neuen Bundes wurden. Schließlich werden die Reaktion der Polen in den preußischen Ostprovinzen auf die neuerliche Akzentuierung Preußens als deutscher Staat, der neue Zollbundesstaat, die Verfassung und der Parlamentarismus in jenem Vertretungsorgan, das schon Reichstag hieß, gewürdigt. Die Arbeitsgemeinschaft dankt der Ranke-Gesellschaft für die Möglichkeit, ihre Tagungsbeiträge in den „Historischen Mitteilungen“ (HMRG) zu veröffentlichen. Sie werden neben dem vorliegenden Band in den folgenden beiden Jahrgängen der Historischen Mitteilungen erscheinen. Das deutsche Kaiserreich als Konstruktion Bismarcks, um die Großmachtstellung Preußens abzusichern, hat sich als eine kurzlebige Schöpfung erwiesen. Jeder, der in der heutigen Bundesrepublik groß geworden ist, hat einen Staat von längerer Dauer kennen gelernt. Und als 1918/19 über die verfassungsmäßige Neugestaltung Deutschlands entschieden werden musste, dachten die Akteure von weit links bis in die liberale Mitte des politischen Spektrums nur daran, dass durch eine Auflösung Preußens die nationale Einheit Deutschlands erst zu vollenden sei. Diese nationale Einheit war es dann aber, die sich als erstaunlich robustes Motiv der Politik bewährt hat. Sie war den verschiedenen Fraktionen des Widerstands

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Thomas Stamm-Kuhlmann

gegen Hitler so selbstverständlich, dass sie nicht einmal einen Programmpunkt daraus machten. Schließlich überdauerte die Idee der Einheit sogar vierzig Jahre der Teilung, obwohl beide deutsche Teilstaaten das Ziel einer Überwindung der Teilung längst auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben hatten. Die äußeren Gegner Hitlerdeutschlands haben ebenfalls nicht geleugnet, dass es so etwas wie eine deutsche Nation gab. Sie haben während des Zweiten Weltkrieges lediglich Pläne geschmiedet, wie diese Nation ihres schlagkräftigen Zentralismus zu entledigen sei und wie man Vorsorge gegen ein erneutes Aufleben der Eroberungssucht dieser Nation treffen könnte. Dabei wurde auch erwogen, Deutschland wieder entlang der Mainlinie zu teilen und einen Süddeutschen Bund zu bilden, der, in Winston Churchills Vorstellungen, Partner einer Donau-Föderation werden konnte, also die alten Verbindungen von Regensburg bis zum Schwarzen Meer pflegen sollte, um ein Gegengewicht gegen den angeblich aggressiven Norden und gegen die Sowjetunion zu bilden. Norddeutscher und Süddeutscher Bund ordnen gemeinsam die Mitte Europas: Diese Vorstellung mag uns heute weit hergeholt erscheinen, sie war es im 19. Jahrhundert aber nicht. Denn dass Preußen die Schutzmacht Norddeutschlands sei und dieses sich hinter Preußen zu stellen habe, war bereits im Frieden von Basel 1795 zwischen Preußen und Frankreich anerkannt. In diesem Vertrag war im Großen und Ganzen die Mainlinie als eine Demarkationslinie festgelegt worden. Nördlich davon durfte Frankreich keinen Krieg führen, hier blühten für ein Jahrzehnt die klassische deutsche Literatur und Philosophie. Die „norddeutsche Neutralität“ wurde von Preußen mit bewaffneter Macht geschützt. Es ist von daher aus vielleicht nicht überraschend, dass Napoleon I. nach der Begründung des österreichischen Kaisertums durch Franz I. dem König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., im Jahr 1804 den Vorschlag machte, sich ebenfalls zum Kaiser aufzuwerfen. Nachdem die Rheingrenze seit 1801 unbestritten war, die geistlichen Staaten im Reichsdeputationshauptschluss untergegangen waren und schließlich sogar das Heilige Römische Reich selbst aufgelöst worden war, musste tatsächlich in irgendeiner Form eine dauerhafte Ordnung für Norddeutschland geschaffen werden. Neben Preußen hätten hier Kurhessen und Sachsen das Rückgrat bilden müssen. An einer solchen Gestaltung, für die auch der Name des „Nordischen Reichsbunds“ vorgeschlagen worden ist, haben die Minister Friedrich Wilhelms III. tatsächlich bis zum September des Jahres 1806 gearbeitet. Aber noch während die Verhandlungen über einen Norddeutschen Bund geführt wurden, zeigte Napoleon, dass er über die Rheingrenze auszugreifen gedachte und die preußische Kontrolle über Norddeutschland nicht ernsthaft respektierte. Hier sind die Ursachen des Krieges von 1806-1807 zu suchen. Die Niederlagen in den Kriegen gegen Napoleon zwangen Preußen und Österreich, wieder Seite an Seite zu kämpfen. Daher war es absehbar, dass ab 1814 die Pläne für eine Ordnung Deutschlands von einem Kondominium beider Großmächte ausgingen, vor allem, da das Vorgehen beider durch das europäische Konzert der Gegner Frankreichs abgesichert war.

Geleitwort

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Es waren die Söhne Friedrich Wilhelms III., die sich wieder mit der Möglichkeit eines norddeutschen Bundes konfrontiert sahen. Nachdem zunächst die Frankfurter Nationalversammlung am 26. Oktober 1848 die Entscheidung für eine kleindeutsche Lösung getroffen hatte, dieses kleindeutsche Reich aber nicht zuletzt an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gescheitert war, verfolgte Friedrich Wilhelm IV. mit seiner Erfurter Unionspolitik 1850 das Ziel, Deutschland zunächst nördlich der Mainlinie zu einen. Dieses Projekt scheiterte noch einmal an den Drohungen Österreichs, und der Deutsche Bund von 1815 wurde, in völliger Missachtung der Wünsche der deutschen Nationalbewegung und der Arbeiten sowohl des Frankfurter wie auch des Erfurter Parlaments, restauriert. Was folgt, ist bereits Gegenstand dieses Bandes und der folgenden Jahrgänge der Historischen Mitteilungen. Sicher war in der Art, in der man 1864 eine vorübergehende Lösung für die Schleswig-Holstein-Frage gefunden hatte, bereits der Keim für die Spaltung von 1866 gelegt. Jetzt war der jüngere Sohn Friedrich Wilhelms III. mit der Möglichkeit konfrontiert, das norddeutsche Umfeld an Preußen anzuschließen. Er hatte in Otto von Bismarck einen Minister zur Seite, der dem Minister seines Vaters, Karl August von Hardenberg, an Energie nicht nachstand. Die hypothetisch interessanteste Frage dürfte sein: Hätte ein Norddeutscher Bund allein Dauer gewinnen können? Oder war er tatsächlich nur als Trittstein auf dem Weg zur Vollendung der kleindeutschen Lösung angelegt, wie die Reichshistoriker nach 1871 gerne behaupteten? Wolf D. Gruner als Veranstalter der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte von 2017 legt in seiner hier folgenden Einleitung nahe: der Trittstein war nicht die einzige Möglichkeit. Denn der Deutsche Bund war bereits in der Lage gewesen, Aufgaben nationaler Vereinheitlichung wahrzunehmen, ohne ein Staat zu sein, und diese Funktionen hätte der Norddeutsche Bund fortführen können. Andere Referenten der Tagung, deren Beiträge wir in den HMRG abdrucken werden, hingegen betonten, dass die meisten gesellschafts- und verfassungspolitischen Ziele der Frankfurter Nationalversammlung im Norddeutschen Bund realisiert waren, so dass die Zustimmung der deutschen Nationalbewegung zu dem 1867 eingeleiteten Prozess nicht verwundern könne. Und da man in Frankfurt 1849 eine Verfassung für ein kleindeutsches Reich unter Einschluss der vier süddeutschen Staaten verabschiedet hatte, sei es zumindest für die Nationalbewegung als zwangsläufig erschienen, dass der Norddeutsche Bund durch den Beitritt des „Dritten Deutschland“ zum Deutschen Reich abgerundet wurde. Die Diskussion hierzu in Berlin-Dahlem war lebhaft. Ich wünsche mir, dass der vorliegende Band und die kommenden diese Diskussion in die Geschichtswissenschaft tragen werden.

EINLEITUNG Wolf D. Gruner

1. EINFÜHRUNG ZUM THEMENSCHWERPUNKT: HATTEN DEUTSCHER BUND UND DEUTSCHE NATION KEINEN GEMEINSAMEN NENNER UND STANDEN DER ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZUR NATION IM WEGE?1 Der Norddeutsche Bund hat aus verschiedenen Gründen in der historischen Forschung bisher nur wenig Beachtung gefunden. Eine der Ursachen lag darin, dass er aus der Sicht der Reichsgeschichtsschreibung als Übergangsinstitution auf dem Weg zur Gründung des deutschen Nationalstaates nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 angesehen wurde und der Weg in das Kaiserreich als alternativlos angesehen wurde. In der nationalen und internationalen historischen Forschung ist seit einigen Jahren eine neue Bewertung der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der europäischen Geschichte festzustellen. Als bisheriges Ergebnis wurde ein differenzierteres Bild Deutschlands, der Deutschländer, der deutschen Frage und Preußens im 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Dies gilt auch für die Einschätzung der Politik Bismarcks2 und insbesondere auch für die Geschichte des Deutschen Bundes, der nicht mehr im Sinne der Reichshistoriographie Heinrich von Treitschkes gesehen werden kann. In den Preußischen Jahrbüchern hatte der Trommel für ein „preußisches Reich deutscher Nation“ seit den 186oer Jahren einen starken, preußisch geführten nationalen Einheitsstaat gefordert und den „deutschen Beruf“ Preußens ideologisch vorbereitet. Die Verherrlichung des Machtstaates brachte Treitschke dem Zeitgeist entsprechend 1864 auf die Formel: „Das Wesen des Staates ist Macht, Macht und nochmals Macht“.3 Der Kampf Österreichs und Preußens „um zwei Herzogthümer hat sich in der That plötzlich verwandelt in den großen Kampf um Deutschlands Selbständigkeit, um die erste Voraussetzung eines nationalen Staates für die Mitte

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Hierzu Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005, 565ff. Hierzu die Überlegungen bei: Eberhard Kolb, Großpreußen oder Kleindeutschland? Zu Bismarcks deutscher Politik in der Reichsgründungszeit, in: Johannes Kunisch (Hg.), Bismarck und seine Zeit, Berlin 1992, 11–36. Heinrich von Treitschke, Bundesstaat und Einheitsstaat, in: Historische und Politische Aufsätze, Leipzig 1886, Bd. 2: Die Einheitsbestrebungen zertheilter Völker, 71–241, 152.

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Wolf D. Gruner

des Festlandes“.4 Treitschke räumte zwar ein, dass Preußen dem Juristen unzweifelhaft „als der angreifende Theil in dem schleswig-holsteinischen Handel [erscheint], denn Preußen verlangt eine Machterweiterung, die der Mitbesitzer verweigert. Das politische Urtheil stellt sich anders“. Bei einem Krieg werden die Herzogtümer „alsbald oder nach kurzem Kampfe in Preußens Hände“ fallen. Sie könnten Preußen „nur nach einer vollständigen Niederlage entrissen werden“. Österreich beginne einen Krieg „um ein Land, das durch die Natur der Dinge dem preußischen Machtgebiete zugewiesen ist“.5 Für Treitschke waren die Tage des Deutschen Bundes gezählt und Preußen müsse sich fragen, „was an die Stelle der verrotteten Bundesformen zu treten habe“.6 Den Deutschen Bund charakterisierte er als die „Internierung des Leichnams der deutschen Einheit“. Er sei „armseliger als ein Staat dritten Ranges“ gewesen.7 Im Mai 1866 schrieb er in einer Flugschrift: Wir sehen die „Leiche des deutschen Bundes noch unbegraben in Verwesung übergehen und den Gegensatz der beiden Großmächte sich täglich mehr verschärfen“. Während die Nation „träge abwartend“ zur Seite stehe, entscheide Preußen „die Lebensfrage ihrer Macht und Einheit“ und mache mit einem Schlage „dem doctrinären Streit über Macht und Freiheit ein Ende“.8 Mit dem Ende des alten Bundes sei auch der einzige Grund für das staatliche Dasein der Freien Stadt Frankfurt verschwunden. Im Bund sammelte sich „aller Krankheitsstoff unserer Staatsgewalten“. 9 Nach dem Sieg Preußens in der Schlacht bei Königsgrätz kommentierte Treitschke den Ausgang des Krieges und die Zukunft Deutschlands in einer Flugschrift: Der Anstoß zur deutschen Einheitsbewegung und gegen den Deutschen Bund konnte in der That nur von der Krone Preußens ausgehen, denn nur sie empfand am eigenen Leibe die unseligen Folgen jener Bundesverfassung und jener sinnlosen Länderzertheilung, welche vor fünfzig Jahren Deutschlands Feinde über uns verhängt.10

Das erste Mal seit der Reformation sei Deutschland frei von „unheimischen Gewalten“. Der Weg zum kleindeutschen Nationalstaat sei nun endlich geebnet: Mit der Beseitigung der kleinen Kronen vollzieht sich nun ein Act der historischen Nothwendigkeit. Wer aus der Vergangenheit aller Nationen Europas noch immer nicht gelernt hat, dass die Kleinstaaterei in gereiften Culturvölkern keine Stätte hat und der Zug der Geschichte auf das Zusammenballen großer nationaler Massen weist, dem müssen […] endlich die Augen sich

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Heinrich von Treitschke, Der Krieg und die Bundesreform, Berlin (25. Mai) 1866, 11. Ebd., 4. Ebd., 11– gedruckt auch in: Preußische Jahrbücher 17/1866, 677–696, bes. 685. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde. Leipzig 1879–1894, Bd. 1, 700. 8 Treitschke, Krieg und Bundesreform, 13. 9 Heinrich von Treitschke, Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, Berlin (30.7.1866), 8. Auch Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012, 109f. 10 Treitschke, Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, 4.

Einleitung

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öffnen. Die Hülle prahlerischer Phrasen, womit man so lange die Geheimnisse des mittelstaatlichen Lebens verdeckte, ist durch das Schwert hinweggerissen und darunter tritt zu Tage – eitel Fäulniß und Moder.11

Der Deutsche Bund entsprach nicht den Vorstellungen von einem machtvollen Staat, das hatte Ernst Moritz Arndt, der bis zu seinem Tode 1860 nationalpolitisch präsent und aktiv war, dem Deutschen Bund bereits 1815 abgesprochen. Er bedauerte 1815 in einer Schrift „Der deutsche Bund wider das deutsche Reich“ die Gründung des Bundes.12 Die Sehnsucht des Volkes nach einem deutschen Kaiser artikuliert in Liedern und Gedichten sei von der Politik nicht erhört worden. Ein Deutscher Bund werde den politischen Zustand und die Zerrissenheit nicht beheben. Er hatte nicht verstehen können „wie die deutsche Bundesversammlung den deutschen Kaiser ersetzen kann, wie ein Staat vieler Staaten bestehen kann ohne eine mächtige zwingende Gewalt als die Gewalt der Idee“.13 Beim Romantiker Arndt klangen hier aus seiner Zeitgenossenschaft Überlegungen an, die alle Hoffnungen auf ein starkes Deutsches Reich wie im Mittelalter setzten. Deutschland sollte nicht wieder Schlachtfeld Europas werden. Er lehnte daher eine aus seiner Sicht schwache Föderativordnung wie den Deutschen Bund ab. Arndt wollte keinen Partikularstaat, sondern einen Einheitsstaat mit einem Kaiser an der Spitze, der den Deutschen Schutz, Sicherheit und Wohlstand geben könne.14 Diese Grundprinzipien waren natürlich in der Reichsgründungszeit willkommene Argumente zumal es dann erneut darum ging ein Reich zu gründen und zu legitimieren. 1863 hatte sich der fünfzigste Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht gejährt. Der 18. Oktober 1813 wurde zum nationalen Mythos und zum Entstehungsdatum des deutschen Nationalismus stilisiert. Arndt hatte 1814 gefordert ein Völkerschlachtdenkmal als Nationaldenkmal zu errichten und den 18. Oktober zum „Nationalfest der Teutschen“ zu erklären.15 Das „Erbe des 18. Oktober“ 1813 konnte für die politisch-ideologischen und legitimatorischen Interessen genutzt werden.16 1871, beim Einzug der preußischen Truppen nach dem deutsch-französischen Krieg in Berlin, sprach Wilhelm I., der

11 Ebd., 9. 12 Ernst Moritz Arndt, Der deutsche Bund wider das deutsche Reich (Sommer 1815). In Auszügen gedruckt bei Timm Klein (Hg.), Die Befreiung 1813 – 1814 – 1815. Urkunden, Berichte, Briefe mit geschichtlichen Verbindungen, Ebenhausen b. München 1913, 504–505. 13 Ernst Moritz Arndt, Deutschland, in: Geist der Zeit IV, zit. nach: Heinrich Meisner/Thomas Geerds (Hg.), Ernst Moritz Arndts ausgewählte Werke in sechzehn Bänden, Leipzig 1848, Bd. 12, 25. 14 Hierzu u.a. Thomas Stamm-Kuhlmann, Arndts Beitrag zur Definition der ‚Nation‘, in: Walter Erhart/Arne Koch (Hg.), Ernst Moritz Arndt (1789–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, Tübingen 2007, 17–29; Wolf D. Gruner, Ernst Moritz Arndt – die nationale Frage der Deutschen und ihre Instrumentalisierung für die historische Legitimierung des preußisch-kleindeutschen Kaiserreiches, in: ebd., 31–63. 15 Thomas Nicklas, 18. Oktober 1813: Blutige Selbstfindung einer Nation, in: ders./Eckard Conze (Hg.), Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation zur Wiedervereinigung, München 2004, 99–118, 103. 16 Ebd., 109ff.

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Wolf D. Gruner

neue deutsche Kaiser und König von Preußen: “Wir müssen erkennen, dass wir nur auf den Grundlagen weitergebaut haben, welche 1813, 1814 und 1815 gelegt worden sind“.17 Die „Reichshistoriographie“, vor allem die Historiker Heinrich von Sybel, Heinrich von Treitschke und Johann Gustav Droysen und andere versuchten das preußisch-kleindeutsche Kaiserreich von 1871, das Zweite Reich, historisch zu legitimieren. Sie wurden so zu „kleindeutschen Geschichtsbaumeistern“, 18 oder wie es Thomas Stamm-Kuhlmann treffend formulierte zu „Historiographen des preußischen Staates: sozusagen königliche Hoflieferanten in Sachen Geschichte“. 19 Aufgrund der Langzeitwirkung der Reichshistoriographie – hierfür gibt es zahlreiche Ursachen, vor allem die Fixierung auf die Reichsgründung als dem zentralen Ereignis der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert – wurden die Jahre 1864, 1866, 1867 und 1870/71 in der historischen Forschung, in der Geschichtspolitik und in der historischen Erinnerungskultur unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Erhellend ist dabei, dass von den drei deutschen Einigungskriegen oder „Reichseinigungskriegen“ gesprochen wird, d.h. dem Weg zum kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung.20 Das aus ideologischen Zielvorstellungen gewonnene einseitige Bild vom Deutschen Bund, das u.a. aus legitimatorischen Gründen dem Bund nicht gerecht werden konnte und wollte, hat auch, wegen der internationalen Bedeutung und Stellung der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Eingang in die Geschichtsschreibung anderer Länder über Deutschland gefunden. 17 Klein, Die Befreiung 1813 – 1814 – 1815: Motto des Bandes. 18 Ernst Schulin, Am Ziel ihrer Geschichte. Die deutschen Historiker im Kaiserreich, in: Werner Freitag (Hg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Halle, 2002, 11–24, bes. 12ff.; auch Jörn Leonhard, Vergangenheit als Vorgeschichte des Nationalstaates? Zur retrospektiven und selektiven Teleologie der deutschen Nationalhistoriographie nach 1850, in: Hans Peter Haye (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt: Zum Paradigma ‚Nationalstaat‘ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, Wien 2009, 179–200 – verfügbar auch als Sonderdruck (PDF-Datei) der Universität Freiburg: https://freidok.uni-freiburg.de [letzter Zugriff: 16.03.2018]. 19 Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Hohenzollern, Berlin 2001, 11 mit weiterer Kommentierung ebd., 11f. 20 Hierzu u.a. Agatha Ramm, Germany 1789–1919. A Political History, London 1967, 280ff.: „Three Wars. Germany 1860–71: Bismarck habitually maintained that in each of the three wars of 1864, 1866 and 1870 German unification was at stake. All early historians of Bismarck’s achievement assumed that war was necessary in ’64 and ’66 in order to release Germany from Austria and that the united military effort of ’70 against France was needed finally to overcome the division between north and south Germany“ (280); Ernest Denis, La foundation de l’Empire allemand, 1852–1871, Paris 1906. 227ff. (zugänglich auch: https://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/bpt6k3721127/f1 [letzter Abruf: 15.08.2018]); Dennis Showalter, The Wars of German unification, London 2004; Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, München 2001; William Carr, The Origins of the Wars of German Unification 1864–1871, London/New York 1991; Heinz Helmert/Hansjürgen Usczeck, Preußischdeutsche Kriege. Von 1864 bis 1871. Militärischer Verlauf. Berlin (Ost) 51984.

Einleitung

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Der Deutsche Bund wurde als ein Beispiel für „unorganisierte Uneinigkeit“ und „langweilige, wenig anregende, unheroische Annalen“ angesehen. Er war eine „Notlösung“, die „nach einer unehrenhaften und oft bedrohten Existenz nach einem halben Jahrhundert ohne großes Bedauern auf den Schlachtfeldern von Königsgrätz und Langensalza beendet wurde“.21 Das lange durch Nationalismus und Ideologie bestimmte historische Urteil zum Deutschen Bund veränderte sich, ausgehend von Impulsen aus den USA und Kanada seit dem Zweiten Weltkrieg.22 Eine historische Neubewertung des Deutschen Bundes setzte in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 nur langsam ein. Franz Schnabel hatte bereits Anfang der 1920er Jahre die preußisch-kleindeutsche Geschichtsinterpretation in Frage gestellt, die Vernachlässigung der Landesgeschichte bedauert und durch eigene Forschungen, u.a. zu Baden, neue Perspektiven geöffnet und Korrekturen am Bild der deutschen Geschichte zwischen dem Ende des alten Reiches und der Gründung des deutschen Kaiserreiches durch neue Ansätze differenziert und korrigiert und über seine Schüler weitergeführt.23 Nach dem Krieg traten nach den Erfahrungen mit dem Nationalstaat wieder föderative Ordnungsmodelle und Formen von Staatlichkeit in den Blick. Der Deutsche Bund wurde als ein mögliches Modell für europäische und internationale Organisationen angesehen.24 Wichtige Impulse kamen aus der nordamerikanischen historischen Forschung. Hierbei wurde auch deutlich, darauf hat Robert Spencer hingewiesen, wie schwierig eine Geschichte des Deutschen Bundes wegen ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit zu schreiben ist:

21 Einführung von William Harbutt Dawson zu Heinrich von Treitschke, History of Germany in the Nineteenth Century, Bd. 1. London 1915, Vff.; James Viscount Bryce, The Holy Roman Empire, London 1922 (21906), 411 [Übersetzung WDG]. 22 Zur Stellung des Deutschen Bundes in der deutschen Geschichtswissenschaften u.a. Heinrich Lutz/Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, München/Wien 1982; Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage, Wien 1990; Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006, 51ff.; Gruner, Der Deutsche Bund, 108–115. 23 Franz Schnabel, Deutschland in den weltgeschichtlichen Wandlungen des letzten Jahrhunderts, Berlin/Leipzig 1927; ders., Geschichte der Ministerverantwortlichkeit in Baden, Karlsruhe 1922; ders., Sigismund von Reitzenstein, der Begründer des Badischen Staates, Heidelberg 1927; ders., Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 4 Bde. Freiburg i. Br. 1929– 1937 (Nachdruck mit einer Einleitung von Eberhard Weis München 1987); ders., Abhandlungen und Vorträge 1914–1965, hrsg. v. Heinrich Lutz, Freiburg/Wien 1970; Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Reich, Stuttgart 1986; Eberhard Weis, Montgelas, 2 Bde. München 1988– 2005; ders., Der Durchbruch des Bürgertums 1770–1847, Berlin 1978; Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. 24 Reginald Lang, The Germanic Confederation and a European Confederation today, in: South Atlantic Quarterly 45/1946, 434–442; Enno E. Kraehe, The United Nations in the Light of the Experience of the German Confederation 1815–1866, in: South Atlantic Quarterly 49/1950, 138–140; ders., Austria and the Problem of Reform in the German Confederation 1851–1863, in: American Historical Review LVI/2, 276–294; ders., Practical Politics in the German Confederation: Bismarck and the Commercial Code, in: Journal of Modern History XXV/1, 1953, 13–24.

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Wolf D. Gruner The general history of the Bund is familiar enough. But relatively unknown, and all too often misunderstood, are important aspects of its machinery, functions and achievements. In part this can be explained by the complexity of the subject and by the elusive nature of the Bund’s history.25

Eine Analyse der Bundesebene, ohne die einzelstaatlichen und europäisch-internationalen Entwicklungen mit einzubeziehen greife zu kurz. In einer Geschichte des Deutschen Bundes müssen Binnen- und internationale Geschichte verknüpft werden. Seit den 1970er Jahren veränderte sich, auch dank neuer methodischer Zugriffe, die Bewertung des Deutschen Bundes deutlich. Es erschienen zahlreiche Studien zu Einzelaspekten der Bundesgeschichte. Die Landesgeschichte nahm den Bund als Untersuchungsgegenstand wieder in den Blick und half mit die Klischees der Reichsgeschichtsschreibung zu überwinden. Hilfreich und wichtig sind auch die seit den 1990er Jahren erschienen Quellenbände zur Geschichte des Deutschen Bundes.26 Der europäische und einzelstaatliche Ansatz verschob den Fokus der Bund-Forschung, weg von einer ausschließlichen Fixierung auf die Reichs- und Nationalstaatsgründung zu einer neuen und komplexeren Sicht. Das Bild vom Deutschen Bund wandelte sich und wurde ausgewogener. Aus dem Blickwinkel der Globalisierung und Europäisierung eröffnen sich für die Erforschung des Deutschen Bundes und seine Einbindung in europäische, nationale und regionale Zusammenhänge neue Perspektiven, für die Entwicklungen der 1860er Jahre aber auch für die Gesamtgeschichte des Deutschen Bundes. Wir wissen heute, dass der Deutsche Bund als Staatenbund mit bundesstaatlichen Elementen durchaus in der Lage und verfassungsmäßig bereit war nationale Aufgaben zu übernehmen, zur inneren Nationsbildung auf verschiedenen Ebenen beizutragen, ohne „Staat im modernen Sinne“ (Jürgen Müller) werden zu müssen.27 Von der inneren Nationsbildung konnten dann nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 der Norddeutsche Bund 1867 und später das deutsche Kaiserreich profitieren. In diesen Zusammenhang gehören u.a. die Rechtsvereinheitlichung, das 1861 verabschiedete Allgemeine Handelsgesetzbuch, die Allgemeine deutsche Zivilprozessordnung, die Einführung gleicher Münzen, Maße und Gewichte sowie das Urheber- und Patentrecht. Sie wurden in Kommissionen und Ausschüssen erarbeitet und der Bundesversammlung vorgelegt.28

25 Robert Spencer, Thoughts on the German Confederation 1815–1866, in: Report of the Annual Meeting/Rapports annuels de la Société historique du Canada 41/1962, 68–81, 68. 26 Für die Bewertung und Vorgeschichte des Weges vom Deutschen Bund zum Norddeutschen Bund ist von den bisher editierten Bänden vor allem wichtig: Jürgen Müller (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abteilung III: 1850–1866, Bd. III.4: Vom Frankfurter Fürstentag bis zur Auflösung des Deutschen Bundes 1863–1866 (in der Folge QGDB). München 2017. 27 Hierzu ausführlicher: Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, 391ff., 565ff.; ders., Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2006, 76–88. 28 U.a. BUNDESARCHIV BERLIN – DEUTSCHER BUND (in der Folge BAB-DB) , Protokolle der Bundesversammlung (in der Folge Prot. BV) 16. Sitzung, 8.5.1861 § 132 und Anlage (Handelsgesetzbuch); Prot. BV 37. Sitzung v. 6.10.1864, §253 (Urheberrecht); Prot. BV 5. Sitzung

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2. DER NORDDEUTSCHE BUND IN SEINEM REGIONALEN, DEUTSCHEN UND EUROPÄISCHEN UMFELD 1867–1870 Preußen hatte am 14. Juni 1866 in der Bundesversammlung erklärt, dass „es den gegen Preussen gerichteten Vorwurf des Friedensbruches zurückweisen und denselben gegen Oesterreich“ richten müsse. Das Vertrauen Preußen „auf den Schutz, welchen der Bund jedem seiner Mitglieder verbürgt hat“ sei tief erschüttert worden. „Durch die nach dem Bundesrechte unmögliche Kriegserklärung gegen ein Bundesmitglied […] sieht das Königliche Cabinet den Bundesbruch als vollzogen an“. Preußen erachte den bisherigen Bundesvertrag als gebrochen und nicht mehr als verbindlich an. Es werde ihn daher als „erloschen betrachten und behandeln“. Preußen wolle „mit dem Erlöschen des bisherigen Bundes nicht zugleich die nationalen Grundlagen auf denen der Bund aufgebaut gewesen, als zerstört betrachten“. Preußen halte an diesen Grundlagen fest und erkläre sich bereit „auf den durch eine solche Reform modificirten Grundlagen einen neuen Bund mit denjenigen deutschen Staaten zu schließen, welche ihr dazu die Hand reichen wollen“. 29 Mit der gescheiterten Bundesexekution gegen Preußen und der Zerschlagung des Deutschen Bundes zerbrach die mitteleuropäische Föderativordnung. Das 1815 geschaffene mitteleuropäische Sicherheitssystem war nicht mehr funktionsfähig. Österreich wurde im Prager Frieden aus Deutschland ausgeschlossen. Es stimmte der Auflösung des Deutschen Bundes zu. Preußen könne nördlich des Mains ein engeres Bundesverhältnisses schaffen. Die süddeutschen Staaten sollten einen Süddeutschen Bund bilden, der in ein völkerrechtliches Verhältnis zum Norden treten sollte.30 Mit der Selbstauflösung des Deutschen Bundes am 24. August 1866 31 gab es keine gemeinsame staatsrechtliche Verbindung aller deutschen Staaten mehr. Die deutschen Mittel- und Kleinstaaten nördlich des Mains wurden entweder von Preußen annektiert, wie Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt oder mussten mit ihrer geretteten Selbständigkeit dem zu gründenden Norddeutschen Bund beitreten. Die süddeutschen Mittelstaaten waren mit dem Ende des Bundes erstmals völlig souverän geworden. Sie sahen sich nach dem Ende des Krieges vor eine neue, ungewohnte Situation gestellt. Sie mussten sich neu orientieren.32

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v. 8.2.1866, Anlage zu § 37 , 7. Sitz. v. 22.2.1866, § 55 (Entwurf einer deutschen Maß- und Gewichtsordnung); Prot. BV 11. Sitzung v. 21.3.1866, § 86 (Civil- und Criminalgesetzgebung); Die Gesetzentwürfe und Beschlüsse u.a. gedruckt in: Philipp Anton Guido von Meyer/Heinrich Zöpfl (Hg.), Corpus Iuris Confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und Öffentliches Recht des Deutschen Bundes (in der Folge CJCG), 3 Bde., Bd. 3, Frankfurt a. M. 1869; Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation, 391ff., 412ff., 421ff., 435ff., 457ff., 512ff. BAB-DB, Prot. BV 24. Sitzung v. 14.6.1866 § 170 (Beschluß). Friedensvertrag zwischen Preussen und Oesterreich d.d. Prag 23.8.1866, in: CJCG III, 668– 670, Art. IV (669). BAB-DB, Prot. BV 40. Sitzung v. 24.8.1866, § 261. Hierzu: Ernst Deuerlein, Augsburg 1866. Die Auflösung der Bundesversammlung des Deutschen Bundes, Augsburg 1967; Karl Bosl, Gedenkstunde an das Jahr 1866, in: Zeitschrift für

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1859 hatte ein anonymer Schreiber die Überzeugung vertreten, dass „die Sprengung des Bundes, von welcher Seite sie auch ausgehen möchte, als Hochverrath betrachtet und gerichtet werden müßte“.33 Dies entsprach durchaus der Stimmungslage und Überzeugung der mindermächtigen Bundesstaaten, die ohne den Schutz des Bundes nicht existieren konnten. Die Verfechter der Gründung eines preußisch geführten kleindeutschen Nationalstaates sahen in der preußischen Politik keinen Bruch des Bundesrechtes und glaubten nach dem Ende des Bundes, dass die Nation nun „glänzende Ziele vor Augen habe. Es sei nun an der Zeit, dass die Nation „selbstthätig vollenden helfe, was die Preußen und ihr Heer begonnen“ hätten. Die Staaten nördlich des Mains könnten nun ein „lebensfähiges und fest mit Preußen verbundenes Gemeinwesen“ bilden und man zuversichtlich hoffen dürfe „zur rechten Stunde auch den Süden in das neue Deutschland aufzunehmen“.34 In der Geschichtsforschung dominierte Lage Zeit die Sicht, dass Preußen 1870 seine deutsche Mission erfüllt habe, die ihm 1814/15 noch verwehrt worden war. Der Weg vom Ende des Deutschen Bundes zum deutschen Kaiserreich wurde als zwangsläufig und alternativlos angesehen. Lange Zeit wurden mögliche Optionen für eine Lösung der deutschen Frage und das mitteleuropäische Föderativsystem aus geschichtspolitischen und legitimatorischen Überlegungen und dem Blick auf die Reichsgründung kaum untersucht und diskutiert. 1985 stellte Karl Dietrich Erdmann provokativ die Frage, ob die Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 und seine Folgen nicht die erste deutsche Teilung gewesen sei?35 Mit der Ausweitung der Fragestellungen und neuer, methodischer und strukturgeschichtlicher Ansätze, der stärkeren Einbeziehung der komplexen deutschen und europäischen Rahmenbedingungen sowie ökonomischer, mentaler und personengeschichtlicher Faktoren für die Jahre 1866-1870 eröffneten sich neue, differenzierte Bewertungen und Sehweisen. Es ist durchaus ein Glückfall, dass der deutschdänische Krieg von 1864 und der deutsche Krieg von 1866 in den Gedenkjahren 2014 und 2016 in Konferenzen und wissenschaftlichen Publikationen gewürdigt wurden. In diesem Zusammenhang war es durchaus ein Vorteil, dass – anders als zu früheren Jubiläumsjahren – der einhundertfünfzigste Jahrestag des Wiener Friedens 1864, der die Bundesexekution gegen Dänemark und den Konflikt über die Herzogtümer Schleswig und Holstein zunächst beendete in der historischen Forschung aus einer deutschen, europäischen und globalen Perspektive aufgegriffen wurde. Hierbei kamen die Vorgeschichte der Schleswig und Holstein Frage seit 1848/49 und der Londoner Vertrag von 1852 in den Blick. An den Beratungen zum „Londoner Protokoll“ von 1852 war der Deutsche Bund nicht beteiligt worden. Die beiden deutschen Großmächte handelten erneut außerhalb des Bundesrechtes. Der

bayerische Landesgeschichte 29/1966, 1–15; Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151/2015 (2017), 527–618, 586ff. 33 A. B. [Anonymus], Die deutsche Frage, Hamburg 1859, 26. 34 Treitschke, Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten, 5f. 35 Karl Dietrich Erdmann, Drei Staaten, zwei Nationen, ein Volk?, Kiel 1985.

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Bund nahm die Ergebnisse der Londoner Konferenz „zur Kenntnis“, sah sie aber, wie die meisten Mitgliedstaaten des Bundes, nicht als völkerrechtlich verbindlich an. Seit 1855 schwelte der Konflikt zwischen dem Bund und Dänemark wegen Verletzung des Bundesrechtes weiter. Mehrfach wurde Dänemark die Bundesexekution angedroht sollte es die Einbeziehung Schleswigs in den dänischen Gesamtstaat nicht rückgängig machen. Diese wurde schließlich 1863 von der Bundesversammlung beschlossen, eingeleitet und Ende Dezember mit der Besetzung Holsteins vollzogen.36 Österreich und Preußen beantragten zur Sicherung der Rechte des Deutschen Bundes eine „Pfandbesetzung“ Schleswigs, die jedoch vom Engeren Rat der Bundesversammlung abgelehnt wurde. Die deutschen Großmächte verständigten sich dann außerhalb des Bundesrechtes und gingen militärisch gegen Schleswig vor. Die deutschen Mittelstaaten hatten in der Bundesversammlung die Erbansprüche des Herzogs von Augustenburg unterstützt, die deutschen Großmächte in der „Pfandbesetzungs“-Frage überstimmt und hofften, dass mit Holstein, Schleswig und Lauenburg ein neuer Mittelstaat im Bund entstehen werde. Im Wiener Frieden musste Dänemark die Herzogtümer an Österreich und Preußen abtreten. Ein Vermittlungsversuch Frankreichs und Großbritanniens auf einer Konferenz unter Beteiligung des Deutschen Bundes im Sommer 1864 scheiterte. Aus einem multiperspektivischen Ansatz kommen die einzelnen Akteure in der Frage der Elbherzogtümer 1863/64 in den Blick: Die Wahrnehmung der Bevölkerung in Schleswig und Holstein zu den Ergebnissen des Wiener Friedens, die Haltung der deutschen Nachbarn zum und im Konflikt, ebenso die Bundesstaaten wie die Hansestädte, die süddeutschen Mittelstaaten, Sachsen und Hannover aber auch die Rolle Preußens und Österreichs. Aus der Außenperspektive wird auch die Politik Frankreichs und Großbritanniens in der Schleswig und Holstein Frage beleuchtet, aber auch die Wahrnehmung des Konfliktes und des Friedens für die deutsch-russischen Beziehungen. Deutlich wird auch – und das gilt auch für die Periode 1866–1870/71 – welche Rolle die internationalen Rahmenbedingen spielten, beispielsweise der Aufstand in Polen 1863. Wichtig für das Verständnis der Vorgänge sind auch die deutsche Nationalbewegung und der dänische Nationalismus.37 Gleiches galt für den „deutschen Krieg“ von 1866, der den Deutschen Bund zerstörte.38 Untersucht wurden in einem Sammelband als Ergebnis einer Tagung in Dresden die Vorgeschichte des Krieges,39 die Rolle Italiens im Krieg von 1866 gegen Österreich,40 die Haltung der neutralen europäischen Großmächte in diesem

36 Hierzu Oliver Auge/Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016, Einleitung, 9–24. 37 Hierzu die einzelnen Beiträge in: Auge/Lappenküper/Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis. 38 Hierzu: Wilfried Heinemann/Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018. 39 Hierzu: Frank Möller, Preußens Entscheidung zum Krieg 1866, in: ebd., 19–37; Alma Hanning, Österreichs Entscheidung zum Krieg, in: ebd., 39–61. 40 Luciano Monzali,, Italien und der Krieg von 1866, in: ebd., 63–86.

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sich zum Krieg ausweitenden Konflikt,41 die Position der deutschen Mittelstaaten,42 der Verlauf des Krieges, die Perzeption des Krieges und die Folgen des Endes des mitteleuropäischen Föderativsystems für die internationale Ordnung.43 Auch hier spielte erneut die Frage der Elbherzogtümer eine Rolle. Sie wird zum gewichtigen Auslöser der Bundesexekution 1866 gegen Preußen. In der Gasteiner Konvention hatten sich 1865 Österreich und Preußen außerhalb des Bundesrechtes über die Verwaltung der Herzogtümer verständigt.44 Der Konflikt zwischen den deutschen Großmächten eskalierte seit Anfang des Jahres 186645 als Österreich in Altona eine liberal-nationale Protestversammlung zugelassen und Österreich den preußischen Protest als Einmischung abgewiesen hatte. Preußen kündigte daraufhin „die intime Gemeinsamkeit der Gesamtpolitik“ beider Mächte auf. Es werde künftig seine eigenen Interessen verfolgen und legte einen Bundesreformplan vor. Österreich brachte die Frage der Elbherzogtümer wieder an den Bund und in die Bundesversammlung.46 Es ging schon lange nicht mehr um die Elbherzogtümer, sondern um die machtpolitische Führungsrolle in Mitteleuropa. Als Österreich die Einberufung der holsteinischen Stände nicht zurücknimmt marschieren am 7. Juni preußische Truppen in Holstein ein und besetzen es. Österreich beantragt in der Bundesversammlung die Mobilisierung der nicht-preußischen Bundesarmeekorps für eine Bundesexekution gegen Preußen. Ein von den neutralen Mächten initiierter Friedenskongress scheitert an Österreich. Preußen siegt in den militärischen Auseinandersetzungen und erzwingt die Auflösung des Deutschen Bundes. Während zu den Jubiläums- und Gedenkjahren 1864 und 1866 mehrere Studien vorgelegt wurden gilt dies für den im Jahr 1867 als Folge des Krieges von 1866 und

41 Ulrich Lappenküper, „Date clé du règne de Napoléon III.“. Frankreich und der preußisch-österreichische Krieg, in: ebd., 89–106; T.G. Otte, ‚A banditi quarrel‘. Great Britain and the 1866 War, in: ebd., 107–127; Alexander Medyakov, Russland und der deutsche Krieg 1866, in: ebd., 129–157. 42 Ulf Morgenstern, „Whether ’tis nobler in the mind to suffer […]. Or to take arms against a sea of troubles.“ Das Jahr 1866 in der sächsischen Geschichte, in: ebd., 209–239; Wolf D. Gruner, Die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und der steinige Weg in das deutsche Kaiserreich (1864–1871), in: ebd., 241–301; Dieter Brosius, Hannovers politische und militärische Rolle im Krieg von 1866, in: ebd., 303–314. 43 U.a. Hans-Christof Kraus, Die politische Neuordnung Deutschlands nach der Wende von 1866. in: ebd., 317–332; Lothar Höbelt, Königsgrätz und der Ausgleich mit Ungarn: Kehrtwende oder Katalysator, in: ebd., 333–350; Michael Epkenhans, 1866. Die Schlacht bei Königsgrätz. Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte?, in: ebd., 351–371; Helmut Neuhold, 1866 Königsgrätz, Wiesbaden 2016; hierzu auch: Paul W. Schroeder, The Lost Intermediaries: The Impact of 1870 on the European System, in: The International History Review VI/1, 1984, 1–27. 44 BAB-DB, Prot. BV 25. Sitzung v. 24.8.1865, § 172 Beilage. 45 Die Entwicklungen der Jahre 1865 und 1866 sind gut dokumentiert auch mit Dokumenten, in: Heinrich Schultess (Hg.), Europäischer Geschichtskalender. 6. Jahrgang 1865, Nördlingen 1866, 18ff., 78ff., 167ff. (Preußen); ders., Europäischer Geschichtskalender. 7. Jahrgang 1866, Nördlingen 1867, 7ff., 35–156 (Deutschland), 157–171 (Preußen), 233–258 (Österreich). 46 Müller, Vom Frankfurter Fürstentag zur Auflösung des Deutschen Bundes 1863–1866, LVIff.

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der Auflösung des Deutschen Bundes gegründeten Norddeutschen Bund und dem neuen Zollverein mit einem Zollparlament nicht. Allein die Bismarckstiftung bereitete eine Ausstellung vor.47 Die vorliegenden Beiträge gehen auf Vorträge auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur Preußische Geschichte im Geheimen Staatsarchiv für Preußischen Kulturbesitz in Berlin vom 28.–30. September 2017 zum Thema: „Vom Deutschen Bund zum Norddeutschen Bund (1866–1870)“ zurück. Sie ergänzen und erweitern nachhaltig die bisherigen historischen Forschungen für die 1860er Jahre zur deutschen und europäischen Geschichte, zwischen dem Italienischen Krieg von 1859, dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 und dem Beitritt der süddeutschen Staaten in den neuen Deutschen Bund im November 1870. Eine Zusammenfassung aller Beiträge in einem Band hat sich leider zerschlagen, was ich sehr bedauere. Wegen der Qualität der Beiträge und der thematischen und methodischen Spannweite wollen wir jedoch – wenn auch mit Verzögerung – alle Beiträge einer breiteren wissenschaftlichen und interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen. Wir hoffen auf Verständnis, dass die Beiträge nun als Schwerpunktthema in diesem und in den beiden nächsten Bänden der HMRG erscheinen werden. Im ersten Schwerpunkt werden die Beiträge zur Politik und Haltung der neutralen europäischen Großmächte Großbritannien und Frankreich zum Norddeutschen Bund und seiner Entwicklung vorgelegt. Einbezogen werden Preußens harter ‚Prexit‘ und die Rolle Österreichs aber auch die der großen süddeutschen Mittelstaaten Baden, Bayern, Württemberg und des Großherzogtums Hessen.48 Letztere sollten nach den Bestimmungen des Prager Friedens einen Süddeutschen Bund gründen. Wichtig ist neben Preußen auch der Beitrag zu Österreich, das 1866 den Deutschen Bund und das mitteleuropäische Föderativsystem verlassen musste. In den Jahren 1867/68 gilt ein besonderes Augenmerk dem neuen Zollverein und der Schaffung eines Zollparlamentes. Die süddeutschen Staaten müssen dem reformierten Zollverein beitreten und entsenden nach den Zollparlamentswahlen Vertreter in das aus nord- und süddeutschen Abgeordneten gebildete Parlament. Der zweite Schwerpunkt49 wird sich dann mit der politischen, wirtschaftlichen und verfassungspolitischen Neuordnung Norddeutschlands befassen. In den Blick kommen werden die provokative Einschätzung der Rolle Preußens im Frühjahr 1866 und der Weg zur Verfassung des Norddeutschen Bundes. Im Zusammenhang mit dem neuen Zollverein und dem Zollparlament wird die Entwicklung zwischen 1867 und 1871 vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat nachgezeichnet und

47 Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern/Maik Ohnezeit (Hg.), Auftakt zum deutschen Nationalstaat. Der Norddeutsche Bund 1867–1871, Friedrichsruh 2017. Immer noch wertvoll und heranzuziehen: Richard Dietrich (Hg.), Europa und der Norddeutsche Bund, Berlin 1968; Werner Ogris, Der Norddeutsche Bund. Zum hundertsten Jahrestag der Augustverträge von 1866, in: Juristische Schulung 1966, 306–310; Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867–1870, Düsseldorf 1985. 48 Schwerpunkt, Teil I: Die Großmächte und Süddeutschland 1864/66–1870, in: HMRG 30/2018. 49 Schwerpunkt, Teil II: Vom Deutschen Bund zum Norddeutschen Bund, in: HMRG 31/2019.

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erörtert. Behandelt wird auch Sachsen, das 1866 verspätet einen Friedensvertrag erhielt und in den Norddeutschen Bund eintreten musste. Das in der Schlacht von Langensalza gegen Preußen zunächst siegreiche Hannover wurde am Ende des Krieges von Preußen annektiert und als Provinz in den preußischen Staatsverband inkorporiert. Braunschweig konnte seine staatliche Existenz in den Norddeutschen Bund hinüberretten und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg Teil des neuen Landes Niedersachsen. Der Band enthält als Sonderthema auch einen Beitrag zum Ende des Deutschen Bundes. Der dritte Schwerpunkt50 wird, anders als in den Veröffentlichungen der Jubiläen zu 1864 und 1866 auch die norddeutschen Staaten Oldenburg und Mecklenburg einbeziehen, sich mit dem Weg Schleswigs und Holsteins vom Herzogtum zur preußischen Provinz befassen und den Komplex Dänemark und die nationale Frage erörtern. Wichtig ist auch der Beitrag über die Hansestädte mit dem aussagekräftigen Titel „Wie Bismarck über Hamburg siegte“. Er beschäftigt sich mit den drei Hansestädten im Norddeutschen Bund. Der Band enthält auch zwei Sonderthemen, die für das Verständnis wichtig sind, nämlich die Haltung des preußischen Militärs und Abgeordneten des Norddeutschen Reichstags und bis zu seinem Tode des Deutschen Reichstages, Helmuth von Moltke sowie einen Beitrag über die preußischen Polen und die deutsche Einigung unter Bismarck. Ulrich Lappenküper verweist in seinem Beitrag,51 basierend auf der aktuellen Forschungsliteratur und einem großen Corpus an gedruckten Quellen, zunächst auf die Befindlichkeiten Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert, verfeindet und zugleich mit engem Kontakten zueinander. „Abstoßung und Anziehungen“ werden charakteristisch für ihr Verhältnis im 19. Jahrhundert und darüber hinaus. Im kollektiven Gedächtnis beider Völker52 spielt der Krieg von 1870/71 eine gewichtige Rolle, doch bereits in den Jahren nach 1866 war es in den Beziehungen zwischen dem Frankreich Napoleons III. und dem Preußen Bismarcks immer wieder zu Krisen, wie in der Luxemburgfrage, gekommen in denen die Kriegslokomotiven aufeinander zurasten und ein militärischer Konflikt im letzten Moment verhindert werden konnte. Aufgeworfen wird die Frage warum die französisch-preußischen Beziehungen nach dem Ende des Deutschen Bundes „einem fundamentalen Wandlungsprozess“ unterworfen waren, welche Verantwortung hierfür die politischen Entscheidungsträger trugen, welchen Einfluss Akteure aus Militär, Wirtschaft und Gesellschaft ausübten – auch vor dem Hintergrund der innenpolitischen Entwicklungen und welche Rolle das politische System spielte? Zur Einordnung 50 Schwerpunkt, Teil III: Norddeutsche Klein- und Mittelstaaten, nationale Fragen und Schleswig und Holstein, in: HMRG 32/2020. 51 Ulrich Lappenküper, Im Banne der ‘fibre national’. Frankreich und der Norddeutsche Bund 1866 bis 1870, in diesem Band. 52 Hierzu die Überlegungen bei: Manfred Koch-Hillebrecht, Das Deutschlandbild. Gegenwart, Geschichte, Psychologie, München 1977, 59ff.; ders., Die Deutschen sind schrecklich. Geschichte eines europäischen Feindbildes, Berlin 2008, 87ff.; Hans-Jürgen Lüsebrink/János Riesz (Hg.), Feindbild und Faszination. Vermittlungsfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789–1983), Frankfurt a. M. 1984, 13ff.

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der napoleonischen Politik und ihrer Rahmenbedingungen gehören eine Analyse des Charakters der Herrschaft Napoleons III., des Bonapartismus, einer „Diktatur im monarchischen Gewande“. Wirtschaftliche und außenpolitische Erfolge in der ersten Dekade seiner Herrschaft ermöglichten diese Regierungsform.53 Frankreich hatte seit Anfang der 1860er Jahre den sich zuspitzenden Antagonismus der deutschen Großmächte, den Kampf um die Vorherrschaft in Mitteleuropa verfolgt. In Paris wurde diskutiert, welche Option für Frankreich am profitabelsten sein würde, eine Allianz mit Preußen, eine Allianz mit Österreich oder eine Unterstützung des „Dritten Deutschland“. Napoleon III. tendierte zu einer Allianz mit Preußen sofern Frankreich daraus politische Vorteile ziehen und Preußen sich nicht nach Süddeutschland ausdehnen würde. Sein Traum war jedoch eine Dreiteilung Deutschlands mit einer Dominanz Preußens in Norddeutschland, einem unabhängigen Süddeutschland und Österreich, das sich auf den Donauraum konzentrieren würde. Frankreich hatte kein klares deutschlandpolitisches Konzept, zumal Deutschland in der französischen Gesamtpolitik eine eher untergeordnete Rolle spielte. Es verfolgte je nach den politischen und wirtschaftlichen Konstellationen unterschiedliche Optionen, von der handelspolitischen Karte über die preußische und die nationalpolitische zur mittelstaatlich-bundesreformerischen Karte.54 Aus seinem Selbstverständnis als „puissance principale du Continent Européen“ war es französische Maxime das Übergewicht einer deutschen Großmacht im Deutschen Bund zu verhindern. Ein bündisches Deutschland entsprach daher französischen Interessen, auch wenn man aus den Beziehungen zu Deutschland wirtschaftliche Vorteile ziehen wollte.55 Das außenpolitische Ziel der „Machtsteigerung Frankreichs“ konnte nur teilweise erreicht werden, da sich die europäischen Rahmenbedingungen veränderten. Die Chance die Polenfrage für seine europa- und deutschlandpolitischen Ziele zu nutzen blieb erfolglos, auch der Versuch Napoleons III. einen europäischen Fürstenkongress in Paris einzurichten, der zwischenstaatliche Konflikte regeln sollte, scheiterte. Die anderen europäischen Großmächte waren nicht bereit den Kaiser der Franzosen als „arbitre de la politique générale en Europe“ anzuerkennen. Die „polenpolitische Schlappe“ hatte für Frankreich erheblich Folgen, wie Ulrich Lappenküper darlegen kann. Auch der willkommene Anlass die Schleswig und Holstein

53 Hierzu u.a.: Raymond Poidevin/Heinz-Otto Sieburg (Hg.), Aspects des relations franco-allemandes à époque du Second Empire 1851–1866, Metz 1982; Yves Bruley, La diplomatie du Sphinx. Napoléon III. et sa politique international, Paris 2013; Karl Hammer/Peter Claus Hartmann (Hg.), Le Bonapartisme. Phénomène historique et mythe politique/Der Bonapartismus. Historisches Phänomen und Politischer Mythos, München 1977. 54 Hierzu auch: Wolf D. Gruner, Frankreich in der europäischen Ordnung des 19. Jahrhunderts, in: ders./Klaus-Jürgen Müller (Hg.), Über Frankreich nach Europa, Hamburg 1996, 201–274, 260ff. 55 Dieses verdeutlichen zahlreiche Memoranden zu den Entwicklungen in Deutschland, u.a. ARCHIVES DU MINISTÈRE DES AFFAIRES ÉTRANGÈRES Paris (in der Folge AMAE), Mémoires et Documents (in der Folge M. D.) Allemagne 165: „Note sur la réforme fédérale en Allemagne“ (25.8.1863); ebd., Memorandum „Allemagne“ v. 27.12.1862.

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Frage als „Hebel“ zu nutzen, um durch Unterstützung der Politik Preußens dieses als Bündnispartner auf seine Seite zu ziehen scheiterte. Als Preis einer Allianz forderte Frankreich für den Machzuwachs Preußens territoriale Kompensationen und Grenzberichtigungen am Rhein.56 Eine militärische Intervention Frankreichs und Großbritanniens in den Konflikt um die Elbherzogtümer kam nicht zustande und Frankreich musste akzeptieren, dass die deutschen Großmächte die Frage Schleswig und Holstein militärisch regelten. Der Wiener Frieden von 1864 bedeutete nach dem Scheitern der französischen Polenpolitik eine weitere außenpolitische Niederlage. Das Inkrafttreten des preußisch-französischen Handelsvertrages und die Einbeziehung des preußisch geführten Zollvereins in das westeuropäische Freihandelssystem war ökonomisch eine sinnvolle Partnerschaft zahlte sich für Frankreich jedoch machtpolitisch nicht aus. Frankreich hoffte nun den fortbestehenden preußisch-österreichischen Dualismus für seine Interessen „instrumentalisieren“ zu können. Napoleons Angebot einer wohlwollenden Neutralität in einem militärischen Konflikt an Preußen gegen territoriale Kompensationen wurde nicht angenommen so dass Frankreich nun auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung auf Österreich setzte. Die österreichische Niederlage wurde auch als eine französische gesehen. Allerdings sperrte sich Napoleon III. gegen eine Mobilmachung und hoffte aus dem Prager Frieden Vorteile für Frankreich zu ziehen. Das Scheitern der Verhandlungen zum Erwerb Luxemburgs, die Belgische Eisenbahnfrage, die Weigerung Preußens der Lateinischen Münzunion beizutreten, der Fehlschlag eine Allianz mit Österreich und Preußen zu bilden sowie das Fiasko in Mexiko schwächten nachhaltig die innen- und außenpolitische Stellung des Kaisers. Die spanische Thronkandidatur, die emotionalisierte Stimmung in Öffentlichkeit und Parlament und der Druck der Kriegspartei führten am 19. Juli 1870 schließlich zur Kriegserklärung an Preußen. Der Sieg Preußens im deutschen Krieg von 1866 wurde im Rückblick zum Schlüsselerlebnis für das „Second Empire“. Die Entscheidung für einen deutschen Nationalstaat war 1866 noch nicht gefallen und die Gründung eines Norddeutschen Bundes und eines möglichen Süddeutschen Bundes gefährdete die französische Großmachtstellung nicht. Schon in der Krise vor der Bundesexekution gegen Preußen verfolgte Frankreich erneut keine klare Politik.57 Es fürchtete ein preußisch dominiertes Mitteleuropa und hoffte gleichzeitig auf das „Dritte Deutschland“ und seine Fähigkeit zum Ausgleich.58 Der Auflösung des Deutschen Bundes setzte es keinen massiven Widerstand entgegen. „Sterben für Frankfurt“ entsprach nicht der französischen Interessenlage nach innen und außen. Nach Beginn der militärischen Auseinandersetzungen betonte der französische Gesandte in Frankfurt, dass es nicht im Interesse des Kaisers sein könne Preußen zu gestatten das europäische Gleichgewicht zu seinen Gunsten zu verändern „en rétablissant sous une autre forme cet 56 Ausführlicher hierzu Lappenküper, „Il vous sacrifierait demain le Danmarc, s’il y trouverait son compte.“ Frankreich und der deutsch-dänische Krieg, 239–263, 242ff. 57 Hierzu auch: Gruner, Frankreich in der europäischen Ordnung, 266ff. 58 AMAE MD, Allemagne 165 „Note sur la troisième Allemagne“ 8.5.1866.

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l’Empire d’Allemagne que la France a mis tant de siècles à abbattre“. 59 Nach der Zerschlagung des Deutschen Bundes rechtfertigte Frankreich seine Deutschlandpolitik. Im Jahresrückblick 1866 setzte Frankreich seine Hoffnungen auf die Ablösung des Nationalen durch das Wirtschaftliche, auf eine friedliche Fortentwicklung der Beziehungen zum neuen Deutschland: „Le gouvernement français n’avait aucun intérèt à intervenir pour sauver les débris d’une organisation politique dont tant de faits attesteraient l’impuissance.“60 Hervorgehoben wird, dass Frankreich es nicht bereuen müsse „d‘avoir donné à cette grande nation un preuve effective de notre bon vouloir“.61 Der Verfasser des Memorandums betonte: Un jour viendra où l’on rendra justice au désintéressement de notre conduite et à notre modération que nous a permis de maintenir la paix au milieu des compétitions ardentes, qui menacaient de bouleverser toute l’Europe.62

Er hoffte auch, dass die Handelsbeziehungen durch die geschaffene Freihandelszone zu einer Liberalisierung des Zollvereins beitragen und dass die Völker sich annähern werden „et chaque jour on comprend mieux que le système de solidarité économique inauguré depuis 1860 n’aura pas été un vain mot“.63 Wie war die Rolle und Politik Preußens zwischen dem Wiener Frieden, der Zerschlagung des Deutschen Bundes, der Gründung des Norddeutschen Bundes und dem Krieg gegen Frankreich zu bewerten. Jürgen Müller deutet bereits mit dem Titel seines Beitrages seine auf umfangreichen Quellenstudien beruhende Einschätzung an, wenn er vom „harten Prexit“ sprach.64 Einleitend wird auf die Aktualität des Begriffes „Prexit“ im Zusammenhang mit dem „Brexit“ hingewiesen. Preußen hat spätestens seit Beginn der 1860er Jahre den „Friedensstaat von Europa“ (A.H.L. Heeren) in die Krise gebracht, u.a. durch die Blockade der Bundesreformpläne der Mittelstaaten. Im britischen Fall war das Ergebnis zum Austritt aus der EU nicht beabsichtigt, doch durch eine stümperhafte, schlechte Informationspolitik herbeigeführt.65 Inzwischen möchte eine Mehrheit der Briten in der EU bleiben, doch der Weg dorthin ist im Moment unklar. Preußen dagegen hat 1866 das Ende des Deutschen Bundes aktiv angestrebt, seinen Austritt aus den Fesseln des Bundes lange gewollt und 1866 argumentiert, dass die Interessen Preußens identisch mit denen

59 Ebd., (Correspondence Politique) C.P. Allemagne 842 Nr. 90 Reculot-Drouyn de L’Huys v. 6.7.1866. 60 Ebd., MD, Allemagne 165 Memorandum zum Jahresende 1866. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. Zu den Handelsbeziehungen zwischen Frankreich und den deutschen Staaten und den damit nach dem Handelsvertrag von 1862/65 verbundenen Erwartungen Dagmar Soleymani, Les échanges commerciaux entre la France et les États allemands 1834–1869, Bonn 1996, 16ff., Import/Export-Statistiken 163ff., 224ff. 64 Jürgen Müller, Harter Prexit. Preußens Austritt aus dem Deutschen Bund, in diesem Band. 65 Hierzu u.a.: Paul J. J. Welfens, Brexit aus Versehen: Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU, Wiesbaden 2017.

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Deutschlands seien und so das Schicksal Preußens das Schicksal Deutschlands nach sich ziehen werde. Deutschland solle nicht das Schicksal Polens erleben. Durch eine Bundesreform könne eine „neue, lebensfähige Schöpfung“ geschaffen werden.66 Die Parallelen zwischen dem Friedensprojekt von 1815, dem Deutschen Bund „als zentrale Säule einer neuen mitteleuropäischen Friedensordnung“ und der derzeitigen Krise des nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen europäischen Friedensprojektes, das durch den beabsichtigten Austritt Großbritanniens aus der EU auch die „Realität eines friedlichen Europa in Frage stellt“ sind offensichtlich, wenn auch nicht unmittelbar vergleichbar. Anders als bei der Zerschlagung des Deutschen Bundes sind die langfristigen Folgen des britischen Austritts aus der EU noch nicht erkennbar. Jürgen Müller geht es in seinem Beitrag zunächst darum die Rahmenbedingungen, die zum Ende des Deutschen Bundes geführt haben zu skizzieren, um sich dann mit den unmittelbaren und den mittel- und langfristigen Folgen zu befassen, sie historisch einzuordnen und zu bewerten. Das Geschichtsbild zu 1866 wird noch immer „weithin von einer Perspektive bestimmt, die ich für problematisch, zumindest aber für unvollständig halte, und es sind gerade die aktuellen Entwicklungen in Europa, die den Blick für dieses Defizit der dominierenden historischen Erzählung über Preußen, den Deutschen Bund und die Ereignisse von 1866 schärfen können“! Zu Recht kritisiert Müller die eindeutige und bemerkenswerte „antizipatorische Perspektive auf 1866“ von Heinrich von Sybel über Hagen Schulze zu Nipperdey und Wehler. Die sogenannte Reichsgründung von 1870/71 war keineswegs der Nabel der deutschen Geschichte im langen 19. Jahrhundert und aus einer Perspektive der europäischen Geschichte gilt dies noch sehr viel weniger. Die „Zerstörung“ des Deutschen Bundes, der rechtliche und politische Bundesbruch Preußens wurde „inszeniert“.67 Die von der preußischen Regierung bewusst und gezielt herbeigeführte Zerstörung des Bundes muss aus Sicht des Verfassers als „harter Prexit“ charakterisiert werden. Dieser Prozess wird nachgezeichnet, einsetzend mit der Überzeugung Bismarcks in seiner Zeit als Bundestagsgesandter, dass der Deutsche Bund langfristig den preußischen Interessen und dessen „Machtentfaltung in Deutschland“ und auch in Europa zuwiderlaufe und Preußen sich daher aus den Fesseln des Bundes und des Bundesrechtes befreien müsse und auch die Austrittsdrohungen Preußens 1863 sollte es in der Bundesversammlung beim Reformvorschlag des Frankfurter Fürstenkongresses überstimmt werden. In der Frage der Elbherzogtümer bereitete Preußen schließlich nach dem vermeintlichen Bruch der Gasteiner Konvention durch Österreich den Austritt Preußens aus dem Bund vor, um ihn schließlich über den Bundesreformantrag, der „auch nicht in Teilen, konstruktiv, sondern rein destruktiv gemeint“ war68 und den Austritt aus dem Deutschen Bund schließlich herbeizuführen. Es „war mit ziemlicher Sicherheit vorauszusehen“, dass der Antrag „für die Bundestagsmehrheit unannehmbar seine würde 66 BAB–DB, Prot. BV 12. Sitzung v. 9.4.1866, § 90. 67 Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003, 148 ff. 68 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. Berlin 1980, 352.

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[…] das ist kaum umstritten“.69 Jürgen Müller argumentiert, dass die preußische Reforminitiative im Sinne des Bundesrechtes als nicht konstruktiv zu bewerten sei und setzt sich auch noch in einem eigenen Abschnitt mit der Kritik auseinander, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates 1870/71 „legitim“ gewesen, Preußen ein nationales Einigungsprogramm vorgelegt habe und dieses dem allgemeinen europäischen Trend entsprochen habe.70 Aus seiner Sicht hatte Bismarck, das zeigen die von ihm edierten Dokumente, keine „Reform der Bundesverfassung“ und auch keine „Umgestaltung des Bundestages“ im Sinn. Sein Ziel war es „den Bundesbruch vorzubereiten und Preußen einen Grund zu liefern, seine vertrags- und völkerrechtswidrige Großmachtpolitik mit kriegerischen Mitteln zu verfolgen“. Die Bundesakte von 1815 und die Wiener Schlussakte von 1820 kannten, anders als der Vertrag von Lissabon über die Europäische Union keine Austrittsklausel. Der Austritt Preußens aus dem Bund als „unauflöslichem Verein“ war daher nicht zulässig.71 In Berlin herrschte nach dem Austritt „allgemeine Freude über die Erlösung vom Bund“.72 Die Kampfhandlungen begannen zwei Tage nach dem Austritt Preußens am 16. Juni 1866 und wurden praktisch mit dem preußischen Sieg bei Königsgrätz entschieden. Die Bundesexekution war militärisch gescheitert, die Auflösung des Bundes von Österreich zwangsanerkannt und durch einen völkerrechtlichen Vertrag sowie durch den Beschluss der „Rest-Bundesversammlung“ vollzogen worden. Die Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Friedensverträge von Prag und Berlin schufen die Voraussetzungen für eine neue „Gestaltung Deutschlands“ ohne Österreich. Die Siegesbeute waren neben den Elbherzogtümern massive Annexionen nördlich des Mains. Es war „ein Raubzug napoleonisches Ausmaßes, bei dem riesige Territorien und etwa 5 Millionen Einwohner unter die Herrschaft Preußens gezwungen wurden“. Die mitteleuropäische Föderativordnung mit dem Deutschen Bund als zentralem Element der Friedensordnung nach innen und außen wurde zerschlagen. Diese hatte die Entwicklungschancen für Europa, nicht nur im Prozess der Industrialisierung und des Handels, ermöglicht. Neben den anderen deutschen Staaten profitierte vor allem Preußen wirtschaftlich und politisch davon. Jürgen Müller weist auch darauf hin, dass durch die Ergebnisse von 1866/67 die multipolare internationale Ordnung aus den Fugen geriet. Das Europäische

69 Ebd. 70 Vgl. den Abschnitt: Code: Kritische Einwände, S.; hierzu ebenfalls der Beitrag von Frank Möller in 31 HMRG 31/2019 sowie Andreas Kaermbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991. 71 CJCG II: Nr. I, Die deutsche Bundes-Acte v. 8.6.1815, 1–15, Art. 1, 3: „Die souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands mit Einschluss Ihrer Majestäten des Kaisers von Oesterreich und der Könige von Preußen […] vereinigen sich zu einem beständigen Bunde, welcher der deutsche Bund heißen soll.“ Ebd., Nr. XXXV, Schluß-Acte der über Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes zu Wien gehaltenen Ministerial-Conferenzen v. 8.6.1820, 101– 111, Art. V: „Der Bund ist als unauflöslicher Verein gegründet, und es kann daher der Austritt aus diesem Verein keinem Mitgliede desselben frei stehen“ (104). 72 Bismack – Savigny v. 14.6.1866 Telegramm (zit. nach Müller, QGDB III/4, 1039).

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Konzert als Sicherheitsrat, dessen Aufgabe es seit 1814/15 war Kriege in Europa durch Kompromisse, Interessenausgleich und Mediation zu verhindern73 wurde durch eine großmächtliche Interessenpolitik abgelöst mit militärischer Option zur Durchsetzung eigener Ziele. Es ginge zu weit eine direkte Linie von 1866 über den deutsch-französischen Krieg 1870/71 zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges zu ziehen. Der ‚harte Prexit‘, die rücksichtslose Großmachtpolitik zur Zerstörung des Deutschen Bundes, „ermöglichte nun auch im Zentrum Europas und damit in Deutschland den Rückgriff auf die unberechenbare ‚ultima ratio‘ der Politik – den Krieg“. Matthias Stickler stellt in seinem Beitrag zu Österreich-Ungarn und dem Norddeutschen Bund die Frage „Wiedereintritt nach Deutschland?“ Eingangs diskutiert er das Dilemma des österreichischen Vielvölkerstaates und dessen machtpolitischen Abstieg in der Bewertung der neueren Forschungen zur Außenpolitik der Donaumonarchie. Wurde Österreich nach 1866 zur „fragilen Großmacht“, zur „bedrängten Großmacht“ in der internationalen Ordnung zwischen der Zerschlagung des Deutschen Bundes und dem Ersten Weltkrieg?74 Es zeigte sich, dass Österreich spätestens seit dem Beginn der 1850er Jahre in der Pentarchie aber ebenso durch seine konzeptionslose Politik im Deutschen Bund machtpolitisch an Gewicht und Einfluss verlor. Preußen war nicht mehr zur deutschlandpolitischen Juniorrolle bereit und hatte sich durch den Zollverein, seine Konsolidierung und seine Entwicklung einen irreversiblen „nationalpolitischen Vorsprung“ geschaffen, der negative Auswirkungen auf die österreichische Bundespolitik hatte. Im Bereich der Wirtschaft erlebte Österreich zu Beginn der 1860er Jahre als seine Versuche Mitglied des Zollvereins zu werden scheiterten sein „handelspolitisches Königsgrätz“ (Heinrich Benedikt). Nach dem gescheiterten Frankfurter Fürstentag zur Bundesreform, der Zusammenarbeit mit Preußen in der Schleswig und Holstein Frage gegen den Bund und das Einschwenken nach dem Wiener Frieden von 1864 auf eine Politik zur Eindämmung preußischer Expansionspolitik lief auch auf österreichischer Seite in Erwartung eines Siege auf eine militärische Konfliktlösung hinaus. Der unerwartete, schnelle preußische Sieg verdrängte Österreich aus Mitteleuropa. Seine Machtposition brach zusammen und es musste die Auflösung des Deutschen Bundes und die künftige Hegemoniestellung Preußens in Norddeutschland akzeptieren. Hinzu kam, trotz des Sieges im Krieg in Italien zu Land und zur See, musste Österreich im Wiener Frieden 1866 Venetien an Italien abtreten. Mit dem Verlust der Stellung in Deutschland und Italien drohte Österreich der Absturz als europäische Großmacht. Der neue österreichisch-ungarische Außenminister Freiherr Ferdinand von Beust sah aber in der neuen machtpolitischen Situation der Monarchie keineswegs

73 Hierzu umfassend: Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815–1860, München 2009. 74 Walter Rauscher, Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866–1914, 2 Bde. Brüssel 2014. Konrad Canis, Die bedrängte Großmacht. ÖsterreichUngarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914, Paderborn 2016. Helmut Rumpler, Österreichische Geschichte 1804–1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburger Monarchie, Wien 1997, 394ff.

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das ‚letzte Wort der Geschichte‘. Die Handlungsfähigkeit der Monarchie war jedoch zunächst nach dem Österreich-Ungarischen Ausgleich 1867, dem damit verbundenen Umbau des Einheitsstaates in eine Doppelmonarchie und innenpolitischen Fragen eingeschränkt. Hinzu kam, dass auf die öffentliche Meinung in Süddeutschland Rücksicht zu nehmen war. Die Haltung Österreich-Ungarns zum Norddeutschen Bund musste „notwendigerweise defensiv“ sein. Wichtig war es auch sich einem Übergreifen Preußens nach Süddeutschland entgegen zu stellen, die partikularen und antipreußischen Strömungen in Süddeutschland zu unterstützen sowie vorhandene großdeutsch-föderalistische Tendenzen weiterhin im Blick zu haben. Matthias Stickler erörtert die Rolle des Kaisers mit seinem vormodernen Verständnis von Außenpolitik, die Stellung des Reichskanzlers und Außenministers, des Reichskriegsministers und die besondere Stellung von Erzherzog Albrecht als Berater des Kaisers. Erzherzog Albrecht75 warnte vor außenpolitischen Abenteuern, für die es aufgrund des schlechten Zustandes der bewaffneten Macht der Monarchie keine Basis gebe. Auch Beust verfolgte zunächst eine Politik der Wahrung der Ergebnisse des Prager Friedens und der Wahrung der Souveränität der süddeutschen Staaten. Das Bündnisangebot Napoleons nach der Luxemburger Krise an Österreich wurde von Wien zunächst zurückhaltend aufgenommen. Mit der Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem Norddeutschen Bund und der Donaumonarchie, hervorgerufen durch die Erfolge der antipreußischen Parteien bei den Zollparlamentswahlen, nahmen Wien und Paris Bündnisgespräche auf, die im Mai 1869 zum Entwurf eines „Friedens-, Freundschafts- und Beistandspakt“ zwischen Österreich-Ungarn, Frankreich und Italien führten. Der Dreier-Allianz-Entwurf scheiterte letztlich an unüberbrückbaren Differenzen zwischen Frankreich und Italien in der Römischen Frage und Österreich-Ungarn musste nicht eindeutig Position beziehen. In Wien machte sich vor allem Erzherzog Albrecht in verschiedenen Memoranden Gedanken über ein österreichisch geführtes, neu gegliedertes und territorial bereinigtes Deutschland nach einem Sieg über Preußen. Zur Rache für Königsgrätz kam es nicht. Als der französische General Lebrun im Juni 1870 ein französisch-österreichisches Bündnis gegen Preußen erreichen wollte gaben Franz Joseph und Erzherzog Albrecht lediglich eine „unverbindliche Stellungnahme ab“. Hierbei spielten u.a. die noch nicht vorhandene Kriegsbereitschaft der Armee und die nicht abgeschlossenen Militärreformen eine Rolle. Franz Joseph wollte sich nicht „leichtsinnig“ in einen möglichen großen Krieg hineinziehen lassen. Sein Kriegsminister sprach sich dagegen gegen eine Neutralität und für einen Kriegseintritt der Doppelmonarchie aus und erläuterte die Konsequenzen eines französischen oder preußischen Sieges für die Existenz Österreich-Ungarns. Der Kaiser, Erzherzog Albrecht und Beust entschieden sich im Ministerrat, einen Tag vor der französischen Kriegserklärung an Preußen, für eine bewaffnete Neutralität. Diese würde alle Optionen offen lassen. Die Hoffnung die süddeutschen Staaten für eine Neutralität im preußisch-französischen Konflikt zu gewinnen – Beust hatte sich in seiner

75 Hierzu ausführlich: Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Husum 1997.

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Korrespondenz mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Bray-Steinburg darum bemüht – scheiterten. Der schnelle Sieg der verbündeten deutschen Truppen gegen Frankreich machten alle Kriegs- und Revisionspläne zur Makulatur. Ende Dezember 1870 leitete Reichskanzler Beust den Kurswechsel gegenüber PreußenDeutschland ein. Es wurde kein „Wiedereintritt in Deutschland“, sondern eine seit 1871 angestrebte und 1879 mit dem Zweibund verwirklichte Allianz. Diese „begründete faktisch ein Sonderverhältnis der beiden Reiche im europäischen Kontext, nunmehr unter Umkehr des Führungsanspruchs“.76 Während Helmut Rumpler die Reichsgründung 1871 als den Anfang des Endes der Großmachtstellung der österreichisch-ungarischen Monarchie bewertet, die es „in die letzte krisenhafte Phase seiner Existenz geführt“77 habe, sieht Konrad Canis die Zäsur für die Monarchie nicht in der Reichsgründung, sondern in den maßgeblichen Ereignissen von 1866/67 „für die inneren und äußeren Perspektiven der Habsburger Monarchie. 1871 verdichteten sich nicht Anzeichen für das Ende, sondern für eine Zukunft. Sie versprachen, auch für Österreich-Ungarn außenpolitisch mehr Sicherheit und Konstanz“, die trotz der begrenzten Großmachtstellung „Chancen für eine relative Stabilisierung“ eröffneten. Sie hielten „die Perspektiven auch für weitere Alternativen“ offen.78 John R. Davis beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der britischen Haltung zum Ende des Deutschen Bundes, zur Gründung des Norddeutschen Bundes und zur britischen Politik zwischen 1866 und 1870. Hervorgehoben wird, dass es zahlreiche Studien zur britischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert gibt, aber eigentlich keine wissenschaftlichen Untersuchungen zur Zerstörung des Deutschen Bundes – obwohl Großbritannien seit 1816 einen Gesandten beim Deutschen Bund in Frankfurt, der wichtige Berichte nach London übermittelte, stationiert hatte und der letzte Gesandte beim Deutschen Bund, Sir Alexander Malet, ein Buch über die Zerschlagung des Deutschen Bundes geschrieben hatte79 – und 1867 zur Gründung des Norddeutschen Bund. Dieser wird als Teil des Reichsgründungsprozesses zwischen 1866 und 1871 gesehen.

76 Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart/Berlin 1999, 252. 77 Helmut Rumpler, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der großen europäischen Mächte 1860–1880 (Beiheft HZ NF 6), München 1980, 167. Ähnlich auch ders., Das Deutsche Reich im österreichischen Urteil, in: Klaus Hildebrand (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der großen Mächte und europäischen Nachbarn, München 1995, 13–25, 20. 78 Canis, Die bedrängte Großmacht, 52. 79 Sir Alexander Malet, The Overthrow of the Germanic Confederation by Prussia in 1866, London 1870; z.B. u.a.: Wolf D. Gruner, Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert 1812–1820, 2 Bde. München 1979; ders., Die Belgisch-luxemburgische Frage im Spannungsfeld europäischer Politik 1830–1839. Überlegungen zu den polittischen, wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Bestimmungsfaktoren der Interessen des Deutschen Bundes, Großbritanniens und Frankreichs, in: Francia 5/1977(1978), 299–398.

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In Großbritannien gab es nach 1848/49 eine breite Option für ein preußisch geführtes Deutschland, zumal Preußen der industrialisierteste und wirtschaftlich liberalste deutsche Staat war. Mit der Thronbesteigung Wilhelm I. 1861 verbanden sich Hoffnungen, dass Preußen eine Verfassung nach dem britischen Vorbild bekommen werde. Hinzu kam, dass Preußen durch den preußisch-französischen Handelsvertrag von 1862 sich dem Freihandel öffnete.80 Preußen als deutscher „Kernstaat“ könnte die Lösung für den Antagonismus der deutschen Großmächte seit dem 1850er Jahren sein, denn Großbritannien war weniger am Deutschen Bund als am Erhalt des europäischen Gleichgewichtes interessiert. Der deutsch-französische Krieg und die Proklamation des Kaiserreiches am 18. Januar 1871 in Versailles wurden als der Beginn einer neuen Periode britischer Außenpolitik verstanden und dabei übersehen, dass die Zerstörung des Deutschen Bund, die Gründung des Norddeutschen Bundes und die Ausrufung des preußisch-kleindeutschen Kaiserreiches in einer unmittelbaren Kontinuität stehen. Schon seit Ende der 1850er Jahre hatte man in Großbritannien den sich verschärfenden Antagonismus zwischen Preußen und Österreich mit Sorge verfolgt, lähmte dieser doch die Handlungsfähigkeit des Bundes. Neben innenpolitischen Debatten und Problemen kamen bei wechselnden Regierungen in London unterschiedliche außenpolitische Konzepte hinzu, wobei die Frage „Intervention“ oder „Non-Intervention“ immer wieder erörtert wurde.81 In einer Debatte im Unterhaus am 20. Juli 1866 begründete Außenminister Lord Stanley die britische Haltung: Geplant sei keine Intervention, denn Großbritannien verfolge eine „pacific policy, a policy of observation rather than of action“ und verstehe sich eher als „friendly and neutral power“, die an der Wiederherstellung des Friedens interessiert sei. Davis stützt sich in seiner Darstellung auf die Berichte britischer Diplomaten und die Reaktionen und Anweisungen des Außenministeriums, auf Stellungnahmen in der Presse, beispielsweise der TIMES, sowie auf eine breite Literaturbasis zur britischen Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Im Fokus stehen dann der Aufstieg des deutschen Kaiserreiches zur politischen, militärischen und wirtschaftlichen Großmacht und die Gefährdung der Pax Britannica. Interessante Einblicke bieten in der Gründungsphase des Norddeutschen Bundes die Berichte des britischen Botschafters Loftus aus Berlin zur Verfassung des Norddeutschen Bundes und des Legationssekretärs Robert Morier in Darmstadt, einem Hauptgegner Bismarcks. Er verwies auf zahlreiche Schwächen der Verfassung. Morier, der enge Kontakte zum Deutschen Nationalverein hatte, kritisierte, dass sich Preußen auf Kosten Deutschlands und auf Kosten der deutschen Nationalbewegung zu vergrößern suche. Schon vor dem Krieg schrieb er, dass es Preußen

80 Frank Lorenz Müller, Britain and the German Question. Perceptions of Nationalism and Political Reform. 1830–63, Basingstoke 2002, 93ff.; John R. Davies, Britain and the German Zollverein. 1848–66, Basingstoke/New York 1997, 163ff. 81 U.a. Klaus Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/70, München 1997.

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nur um territoriale Vergrößerung und eine Mediatisierung der kleineren norddeutschen Staaten gehe. Der Norddeutsche Bund sei für Preußen eine „große Maschine“, um Deutschland auszusaugen und einen Einheitsstaat vorzubereiten und verwies auf die enormen Lasten, die das neue Wehrsystem Preußens für die kleinen Staaten bedeuten würde. Wegen seiner Nähe zu Königin Victoria versuchte Bismarck seine Abberufung aus Darmstadt zu erreichen. Die kritischen Stimmen wurden in London nicht beachtet. Die neue „Einigkeit“ wurde begrüßt und mehr oder minder gleichgültig die Annexionen von Hessen, Nassau und Frankfurt registriert. Gleiches galt für das Königreich Hannover, das bis zum Regierungsantritt Königin Victorias in Personalunion mit Großbritannien verbunden war.82 Als Loftus versuchte wegen des Privatvermögens der Welfen zu vermitteln lehnte London jedes Engagement in dieser Frage ab. Auch Königin Victoria wollte sich nicht für das hannoversche Königshaus einsetzen. Die britischen Beobachter wie auch die TIMES sahen sich als „mere lookerson“. Mit Blick auf die Verfassung des Norddeutschen Bundes glaubte man in London, dass, trotz der zahlreichen Mängel in der Verfassung, sich in Preußen und Deutschland der Liberalismus durchsetzen und die Verfassung des Nordbundes lediglich als ein Übergangsstadium anzusehen sei. Der neue Zollvertrag und die Einrichtung des Zollparlamentes werden dazu führen, dass die südliche Grenze des Norddeutschen Bundes nicht auf Dauer bestehen und die süddeutschen Staaten dem Nordbund beitreten werden. Insgesamt beobachtete Großbritannien nur die innere Reorganisation des mitteleuropäischen Raumes. In Krisen musste es jedoch aktiv werden wie die Krise um Luxemburg 1867 verdeutlichte. London sah sich, wie 1866, in der Luxemburgfrage zunächst auch lediglich als „bystander“ und war nicht bereit sich zu engagieren. Als die Krise eskalierte und ein Krieg aller deutschen Staaten gegen Frankreich drohte, stimmte Außenminister Stanley einem russischen Vorschlag zu in London eine Konferenz über Luxemburg einzuberufen. Eine friedliche Lösung wurde schnell erreicht. Das Großherzogtum wurde neutralisiert, die preußische Garnison in der ehemaligen Bundesfestung Luxemburg abgezogen und Luxemburg blieb im Zollverein. Um den europäischen Frieden zu wahren habe sich Großbritannien schweren Herzens zu einer „collective European guarantee“ bereit erklärt. Über die Frage einer europäischen Garantie für die Einhaltung der Neutralität Luxemburgs kam es nach der Konferenz zu einer Kontroverse zwischen Preußen und Großbritannien über die Auslegung der Neutralitätsgarantie. Die Schleswig-Frage und der Schutz des Papstes durch französische Soldaten führten im Sommer 1867 erneut zu einer Krise. Bis zum preußisch-französischen Krieg 1870 wurde der Vatikan durch französische Soldaten geschützt und konnte erst nach deren Abzug von Italien annektiert und zur Hauptstaat erhoben werden. Die Schleswig-Frage wurde durch Preußen bewusst nicht weiter verfolgt, trotz der Bestimmungen des Prager Friedens, und wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg durch eine Volksabstimmung geregelt.

82 Adolf M. Birke/Kurt Kluxen (Hg.), England und Hannover, München/New York 1986.

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Innenpolitisch beschäftigte die Wahlrechtsreform die britische Öffentlichkeit, das Parlament und die Regierung. Durch die erbitterten Debatten über die Reform Bill, ein zentrales Thema für die Zukunft Großbritanniens, drohte der „Grundkonsens der Nation“ verloren zu gehen. Gefährlicher als die Krise auf dem Kontinent war eine außereuropäische internationale Krise, die die britische Handlungsfähigkeit beeinträchtigte. Die „Alabama Claims“83 belasteten die britisch-amerikanischen Beziehungen nachhaltig und konnten zu einem militärischen Schlagabtausch in Nordamerika eskalieren. Die USA forderten Entschädigung für alle direkten und indirekten Schäden, für die Verletzung der Neutralität durch Großbritannien, für den Bau von Kriegsschiffen der Südstaaten in England und für die Verluste von Handelsschiffen der Union. Alternativ zu finanziellen Entschädigungen könnte Großbritannien auch, wie es Senator Charles Sumner forderte, Kanada an die USA abtreten. Nach dem Kauf Alaskas könnte so die gesamte Pazifikküste in amerikanische Hand kommen. Im Vertrag von Washington einigten sich 1871 beide Seiten auf ein Schiedsverfahren. Durch den Genfer Schiedsspruch von 1872, Beispiel und Modell einer friedlichen Konfliktregelung zweier Großmächte, wurde die Auseinandersetzung schließlich ohne Krieg friedlich beendet. Großbritannien musste den USA 15,5 Mio. US$ Entschädigung bezahlen und anerkennen, dass es der Verpflichtung nach strikter Neutralität nicht nachgekommen war.84 Die zentralen innen- und weltpolitischen Fragen hatten für Großbritannien Priorität: Die Wahlrechtsreformdebatte, der Konflikt in Nordamerika, die globalen Belastungen und die Reorganisation des Empires. Sie waren wichtiger als Europa. Im Fokus stand die Auseinandersetzung mit den weltpolitischen Konkurrenten Russland und USA. Vor diesem Hintergrund besitzt die Frage, ob Luxemburg tatsächlich ein wesentliches Problem britischer Außenpolitik gewesen ist, nur noch rhetorischen Wert. Und was Preußen angeht, so kommt ihm trotz seiner militärischen Triumphe und seines imponierenden Aufstiegs im dichten Geflecht britischer Weltpolitik kaum mehr als zweitrangige Bedeutung zu.85

Preußens neue Rolle in Deutschland und Europa wurde eher als stabilisierendes Element gesehen. Zwischen der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 und der Gründung des neuen Deutschen Bundes 1870 gab es auf verschiedenen Gebieten eine praktische Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem preußisch geführten Norddeutschen Bund, beispielsweise in der Frage der Schifffahrt auf der Schelde, der Verlängerung einer Telegraphenlinie von Indien nach London oder auch gemeinsamer

83 U.a. Hildebrand, No Intervention, 201ff.; Adrian Cook, A Lost Opportunity in Anglo-American Relations: The Alabama Claims, 1865–1867, in: Australian Journal of Politics & History 12/1966, 54–65; ders., The Alabama Claims, Ithaca 1975; T. deKay, The Rebel Raiders: The Warship ‘Alabama’: British Treachery and the American Civil War, London 2003. 84 Reports of International Arbitral Awards/Recueil des sentences arbitrales. Alabama Claims of the United States of America. Award rendered on 14 September 1872 by the tribunal of arbitration established by Article 1 of the Treaty of Washington of 8 May 1871 […], United Nations (Hg.), United Nations Treaties Vol. XXIX 2012, 125–134. 85 Hildebrand, No Intervention, 203.

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Interessenvertretungen in Afrika und Asien. Interessiert war man in Großbritannien auch am deutschen Erziehungssystem und an den Militärreformen. Ein Sonderfall sind die süddeutschen Staaten. Mit ihnen beschäftigt sich Wolf D. Gruner. Die Zerschlagung des Deutschen Bundes nach der gescheiterten Bundesexekution gegen Preußen zerstörte die friedenssichernde mitteleuropäische Föderativordnung. In der Historiographie wird auf dem Weg zur Gründung des deutschen Kaiserreiches von den „drei Einigungskriegen“ 1864 – 1866 – 1870 gesprochen, durch die der preußische Ministerpräsident und spätere Kanzler des Norddeutschen Bundes, Bismarck, das „Bismarckreich“ gründete:86 Die Einigungskriege „gehören zu den markanten Ereignissen im 19. Jahrhundert. Ihre historischpolitische Bedeutung liegt darin, daß an ihrem Ende das Deutsche Reich preußischer Prägung stand“.87 In der historischen Forschung dominierte – teilweise bis heute – die Perspektive der Reichshistoriographie. Mit der Gründung des deutschen Nationalstaates 1870/71, dem preußischen Reich deutscher Nation, habe Preußen seine deutsche Mission, die ihm 1815 versagt worden war, erfüllt. Der Weg vom Ende des Deutschen Bundes in das deutsche Kaiserreich schien alternativlos. Mögliche Optionen zur Lösung der deutschen Frage in einem mitteleuropäischen Föderativsystem wurden weitestgehend ausgeblendet. So sah es auch die Landesgeschichtsschreibung.88 Mit bedingt durch neue Fragestellungen und breitere methodische Ansätze veränderte sich in den letzten Jahren die Sicht auf das Jahrzehnt vor der Gründung des deutschen Kaiserreiches. Sie wurde differenzierter und komplexer. Dies galt auch für die Landesgeschichtsschreibung, die sich stärker der Neuzeit, also auch dem 18. und 19. Jahrhundert und der Zeitgeschichte öffnete. Seit den 1970er Jahren trat in Deutschland die Landes- und Regionalgeschichte wieder stärker in das Blickfeld historischer Forschungen aus dem sie – mit verursacht u.a. durch die Reichshistoriographie und vermeintlich neue Fragestellungen und methodische Ansätze – für lange Zeit ausgegrenzt worden war. Sie ist nicht mehr mittelalterlastig. Die Landesgeschichte ist wiederentdeckt und wiederbelebt worden und nimmt heute eine wichtiger Scharnierfunktion zwischen allgemeiner, europäischer und regionaler Geschichtswissenschaft ein, vor allem auch bedingt durch neue Fragestellungen, methodische Vielfalt und methodische Neuorientierung. 89 Dieses

86 Siehe Anm. 20 sowie u.a. Showalter, The Wars of German Unification; Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995: „Die drei Hegemonialkriege: Die Allianz zwischen preußischer Expansion und liberaler Nationalbewegung“, 280ff.; Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, München 1995: „Die ‚Einigungskriege‘ von 1864/66 und das Ende des Deutschen Bundes als nationaler Wendepunkt“, 415ff. 87 Heinz Helmert/Hansjürgen Usczeck, Preussischdeutsche Kriege von 1864 bis 1871, 5. 88 Hierzu u.a.: Michael Doeberl, Bayern und die Bismarckische Reichsgründung, München 1925; Adolf Rapp, Die Württemberger und die nationale Frage, 1863–1871, Stuttgart 1910. 89 Ausführlicher hierzu: Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993. Teil I: 1789–1848, in: Blätter

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hatte auch Auswirkungen auf die landesgeschichtliche Forschung in den süddeutschen Staaten.90 Die Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit nicht mit möglichen Optionen jenseits einer preußisch-kleindeutschen Lösung der nationalen Frage beschäftigt. Die europäisch-internationalen Rahmenbedingungen wurden für den Prozess, der schließlich den Weg über den neuen deutschen Bund im November 1870 in das deutsche Kaiserreich von 1871 ermöglichte, zu wenig in die Analyse einbezogen. Berücksichtigt werden müssen für eine Bewertung und Einordnung der Politik und der Haltung der süddeutschen Staaten, der süddeutschen Geschichtslandschaften, zwischen 1864 und 1870 auch die historisch-politischen Traditionen des Südens, der konfessionelle Faktor, die eigenstaatliche Identität, das Selbstverständnis und der Landespatriotismus. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Südstaaten seit 1818/20 Verfassungsstaaten waren und sich damit nach 1866 auch Einwirkungen über die Presse auf die süddeutsche Politik eröffneten. Die süddeutschen Staaten, einschließlich der großen nord- und mitteldeutschen Mittelstaaten Sachsen und Hannover, hatten nach 1849/50 im Rahmen der Trias eigene Konzepte entwickelt, um Reformen im Deutschen Bund zu verwirklichen und den Antagonismus der deutschen Großmächte zu überwinden.91 Die Initiativen der „Würzburger“ zur Reform der Bundeskriegsverfassung wurden von Preußen immer wieder blockiert. Irritierend war für die Südstaaten, dass sich die deutschen Großmächte mehrfach, trotz ihres Antagonismus, außerhalb des Bundesrechtes verständigten. Dies galt auch für die Schleswig und Holstein Frage 1852 und 1864 als sich die Bundesversammlung auf Antrag der Südstaaten Im Dezember 1863 gegen die deutschen Großmächte positionierte und einen neuen Mittelstaat Schleswig-Holstein mit einem Herzog aus dem Hause Augustenburg favorisierten. Im April 1866 brachte

für deutsche Landesgeschichte 149/2013 (2014), 59–123, 59–65 mit weiteren Literaturhinweisen. 90 Hierzu u.a.: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV.: Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800–1970, IV.1: Staat und Politik, München 1974/1978; ders./Alois Schmid (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. IV.: Das Neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart. IV.1: Staat und Politik, München 22003; Walter Heinemeyer (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 4.2: Hessen im Deutschen Bund und im neuen Deutschen Reich (1806) 1815–1945. Die hessischen Staaten bis 1945, Marburg 2003; Winfried Speitkamp (Hg.), Handbuch der hessischen Geschichte 1: Bevölkerung, Wirtschaft und Staat in Hessen 1806–1945, Marburg 2010; Hansmartin Schwarzmaier (Hg.), Handbuch zur baden-württembergischen Geschichte, Bd. 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, Stuttgart 1992. 91 Hierzu u.a. Jürgen Müller (Bearb.), QGDB III.1. Die Dresdener Konferenzen 1850, München 1996; ders. QGDB III.2: Der Deutsche Bund zwischen Reaktion und Reform 1851–1858, München 1998; ders. QGDB III.3: Der Deutsche Bund in der nationalen Herausforderung 1859– 1862, München 2012; ders., QGDB III.4: Vom Frankfurter Fürstentag zur Auflösung des Deutschen Bundes 1863–1866, München 2017; Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866, Köln/Weimar/Wien 2001; ders./Günter Wartenberg (Hg.), Die Dresdener Konferenzen 1850/51, Leipzig 2002; Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151/2015 (2016).

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Preußen sein Unionsprojekt als Landzeitkonzept zur Bundesreform in die Bundesversammlung ein, das es seit 1850 weiter verfolgt hatte. In der Bundesexekution gegen Preußen standen die süddeutschen Staaten, nicht allein wegen des nicht erlaubten Austritts Preußens aus dem Deutschen Bund, hinter der Präsidialmacht Österreich. Die Niederlage, die Zerschlagung des Deutschen Bundes und die Friedensverträge von Prag und Berlin gaben den Südstaaten formal, erstmals seit dem Ende des Alten Reiches, volle Souveränität. Im Prager Frieden wurde festgelegt, dass sie einen Südbund bilden sollten, der in ein völkerrechtliches Verhältnis zum Norden im Rahmen eines erweiterten Bundes treten sollte. Die Idee eines „doppelten Bundes“ war seit 1848/49 immer wieder erörtert worden. Sie hatte nach 1866 durchaus Realisierungschancen und wurde bis zum November 1870 auf verschiedenen Ebenen verhandelt. Bei einem Scheitern der Beitrittsverträge zu einem neuen deutschen Bund in den süddeutschen Landtagen wäre ein Südbund erneut auf die Agenda gekommen. Warum kam ein süddeutscher Bund zwischen den Königreichen Bayern und Württemberg und den Großherzogtümern Baden und Hessen-Darmstadt letztlich nicht zustande? Bei der Frage nach den Gründen sind zahlreiche Faktoren in die Analyse einzubeziehen: Einzelstaatliche, geographische, macht- und sicherheitspolitische, innenpolitische, sich seit 1849 ausbildende negative süddeutsche Nachbarschaftsfaktoren und deutsche und europäisch-internationale Konstellationen spielen in ihrem Zusammenspiele eine Rolle. Hinzu kommen wirtschaftliche, konfessionelle, mentale, parteipolitische und verfassungspolitische Einflüsse, das einzelstaatliche Souveränitätsverständnis sowie das persönliche Verhältnis der politischen und dynastischen Akteure, seien es die Beziehungen der leitenden Minister oder die Vorstellungen der Monarchen. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist sicherlich auch die Tatsache, dass Bismarck in seiner Zeit als preußischer Bundestagsgesandter die einzelnen Vertreter der süddeutschen Staaten mit ihren Stärken, Schwächen und Eitelkeiten einschätzen konnte und, wie die Verhandlungen im Versailles zeigen sollten und diese Einsichten einsetzte, indem er mit den Südstaaten nicht gemeinsam, sondern einzeln verhandelte. Aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer Grenze zu Frankreich waren die süddeutschen Staaten sicherheitspolitisch exponiert. Dies galt insbesondere für Baden, dass es sich ohne Beistand in einem Kriegsfall nicht verteidigen konnte. Preußen nutzte u.a. die Luxemburger Krise von 1867, um die Angst vor einem französischen Angriff zu schüren. Damit unterlief es Initiativen zur gemeinsamen Reorganisation der süddeutschen Wehrverfassungen, über die seit Ende 1866 im Austausch der Kriegsministerien und auf Konferenzen verhandelt worden war. In den Südbundplänen und Verfassungsentwürfen spielte seit 1866 zwangsläufig auch die Frage nach der Führungsrolle im Süden eine Rolle. Die Südstaaten waren in ihrer territorialen Größe und mit Blick auf Bevölkerung, Finanz- und Wirtschaftskraft unterschiedlich. Bayern sah sich als drittgrößter und nach 1866 zweitgrößter deutscher Staat als natürlicher Führer im Süden während die anderen Südstaaten einen hegemonialen Anspruch Bayerns ablehnten.

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Durch die Friedensverträge wurden die Südstaaten durch die Schutz- und Trutzbündnisse sowie durch die drohende Kündigung des Zollvereins durch Preußen unter Druck gesetzt. Der neue Zollvertrag und die im März 1867 bekannt gewordenen Schutz- und Trutzbündnisse wurden in den Landtagen leidenschaftlich diskutiert. Der neue Zollvertrag und die Einrichtung eines Zollparlamentes erhielten schließlich die erforderliche parlamentarische Mehrheit in den Landtagen. Beim Geheimvertrag mit Preußen wurde den Abgeordneten versichert, dass die einzelnen Staaten über den Bündnisfall selbst würden entscheiden könnten, d.h. ob sie für Neutralität oder Kriegseintritt an der Seite Preußens votierten. Bei der Anerkennung des Bündnisfalles im Juli 1870 spielten in Bayern und Württemberg auch innenpolitische Gründe eine Rolle, da die Landtage die Militärreformen kippen wollten und statt eines Wehrpflichtheeres ein Milizsystem forderten, aber auch die Überlegungen, dass sie so ihre staatliche Eigenständigkeit am besten erhalten könnten. Hintergrund für die Entscheidungen in der Julikrise war u.a., dass seit den Wahlen zum Zollparlament und den Landtagswahlen 1968/69 vor allem die Regierungen Bayerns und Württembergs durch die Veränderung der Mehrheiten hin zu den katholischen und demokratischen Parteien in ihrer Reformpolitik blockiert wurden. Die süddeutschen Regierungen hatten durch den Kriegseintritt die emotional-nationale Komponente für die Stimmung der Bevölkerung unterschätzt. Versuche durch die Münchner Verhandlungen im September 1870 doch noch einen süddeutschen Bund im Rahmen eines weiteren Bundes zu verwirklichen scheiterten nicht allein an Preußen, sondern auch an der Uneinigkeit und Interessendivergenz der Südstaaten sich auf eine gemeinsame Verhandlungsposition mit dem Norddeutschen Bund zu verständigen. In Versailles verhandelten Bismarck, Delbrück und Roon einzeln mit Baden, Bayern, Württemberg und dem Großherzogtum Hessen. Im November 1870 traten diese nach Abschluss der Verträge in den neuen deutschen Bund ein. Die Verträge mussten aber in den Landtagen mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Die bayerische Regierung plante bereits Ende Dezember 1870 eine Auflösung des Landtages, da eine Zustimmung zu den Verträgen nicht zu erwarten war. Erst nach der Kaiserproklamation wurden diese nach wochenlangen emotionalen Debatten im bayerischen Landtag mit einer knappen Mehrheit angenommen. Was wäre bei einer Ablehnung passiert? Wie 1815 ein Deutscher Bund ohne Bayern keinen Sinn gemacht hätte, hätte auch 1870/71 ein deutscher nationaler Staat ohne das Königreich Bayern keinen Sinn gemacht. Resümierend kann man für die süddeutschen Staaten feststellen, dass die Einschätzung, dass es auf längere Sicht nach 1866 keine Alternative zum Nationalstaat gegeben hätte in dieser Form nicht mehr haltbar ist. Es hätte andere staats- und verfassungsrechtliche Organisationsformen gegeben: Einen reformierten, funktionsfähigen neuen deutschen Bund, einen engeren Norddeutschen Bund und einen Südbund unter dem Dach eines Allgemeinen Deutschen Bundes. Bismarck hätte mit einer derartigen Organisationsstruktur leben können, zumal auch dann, wenn diese von den süddeutschen Staaten und den unbeteiligten europäischen Großmächten als einzige Lösung gebilligt worden wäre.

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Der Blick auf Großbritannien und Frankreich, die durch innenpolitische und außereuropäische Probleme und Konflikte abgelenkt waren, weniger an Mitteleuropa interessiert waren und sich nicht einmischten, zeigt, dass ohne die europäischinternationalen Rahmenbedingungen, ohne die Leistung Bismarcks abzuwerten, es 1871 nicht zur Gründung des „Bismarckreiches“ in dieser Form gekommen wäre und man nach anderen Lösungen hätte suchen müssen.

IM BANNE DER „FIBRE NATIONAL“ Frankreich und der Norddeutsche Bund 1866 bis 1870 Ulrich Lappenküper

Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es wohl kaum zwei andere Nationen, die so miteinander verfeindet waren und zugleich so enge Kontakte pflegten, wie Deutschland und Frankreich. Als Wendemarke von einer nie spannungsfreien Entente hin zur sog. „Erbfeindschaft“ gilt im kollektiven Gedächtnis der beiden Völker der Krieg von 1870/71. Auf eine abschüssige Bahn waren die Nachbarn am Rhein indes bereits fünf Jahre früher, nach dem preußischösterreichischen Krieg von 1866 geraten. Was waren die Ursachen und Gründe für diesen fundamentalen Wandlungsprozess? Worauf beruhten die Verwerfungen? Welche Motive und Ziele leiteten die verantwortlichen Staatsmänner? Und in welchem Maße wurde ihr Handeln durch Akteure aus dem Militär, der Wirtschaft oder der Gesellschaft beeinflusst? Um tragfähige Antworten auf diese Fragen zu liefern, zielt der Aufsatz darauf ab, das preußischfranzösische Verhältnis anhand der veröffentlichten Quellen und Literatur vornehmlich aus der französischen Perspektive näher zu untersuchen. Nach einer Skizze der innen- wie außenpolitischen Rahmenbedingungen des Second Empire beleuchtet er zunächst Grundzüge seiner Außenpolitik. Sodann zeichnet er die französische Haltung zur „deutschen Frage“ in den 1860er-Jahren in den maßgeblichen Etappen nach. Im Rückblick betrachtet, wirkt der Ausgang des preußisch-österreichischen Krieges wie eine „date clé“ für das Second Empire. Aus zeitgenössischer Sicht war 1866 aber weder der Weg in die Gründung des deutschen Nationalstaates teleologisch festgelegt noch Napoleons Hoffnung auf eine Entente mit Preußen eo ipso zerstoben. Verantwortlich für die Katastrophe von 1870 zeichneten vielmehr zum einen der machtpolitische Niedergang Frankreichs, zum anderen der französische (Irr)Glaube, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates eine tödliche Gefahr für Frankreichs Großmachtstellung darstelle; und schließlich das Versagen der Regierungen in Paris und Berlin, die aufgrund eines bereits erlittenen bzw. drohenden Autoritätsverlusts ihr Heil im Krieg suchten.

EINFÜHRUNG Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es wohl kaum zwei andere Nationen, die so miteinander verfeindet waren und zugleich so enge Kontakte pflegten, wie Deutschland und Frankreich. Abstoßung und Anziehung charakterisierten das Verhältnis zweier Mächte, die die europäische Geschichte des gesamten Säkulums entscheidend prägen sollten.1 Als Wendemarke von einer nie spannungsfreien

1

Hans-Jürgen Lüsebrink/János Riesz (Hg.), Feindbild und Faszination. Vermittlerfiguren und Wahrnehmungsprozesse in den deutsch-französischen Kulturbeziehungen (1789–1983). Beiträge zum Kolloquium an der Universität Bayreuth, 19.–21. Mai 1983, Frankfurt am

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Entente hin zur sog. „Erbfeindschaft“ gilt im kollektiven Gedächtnis der beiden Völker der Krieg von 1870/71. Auf eine abschüssige Bahn waren die Nachbarn am Rhein indes bereits fünf Jahre früher, nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 geraten. Was waren die Ursachen und Gründe für diesen fundamentalen Wandlungsprozess? Worauf beruhten die Verwerfungen? Welche Motive und Ziele leiteten die verantwortlichen Staatsmänner? Und in welchem Maße wurde ihr Handeln durch Akteure aus dem Militär, der Wirtschaft oder der Gesellschaft beeinflusst? Um tragfähige Antworten auf diese Fragen zu liefern, zielt der vorliegende Aufsatz darauf ab, das preußisch-französische Verhältnis anhand der veröffentlichten Quellen und Literatur vornehmlich aus der französischen Perspektive näher zu beleuchten.2 Nach einer Skizze der innen- wie außenpolitischen Rahmenbedingungen des Second Empire werden zunächst Grundzüge seiner Außenpolitik beleuchtet. Sodann geht es im Hauptteil der Studie darum, die französische Haltung zur „deutschen Frage“ in den 1860er-Jahren in den maßgeblichen Etappen nachzuzeichnen. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt dabei auf den Jahren 1866 bis 1870/71.

2

Main/Berlin/München 1984, 13–81; Raymond Poidevin/Jacques Bariéty, Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975, München 1982, 15–189. Ausgewertet wurden insbesondere die Quellenwerke zur französischen und preußischen Außenpolitik der 1860er-Jahre: Ministère des affaires étrangères, Les origines diplomatiques de la guerre de 1870–1871 [im Folgenden Origines]. Receuil de documents, 29 Bde., Paris 1910–1932; Die auswärtige Politik Preußens [im Folgenden APP] 1858–1871. Diplomatische Aktenstücke. Hrsg. von der Historischen Reichskommission unter Leitung von Erich Brandenburg/Otto Hoetzsch/Hermann Oncken, 11 Bde., Oldenburg i. O./Berlin 1933–1939; ab 1938 hrsg. vom Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands unter Leitung von Arnold Oskar Meyer; Bd. 7. Hrsg. und bearb. von Winfried Baumgart, Berlin 2008; Bismarck, Die gesammelten Werke [im Folgenden GW]. Friedrichsruher Ausgabe. Bd. 2. Bearb. von Herman von Petersdorff; Bd. 4. Bearb. von Friedrich Thimme; Bd. 5. Bearb. von dems.; Bd. 6. Bearb. von dems.; Bd. 6a. Bearb. von dems.; Bd. 6b. Bearb. von dems.; Bd. 7. Hrsg. und bearb. von Willy Andreas; Bd. 9. Hrsg. und bearb. von Willy Andreas; Bd. 14/II. Hrsg. von Wolfgang Windelband/Werner Frauendienst, Berlin 1924–1931 u. 1933; Hermann Oncken, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863 bis 1870 und der Ursprung des Krieges von 1870–71. Nach den Staatsakten von Österreich, Preußen und den süddeutschen Mittelstaaten, 3 Bde., Neudruck, Osnabrück 1967; aus der Spezialliteratur: Yves Bruley, La diplomatie du Sphinx. Napoléon III et sa politique internationale, Paris 2013; Rudolf Buchner, Die deutsch-französische Tragödie 1848–1864. Politische Beziehungen und psychologisches Verhältnis, Würzburg 1965; Herbert Geuss, Bismarck und Napoleon III. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-französischen Beziehungen 1851–1871, Köln/Graz 1959; W. E. Mosse, The European Powers and the German Question 1848–71. With Special Reference to England and Russia, Cambridge 1958. Trotz anderer Schwerpunktsetzung wichtige Erkenntnisse liefert außerdem Stéphanie Burgaud, La politique russe de Bismarck et l’unification allemande. Mythe fondateur et réalités politiques, Paris 2010.

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1. DER BONAPARTISMUS NAPOLEONS III. Die auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu erörtern heißt, die Außenpolitik Napoleons III. zu untersuchen. Nach zwei gescheiterten Putschen und einer Verurteilung zu lebenslänglicher Haft war LouisNapoléon Bonaparte 1848 ein bemerkenswerter Coup gelungen: die Wahl zum Präsidenten der Zweiten Republik. Vier Jahre später erhob sich der Neffe des großen Napoleon zum Kaiser der Franzosen. Im Gegensatz zu den übrigen europäischen Fürsten beruhte seine Macht nicht auf göttlichem Recht oder Tradition, sondern auf dem Wohlwollen der Untertanen. Die Zeitgenossen bezeichneten sein Herrschaftsmodell als „bonapartistisch“ und meinten damit eine auf den „Volkswillen“ rekurrierende Form der Diktatur im monarchischen Gewand.3 Dank seiner Popularität und Machtbefugnisse, einer erfolgreichen Außenpolitik und des wirtschaftlichen Aufschwungs amtierte Napoleon III. ein Jahrzehnt weitgehend unangefochten. Der Kaiser herrsche nicht nur, er regiere auch, hieß es anerkennend unter den Zeitgenossen mit deutlicher Spitze gegen die parlamentarische Monarchie von 1830.4 Ganz Herr seiner Politik, füllte der mit Hilfe seines Privatkabinetts und des Ministeriums regierende Kaiser das Zentrum der Macht fast unumschränkt aus, auch wenn einzelne Minister eine „eigenständigere Politik“ zu gestalten vermochten.5 Parlamentarische Oppositionsarbeit betrieben nur die gemäßigten Liberalen wie Alexis de Tocqueville oder Adolphe Thiers, ohne aber das Empire in Frage zu stellen.

2. GRUNDZÜGE DER FRANZÖSISCHEN AUSSENPOLITIK SEIT 1852 „L’Empire, c’est la paix“,6 so hatte der Monarch kurz vor seiner Krönung vollmundig verkündet. Größe und Ehre einer Nation, ergänzte er 1854, bestünden nicht in der Ausdehnung ihrer Grenzen, sondern im Einsatz für die „Herrschaft von Recht und Gerechtigkeit“.7 Die Kriege des „Pläneschmieder[s] und Konspirateur[s]“8 sprachen indes eine andere Sprache. Wie Bismarck in Preußen, Palmerston in England, Gortschakow in Russland oder Cavour in Piemont gehörte Napoleon III. zu jener Riege europäischer Staatsmänner, die einer bedenkenlosen „Realpolitik“ frönten. Seine außenpolitischen Gedanken kreisten um die Revision der 3 4 5 6 7 8

Eric Anceau, Napoléon III. Un Saint-Simon à cheval, Paris 2008; Pierre Milza, Napoléon III., Paris 2004; Johannes Willms, Napoleon III. Frankreichs letzter Kaiser, München 2008. Daniel Pejko, Gegen Minister und Parlament. Der Conseil d’État im Gesetzgebungsverfahren des Zweiten Französischen Kaiserreichs (1852–1870), Frankfurt am Main 2012, 78. Martin Stauch, Im Schatten der Heiligen Allianz. Frankreichs Preußenpolitik von 1848 bis 1857, Frankfurt am Main 1996, 67. „Das Kaiserreich, das ist der Frieden“: Rede Napoleons III. vom 9. Oktober 1852, zitiert nach: Willms, Napoleon III., 163. Rede Napoleons III. vom 2. März 1854, zitiert nach: Willms, Napoleon III., 161. Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878, Paderborn u.a. 1999, 207.

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für Frankreich schmachvollen Wiener Akte von 1815 und zielten auf die Errichtung einer informellen Vorherrschaft in Europa. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung gelang ihm mit Hilfe des Krimkrieges der Jahre 1853–1856. Nach dem Sieg der Westmächte über Russland war die verhasste Heilige Allianz der drei östlichen Monarchien gesprengt und Frankreich zur mächtigsten Kontinentalmacht aufgestiegen. Das von ihm angestrebte Ordnungssystem hatte der Kaiser der Franzosen jedoch nicht errungen, weil sich die beiden deutschen Großmächte verweigerten. Um ihre Renitenz zu brechen, unterstützte Napoleon III. drei Jahre später Sardinien-Piemont im italienischen Einigungskrieg gegen Österreich und ermunterte Preußen zu einer Machtausdehnung in Deutschland. Dass er sich dabei nicht von altruistischen Motiven leiten ließ, verdeutlichten seine territorialen Ambitionen jenseits der Alpen und im Rheinland. Mit der Gründung des Königreichs Italien und der Einverleibung von Nizza und Savoyen sollte der Kaiser zwei seiner drei Ziele erreichen: die Machtsteigerung Frankreichs und die Schwächung Österreichs. Nur Preußen ging ihm nicht ‚ins Netz‘. Angefacht von annexionistisch gesinnten französischen Publikationen und einem aus Angst geborenen Franzosenhass, begann östlich des Rheins das Schreckgespenst der deutschfranzösischen „Erbfeindschaft“9 sein Unwesen zu treiben. Aufgrund dieser und anderer außenpolitischer Misserfolge bahnte sich in Frankreich ein innenpolitischer Stimmungsumschwung an, den der Kaiser nicht unbeachtet lassen durfte. 1860 unterzeichnete Napoleon III. ein Reformdekret, das dem Corps législatif mehr Rechte gab. Sein Kalkül ging jedoch nur bedingt auf: Bei den Parlamentswahlen des Jahres 1863 errang die Opposition einen beachtlichen Erfolg und zwang den Kaiser, ihre politischen Positionen stärker als bisher in seine Erwägungen einzubeziehen; auch in Bezug auf Deutschland, wo die Großmächte Preußen und Österreich seit dem Regierungswechsel in Berlin 1862 zunehmend verbissener um die Vorherrschaft rangen. In Paris löste die Zuspitzung des alten Dualismus zwischen Hohenzollern und Habsburg eine fundamentale Debatte aus: zwischen denen, die wie Staatsminister Rouher eine Allianz mit Berlin anstrebten, und jenen, die wie Außenminister Drouyn de Lhuys auf Österreich setzten. Napoleon III. neigte im Prinzip der ersten Gruppe zu – sofern Frankreich politischen Profit einstreichen könne und Preußen sich nicht auf Süddeutschland ausdehne. Im Grunde träumte er von einem Deutschland „en ‚trois troncons‘: le Nord dominé par la Prusse, le Sud indépendant, puis l’Empire d’Autriche tourné vers le Danube“.10

9 Buchner, Tragödie, 117. 10 Ein Deutschland „in ‚drei Teilen‘: dem von Preußen dominierten Norden, dem unabhängigen Süden, schließlich dem zur Donau orientierten Österreich“: Bruley, La diplomatie, 240.

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3. DIE POLNISCHE FRAGE 1863/64 Der Ausbruch des Aufstandes in Polen Anfang 1863 schien dem Kaiser der Franzosen eine Chance zu bieten, seinen europa- und deutschlandpolitischen Zielen ein Stück näher zu kommen. Indem sich Napoleon III. als Protektor der polnischen Nationalbewegung gerierte, erhielt er in der französischen Kammer wie von Seiten der veröffentlichten Meinung viel Applaus. Dass Preußen aber Russland erlaubte, die Grenze zur Verfolgung der polnischen Aufständischen zu überqueren, konnte ihm aus deutschlandpolitischem Blickwinkel ganz und gar nicht gefallen. Unter dem doppelten Druck der liberalen und der katholischen Strömung in der öffentlichen Meinung legte der Kaiser offiziellen Protest gegen die „Konvention Alvensleben“ ein11 und bereitete dann ein „wahres ‚renversement des coalitions‘“12 mit antipreußischer Spitze vor. Mitte Februar 1863 sandte Napoleon III. seine Gattin mit dem hochbrisanten Auftrag in die österreichische Botschaft, die Wiederherstellung Polens sowie fundamentale Gebietsverschiebungen in Europa anzuregen.13 Wenngleich Kaiser Franz Josef Eugènies „vol d‘oiseau“ (Vogelflug) die Zustimmung verweigerte, sah Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck höchste Vorsicht geboten. Da seiner Grundkonzeption, Preußen in Deutschland mehr Bewegungsfreiheit durch Anlehnung an Frankreich zu geben, der Kollaps drohte, ließ er die „Konvention Alvensleben“ Ende Februar fallen,14 ging aber auf die fortgesetzten Bemühungen Frankreichs um eine Restauration des Königreiches Polen nicht ein. Daran änderte auch der Appell Napoleons III. nichts, Preußen müsse der Träger der deutschen Nationalität und der liberalen Ideen sein.15 „Une fois cette difficulté écartée,“ so lockte der Kaiser den preußischen Botschafter von der Goltz Ende August 1863, „rien ne nous empêcherait de marcher ensemble dans toutes les questions“.16 Ob Napoleon III. implizit hoffte, im Falle einer Einigung Deutschlands die linksrheinischen Gebiete annektieren zu können, wie Hermann Oncken meinte17, oder eine „Politik [...] des verewigten Dualismus“18 betrieb, wird in der Geschichtswissenschaft bis auf den heutigen Tag kontrovers diskutiert.

11 S. den Text der vom Generaladjutanten des Königs, Gustav von Alvensleben, und Außenminister Alexander Gortschakow unterzeichneten Konvention vom 8. Februar 1863, in: Burgaud, La politique russe, 53; zum Protest Napoleons III. vgl. Goltz an Bismarck, 18. Februar 1863, in: APP, Abt. 2, Bd. 3, 265–267. 12 Buchner, Tragödie, 127. 13 S. Metternich an Rechberg, 22. Februar 1863, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 3–6. 14 S. Bismarck an Werther, 26. Februar 1863, in: APP, Abt. 2, Bd. 3, 316; ders. an Bernstorff, 26. Februar 1863, in: ebd.; ders. an Goltz, 26. Februar 1863, in: ebd., 316f. 15 S. Reuß an Bismarck, 8. Juni 1863, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 17–21. 16 „Wenn die Schwierigkeit einmal behoben ist, hindert uns nichts daran, in allen Fragen gemeinsam zu marschieren“: Goltz an Wilhelm I., 30. August 1863, in: APP, Abt. 2, Bd. 3, 751–753, hier 752. 17 Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 1–121. 18 Gerhard Ritter, Bismarck und die Rheinpolitik Napoleons III., in: Rheinische Vierteljahrsblätter 15/16 (1950/51), 339–370; auch Buchner, Tragödie, 74f.; Geuss, Bismarck, 75.

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In dem Wunsche, „einen ehrenvollen Ausweg aus der polnischen Verwicklung zu finden“,19 wartete der „apôtre de la sécurité collective“20 im November 1863 mit dem Vorschlag eines allgemeinen Fürstenkongresses auf, der als permanente Instanz zur Regelung zwischenstaatlicher Konflikte dienen sollte.21 Da die Großmächte die Einladung wohl auch deshalb zurückwiesen, weil Napoleon III. für sich die Rolle des „arbitre de la politique générale en Europe“ in Anspruch nahm,22 war der Vorschlag umgehend Makulatur; besiegelt damit auch das Schicksal der polnischen Rebellion: Wenige Wochen später schlugen russische Truppen den Aufstand brutal nieder. Für Napoleon zeitigte die polenpolitische Schlappe erhebliche Konsequenzen: Frankreich hatte die im Cobden-Vertrag 1860 handelspolitisch unterfütterte Entente mit England beschädigt, erste Früchte einer Wiederannäherung an Russland aufs Spiel gesetzt, das angestrebte Bündnis mit Österreich aber nicht gewonnen. Als potentieller Partner blieb nur noch Preußen, das ebenfalls nur sehr halbherzig auf Napoleons Vorschläge eingegangen war. Eine nun eskalierende Krise um Schleswig-Holstein schien dem Empire einen willkommenen Hebel in die Hand zu geben, den östlichen Nachbarn doch noch auf seine Seite zu ziehen.

4. FRANKREICH UND DIE SCHLESWIG-HOLSTEIN-FRAGE Trotz vertraglicher Verpflichtungen und emotionaler Bindungen zu Dänemark besaß Napoleon III. keinen Skrupel, den seit Jahren wabernden deutsch-dänischen Konflikt um die Elbherzogtümer für ein politisches Geschäft zu instrumentalisieren.23 Als die Lage sich Ende 1863 nach der Verabschiedung eines dänischen Staatsgrundgesetzes zuspitzte, signalisierte der Kaiser die Bereitschaft zur Unterstützung der preußischen Schleswig-Holstein-Politik24 und ermutigte Bismarck 19 So zitiert Goltz die Worte eines Vertrauensmannes von Napoleon: Goltz an Bismarck, 25. Oktober 1863, in: APP, Abt. 2, Bd. 4, 83f., hier 83. 20 „Apostel der kollektiven Sicherheit“: Anceau, Napoléon III., 566. 21 Grundlegend dazu: William E. Echard, Napoleon III. and the Concert of Europe, Baton Rouge/London 1983. 22 „Schiedsrichter der allgemeinen Politik in Europa”: Bruley, La diplomatie, 232. 23 Karl Döhler, Napoleon III. und die deutsch-dänische Frage unter besonderer Berücksichtigung der französischen Politik während des Konfliktes von 1863/64, Halle 1913; Edouard Driault, La diplomatie française pendant la guerre de Danemark, in: Revue historique 107 (1911), 79–94; Ulrich Lappenküper, „Il vous sacrifierait demain le Danemarc, s‘il y trouverait son compte“. Frankreich, der Deutsch-Dänische Krieg und der Wiener Frieden von 1864, in: ders./Oliver Auge/Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864 in deutscher, europäischer und globaler Perspektive, Paderborn u.a. 2016, 239–263; Pierre Muret, La politique française dans l’affaire des Duchés et les premiers essais d’intervention européenne, in: Revue historique moderne 16 (1911), 137–169 und 300–333; Lawrence D. Steefel, The Schleswig-Holstein Question, Cambridge, Mass./London/Oxford 1932. 24 Napoleon III. an Fleury, 22. Dezember 1863, in: Origines, Bd. 1, 3; [Général Emile-Félix Comte de Fleury,] Souvenirs du général Comte Fleury, 1837–1867, 2 Bde., Paris 1897–1898, Bd. 2, 278–281.

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überdies zu einer „selbständig eingreifende[n] Aktion“ in der deutschen Frage. Als Preis verlangte er eine „Allianz mit Frankreich“ und territoriale Kompensationen.25 „Preußen fürs erste den Weg zur Annexion der Herzogtümer freizugeben, das ‚dritte Deutschland‘ für sich zu gewinnen und es gleichzeitig in weiteren Gegensatz zunächst zu Österreich, dann aber auch zu Preußen zu bringen, schließlich die hieraus erwachsenden Situation vorteilhaft auszunutzen“, so lautete offenbar das ‚Programm‘ Napoleons III.26 Bismarck ließ sich auf diesen Kuhhandel nicht ein und verständigte sich stattdessen mit Österreich auf einen gemeinsamen Aktionsplan, um Dänemark zur Rücknahme der Novemberverfassung zu zwingen. Da König Christian IX. nicht nachgeben mochte, mussten die Waffen sprechen. Nach der Öffnung des Janustempels am 1. Februar 1864 drohte der „Hasardeur“27 in den Tuilerien dem preußischen Ministerpräsidenten mit „diplomatische[r] Intervention“. 28 Zugleich erneuerte er seine Bündnisavancen und forderte als Gegenleistung eine Revision des Zweiten Pariser Friedens von 1815, d.h. eine Grenzberichtigung bei Landau und die Umbildung der Rheinprovinz zu einem neutralen Staat.29 Da Bismarck auch darauf nicht einging, spielte Drouyn de Lhuys, ohnehin nicht eben preußenfreundlich, mit dem Gedanken einer militärischen Aktion im Verein mit England. Doch davon wollte sein zaudernder Souverän zunächst nichts wissen.30 Als ihm dann aber Meldungen über ein Treffen des preußischen Königs mit dem russischen Zaren und dem österreichischen Kaiser zu Ohren kamen, drängte Napoleon aus Entrüstung über die anscheinend erneuerte Heilige Allianz auf eine militärische Intervention mit England. Das Kabinett von St. James lehnte jedoch ab, weil es den antizipierten Preis – die Stärkung Frankreichs am Rhein und eine Schwächung Österreichs in Italien – nicht zu zahlen bereit war.31 Nolens volens akzeptierte Napoleon III., dass Preußen und Österreich den Konflikt mit Dänemark militärisch entschieden. Aufgrund der fortgesetzten verbalen Querschüsse aus Paris sah Bismarck sich indes genötigt, kurz vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages nach Paris zu reisen, um sich über die Haltung des Kaisers rückzuversichern. Ob er in den VierAugen-Gesprächen32 Anfang Oktober 1864 Zugeständnisse für den Fall eines etwaigen Konflikts mit Österreich in Aussicht gestellt hat, gilt bis auf den heutigen Tag als umstritten. Sowohl Hermann Oncken als auch Erich Eyck gehen davon aus, dass Preußens Regierungschef es auf feste Abmachungen über Neutralität 25 26 27 28 29 30 31 32

Goltz an Bismarck, 14. Januar 1864, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 24f., hier 24 und 25. Döhler, Napoleon III., 53. Willms, Napoleon III., 159. Metternich an Rechberg, 23. Februar 1864, in: Steefel, The Schleswig-Holstein Question, 308. Goltz an Wilhelm I., 9. Februar 1864, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 29–32. La Tour d’Auvergne an Drouyn de Lhuys, 21. Februar 1864, in: Origines, Bd. 1, 349f.; Cowley an Russell, 22. Februar 1864, in: Steefel, The Schleswig-Holstein Question, 192. Mosse, European Powers, 203–206. Zwei entsprechende Schreiben von Drouyn de Lhuys und Napoleon III. gelten als verschollen; Buchner, Tragödie, 172f. Bismarck an Auswärtiges Amt, 26. Oktober 1864, in: Bismarck, GW, Bd. 4, 575f., hier 576.

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oder Kompensationen mit Frankreich abgesehen habe, beim Kaiser aber abgeblitzt sei.33 Herbert Geuss hält das für „wenig logisch“, weil es seiner Meinung nach keiner Verabredungen bedurfte, da Bismarck die Ansichten Napoleons gekannt habe.34 Aufgrund der Wetterwendigkeit der Pariser Sphinx wirkt diese Sicht der Dinge wenig überzeugend.

5. FRANKREICH UND DIE FOLGEN DES WIENER FRIEDENS 1865/66 Der Wiener Friedensvertrag bedeutete für Napoleon III. nach dem Fiasko um Polen den zweiten außenpolitischen Nackenschlag innerhalb weniger Monate. Seine Hoffnung bestand nun darin, dass die ungeklärten Besitzverhältnisse in den ElbHerzogtümern die beiden deutschen Großmächte entzweien würden und Frankreich einen preußisch-österreichischen Konflikt für seine Interessen instrumentalisieren könne. Um den ja keineswegs bereinigten Dualismus neu zu entfachen, ermunterte er Preußen zur Einverleibung der Elb-Provinzen und forderte im Gegenzug wie üblich einen territorialen Ausgleich.35 Bismarck stand einer solchen Lösung durchaus wohlwollend gegenüber, schätzte ihre Realisierungschance aber wegen der österreichischen Widerstände nicht eben hoch ein. Wenn er sich den französischen Anerbietungen gegenüber zurückhaltend verhielt, so auch deshalb, weil er nicht ausschließen mochte, dass Drouyn de Lhuys etwaige preußische Aspirationen in Wien bloßstellen könnte.36 Da die innerfranzösische Opposition weiterhin ganz überwiegend für eine Allianz mit Österreich eintrat,37 unterstellte Preußens Ministerpräsident dem französischen Nachbarn eine „Doppelpolitik“, die Vorsicht gebot. „Das Bündnis mit Frankreich ist nur ein Notanker für den Fall, daß das Wiener Kabinett uns einen billigen Abschluß versagt“, führte er von der Goltz im Februar 1865 vor Augen.38 An dieser Grundeinstellung änderte auch das Inkrafttreten eines preußischfranzösischen Handels- und Zollvertrags im Juli 1865 nichts. Zwar machte das Abkommen die Nachbarn aufgrund „spektakuläre[r] Zuwachsraten“ in den folgenden Jahren zu „bedeutende[n] Handelspartner[n]“.39 Eine Entideologisierung der preußisch-französischen Verbindung fand jedoch nicht statt. Dies zeigte sich bereits einen Monat später, als Wien und Berlin aufgrund zunehmender Spannungen in der Verwaltung der Elbherzogtümer einen Interessenausgleich vereinbar33 Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 10; Erich Eyck, Bismarck. Leben und Werk. 3 Bde., ZürichErlenbach 1941–1944, Bd. 2, 97–101. 34 Geuss, Bismarck, 144. 35 Goltz an Bismarck, 3. Februar 1865, in: APP, Abt. 2, Bd. 5, 647. 36 Bismarck an Goltz, 6. Februar 1865, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 72–76. 37 Goltz an Bismarck, 15. April 1865, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 42–44, hier 43. 38 Bismarck an Goltz, 20. Februar 1865, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 92–95, hier 95 und 94. 39 Raymond Poidevin, Frankreich und die deutsche Einigung 1859–1870, in: ders./Bariéty, Frankreich und Deutschland, 69–115, hier 79 und 82; zu den preußisch-französischen Handelsbeziehungen ausführlich Dagmar Soleymani, Les échanges commerciaux entre la France et les Etats allemands 1834–1869, Bonn 1996.

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ten, der im Rahmen der „Gasteiner Konvention“ in die Aufteilung des Kondominiums mündete. Getrieben von Kaiserin Eugènie, „unverantwortliche[n] Minister[n]“40 wie Drouyn de Lhuys und der erstarkenden parlamentarischen Opposition, ließ Napoleon III. umgehend schneidende Kritik am preußisch-österreichischen Vorgehen anmelden.41 Aufgeschreckt durch die kaiserliche Rüge und einen Federkrieg französischer Gazetten, eilte Bismarck im Oktober erneut an die Seine, um sich Klarheit über die dortigen Ansichten zu verschaffen. Nach seiner Rückkehr Anfang November unterstellte ihm die französische Presse, er habe die Zustimmung für Gebietserweiterungen zu erreichen gesucht und dafür Kompensationen angeboten.42 Anders als bei seinem Treffen mit Cavour in Plombières 1858 hatte Napoleon aber mit Bismarck keinen Krieg ausgeheckt, auch wenn er sich bereit erklärte, „den Cotillon“ mit ihm „zu tanzen“.43 „Keine Zumutung über die Zukunft, die mich in Verlegenheit gesetzt hätte“, fasste Preußens Ministerpräsident die Darlegungen des Kaisers in einem Bericht an König Wilhelm I. zusammen. „Indessen bereitwillig, aus Ereignissen, die sich ungesucht darböten, mit uns gemeinschaftlich Vorteil zu ziehen“.44 Je mehr die beiden deutschen Großmächte in der Schleswig-Holstein-Frage auf Kollisionskurs gingen, desto stärker geriet Napoleons pro-preußische Position ins Wanken. Ende 1865 billigte er die Aufnahme von Bündnisgesprächen mit Österreich45 und verweigerte sich nach dem Jahreswechsel dem preußischen Angebot einer „entente plus intime et plus spéciale“.46 Zaudernd wie er war, sicherte er König Wilhelm I. dann aber Anfang März 1866 wohlwollende Neutralität im Falle eines deutschen Krieges zu und verband damit den Wunsch nach dem Erwerb von Luxemburg oder der bayerischen Pfalz.47 Angesichts der ostentativen Hinneigung der französischen Öffentlichkeit zu Österreich wirkt der Schlingerkurs des Kaisers durchaus verständlich. Klerikale, Legitimisten, Orléanisten und Imperialisten wollten kein Bündnis mit dem östlichen Nachbarn. Große Teile der veröffentlichten Meinung standen Preußen mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüber und warnten vor einer despotischen Militärmonarchie. Nur wenige Blätter nahmen

40 Willms, Napoleon III., 233. 41 S. Rundschreiben Drouyn de Lhuys, 29. August 1865, in: Origines, Bd. 6, 453f.; Goltz an Bismarck, 18. September 1865, in: APP, Abt. 2, Bd. 6, 387f.; ders. an dens., 20. September 1865, in: ebd., 388f. 42 Goltz an Wilhelm I., 23. Oktober 1865, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 74f.; ders. an Bismarck, 8. November 1865, in: ebd., 76; ders. an dens., in: ebd., 76f. 43 Bismarck an Thile, 23. Oktober 1865, in: Bismarck, GW, Bd. 14/II, 706–708, hier 707. 44 Bismarck an Wilhelm I, 5. Oktober 1865, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 306f. 45 Goltz an Bismarck, 29. Dezember 1865, in: APP, Abt. 2, Bd. 6, 504f. 46 „Intimere und speziellere Entente“: Wilhelm I. an Napoleon III., 3. März 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 387. 47 S. Goltz an Bismarck, 6. März 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 94–98.

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Partei für die Hohenzollern-Monarchie, und auch nur deshalb, weil sie in ihr eine Barriere zu Russland erblickten.48 Maßgebliche Akteure der preußischen Diplomatie trieb angesichts der innerfranzösischen Stimmungsschwankungen die Furcht vor einem Systemwechsel um. Bismarck teilte diese Sorgen nicht, weil die nächsten Wahlen zum Corps législatif erst für 1869 anstanden. Eine „Katastrophe“, so schreib er seinem Botschafter in Paris, könne allenfalls durch den plötzlichen Tod des kränkelnden Kaisers eintreten.49 Diese Katastrophe blieb zwar aus, aber auf Napoleon war aus preußischer Sicht dennoch immer weniger Verlass. Setzte Frankreichs Diplomatie noch Ende März ganz auf Neutralität, da Preußen und Österreich „avec une égale énergie“ auf den Krieg zutrieben,50 wendete sich das Blatt im April 1866. Um die Scharte des Scheiterns des von Frankreich installierten Kaiserreichs in Mexiko auszuwetzen,51 mischte sich der Kaiser vor dem Hintergrund der immer konkreteren Kriegsvorbereitungen beider deutscher Großmächte zunehmend intensiver in die zentraleuropäischen Angelegenheiten ein. Mitte April meldete er in Berlin „gewisse Reserven“ für den Fall einer „Verrückung des europäischen Gleichgewichts zum Nachteile Frankreichs“ an.52 Was er damit meinte, war kaum misszuverstehen: „Krieg mit Frankreich und Oestreich, wenn wir den Rhein nicht abtreten! Das ist des Pudels Kern“, lautete Bismarcks Conclusio.53 Nachdem Adolphe Thiers in einer Aufsehen erregenden Rede im Corps législatif Preußen am 3. Mai vorgehalten hatte, das Reich Karls V. erneuern zu wollen,54 sah sich Napoleon III. zu der öffentlichen Erklärung genötigt, dass er wie die überwiegende Mehrheit des französischen Volkes die Verträge von 1815 verabscheue. Da der von ihm implizit verursachte Eindruck, Frankreich könnte sich an einem bevorstehenden Krieg beteiligen, zu einem Kurssturz an der Pariser Börse führte, machte Napoleon III. eine erneute Kehrtwende und sprach sich für die Regelung der anstehenden Fragen auf einem Kongress aus.55 Wie doppelbödig die französische Außenpolitik agierte, zeigte sich Ende Mai, als ein ungarischer Emissär des französischen Thronfolgers Prinz Napoléon in Berlin eintraf und das Angebot eines bilateralen Kriegsbündnisses unterbreitete. Bismarck ging auf die Offerte zwar ein, wollte den vereinbarten Vertragsentwurf 48 Goltz an Bismarck, 8. März 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 101–105; ders. an Wilhelm I., 17. März 1866, in: ebd., 111–115; Bismarck an Goltz, 24. März 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 414f. 49 Bismarck an Goltz, 30. März 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 428–430, hier 429. 50 „Mit gleicher Energie“: Zirkular von Drouyn de Lhuys, 30. März 1866, in: Origines, Bd. 8, 114–116, hier 115. 51 Konrad Ratz, Maximilian und Juárez. Das Zweite Mexikanische Kaiserreich und die Republik, 2 Bde., Graz 1998. 52 Goltz an Bismarck, 10. April 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 128–132, hier 130. 53 Bismarck an Wilhelm I., 5. Mai 1866, in: Horst Kohl (Hg.), Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen von Otto Fürst von Bismarck, Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1901, 144. 54 Rede Thiers‘, 3. Mai 1866, im Auszug in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 153–159. 55 Rede Napoleons III., 6. Mai 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 165; Goltz an Bismarck, 8. Mai 1866, in: ebd., 170–177.

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aber wegen der darin formulierten Gebietsabtretungen nicht seinem König vorlegen.56 Nachdem Preußen dann den Deutschen Bund am 11. Juni für aufgelöst erklärt hatte, umriss der Kaiser sein deutschlandpolitisches Programm in einem in der Presse veröffentlichten Brief an seinen Außenminister mit den Worten: „une union plus intime“ der Mittel- und Kleinstaaten; „plus d’homogénéité“ Preußens im Norden Deutschlands und für Österreich „le maintien de sa grande position en Allemagne“. Sollte das europäische Gleichgewicht gestört werden und Nachbarprovinzen einen Anschluss an Frankreich wünschen, könnten Kompensationen in Aussicht genommen werden.57 Bismarck sah sich nach der Lektüre des wenig kohärenten Programms in seiner Auffassung bestätigt, dass Preußen in Norddeutschland freie Hand habe, in Süddeutschland aber „keinen Einfluß über das bisherige Verhältnis hinaus in Anspruch nehmen“ dürfe.58 Seine Weigerung, die französischen Bedingungen ohne Wenn und Aber zu akzeptieren, und der Abschluss eines preußisch-italienischen Geheimbündnisses veranlassten Frankreich einen Tag später, auf die Seite Österreichs zu wechseln. Am 12. Juni schlossen beide Mächte in aller Eile ein geheimes Neutralitätsabkommen, in dem Habsburg auf Venezien verzichtete, einer territorialen Ausdehnung Sachsens, Bayerns und Württembergs im Falle einer preußischen Niederlage zustimmte und sogar die Umwandlung der preußischen Rheinprovinz in einen unabhängigen Staat akzeptierte.59 Offenbar hoffte Napoleon, nach einer Schwächung der beiden deutschen Großmächte den tertius gaudens spielen zu können.

6. AUF KONFRONTATIONSKURS Nach dem Sieg Preußens in der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 wusste Napoleon III., dass er auf das falsche Pferd gesetzt hatte. „C’est nous qui avons été battus à Sadowa“, wetterte Kriegsminister Randon.60 Unterstützt vom Außenminister und der Kaiserin, drängte der Marschall auf eine sofortige Mobilmachung; doch dazu mochte sich der Kaiser unter dem Einfluss seiner moderaten Minister Rouher und La Valette sowie des Prinzen Napoléon nicht durchringen.61

56 S. Kiss de Nemeskér an Bismarck, 21. Mai 1866, nebst Anlagen in: APP, Abt. 2, Bd. 7, 278– 284; Aufzeichnung vom 30.(?) Mai 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 5, 518; Kiss de Nemeskér an Bismarck, 1. Juni 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 245f. 57 „Eine engere Union“ der Mittel- und Kleinstaaten; „mehr Homogenität“ Preußens im Norden Deutschlands und für Österreich „die Aufrechterhaltung seiner großen Stellung in Deutschland“: Napoleon III. an Drouyn de Lhuys, 11. Juni 1866, in: Origines, Bd. 10, 120–122, hier 122. 58 Bismarck an Goltz, 21. Juni 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 14 f., hier 15. 59 S. den Text des französisch-österreichischen Geheimvertrages vom 12. Juni 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 264–267. 60 „Wir sind es, die in Sadowa geschlagen wurden“: Zitiert nach: Anceau, Napoléon III, 439. 61 Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 303, Anm. 1; Origines, Bd. 10, 329–331, Anm. 4; Bruley, La diplomatie, 240–242.

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Aus der Ex-post-Perspektive wirkt es so, als habe Frankreich damit einen schweren Fehler begangen, weil es nur auf Preußens guten Willen setzte. Statt zu den Waffen zu greifen, nahm Napoleon III. Fühlung zum russischen Zaren auf und leitete auf Bitten des österreichischen Kaisers eine Vermittlungsaktion zwischen den Kriegsgegnern ein.62 Sein Friedensprogramm löste in Berlin helle Aufregung aus. Denn anders als Frankreich ging es Preußen nicht mehr nur um eine Annexion der Elbherzogtümer, sondern um Sachsen, Hannover, Hessen und Nassau. Napoleon hingegen verlangte die territoriale Unversehrtheit des Wettiner Reiches sowie als Ausgleich für den preußischen Machtzuwachs das Großherzogtum Luxemburg und die Wiederherstellung der Grenzen von 1815.63 Zur „Beschwichtigung Frankreichs“ erwog Bismarck zunächst die Abtretung der Rheinpfalz oder Hessens, fragte dann aber in Paris nur nach „außerdeutschen Kompensationsforderungen“.64 Die Antwort fiel nicht eben beruhigend aus. Widerstreitenden Einflüssen nachgebend, schien der Kaiser „den Kompaß vollständig verloren zu haben“.65 In einem Schreiben an Wilhelm I. warnte Napoleon, dass die „opinion publique“ von einem „fantôme de l’unité allemande“ befallen sei und das europäische Gleichgewicht erheblich kompromittiert sehe.66 Während hohe Militärs und auch Drouyn de Lhuys auf eine Offensivallianz gegen Preußen hinarbeiteten, suchten Rouher und auch Prinz Napoléon zu mäßigen.67 Besorgt über die innerfranzösische Gemengelage, gab Bismarck eine „bindende Zusicherung unserer Enthaltsamkeit in betreff Süddeutschlands“68 und drängte nach der italienischen Niederlage in der Seeschlacht von Lissa am 20. Juli auf ein baldiges Ende des Krieges. Überdies akzeptierte er die Einleitung von Friedensverhandlungen auf der Basis des von Napoleon vorgeschlagenen Programms.69 Glaubt man einem Bericht des französischen Botschafters in Berlin, Benedetti, stellte der preußische Ministerpräsident sogar eine Revision des Zweiten Pariser Friedens von 1815 in Aussicht, bezeichnete den Erwerb Luxemburgs aber als sehr problematisch.70 Hermann Oncken hält es für „ausgeschlossen, daß Bismarck die absurde Idee einer Abtretung der Pfalz […] in die Debatte geworfen haben könnte“.71 Absurd erscheint hingegen der Glaube, dass sich der Realpolitiker par excellence bestimmter Optionen beraubt hätte. Richtig ist freilich, dass es 62 S. Napoleon III. an Wilhelm I., 4. Juli 1866, in: Origines, Bd. 10, 314f.; Talleyrand an Drouyn de Lhuys, 7. Juli 1866, in: ebd., S.348f. 63 S. Goltz an Bismarck, 14. Juli 1866, in: APP, Bd. 7, 471f.; Bismarck an Usedom, 20. Juli 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 69f.; Benedetti an Drouyn de Lhuys, 19. Juli 1866, in: Origines, Bd. 11, 112–115; Drouyn de Lhuys an Benedetti, 23. Juli 1866, in: ebd., 164f., hier 164. 64 Bismarck an Goltz, 9. Juli 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 43–45, hier 45 mit Anm. 6. 65 Goltz an Bismarck, 11. Juli 1866, im Auszug in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 338–343, hier 343. 66 „Öffentliche Meinung“ von einem „Phantom der deutschen Einheit“ befallen: Napoleon III. an Wilhelm I., 15. Juli 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 357f., hier 357. 67 S. Goltz an Bismarck, 14. Juli 1866, im Auszug in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 1, 351–356. 68 Bismarck an Goltz, 17. Juli 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 61f., hier 62. 69 S. Bismarck an Goltz, 24. Juli 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 74–77. 70 S. Benedetti an Drouyn de Lhuys, 26. Juli 1866, in: Origines, Bd. 11, 219–225. 71 Oncken, Rheinpolitik, Bd. 2, 6, Anm. 2.

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Bismarck in einem großen diplomatischen Spiel gelang, einen Frieden mit Österreich abzuschließen, ohne Frankreich die erwünschten Gegenleistungen zuzugestehen. Auf der Habenseite verbuchen konnte Napoleon III. trotz massiver Interventionen Benedettis im preußischen Hauptquartier in Nikolsburg neben der Übergabe Venetiens an Italien ‚nur‘ die Integrität des Königreichs Sachsen und eine Vertragsbestimmung, die der Bevölkerung der nördlichen Distrikte von Schleswig das Recht gab, über ihre Zukunft dereinst in einem Referendum zu entscheiden. Auf französischen Druck hin wurde in den Prager Friedensvertrag außerdem eine Klausel aufgenommen, derzufolge dem Süden Deutschlands eine unabhängige internationale Existenz gewährt werden musste. Dass der Kaiser nicht mehr Nutzen aus der für Preußen heiklen Lage gezogen hatte, war – so formulierte es mit guten Gründen der amerikanische Historiker Lawrence Steefel – „the fault of his character, not of his policy“.72 7. „DUALISMUS VON INTELLIGENZ UND FORTSCHRITT“ Für das Second Empire bildete der 3. Juli 1866 eine „date clé“ 73 und für das Verhältnis Frankreichs zu Preußen eine „Wasserscheide“.74 Nach der Niederdrückung des Aufstandes in Polen, dem Ende des Deutsch-Dänischen Krieges und dem Scheitern des von Frankreich installierten Kaiserreichs in Mexiko musste Napoleon III. nun ein viertes außenpolitisches Desaster hinnehmen: die Herausdrängung Österreichs aus Deutschland und die Gründung des Norddeutschen Bundes. Der Ausgang des preußisch-österreichischen Krieges hatte die deutsche Landkarte revolutioniert und drohte auch die europäischen Machtverhältnisse umzustülpen. Dies zumal Bismarck noch im Sommer 1866 geheime Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten vorbereitete. Napoleon III. präsentierte ihm daraufhin ein neuerliches Bündnisprojekt, das als Gegenleistung für eine Union zwischen Nord- und Süddeutschland die Einverleibung von Luxemburg und Belgien vorsah.75 Bismarck zeigte sich darob so entrüstet, dass der Kaiser Außenminister Drouyn de Lhuys als Sündenbock fallen ließ, ohne aber seine Politik zu ändern. Zunehmend ungeduldiger drängte Napoleon auf eine Realisierung seiner Kompensationsforderungen insbesondere in Bezug auf Luxemburg. Doch König Wilhelm I. verweigerte seine Zustimmung und nötigte Bismarck Mitte September, die

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Steefel, The Schleswig-Holstein Question, 255. „Schlüsseldatum“: Anceau, Napoléon III, 438; s.a. ausführlich Ulrich Lappenküper, „Date clé du règne de Napoléon III.“. Frankreich und der preußisch-österreichische Krieg 1866, in: ders./Winfried Heinemann/Lothar Höbelt (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn u.a. 2017, (i.E.). 74 L. A. Puntila, Bismarcks Frankreichpolitik, Frankfurt am Main/Zürich 1971, 92. 75 Text des Bündnisvertrags in: APP, Abt. 3, Bd. 8, 49–51; s. a. Benedetti an Rouher, 29. August 1866, in: Origines, Bd. 12, 213–216; ders. an dens., 30. August 1866, in: ebd., 223–228.

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Verhandlungen zu unterbrechen.76 Der Ton zwischen Berlin und Paris wurde zunehmend rauher. Offiziöse französische Zeitungen riefen zum „katholischöstreichischen Kreuzzug gegen Preußen“77 auf. Um einen Waffengang zu vermeiden, boten sich aus französischer Perspektive im Grunde zwei Alternativen an: die Bindung Preußens als Juniorpartner in einem französisch geführten Europa oder die Eindämmung Preußens und jeder weiteren Expansion. Folgt man den Memoiren des Legationssekretärs an der Pariser Botschaft, Josef Maria von Radowitz, hegte Bismarck seit 1866 Frankreich gegenüber „über das Endziel – nämlich den Krieg“ keinen Zweifel mehr, auch wenn er weiterhin „zu temporieren suchte“.78 Eine solche Sicht der Dinge scheint dem Politikverständnis des Ministerpräsidenten, das den Krieg als ‚normalen‘ Aggregatzustand der internationalen Beziehungen in sein Kalkül einbezog, den Frieden dem Krieg aber vorzog, kaum zu entsprechen. Bismarck hielt nicht nur an seinem Kurs einer „entente avec la France“79 fest, er vertrat nun sogar die Auffassung, die beiden Nachbarn sollten in Zukunft „den Dualismus von Intelligenz und Fortschritt bilden“.80 Napoleon III. aber ließ sich mit freundlichen Worten nicht mehr abspeisen und unterbreitete über Benedetti kurz nach der Unterzeichnung des Prager Friedens am 29. August erneut ein Bündnisangebot.81 Als Entschädigung für die Hinnahme einer Union zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten sah es die Abtretung von Luxemburg und Belgien an Frankreich vor, wobei Preußen sich im Rahmen einer Offensiv- und Defensivallianz dazu verpflichten sollte, Frankreich zum gegebenen Zeitpunkt bei der Annexion militärisch zu unterstützen. Törichterweise überließ der Botschafter dem Ministerpräsidenten eine Abschrift des Dokuments, das der unbeantwortet in die Tasche steckte.82 Dass sowohl Napoleon als auch Bismarck die Partnerschaftsalternative noch nicht ad acta gelegt hatten, verdeutlichten die 1867 aufgenommenen Beratungen über einen Beitritt Preußens zur Lateinischen Münzunion und die nun fortgesetzten Konsultationen über die Luxemburgfrage. Schon Ende 1865 hatte Bismarck Drouyn de Lhuys gegenüber verhaltenes Interesse an einem Beitritt zu der damals gegründeten Münzunion angemeldet, die bis 1914 einen „Eckpfeiler der internationalen Währungspolitik“ und „bimetallistischen Gegenpol zum monometallisti76 S. Goltz an Bismarck, 11. September 1866, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 2, 101–109; ders. an dens., 12. September 1866, in: ebd., 109f.; Bismarck an Goltz, 14. September 1866, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 165f. 77 Bismarck an Thile, 27. November 1866, in: ebd., Bd. 14/II, 721f., hier 721. 78 Hajo Holborn (Hg.), Aufzeichnungen und Erinnerungen aus dem Leben des Botschafters Joseph Maria von Radowitz, Bd.1: 1839–1877, Neudruck, Osnabrück 1967, 75. 79 „Entente mit Frankreich“: Burgaud, La politique russe, 299. 80 Gespräch Bismarcks mit dem französischen Journalisten Vilbort, 7.8.1866, in: Bismarck, GW, Bd. 7, 149f., hier 149. 81 S. Napoleon III. an Rouher, 26.8.1866, in: Origines, Bd. 12, 192; Rouher an Benedetti, 26.8.1866, in: ebd., 193–196. 82 Text des Bündnisvertrag in: APP, Abt. 3, Bd. 8, 49–51; s.a. Benedetti an Rouher, 29.8.1866, in: Origines, Bd. 12, 213–216; ders. an dens., 30.8.1866, in: ebd., 223–228.

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schen Goldstandard“ bildete.83 Dem Kaiserreich sollte sie nicht weniger als „eine Suprematie in Europa auf währungspolitischem Gebiet“ sichern.84 Als Drouyns Nachfolger Moustier ihm ein Jahr später die Mitgliedschaft offiziell anbot, äußerte sich Preußens Ministerpräsident abermals positiv, weil „die Verschiedenheit der Münzsysteme“ den wachsenden Handelsaustausch in Europa behinderten.85 Doch mit dieser hochmodernen Auffassung sollte er sich im Berliner Staatsministerium nicht durchsetzen. Preußen trat der Münzunion nicht bei und ging nun auch – von Bismarck forciert – in der Luxemburgfrage auf Kollisionskurs.86

8. DIE LUXEMBURGKRISE 1867 Im Prager Frieden war die seit 1815 währende staatsrechtliche Zugehörigkeit des Großherzogtums zum Deutschen Bund aufgehoben worden. Luxemburg blieb aber im Besitz Wilhelms III. der Niederlande und Mitglied im Deutschen Zollverein. Wenngleich Bismarck einer französischen Einverleibung durchaus nicht abgeneigt war, gab es für ihn eine doppelte Conditio sine qua non: Der König der Niederlande musste zustimmen, und das „französische Bündniß“ durfte nicht „durch eine demüthigende Verletzung des deutschen Nationalgefühls“ erkauft werden.87 Im Bewusstsein, dass Liberale wie Demokraten, Konservative wie Klerikale Luxemburg als deutsch ansahen, war er zur Preisgabe letztlich nur dann bereit, wenn Napoleon dies nicht als Kompensation für den Prager Frieden, sondern für die Einigung Deutschlands akzeptieren würde.88 Nachdem Thiers die französische Regierung im Corps législatif scharf angegriffen und sie dazu aufgefordert hatte, den Ehrgeiz Preußens zu mäßigen,89 ermunterte Bismarck Napoleon zu direkten Verhandlungen mit dem holländischen König und informierte ihn ferner über den Inhalt der Schutz- und Trutzbündnisse. Indem Wilhelm der Niederlande am 26. März gegenüber Napoleon III. versicherte, er werde nichts ohne Einverständnis Preußens unternehmen,90 und dann eine offizielle Anfrage an Berlin stellte, schuf er eine Situation, die Bismarck stets hatte vermeiden wollen. Die erbetene Rückendeckung glaubte er aus innenpoliti-

83 Guido Thiemeyer, Internationalismus und Diplomatie. Währungspolitische Kooperation im europäischen Staatensystem 1865–1900, München 2009, 21. 84 Thiemeyer, Internationalismus, 37. 85 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, HA III, Abt. 2, Nr. 1877, Bl. 25, Bismarck an von der Heydt, 24. Januar 1867. 86 Dazu aus französischer Sicht die umfangreiche Aufzeichnung des Leiters der politischen Abteilung im Quai d‘Orsay, Desprez, vom 15. Juni 1867, in: Origines, Bd. 17, 229–248. 87 Bismarck an Goltz, 13. Januar 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 227–230, hier 228. 88 S. Anlage eines Schreibens von Bismarck an Friedrich Wilhelm, 3. Februar 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 254–256, hier 256; Bismarck an Goltz, 15. Februar 1867, in: ebd., 264– 269. 89 S. Goltz an Bismarck, 15. Februar 1867, in: APP, Abt. 3, Bd. 8, 395–398. 90 S. Wilhelm III. an Napoleon III., 26. März 1867, in: Origines, Bd. 15, 165f.

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schen Gründen nicht geben zu können91 und musste zugleich auf Zeit spielen, um die Beratungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes abzuschließen. Jahre später gab Bismarck intern zu, dass der Großherzog von Luxemburg nach der Auflösung des Deutschen Bundes souverän geworden sei und mit dem Lande haben machen können, „was er wollte“, auch für Geld an Frankreich abtreten.92 Jetzt aber wandte er sich aufgrund der aufwallenden Agitation in Frankreich und der stürmischen Proteste der deutschen Nationalbewegung am 30. März vertraulich an die britische Regierung, um ihr nahezulegen, den Verkauf von Luxemburg zu verhindern.93 In einer von ihm selbst inszenierten Sitzung des Reichstags des Norddeutschen Bundes versicherte Bismarck überdies auf eine vom nationalliberalen Abgeordneten Rudolf von Bennigsen eingebrachte „heftige kriegerische Interpellation“94 am 1. April, dass er dem Standpunkt der öffentlichen Meinung Rechnung tragen werde. Zugleich betonte er, „die Empfindlichkeit der französischen Nation“ schonen zu wollen, „so wie es mit der eigenen Ehre verträglich ist“.95 Auch deshalb regte Bismarck jetzt die Schleifung der Festung Luxemburgs an.96 Die Aufgabe des Verkaufsprojekts durch Wilhelm III. am 3. April löste in Paris einen Aufschrei der Entrüstung aus, weniger gegen die Niederlande denn gegen Preußen gerichtet. Wieso verwehrte Berlin bloß diese „si petite acquisition“, fragten sich die Auguren.97 Bei den Anhängern des bonapartistischen Regimes, fanatischen Katholiken oder Militärs bereitete sich gar der Gedanke an einen Krieg eine Bahn. Selbst ehemalige Sympathisanten des deutschen Geistes hoben zu Warnrufen vor dem aufstrebenden Feind an. Nur die Linke blieb „deutschfreundlich“.98 Nachzugeben kam für Bismarck wegen des im Spiel befindlichen Ehrgefühls selbst um den Preis eines Krieges nicht in Frage.99 Solange der Krieg aber mit Ehren vermieden werden konnte, musste der Staatsmann diesem Gebot folgen.100 Auch für Napoleon ging es um Ehre, aber auch um Prestige. „Nous sommes“, so führte der alte Marschall und Minister des kaiserlichen Hauses, Vaillant, Bismarck dieser Tage vor Augen, „comme le coq, qui ne veut pas qu’un autre coq crie plus

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S. Bismarck an Perponcher, 27. März 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 313–315. Tischgespräch vom 25. Januar 1871, in: Bismarck, GW, Bd. 7, 482–484, 484. S. Bismarck an Bernstorff, 30. März 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 324f. Bismarck an Goltz, 1. April 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 328f., 329. Rede Bismarcks, 1. April 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 10, 364–367, 365; s.a. Benedetti an Moustier, 1. April 1867, in: Origines, Bd. 15, 235–239; ders. an dens., 2. April 1867, in: ebd., 247f. S. Bismarck an Goltz, 14. Januar 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 235; ders. an dens., 19. Januar 1867, in: ebd., 239. „So kleine Erwerbung“: Moustier an Benedetti, 1. April 1867, in: Origines, Bd. 15, 222; s.a. ders. an dens., 1. April 1867, in: ebd., 221f. Poidevin, Frankreich und die deutsche Einigung, 103. S. Bismarck an Werthern, 3.4.1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6, 333. S. Gespräch Bismarcks mit Keudell vom 24.4.1867, in: Bismarck, GW, Bd. 7, 194f.

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fort que lui“.101 Wiewohl der Kaiser sich von preußischen Ministerpräsidenten hintergangen fühlte, neigte auch er nicht zum Waffengang. Denn zum einen befand sich seine Armee nicht in einem Zustand, der Krieg erlaubte. Zum anderen war er wieder einmal gesundheitlich angeschlagen und überdies um seinen erstgeborenen Sohn besorgt, der ernsthaft erkrankt war. Dass der Janustempel tatsächlich verschlossen blieb, war jedoch vor allem der Haltung Russlands und Englands zu verdanken. In der keineswegs uneigennützigen Absicht, Frankreich zur Unterstützung seiner Interessen in Südosteuropa zu verpflichten, regte das Zarenreich Ende April die Abhaltung einer Konferenz an. Die Ehre der Durchführung blieb England vorbehalten. Am 11. Mai einigten sich die Delegationen in London auf die Garantie der Unabhängigkeit und Neutralität Luxemburgs sowie auf den Abzug der preußischen Truppen. Sechs Wochen später trat der Norddeutsche Bund in Kraft. 9. DAS „FIBRE NATIONALE“ STEIGT Kaum war die Luxemburgkrise beigelegt, gerieten Preußen und Frankreich auf der Apenninhalbinsel in einen neuen Zwist. Nach dem Ausbruch revolutionärer Umtriebe im Kirchenstaat hatte das Empire dem Hohenzollernreich Ende 1866 um Unterstützung zur Sicherung der Besitzungen des Papstes gebeten. Bismarck sagte ab, weil er sich nicht in der Lage sah, „à garantir le pouvoir temporel du Pape“.102 Ebenso reserviert verhielt er sich ein Jahr darauf, als Napoleon Truppen zum Schutz des Pontifex an den Tiber schickte und daraufhin die italienische Regierung in Berlin um Hilfe bat. Während die deutsche Presse die Entwicklung mit „un esprit hostile à la France“ verfolgte103 und im deutschen Liberalismus mit dem Gedanken geliebäugelt wurde, einen französisch-italienischen Krieg für die nationale Einigung Deutschlands auszunutzen, riet Bismarck aus Sorge um eine anti-preußische katholische Liga zu größter Vorsicht.104 Ende 1867 wartete Napoleon mit dem Plan auf, zur Lösung der römischen Frage eine internationale Konferenz einzuberufen. Obwohl das Projekt am Widerstand der Mächte scheiterte, wies der Kaiser den Schwarzen Peter Preußen zu. Bismarck wies die Anschuldigung pflichtschuldigst zurück105 und wusch seine 101 „Wir Franzosen sind wie ein Hahn, der die Hühnerstange beherrscht, und wir können nicht ertragen, daß irgendein anderer als wir selbst in Europa laut schreit“: Zitiert nach der Unterredung zwischen Bismarck und Hohenlohe vom 23. Oktober 1881, in: Friedrich Curtius (Hg.), Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Bd. 2, Stuttgart/Berlin 1907, 318–320, hier 319. 102 „Die irdische Macht des Papstes garantieren“: Benedetti an Moustier, 19. Dezember 1866, in: Origines, Bd. 13, 305; s.a. ders. an dens., 20. Dezember 2866, in: ebd., 318–322. 103 „Einen feindlichen Geist gegenüber Frankreich“: Lefebvre de Béhaine an Moustier, 19. Oktober 1867, in: Origines, Bd. 19, 28–20, hier 20. 104 Bismarck an Usedom, 21. Oktober 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6a, 84–88. 105 Bismarck an Goltz, 15. Dezember 1867, in: Bismarck, GW, Bd. 6a, 178–181; ders. an dens., Vertraulich, 19. Dezember 1867, in: ebd., 183f.

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Hände auch deutschlandpolitisch in Unschuld: Die königliche Regierung werde in Deutschland nicht in einer Weise vorgehen, „welche Frankreich irgendeinen Anlaß zur Beschwerde geben könne“.106 Doch schon die Erneuerung des Zollvereins zum 1. Januar 1868 reichte in Paris aus, Bismarcks Worten zu misstrauen.107 Napoleon förderte nun insgeheim die partikularistischen Kräfte im Süden wie auch die oppositionellen Bewegungen im Norden Deutschlands und vermittelte den Eindruck, dass er sich dazu gezwungen sehen könnte, durch außenpolitische Erfolge innenpolitische Legitimität zu gewinnen. Dies umso mehr, als auch sein jüngstes Prestigeobjekt, das sog. „Projet Niel“ – ein Armeegesetz, durch das eine mobile Nationalgarde geschaffen wurde, in der all jene Franzosen dienen sollten, die keinen regulären Wehrdienst geleistet hatten –, weit hinter seinen Vorstellungen zurückgeblieben war und ihm aufs Schmerzlichste „le déclin de son autorité“ vor Augen führte.108 Von Bismarck mit wachsender Sorge beobachtet, wogten an der Seine die Parteileidenschaften hin und her. Eine breite Opposition aus Orléanisten, Legitimisten und Republikanern warf dem Regime außenpolitisches Versagen vor, wohingegen die Befürworter des Systems nach einem Ende des Niedergangs verlangten, den viele mit dem Aufstieg Preußens in Verbindung brachten. Im Spagat zwischen der Notwendigkeit, die Sicherheit Preußens zu stärken, ohne Frankreich zu provozieren, verständigte sich Berlin im März 1868 mit Petersburg auf ein mündliches „accord des souverains“,109 das den Nachbarn für den Fall eines Angriffs den Rücken deckte. Frankreich reagierte darauf mit einem Bündnisangebot an Österreich in den deutschen und orientalischen Angelegenheiten. Von Benedetti wohlwollend registriert, hielt die preußische Regierung angesichts des steigenden „fibre nationale“ in Frankreich eisern daran fest, die nationale Sache nicht zu überstürzen.110 Dass ein von den süddeutschen Staaten mit massiver Unterstützung Frankreichs betriebenes Projekt eines „Südbundes“ jetzt scheiterte, konnte Preußens Ministerpräsident hingegen nicht gefallen, weil er damit ein mögliches Übergangsstadium zur Vereinigung Deutschlands unter der Verfassung des Norddeutschen Bundes verlor.111 Von einem in preußischen Militärkreisen angedachten Präventivschlag wollte Bismarck weiterhin nichts wissen. Freilich durfte Preußen auch nicht den Eindruck erwecken, als habe es mehr Grund zum Frieden, als Frankreich.112 Denn das würde unweigerlich als Zeichen von Schwäche gedeutet. Und gemäß diesem Glaubensbekenntnis verhielt sich Bismarck auch, als die nächste europäische Krise ausbrach – in Belgien.

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Bismarck an Reuß, 6. Januar 1868, in: Bismarck, GW, Bd. 6a, 196f., hier 197. Moustier an Benedetti, 26. Januar 1868, in: Origines, Bd. 20, 262–265. „Der Niedergang seiner Autorität“: Anceau, Napoléon III, 457. „Übereinkommen der Souveräne“: Burgaud, La politique russe, 338. Benedetti an Moustier, 26.4.1868, in: Origines, Bd. 21, 222–224, 222. Otto Becker, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung. Hrsg. und ergänzt von Alexander Scharff, Heidelberg 1958, 625–645. 112 S. Bismarck an Solms-Sonnenwalde, 19.2.1869, in: Bismarck, GW, Bd. 6a, 558–560.

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10. DER BELGISCHE EISENBAHNKONFLIKT Schon im Umfeld des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 war Belgien – wie erwähnt – in den Fokus der Begierde Napoleons III. geraten. Das Ziel seiner Machtausdehnung, so hat der Historiker Herbert James Moss einmal klug formuliert, sei nicht Belgien selbst gewesen, „it was Prussia through Belgium“.113 Bismarck hatte Benedetti damals zu verstehen gegeben, dass er durchaus bereit sein könnte, das Königreich Leopolds II. auf dem Altar der preußisch-französischen Beziehungen zu opfern. Solchermaßen ermutigt, unterbreitete Napoleon III. der Brüsseler Regierung Anfang 1868 den Vorschlag, eine Zollunion mit Frankreich einzugehen. Ministerpräsident Frère-Orban lehnten diese vor der Hand rein ökonomisch angelegten Vorstoß ab, weil seine Regierung ihn als Mittel zur politischen Einflussnahme interpretierte. Nach dem Scheitern der Offerte sann der Kaiser darauf, das Streckennetz zweier finanziell angeschlagener Eisenbahngesellschaften durch die „Compagnie française des Chemins de fer de l'Est“ zu kaufen.114 Im Dezember schlossen die Gesellschaften einen vorläufigen Vertrag ab, doch dann verbot die lange untätige belgische Regierung das Geschäft per Gesetz. Aus der Sicht Frankreichs wagte der kleine Nachbar den völlig unerwarteten Schritt nur, weil er von einem größeren dazu angestachelt worden war – Preußen. Ministerpräsident Frère-Orban habe sich als „instrument du Cabinet de Berlin“ zu einer gänzlich „anormal“ wirkenden Entscheidung hinreißen lassen, wetterte Außenminister La Valette.115 Welch‘ große Bedeutung sein Kaiser der Angelegenheit beimaß, verdeutlicht ein Schreiben an Kriegsminister Niel vom 19. Februar. La France se sent diminuée depuis les succès de la Prusse; elle voudrait trouver l'occasion de rétablir son influence dans les meilleures conditions possibles et sans soulever toutes les passions de l'Allemagne en arborant un drapeau hostile à la nationalité.

Napoleon III. zeigte sich gar bereit, notfalls in Belgien um den Preis eines Krieges gegen Preußen einzurücken.116 Doch indem er vehement auf die Genehmigung des Deals drängte, brachte er nicht nur Brüssel, sondern auch London gegen sich auf. Da England unmissverständlich davor warnte, Belgiens Neutralität in Frage

113 Herbert James Moss, Napoleon III. and Belgium 1866–1870. A Study in Belgian Neutrality, Diss. Harvard 1937, 288. 114 Ausführlich Klaus Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1856/66– 1869/70. Eine Untersuchung zur englischen Weltpolitik im 19. Jahrhundert, München 1997, 273–353; Kurt Rheindorf, Der belgisch-französische Eisenbahnkonflikt und die großen Mächte 1868/69. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Krieges von 1870/71, in: Deutsche Rundschau 195 (1923), 113–136. 115 „Instrument des Berliner Kabinetts“: La Valette an Benedetti, 1.3.1869, in: Origines, Bd. 23, 339f. 116 „Frankreich fühlt sich seit den Erfolgen Preußens verkleinert; es möchte die Gelegenheit finden, seinen Einfluss in der bestmöglichen Weise wiederherzustellen ohne alle Leidenschaften in Deutschland anzustacheln und eine feindliche Flagge der Nationalität aufzurichten“: Napoleon III. an Niel, 19.2.1869, in: Origines, Bd. 23, 280f., hier 281.

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zu stellen, akzeptierte Frankreich die Einberufung einer gemischten Kommission zur Regelung des Konflikts.117 Wer geglaubt hatte, die Angelegenheit käme damit in ruhigere Bahnen, sah sich bald getäuscht. Infolge der französischen Unnachgiebigkeit kündigte FrèreOrban Mitte April die Anrufung der Garantiemächte Belgiens an. Frankreichs Regierungschef Rouher drohte daraufhin mit Krieg – nicht gegen Brüssel, sondern gegen Berlin. Da London nun seine Kanalflotte unter Dampf setzen ließ, konnte Bismarck sich fest entschlossen zeigen, „à repousser toute motion qui tendrait à remettre en question la situation actuelle des choses en Allemagne“.118 Zugleich aber beteuerte er zur Beruhigung der aufbrausenden Wogen: Die Bildung einer „union germanique“ sei eine Aufgabe „‘qui revient à la future génération‘“.119 Wenige Wochen später verständigte sich die belgisch-französische Kommission auf die Ersetzung der Kaufverträge durch ein Betriebsabkommen, das der französischen Ostbahn gewisse Transportrechte einräumte.

11. DER WEG IN DEN KRIEG Für Napoleon kam der Ausgang des belgischen Eisenbahnkonflikts einer wenn nicht erstrangigen, so doch schmerzhaften politischen Schlappe gleich. Kurz darauf scheiterten überdies seine Bemühungen um eine Tripelallianz mit Osterreich und Italien. Auch innenpolitisch geriet das Second Empire in schweres Gewässer. Getrieben von der inneren Gärung – im Mai/Juni 1869 gewann die Opposition bei den Parlamentswahlen 40 Prozent der abgegebenen Stimmen –, wandelte er sein Kaisertum in ein halb-parlamentarisches Gemeinwesen um. Anfang 1870 übernahm ein liberales Reformkabinett unter Emile Ollivier und Napoléon Comte Daru die Regierungsgeschäfte. Mit der Verfassung vom 21. Mai trat an die Stelle der bonapartistischen Diktatur ein beinahe parlamentarisches Regime. Wenngleich das Kabinett seinen Friedenswillen betonte, ließ es keinen Zweifel daran, dass der Status quo in der deutschen Frage keinesfalls verändert werden dürfe. Bismarck hingegen bestand darauf, dass die weitere Entwicklung ganz allein vom „Willen der deutschen Nation“ abhänge120 und Frankreich keinerlei Recht habe, „sich um die deutschen Verhältnisse irgendwie zu kümmern“.121 In einem gewissen Missverhältnis zu dieser Versicherung stand ein von ihm nun initiiertes Kaiserprojekt. Anfang 1870 hatte er dem preußischen Kronprinzen gegenüber den Gedanken einer Ernennung seines Vaters Wilhelm I. zum Kaiser ventiliert. Auf verschlungenem Weg gelangte die Idee zur französischen Regie117 S. die Note der belgischen Regierung, o.D., in: Origines, Bd. 23, 305f.; La Valette an Siméon, 12.3.1869, in: ebd., Bd. 24, 10–15. 118 „Jede Bewegung zurückzustoßen, die die aktuelle Lage in Deutschland in Frage zu stellen scheint“: Benedetti an La Valette, 15.4.1869, in: Origines, Bd. 24, 162–164, hier 163. 119 „Deutsche Union“ sei eine Aufgabe, „die der zukünftigen Generation überlassen“ bleibe“: Benedetti an La Valette, 21.3.1869, in: Origines, Bd. 24, 78f. 120 Bismarck an Werther, 11. Januar 1870, in: Bismarck, GW, Bd. 6b, 201–203, hier 203. 121 Bismarck an Bernstorff, 20. April 1869, in: Bismarck, GW, Bd. 6b, 53f., 54.

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rung, die sofort klarstellte, einer Rangerhöhung des preußischen Königs nicht zustimmen zu wollen. Zugleich forcierte Außenminister Daru den im Vorjahr lancierten Vorschlag einer allgemeinen Abrüstung, der Bismarck hingegen aber erst nach der Lösung der deutschen Frage glaubte zustimmen zu können.122 Seit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 hatte sich der Kanzler mehr und mehr von einem preußischen zu einem deutschen Staatsmann gehäutet. Doch das Geschäft der nationalen Politik wurde für ihn im Innern und nach außen zunehmend schwieriger. Nachdem die bayerische Abgeordnetenkammer Ende Januar 1870 ein Misstrauensvotum gegen die preußenfreundliche Regierung Hohenlohe erlassen hatte, erging sich die französische Presse in „imaginären Kombinationen“, die bis zum Casus belli im Fall einer preußischen Intervention in Bayern reichten.123 Jedem Versuch, die internationale Existenz der süddeutschen Staaten zu verändern, müsse Frankreich mit einem „contre-coup“ begegnen,124 warnte Daru. Bismarck lehnte daraufhin einen von den Nationalliberalen eingebrachten Antrag im Reichstag des Norddeutschen Bundes auf baldigen Anschluss Badens an den Norddeutschen Bund ab, gab aber zugleich zu, dass er weiterhin den Kaiserplan verfolge.125 Von einem von Hans Fenske behaupteten „Verzicht auf die Einführung des Kaisertitels“126 konnte zu diesem Zeitpunkt bei Bismarck nicht die Rede sein. Während in Bayern und Württemberg der Partikularismus mehr und mehr Auftrieb gewann, in Baden und Preußen dagegen der Ruf nach nationaler Einheit zunehmend kräftiger erschallte, kam in Frankreich Anfang Mai mit dem Herzog Gramont ein Außenminister an die Schalthebel der Macht, der einen dezidiert antipreußischen Kurs zu steuern gedachte. Vor diesem Hintergrund wirkte die spanische Thronkandidatur des Hohenzollern-Prinzen Leopold wie eine Lunte, die das Pulverfass des sich seit vier Jahren zuspitzenden preußisch-französischen Duells um Macht und Ehre zur Explosion brachte.

12. DIE JULIKRISE 1870 Es ist hier nicht Zeit noch Ort, die Julikrise des Jahres 1870 en détail auszuleuchten. Wichtig ist aber die folgende Bemerkung. Es war das chauvinistisch erregte Frankreich, dass mit seiner maßlosen Forderung, der Thronübernahme in Madrid 122 S. Solms an Bismarck, 17. Juni 1869, Sehr vertraulich, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 3, 206– 208; Hildebrand, No intervention, 369. 123 Quadt an Ludwig II., 4. Februar 1870, in: Oncken, Rheinpolitik, Bd. 3, 306–308, hier 307. 124 „Gegenschlag“: Daru an Saint-Vaillier, 20. Februar 1870, in: Origines, Bd. 26, 334f., hier 334. 125 S. Rede Eugen Laskers im Reichstag des Norddeutschen Bundes, 24.2.1870, in: Stenographische Berichte der Reichstagsprotokolle, I. Legislaturperiode, Session 1870, Bd. 1, 58–62; Rede Bismarcks im Reichstag des Norddeutschen Bundes, 24.2.1870, in: Bismarck, GW, Bd. 11, 98–108. 126 Hans Fenske, Bismarck und die deutsche Frage 1848 bis 1870, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Neue Folge 26 (2016), 55–89, hier 82.

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durch einen Hohenzollern-Prinzen auf ewig zu entsagen, dem Krieg entgegen stolperte. Ob Scharfmacher in der Führung, das Parlament oder die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung den Ausschlag gaben, wird in der Geschichtswissenschaft noch immer kontrovers diskutiert.127 Ebenso umstritten ist die Frage nach der Kriegsschuld Bismarcks. Meinen die einen den Bundeskanzler von jeder Verantwortung freisprechen zu können, werfen andere ihm vor, Frankreich in eine Falle gelockt zu haben. Josef Becker sieht „die Weichen definitiv in Richtung bewaffneten Konflikt mit Frankreich“ bereits im „informellen ‚Kriegsrat‘“ am 12. Juli gestellt.128 Für Birgit Aschmann macht schon die „Kontingenz der Thronkandidatur“ seine Behauptung vom langfristig angelegten Plan eines Einigungskrieges „hinfällig“.129 Hans Fenske empfiehlt Becker sogar ein „Nachdenken darüber […], ob seine These von einem provozierten preußisch-deutschen Reichsgründungskrieg haltbar“ sei. „Bei nüchterner Betrachtung“ müsse Becker zu der Einsicht gelangen, dass der Provokateur in Paris saß, der die von ihm beanspruchte Hegemonialstellung Frankreichs „nicht nur verteidigen, sondern noch ausbauen“ wollte.130 Eine sehr bedenkenswerte Auffassung vertritt der französische Historiker Eric Anceau, indem er auf der einen Seite Ollivier recht gibt, der Bismarck als „le véritable auteur de la guerre“ bezeichnet hatte,131 ihm aber gleichzeitig entgegen hält, dass die französischen Verantwortlichen dem preußischen Ministerpräsidenten mit einer anderen Politik einen anderen Kurs hätten aufzwingen können „et s’il n’y avait pas eu une grave défaillance du processus décisionnel dans un régime en pleine mue depuis quelques mois“.132 Wenngleich m.E. nicht davon geredet werden kann, Bismarck habe den Krieg von langer Hand vorbereitet, besteht doch kein Zweifel, dass er die von Frankreich aus Prestigegründen zugespitzte Frage der spanischen Thronkandidatur mit Hilfe der Emser Depesche bewusst eskalieren ließ, um sie als Kitt für die Einigung Deutschlands zu nutzen. Demgegenüber glaubte man in Frankreich, Kompensationen für den unaufhaltsam wirkenden Aufstieg Preußens einfordern zu müssen, um den Schein französischer Vormachtstellung in Europa zu wahren.

127 Lynn M. Case, French Opinion during the Second Empire, Philadelphia 1954; E. Malcolm Carroll, French Public Opinion and Foreign Affairs, 1870–1914, New York/London 1931, Hamden ²1964. 128 Einleitung zu Josef Becker (Hg.), Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußischdeutsche Reichsgründungskrieg. Quellen zur Vor- und Nachgeschichte der HohenzollernKandidatur für den Thron in Madrid 1866–1932, 3 Bde., Paderborn u.a. 2003/2007, Bd.3, XI. 129 Birgit Aschmann, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußischen-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München 2013, 483. 130 Fenske, Bismarck und die deutsche Frage, 89. 131 „Der wahre Autor des Krieges“: Emile Ollivier, L'Empire libéral: études, récits, souvenirs, 17 Bde., Paris 1895–1915, Bd. 14, Paris 1909, 542. 132 „Und wenn es nicht eine gravierende Schwäche des Entscheidungsprozesses in einem Regime gegeben hätte, das seit Monaten in voller Mauser war“: Eric Anceau, Aux origines de la guerre de 1870, in: Mathilde Benoistel/Sylvie Le Ray-Burimi/Christophe Pommier (Hg.), France Allemagne(s) 1870–1871. La guerre, la commune, les mémoires. Exposition organisée par la musée de l’Armée du 13 avril au 30 juillet 2017, Paris 2017, 49–55, hier 55.

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13. FAZIT Im anarchischen Spiel der Großmächte maß Frankreich dem Verhältnis zu Preußen in den 1860er-Jahren eine zunehmend größere Bedeutung zu. Im Widerstreit zwischen jenen Kräften, die eine Allianz mit Berlin anstrebten, und denen, die auf Wien setzten, neigte Kaiser Napoleon III. zur ersten Gruppe unter der Bedingung zu, dass er politischen Profit einstreichen könne und die preußische Macht sich nicht auf Süddeutschland ausdehne. Nachdem Preußen ihm beim polnischen Aufstand die Gefolgschaft verweigert hatte, glaubte Napoleon III. den Schleswig-Holstein-Konflikt zur Durchsetzung seiner machtpolitischen Interessen nutzen zu können. Der preußischösterreichische Schulterschluss im Krieg gegen Dänemark machte ihm abermals einen Strich durch die Rechnung. Das Inkrafttreten des bilateralen Handelsvertrags Mitte 1865 sollte die beiden Nachbarn ökonomisch partnerschaftlich verbinden, machtpolitisch jedoch wurden die bestehenden Hemmnisse nicht überwunden. Da Preußen auf seine Angebote einer wohlwollenden Neutralität um den Preis territorialer Entschädigungen nicht einging, schwenkte Napoleon 1866 unter dem Druck der öffentlichen Meinung auf die österreichische Seite um. Der Sieg Preußens in der Schlacht bei Königgrätz führte ihm schmerzhaft vor Augen, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Unter dem Einfluss moderater Minister sperrte er sich allerdings gegen eine Mobilmachung und pochte nach dem Prager Frieden stattdessen zunehmend vehementer auf die bisher entgangene Beute. Der Fehlschlag der Verhandlungen um Luxemburg oder Belgien, die Weigerung Preußens zum Beitritt in die Lateinische Münzunion, die gescheiterten Verhandlungen um eine Tripelallianz mit Österreich und Italien und das Desaster in Mexiko sollten seine Position innen- wie außenpolitisch weiter schwächen. Nachdem am 3. Juli 1870 die Bombe der spanischen Thronkandidatur des Hohenzollern-Prinzen Leopold explodiert war, setzten die Falken in Paris den Kaiser so sehr unter Druck, dass auch er nun meinte, zur ultima ratio greifen zu müssen. Im Rückblick betrachtet, wirkt der Ausgang des preußisch-österreichischen Krieges wie eine „date clé“ für das Second Empire. Aus zeitgenössischer Sicht war 1866 aber weder der Weg in die Gründung des deutschen Nationalstaates teleologisch festgelegt noch Napoleons Hoffnung auf eine Entente mit Preußen eo ipso zerstoben. Verantwortlich für die Katastrophe von 1870 zeichneten vielmehr zum einen der machtpolitische Niedergang Frankreichs, zum anderen der französische (Irr)Glaube, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates eine tödliche Gefahr für Frankreichs Großmachtstellung darstelle; und schließlich das Versagen der Regierungen in Paris und Berlin, die aufgrund eines bereits erlittenen bzw. drohenden Autoritätsverlusts ihr Heil im Krieg suchten.

DIE SÜDDEUTSCHEN STAATEN: VOM DEUTSCHEN BUND ZUM NEUEN DEUTSCHEN BUND (1866–1870) Wolf D. Gruner Die Kaiserproklamation und die Ausrufung des preußisch-kleindeutschen Kaiserreiches am 170. Gründungstag des Königreiches Preußen beendete den steinigen Weg der Südstaaten in das Kaiserreich. Es wird heute wieder diskutiert, ob die deutsche Frage mit dem Beitritt gelöst wurde und ob der Weg zur Reichsgründung alternativlos gewesen sei? Begann mit der Reichsgründung das „deutsche Problem“ für Europa?. Hatte die Gründung eines Südbundes, der mit dem Norddeutschen Bund unter dem Dach eines Allgemeinen Deutschen Bundes in ein völkerrechtliches Verhältnis treten sollte keine Chance? Hierbei spielen mehrere einzelstaatliche, innenpolitische, innersüddeutsche, deutsche und internationale Einflussgrößen eine Rolle, auch persönliche, wirtschaftliche, verfassungspolitische und konfessionelle Faktoren: 1. Die sicherheitspolitischer Perspektive die Geographie und geostrategische Lage der süddeutschen Staaten. 2. Die süddeutschen Staaten unterschieden sich in Größe, Bevölkerungszahl und in ihrem wirtschaftlichen Potential und in ihrer Finanzkraft. Die Südstaaten hatten eine einzelstaatliche nationale Identität ausgebildet und den Integrationsprozess der alten und neuen Gebietsteile auch über konstitutionelle Verfassungen, gemeinsamen Wehrdienst, eine Hymne und „National“-Feste (u.a. Oktoberfest, Cannstatter Wasen) vorangetrieben. 3. Wenn auf süddeutscher Ebene ein Südbund nicht verwirklicht wurde, so spielten süddeutsche Nachbarschaftsfaktoren, die Identität der jeweiligen Geschichtslandschaften, aber auch die persönlichen Beziehungen der Monarchen und der leitenden Minister eine Rolle. 4. Der konfessionelle Faktor zeigte sich im negativen Preußenbild und in der Ablehnung der protestantischen Großmacht Preußen. Hinzu kam die Furcht vor einem preußischen Einheitsstaat und einer Mediatisierung der Südstaaten. Der Sieg der katholischen und antipreußischen Parteien bei den Zollparlamentswahlen und den Landtagswahlen 1868/69 blockierte die Reformpolitik der Regierungen (Bildungs- und Sozialpolitik, Militärverfassung, Milizsystem). 5. Die Anerkennung des Bündnisfalles aus den Schutz- und Trutzbündnissen wurde in den Landtagen kontrovers diskutiert. Die Regierungen entschlossen sich im Juli 1870 aus innenpolitischen und europäischen Gründen den Bündnisfall anzuerkennen. 6. Die Versuche nach Kriegsbeginn die Bildung eines engeren und weiteren Bundes zu erreichen, scheiterten u.a. an der Uneinigkeit der Südstaaten sich auf eine gemeinsame Verhandlungsposition zu verständigen. Sie mussten schließlich in Einzelverhandlungen im November 1870 Verträge über den Beitritt in einen neuen deutschen Bund abschließen. Der neue deutsche Bund mutierte dann zum deutschen Kaiserreich. 7. Wenn der Weg von der Zerschlagung des Deutschen Bundes über den Norddeutschen Bund zum neuen deutschen Bund ging und schließlich zum deutschen Kaiserreich von 1871 führte, so spielten hierbei in hohem Maße internationale Krisen und die Haltung der Großmächte eine gewichtige Rolle. 8. Vom „Bismarckreich“ und vom „Reichsgründer Bismarck“ zu sprechen ist angesichts der Rahmenbedingungen im Vorfeld von 1870/71 und der Erkenntnisse der neuen historischen Forschung nicht mehr angebracht. 9. Die Annahme, dass es nach 1866 für die süddeutschen Staaten auf längere Sicht keine Alternative zum Nationalstaat gegeben habe ist, wie neuere Forschungen zeigen, in dieser Form nicht mehr haltbar. Andere Organisationsformen von deutscher Staatlichkeit wären möglich gewesen. 10. Bismarck als Realpolitiker wäre auch mit einer Lösung

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Wolf D. Gruner der nationalen Frage durch einen engeren und weiteren Bund zufrieden gewesen, sofern dies als politischer Wille der Südstaaten und der europäischen Mächte als die allein tragfähige Lösung anerkannt worden wäre.

1. EINFÜHRUNG Mit der Zwangsauflösung des Deutschen Bundes am 24. August 18661 wurde die mitteleuropäische Föderativordnung zerstört, die über ein halbes Jahrhundert den europäischen Frieden ohne große Kriege gesichert und den Transformationsprozess vom Europa des Ancien Régime zum Europa der Moderne und Modernität ermöglicht und befördert hat.2 Als „Centralstaat von Europa“ (A.H.L. Heeren) konnte er eine zentrale deutsche und europäische Aufgabe erfüllen.3 In der Präambel der Bundesakte vom 8. Juni 1815 hieß es dazu, dass die souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands von den Vorteilen überzeugt waren, „welche aus ihrer festen Verbindung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands, und die Ruhe und das Gleichgewicht Europa's hervorgehen“.4 Den Staatenbund mit bundesstaatlichen Elementen zu reformieren gelang, trotz intensiver Bemühungen, zwischen 1816 und 1866 nicht. Reforminitiativen wurden aus Eigeninteressen oder machtpolitischen Zielen blockiert. Verantwortlich hierfür waren neben den deutschen Großmächten auch die Mittelstaaten.5 Die Gründung eines kleindeutschen Nationalstaates ohne Österreich oder ein doppelter Bund mit Österreich scheiterte 1848/49. Entgegen der Vereinbarung mit dem Bundestag, der Bundesversammlung des Deutschen Bundes, vom 30. März

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BUNDESARCHIV BERLIN – DEUTSCHER BUND (in der Folge BAB-DB) Protokoll der 40. Sitzung der Bundesversammlung (in der Folge Prot. BV) v. 24.8.1866, D. § 261 – gedruckt auch bei: Philipp Anton Guido Meyer/Heinrich Zoepfel (Hg.), Corpus Iuris Confederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes (in der Folge CJCG), 3 Bde., Frankfurt a.M. 31858–1869, Bd. 3, 664f. Hierzu u.a. Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866. München 2012; Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, Göttingen 2005; Jürgen Angelow, Der Deutschen Bund. Darmstadt 2003. Arnold Ludwig Herrmann Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem europäischen Staatensystem. Bey Eröffnung des Bundestags dargestellt. Göttingen 1816; auch Wolf D. Gruner, Arnold Herrmann Ludwig Heeren (1760–1842). Deutscher Europahistoriker von Weltruf, in: HMRG 27/2015, 109–138. CJCG: Die deutsche Bundes-Akte vom 8. Juni 1815. Bd. 2, 1– 7, 1. Hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil II: 1848–1851. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 150 (2014) 2015, 423–462; ders., Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789– 1993). Teil III: 1851–1867, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 151 (2015) 2016, 527– 618 mit weiterführender Literatur.

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18486 arbeitete die am 18. Mai 1848 gewählte Nationalversammlung eine Verfassung aus ohne die deutschen Staaten in die Beratungen für die Ausarbeitung einer Verfassung einzubeziehen, obwohl dieses es mehrfach angemahnt hatten.7 Die größeren deutschen Staaten lehnten daher die Reichsverfassung vom 28. März 1849 im April 1849 ab. Mit ihren unitarischen Grundelementen widersprach sie den Interessen und dem Selbstverständnis der deutschen Großmächte und der großen Mittelstaaten. Zwischen 1849 und 1851 wurden unterschiedliche Modelle für eine Regelung der deutschen Verfassungsfrage und eine Reform des Deutschen Bundes diskutiert, die in Variationen zwischen 1849 und 1866 wiederkehren. – Im Zusammenhang mit der deutschen Frage wurde 1848/49 und auch später die Idee eines engeren und eines weiteren Bundes, eines „doppelten Bundes“, erörtert. Zwischen 1866 und 1870 kehrte die Idee für die Verbindung eines Süddeutschen Bundes mit dem Norddeutschen Bund, verbunden durch einen Allgemeinen Bund wieder. – Die deutschen Mittelstaaten strebten eine Trias-Lösung mit einem Dreier-Direktorium an. – In der Zeit des Deutschen Bundes und in den Jahren zwischen 1866 und 1871 waren die Beziehungen der süddeutschen Staaten untereinander höchst komplex. Hierbei spielten unterschiedliche Interessenlagen, das innenpolitische Klima, die wirtschaftliche Lage, persönliche Eitelkeiten, Eifersüchteleien aber auch Nachbarschaftsfaktoren eine Rolle. – Preußen verfolgte weiterhin eine kleindeutsche Lösung auf der Basis einer modifizierten Reichsverfassung unter Führung Preußens. Trotz des Scheiterns des Unions-Planes 1850 hielt Preußen an seinem Deutschlandkonzept fest. Im April 1866 brachte es dieses als Reformvorschlag in den Bundestag ein. – Die österreichischen Mitteleuropakonzepte waren nicht mehrheitsfähig. Für den Deutschen Bund hatte Österreich keine konkreten Konzepte. Ein Alternat mit Preußen lehnte es ab, auch eine Trias. Erst spät, zu spät, schlug es auf dem Frankfurter Fürstentag 1863 eine Bundesreform vor, die letztlich zu diesem Zeitpunkt keine Chance auf Verwirklichung hatte.8 Die Quellenlage für die süddeutschen Staaten zwischen 1848/49 und 1871 in den deutschen und ausländischen Archiven ist sehr gut. Es findet sich dort noch reiches, unerschlossenes Material zur Verfassungsgeschichte, zur Rolle und Bedeutung der

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CJCG: Prot. BV 26. Sitzung v. 30.3.1848 § 209; BAB-DB, Prot. BV 26. Sitzung v. 30.3.1848, § 209, BAYERISCHES HAUPTSTAATARCHIV MÜNCHEN (in der Folge BHStAM), Bayerische Gesandtschaft Bundestag (in der Folge B.T. Ges.) 36. Ausführlicher hierzu: Wolf D. Gruner, Welches Deutschland soll es sein? Bayerns Weg von Frankfurt nach Frankfurt 1848–1850, in: Gunther Mai, Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament 1850. Köln/Weimar/Wien 2000, 165–198. Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993): Teil II: 1848–1851, 423–462.

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Konfessionen, zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung, zur Verkehrsgeschichte, zur Kultur, zur Militärgeschichte sowie zur Mentalitätsgeschichte. Dies gilt auch für die Verfügbarkeit von gedruckten Quellen, von Zeitungen und Flugschriften, aber auch für die die Ereignisse kommentierenden Karikaturen in den Jahren 1864 bis 1870, wie u.a. die im Münchener Punsch,9 im Punch,10 im Kladderadatsch und bei Honoré Daumier, um nur einige zu nennen.11 Wichtig sind vor allem auch die Stenographischen Berichte der Ersten und Zweiten Kammern, die inzwischen auch on-line verfügbar sind.12 Der Stand der Forschungen über die Jahre zwischen 1864/66 und 1871 wurde in den letzten Jahren durch neue Fragestellungen erweitert, wurde differenzierter und zugleich komplexer. In der Forschung dominierte sehr lange die Sicht der Reichshistoriographie: Preußen habe mit der Reichsgründung seiner Mission für Deutschland erfüllt.13 Auch die Landesgeschichte sah mit der Reichsgründung ihre Mission weitestgehend erfüllt.14 Kaum in den Blick kamen mögliche weitere Optionen für eine Lösung der deutschen Frage und das mitteleuropäische Föderativsystem. Die süddeutschen Staaten waren nach dem Ende des Deutschen Bundes bis zu ihrem Beitritt zum neuen deutschen Bund im November 1870 souveräne deutsche und europäische Staaten. Sie sollten einen Süddeutschen Bund bilden, der dann in ein völkerrechtliches Verhältnis zum Norden treten würde.

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Der Münchener Punsch ist online verfügbar und lässt sich herunterladen in: UB Heidelberg (digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/muenchener_punsch) und im MDZ der Bayerischen Staatsbibliothek München (https://www.digitale-sammlungen.de/index.html). Punch, or the London Charivari online verfügbar in: UB Heidelberg (http://punch.uni-hd.de). Das humoristisch-satyrische Wochenblatt seit 1848 ist digital zugänglich: http://kladderadatsch.uni-hd.de. Die Protokolle der Bayerischen Ersten und Zweiten Kammern sowie die Beilagenbände seit 1819 sind in der digitalen Sammlung Bavarica der Bayerischen Staatsbibliothek München verfügbar, die badischen in der digitalen Sammlung der badischen Landesbibliothek Karlsruhe seit 1819/20, die württembergischen in der digitalen Sammlung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Die Verhandlungen der Landstände des Großherzogtums Hessen zwischen 1820 und 1918 sind teilweise verfügbar, aber noch nicht vollständig digitalisiert und freigegeben. Sie sind aber auch verfügbar über die HATHI TRUST Digital Library: https://babel.hathitrust.org/record/005407872 [letzter Abruf: 01.10.2017]. Die Protokolle des Deutschen Reichstags und die Anlagebände (Norddeutscher Bund / Zollparlament) 1867–1895 sind in digitalisierter Form im MDZ der Bayerischen Staatsbibliothek München verfügbar. U.a. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Leipzig 1879–1894, Bd. 1, 5ff.; Thomas Stamm-Kuhlmann, Die Hohenzollern, Berlin 2001, 11f.; Wolf D. Gruner, Preußen in Europa 1701–1860/71, in: Jürgen Luh/Vinzenz Czech/Bert Becker (Hg.), Preussen, Deutschland und Europa 1701–2001, Groningen 2003, 429–460, 429ff.; James J. Sheehan, What is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography, in: Journal of Modern History 53/1981. 1–23. U.a. Ferdinand Seibt, ‘Die bayerische Reichshistoriographie’ und die Ideologie des deutschen Nationalstaates 1806–1918, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 28/1965 (in der Folge ZBLG), 523–554; z. B. Michael Doeberl, Bayern und Deutschland. Bayern und die Bismarckische Reichsgründung. München 1925.

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War der Weg vom Ende des Deutschen Bundes in das deutsche Kaiserreich alternativlos? Die historische Forschung hat sich mit möglichen Optionen zwischen 1866 und 1870/71 bisher weniger beschäftigt und auch die europäisch-internationalen Rahmenbedingungen für den Prozess, der schließlich den Weg über den neuen deutschen Bund in das deutsche Kaiserreich ermöglichte, in die Analyse einbezogen. Sicherlich spielte Bismarck neben Delbrück für den Beitritt der süddeutschen Staaten in einen neuen deutschen Bund eine gewichtige Rolle, doch ohne die Konstellationen der europäisch-internationalen Politik zwischen 1866 und 1870 wäre dieser Weg beschwerlicher und möglicherweise nicht gangbar gewesen. Was wäre passiert, wenn die süddeutschen Verfassungsstaaten die im November 1870 in Versailles abgeschlossenen Verträge verworfen hätten? Im Falle Bayerns war eine Mehrheit für die Verträge bis zum letzten Moment ungewiss. Die folgenden Überlegungen möchten die möglichen Optionen für die süddeutschen Staaten zwischen 1866 und 1870 in den Blick nehmen. Beginnen werde ich mit der Ausgangslage von 1866, der Bundesexekution gegen Preußen, dem Ende des Deutschen Bundes und den Friedensverträgen von Prag und Berlin. Im Prager Frieden schied Österreich aus dem mitteleuropäischen Föderativsystem aus und anerkannte, dass Preußen einen Norddeutschen Bund gründen dürfe. Die süddeutschen Staaten sollten einen eigenen Bund bilden, der in ein internationales Verhältnis zum Norddeutschen Bund treten sollte. Ein weiterer Schwerpunkt wird die Luxemburger Frage von 1867, die Reorganisation des Zollvereins und die Bildung eines Zollparlamentes sein, deren Bedeutung für die Südstaaten und deren mögliche Wirkung für die Lösung der deutschen Frage. Einen weiteren Aspekt bilden die Reformen in den süddeutschen Staaten zwischen 1866 und 1870, die sich verändernden Landtagsmehrheiten, ihre überwiegend antipreußische Haltung, die Blockade der liberalen Reformpolitik sowie die antipreußische Stimmung in der süddeutschen Bevölkerung. In den Julikrise von 1870 ging es dann darum, ob der Bündnisfall der Schutzund Trutzbündnisse zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten von 1866 von den Regierungen in Karlsruhe, Stuttgart, Darmstadt und München anerkannt werden würde. Waren die Verträge allein eine Defensivallianz oder auch eine Offensivallianz? Würden die Südstaaten im Konflikt zwischen Preußen und Frankreich wegen der Spanischen Thronfrage neutral bleiben können? Warum entschieden sie sich dann doch für den Eintritt an der Seite Preußens in den französisch-preußischen Krieg? Die militärischen Erfolge der Armeen Preußens und der süddeutschen Staaten in den ersten Kriegswochen und die hochkochenden Emotionen in der deutschen Öffentlichkeit erforderten aus süddeutscher Sicht sofortige Verhandlungen über eine Lösung der deutschen Frage, um ihre Eigenständigkeit abzusichern. Sie mündeten im September 1870 in Verfassungsberatungen in München, die aufgrund der mangelnden Bereitschaft Preußens und der unterschiedlichen Interessenlagen Württembergs und Bayerns sowie dem Fernbleiben Badens und Hessen-Darmstadts

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keine Fortschritte brachten. Ende Oktober entsandten die süddeutschen Regierungen ihre leitenden Minister dann zu Verhandlungen mit Preußen und dem Norddeutschen Bund in das Hauptquartier nach Versailles. Das Ergebnis der in Versailles zustande gekommenen Verträge musste jedoch noch in den süddeutschen Landtagen mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Eine Annahme war jedoch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse, vor allem in den bayerischen Kammern keineswegs sicher. 2. DIE AUSGANGSLAGE VON 1866 Die Frage der Zukunft und der Zugehörigkeit der Herzogtümer Holstein und Schleswig hatte seit den 1850er Jahren immer wieder die Bundesversammlung des Deutschen Bundes beschäftigt. Als 1863 Dänemark die Herzogtümer in den dänischen Gesamtstaatsverband einfügte, forderte die Bundesversammlung diese Entscheidung rückgängig zu machen. Als diese nicht erfolgte beantragte die Bundesversammlung die Bundesexekution gegen Dänemark. Der Konflikt um die Herzogtümer mündete in den Krieg von 1864, der mit dem Wiener Frieden beendet wurde.15 Österreich und Preußen verständigten sich im Gasteiner Vertrag 1865 dann außerhalb des Bundesrechtes über die Verwaltung der Herzogtümer. Seit Anfang 1866 kam es aufgrund verschiedener Vorkommisse zu wachsenden Spannungen zwischen den deutschen Großmächten. Eine militärische Konfrontation wurde immer wahrscheinlicher. Österreich brachte die Frage der Herzogtümer nun wieder in die Bundesversammlung des Deutschen Bundes ein. Preußen reagierte Anfang April mit einem Reformvorschlag für den Deutschen Bund.16 Der Deutsche Bund sei in seiner gegenwärtigen Organisationsform „für die aktive Politik, welche große Krisen jeden Augenblick fordern könnten“ nur unzureichend handlungsfähig. Die preußischen und die deutschen Interessen seien identisch und das „Schicksal Preußens“ werde das „Schicksal Deutschland nach sich ziehen“. Die derzeitige politische und militärische Struktur des Bundes könne seine Schutzfunktion nicht erfüllen und werde nicht in der Lage sein „Deutschland vor dem Schicksale Polens“ zu schützen. Preußen forderte sofort eine Bundesreform auf der Grundlage der alten Bundesverfassung einzuleiten, um eine „neue, lebensfähig Schöpfung“ zu schaffen. Es sollte durch „directe Volkswahl“, nicht durch Delation der Landtage, sofort „eine allgemeine Versammlung von gewählten Vertretern berufen“ werden, die Vorlagen für Reformvorschläge der Regierungen entgegennehmen und beraten sollte. Der preußische Antrag, basierend auf den Vorschlägen der Erfurter Union von 1850, wurde mit den Stimmen der Südstaaten an einen ad-hoc-Ausschuss verwiesen.17 15 S. die Beiträge in: Oliver Auge/Ulrich Lappenküper (Hgg.), Der Wiener Frieden 1864 in deutscher, europäischer und globaler Perspektive, Paderborn München 2016. 16 BAB-DB, Prot. BV 12. Sitzung v. 9.4.1866 § 90: Dringlicher Antrag „die Reform der Deutschen Bundesverfassung betreffend“; auch BHStAM Ges. B.T. 38; CJCG 3, 582–584. 17 BAB-DB, Prot. BV 13. Sitz. V. 21.4.1866, § 104.

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Mit den preußischen Vorschlägen eskalierte die Krise des Bundes und die deutschen Großmächte leiteten Rüstungsmaßnahmen ein, obwohl die Bundesakte verbot, dass Bundesmitglieder gegeneinander Krieg führen durften. Eine militärische Lösung der Schleswig und Holstein Frage wurde immer wahrscheinlicher. Preußen legte schließlich am 10. Juni 1866 seine ausgearbeiteten Grundzüge für eine funktionsfähige Bundesverfassung vor. Mit Ausnahme Österreichs und der „KöniglichNiederländischen Landestheile“ sollten alle bisherigen Staaten des Deutschen Bundes Mitglieder des neuen Bundes werden. Ein Bundestag und eine Nationalvertretung üben die gesetzgebende Gewalt des Bundes aus. Sie bedürfen einer Mehrheit im Bundestag und in der Volksvertretung, die aus direkten Wahlen hervorgegangenen sei. Die Bundesstaaten würden ein einheitliches Zoll- und Handelsgebiet bilden. Der Bundesgewalt unterliege die Zoll- und Handelsgesetzgebung, die Ordnung der Maß-, Münz- und Gewichtssysteme, die Patente, die Bestimmungen über Heimatrecht, Auswanderung, Schutz des geistigen Eigentums sowie das Recht Krieg und Frieden zu erklären.18 Die Verwirklichung dieses Reformplanes setzte das Ende des Deutschen Bundes voraus. Nachdem Preußen am 5. Juni 1866 in Holstein einmarschiert war, legte Österreich Protest gegen diesen „Akt der Selbsthilfe“ ein und beantragte die Bundesexekution gegen Preußen.19 Die Bundesversammlung beschloss am 14. Juni 1866 die Mobilisierung der nicht von Preußen gestellten Bundesarmeekorps.20 Preußen sah den Beschluss als Kriegserklärung an und erklärte seinen „Rücktritt“ vom Bundesvertrag und betrachtete den Deutschen Bund als „erloschen“. Es halte aber auf der nationalen Grundlage fest auf der der Bund „auferbaut gewesen“. Es lade diejenigen deutschen Regierungen ein, welche hierzu bereit seien dem vorgeschlagenen „neuen Bund“ beizutreten. Preußen beendete damit „seine bisherige Thätigkeit“ im Deutschen Bund.21 Der Deutsche Bund war „ein unauflöslicher Verein“ aus dem kein Mitglied austreten konnte. Der preußische Austritt am 16. Juni 1866 sei daher „rechtlich ungültig“, so die Rechtsauffassung der Mehrheit des Bundestages. Die Bundesversammlung beschloss „unverweilt die geeigneten Maßregeln“ für eine Bundesexekution zu ergreifen.22 Die Versuche von Bundesgliedern und die Einladung zu einer internationalen Konferenz eine militärische Lösung zu verhindern und eine friedliche Regelung für die Elbherzogtümer herbeizuführen scheiterten. Sie wurden durch die Kriegsereignisse überholt.23 In Königgrätz und in Franken

18 Ebd., Prot. BV 24. Sitz. v. 10.6.1866, § 170: Preußen: Grundzüge einer neuen Bundesverfassung, Beilage. 19 Ebd., Prot. BV 22. Sitz. v. 9.6.1866 (§ 161), ebd., Prot. BV 23. Sitz. v. 11.6.1866 (§ 164). 20 Ebd., Prot. BV 24. Sitz. v. 14.6.1866 (§ 170). 21 Ebd., (Beschluss). 22 Ebd., Prot. BV 25. Sitz. v. 16.6.1866 (§ 172, § 173). 23 BHStAM MA 611 Noten Frankreichs, Großbritanniens und Russlands v. 29.5.1866, Einladung Napoleons III. zu einer Konferenz nach Paris v. 22.5.1866, ausführlicher hierzu: Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil III: 1851–1867, 586ff.

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besiegten preußische Einheiten die Bundestruppen.24 Österreich musste in den Frieden von Prag einwilligen, die Südstaaten schlossen Friedensverträge mit Preußen in Berlin. Der Deutschen Bund löste sich am 24. August 1866 in Augsburg auf.25 War die Niederlage des Deutschen Bundes ein Sieg für den deutschen Bundesstaat wie jüngst argumentiert wurde?26 3. DIE FRIEDENSVERTRÄGE VON 1866 Im Vorfrieden von Nikolsburg mit Österreich erkennt der Kaiser von Österreich die Auflösung des bisherigen Deutschen Bundes an und gibt Seine Zustimmung zu einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung des Oesterreichischen Kaiserstaates. Ebenso verspricht Seine Majestät das engere Bundesverhältniß anzuerkennen, welches Seine Majestät der König von Preussen nördlich von der Linie des Mains begründen wird, und erklärt Sich damit einverstanden, daß die südlich von dieser Linie gelegenen deutschen Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen Beiden vorbehalten bleibt.27

Im endgültigen Friedensvertrag von Prag vom 23. August 1866 wurde im Artikel IV die Auflösung des Deutschen Bundes bestätigt ebenso die Neugestaltung Deutschlands ohne Österreich, die Gründung eines Norddeutschen Bundes und dass die süddeutschen Staaten „in einen Verein zusammentreten“ anerkannt. Die Südstaaten sollten sich über eine „nationale Verbindung“ mit dem Norddeutschen Bund näher verständigen. Der Südbund wird „eine internationale, unabhängige Existenz haben“.28 Die Festlegung auf eine unabhängige internationale Stellung der süddeutschen Staaten, die in ein verfassungsrechtliches Verhältnis zum Norddeutschen Bund treten sollten, war durch Frankreich gewünscht worden. Frankreich hoffte durch die Südbundklausel seinen Einfluss in Süddeutschland zu erhalten und es als Puffer zwischen dem Norddeutschen Bund und Frankreich einsetzen zu können. Frankreich hatte der Auflösung des Deutschen Bundes keinen massiven Widerstand entgegen gebracht nachdem die von Napoleon III. angeregte Pariser Konferenz nicht zustande kam.29 Es setzte darauf, „que le système de solidarité économique

24 Hierzu: Klaus-Jürgen Bremm, 1866. Bismarcks Krieg gegen die Habsburger. Darmstadt 2016, 103ff. 25 BAB-DB, Prot. BV 40. Sitz. v. 24.8.1866 (§ 261). 26 Hierzu den Beitrag von Frank Möller, Die Debatte zur Gründung und Verfassung des Norddeutschen Bundes, in diesem Band. 27 Präliminar-Friedensvertrag d.d. Nikolsburg, den 26. Juli 1866; ratifiziert am 27. Juli 1866, gedruckt in: CJCG III, Anhang I, 667–668, Art. II, 667. 28 Friedensvertrag zwischen Preussen und Oesterreich, d.d. Prag, den 23.m August 1866, Art. IV, gedruckt in: CJCG III, Anlage II, 668–670, 669. 29 Wolf D. Gruner, Frankreich und die europäische Ordnung des 19. Jahrhunderts., in: ders./Klaus-Jürgen Müller (Hg.), Über Frankreich nach Europa (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte 19), Hamburg 1996, 201–274, 265ff.

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inauguré depuis 1860 n’aura pas été un vain mot“.30 Das europäische Gleichgewicht war durch den preußischen Sieg gestört, daher die französische Argumentation im Vorfeld der Friedensverhandlungen. Der französische Gesandte in Frankfurt, Reculot, hatte in mehreren Berichten an den französischen Außenminister Drouyn de l’Huys vor den Folgen einer Neuordnung eines von Preußen dominierten Mitteleuropa gewarnt. Zu den Chancen für einen Erhalt des Friedens hatte er nach Paris berichtet: „M. de Bismack ne veut pas céder et prétend qu’il ne peut pas. C’est donc de son maintien au pouvoir ou de sa chute que dépent la paix ou la guerre“. 31 Es könne nicht im Sinne französischer Deutschlandpolitik sein zu hoffen, dass eine mitteleuropäische Neuordnung durch Preußen die wirtschaftlichen Beziehungen fördern, neue Märkte öffnen und Konflikte abbauen würde. Die Staaten „secondaires“ kämpften gegen Preußen, in der Hoffnung ihre Existenz zu sichern.32 „C’est interêt“. So schrieb er, qu’a l’Empereur de ne permetrre à la Prusse de détruire à son profit l’équilibre européen en rétablissant sous une autre forme cet Empire d’Allemagne que la France a mis tant de siècles à abbattre […] Aujourd’hui tout le monde regrete que le gouvernement autrichien n’ait pas compris qu’il était absulument nécessaire pour lui d’abandonner la Vénétie pacque, une fois la France désinteréssée du coté d’Italie, la guerre eût été probablement évitée. 33

Die Frage der Gründung eines süddeutschen Bundes gemäß Artikel IV des Prager Friedens sollte in den Verhandlungen und Debatten zwischen 1866 und 1870 immer wieder eine Rolle spielen.34

30 ARCHIVES DU MINISTÈRE DES AFFAIRES ÉTRANGÈRES PARIS (in der Folge AMAEP) M.D (Mémoires et Documents). Allemagne 165 (Memorandum vom Jahresende 1866). 31 AMAEP C.P. (Correspondence Politique) 842 Nr. 69 Reculot-Drouyn de l’Huys v. 4.4.1866. 32 AMAEM M.D. Allemagne 165 „Note sur la troisième Allemagne“ v. 8.5.1866. 33 Ebd., Nr. 90 Reculot – Drouyn de l’Huys v. 6.7.1866. 34 Zum Modell des „doppelten Bundes“ Wolf D. Gruner, Bündische Formen deutscher Staatlichkeit: Die Deutsche Hanse – Das Alte Reich – Der Deutsche Bund – Der Norddeutsche Bund – Die Bundesrepublik Deutschland – Die Europäische Gemeinschaft. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Duderstadt 1990, 62: * Zwischen 1815 und 1871 gab es immer wieder Vorschläge für die Schaffung eines neuen Bundes für die deutsche Nation und die deutschen Staaten; Süddeutschland/Norddeutschland bzw. Einbeziehung Österreichs 1848/50 – ** Vor allem zwischen 1866 und 1870 wurde ein neuer allgemeiner deutscher Bund diskutiert und es liegen hierzu Verfassungsentwürfe aus den Jahren 1867, 1868 und 1870 vor, die den Südstaaten mehr Unabhängigkeit erhalten, gleichzeitig aber das politische Band für die Nation gestärkt hätten – *** Der Südbund sollte verfassungsmäßig lockerer organisiert werden mit wechselndem Präsidium.

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Modell des „doppelten Bundes“, aus: Wolf D. Gruner, Bündische Formen deutscher Staatlichkeit: Die Deutsche Hanse – Das Alte Reich – Der Deutsche Bund – Der Norddeutsche Bund – Die Bundesrepublik Deutschland – Die Europäische Gemeinschaft. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Duderstadt 1990, 62.

Die Friedensverhandlungen mit den süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Württemberg und dem Großherzogtum Hessen fanden in Berlin statt. Mit Ausnahme des Großherzogtums Hessen wurden sie noch im August 1866 abgeschlossen. Sie enthielten auch Bestimmungen über die Liquidation des Bundeseigentums, u.a. der Bundesfestungen. Alle vier Staaten mussten Kriegskontributionen leisten: Bayern 30 Mill. Gulden, Württemberg 8 Millionen, Baden 6 Millionen und HessenDarmstadt 3 Millionen. Bayern und Hessen mussten auch Gebietsteile an Preußen abtreten. Bei den Friedensverhandlungen wurde auch die Idee eines Südbundes neben einem Norddeutschen Bund diskutiert. Die Südstaaten mussten in den Verhandlungen einem geheimen Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen zustimmen. Es wahrte aus ihrer Sicht ihre Souveränität. Hierbei spielte u.a. eine Rolle, dass Frankreich Kompensationsforderungen auf linksrheinische Gebiete erhob. Wenn es nicht Luxemburg erhalten würde, dann sollte das Rheinland neutralisiert und die bayerische Pfalz an Frankreich abgetreten werden. Durch den preußischen Sieg sei das europäische Gleichgewicht gestört worden.35 Ohne Schutz fürchteten die süddeutschen Staaten in einem künftigen Krieg geopfert zu werden. Sicherheit war auch nach 1866 ein gewichtiges Element der Südstaaten zur Absicherung ihrer Eigenstaatlichkeit und territorialen Integrität. Preußen vertrat in den Friedensverhandlungen mit 35 Winfried Baumgart, Bismarck und der deutsche Krieg im Lichte der Edition von Bd. 7 der „Auswärtigen Politik Preußens, in: HMRG 20/2007, 91–115, 111; auch: ders. (Hg.), Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Diplomatische Aktenstücke. Zweite Abt. Vom Amtsantritt Bismarcks bis zum Prager Frieden. Bd. 7: April bis August 1866, Berlin 2008.

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den Südstaaten die Ansicht, dass für die Sicherheit ganz Deutschlands auch eine militärische Verbindung hinzutreten müsse, d.h. „die Vereinigung der gesammten Wehrkräfte zu einem Ziele, der Abwehr etwaiger Gefahren, kann schon jetzt in vollkommen genügender Weise garantirt werden“. Der Vorschlag Preußens die Armeen bereits im Frieden unter den Oberbefehl des Königs von Preußen zu stellen, lehnte der bayerische Ministerrat entschieden ab. Diese Passage fand daher keinen Eingang in den geheimen Allianzvertrag.36 Der bayerische Ministerpräsident Freiherr v. d. Pfordten war rückblickend der Meinung, dass Bayern nach Lage der Dinge den „Frieden um jeden Preis“ abschließen musste, auch wenn der Friedensvertrag „unläugbar viele lästige Bestimmungen für Bayern“ enthielt. Er schlage keine unheilbaren Wunden, wie dieses bei den ursprünglichen Forderungen der Fall gewesen wäre […] Die Unabhängigkeit und Integrität Bayerns bleibe gewahrt und erhalte eine neue Sicherstellung auf der nationalen Basis, welche überdieß von der großen Mehrheit des bayerischen Volkes verlangt wird.37

Mit Sorge hatten die bayerischen Vertreter bei den Friedensverhandlungen die Bemerkung Bismarcks registriert, dass Bayern „im Vergleich mit den anderen Mittelstaaten zu groß“ sei.38 Anders als Baden und Württemberg, die Unterstützung durch ihre großmächtliche Verwandtschaft erfahren hatten, erfüllten sich die Hoffnungen Bayerns, dass sich Frankreich und Großbritannien für Bayern einsetzen würden nicht. Von der Pfordten beklagte sich daher, „daß wir in Europa keinen Freund haben, und allen ein Stein des Anstoßes sind“.39 Mit dem Ende des Deutschen Bundes war das mitteleuropäische Föderativsystem zusammengebrochen und nicht mehr funktionsfähig. Es bestand zwischen den deutschen Staaten keine staatsrechtliche Verbindung mehr. Die norddeutschen Mittel- und Kleinstaaten wurden entweder durch Preußen annektiert oder mussten dem Norddeutschen Bund beitreten. Die nun selbständigen, erstmals souveränen Südstaaten mussten sich mit dem Ende des Bundes neu orientieren. Dies galt insbesondere für Baden, Bayern und Württemberg. Die Handlungsfreiheit des Großherzogtums Hessen war durch den Friedensvertrag mit Preußen eingeschränkt. Seine Provinz Oberhessen musste dem Norddeutschen Bund beitreten. Für die für Oberhessen bezüglich des Post- und Telegraphenwesens zu treffenden besonderen Vereinbarungen [soll] der Gesichtspunkt maßgebend sein […], daß die beiden südlichen Provinzen Starkenburg und

36 BHStAM MA 616 Bericht v.d.Pfordten/Bray v. 19.8.1866, ebd., Daxenberger-v.d.Pfordten v. 21.8.1866: Eine Unterstellung unter preußisches Kommando sollte nur „exclusivement du cas de guerre“ erfolgen. Der Ministerrat messe dem „une grande importance“ zu. 37 Ebd., v.d.Pfordten –Ludwig II. Berlin 23.8.1866. 38 BHStAM MA 620/1 v.d.Pfordten-Daxenberger Berlin 10.8.1866. 39 Ebd.

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Wolf D. Gruner Rheinhessen hinsichtlich der Verwaltung des Post- und Telegraphenwesens in dasselbe Verhältniß treten werden, welches für die Provinz Oberhessen auf Grund der mit dem norddeutschen Bunde geltenden Einrichtungen stattfinden wird. 40

Hessen-Darmstadt musste für seine Provinz Oberhessen die anteiligen Streitkräfte unter den Oberbefehl Preußens stellen und sich verpflichten „die geeignete Einleitung für die Parlamentswahlen, dem Bevölkerungsverhältnisse entsprechend zu treffen“.41 Durch den Friedensvertrag mit Hessen-Darmstadt und dessen Anbindung militärisch, wirtschaftlich und politische in die preußische Hemisphäre ergaben sich von Anbeginn Hindernisse für einen Südbund unter Einbeziehung des Großherzogtums. Diese bezogen sich u.a. auf eine reformierte künftige Militärverfassung, auf Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sowie auf die Form eines Bundes der süddeutschen Staaten. In der Kammerdebatte über den Friedensvertrag mit Preußen betonte Ministerpräsident Freiherr von Dalwigk, dass für das Großherzogtum „der Eintritt in den Norddeutschen Bund erwünscht ist, sofern derselbe möglich erscheint“. Ziel der Regierung sei es, daß sie Alles, was in ihren Kräften steht thun werde, um den Norddeutschen Bund über ganz Deutschland auszudehnen, wenn die Bedingungen, unter denen der Norddeutsche Bund demnächst geschlossen wird, von der Art ist, daß der Eintritt in denselben wünschenswerth bleibt.42

Im weiteren Verlauf der Debatte betonte Dalwigk, dass das Großherzogtum einen Anschluss an den Norddeutschen Bund anstrebe „soweit es mit den Interessen des Großherzogthums, mit den Interessen der Bewohner dieses Landes vereinbar ist“. Sollten die bei einem Beitritt zum Norddeutschen Bund zu übernehmenden Lasten so groß sein, „daß das Land sie nicht tragen könne, ohne finanziell ruinirt zu werden“, dann wäre auch der Abschluss einer Konvention möglich.43 Er erklärte auch in der Aussprache, dass die Regierung bereits Verhandlungen über den Abschluß einer Militärconvention eingeleitet [habe]. Obgleich wir noch weit vom Ziele entfernt sind, hoffe ich doch, daß es auf eine den Interessen des Landes entsprechende Weise gelingen wird, die Hessische Division vor einer Zerreißung zu bewahren, indem man dieselbe für den Kriegsfall ganz unter preußische Führung stellt. Während wir nun

40 Beratung in der Zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen (in der Folge K. d. A. Ghzt. Hessen) „Friedensvertrag zwischen dem Großherzogtum Hessen und dem Königreiche Preußen“ Anlage zu Beil. Nr. 13 zum 4. Prot. v. 22. Dezember 1866, Beil. Bd. 1/1866–1868, abgedruckt auch: „Friedensvertrag von Berlin zwischen Preußen und dem Großherzogthum Hessen d.d. 3. September 1866“, in: Heinrich Schulthess, Europäischer Geschichtskalender. 7. Jahrgang 1866, Nördlingen 1867, 286–289, 288; Beratung K. d. A. Ghzt. Hessen Prot. Sten. Ber. 9. Sitzung v. 24.1.1867, 2–102; ebd., Beil. Bd. 1/1866–1868, Beil. 51, Bericht des 2. Ausschusses, Abg. Hallwachs „über die Vorlage des Gr. Ministeriums […] unterm 3. Sept. 1866 abgeschlossenen Friedensvertrag betr. (Beil. 13) 41 Schultess, Europäischer Geschichtskalender 1866, Art. 14 (S. 287); zu den Beratungen über die Wahlen in den drei großherzoglich-hessischen Provinzen vgl.: K. d. A. Ghzt. Hessen 1866– 1868 Sten. Ber. Prot. 7. Sitzung v. 22.1.1867 und Prot. 8. Sitzung v. 23.1.1867. 42 K. d. A. Ghzt. Hessen Sten Ber. Prot. 9. Sitzung v. 24.1.1867, 14. 43 Ebd., 101.

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bemüht sind, mit Preußen zu einer Verständigung zu gelangen, sind gleichzeitig die süddeutschen Staaten wegen Einführung einer gemeinsamen Militärverfassung und eines militärischen Anschlusses in Verhandlungen getreten.44

4. 1867 DIE GRÜNDUNG DES NORDDEUTSCHEN BUNDES, DES ZOLLPARLAMENTS UND DIE LUXEMBURGER FRAGE In allen Friedensverträgen mit den süddeutschen Staaten war festgelegt worden, dass die „Hohen Contrahenten […] unmittelbar nach Abschluß des Friedens wegen Regelung der Zollvereinsverhältnisse in Verhandlung treten“. 45 Allen Parteien bleibe es vorbehalten den Zollvereinsvertrag vom 16. Mai 1865 „nach einer Ankündigung von sechs Monaten außer Wirksamkeit treten zu lassen“.46 Wegen der territorialen und politischen Veränderungen durch die Gründung des Norddeutschen Bundes mussten die wirtschaftlichen Beziehungen des Zollvereins neu geordnet werden.47 Am 18. August 1866 schlossen sich die Mehrzahl der norddeutschen Mittelund Kleinstaaten auf der Grundlage der preußischen Reformvorschläge für den Deutschen Bund vom 10. Juni 1866 mit Preußen zu einem engen Bündnis zusammen. Weitere Staaten folgten bis Ende des Jahres. Im Dezember 1866 wurde den Bevollmächtigten von 22 Staaten ein Verfassungsentwurf für den Norddeutschen Bund vorgelegt. Allgemeine Wahlen zum Norddeutschen Reichstag fanden im Februar 1867 statt, der am 24. Februar 1867 vom König von Preußen eröffnet wurde.48 In mehreren Plenarsitzungen wurde der Entwurf einer Verfassung für den Norddeutschen Bund diskutiert49 und schließlich mit Änderungen verabschiedet.50 Die Verfassung des Norddeutschen Bundes sollte zum 1. Juli 1867 in Kraft treten. Damit mussten die Verhandlungen für die Reform des Zollvereins und die Einrichtung eines Zollparlamentes bis zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen sein, da der Norddeutsche Bund als Gesamtheit Mitglied des neuen Zollvereins sein würde. In einer Interpellation wünschte der Abgeordnete Bennigsen Auskunft über die Gerüchte zu Verhandlungen zwischen den Niederlanden und Frankreich über die Abtretung Luxemburgs und dass „der Abtretungsvertrag bereits abgeschlossen sei“. Habe die preußische Regierung von dem Verkaufsprojekt Kenntnis? Sei sie ent-

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Ebd., 92. Ebd., Beil. Bd. 1 1866–1868, Beil. 13, Art. 2. Ebd. S. auch den Beitrag Hans-Werner Hahn, Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat: Der Deutsche Zollverein 1866–1871, in diesem Band. 48 Reichstag des Norddeutschen Bundes (in der Folge RTNB) Prot. Sten. Ber. 1. Sitzung v. 25. Februar 1867, 1–9; Eröffnungssitzung v. 24.2.1867, ebd., I–II. 49 RTNB Prot. Sten. Ber. 14. Sitzung v. 18.3.1867 - 34. Sitzung v. 16.4.1867 (Annahme des Verfassungsentwurfs mit 230:53), 205–729. 50 RTNB Prot. Sten. Ber. 34. Sitzung v. 16.4.1867, 729.

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schlossen sei die Verbindung Luxemburgs mit dem übrigen Deutschland sicherzustellen? Sei sie bereit das dauernde preußische Garnisonrecht für Preußen durchzusetzen? Graf Bismarck sollte hierzu Auskunft geben.51 Es könne nicht angehen, so Bennigsen, dass „Luxemburg, ein Deutsches Land, aus dessen Fürstengeschlechtern Kaiser für Deutschland hervorgegangen sind […] durch einen solchen Handel verloren gehe!“ Der Reichstag und die verbündeten Regierungen und die Vertreter der deutschen Nation sollten sich klar darüber werden, was sie einer solchen Gefahr gegenüber zu thun gewillt sind. Wir haben in dem Grenzlande Luxemburg nicht bloß einen Theil Deutschen Bodens zu vertheidigen; wir haben da auch eine wichtige militairische Position zu schützen, welche, wenn sie aufgegeben werden sollte, wenn das Land an Frankreich kommen sollte, nicht allein Belgien, sondern auch die Deutsche Rheinprovinz stets unmittelbar bedrohen würde.52

Es müsse allen Parteien dieses Hauses und dem Reichrat darum gehen „Deutschen Boden zu vertheidigen gegen ungerechte Gelüste des Auslandes“.53 Bismarck antwortete, dass die verbündeten Regierungen glauben, daß keine fremde Macht zweifellose Rechte Deutscher Staaten und Deutscher Bevölkerungen beeinträchtigen werde; sie hoffen im Stande zu sein, solche Rechte zu wahren und zu schützen auf dem Wege friedlicher Verhandlungen und ohne Gefährdung der freundschaftlichen Beziehungen in welchen sich Deutschland bisher zur Genugthung der verbündeten Regierungen mit seinen Nachbarn befindet.54

Bismarck hatte zu diesem Zeitpunkt kein Interesse an einem Krieg um Luxemburg. Seine Antwort war daher maßvoll. Er vermied jede Drohung an die Adresse Frankreichs und trat sanft auf die Bremse, um die mit zunehmender Geschwindigkeit auf dem gleichen Gleis aufeinander zurasenden französischen und deutschen Kriegslokomotiven zu entschleunigen und einen militärischen Konflikt zu vermeiden. Mit der Veröffentlichung der geheimen Schutz- und Trutzbündnisverträge mit den süddeutschen Staaten am 19. März 1867 in der preußischen Staatszeitung schürte Bismarck die nationale Begeisterung und warf Frankreich den Fehdehandschuh zu, den Napoleon III., auch aus innenpolitischen Gründen, aufzugreifen bereit war. In den süddeutschen Landtagen forderten die Abgeordneten die Regierungen auf über den Charakter der Allianzverträge Auskunft zu geben. Die preußischen Militärs forderten einen Waffengang mit Frankreich, der aus ihrer Sicht unvermeidlich war. In einem Telegramm an den preußischen Gesandten in Den Haag forderte Bismarck den niederländischen König auf von einem Kaufvertrag mit Frankreich abzusehen,

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Ebd., Prot. Sten. Ber. 24. Sitzung v. 1.4.1867, 487–490. Ebd., 487. Ebd., 488. Ebd., 490.

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Wer ist der Gestrafte?, Münchener Punsch, 20. Band, Nr. 23 v. 9.6.1867 (Privatbesitz).

da sonst „der Krieg nach der Aufregung der öffentlichen Meinung kaum zu verhindern sein würde, wenn die Sache vor sich ginge“, denn Preußen müsse dem Standpunkt der deutschen Öffentlichkeit gerecht werden.55 Um einen Krieg wegen Luxemburg zu vermeiden bot Großbritannien seine Vermittlung an und lud zu einer Konferenz nach London ein, die vom 7.–11. Mai 1867 tagte.56 Im Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867 wurde die Unabhängigkeit und Neutralität Luxemburgs durch eine Kollektivgarantie der Großmächte gesichert. Preußen verzichtete auf sein Garnisonsrecht in Luxemburg. Luxemburg blieb aber Mitglied des Zollvereins.57

55 Bismarck-Perponcher (Den Haag) v. 3.4.1867 (Telegramm), gedruckt in: Historische Reichskommission Erich Brandenburg/Herbert Michaelis (Bearb.), Die auswärtige Politik Preußens 1858–1871. Diplomatische Aktenstücke. Bd. VIII (August 1866–Mai 1867), Oldenburg i. O. 1934 (in der Folge APP), Nr. 44. 56 NATIONAL ARCHIVES – PUBLIC RECORD OFFICE LONDON (in der Folge PRO) Foreign Office (F.O.) 244 (Prussia Archives); ebd., F.O. 218 und F.O. 94/606. 57 BHStAM MA 1624 – Londoner Vertrag bezüglich Luxemburg vom 11. Mai 1867, abgedruckt in: Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 31f.

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Die Krise um Luxemburg wurde von Preußen benutzt, um die Ängste der Süddeutschen Staaten um ihre Sicherheit zu schüren. Die gescheiterte Bundesexekution von 1866 hatte ihnen gezeigt, dass aufgrund der Erfahrungen des Krieges eine neue, zeitgemäße Wehrverfassung geschaffen werden müsste. Die Südstaaten hatten seit dem Herbst 1866 im Zusammenhang mit der Bildung eines Südbundes auch eine Reform des Militärsystems diskutiert. Im Februar 1867 fand zu dieser Frage eine Militärkonferenz in Stuttgart statt. Ziel sollte eine abgestimmte gemeinsame Wehrverfassung sein. Baden wollte eigentlich das preußische Militärreglement übernehmen und kam nur widerwillig auf Anraten Bismarcks nach Stuttgart. Hessen-Darmstadt wollte aufgrund der Situation des Gesamtstaates sich mit seinem Wehrsystem Preußen anschließen. Am 7. April 1867, auf dem Hohepunkt der Luxemburgkrise, schloss es eine Militärkonvention mit Preußen ab in der es sich verpflichtete das hessische Militärwesen nach preußischem Modell zu organisieren und die hessische Division zu einem Teil des norddeutschen Bundesheeres zu machen. Es schloss, wie schon vorher die anderen süddeutschen Staaten ein Schutz- und Trutzbündnis mit Preußen ab.58 Bei der Vorlage der Militärkonvention in der zweiten Kammer wurde der Antrag gestellt, die Regierung zu ersuchen „wegen Ausdehnung des norddeutschen Bundes auf die süddeutschen Staaten, jedenfalls aber wegen Eintritts des ganzen Großherzogthums in den norddeutschen Bund“ entsprechende Verhandlungen mit Preußen aufzunehmen.59 Die Luxemburger Krise benutzte Bismarck, um die politische Entwicklung Süddeutschlands in seinem Sinne zu beeinflussen. Das Schüren von Existenzängsten hatte Auswirkungen auf die süddeutschen Planungen für eine gemeinsame Militärpolitik und eine gemeinsame Militärverfassung aber auch auf die Zoll- und Wirtschaftspolitik. Über die Zollvereinsfrage konnte Preußen Druck auf die süddeutschen Staaten ausüben. Der Süden war wirtschaftlich vom Zollverein abhängig und profitierte vom Zollverein auch finanziell. Der Krieg hatte „ganz neue politische Konstellationen“ geschaffen.60 Änderungen waren zwingend notwendig. Die Wirtschaft war an der Fortführung des föderativen Wirtschaftsverbandes interessiert. Eine von Preußen angedrohte Aufkündigung des Zollvereins zum 1. Juli 1867 sollte der Süden zu einer zeitgemäßen und funktionsfähigen Strukturreform bereit machen. Die Errichtung einer Zollgrenze zwischen dem Norden und dem Süden würden für den süddeutschen Handel und die Industrie den wirtschaftlichen Ruin 58 Militärkonvention zwischen dem Großherzogtum Hessen und Preußen v. 7.4.1867, gedruckt in: Schulthess, Europäischer Geschichtskalender 1867, 192–195; ebd., Schutz- und Trutzbündnis v. 11.4.1867, 195. 59 K. d. A. Ghzt. Hessen Prot. Sten. Ber. 14. Sitzung v. 3.5.1867, 2 (Militärconvention und Schutzund Trutzbündniß mit Preußen; Antrag Abgg. Goldmann und Genossen, den Anschluß des ganzen Großherzogthums an den Norddeutschen Bund); ebd., Beil. Bd. 2, Nr. 144 Antrag Abgg. Goldmann (Beil. zum 12. Prot. v. 29.4.1867), Nr. 145 (Verfassung des Norddeutschen Bundes, Beil. zum Prot. v. 29.4.1867), Nr. 149 (Militärconvention; Bündnißvertrag). 60 Hans-Werner Hahn, Der deutsche Zollverein und die nationale Verfassungsfrage, in: ders./Marco Kreutzmann (Hg.), Der Deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012, 153–174, 171.

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bedeuten. Schon vor der Bundesexekution gegen Preußen forderten Handel, Wirtschaft und Industrie in Petitionen die süddeutschen Regierungen auf die „Segnungen des Zollvereins“ zu bewahren.61 Baden und Württemberg waren aus unterschiedlichen Gründen an einer Erneuerung des Zollvereins interessiert. Während Baden hierin eine Möglichkeit zur Lösung der nationalen Frage und zu einem Beitritt zum Norddeutschen Bund sah, befürwortete Württemberg eine lockere Vereinigung der süddeutschen Staaten und lehnte es ab dem Norddeutschen Bund beizutreten. Nach einem intensiven schriftlichen und mündlichen Gedankenaustausch verständigten sich Bayern und Württemberg auf eine Punktation in der sie eine Beschneidung ihrer Souveränitätsrechte durch das Zollparlament und eine Erweiterung des Norddeutschen Reichstages durch süddeutsche Abgeordnete ablehnten. Der Schwerpunkt der Gesetzgebung solle bei den Einzelstaaten bleiben, wie im Zollvereinsvertrag von 1865 vorgesehen. Der Eintritt süddeutscher Abgeordneter in das Zollparlament „wäre abzulehnen“.62 Im März 1867 eröffnete Bismarck dem bayerischen Gesandten in Berlin seine Pläne für eine Zollvereinsreform. Es sollte als Beschlussorgan ein Zollparlament geschaffen werden bestehend aus den Abgeordneten des Norddeutschen Reichstages und Abgeordneten der süddeutschen Staaten. Das Zollparlament sollte Mehrheitsbeschlüsse fassen. Graf Bray hielt diese Idee für nicht realisierbar und plädierte dafür am in den Friedensverträgen vorgesehenen Provisoriumscharakter festzuhalten. Nach der Lösung der Luxemburger Frage und der Konstituierung des Norddeutschen Bundes lud Bismarck die süddeutschen Staaten zu Verhandlungen über einen neuen Zollverein nach Berlin ein.63 Die veränderten deutschen und europäischen Rahmenbedingungen zwangen Bayern und Württemberg die Einladung zu Zollvereinsverhandlungen anzunehmen. Die Südstaaten mussten den neuen Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 annehmen. Sie konnten keines ihrer angestrebten Ziele durchsetzen. Der Vertrag sah die Einberufung eines Zollparlamentes auf der Grundlage freier Wahlen vor. Mit dem Zollvereinsvertrag, der noch von den Landtagen gebilligt werden musste, wurden weitere Gespräche der süddeutschen Staaten zur Bildung eines eigenen Bundes zunächst blockiert.

61 BHStAM Ministerium des Handels, Industrie und Gewerbe (in der Folge MH) 10941; u.a. Jochen Schmidt, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren vor der Reichsgründung (1866/67–1870), München 1973; noch immer nützlich: William Otto Henderson, The Zollverein, London 21968; Wilhelm Schüssler, Bismarcks Kampf um Süddeutschland 1867, Berlin 1929; Eugen Franz, Der Kampf um die wirtschaftliche Führung Deutschlands (1856–1867), München 1933; Walter Schübelin, Das Zollparlament und die Politik von Baden, Bayern und Württemberg 1866–1870, Berlin 1935 (Reprint Vaduz 1965). 62 BHStAM MA 624 Bayerisch-Württembergische Punktation v. 20.3.1867; ebd., HohenloheLudwig II. v. 20.3.1867 „Verhältniße Bayerns zu den übrigen deutschen Bundesstaaten“. 63 BHStAM MH 9101 Werthern - Hohenlohe v. 27.5.1867.

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Der neue Zollverein erhielt einen sehr starken politischen Akzent. Bismarck sah in Zollparlament und Zollbundesrat den Keim für eine friedliche Anschlussentwicklung, vom Zollparlament zum Vollparlament und damit zur Herstellung der deutschen Einheit. 5. DIE REFORMEN IN DEN SÜDSTAATEN 1866–1869 UND DIE HALTUNG DER LANDTAGE Die Niederlage im Deutschen Krieg von 1866 brachte „Folgelasten“ mit sich. Dies hatte Auswirkungen auf die Entwicklung der Südstaaten zwischen 1866 und 1870. Sie lassen sich im Wesentlichen drei Großgruppen zuordnen: 1. Der Bewältigung der finanziellen, wirtschaftlichen, mentalen und gesellschaftlichen Konsequenzen des Krieges, 2. der Außen- und Sicherheitspolitik, der Industrie- und Handelspolitik, der Außenwirtschaftspolitik sowie der Militärpolitik, 3. der nationalen Frage der Deutschen, dem negativen Preußenbild in der süddeutschen Öffentlichkeit und den gewachsenen historisch-politischen Traditionen des Südens. Preußens „neuer Bund“ und seine Annexionen bedeuteten eine Neuordnung des deutschen Raumes. Sie schränkten die eigenstaatliche Unabhängigkeit ein. Die süddeutschen Staaten mussten sich neu orientieren und sich auf die deutsche und europäische Situation nach der Zerschlagung der mitteleuropäischen Föderativordnung Deutscher Bund auch mit Blick auf die ihnen verfügbaren Handlungsspielräume einstellen. Nach dem verlorenen Krieg wurden in Süddeutschland neue Regierungen berufen. Diese hatten erkannt, dass sie weitreichende Reformen einleiten und durchführen mussten, um für die Herausforderungen der modernen Zeit gerüstet zu sein, auch um sich dem Wettbewerb mit dem Norden stellen zu können. Teilweise waren Reformen bereits vor 1866 eingeleitet worden. Reformen und eine friedliche Fortentwicklung des politisch-sozialen Systems konnten die Eigenstaatlichkeit absichern und ein Aufgehen in einem zentralistischen Großpreußen verhindern. Zu den notwendigen innenpolitischen Reformen gehörten eine Neuordnung der Wehrverfassung, wirtschaftliche, soziale und schulische Reformen, Verbesserungen im Bildungssystem sowie wirkungsvolle Maßnahmen zur Effektivierung der verkehrsmäßigen Infrastruktur (Eisenbahnlinienführung,64 Eisenbahnbau, verbesserte Chausseen, Ausbau des Kanalsystems und Schiffbarkeit der Flüsse). Hinzu kam, dass durch den Krieg und die Kriegskontributionen der Schuldenstand enorm angestiegen war. Die Südstaaten besaßen keine finanziellen Rücklagen. Mittel waren auf 64 Ein Blick in die Protokolle der süddeutschen Kammern und in die Beilagenbände zeigt die Bedeutung und auch die Intensität mit der der Eisenbahnbau behandelt wurde. Ausdruck dieser Aktivitäten sind auch die notwendigen Staatsverträge unter den süddeutschen Staaten, aber auch mit der Schweiz.

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dem Kreditmarkt schwer zu beschaffen. Zur Deckung des finanziellen Mehrbedarfs mussten vor allem Bayern und Württemberg ihre Eisenbahnobligationen unter Wert veräußern und neue Staatsanleihen in Berlin auflegen.65 Die Staatsschulden stiegen um ein Fünftel. So Die betrug beispielsweise die Deckungslücke im bayerischen Staatshaushalt für 1865/66 23 Millionen Gulden.66 In den weitgehend noch agrarisch strukturierten Südstaaten stießen die Steuerpolitik, die Einführung einer Wehrsteuer und ein neues Wehrgesetz auf Widerstand. Die Regierungen begründeten ihre Reformen damit, dass diese zentrale Voraussetzungen für Stabilität, Sicherheit und Souveränität des Landes seien. Die Gegner von Reformen argumentierten, dass ihnen mit der neuen Wehrverfassung das preußische System übergestülpt würde und die Steuerlast sich massiv erhöhen würde.67

65 Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1871, Köln 21972. 107ff. 66 BHStAM KA D I/84, 85; ebd., Staatsrat 1184 sowie Landtagsarchiv des bayerischen Landtags München: Nachweisungen des Finanzausschusses. Die Staatsschuld stieg von 105 353 146 fl. Auf 128 634 029 fl. 67 In zahlreichen Flugschriften und Karikaturen, so auch im großdeutsch orientierten Münchener Punsch wurde die Gefahren des Militärstaates Preußen, eine Militarisierung und die finanziellen Folgen des preußischen Zentralstaates für Süddeutschland thematisiert: Münchener Punsch, 22. Jg. 1869 Nr. 17 v. 21.11.1869: „Fühlung mit Berlin oder: Wir müssen uns erhalten bleiben! Ein Gratulant, der jetzt schon vor der Thüre steht, um uns das neue Jahr gewiß abzugewinnen.“ (Privatbesitz); z.B. ebd., 20. Jg. 1867, Nr. 49 v. 8.12.1867: „Gutthat. Süddeutscher Michl: Ah‘ Auf das Schröpfen ‘nauf wird mir aber leicht werden!“

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„Fühlung mit Berlin oder: Wir müssen uns erhalten bleiben! Ein Gratulant, der jetzt schon vor der Thüre steht, um uns das neue Jahr gewiß abzugewinnen.“ Münchener Punsch, 22. Jg., Nr. 17 v. 21.11.1869. (Privatbesitz).

Alle angestrebten Reformen ließen sich nur dann verwirklichen, wenn die Regierungen eine Mehrheit des Landtages hintern sich hatten, um ihre Gesetzesvorlagen

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durchzusetzen. In den ersten Jahren bis 1868/69 konnten sich die Regierungen auf liberale Kammermehrheiten stützen. Mit den Zollvereinswahlen von 1868 und den Landtagswahlen von 1868/69 setzten sich die neu gegründeten katholischen, ultramontanen und großdeutschen Parteien in Bayern und Württemberg durch. Lediglich in Baden und Hessen-Darmstadt konnten die Liberalen noch eine Mehrheit erreichen. Die Liberalen galten wegen ihrer nationalpolitischen Ziele als „Preußenpartei“, ein Dilemma angesichts der weitverbreiteten antipreußischen Stimmung in Süddeutschland. Die Opposition innerhalb und außerhalb der Landtage – Demokraten, Partikularisten unterschiedlicher Schattierungen und der sich formierende politische Katholizismus – verbanden sich, trotz ihrer politischen Heterogenität zu einer politischen Handlungseinheit gegen ihre Staatsregierungen. Sie bekämpften aus grundsätzlichen Gründen die Politik ihrer Regierungen. Deren Politik brandmarkten die als Ausverkauf ihres Landes an Preußen.68 Bis zu den Zollvereinswahlen 1868 und den Landtagswahlen 1868/69 konnten die Regierungen in München, Karlsruhe und Stuttgart ihre Reformgesetze mit den liberalen Kammermehrheiten verabschieden. Die Wahlen zum Zollparlament und zu den Landtagen brachten dann eine Umkehr der Mehrheiten. Die antipreußische Mehrheit wollte verhindern, dass es zu einer Lösung der deutschen Frage im preußisch-kleindeutschen Sinn kam. Die katholischen Parteien hatten sich als politische Kraft formiert. Ihr Profil war heterogen, doch sie waren sich einig in ihrer Ablehnung gegen den protestantischen Norden Deutschlands. Sie bekämpften die liberale Reformpolitik ihrer Regierungen und lehnten ein preußisches, zentralistisches Reich deutscher Nation entschieden ab. In ihren Wahlkämpfen warnten sie vor einem Anschluss Süddeutschlands an den Norden, stellten sich gegen den preußischen Militarismus, gegen Steuererhöhungen, die vor allem auf Kosten der ländlichen Bevölkerung erfolgen würden und verfochten die Idee eines Süddeutschen Bundes. Katholiken und Partikularisten und Demokraten konnten die Ängste und den Unmut der Bevölkerung für ihre politischen Vorstellungen instrumentalisieren.69 Die Sozialgesetzgebung, u.a. das Verehelichungsrecht, das Heimatrecht und die von den liberalen Regierungen eingebrachten Schulgesetze verschärften den

68 Hierzu u.a.: Ulrich Tjaden, Liberalismus im katholischen Baden. Geschichte, Organisation und Struktur der nationalliberalen Partei in Baden 1869–1893, Phil. Diss. Freiburg 2000, 71ff.; Christa Stache, Bürgerlicher Liberalismus und katholischer Konservativismus in Bayern 1867– 1871, Frankfurt a. M. 1984; Friedrich Hartmannsgruber, Die bayerische Patriotenpartei 1868– 1887, München 1986; Freya Amann, ‚Hie Bayern, hie Preußen‘? Die bayerische Patriotenpartei/Bayerische Zentrumspartei und die Konsolidierung des deutschen Kaiserreiches bis 1889, Phil. Diss. München 2013 (online verfügbar); Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968, 472ff. 69 Hierzu ausführlicher: Wolf D. Gruner, Die süddeutschen Staaten, das Ende des Deutschen Bundes und der steinige Weg in das deutsche Kaiserreich (1864–1871), in: Winfried Heinemann/Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der Preussisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn/Leiden/Boston 2018, 241–301, 257ff.

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Kulturkampf, der in Baden bereits in den 1850er Jahren begonnen hatte und im Vorfeld der Reichsgründung erneut aufflammte. Ziel der Regierungen war es, die dominierende Rolle der katholischen Kirche im Schulwesen zu beschneiden und die Schulausbildung in die Kontrolle des Staates zu bringen. In den Landtagen kam es zu heftigen und emotionalen Auseinandersetzungen an der sich auch die kirchlichen Abgeordneten in den Abgeordnetenkammern und die Bischöfe in den Ersten Kammern aktiv beteiligten. Mit den neuen Kammermehrheiten seit 1869 wurden diese Gesetzesvorhaben blockiert.70 Der Zollvereinsvertrag von 1867 und die Schutz- und Trutzbündnisse von 1866 mussten durch die Landtage angenommen werden. In den Abgeordnetenkammern und in den Ersten Kammern kam es bei der Beratung der Zollverträge zu heftigen, emotionalen und oft verletzenden Auseinandersetzungen. Der neue Zollverein wurde als massive Beschneidung der Souveränität angesehen. Er würde für das eigene Land höchst nachteilig sein, vor allem für die Bevölkerung auf dem platten Lande. Warum konnte nicht der alte Zollverein fortbestehen? In Bayern lehnte die Kammer der Reichsräte die Zollverträge mit dem Norddeutschen Bund ab. Sie forderte die Regierung zu Nachverhandlungen auf. Vor allem sollte ein Vetorecht für Bayern oder eines für die süddeutschen Staaten durchgesetzt werden. Die Verhandlungsdelegation kehrte jedoch ohne Ergebnisse aus Berlin zurück. Der öffentliche Druck auf die Kammer wurde so groß, dass die Zollvereinsverträge in der Kammer der Reichsräte schließlich die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erhielt und in Kraft treten konnte. Leidenschaftlich wurden in den Kammern auch die Schutz- und Trutzbündnisse diskutiert, die nach ihrer Veröffentlichung im März 1867 bekannt geworden waren. Kontrovers war vor allem die Frage nach den Verpflichtungen der einzelnen Staaten aus diesem Allianzvertrag. War er ein Offensiv- und Defensiv-Bündnis oder trat der Bündnisfall nur im Falle eines Angriffes auf einen der Vertragspartner ein? In den Debatten wurde von den Preußengegnern bezweifelt, dass Preußen im Falle eines Krieges Süddeutschland zu schützen bereit wäre. Der württembergische Ministerpräsident Freiherr von Varnbüler betonte in der Kammer der Abgeordneten den Defensivcharakter des Vertrages, der den Regierungen die Entscheidung überließ, ob der Bündnisfall eingetreten sei. Die Frage des Bündnisfalles sollte dann im Frühjahr 1870 und in der Julikrise 1870 erneut eine Rolle spielen. Konnte der Süden im Falle eines preußisch-französischen Krieges neutral bleiben? Bismarck hatte bereits 1867 verschiedentlich auf diplomatischem Wege und 1870 auch über die Medien betont, dass der Allianzvertrag ein Offensivund Defensivbündnis sei. Ein wichtiges Vorhaben der süddeutschen Regierungen war eine Reorganisation ihres Militärwesens. Der bayerische Kriegsminister Freiherr von Pranckh hatte bereits im Oktober 1866 eine Denkschrift über die Reorganisation des Wehrsystems 70 Hierzu mit Nachweisen: Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993. Teil IV: 1867–1871, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 152(2017) 2018, 431ff.

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vorgelegt und diese auch mit Blick auf die Schaffung einer gemeinsamen Wehrverfassung und ein gleichmäßiges Vorgehen der süddeutschen Staaten in dieser Frage den Entwurf auch Baden und Württemberg mitgeteilt.71 Zwischen Pranckh und dem württembergischen Kriegsminister Hardegg fand ein persönliches Gespräch statt. Hardegg anerkannte die notwendige Zusammenarbeit in der Wehrverfassungsfrage und man wolle mit Bayern Hand in Hand gehen. Er sah jedoch bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Probleme. Er wolle „unter keinen Umständen eine Organisation befürworten, welche dem Land eine so bedeutende Last auferlegen mußte“.72 Die Kostenfrage für eine neue Wehrverfassung spielte bei den weitgehend noch agrarisch strukturierenden Südstaaten eine gewichtige Rolle. Es wurde daher eine Wehrsteuer für nicht eingezogene Wehrpflichtige diskutiert. Baden hatte bereits Ende 1866 in der Militärfrage sich an Preußen orientiert und wollte eine Militärkonvention abschließen, da es eine sofortige Aufnahme in den Norddeutschen Bund anstrebte. Bismarck lehnte einen sofortigen Beitritt Badens zum Norddeutschen Bund ab. Er brauchte Baden für seine Süddeutschlandpolitik, für die Berliner Verhandlungen über die Liquidierung des Eigentums des Deutschen Bundes, und vor allem auch für seine Militärpolitik. Für die süddeutschen Staaten war die Bildung eines Südbundes ohne Baden kaum realisierbar. Der neue bayerische Ministerpräsident Fürst Hohenlohe griff in seinem Regierungsprogramm die Südbundidee auf und sah in einer gemeinsamen Wehrverfassung die Vorstufe für einen Süddeutschen Bund.73

71 BHStAM Kriegsarchiv (in der Folge KA) Alter Bestand A II/1b/68; BADEN-WÜRTTEMBERGISCHES LANDESHAUPTARCHIV STUTTGART (in der Folge WHStA) Abt. Militärarchiv (in der Folge MA) E 271/Bü. 1351; BADEN-WÜRTTEMBERGISCHES HAUPTSTAATSARCHIV KARLSRUHE (in der Folge GLA) 48/5091; ebd,, 48/5095, 48/5096, 48/5106. 72 WHStA MA E 271/Bü. 1351 Bericht Hardegg an den König. 73 Die Südbundfrage und die Aufnahme in den Norddeutschen Bund wurde in zeitgenössischen Karikaturen immer wieder kommentiert: z. B. Münchener Punsch 19, Jg. 1866, Nr. v. 2.12.1866: Bayern, Württemberg und Baden bitten um Aufnahme in den neuen deutschen Bund (Privatbesitz).

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Gruppe nach Kaulbach, Münchener Punsch, 19. Jg., Nr. v. 2.12.1866 (Privatbesitz).

In einem Rundschreiben an die bayerischen Gesandtschaften in Süddeutschland schlug Hohenlohe eine Konferenz der leitenden Minister und der Kriegsminister vor, um gemeinsam in der Wehrverfassungsfrage vorzugehen.74 An der Stuttgarter Konferenz, an der auch auf Druck Bismarcks Baden teilnahm, meldete Baden Bedenken gegen die bayerisch-württembergischen Pläne an und befürwortete einen Anschluss der süddeutschen Staaten an die preußische Wehrverfassung. Im badischen Antrag hieß es:

74 BHStAM KA XXI/180 – WHStA MA E 271/Bü. 1351 – GLA 48/5110.

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Die versammelten Vertreter der vier süddeutschen Regierungen erkennen es als ein nationales Bedürniß die Wehrkraft ihrer Länder nach den Prinzipien der preußischen Wehrverfassung einzurichten, sodaß sie als Bestandtheil eines deutschen Heeres im Kriegsfalle verwendbar werden.75

Die Südstaaten verständigten sich schließlich doch noch auf gemeinsame Prinzipien für die Reorganisation ihrer Wehrverfassungen. Die süddeutschen Armeen sollten in Gliederung und Ausrüstung zu einer gemeinschaftlichen „Action unter sich und mit dem übrigen Deutschland“ in der Lage sein. Baden stimmte der Übereinkunft vorbehaltlich einer Militärkonvention mit Preußen zu. Ähnliche Bedenken hatte Hessen-Darmstadt. Bayern und Württemberg verständigten sich im März 1867 in einer Punktation auf eine engere Zusammenarbeit, nachdem Baden und HessenDarmstadt sich an Preußen orientieren wollten. Im April 1867 bekräftigten sie ihre Absicht die Stuttgarter Konferenzbeschlüsse umzusetzen.76 Ein Scheitern der bayerischen Wehrverfassungsvorstellungen zeichnete sich nach der Stuttgarter Konferenz ab. Mit der Luxemburger Krieg-in-Sicht-Krise scheiterten auch zunächst einmal die bayerischen Vorstellungen für einen süddeutschen Bund. Hierbei spielte, wie auch später, eine Rolle, dass die anderen süddeutschen Staaten eine bayerische Vorrangstellung nicht zu akzeptieren bereit waren, Bayern aber selbst meinte, dass ihm als größtem süddeutschen Staat eine natürliche Vorrangstellung zufallen müsse. Nachdem in der Wehrverfassungsfrage im Verlauf des Jahres 1867 keine Fortschritte erzielt werden konnten, mit bedingt durch die Luxemburgfrage, geplante bayerisch-württembergische Manöver abgesagt wurden und Württemberg durch die Einführung des preußischen Zündnadelgewehres sich militärpolitisch Preußen annäherte legte der bayerische Kriegsminister Siegmund Freiherr von Pranckh im Oktober 1867 dem Landtag ein Wehrgesetz vor. Die Überlegungen Hohenlohes eine Militärkonferenz nach München einzuberufen und die Südbundfrage mit der Wehrverfassungsfrage zu verbinden, machten aus der Sicht des Kriegsministers keinen Sinn. Pranckh beugte sich aber schließlich gegen seine Überzeugung den politischen Überlegungen Hohenlohes. Dieser hatte in einer Rede vor dem bayerischen Landtag am 8. Oktober 1867 erneut ein modifiziertes Südbundprojekt vorgeschlagen.77 Anfang Dezember fand dann die Münchner Militärkonferenz statt.78 Die Verabschiedung des bayerischen Wehrgesetzes im Landtag schien schwierig zu werden, doch stimmte der Landtag im Januar 1868 der neuen Wehrverfassung zu.79

75 BHStAM KA XXI/180 Akt: Konferenzen von Stuttgart und München, Konferenzprotokoll v. 3.2.1867 und Badischer Antrag v. 3.2.1867. 76 BHStAM MA 628; WHStA E 41-44/Anh. I/Bü. 20; BHStAM MA 624 Hohenlohe – Bray (Wien) v. 30.5.1867. 77 Zu den Reaktionen auf die Rede der Regierungen in Karlsruhe, Stuttgart und Darmstadt sowie der Presse BHStAM MA 625; ebd. Rede Hohelohes vor dem Landtag am 8.10.1867; K. d. A. Bayern 1866–1869, Prot. Sten. Ber. 31. Sitzung v. 8.10.1867, 9–11. 78 BHStAM KA XXI / 180 Konferenzprotokoll Münchner Konferenz 4.12.1867. 79 K. d. A. Bayern 1866–1868, Prot Sten. Ber. LXI. Sitzung. v. 28.1.1868, 588–596.

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6. DIE JULIKRISE VON 1870 UND DER BÜNDNISFALL Die Mehrheitsverhältnisse in den süddeutschen Landtagen hatten sich bei den Wahlen von 1868 und 1869 zugunsten der antipreußischen Parteien verschoben oder, wie in Baden eine knappe Mehrheit der Liberalen erhalten, die mit dem neuen Wahlgesetz verloren gehen würde.80 Die Polarisierung der politischen Landschaft schien unüberbrückbar, auch wenn der bayerische König Ludwig II. bei Eröffnung des Landtages 1870 in seiner Thronrede beide Kammern und das Land aufrief die Konflikte zum Wohle des Landes zu beenden. Dennoch setzten die Mehrheiten in der Abgeordnetenkammer und in der Kammer der Reichsräte einen Misstrauensantrag gegen Ministerpräsident Hohenlohe durch und erzwangen am 14. Februar 1870 seinen Rücktritt.81 Behandelt wurde im Februar und März 1870 auch der Staatshaushalt. Der Landtag versuchte sein Budgetrecht durchzusetzen und beschloss massive Kürzungen für den Militäretat.82 Mit der bewilligten Summe wollten sie ein Milizsystem nach Schweizer Muster durchsetzen und erörterten erneut die Frage nach dem Charakter des Schutz- und Trutzbündnisses. Auch im württembergischen Landtag forderten die Abgeordneten die Einführung eines Milizsystems, das den wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten des Landes am besten entsprechen würde. Ministerpräsident Varnbüler wurde auch zum Schutz- und Trutzbündnis befragt. Ihm wurde vorgeworfen das Parlament belogen zu haben nachdem Preußen in der Norddeutschen Zeitung den Offensiv- und Defensivcharakter des Bündnisvertrages herausgestellt hatte.83 Die Regierungen in München und Stuttgart zogen ihre Haushaltsentwürfe zurück und vertagten den Landtag.84 Die Kriegsminister in Bayern und Württemberg waren zu keinen Kürzungen ihres Haushaltes bereit. Der württembergische trat zurück, der bayerische bestand auf seinen Vorgaben. Die Eskalation in der spanischen Thronfrage veränderte die deutsche und europäische Lage. Für die süddeutschen Staaten stellte sich die Frage wie sie sich im Falle eines preußisch-französischen Krieg verhalten sollten, den Bündnisfall anerkennen oder neutral bleiben? Für die badische Regierung gab es aufgrund ihrer geographischen Lage und einer langen Grenze mit Frankreich keinen Zweifel, dass sie den Bündnisfall anerkennen würde. Anders in Bayern und Württemberg. Im bayerischen Ministerrat am 14, Juli plädierten alle Minister mit Ausnahme des Kriegsministers und des Handelsministers für Neutralität. Das Mehrheitsvotum und

80 Ausführlicher hierzu Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration 1789–1993. Teil IV: 1867–1871, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 152 (2017) 2018, 434f. 81 K. d. A. Bayern 1870/71, Prot. Sten. Ber. XIII. Sitzung v. 12.2.1870; K. d. RR Bayern Prot. 2. Sitzung v. 28.1.1870, 25–28. 82 Ebd., XXIV. Sitz. v. 30.3.1870, 544f. 83 K. d. A. Württemberg 1870–71, Prot. Sten. Ber. 16. Sitzung v. 11.3.1870, 294f.; ebd., 20. Sitzung v. 17.3.1870, 373f. 84 K. d. A. Württemberg 1869–70, Prot. Sten. Ber. 23. Sitzung v. 24.3.1870, 434 (Vertagung); K. d. A. Bayern 1870–71, Prot. Sten. Ber. XXIV. Sitzung v. 30.3.1870, 44.

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das Minderheitenvotum wurden als Antrag an Ludwig II. formuliert. Ministerpräsident Graf Bray und Kriegsminister Freiherr von Pranckh wurden am folgenden Tag zum König nach Berg gerufen. Ludwig II. unterstützte die Sicht seines Kriegsministers und ordnete am kommenden Tag die Mobilisierung der bayerischen Armee an. In einer leidenschaftlichen Rede vor dem Landtag am 19. Juli 1870 begründete Pranckh den Mehrbedarf für die Armee und den erforderlichen Militärkredit und warum Bayern auf der Seite Preußens in den Krieg eintreten müsse. Für einen großdeutsch orientierten Altbayern war dies erstaunlich: Ich bin es dem Lande und der Armee schuldig, so und nicht anders zu handeln. Wir müssen mitthun, wenn wir deutsche Bayern bleiben wollen, wir können niemals von den übrigen deutschen Staaten looskommen; wir müssen den Krieg mit annehmen, wenn wir nicht später französische Bayern werden oder in der Luft hängen bleiben wollen. Was es dann mit uns werden sollte, wissen wir aus den bisherigen Erfahrungen.85

Mit Blick auf eine Neutralität Bayerns meinte Pranckh, neutral bleiben hieße so viel als Bayern aufgeben und würden wir neutral bleiben, dan(n) mag es gehen wie es will, ob gut oder schlim(m), die Selbständigkeit Bayerns geht zu Grunde. 86

Der Eintritt in den Krieg gegen Frankreich wurde von der Bevölkerung begrüßt, wie eine Fotographie vom 19. Juli mit jubelnden Münchnern auf dem Platz vor der Feldherrenhalle und der Residenz in München dokumentiert. Die Menschen hofften, dass sich König Ludwig II., der aus Berg nach München zurückgekehrt war, sich am Fenster zeigen werde. Am 16. Juli war der württembergische Ministerpräsident Varnbüler nachts zu Besprechungen über die Bündnisfrage nach München gekommen. Württemberg schloss sich der bayerischen Entscheidung in den Krieg einzutreten an. Damit hatten alle Südstaaten den Casus foederis anerkannt. 7. VON MÜNCHEN NACH VERSAILLES 1870 Mit der Mobilisierung und den Erfolgen der deutschen Armeen im Elsaß und dem Vormarsch in Frankreich emotionalisierte sich die Öffentlichkeit. Sie forderte in Petitionen, Aufrufen, in Flugschriften und Zeitungsartikeln einen deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung. Der König von Preußen sollte deutscher Kaiser werden. In vielen süddeutschen Städten wurde die preußische Fahne gehisst, so auch in München. König Ludwig II. ordnete daraufhin an, dass nur die bayerische Fahne aufgezogen werden dürfe. Es kamen auch Forderungen hoch altes deutsches Land, das 1814/15 von Frankreich nicht zurückgewonnen werden konnte, nun zurückzuholen. 85 Rede vor dem Landtag, Redemanuskript mit Korrekturen: Freiherr von Pranckhsches Archiv Pux/Steiermark (in der Folge FPA) Fasc. XIII: Politische Reden und Korrespondenzen Siegmund II.; K. d. A. Bayern 1870–1871, Prot. Bd. III, Sten. Ber. 62. Sitzung v. 19.7.1870, 400f. 86 FPA Fasc. XIIa.

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Trotz aller Beteuerungen der preußischen Regierung die Selbständigkeit der süddeutschen Staaten nicht anzutasten engagierten sich preußische Regierungsmitglieder und nationalliberale Politiker in Reden, Resolutionen und Zeitungsartikeln für die Schaffung eines preußisch-kleindeutschen Reiches. Angesichts dieser Stimmungslage lud Bayern die Südstaaten und den Norddeutschen Bund zu einer Konferenz nach München ein, um die Frage eines neuen Bundes zwischen dem Norden und dem Süden auf der Grundlage von Artikel IV des Prager Friedens von 1866 zu verhandeln. Grundlage sollte die reformierte Bundesakte von 1815 sein. Baden, das am 11. September 1870 einen Antrag auf Aufnahme in den Norddeutschen Bund gestellt hatte nahm an der Konferenz zur „Bildung eines die sämmtlichen deutschen Staaten in sich begreifenden Verfassungsbündnisses“ nicht teil.87 Der preußische Staatsminister Delbrück und der neue württembergische Ministerpräsident Mittnacht waren mit den Konferenzergebnissen nicht unzufrieden. Bayern war mit dem Ergebnis nicht zufrieden, da es nur mehr um die Verfassung eines Allgemeinen Bundes gehen sollte, der den Norddeutschen Bund einschließen würde und nicht mehr um eine Änderung der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Preußen spielte auf Zeit und hoffte bei weiteren militärischen Erfolgen auf bessere Rahmenbedingungen für die Verhandlungen mit Bayern und Württemberg. Die preußische Blockadepolitik führte dazu, dass die süddeutschen Staaten ihre leitenden Minister zu Verhandlungen mit Bismarck, Roon und Delbrück in das Hauptquartier nach Versailles entsenden mussten. Bayern zögerte lange eine Regierungsdelegation zu entsenden, vor allem der bayerische Ministerpräsident wollte nicht reisen. Die Verhandlungen in Versailles zwischen den bayerischen Ministern und Bismarck standen mehrfach vor dem Abbruch. Während Baden, Hessen-Darmstadt und Württemberg in den ersten Novemberwochen den Beitritt zum neuen deutschen Bund vertraglich regelten, entschied sich Bayern nach zähen Verhandlungen erst am 23. November 1870 zu Beitritt in den neuen deutschen Bund. Die Ratifikation der Beitrittsverträge in den Landtagen in Karlsruhe, Stuttgart und Darmstadt erfolgte noch im Dezember 1870.88 Die bayerische Regierung hatte den Beitrittsvertrag nach eingehender Beratung im Dezember dem Landtag vorgelegt. Der Ministerrat ging davon aus, dass die Verträge im Landtag die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern verfehlen würde und stellte sich auf Neuwahlen zum Landtag ein.89 Im Januar 1871 kam es zu heftigen, leidenschaftlichen und emotional aufgeladenen Debatten, vor allem in der Kammer der Abge-

87 BHStAM KA MK I/1 Stck. I / Akt 1a Verhandlungsprotokoll; ebd. MKr I/1 Stck. 4 – WHStA E 41-44/ Anh. II Bü. 1 Nachlass Mittnacht. 88 K. d. A. Württemberg 1870–1872, Prot. Sten. Ber. 7. Sitzung v. 29.12.1870, 4. Sitzung v. 22.12.1870, 19–33; ebd., Beil. Bd. 1, Nr. 5,6, 14; ebd., Prot. Sten. Ber. 8. Sitzung v. 30.12.1870, 89f.; K. d. St. Beil. Bd. 1, Beil. 18–20; K. d. A. Baden 1870 Prot. Sten. Ber. 2. Sitzung v. 16.12.1870, 5–28; ebd., Beil. Nr. 6 z. Prot. der 1. Sitzung v. 13.12.1870, 30–34, Verfassung des Deutschen Bundes, 35–55. 89 BHStAM MA 659: Gesamtstaatsministerium – Ludwig II. v. 29.12.1870 „den Landtag betreffend“.

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ordneten. Der Berichterstatter Dr. Jörg von den Patriotenpartei empfahl die Ablehnung des Beitrittsvertrages,90 der das Ende Bayerns und seiner Selbst- und Eigenständigkeit und seine Mediatisierung bedeuten würde. Mit großem Pathos äußerte sich der Abgeordnete Dr. Ruland als er meinte, dass er „mit tief bewegter Seele“ wohl zum letzten Mal in diesem Hause das Wort ergreife treu der Mission, die ich mir vorgesetzt, die Verfassung, dieses heilige Werke, stets zu wahren und für dieselbe einzutreten, so lange es immer möglich ist! Es handelt sich in diesem Augenblicke um einen Ueberzeugungskampf.91

Für Ruland waren die Verträge mit Preußen und die Nordbundverfassung eine enorme Alterirung der Verfassung [Bayerns], Eine Mediatisierung der Krone und eine Beraubung des Volkes an den ihm gebührenden Rechten. Das, meine Herren, ist das Bild, welches ich mir bei den Verträgen gebildet habe. […] Täusche ich mich nicht und es hat Niemand noch den Beweis geliefert, daß eine Täuschung möglich ist, so ist es um Bayerns Selbständigkeit geschehen!92

Der Abgeordnete Kolb verwies auf die auf das bayerische Volk zukommenden Belastungen. Von allen werde anerkannt, daß wir durch das Eintreten in die Verträge die Lasten des bayerischen Volkes bedeutend vermehren. Von keiner Seite ist die Sache im Grund bestritten worden. Die Meinungen gehen nur auseinander in Bezug auf die Ziffer.93

Während Finanzminister von Pfretschner die Mehrbelastung durch die Bundespflichten auf 2,7 Millionen Gulden beziffert, „veranschlage [Ich] die Mehrbelastung auf stark das Doppelte, auf 5 ½ Millionen“.94 Die patriotische Kammermehrheit besaß aber kein schlüssiges Konzept für eine Zukunft Bayerns außerhalb der deutschen Länder und des neuen Reiches. In seinem Schlussappell beschwor der Berichterstatter mit Pathos seine Mitabgeordneten die Verträge abzulehnen: Er werde der letzte sein, der als letzter Redner in diesem Hause nach Maßgabe der bayerischen Verfassung sein Wort erhebe. „Wir begraben einen großen Todten, zu dem wir selber gehören“, Die bayerische Verfassung „wird hinab steigen in die Gruft, und eine bayerische Provincialvertretung wird an ihre Stelle treten“.95 Die Annahme der Verträge bedeute „in unserem deutschen Sprachgebrauch“ jetzt: “Die Unterordnung eines souveränen Landes unter die erbliche Centralgewalt einer fremden oder sage ich lieber einer anderen Dynastie“.96

90 K.d.A. Bayern 1870–71, Beilage Band IV, Beil. CV Bericht Dr. Jörg, 79–82; Minderheitengutachten: ebd., Beil. CV, 84–88. 91 K. d. A. Bayern 1870–1871, Prot. Sten. Ber. 72. Sitzung v. 11.1.1871, 127. 92 Ebd., 128. Hervorhebungen im Original. 93 Ebd., Prot. Sten. Ber. 73. Sitzung v. 12.1.1871, 133. 94 Ebd. 95 K. d. A. Bayern 1870–1871, Prot. Sten. Ber. 81. Sitzung v. 21.1.1871, S. 356 (auch: BHStAM MA 659). 96 Ebd., 357. Hervorhebungen im Original; Würden die Süddeutschen verspeist? So die Befürchtung in der Ausgabe von VANITY FAIR vom 7.1.1871 mit Blick auf König Wilhelm und

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Vanity Fair v. 7.1.1871 Nr. 114, 276 – Sovereigns, No. 8 (Privatbesitz).

Bismarck: „Les mangeois pour soi refraischir devant souper“ (VANITY FAIR Jan. 7, 1871 Nr. 114, 276 – Sovereigns, No. 8 – Privatbesitz).

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Vor der Schlussabstimmung erklärten 32 Abgeordnete der Patriotenpartei unter Führung von Dr. Sepp, dass sie den Verträgen zustimmen werden. Damit wurde bei der Abstimmung die erforderliche Zweidrittelmehrheit (102:48) erreicht.97 Der Gesamtbeschluss beider Kammern ging an König Ludwig II. Die Bündnisverträge wurden dann am 1. Februar 1871 im Gesetzblatt veröffentlicht.98 Bereits am 31. Januar hatte sich Ludwig II. in einer Proklamation an sein Volk gewandt.99 8. ERGEBNISSE UND AUSBLICK Am 18. Januar 1871, dem 170. Gründungstag der Proklamation des Königreichs Preußen im Jahre 1701, wurde in Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Der steinige Weg der Südstaaten in das deutsche Kaiserreich hatte ein Etappenziel erreicht. Ob mit der preußisch-kleindeutschen Reichsgründung die deutsche Frage gelöst wurde, wird heute wieder diskutiert. Thematisiert wird auch, ob mit 1870/71 das „deutsche Problem“, wie es die Nachbarn der Deutschen sehen, begann.100 Wenn ein Süddeutscher Bund zwischen den süddeutschen Königreichen Bayern und Württemberg und den Großherzogtümern Baden und Hessen letztlich nicht zustande kam, so spielten hierbei mehrere einzelstaatliche, innenpolitische, süddeutsche, deutsche und internationale Konstellationen und Einflüsse, aber auch persönliche, wirtschaftliche, konfessionelle und verfassungspolitische Faktoren eine Rolle: 1. Die geographische Lage. Diese bestimmte die sicherheitspolitische Situation Badens, Hessen-Darmstadts, Württembergs und Bayerns. Baden als direkter Nachbar Frankreichs war exponiert. Es hatte eine lange direkte Grenze mit Frankreich. Ohne Beistand konnte es diese im Kriegsfall nicht verteidigen. Bayern besaß mit der Pfalz eine unmittelbare Grenze zu Frankreich und sollte mit der Festung Landau Süddeutschland bei einem französischen Angriff verteidigen. Weniger exponiert waren das Großherzogtum Hessen mit Mainz und das Königreich Württemberg mit der ehemaligen Bundesfestung Ulm. Die Bemühungen der Südstaaten in der Zeit des Deutschen Bundes im Rahmen der Kooperation der deutschen Mittelstaaten eine Reform der Bundeskriegsverfassung zu erreichen scheiterte vor allem am Widerstand Preußens. 97 Ebd., 374f.; auch: Elmar Roeder (Hg.), Wider Kaiser und Reich 1871. Reden der verfassungstreuen bayerischen Patrioten in der bayerischen Kammern über die Versailler Verträge. Unveränderter Textneudruck der Originalausgabe von 1871. Mit Einführung, Anmerkungen, Nachwort und Register von Elmar Roeder, München 1977. 98 Gesetzblatt für das Königreich Bayern Nr. 22 v. 1.2.1871: „Königliche Declaration die Bündniß-Verträge betr.“ mit den Verträgen als Beilagen I-III. 99 BHStAM MA 659 Königliche Proklamation v. 31.1.1871. 100 Hierzu Wolf D. Gruner, Deutschland in Europa 1750 bis 2007: Vom deutschen Mitteleuropa zum europäischen Deutschland, Cluj-Napoca 2009, 33ff.; Heinrich Lutz/Helmut Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, München Wien 1982, 23ff.

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2. Die süddeutschen Staaten hatten eine sich seit dem frühen 19. Jahrhundert weiter ausprägende regionale und eigenstaatliche Identität ausgebildet. Durch eine über das Administrative hinausreichende Integrationspolitik hatte sie die alten und neuen Gebietsteile zusammengeführt, u.a. durch konstitutionelle Verfassungen 1818–1820.101 Sie bildeten jedoch keine geschlossene Einheit. Wirksam wurden auch seit 1815 und verstärkt seit 1848/49 ausbildende negative Nachbarschaftsfaktoren. So befürchtete u.a. Baden von den großen Nachbarn Bayern und Württemberg annektiert zu werden. Die unterschiedliche Größe der Südstaaten warf immer wieder die Frage nach der Führungsrolle auf. Bayern als drittgrößter Staat des Deutschen Bundes verstand sich als natürliche Führungsmacht in Süddeutschland. Die unterschiedliche Größe, das Bevölkerungspotential und die Finanz- und Wirtschaftskraft behinderten letztlich vor dem Ende des Deutschen Bundes eine engere Zusammenarbeit. Unter den neuen politischen Rahmenbedingungen zwischen der Zerschlagung des Deutschen Bundes 1866 und dem Eintritt der süddeutschen Staaten in den neuen Deutschen Bund 1870 veränderten sich die Konstellationen nur geringfügig. Regionale Identität, Größe des Territoriums, Führungsrolle und die Nachbarschaftsfaktoren verhinderten auf süddeutscher Ebene mit, dass der im Prager Frieden von 1866 vorgesehenen Süddeutsche Bund zustande kommen konnte, der mit dem Norddeutschen Bund ein völkerrechtliches Verhältnis eingehen sollte. 3. Die süddeutschen Staaten waren im Gegensatz zu Preußen und anderen norddeutschen Staaten konstitutionelle Staaten. Undenkbar war daher in den Süddeutschen Staaten ein Verfassungskonflikt wie in Preußen. In Preußen regierte Bismarck bis 1866 ohne Billigung des Staatshaushaltes durch das preußische Abgeordnetenhaus. Erst im September 1866 sicherte dieses der preußischen Regierung „Indemnität“ (Straflosigkeit) zu und beendete den Verfassungskonflikt. So trat in Bayern 1860 der Kriegsminister zurück als er den Pensionsetat für die Modernisierung der Armee heranziehen wollte. So konnte er eine Ministeranklage des Landtages verhindern. Baden hatte seit 1860 eine durch die Landtagsmehrheit gestellte Regierung. Die Verfassungsordnung und die sich in Süddeutschland ausbildende Staatsbürgergesellschaft eröffneten daher größere Einwirkungsmöglichkeiten von außen über die Presse und andere Organe

101 Hierzu u.a. Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil I: 1789–1848, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 149 (2013) 2014, 59–123, S. 65ff. mit weiterführender Literatur; Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799– 1825), in: Max Spindler/Alois Schmid (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte. Bd. IV.1: Das neue Bayern von 1800 bis zur Gegenwart, München 22003, 1–127; Bernhard Mann. Württemberg 1800 bis 1866, in: Hansmartin Schwarzmaier (Hg.). Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte. Bd. 3: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Ende der Monarchien, Stuttgart 1992, 235–251; Hans-Peter Ullmann, Baden 1800–1830, in: ebd., 25–77; Hans Fenske, Allgemeine Geschichte Südwestdeutschlands im 19. Jahrhundert, in: ebd., 1–25.

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auf die Öffentlichkeit. Bismarck nützte diese Möglichkeiten geschickt zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und zur Stimmungsmache. Zu diesem Zwecke finanzierte er auch Artikel in süddeutschen Zeitungen, beispielsweise der Augsburger Allgemeinen. In der Luxemburger Krise 1867 und in den weiteren internationalen Krisen vor dem Krieg gegen Frankreich hat Bismarck diese Chancen ausgennutzt und so eine engere süddeutsche Zusammenarbeit behindert. Die Opposition in den süddeutschen Staaten, die seit den Wahlen zum Zollparlament 1868 und bei den Landtagswahlen 1868/69 stärkeres Gewicht erhielt, benutzte das Bild vom militaristischen, zentralistischen, protestantischen Preußen als innenpolitisches Kampfmittel. Sie schürte die Furcht vor weiteren preußischen Annexionen, vor der Mediatisierung Süddeutschlands und von massiven Steuererhöhungen nach einem Eintritt in den preußischen Norddeutschen Bund. Das negative Preußenbild wurde reaktiviert. Mit den Warnungen vor einer „Verpreußung“ Süddeutschlands konnten die Ultramontanen, die Patrioten, die Großdeutschen und die Demokraten Wählerstimmen gewinnen, vor allem auf dem Land. Mit ihren Mehrheiten blockierten sie seit 1868/69 die notwendigen Reformgesetze der liberalen Landesregierungen oder erzwangen zumindest Zugeständnisse in einigen ihnen wichtigen Politikbereichen. Die Regierungen der süddeutschen Staaten verfolgten im Frühjahr und Sommer 1870 u.a. eine innenpolitisch motivierte Politik bei ihrer Entscheidung an der Seite des Norddeutschen Bundes in den Krieg gegen Frankreich einzutreten. Die historische Forschung bezeichnete dieses Verhalten mit Blick auf Bismarck und das deutsche Kaiserreich als „sozialimperialistisch“.102 Die Anerkennung des Bündnisfalles versprach die Blockade ihrer Reformpolitik durch die Landtagsmehrheiten zu überwinden. Dies betraf vor allem die Militärverfassung. Die Landtage hatten über das Budgetbewilligungsrecht versucht die bestehende Wehrpflichtarmee durch ein Milizsystem nach Schweizer Muster zu erzwingen. Zwischen Krone, Regierung und Landtag war zudem ein Verfassungskonflikt ausgebrochen. Bei der Anerkennung des Casus foederis im Juli 1870 kam hinzu, dass vor allem Bayern und Württemberg durch den Eintritt in den Krieg gegen Frankreich glaubten, ihre staatliche Eigenständigkeit am besten erhalten zu können. Eine Neutralität der süddeutschen Staaten von der der österreichische Staatskanzler Freiherr von Beust diese zu überzeugen versuchte, hätte bei einem französischen Sieg Gebietsansprüche und Kriegskontributionen bedeutet. Preußen hätte eine süddeutsche Neutralität als Verrat an der deutschen Nation betrachtet und den Süden durch weitere Annexionen und andere einschneidende Maßnahmen büßen lassen. Die Ablehnung des Bündnisfalles durch alle Süddeutschen Staaten oder durch die beiden süddeutschen Königreiche würde den Süden zum

102 U.a. Hans-Ulrich Wehler, Sozialimperilismus, in: ders. (Hg.), Imperialismus, Königstein 1970, 83–96.

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Verlierer machen. Aus politischem Kalkül sprach daher viel für das Argument des bayerischen Kriegsministers Pranckh – das galt auch für Württemberg – dass man lieber zu preußischen als zu französischen Bayern gemacht werden möchte. Es war also nicht nationale Begeisterung oder deutsche Pflicht, die vor allem Bayern und Württemberg zur Anerkennung des Bündnisfalles bewogen, sondern politisches Kalkül zur Wahrung der Souveränität und staatlichen Existenz. 8. Nicht vorher zu sehen war allerdings für die süddeutschen Regierungen die emotional-nationale Komponente des Krieges in der deutschen Öffentlichkeit. Im Sog der Siege der deutschen Waffen wurde die Forderung nach der Bildung eines Deutschen Reiches lauter. Die Kaiserfrage war bereits im Frühjahr 1870 verschiedentlich in diplomatischen Kanälen erörtert worden ohne jedoch bei den großen süddeutschen Regierungen auf Zustimmung zu stoßen. Mit den Siegen in Frankreich wurde die Idee einen Hohenzollern zum Kaiser eines vereinigten Deutschland zu wählen in der Öffentlichkeit aufgegriffen. Als Kriegsbeute sollten auch verlorene ehemalige Territorien des Reiches in den deutschen Reichsverband zurückkehren. Es war schließlich der bayerische König Ludwig II., der als Vertreter des nach Preußen größten deutschen Staates und als Vertreter einer alten Dynastie den Kaiserbrief nach Versailles schickte. 9. Nach dem Kriegsausbruch im Juli 1870 verhinderte die Uneinigkeit und die Interessendivergenz der Südstaaten es erneut sich auf eine gemeinsame Verhandlungsgrundlage mit dem Norddeutschen Bund zu verständigen. So verspielten sie die Chancen, einen Allgemeinen Deutschen Bund als Verfassungsdach für einen Südbund und einen Norddeutschen und zu schaffen. Ein neuer Allgemeiner Deutscher Bund hätte wohl stärker die Eigenständigkeit der deutschen Staaten bewahrt und hätte seinem Charakter nach mehr Elemente eines Bundesstaates des föderativen Typs enthalten. So wäre das deutsche Gleichgewicht eher bewahrt worden. Sicherlich müssen bei der Analyse der Verhandlungen für ein gemeinsames deutsches Verfassungsband die Machtstrukturen in Deutschland angemessen berücksichtigt werden. Im Herbst 1870 wären bei einer gemeinsamen, abgestimmten Haltung und Zusammenarbeit der süddeutschen Staaten bessere Ergebnisse für einen neuen Deutschen Bund möglich gewesen. Dies zeigen auch die entsprechenden Regierungsakten. Aus dem Blickwinkel der weiteren deutschen und europäischen Entwicklungen hätte ein neuer Deutscher Bund, ein reformierter Bund auf der Grundlage der Bundesakte von 1815 statt eines Beitritts der Südstaaten über den neuen Deutschen Bund zum deutschen Kaiserreich größeres Gewicht gehabt. 10. Für Bismarck war mit dem Eintritt der Südstaaten in den neuen deutschen Bund, der zum deutschen Kaiserreich mutierte, die preußische Mission in Deutschland erfüllt. Auch noch in Teilen der neueren historischen Forschung und leider vielfach auch nach wie vor in Schulbüchern wird vom „Reichsgründer“103 Bismarck und vom „Bismarckreich“ gesprochen. Wir übersehen oder

103 Z.B. Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, München 1991 (Berlin 1989).

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verdrängen dabei, dass sich die Gründung des kleindeutschen Kaiserreiches nicht im luftleeren Raum vollziehen konnte. Sie war in hohem Maße, wie alle Veränderungsprozesse im Kernland Europas, von den europäisch-internationalen Rahmenbedingungen abhängig und beeinflusst. Hinzu kamen für den Entstehungsprozess des kleindeutschen Kaiserreiches in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende komplexe ‚innersüddeutsche‘ und auch einzelstaatliche Einflussgrößen. In ihrer Summe ermöglichten sie es erst, dass die Zeitgenossen und die Nachwelt Bismarck mit den Attributen ‚Reichsgründer‘ und ‚weißer Revolutionär‘104 belegen konnten.105 Nach der Entlassung Bismarcks und nach seinem Tod setzte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine BismarckDenkmal und Bismarck-Turm Euphorie ein. Sie konzentrierte sich in den süddeutschen Staaten auf regionale Schwerpunkte. So finden sich in Bayern beispielsweise Bismarckdenkmäler vor allem in Franken und erst im 20. Jahrhundert in ganz Bayern.106 11. Die Feststellung, dass es nach 1866 auf längere Sicht für die Südstaaten keine Alternative zum Nationalstaat gegeben habe ist in dieser Form nicht mehr haltbar. Wie neuere Forschungen zeigen hätte das Band der Nation auch mit anderen verfassungs- und staatsrechtlichen Organisationsstrukturen, wie z.B. einem reformierten, funktionsfähigen Deutschen Bund,107 einem engeren Norddeutschen Bund bzw. Süddeutschen Bund unter dem Dach eines weiteren Allgemeinen Deutschen Bundes, geknüpft werden können. Das hätte der Idee der föderativen Nation besser entsprochen. Der Realpolitiker Bismarck wäre mit einer derartigen Lösung der deutschen Frage auch zufrieden gewesen, wäre dies von den Südstaaten und den unbeteiligten europäischen Mächten als einzig tragbare Regelung gefordert und gebilligt worden.

104 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär; Henry A. Kissinger, The White Revolutionary: Reflections on Bismarck, in: Daedalus 97(3)/1968, 888–924. 105 Neuerdings auch: Eberhard Kolb, Otto von Bismarck. Eine Biographie, München 2015; HansChristof Kraus, Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen, Stuttgart 2015; Christoph Nonn, Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert, München 2015; Ulrich Lappenküper (Hg.), Otto von Bismarck und das ‚lange 19. Jahrhundert‘, Paderborn 2017. 106 Hierzu Gruner. Süddeutsche Geschichtslandschaften IV, 390f. 107 Hierzu u.a. Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation, 361ff, 565ff.; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund, 96ff.

HARTER PREXIT Der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund 1866 Jürgen Müller Der Deutsche Bund, der 1815 auf dem Wiener Kongress als zentrale Säule einer mitteleuropäischen Friedensordnung geschaffen worden war, wurde ein halbes Jahrhundert später von einer seiner beiden Vormächte in Frage gestellt. Es kam zu einer tiefen politischen Krise, die damit endete, dass Preußen seinen Austritt aus dem Deutschen Bund erklärte, worauf ein verlustreicher innerdeutscher Krieg folgte, der die politischen Verhältnisse nicht nur in Deutschland, sondern in Europa insgesamt grundlegend verändern sollte. Von der lange Zeit tonangebenden kleindeutsch-nationalen Geschichtsschreibung sind der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund und die dadurch bewirkte Auflösung des Deutschen Bundes als eine uneingeschränkt positive Entwicklung dargestellt worden. Dass dies den Bruch internationaler Verträge und die Zerstörung der mitteleuropäischen Friedensordnung implizierte, wird dagegen seltener kritisch analysiert. Die Quellen zeigen indessen, dass die Zerstörung des Deutschen Bundes von Bismarck bewusst und gezielt herbeigeführt und inszeniert wurde, um preußische Großmachtinteressen – und nicht in erster Linie nationale Interessen – durchzusetzen. Bundesrechtlich war der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund nicht zulässig, denn es gab in den Bundesgrundgesetzen keine Austrittsklausel. Der Bund war nach Artikel 5 der Wiener Schlussakte vielmehr ein „unauflöslicher Verein“, aus dem keinem Mitglied der Austritt gestattet war. Insofern war das preußische Vorgehen ein „harter Prexit“: die bundesrechtlich unzulässige und daher mit Gewalt erzwungene Form, aus dem Deutschen Bund auszutreten. Die damit einhergehende Zerstörung der mitteleuropäischen Friedensordnung hatte zur Folge, dass an die Stelle der Politik des Kompromisses und des Interessenausgleichs nunmehr wieder eine europäische Großmachtpolitik trat, die nicht davor zurückscheute, die jeweils eigenen Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Der „harte Prexit“ Preußens ermöglichte im Zentrum Europas und damit in Deutschland den Rückgriff auf die unberechenbare „ultima irratio“ der Politik – den Krieg.

1. EINLEITUNG Wie unschwer zu erkennen, ist der Titel dieses Beitrags offenkundig von den aktuellen Ereignissen in der Europäischen Union inspiriert. Nach sechzigjährigem Bestand befindet sich der europäische Staatenverbund, der nach den Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründet wurde, um die Konflikte zwischen den europäischen Nationen zu überwinden und eine stabile Friedensordnung zu schaffen, derzeit in einer tiefen Krise.1 Mit dem föderativen Zusammenschluss der europäischen Staaten hatte man gehofft, die Rivalitäten und das Machtstreben der Einzelstaaten, die regelmäßig in Konfrontationen und Kriege gemündet waren, zu 1

Sie dazu z.B. die Beiträge in: Politikum: Analysen – Kontroversen – Bildung 1/2017, 4–69.

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überwinden und die Entwicklung des Kontinents dauerhaft in die Bahn einer friedlichen Kooperation zu leiten.2 Wenn nun ein großer Mitgliedsstaat die EU verlassen möchte, und wenn darüber hinaus in zahlreichen anderen Staaten europakritische, teilweise sogar offen europafeindliche Stimmen laut werden, so wird damit nicht nur die Idee, sondern auch die Realität eines friedlichen Europa in Frage gestellt.3 Die Parallele zur Situation im Deutschen Bund zu Beginn der 1860er Jahre liegt auf der Hand. Der Bund der deutschen Fürsten und Freien Städte, der 1815 auf dem Wiener Kongress nach einem Vierteljahrhundert der den ganzen Kontinent überziehenden Kriege und Verwüstungen als zentrale Säule einer neuen mitteleuropäischen Friedensordnung geschaffen worden war4, wurde ein halbes Jahrhundert später von einer seiner beiden Vormächte in Frage gestellt. Es kam zu einer tiefen politischen Krise im Deutschen Bund, die damit endete, dass die preußische Regierung den Austritt ihres Staates aus dem Bund erklärte, worauf ein verlustreicher innerdeutscher Krieg folgte, der die politischen Verhältnisse nicht nur in Deutschland, sondern in Europa insgesamt grundlegend verändern sollte. Es soll im Folgenden kein systematischer Vergleich zwischen dem derzeit beabsichtigten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und dem 1866 erfolgten Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund unternommen werden. Viel-

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Aus der Fülle der Literatur zur Gründung und Entwicklung des geeinten Europa siehe vor allem: Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt am Main 2014; Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 3., überarb. und aktual. Aufl., Stuttgart 2009; Jürgen Mittag, Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008; Desmond Dinan, Europe Recast. A History of European Union, Basingstoke/London 2004; Wolf D. Gruner/Wichard Woyke, Europa-Lexikon. Länder – Politik – Institutionen, München 22007; Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek b. Hamburg 32018, bes. 661ff. (Europäische Union im Zeichen einer mehrdimensionalen Komplexitätskrise der Gegenwart). Umfassende Nachschlagewerke: Werner Weidenfeld (Hg.), Europa-Handbuch, Gütersloh ³2004; Jan Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union, Baden-Baden 52015; Desmond Dinan (Hg.), Encyclopedia of the European Union, Basingstoke 1998. Zu den aktuellen Diskussionen um den britischen „Brexit“ und seine möglichen Auswirkungen siehe das Themendossier „Brexit“ der Stiftung Wissenschaft und Politik, https://www.swpberlin.org/swp-themendossiers/europaeische-integration-in-der-krise/brexit/ [letzter Abruf: 4.9.2017], sowie das Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung: „Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU“, http://www.bpb.de/internationales/europa/brexit/ 229517/moegliche-folgen-des-brexit [letzter Zugriff: 11.9.2017]; Paul J.J. Welfens, BREXIT aus Versehen: Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU, Wiesbaden 2017. Zur Bundesgründung und zum Wiener Kongress siehe: Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014; Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien/Köln/Weimer 2014; Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013; Peter Burg, Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, München 1984; eine detaillierte Darstellung der Gründungsgeschichte bietet Eckhardt Treichel in seiner Einleitung zum Quellenband: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Lothar Gall. Abt. I: Quellen zur Entstehung und Frühgeschichte des Deutschen Bundes 1813–1830. Bd. 1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815, München 2000, XI–CXXXVII.

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mehr soll es darum gehen, die Ereignisse von 1866 kurz zu rekapitulieren, ihre unmittelbaren Auswirkungen wie auch ihre mittel- und langfristigen Folgen darzulegen und den gesamten Vorgang historisch zu bewerten. Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist – wie eingangs dargelegt – von den aktuellen politischen Entwicklungen in Europa beeinflusst. Dem möglicherweise erhobenen Einwand, dass dies ein unhistorisches, wissenschaftlich nicht akzeptables Verfahren ist, möchte ich zum einen ganz allgemein mit dem Hinweis darauf begegnen, dass jede historische Erkenntnis von dem Zustand des Zuschauers, also des Historikers abhängt. Ich berufe mich hier auf die Theorie des Sehepunktes, die Johann Martin Chladenius in seiner „Allgemeinen Geschichtswissenschaft“ von 1752 formuliert hat. Demnach richtet sich „die Vorstellung oder das Anschauen der Geschichte nach jedes Zuschauers seinem Stande“. Eine Geschichte „ohne alle Sehepunkte“ zu erzählen, ist demnach gar nicht möglich.5 Zum anderen basieren auch die historischen Analysen und Urteile, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im Grunde bis heute die allgemeine Anschauung und Einschätzung der Ereignisse von 1866 geprägt haben, auf den spezifischen Sehepunkten der Wissenschaftler, die sich damit befasst haben. Unser Geschichtsbild wird im Hinblick auf 1866 weithin von einer Perspektive bestimmt, die ich für problematisch, zumindest aber für unvollständig halte, und es sind gerade die aktuellen Entwicklungen in Europa, die den Blick für dieses Defizit der dominierenden historischen Erzählung über Preußen, den Deutschen Bund und die Ereignisse von 1866 schärfen können. 2. DER BLICK DER HISTORIKER AUF 1866: EINE PROSPEKTIVE BZW. ANTIZIPATORISCHE PERSPEKTIVE Von der lange Zeit tonangebenden kleindeutsch-nationalen Geschichtsschreibung, die man auch als „Borussianismus“ bezeichnen kann6, sind der Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund und die dadurch bewirkte Auflösung des Deutschen Bundes als eine uneingeschränkt positive Entwicklung dargestellt worden. Diese Auf-

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Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, Leipzig 1852, Zitate Kap. 5, §8 und Kap. 6, §33. Hier zitiert nach: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, 13 und 16. Siehe dazu Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders. (Hg.), Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 103–160; Robert Southard, Droysen and the Prussian School of History, Lexington 1995.

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fassung gründete sich auf die Überzeugung, dass der Deutsche Bund eine „Mißgeburt“7 gewesen sei, die den Anforderungen „eines realen Staatswesens“ nicht entsprochen habe8. Der Bund, so haben es auch prominente Historiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts gesehen, bildete als „Negation des nationalstaatlichen Gedankens“9 ein Hindernis auf dem „Weg zum Nationalstaat“10. Noch vor zwanzig Jahren urteilte ein prominenter Verfassungshistoriker, die Gründung des Deutschen Bundes sei „keineswegs eine normale Entwicklung“ gewesen, sondern ein Abweichen von der historischen Einheitstradition.11 Ähnliche Einschätzungen lassen sich von Heinrich von Treitschke über Erich Marcks bis hin zu Thomas Nipperdey finden.12 Letzterer geht sogar so weit, den Deutschen Bund rückblickend als „vielleicht ein Unglück für die deutsche Geschichte“ zu bezeichnen.13 Es hat gewiss auch andere Stimmen gegeben, die den Deutschen Bund günstiger beurteilten, ich nenne hier nur Franz Schnabel, Heinrich Ritter von Srbik und in jüngerer Zeit Helmut Rumpler, Wolfram Siemann, Dieter Langewiesche und Wolf D. Gruner.14 Gleichwohl überwiegt bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Ende des Deutschen Bundes 1866 – ganz zu schweigen vom allgemeinen historischen Bewusstsein – die Auffassung, die Auflösung des deutschen Staatenbundes sei eine im Grunde unvermeidbare, wenn nicht gar wünschenswerte Entwicklung gewesen, die den Weg freigemacht habe für die Begründung eines deutschen Nationalstaats, der wenige Jahre danach unter preußischer Führung im Deutschen Reich von 1871 Gestalt annahm. Dieser Auffassung liegt meines Erachtens eine prospektive, auf das Zukünftige gerichtete Perspektive zugrunde. Man könnte auch von einer antizipatorischen Geschichtsbetrachtung sprechen, die in Vorwegnahme des später eingetretenen Ereignisses – der „Reichsgründung“ – die einige Jahre zuvor gefällte militärische und politische Entscheidung von 1866 nicht als historisch kontingent, sondern als folgerichtig im Hinblick auf die Verwirklichung eines logischen Entwicklungspfades einstuft. Dem entspricht die Charakterisierung

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Hans von Zwiedineck-Südenhorst, Deutsche Geschichte von der Auflösung des alten Reichs bis zur Errichtung des neuen Kaiserreiches (1806–1871), 3 Bde., Stuttgart/Berlin 1897–1905, hier Bd. 1, 511. Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., 7 Bde., München 1889–1894, hier Bd. 1, 52. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart/Berlin/Köln ²1990, 76. Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, München 1985. Hans Boldt, Die Reichsverfassung vom 28. März 1849. Zur Bestimmung ihres Standorts in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hg.), 1848 – Die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg 1998, 49–69, Zitat 56. Siehe dazu mit entsprechenden Belegen: Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866 (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 78.), München 2006, 52–57. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 97. Siehe dazu Müller, Der Deutsche Bund, 57–60.

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der 1860er Jahre oder gar der Epoche von 1848 bis 1879 als sogenannte „Reichsgründungszeit“15, in der dann auch mit dem Deutschen Bund ein Hindernis auf dem „Weg zum Nationalstaat“ beseitigt wurde, um noch einmal Hagen Schulze zu zitieren. Die Kommentierung der Bundesauflösung durch namhafte Historiker belegt diese antizipatorische Perspektive auf 1866 auf bemerkenswert eindeutige Weise. Heinrich von Sybel stellte in seiner monumentalen Darstellung „Die Begründung des Deutschen Reiches“ die Konflikte in der Frankfurter Bundesversammlung als „Todeskampf“ einer „Unverfassung“ dar und wertete den Bundesbruch und den nachfolgenden Krieg als ein patriotisches Werk, das die Schaffung der nationalen Einheit durch Preußen ermöglich habe.16 Vierzig Jahre später pries Erich Marcks die „Tat von 1866“ ebenfalls als wichtigen Schritt im Prozess der nationalen Reichsgründung.17 Und noch einmal ein halbes Jahrhundert danach sprach Thomas Nipperdey, der gemeinhin nicht als Verfechter revolutionärer Umstürze gilt, von einem „Recht auf Revolutionierung des Bundes“ und lieferte gleich anschließend eine Rechtfertigung für den Austritt Preußens aus dem Bund: „Indem Preußen sich zum Promotor dieses Rechtes machte, gewann es die nationale Legitimität seines Bundesbruches, seines Krieges.“18 Die durch den Bundesbruch und den innerdeutschen Krieg herbeigeführte „kleindeutsche Lösung“, so resümiert Nipperdey, „hatte die Logik der geschichtlichen Wahrscheinlichkeit für sich“.19 Von „einer gewissen Folgerichtigkeit“ spricht im Hinblick auf die Entwicklungen in den 1860er Jahren und den Aufstieg Preußens, der durch den Sieg im Konflikt von 1866 entscheidend gefördert wurde, auch Hans-Ulrich Wehler in seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“. Auch hier wird der Untergang des Deutschen Bundes als ein kaum vermeidbares Ergebnis der historischen Entwicklung präsentiert.20 Es ist bemerkens-

15 Der Frage, wann genau der Begriff geprägt wurde, ist bisher offenbar noch nicht nachgegangen worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er jedenfalls in der Forschung zu einer gängigen Bezeichnung, die vielfach bis heute weitgehend unreflektiert verwendet wird. Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848–1881, Köln/Berlin 1966; ders. (Hg.), Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879. (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 26.), Köln/Berlin 196; aktuell: Andreas Heinemann, Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen zur Reichsgründungszeit, Duisburg 2014; Wolfgang Radtke, Brandenburg im 19. Jahrhundert (1815–1914/18). Die Provinz im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum, Berlin 2016, 100–115: „Die Provinz Brandenburg in der Reichsgründungszeit und Bismarckära“. 16 Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches, Bd. 2, 517. 17 Erich Marcks, Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807–1871/78, 2 Bde., Stuttgart/Berlin 1936, Zitat Bd. 2, 223. 18 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, 784. Die Aussage ist ein klassischer Zirkelschluss: Preußen hatte das von ihm selbst einseitig proklamierte Recht zum Bundesbruch, weil es sich zum Vollstrecker des nicht weiter begründeten oder zu begründenden Rechtes auf Revolutionierung des Bundes erklärte. 19 Ebd., 792. 20 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, 334.

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wert, dass sich mit Nipperdey und Wehler zwei der prominentesten deutschen Historiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die ansonsten in jeder Hinsicht Antipoden waren, in der Bewertung des Endes des Deutschen Bundes weitgehend einig waren. Gewiss ist einzuräumen, dass sich Nipperdey und Wehler wie auch zahlreiche andere Historiker der jüngeren Zeit nicht so plakativ und einseitig äußern, wie dies die wenigen ausgewählten Zitate nahelegen könnten. Die Grundanlage der meisten älteren wie neueren Darstellungen zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert scheint mir aber gleichwohl darauf hinzudeuten, dass die Nationalstaatsbildung weithin nicht nur als eine historisch legitime, sondern als eine logische, nahezu alternativlose Entwicklung angesehen wird, und dass weiterhin dieser Prozess seinen Kulminationspunkt in der sogenannten Reichsgründung von 1870/71 fand, die wiederum ohne die vorherige Zerstörung des Deutschen Bundes nicht gedacht werden kann. Ich spreche hier bewusst von „Zerstörung“ und verwende damit einen Begriff, der die destruktive und disruptive Komponente der Ereignisse von 1866 betont. In der deutschen Historiographie wird dieser Begriff eher selten benutzt21, man spricht gemeinhin vom „Ende“22, der „Auflösung“23 oder dem „Untergang“24 des Deutschen Bundes. Ebenso ist des Öfteren – wie auch im Titel dieses Beitrags – vom „Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund“ die Rede25, wobei aber durchaus betont wird, dass dieser „Austritt“ rechtlich und politisch einen „Bundesbruch“ von Seiten Preußens bedeutete26. Vor allem Jürgen Angelow hat in seiner kompakten Darstellung über den Deutschen Bund darauf hingewiesen, dass der Bundesbruch durch Preußen „inszeniert“ wurde und dass der preußische Ministerpräsident Bismarck 1866 „nicht mehr an einer Zügelung des Konfliktes interessiert war und stattdessen eine eskalationsfördernde Konfliktstrategie betrieb“.27 Wie diese Eskalation hin zum politischen Bruch und zur militärischen Konfrontation im Jahr 1866 von 21 Als einer der wenigen Historiker hat Harm-Hinrich Brandt diesen Begriff verwendet: HarmHinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation. Stuttgart 1999, Kap VI, 129 ff.: „Die Zerstörung des Deutschen Bundes“. Brandt bestreitet das Recht Preußens zur Sezession vom Deutschen Bund und sieht im Austritt aus dem Bund einen „revolutionären Gewaltakt“ (168). 22 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871. (Neue Deutsche Geschichte, Bd. 7.), München 1995, Kap. IV.6: „Die ,Einigungskriege‘ von 1864/1866 und das Ende des Deutschen Bundes als nationaler Wendepunkt“. 23 Friedrich Lenger, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung (1849–1870er Jahre). (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 15.), Stuttgart 2003, 314; Müller, Der Deutsche Bund, Kap. I.9: „Die Auflösung des Deutschen Bundes 1863–1866“. 24 Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, 99; ebd., Kap. 8: „Das Ende der mitteleuropäischen Föderativordnung Deutscher Bund 1866“, wobei hier aber auch von der „Zerschlagung des Herzstücks des multipolaren und innerdeutschen Gleichgewichts von 1815“ gesprochen wird (97). 25 Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung 1849–1871, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011, 205. 26 So z. B. Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, Darmstadt 2003, 148 ff. 27 Ebd., 148.

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der preußischen Regierung bewusst und gezielt betrieben und damit die Zerstörung des Deutschen Bundes herbeigeführt wurde, wird im folgenden Abschnitt skizziert werden. Ein aktuelles Schlagwort der politischen Diskussion in Europa aufgreifend, möchte ich diesen Prozess als „harten Prexit“ bezeichnen. 3. DIE HERBEIFÜHRUNG DES „HARTEN PREXIT“ IM SOMMER 1866 Für den preußischen Ministerpräsidenten Bismarck war der Deutsche Bund schon seit den Jahren seiner Zeit als preußischer Bundestagsgesandter in Frankfurt (1851– 1858) eine Einrichtung, die mittel- und langfristig den preußischen Interessen entgegenstand.28 In zahllosen Äußerungen, die seine Berichte und Korrespondenzen wie ein roter Faden durchziehen, formulierte er heftige Kritik am deutschen Staatenbund. So schrieb er im Jahr 1857 an den General Leopold von Gerlach, man dürfe nicht „auf den Sand des Deutschen Bundes bauen“, wenn Preußen als Großmacht handeln wolle29. Seit dieser Zeit arbeitete Bismarck auf den Bundesbruch hin, so Arnold Oskar Meyer30, der es für unzweifelhaft hielt, dass der preußische Diplomat schon im Jahr 1857 „die Zerschlagung des Bundes für die wünschenswerteste, für die allein gesunde Lösung des deutschen Rätsels hielt“31. Zahlreiche Äußerungen können zum Beleg für diese These herangezogen werden, so etwa die berühmte Bemerkung von 1859, der Bund sei „ein Gebrechen Preußens“, dass man gegebenenfalls „ferro et igni“ werde heilen müssen.32 Die tief verwurzelte Überzeugung, dass der Deutsche Bund die Verwirklichung der preußischen Interessen behinderte und seiner Machtentfaltung in Deutschland und damit gleichzeitig auch in Europa entgegenstand, ließ bei Bismarck also schon in den 1850er Jahren den Wunsch aufkommen, sich aus den Fesseln des Bundesrechts zu lösen. Die Chance, dieses Bestreben in reale Politik umzusetzen, eröffnete sich aber erst nach seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten im Herbst 1862. Und Bismarck zögerte nicht lange damit, in der Bundesversammlung auf Konfrontationskurs zu gehen. Schon im Januar 1863 drohte die preußische Regierung im Streit über einen österreichisch-mittelstaatlichen Reformantrag offen mit dem Bundesbruch bzw. dem Austritt Preußens aus der Bundesversammlung, sofern 28 Siehe dazu Jürgen Müller, Bismarck und der Deutsche Bund. (Friedrichsruher Beiträge, Bd. 11.), Friedrichsruh 2000. Die konfrontative Haltung Bismarcks während seiner Bundesgesandtenzeit in Frankfurt hat bereits vor neunzig Jahren Arnold Oskar Meyer ausführlich untersucht: Arnold Oskar Meyer, Bismarcks Kampf mit Österreich am Bundestag (1851–1859), Berlin 1927. Meyer interpretierte die preußische Bundespolitik ganz in der borussianischen Tradition als einen „Abwehrkampf“ gegen die angeblich offensive, auf die Demütigung Preußens abzielende Politik Österreichs (ebd., 66–69); den Deutschen Bund verurteilte Meyer als „das Grab der nationalen Hoffnungen (ebd., 13). 29 Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, 15 Bde., Berlin 1924–1935, Bd. 14/1, 466, Bismarck an Leopold von Gerlach, 2. Mai 1857. 30 Meyer, Bismarcks Kampf, 211. 31 Ebd., 399, ebd., 499. 32 Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 3, 38, Bismarck an Schleinitz, 12. Mai 1859.

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dieser Antrag in der Bundesversammlung mit einer Stimmenmehrheit gegen Preußen angenommen würde.33 Als in der Folge die österreichische Regierung mit dem Frankfurter Fürstentag34 vom Sommer 1863 den Versuch unternahm, eine umfassende Bundesreform zu vereinbaren, um die seit Jahren von der deutschen Öffentlichkeit wie auch von vielen Regierungen bemängelten Defizite zu beseitigen, blieb Preußen dieser Konferenz fern, weil es den eingeschlagenen Weg nicht für zielführend hielt35 und auch nicht bereit war, in Frankfurt Reformvorschläge entgegenzunehmen, „über welche der Rath Preußens nicht vorher gehört ist“36. Die Weigerung Preußens, an den Frankfurter Verhandlungen teilzunehmen, machte ein Scheitern des Reformversuchs unvermeidlich, denn allen Beteiligten war klar, dass nach den Bundesgrundgesetzen – der Bundesakte von 1815 und der Wiener Schlussakte von 1820 – eine umfassende Reform der Bundesverfassung nur mit der Zustimmung aller Bundesmitglieder möglich war. Nach diesem letzten großen Reformversuch wurden der Deutsche Bund beziehungsweise sein wichtigstes Organ, die Bundesversammlung in Frankfurt, in der deutschen und internationalen Politik zunehmend marginalisiert. Dazu trug vor allem auch der im Herbst 1863 wieder ausbrechende Konflikt um Schleswig-Holstein bei, der im Frühjahr 1864 zum Deutsch-Dänischen Krieg führte.37 Die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen agierten in diesem Konflikt lange Zeit in enger Abstimmung, wodurch die Bundesversammlung, in der sich wiederholt Mehrheiten gegen die beiden Führungsmächte bildeten, zur völligen Wirkungslosigkeit in dieser für die mitteleuropäische Ordnung wie auch für die nationalen Interessen „Deutschlands“ fundamentalen Frage verurteilt wurde, was das Ansehen des Deutschen Bundes in der Öffentlichkeit weiter herabsetzte.

33 Siehe dazu Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 71.), Göttingen 2005, 339 ff., bes. 342. Die den drohenden Bundesbruch thematisierenden preußischen Äußerungen sind dokumentarisch belegt in der Quellenedition: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Für die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Lothar Gall [künftig: QGDB], Abt. III: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1850–1866. Bd. 3: Der deutsche Bund in der nationalen Herausforderung 1859– 1862, bearb. v. Jürgen Müller, München 2012, 817 f., 861 f. sowie Bd. 4: Vom Frankfurter Fürstentag bis zur Auflösung des Deutschen Bundes 1863–1866, München 2017, 19. 34 Siehe dazu: Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation, 347–360; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz ³1988, 421–435; Norbert Wehner, Die deutschen Mittelstaaten auf dem Frankfurter Fürstentag 1863. (Europäische Hochschulschriften, Rh. 3, Bd. 548.), Frankfurt am Main/Berlin/Bern 1993. Eine umfassende monographische Studie zum Frankfurter Fürstentag ist immer noch ein Forschungsdesiderat. 35 König Wilhelm I. von Preußen an Kaiser Franz Joseph, 7. August 1863, QGDB III/4, 201. 36 Bismarck an Werther, 14. August 1863, QGDB III/4, 216. 37 Siehe dazu jüngst: Oliver Auge/Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis. (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 22.), Paderborn 2016.

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Seit dem Sommer 1865 benutzte Bismarck dann die Frage, welchen politischen Status die 1864 – nach der militärischen Niederlage – von Dänemark an Österreich und Preußen abgetretenen Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg künftig erhalten sollten, um den Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund vorzubereiten und schließlich herbeizuführen. Während Preußen die Herzogtümer als Kriegsbeute betrachtete und ihre Annexion anstrebte, wollte Österreich nun wieder den Deutschen Bund über die Schleswig-Holstein-Frage entscheiden lassen – wohl wissend, dass die Bundesversammlung mehrheitlich die Einverleibung der Herzogtümer durch Preußen ablehnte und statt dessen die Bildung eines neuen deutschen Mittelstaates Schleswig-Holstein unter der Regierung des Prinzen von Augustenburg befürwortete. Darauf reagierte Bismarck mit scharfer Ablehnung. Ein solches Vorgehen, so schrieb er in einer Zirkulardepesche vom 24. März 1866, bedrohe die Interessen und die Sicherheit Preußens. Österreich habe eine feindselige Haltung gegenüber Preußen eingenommen und bereite durch Truppenkonzentrationen an der Grenze zu Preußen offenbar einen Angriff vor.38 In Wahrheit hatte Bismarck selbst bereits seit Februar 1866 die Weichen für eine militärische Entscheidung gestellt. Mit Italien wurde am 8. April ein Geheimvertrag abgeschlossen, der den sofortigen Eintritt Italiens in einen eventuellen Krieg zwischen Österreich und Preußen vorsah39 – ein klarer Verstoß gegen die Bundesakte, in der sich auch Preußen verpflichtet hatte, „keine Verbindungen einzugehen, welche gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet wären“40. Der nur einen Tag später in der Bundesversammlung von Preußen gestellte Antrag auf eine umfassende Bundesreform41, so urteilte bereits Lothar Gall in seiner Bismarck-Biografie, war „eben nicht, auch nicht in Teilen, konstruktiv, sondern rein destruktiv gemeint“.42 So wurde er auch von den Zeitgenossen nahezu einhellig bewertet, und die in Teilen der neueren Historiographie unternommenen Versuche, Bismarcks „Bundesreformpolitik“ als konstruktive Initiativen im Sinne des Bundesrechts zu bewerten, stehen argumentativ auf schwachen Füßen.43

38 QGDB III/4, 887–892. 39 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, 347f. 40 Artikel XI der Bundesakte, QGDB I/1, 1512. Der Vertrag war laut Geoffrey Wawro, The Austro-Prussian War. Austria’s War with Prussia and Italy in 1866, Cambridge 1996, 49, eine offene Bedrohung des Metternich’schen Systems von 1815. 41 QGDB III/4, 919–925. 42 Gall, Bismarck, 352; Wawro, The Austro-Prussian War, 43, spricht von einem zynischen Trick („cynical ploy“). 43 Vor allem Andreas Kaernbach, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 41.), Göttingen 1991, wo z. B. von Bismarcks „positiver Einstellung zum Deutschen Bund“ die Rede ist (90). Bismarck habe nicht auf „eine Sprengung des Deutschen Bundes“ abgezielt, sondern seine Absicht sei es gewesen, „die bewährten Elemente des Deutschen Bundes reformierend weiter[zu]entwickeln“ (ebd., 115). Ähnlich 242: Bismarcks Reformpläne zielten „nicht auf eine gewaltsame Sprengung des Deutschen Bundes, sondern auf seine behutsame Reform“. Siehe auch Wilhelm Kronenberg, Bismarcks Bundesreformprojekte 1848–1866, Köln 1953.

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Wenn manche Historiker, wie in einem Vortrag auf der Berliner Tagung, auch heute noch (oder wieder) davon sprechen, Bismarck habe mit den preußischen „Grundzügen einer neuen Bundesverfassung“ vom 10. Juni 1866 ein nationales Einigungsprogramm vorgelegt44, das dann bei der Gründung des Norddeutschen Bundes Punkt für Punkt umgesetzt worden sei, so übergeht eine solche Behauptung den agitatorischen Charakter dieses Dokuments, das vor allem dazu diente, den preußischen Bundesbruch zu rechtfertigen. Bismarck hatte, als er die preußischen Vorschläge zur Reform des Bundes am 9. April und am 14. Juni 1866 in der Frankfurter Bundesversammlung vorlegen ließ, keine „Reform der Bundesverfassung“45 und keine „Umgestaltung des Bundestages“46 im Sinn. Seine Vorschläge dienten dazu, den Bundesbruch vorzubereiten und Preußen einen Grund zu liefern, seine vertragsund völkerrechtswidrige Großmachtpolitik mit kriegerischen Mitteln zu verfolgen. Denn als sowohl Österreich wie auch etliche der süd- und mitteldeutschen Regierungen sich weigerten, dem ultimativ vorgebrachten preußischen Antrag nach Berufung eines deutschen Parlaments zu folgen, drehte Bismarck weiter an der Eskalationsschraube. Den Hansestädten und den thüringischen Kleinstaaten ließ er Mitte Mai 1866 mündlich mitteilen, dass Preußen das Bundesverhältnis für aufgelöst erachten müsse, wenn der Bund ihm seine Sicherheit nicht mehr verbürgen könne.47 Ende Mai 1866 wurden den preußischen Gesandtschaften in den deutschen Staaten noch einmal die preußischen Reformvorschläge mitgeteilt und daran die Erklärung geknüpft, dass Preußen, wenn über seine „bescheidenen Forderungen“ in der Bundesversammlung keine Verständigung erzielt werde, versuchen werde, „auf neuen Wegen den Anforderungen der Nation in vollem Umfange gerecht zu werden“.48 Was mit diesen „neuen Wegen“ gemeint war, zeigte sich knapp zwei Wochen später, als am 9. Juni (also vor der Mitteilung der preußischen Grundzüge für eine neue Bundesverfassung) preußische Truppen in das unter österreichischer Verwaltung stehende Herzogtum Holstein einmarschierten. Die preußische Aktion bedeutete nicht nur einen Bruch der Gasteiner Konvention vom 14. August 186549, in der Österreich und Preußen eine Teilung der Herrschaft in Schleswig und Holstein vereinbart hatten, sondern sie war auch ein eklatanter Verstoß gegen das Bundesrecht. Denn nach Artikel XI der Bundesakte und nach Artikel 19 der Wiener Schlussakte war es den Bundesgliedern „unter keinerley Vorwand“ gestattet, einander zu bekriegen50 beziehungsweise zur „Selbsthülfe“ zu greifen51. Insbesondere hatten sich

44 Der Plan ist abgedruckt in: QGDB III/4, Dok. 221, 1035–1038. 45 So die Überschrift des Antrages vom 9. April 1866, in: QGDB III/4, Dok. 189, 919–925, hier 919. 46 Artikel III der „Grundzüge“ vom 10./14. Juni 1866, in: QGDB III/4, 1035. 47 Bismarck an Richthofen, 14. Mai 1866, QGDB III/4, 965. 48 Runderlass Bismarcks, 27. Mai 1866, QGDB III/4, 978–980, Zitat 980. 49 Abdruck in: QGDB III/4, Dok. 156, 803–807. 50 QGDB I/1, 1512. 51 Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, 3. neubearb. u. vermehrte Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 93.

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die Bundesglieder verpflichtet, „sich gegenseitig ihre sämmtlichen unter dem Bunde begriffenen Besitzungen“ zu garantieren und „jeden einzelnen Bundesstaat gegen jeden Angriff in Schutz zu nehmen“52. Da das Herzogtum Holstein, das seit 1815 unter der Herrschaft des Königs von Dänemark gestanden hatte, von diesem 1864 im Wiener Frieden an Österreich und Preußen abgetreten und 1865 schließlich der alleinigen Verwaltung Österreichs unterstellt worden war, trotz der diversen Herrschaftswechsel unzweifelhaft ein Territorium des Deutschen Bundes war, trat die preußische Regierung mit der Besetzung des Herzogtums das Bundesrecht mit Füßen. Österreich reagierte darauf mit der Anrufung der Bundesversammlung und beantragte am 11. Juni 1866 unter Berufung auf die eben erwähnten Bestimmungen der Bundesakte und der Wiener Schlussakte die Mobilmachung der nicht unter preußischem Kommando stehenden Teile der Bundesarmee, um dem „gewaltthätigen Vorgehen“ Preußens zu begegnen.53 Über diesen Antrag wurde am 14. Juni abgestimmt, wobei sich eine Mehrheit für dessen Annahme aussprach.54 Der preußische Bundestagsgesandte protestierte gegen diesen Beschluss, durch den nach Auffassung seiner Regierung der „Bundesbruch“ vollzogen sei, und ließ darauf die Erklärung folgen, Preußen sehe „den bisherigen Bundesvertrag für gebrochen und deßhalb nicht mehr verbindlich“, sondern „als erloschen“ an. Damit sei auch die bisherige Tätigkeit des preußischen Bundestagsgesandten beendet.55 Bundesrechtlich war der auf diese Weise erklärte Austritt Preußens aus dem Deutschen Bund nicht zulässig, denn es gab in den Bundesgrundgesetzen – im Unterschied zum Lissabonner Vertrag von 2007 über die Europäische Union56 – keine Austrittsklausel. Der Bund war nach Artikel 5 der Wiener Schlussakte vielmehr ein „unauflöslicher Verein“, aus dem keinem Mitglied der Austritt gestattet war.57 Während somit der von Großbritannien aktuell angestrebte Brexit europa- und völkerrechtlich zulässig ist, proklamierte die preußische Regierung 1866 einseitig und unter klarer Missachtung eindeutiger bundesrechtlicher Regelungen den „Prexit“, wohl wissend, dass dieser Austritt nur mit militärischen Mitteln, das heißt konkret mit einem Krieg gegen die anderen deutschen Staaten vollzogen werden konnte. Insofern war das preußische Vorgehen nicht nur im Hinblick auf die inhaltlichen politischen Forderungen, sondern schon im Hinblick auf das äußere Prozedere ein

52 Art. XI der Bundesakte: QGDB I/1, 1512; Art. 36 der Wiener Schlussakte: Huber (Hg.), Dokumente, Bd. 1, 96. 53 QGDB III/4, Dok. 216, 1010–1013, Zitat 1011. 54 QGDB III/4, Dok. 220, 1021–1034. 55 Ebd., 1032. 56 Vertrag von Lissabon, unterzeichnet am 13. Dezember 2007 und in Kraft getreten am 1. Januar 2009, Art. 50: „Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.“ Zit. nach: Amtsblatt der Europäischen Union, 53. Jahrgang, 30. März 2010, online unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/ DE/ALL/?uri=OJ:C:2010:083:TOC [letzter Zugriff: 10.11.2017]. 57 Huber (Hg.), Dokumente, Bd. 1, 92.

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„harter Prexit“: die bundesrechtlich unzulässige und daher mit Gewalt erzwungene Form, aus dem Deutschen Bund auszutreten. Wie fest Bismarck entschlossen war, den Bund zu verlassen, zeigt seine Anweisung an den preußischen Bundestagsgesandten Karl Friedrich von Savigny, die dieser unmittelbar vor der Abstimmung über den österreichischen Mobilmachungsantrag am 14. Juni auf telegraphischem Wege erhielt. In dem kurzen Telegramm wurde Savigny instruiert, den Bundesvertrag auch dann „für hinfällig“ zu erklären, wenn der österreichische Antrag nicht die Mehrheit erhalten sollte!58 Mit anderen Worten: Der Deutsche Bund sollte in jedem Fall beseitigt werden, selbst dann, wenn in der Bundesversammlung ein gegen Preußen gerichteter Antrag abgelehnt worden wäre. Unmittelbar nach der Bundestagssitzung telegraphierte Bismarck um 20.30 Uhr erneut an Savigny und gab dabei seiner Freude über das Ergebnis der Verhandlung Ausdruck. Der Text lautete: Der Bund existirt für uns nicht mehr, also auch keine Militair-Commission und keine Arbeit für dieselbe. Hier allgemeine Freude über Erlösung vom Bund. Dank für präcise Ausführung. 59

4. DIE FOLGE DES „HARTEN PREXIT“: DIE RÜCKKEHR DER „ULTIMA IRRATIO“ DES KRIEGES IN DIE DEUTSCHE UND INTERNATIONALE POLITIK Die unmittelbare Folge des „Prexit“ war der Ausbruch des innerdeutschen Krieges – übrigens das erste Mal seit dem Bayerischen Erbfolgekrieg von 1778/79, dass deutsche Staaten einander bekriegten. Dieser Deutsche Krieg60, der schon zwei Tage nach der entscheidenden Bundestagssitzung vom 14. Juni mit den ersten

58 QGDB III/4, 1021. 59 Ebd., 1039. 60 Ich schließe mich hier der Bezeichnung von Helmut Neuhold, 1866 Königgrätz, Wiesbaden 2016, 11, an. Die Terminologie für den Konflikt von 1866 ist unterschiedlich. Schon die Zeitgenossen sprachen vom „Bruderkrieg“ oder vom „Bürgerkrieg“; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 292. Andere Bezeichnungen lauten: „Österreichisch-Preußischer Krieg“ (Wawro, The Austro-Prussian War); „Bundeskrieg“ (Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750– 1914, München 2008, 733). Dazu mit Belegen: Jasper Heinzen, Making Prussians, Raising Germans. A Cultural History of Prussian State-Building after Civil War, 1866–1935, Cambridge 2017, 2f. Heinzen plädiert für die Bezeichnung „Bürgerkrieg“, benutzt aber auch die Bezeichnung „Deutscher Krieg“ (z. B. ebd., 4 u. 31). Die Bezeichnung „preußisch-österreichischer Krieg“ wurde für einen Anfang 2018 (nach Fertigstellung dieses Beitrags) veröffentlichten Sammelband gewählt: Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper/Winfried Heinemann (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866. (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 26.), Paderborn 2018; Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993). Teil IV: 1867–1870, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 152/(2016) 2017, 369–461, 393 (Bundesexekution gegen Preußen).

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Kampfhandlungen begann und mit den Waffenstillständen vom 26. Juli bis 1. August endete61, war ein vergleichsweise blutiger Konflikt. In den nur sechs Wochen währenden Kämpfen beliefen sich die Verluste an verwundeten und getöteten Soldaten auf weit über 50.000 Mann.62 Militärisch wurde der Krieg mit der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 zugunsten Preußens entschieden. Dies war die Voraussetzung für die nachfolgende politische Neuordnung der Verhältnisse in Deutschland. Schon in den Friedenspräliminarien von Nikolsburg vom 26. Juli erkannte der Kaiser von Österreich die Auflösung des bisherigen Deutschen Bundes an und gab zugleich seine Zustimmung „zu einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne Betheiligung des Österreichischen Kaiserstaates“.63 Diese Formulierung wurde im Prager Friedensvertrag vom 23. August 1866 bestätigt, und einen Tag später, am 24. August 1866, hielt die Bundesversammlung, in der nur noch 9 Staaten vertreten waren, ihre letzte Sitzung ab und beschloss, „ihre Tätigkeit […] zu beenden“.64 Der Deutsche Bund war damit nicht nur militärisch besiegt und durch einseitige Aktion für aufgelöst erklärt, sondern seine Existenz war als unmittelbare Folge der militärischen Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten durch einen völkerrechtlichen Vertrag und durch eigenen Beschluss beendet worden. Der Weg war nun in der Tat frei für die Gründung eines preußisch-deutschen Nationalstaats, der nach einem weiteren Krieg gegen die westliche Großmacht Frankreich in Form des Deutschen Reiches von 1871 als neue zentraleuropäische Großmacht etabliert wurde.

61 Siehe dazu Jürgen Angelow, Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815–1866. (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 52.), München 1996, 249–256. Zum Kriegsverlauf in Deutschland ferner ausführlich: Neuhold, 1866, 86–172; ferner: Klaus-Jürgen Bremm, 1866. Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt 2016; umfassende Darstellung der militärischen Ereignisse 1866 in Deutschland und Italien bei: Wawro, The Austro-Prussian War; ferner: Gordon A. Craig, The Battle of Königgrätz. Prussia’s Victory over Austria, 1866, Philadelphia/New York 1964, deutsche Ausgabe: Königgrätz, Wien/Hamburg 1966. 62 Die Zahlenangaben variieren. Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1998 (1. Aufl. 1985), 461, beziffert allein die Verluste in der Schlacht von Königgrätz auf über 53.000 Tote und Verwundete; Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, 417, spricht für Königgrätz von 42.812 österreichischen und 9.153 preußischen Gefallenen, wobei er offensichtlich nicht zwischen verwundeten und getöteten Soldaten unterscheidet; Wawro, The Austro-Prussian War, 274, macht unter Berufung auf die vom österreichischen Generalstab veröffentlichten Zahlen folgende Angaben: 24.000 tote oder verwundete Soldaten sowie 20.000 Gefangene auf österreichischer Seite sowie 9.000 „Verluste“ auf preußischer Seite. Bei den vorhergehenden Gefechten in Böhmen waren ebenfalls mehrere tausend Soldaten getötet, verwundet oder gefangengenommen worden (ebd., 143, 148, 151, 174). Auch die anderen Schlachten, etwa bei Langensalza und am Main, forderten tausende von Toten und Verwundeten. 63 QGDB III/4, 1073. 64 Ebd., 1076.

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Die Entscheidung von 1866 wurde bereits von den Zeitgenossen als umstürzendes Ereignis und revolutionärer Umbruch bewertet.65 Deutsche, zumal preußische Historiker begrüßten diese Entwicklung nahezu uneingeschränkt, wie etwa Theodor Mommsen, der sich freute, dass die Weltgeschichte „um die Ecke gebogen“ war und Deutschland nun eine Zukunft hatte, die von Preußen bestimmt wurde.66 Bei aller Begeisterung über den preußischen Sieg und die dadurch eröffneten nationalen Perspektiven, die auch viele nationalliberale Politiker erfasste und ihre bis dahin kritische Haltung gegenüber Bismarck deutlich abschwächte, übersahen viele Zeitgenossen, aber auch spätere Historiker die Radikalität des Rechtsbruchs von 1866. So kam es in der Folge des Krieges und als Ergebnis des preußischen Sieges zu einer beispiellosen Welle von Annexionen. Preußen verleibte sich neben Schleswig-Holstein, das der Anlass für den Krieg gewesen war, zusätzlich noch das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau, die Freie Stadt Frankfurt sowie Gebiete von Hessen-Darmstadt und Bayern ein. Es war ein Raubzug napoleonischen Ausmaßes, bei dem riesige Territorien und etwa 5 Millionen Einwohner unter die Herrschaft Preußens gezwungen wurden.67 Die deutsche Historiographie hat diese kriegerische Expansionspolitik Preußens, die sich mit der Annexion Elsass-Lothringens wenige Jahre später fortsetzte, in der Regel relativ milde beurteilt, weil man sie im Zusammenhang mit der nationalen Einigung Deutschlands betrachtete, wodurch sie gewissermaßen einem höheren historischen Ziel zu dienen schien. Wie würde man wohl eine französische Expansion beurteilt haben, die unter Bruch der Wiener Verträge von 1815 und der nachfolgenden internationalen Abkommen die Wallonie, Genf oder gar das Saarland erobert und in den eigenen Staat inkorporiert hätte? Im Jahr 1866 wurden aber nicht nur innerhalb Deutschlands Monarchen entthront, Regierungen gestürzt, Verfassungen beseitigt, Parlamente aufgelöst und gewaltsam neue Grenzen gezogen. Darüber hinaus wurden in Mitteleuropa die 1815 installierten Friedenssicherungsmechanismen außer Kraft gesetzt. Der deutsche Staatenbund war das zentrale Element dieser Friedensordnung gewesen. Er hatte ein halbes Jahrhundert lang einen innerdeutschen Krieg verhindert, die Rivalität der deutschen Großmächte Österreich und Preußen, die im 18. Jahrhundert mehrfach zu jahrelangen Kriegen geführt hatte, in einer föderativen, unter der Garantie der anderen Großmächte stehenden Ordnung eingehegt, Kriege von Österreich und Preußen gegen andere große Mächte verhindert – zuletzt im Krimkrieg von 1854 bis 1856 – sowie Angriffe auswärtiger Mächte auf deutsche Staaten effektiv unterbunden. Der Bund war insofern, wie es Arnold Herrmann Ludwig Heeren schon

65 Siehe dazu mit einigen Belegen: James J. Sheehan, German History 1770–1866, Oxford 1989, 909–911. 66 Theodor Mommsen an seinen Bruder Tycho, 18. Juli 1866, zitiert bei: Stefan Rebenich, Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002, 167. 67 Hans A. Schmitt, Prussia’s Last Fling: The Annexation of Hanover, Hesse, Frankfurt, and Nassau, June 15–October 8, 1866, in: Central European History 8, 1975, 316–347.

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1816 auf den Punkt gebracht hatte, der „Friedensstaat von Europa“ 68, und damit war er gleichzeitig der Garant für den innerdeutschen Frieden, der es letztlich auch ermöglichte, dass sich die deutschen Staaten, allen voran Preußen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich so außerordentlich erfolgreich entwickeln konnten.69 Aus der Beseitigung des Deutschen Bundes ergaben sich zutiefst problematische Folgen für die internationale Ordnung in Europa. Mit der gewaltsamen Durchsetzung des „Prexit“ warf Bismarck die politische Ordnung in Mitteleuropa um, wie es Paul Schroeder ausdrückte.70 Der Deutsche Bund wurde nicht ersetzt durch eine ähnliche Form innerdeutscher, internationaler oder multilateraler Kooperation. Die Konkurrenz der großen Mächte in Europa wurde seit 1866/70 nicht mehr eingehegt durch ein System multilateraler Verträge und Institutionen, die darauf angelegt waren, Kriege in Europa zu verhindern. An die Stelle der Politik des Kompromisses und des Interessenausgleichs trat nun im Zentrum Europas endgültig wieder eine europäische Großmachtpolitik, die nicht davor zurückscheute, die jeweils eigenen Interessen mit militärischen Mitteln gegen andere Großmächte durchzusetzen. Diese oft als „Realpolitik“ beschönigte Konkurrenz der großen Staaten konnte sich seit 1866 ungehindert entfalten, und es zeigte sich schon bald, dass es mittel- und langfristig nur noch eine Ressource gab, auf die die Regierungen setzten, um ihre Machtansprüche durchzusetzen: die militärische Stärke. Schon wenige Jahre nach dem „Prexit“ und dem innerdeutschen Krieg kam es mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu einem weiteren opferreichen

68 Arnold Herrmann Ludwig Heeren, Der Deutsche Bund in seinen Verhältnissen zu dem Europäischen Staatensystem; bey Eröffnung des Bundestags dargestellt, Göttingen 1816, 14, auch in: ders., Historische Werke. Teil 2, Göttingen 1821, 423–457, Zitat 433. Dazu Gruner, Der Deutsche Bund, 108. Zur Friedenssicherungsrolle des Deutschen Bundes in Europa siehe mit Bezug auf Heeren: ders., Der Deutsche Bund – Modell für eine Zwischenlösung, in: ders., Deutschland mitten in Europa. Aspekte und Perspektiven der deutschen Frage in Geschichte und Gegenwart. (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte, Bd. 5.), Hamburg 1992, 45–69; ders., Europa, Deutschland und die internationale Ordnung im 19. Jahrhundert, in: ebd., 71–106; ders., Der Deutsche Bund und die europäische Friedensordnung, in: Helmut Rumpler (Hg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation. (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 16/17.), Wien/München 1990, 235–263. 69 Siehe dazu den Überblick von Hans-Werner Hahn, Die industrielle Revolution in Deutschland. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 49.), München 1998; ferner: ders./Helmut Berding, Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49. (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 14.), Stuttgart 2010, 164–252; Lenger, Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung. 70 Paul Schroeder, Austro-German Relations: Divergent Views of the Disjoined Partnership, Rezension von: „The Austro-German Rapprochement, 1870–1879: From the Battle of Sedan to the Dual Alliance“ von Nicholas Der Bagdasarian; „Bismarck at the Crossroads: The Reorientation of German Foreign Policy after the Congress of Berlin 1878–1880“ von Bruce Waller; „Disjoined Partners: Austria and Germany Since 1815“ von Peter J. Katzenstein, in: Central European History 11, 1978, 302–313, hier 307.

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Großmachtkrieg.71 Zwar triumphierten auch hier die preußische Armee und die preußische Politik, der Preis dafür aber war hoch: Die Kriegführung und die demütigende Behandlung des besiegten Frankreich vergifteten das Verhältnis zum westlichen Nachbarn nachhaltig, so dass eine Versöhnung zwischen den beiden großen Nationalstaaten auf Jahrzehnte hinaus unmöglich wurde. Im Gegenteil strebte Frankreich nach Revanche und verbündete sich zu diesem Zweck nur zwanzig Jahre später mit Russland, während das Deutsche Reich ein Bündnis mit dem krisengeschüttelten Habsburgerreich schloss, was aber nicht zu größerer Stabilität, sondern seit der Wende zum 20. Jahrhundert zu einer Reihe von internationalen Krisen führte, deren letzte dann 1914 in den Ersten Weltkrieg mündete. Gewiss führte von 1866 kein direkter Weg in die Katastrophe von 1914, die weite Teile des europäischen Kontinents verwüstete. Doch wurde durch die gezielt herbeigeführte Zerstörung des Deutschen Bundes die rücksichtslose Großmachtpolitik – die das sogenannte europäische Konzert der fünf großen Mächte für einige Jahrzehnte einigermaßen erfolgreich eingedämmt hatte72 – wieder salonfähig gemacht. Die Kriege, von denen Europa auch unter der „Wiener Ordnung“ nicht gänzlich verschont geblieben war, hatten sich bis dahin im Wesentlichen an der Peripherie abgespielt und waren bis 1854 nicht zu unmittelbaren Großmachtkonfrontationen ausgeartet. Dies änderte sich mit dem Jahr 1866. Der „harte Prexit“ Preußens ermöglichte nun auch im Zentrum Europas und damit in Deutschland den Rückgriff auf die unberechenbare „ultima irratio“ der Politik – den Krieg. 5. CODA: KRITISCHE EINWÄNDE Als der vorliegende Beitrag auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Preußische Geschichte im September 2017 in Berlin gehalten wurde, gab es lebhafte Reaktionen. Während manche Tagungsteilnehmer sich zustimmend äußerten, brachten andere Einwände, zum Teil auch grundsätzliche Kritik vor. Ich möchte im Folgenden auf die kritischen Anmerkungen kurz eingehen.

71 Siehe dazu u. a.: Wolfgang von Groote/Ursula von Gersdorff (Hg.), Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg, Stuttgart 1970; Geoffrey Wawro, The Franco-Prussian War. The German Conquest of France in 1870–1871, New York 2003. 72 Zum „europäischen Konzert“ siehe Winfried Baumgart, Vom Europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, Darmstadt 1974, ²1987; ders., Europäisches Konzert und nationale Bewegung 1830–1878. (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 6.) Paderborn/München/Wien/Zürich, 1999; Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860. (Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 21.), München 2009. Schulz kommt zu dem Ergebnis, dass das „Europäische Konzert“ bei der Lösung der großen nationalen Fragen in Italien und Deutschland, aber auch in Polen, nicht funktionierte, doch sei es nach dem Deutsch-Französischen Krieg gelungen, das Staatensystem wieder zu stabilisieren, und das „Konzert“ sei erst im Vorfeld des Ersten Weltkriegs endgültig zerstört worden (534f.).

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Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass die 1870/71 erfolgte Gründung des deutschen Nationalstaats „legitim“ gewesen sei. Sie habe dem allgemeinen historischen Trend des 19. Jahrhunderts entsprochen, sei also keine Besonderheit oder ein Abweichen von den Entwicklungen gewesen, die auch in anderen europäischen Ländern stattgefunden habe. Das kann man gewiss so sehen, doch wird dadurch mein Argument nicht entkräftet, dass die Zerstörung des Deutschen Bundes keine historische Notwendigkeit darstellte und dass der „Weg“ nach 1871 keineswegs logisch oder gar alternativlos gewesen ist. Die Gründung des kleindeutsch-preußischen Reiches war ja keineswegs ein unproblematischer Prozess, und zudem war der 1871 etablierte Nationalstaat von Anfang an mit erheblichen strukturellen Problemen belastet. Dazu gehörte vor allem, wie auch in der Diskussion angemerkt wurde, das gravierende innere Ungleichgewicht, das durch die politische Übermacht Preußens verursacht wurde. Das Deutsche Reich war kein ausgewogenes föderatives Gebilde, sondern ein unter preußischer Vormacht stehender Staat. Verstärkt wurde das innere Ungleichgewicht noch dadurch, dass die Reichsverfassung von 1871 ganz erhebliche Defizite im Hinblick auf die parlamentarischen Rechte, die politische Partizipation der Parteien und die allgemeinen Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger aufwies. In allen diesen Bereichen blieb die Reichsverfassung weit hinter den Standards der Paulskirchenverfassung von 1849 zurück. Die von großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit seit dem Vormärz erstrebte Gründung eines deutschen Nationalstaats war ein im Kern liberales und demokratisches Projekt gewesen – das 1871 gegründete Reich entsprach in vielem dieser Vorstellung nicht, weil es keine parlamentarische Regierung gab und weil die von Preußen dominierte Reichsregierung unmittelbar nach der Reichsgründung innenpolitisch einen sehr illiberalen Kurs einschlug. Und gerade diese beiden Punkte waren es ja gewesen, an denen sich auch die heftige Kritik der liberalen und nationalen Kräfte gegen den Deutschen Bund entzündet hatte: Er war vor allem deshalb zunehmend unpopulär geworden, weil er keine nationale Volksvertretung zulassen wollte und weil er liberale und demokratische politische Opponenten kriminalisierte und verfolgte. Dieser Faktor, die große Unzufriedenheit der deutschen Öffentlichkeit mit dem Deutschen Bund, so wurde in der Diskussion angemerkt, sei in meinem Vortrag zu kurz gekommen, denn es seien ja nicht nur die politischen Manöver Bismarcks, sondern auch der mangelnde Rückhalt, den der Deutsche Bund in der öffentlichen Meinung gehabt habe, für die Krise und die schließliche Auflösung des Bundes verantwortlich gewesen. In der Tat habe ich den Faktor „Öffentlichkeit“ in meinem Vortrag nicht näher in den Blick genommen. Das allgemein schlechte Ansehen des Deutschen Bundes, die vielen Enttäuschungen, die er gerade auch durch seine Wirkungslosigkeit während der Schleswig-Holstein-Krise hervorrief, seine seit Jahren beklagte außenpolitische Zurückhaltung und die Furcht, dass er wegen seiner inneren Konstruktion die Interessen „Deutschlands“ in einer nach 1848 wieder zusehends machtstaatlich geprägten europäischen Konstellation nicht wirksam werde wahrnehmen können – all dies trug zu der tiefen Krise bei, in die der Bund seit dem Ende der 1850er Jahre geriet. Bismarck machte sich die dadurch verursachten Ängste während des Kriegs um Schleswig-Holstein und in der Folgezeit zunutze,

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indem er offensive Machtpolitik betrieb und dabei auch vor militärischen Mitteln nicht zurückschreckte. Ein Deutscher Bund, der sich früher und entschiedener reformbereit gezeigt und dadurch ein höheres Ansehen in der deutschen Öffentlichkeit genossen hätte, hätte möglicherweise in der Krise von 1866 einen stärkeren Rückhalt gehabt. Dass der Bund es in den fünfzig Jahren seines Bestehens nicht vermochte, sich stärker als Vertreter von nationalen Interessen zu profilieren, etwa auch durch die Pflege nationaler Symbole und die öffentlichkeitswirksame Inszenierung nationaler Kultur, trug sicherlich dazu bei, dass es 1866 jenseits der süddeutschen Staaten und der Habsburgermonarchie kaum jemanden gab, der seine gewaltsame Zerstörung bedauerte. Gleichwohl ist darauf zu verweisen, dass diese süddeutschen Staaten und ihre Bevölkerungen im Sommer 1866 gegen Preußen und seine Verbündeten in den Krieg zogen, um den Bruch des Bundesrechts und die einseitig von Preußen proklamierte Auflösung des Deutschen Bundes zu verhindern. Und der Ausgang dieses Krieges stand ja keineswegs von vorneherein fest. Auch das gehört zu der Kontingenz der Entscheidung von 1866, die sich der nachträglichen Legitimierung des Ergebnisses und seiner Folgen durch die kleindeutschborussianische Historiographie und dem Topos vom historisch folgerichtigen Weg zum Nationalstaat entgegenstellt. Schließlich wurde eingewendet, dass 1866 – wie fast immer in der Geschichte – die Macht und nicht das Recht über den Ausgang des Konflikts entschieden habe. Somit sei mein Blick auf die Ereignisse zwar sympathisch, führe aber als historische Analyse nicht weiter. Gewiss ist es in erster Linie die Aufgabe des Historikers, zu untersuchen, was aus welchen Gründen geschehen ist, und nicht das zu bedauern, was nicht eingetreten ist. So einfach ist es aber mit der Frage von Macht und Recht nicht. Wenn die wissenschaftliche Untersuchung historischer Prozesse und Ereignisse sich darauf beschränken würde, die Abläufe und Kausalitäten zu rekonstruieren und darzustellen und das Ergebnis als Folge der gegebenen Kräfteverhältnisse zu deuten, würde sie sich freiwillig ihres kritischen Potentials entäußern. Gerade erfolgreiche Machtpolitik muss, noch dazu, wenn sie mit kriegerischer Gewalt und damit implizit dem Bruch des gegebenen Rechts verbunden ist, intensiver hinterfragt werden als das Festhalten an alten Rechten und Verträgen, seien diese auch noch so mangelhaft. Wenn Regierungen gestürzt, Verfassungen beseitigt, Staaten erobert, nationale oder gar internationale Ordnungssysteme zerstört werden, dann ist es keineswegs damit getan, darauf zu verweisen, dass sich hier der Mächtigere durchgesetzt hat. Dieser fatalen Tendenz hat sich ein großer Teil der deutschen Geschichtswissenschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ihrer Glorifizierung der vermeintlichen „Realpolitik“ hingegeben. Mit diesem Schlagwort, das Bismarck ja selbst so gerne in Anspruch nahm und das auch heute noch manchmal herangezogen wird, um in nachgerade neo-borussianischer Weise die preußische Großmachtpolitik zu rechtfertigen, wurden alternative Vorstellungen über politische Prozesse und Ziele als realitätsferne idealistische Wunschvorstellungen diskreditiert. Bezogen auf 1866 hieß es demnach, die Zerstörung des Deutschen Bundes sei historisch gerechtfertigt, weil nur so die nationale Einheit Deutschlands habe

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erreicht werden können. Eine gedeihliche nationale Entwicklung sei mit dem Deutschen Bund unmöglich gewesen, sein Untergang somit nicht bedauerlich, sondern notwendig, um die „deutsche Frage“ zu lösen. Ich habe oben dargelegt, dass ich dieser Schlussfolgerung, die sich bis in prominente jüngere Darstellungen verfolgen lässt, nicht folgen kann. Vor allem auch deshalb scheint mir eine solche Betrachtung problematisch zu sein, weil sie zu situationsbezogen argumentiert und längerfristige Perspektiven ausklammert. Denn offenkundig wurde die „deutsche Frage“ 1871 nicht dauerhaft gelöst. Die unruhige deutsche Geschichte, die seit dem Mittelalter und verstärkt seit dem 17. Jahrhundert keine längerfristige Stabilität und friedliche Entwicklung im Zentrum Europas zugelassen hatte, setzte sich nach 1871 vielmehr auch mit dem neuen Nationalstaat fort. Die nationale Machtentfaltung, deren Unmöglichkeit man dem Deutschen Bund so häufig angekreidet hat, führte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu vielfältigen internationalen Konflikten. Übersteigerter Nationalismus, Großmachtambitionen, Prestigepolitik (die sich unter anderem in einem beispiellosen Wettrüsten der Großmächte manifestierte) und zuletzt ein verbrecherisches „Großdeutsches Reich“ führten im 20. Jahrhundert in zwei verheerende Weltkriege, in denen der deutsche Nationalstaat zerschlagen und das Land geteilt wurde. Die Wiedervereinigung nach einem halben Jahrhundert der Teilung war nur möglich, weil nach dem Zweiten Weltkrieg im Prozess der europäischen Einigung ein Staatenbund geschaffen wurde, der die nationalen Interessengegensätze nicht mit dem Mittel der Macht zum Austrag brachte, sondern mit dem Mittel der Kooperation im Rahmen eines europäischen Vertragswerks, das gemeinsam weiterentwickelt wurde. Und damit sind wir wieder bei der Analogie, die sich in dem von mir kombinierten Begriffspaar Brexit/Prexit widerspiegelt: So wie der Deutsche Bund den inneren Frieden in Deutschland und den europäischen Frieden lange Zeit erfolgreich sicherte, so verhindert seit der Mitte des 20. Jahrhunderts das geeinte Europa bislang die destruktive Entfaltung nationaler Egoismen, die den europäischen Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Abgrund gestürzt hat. Nationalismus, zumal wenn er auf die Homogenität von Sprache und Territorium abzielt, war, so hat es Wolfram Siemann kürzlich formuliert, die „Ursünde des 19. Jahrhunderts“.73 Die historische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts hat das kriegstreibende Potential dieser „Ursünde“ zur Genüge demonstriert, und es wäre fatal, wenn das beginnende 21. Jahrhundert – in bedauernswerter Geschichtsvergessenheit oder gar in flagranter Leugnung historischer Zusammenhänge und historiographischer Erkenntnisse – die „Ursünde des 19. Jahrhunderts“ wiederholen würde. Der Zerfall des politisch geeinten Europa, wie er seit einiger Zeit von (rechts-)konservativen und rechtsextremen Parteien und Gruppierungen sowie teilweise auch von signifikanten Teilen der Wählerschaft mit nationalen und „identitären“ Argumenten herbeigewünscht wird, würde den europäischen Frieden massiv 73 Wolfram Siemann, Der Wiener Kongress 1814/15. Restauration, Rekonstruktion oder imperiale Neuordnung Europas? (Wiener Vorlesungen im Rathaus, Bd. 187.), Wien 2017, 28, ebd. auch die Formulierung von „der kriegstreibenden Dreieinigkeit von Nation, Sprache und Territorium“.

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bedrohen und abermals gefährliche Konflikte zwischen den einzelnen Staaten und ihren Gesellschaften ermöglichen. Zu deren Lösung könnten erneut Wege eingeschlagen werden, die für Jahrzehnte undenkbar waren: offene Rechts- und Vertragsbrüche und – horribile dictu – militärische Auseinandersetzungen zwischen europäischen Staaten. Der „harte Prexit“ von 1866 zeigt in dieser Hinsicht, wozu eine Politik führen kann, die auf Konflikt statt Kooperation, auf den Umsturz der bestehenden internationalen Ordnung statt auf deren Weiterentwicklung, auf die kriegerische Entscheidung statt auf den friedlichen Interessenausgleich, auf die Durchsetzung von Machtansprüchen statt auf die Wahrung des Rechtes drängt.

GROSSBRITANNIEN, DAS ENDE DES DEUTSCHEN BUNDES UND DER NORDDEUTSCHE BUND (1866–1870) John R. Davis Einleitend befasst sich der Verfasser mit der nicht existierenden britischen historischen Forschung zum Norddeutschen Bund. Der Schwerpunkt der Forschungen zur britischen Außenpolitik berücksichtigte die Jahre 1866–1870 nicht oder nur am Rande und befasste sich mit den Ursachen für die spätere Politik, wie „Appeasement“, nationale Rivalitäten und Niedergang der britischen Großmachtstellung („Decline from Power“). Der vorliegende Beitrag ist der erste britische seiner Art, der sich mit dem Ende des Deutschen Bundes und dem Norddeutschen Bund beschäftigt. Als die Veränderungen in Mitteleuropa sich vollzogen, konzentrierte sich Großbritannien vor allem auf die inneren Fragen und Probleme. In der Innenpolitik dominierte insbesondere die Reformfrage. „Noninterventionismus“ charakterisierte die Außenpolitik. Außenpolitisch belastete die Alabama Frage mit den USA die außenpolitische Handlungsfähigkeit. Hinzu kam, dass der alte Deutsche Bund als wenig effektiv, überholt und nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde. Er sei kontraproduktiv für die Bewahrung des europäischen Gleichgewichtes. Ein von Preußen geführter, reformierter und gestärkter Bund wurde trotz der liberalen Kritik an Bismarck positiv bewertet. Der Norddeutsche Bund wurde von Anbeginn von den Liberalen wegen seiner Defizite kritisiert, von der liberal-konservativen Mehrheit aber optimistisch bewertet. Der Beitrag stützt sich auf gedruckte und ungedruckte Quellen mit dem Schwerpunkt auf führende britische Politiker und Diplomaten sowie auf führende Presseorgane wie die TIMES. Im Mittelpunkt stehen zunächst die Kritik an der neuen Verfassung und die Befürchtungen vor einer expansionistischen Politik Preußens aber auch die Hoffnung, dass sich die neue Verfassung in Richtung des britischen liberalen Modells entwickeln werde. Befürchtet werden aber auch die Folgen des neuen Bundes von Diplomaten im Umfeld von Königin Victora für die deutschen Kleinstaaten. Der britische Weg würde natürlicher Weise vom Nordbund verfolgt werden und die süddeutschen Staaten würden in absehbarer Zeit in den Nordbund eintreten. Großbritannien sah den Norddeutschen Bund und eine Konsolidierung in Mitteleuropa, auch aus der Perspektive des Gleichgewichtes, positiv. Hingewiesen wird auch auf zahlreiche Formen der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Kultur, Militär, Erziehung und überseeischer Poltik. Großbritannien war aber nicht bereit vertragliche Garantien für die Verteidigung des Norddeutschen Bundes zu übernehmen wie die Ergebnisse der Londoner Konferenz zu Luxemburg zeigten.

1. EINFÜHRUNG Es ist interessant festzustellen, wie wenig über die britischen Beziehungen zum Norddeutschen Bund geforscht und veröffentlicht worden ist. Auf Grund seiner welthegemonialen Stellung im neunzehnten Jahrhundert ist die Anzahl der Beiträge

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zum Thema britischer Außenpolitik jedoch beträchtlich.1 Viele dieser Studien behandeln einen längeren Zeitraum. Sie erklären die Entstehung und den Niedergang der Pax Britannica. Untersucht werden allgemeine Prinzipien in der britischen Außenpolitik, wie Interventionismus, Non-Intervention und Multilateralismus.2 Zahlreiche Arbeiten analysieren die imperialistische Expansion und den Zusammenhang zwischen dem Ausbau des Britischen Empires und der europäischen Politik.3 Mehrere Studien sind britischen Außenministern gewidmet, beispielsweise Castlereagh, Canning, Palmerston, Aberdeen, Gladstone, Salisbury, Minister, die im 19. Jahrhundert, vor oder nach der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zum Ersten Weltkrieg im Amt waren.4 Studien zu Großbritannien und zum Norddeutschen

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S. die Übersicht bei: John R. Davis, Britain and the European Balance of power, in: Chris Williams (Hg.), A Companion to Nineteenth-century Britain, Oxford 2006, 34–53. Ausführlicher hierzu: Carsten Holbraad, The Concert of Europe. A Study in German and British Internatiuonal Theory 1815–1914, London 1970, 117ff.; Christopher Howard, Britain and the Casus Belli 1822–1902, London 1974, 40ff. Zur britischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert sowie zu „continental commitment“ und „imperial commitment“ u.a.: Charles Kingsley Webster, The Foreign Policy of Castlereagh 1812–1822, 2 Bde., London 1925, 1931; ders., The Foreign Policy of Palmerston 1830–1841, London 1951; Harold W. V. Temperley, The Foreign Policy of Canning 1822–1827, London 1966 (1927); Lord Strang, Britain in World Affairs. London 1961, 99ff.; Paul Hayes, Modern British Foreign Policy. The Nineteenth Century 1814–80, London 1975, 24ff.; Kenneth Bourne, The Foreign Policy of Victorian England, 1830–1902, Oxford 1970, 3ff.; Michael Byrne, Britain and the European Powers, 1815–65. London 1988; John Clarke, British Diplomacy and Foreign Policy, 1782–1865. London 1989; Frederic Samuel Northedge, The Foreign Policy of the Powers, London 1968; Robert Pearce, Britain and the European Powers, 1865–1914, London 1996; Edgar J. Feuchtwanger, Democracy and Empire. Britain 1865–1914, London 1985, 55ff.; Klaus Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/70. Eine Untersuchung zur britischen Weltpolitik im 19. Jahrhundert, München 1997; ders., Lord Clarendon, Bismarck und das Problem der europäischen Abrüstung 1870. Möglichkeiten und Grenzen im britisch-preußischen Verhältnis am Vorabend des deutsch-französischen Krieges, in: Lothar Kettenacker/Manfred Schlenke/Hellmut Seier (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke, München 1981, 130–152; Wolf D. Gruner, ‚British Interest‘ und Friedenssicherung. Zur Interaktion von britischer Innen- und Außenpolitik im frühen 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 224/1977, 92–104; ders., The British Political, Social and Economic System and the Decision for Peace and War. Reflections on AngloGerman Relation 1800–1939, in: British Journal of International Studies 6/1980, 189–218; Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011. P. J. Cain, British Imperialism, London 32016; Bernard Porter, The Lion’s Share: A Short History of British Imperialism 1850–2011, London 52012. Zu den britischen Außenministern u.a. Algernon Cecil, British Foreign Secretaries 1807–1916. London 1927; John W. Derry, Castlereagh, London 1976; John Bew, Castlereagh. The Biography of a Statesman, London 2014; Wendy Hinde, George Canning, London 1973; David Brown, Lord Palmerston. A Biography, New Haven 2012 (2010); ders., Palmerston and the Politics of Foreign Policy, 1846–1855, PhD University of Southampton 1998; Lucille Iremonger, Lord Aberdeen, London 1978; John A. S. Grenville, Lord Salisbury and foreign policy. The close of the nineteenth century, London 1970 (1964); Edgar J. Feuchtwanger, Gladstone,

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Bund fehlen aber. Es finden sich in der Literatur nur allgemeine Hinweise auf den Norddeutschen Bund im Zusammenhang mit der Reichsgründung.5 Werke über die britische Haltung zur deutschen Nationalbewegung und zur Einigung Deutschlands konzentrieren sich mehr auf 1848 und die 1850er Jahre und gehen nur bis zum Jahr 1866. Hierbei spielte sicherlich die Vorstellung eine Rolle, dass die Reichseinigung unter preußischer Führung sich zwangsläufig vollziehen würde und dass daher den unmittelbar vorausgehenden Jahren keine größere Beachtung geschenkt werden müsse. So fehlt beispielsweise bisher in der ausgezeichneten Serie des deutschen historischen Instituts in London über die Korrespondenz britischer Diplomaten an den deutschen Höfen zwischen 1816 und 1866 der Quellenband zu den Berichten der britischen Diplomatischen Vertreter in Deutschland zwischen 1867 und 1870. Er bleibt ein Desiderat.6 Andere Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der britischen Reaktion auf die Gründung des deutschen Kaiserreiches 1870–71. Diese Sehweise ging davon aus, dass der deutsch-französische Krieg und die formelle Ankündigung der Gründung des deutschen Kaiserreiches am 18. Januar 1871 in Versailles den Beginn einer neuen Periode in der britischen Außenpolitik kennzeichnen werde. Diese Annahme übersieht jedoch die Kontinuität zwischen dem Norddeutschen Bund und dem Bismarckschen Reich und und auch die Tatsache, dass die britischen Außenminister sich schon seit 1865/66 auf die Veränderungen in Europa eingestellt hatten. Paul Kennedy hat auf den besonders wichtigen Beitrag deutscher Historiker zur Erforschung der britischen Außenpolitik hingewiesen.7

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London 21989; Richard Aldous, The Lion and the Unicorn. Gladstone vs. Disraeli, London 2007. U.a. Helmut Burckhardt, Deutschland, England, Frankreich. Die politischen Beziehungen Deutschlands zu den beiden westeuropäischen Großmächten 1864–1866, München 1970, 7ff., 142ff., 249ff.; Peter Alter, Weltmacht auf Distanz. Britische Außenpolitik 1860–1870, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870, München 1987, 77–91; Klaus Hildebrand, Großbritannien und die deutsche Reichsgründung, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa und die Reichsgründung. Preussen-Deutschland in der Sicht der Grossen Europäischen Mächte 1860– 1880 (Historische Zeitschrift Beihefe 6), München 1980, 9–62. Sabine Freitag/Peter Wende (Hg.), British Envoys to Germany, Bd. 1: 1816–1829, Cambridge 2000; Markus Mößlang/Sabine Freitag/Peter Wende (Hg.), British Envoys to Germany. Bd. 2: 1830–1847, Cambridge 2002; Markus Mößlang/Torsten Riotte/Hagen Schulze (Hg.), British Envoys to Germany. Bd. 3: 1848–1850, Cambridge 2006; Markus Mösslang/Chris Manias/Torsten Riotte (Hg.), British Envoys to Germany. Bd. 4:1851–1866, Cambridge 2010. Bereits erschienen ist der erste Band zu den britischen Gesandten im Kaiserreich: Markus Mösslang/Helen Whatmore (Hg.), British Envoys to the Kaiserreich, 1871–1897. Bd. 1: 1871– 1883, Cambridge 2016. Nach Auskunft des Direktors des Deutschen Historischen Instituts in London, Prof. Dr. Andreas Gestrich und des Herausgebers Dr. Markus Mößlang ist nach Abschluss des 2. Bandes zum Kaiserreich 1884–1897 noch die Edition des fehlenden Bandes für die Jahre 1867–1870 vorgesehen. Paul M. Kennedy, The Rise of Anglo-German Antagonism, 1860–1914, London 1980; ders., Realities behind Diplomacy, London 1981; ders., The Tradition of Appeasement in British Foreign Policy, 1865–1939, in: British Journal of International Studies II/1976, 195–215. Im größeren Zusammenhang ders., Der Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt a.M. 1989, 229ff.

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Viele dieser Arbeiten – wie zum Beispiel die von Wolf D. Gruner – beziehen sich auf die Beziehung Großbritanniens zum deutschen Föderalismus und zum 1815 gegründeten Deutschen Bund.8 Überraschenderweise hört diese Forschung mit 1866 auf, obwohl der Norddeutsche Bund als Thema eine sehr gute Möglichkeit eröffnet, britische Auffassungen zur deutschen Föderativordnung zu untersuchen.9 Die Entwicklungen und Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts haben weitgehend die Forschungsansätze bestimmt. Sie werfen auch etwas Licht auf die britische Politik gegenüber dem Norddeutschen Bund. Studien über die Ursachen des Ersten Weltkrieges, wie beispielsweise die von A.J.P. Taylor,10 befassen sich mit den Problemen der Diplomatiegeschichte Europas. Studien, wie die von Paul Kennedy, betonten die britischen Ängste vor dem Niedergang der britischen Weltmachtstellung, vor dem Ende der Pax Britannica11 und dem wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands durch die Reform des Zollvereins und die Bildung eines Zollparlamentes in den Jahren 1862 bis 1870.12 Schon im späten neunzehnten Jahrhundert hatte man in Großbritannien Sorgen um die britische Weltstellung13, und die frühere Unterstützung für Pazifismus, Nichtinterventionismus und Splendid Isolation wurde kritisiert. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde, vor dem Hintergrund des Appeasements und des Niedergangs

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Wolf D. Gruner, Europäischer Friede als nationales Interesse. Die Rolle des Deutschen Bundes in der britischen Politik, 1814–1832, in: Bohemia 18 (1977), 96–128; ders., Großbritannien, der Deutsche Bund und die Struktur des europäischen Friedens im frühen 19. Jahrhundert, 2 Bände, München 1979; ders., Großbritannien und die Staaten des Deutschen Bundes im Vormärz, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Die ungleichen Partner. Deutsch-britische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, 44–64, 278–280; ders., Der deutsche Bund als ‚Centralstaat‘ von Europa und die Sicherung des Friedens. Aspekte britisch-deutscher Beziehungen in der internationalen Krise von 1819/20, in: Lothar Kettenacker/Manfred Schlenke/Hellmut Seier (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke, München 1981, 79–102; ders., Friede als nationales Interesse. Großbritanniens Aufstieg zur politischen und ökonomischen Weltmacht, in: ders./Bernd-Jürgen Wendt (Hg.), Großbritannien in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 1994, 1–36. Wolf D. Gruner, The British political, social and economic system and the decision for peace and war. Reflections on on Anglo-German relations 1800–1939, in: British Journal of Internatinal Studies VI/3 1980, 189–218; s. auch die Einführung von Paul M. Kennedy, The study of appeasement: methodological crossroads or meeting-place, in: ebd., 181–189 mit Hinweisen auf die deutsche Forschungsliteratur. Alan John Percivale Taylor, The Struggle for Mastery in Europe, 1848–1914, Oxford 1954. Rose, Zwischen Empire und Kontinent, 27ff. Hierzu den Beitrag in HMRG 31/2019 von Hans-Werner Hahn, Vom Zoll-Staatenbund zum Zoll-Bundesstaat: Der Deutsche Zollverein 1866–1871. U.a. Paul M. Kennedy, Aufstieg und Verfall der britischen Seemacht, Bonn 1978, 204ff.; Wolf D. Gruner, Frieden, Krieg und politisch-soziales System. Überlegungen zu den britisch-deutschen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 41/1978, 921–958.

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von nationaler britischer Macht diese Diskussion fortgeführt. 14 Die Ereignisse, Probleme und Entwicklungen der 1860er Jahre kamen immer wieder in den Blick.15 In der polnischen Krise von 1863 war der Bluff Lord Palmerstons nicht erfolgreich.16 Dies galt besonders auch für die britische Politik in der Schleswig und Holstein Frage 1863 und für die gescheiterte Mediation während des Krieges von 1864.17 Die Nichtinterventionspolitik von Premier Minister Lord Derby, Außenminister Lord Stanley und Lord Granville, wurde heftig kritisiert. Bislang gibt es keine eigene wissenschaftliche Arbeit über die britische Politik zum Norddeutschen Bund. Es liegt auch keine Untersuchung über die britische Wahrnehmung dieser damals neuen Organisation vor, sowohl innerhalb als auch außerhalb der politischen Eliten. Wie wurde die Verfassung des Norddeutschen Bundes in Großbritannien interpretiert? Wie war das Verhalten der Briten zu einem Zollparlament? Wie reagierten Außenpolitik und Diplomatie auf die Veränderungen in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen Deutschlands? Der Forschungsstand zu diesen Themen bleibt lückenhaft und unbefriedigend. Es gibt, um einen Begriff der Bismarck-Forschung zu gebrauchen, eine „Lacuna“ in der Literatur. Vielleicht war das Thema zu komplex, vielleicht glaubte man, dass der Norddeutsche Bund nur von kurzer Dauer sein würde. Doch, wie diese Untersuchung zeigen wird, schienen die Entwicklungen für die Zeitgenossen revolutionär zu sein. Die deutsche Reichsgründung und die nationalstaatliche Einigung von 1871 wurde von vielen eher als die Erfüllung der Erwartungen und Hoffnungen angesehen. Diese hatten sich seit 1866 schon angedeutet.

14 Z.B. Reinhard Meyers, Britische Sicherheitspolitik 1934–1939, Düsseldorf 1976; Wolf D. Gruner, ‚British Interest‘ in der Zwischenkriegszeit. Aspekte britischer Europapolitik 1918–1939, in: Karl Bosl (Hg.), Gleichgewicht – Revision – Restauration. Die Außenpolitik der ersten tschechslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vorortverträge, München/Wien 1975, 85–151; Marie-Luise Recker, Großbritannien und die Weimarer Republik, in: Gruner/Wendt (Hg.), Großbritannien in Geschichte und Gegenwart, 173–184; Bernd-Jürgen Wendt, Economic and Political Appeasement, in: ebd., 185–205; Lothar Kettenacker, Erziehung zum Frieden. Ein Hauptziel der britischen Deutschlandplanung im Zweiten Weltkrieg, in: ebd., 207–223; ders., Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1989. 15 Hierzu u.a. Bourne, The Foreign Policy of Victorian England 1830–1902, 105ff. 16 Ebd., 106 sowie die Dokumente No. 76, 366–368 (Palmerstons Rede im Unterhaus v. 20.7.1863). 17 Ebd., 107ff. (Palmerstons Rede vor dem Unterhaus v. 23.7.1863, 368–370). Keith A. P. Sandiford, Britain and the Schleswig-Holstein Question, 1848–64. A Study in Diplomacy, Politics and Public Opinion, Toronto 1975; ders., The British Cabinet and the Schleswig Holstein Crisis, 1863–1864, in: History 58/1973, 360–383; Thomas G. Otte, ‘Better to increase the power of Prussia’. Great Britain and the Events of 1864, in: Oliver Auge/Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern (Hg.), Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis, Paderborn 2016, 265–292; ders., The Foreign Office Mind. The Making of British Foreign Policy 1865–1914, Cambridge 2011.

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2. DIE VORAUSSETZUNGEN DER BRITISCHEN AUßENPOLITIK Die allgemeinen Voraussetzungen britischer Außenpolitik sind weitestgehend bekannt. Sie müssen aber dennoch hier erwähnt werden, um die Entwicklungen der 1860er Jahre besser verstehen und einordnen zu können.18 Der Sieg über Frankreich hatte Großbritannien nach 1815 eine politische, ökonomische hegemoniale Stellung verschafft und seine Sicherheit gewährleistet. Im neunzehnten Jahrhundert war Großbritannien politische Weltmacht und wirtschaftlich der „workshop of the world“. Im Gegensatz zu anderen Mächten waren für Großbritannien die Entwicklungen und Ereignisse in Europa weniger wichtig.19 Das Ende der Kontinentalsperre nach den Napoleonischen Kriegen und die Industrialisierung führten auch schnell zu einem britischen wirtschaftlichen Übergewicht.20 Hieraus ergab sich eine einseitige Wahrnehmung über die wirtschaftliche und politische Stellung Großbritanniens in der Welt. Großbritannien war ‚satiated‘ – gesättigt. Es unterstützte deshalb den Status quo.21 Der Wandel von Gesellschaft und Politik im Zug der Industrialisierung förderte die „Insularität“ und ein ‘Primat der Innenpolitik’.22 Auf der anderen Seite förderten, der wirtschaftliche Erfolg in Großbritannien und die Fortsetzung des wirtschaftlichen Wachstums auch nach dem Übergang zum Freihandel, den Aufstieg des Liberalismus. Dies führte zu einer größeren Sympathie für ausländische liberale Bewegungen, Bewegungen die in Großbritannien jetzt als naturgemäß, „natural“, angesehen wurden, die aber auch in Wirklichkeit den Status quo untergruben. Die Suprematie und die Insularität waren auch die Voraussetzungen für eine immer stärker werdende idealistische Komponente in der britischen Außenpolitik. Dieser Idealismus zeigte sich am deutlichsten in der britischen Förderung des Freihandels seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Er hing auch mit dem Whiggism zusammen. Man glaubte, dass eine neue Epoche der internationalen Beziehungen beginnen werde. Bernard Porter stellte hierzu fest: The fact that Britain regarded herself as having grown out of one particular stage of national development and into another meant that she had grown out of a particular stage of international development too. She had grown out of ‚power politics‘, for example; of territorial ambitions; of the ethos of military rivalries and ‚prestige‘: all of which were [...] widely believed to be inappropriate to her new situation. Other countries, however, had not yet made this transition: which meant that in international affairs they and Britain were somehow out of kilter, had divergent values and priorities and interests. Sometimes they were so divergent that they did not

18 Michael Byrne, Britain and the European Powers, 1815–65, London 1988; John Clarke, British Diplomacy and Foreign Policy, 1782–1865, London 1989; Frederic Samuel Northedge, The Foreign Policies of the Powers, London 1968, 150–179. 19 Adolf M. Birke, Britain and Germany. Historical Patterns of a Relationship, London, 1987, 19. 20 Robert Pearce, Britain and the European Powers, 1865–1914, London, 1996, Chapter Kap. 1. 21 Kenneth Bourne, The Foreign Policy of Victorian England, 1830–1902, 3–4. 22 Paul Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914, Introduction.

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even conflict with one another, like planets turning around different suns. At other times they did conflict or, more often, gave rise to misunderstandings, which was natural. 23

In der britischen Außenpolitik bestanden unterschiedliche Konzepte: Konservatismus, Isolationismus und Unterstützung internationaler Kooperation einerseits, politischer Liberalismus und interventionistische Rhetorik, andererseits. Beide Richtungen basierten auf der Überzeugung, dass Großbritannien satiated sei und dass es nur geringe Fähigkeiten besaß sich einzumischen und dass auch der Wille hierzu nicht vorhanden war. Robert Pearce drückte es folgendermaßen aus: „It was almost distasteful to the Victorians to have a foreign policy at all. But someone had to keep troublesome foreigners in order, and who better than the British?“24 In diesem Sinne konnte Lord Salisbury später die Aufgabe des idealen Außenministers beschreiben, als „loating lazily downstream, occasionally putting out a diplomatic boathook to avoid collisions“.25 Lord Palmerston sprach von civis romanus sum, womit er meinte, dass Großbritannien nicht nur als Vermittler, sondern auch als Vollstrecker in Europa agieren könne. Die Realität war jedoch anders. Großbritannien konnte auf dem Kontinent militärisch nicht mehr eingreifen. Es war aber auch zu einem Land geworden, das hierzu keine Lust hatte. Porter formulierte dies so: In a sense it was insoluble, because the only way really to solve it would defeat its whole object, undermine what was being safeguarded. Britain could have achieved a pretty good degree of security had she been prepared to reconsider her prejudice against large armies, and to intervene more actively in European affairs: but what would be the effect of this on the society – low taxation, laissez-faire, liberal, capitalist – that was being defended? It was like a bee’s sting, but without the bee’s ultimate (social) rationale. Fit out commercial England with an effective army, and she no longer was the commercial England she was before. There would be nothing left worth defending.26

Ohne diese allgemeinen Grundsätze der Außenpolitik aus dem Auge zu verlieren, war die Zeit des Norddeutschen Bundes eine, in der sich wichtige Entwicklungen in der britischen Politik vollzogen, weg vom Interventionismus Palmerstons. Die Grenzen britischer militärischen Macht wurden während des Krimkrieges 1854– 1856 sichtbar. Trotz des Säbelrasselns Palmerstons im Vorfeld des italienischen Krieges 1859, in der Polenkrise 1863, und vor allem im Konflikt um Schleswig und Holstein 1863/1864, gab es für eine einseitige Intervention keine große Unterstützung. Ohne europäische Verbündete in diesen Krisen wäre die Intervention ein Alleingang gewesen. Trotz großer liberaler Sympathien für den italienischen Nationalismus und die wachsenden Sorgen vor einem aggressiven Frankreich, verstärkte

23 Bernard Porter, Britain, Europe and the World 1850–1982. Delusions of Grandeur, London 1983, 8. Zum „Whiggism“ u.a. Peter Mandler, Aristocratic Government in the Age of Reform: Whigs and Liberals 1830–1852, Oxford 1990. 24 Robert Pearce, Britain and the European Powers, 1. 25 Muriel Chamberlain, ‚Pax Britannica‘? British Foreign Policy, 1789–1914, London, 1988, 123. 26 Porter, Britain, Europe and the World, 21.

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sich in Politik und Öffentlichkeit die Unterstützung einer Politik der Nichtintervention. Der britisch-französische Handelsvertrag von 1860 bedeutete in Wirklichkeit das Ende des Freihandels. Der Cobden-Vertrag wurde vielfach als ein Zeichen für eine neue Zeit des internationalen Pazifismus angesehen, wie es Richard Cobden prophezeit hatte. In den 1860er Jahren war man wegen der Ereignisse in Indien und dem Bürgerkrieg in den USA besorgt, jedoch wollte Großbritannien sich nicht in ausländische Konflikte einmischen. In der Regierungspartei gab es „conflicting approaches to the policy of neutrality“.27 In der ersten Hälfte der 1860er Jahre dominierten innenpolitische Fragen die Politik, vor allem die Frage der Parlamentsreform.28 Es war daher schwierig eine aktive Außenpolitik zu verfolgen. Zwischen 1865 und 1870 hatte Großbritannien fünf verschiedene Premierminister und Außenminister.29 Dieses Ministerkarussell wurde als „one of the most extraordinary legislative episodes in modern British history“ bezeichnet.30 Eine vergrößerte Wählerschaft führte 1868 zur ersten Regierung Gladstone, die noch weitreichendere Reformen anstrebte.31 Mit dem Tod Palmerstons 1865 schien die Ära der Intervention zu Ende zu gehen. Martin Pugh bezeichnete diese Abkehr als „the Palmerstonian mould had been decisively broken“.32 In den Jahren vor der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 standen die Sorgen um die französische und russische Deutschlandpolitik im Vordergrund britischer Politik. Der Bund wurde von Seiten Großbritanniens als ‚Puffer‘ zwischen Rußland und Frankreich angesehen, der eine wirksame Verteidigung nach Osten und Westen sichern konnte und sich als eine Verteidigungsgemeinschaft für die deutsche Nation mit europäischen Aufgaben verstand.33 Von britischen Liberalen wurde immer wieder Kritik am Bund geübt. Er wurde als Vehikel für eine reaktionäre Politik Metternichs und seinen Nachfolgern angesehen.34 Die britischen Kon-

27 28 29 30 31

Hayes, The nineteenth century, 228ff., 228. Norman McCord, British History, 1815–1906, Oxford 1991, 255ff. Herbert van Thal (Hg.), The Prime Ministers, London 1975, Bd. 2, 23ff., 67ff., 83ff., 109ff. McCord, British History, 258 passim. Zu den Überlegungen zur vom Ministerium Gladstone eingeleiteten Reformpolitik Paul Adelmann, Gladstone, Disraeli, and Later Victorian Politics, London 2014, 1–14; Edgar Feuchtwanger, Gladstone, 149–55. 32 Martin Pugh, The Making of British Politics 1867–1939, Oxford 1982, 28. Paul Adelmann, Gladstone, Disraeli, and Later Victorian Politics, London 2014, 1–14. 33 Gruner, Die Rolle des Deutschen Bundes in der britischen Politik, 99; ders., Der Deutsche Bund 1815–1866, München 2012, 77ff. 34 Hierzu zur Einschätzung (und Haßliebe zu) Metternichs durch Palmerston beispielsweise: UNIVERSITY OF SOUTHAMPTON LIBRARY BROADLAND PAPERS (in der Folge USL BP) General Correspondence (G.C.) BE 419 Palmerston-Lamb, private 30.6.1832: „I am afraid Metternich is playing the devil in Germany“. Auch Wolf D. Gruner, Europa in der Krise von 1830/31. Entscheidungsprozesse zwischen Systemstabilisierung und Eigeninteressen, in: ders./Markus Völkel (Hg.), Region – Territorium – Nationalstaat – Europa, Rostock 1998, 199–244.

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servativen wollten den Bund und die kleinen deutschen Staaten erhalten. Die britischen Liberalen waren wegen des Militarismus und des Reaktionismus der preußischen Regierung besorgt. Seit dem Ende der 1850er Jahre wurde der Bund nicht nur als konservativ eingestuft, sondern auch wegen des Antagonismus zwischen Österreich und Preußen als immer weniger handlungsfähig angesehen. Der langjährige britische Gesandte beim Deutschen Bund, Alexander Malet beklagte sich in seinem Rückblick über die Zerschlagung des Deutschen Bundes „how little is generally known in England of this defunct assembly“. 35 Er sah die Ursache für das Ende des Deutschen Bundes in der „long standing rivalry“ der deutschen Großmächte. Es war jedoch nicht vorhersehbar, „that their rivalry would culminate in a life-and-death struggle for supremacy“.36 Großbritannien war weniger am Bund als am europäischen Gleichgewicht interessiert. Aus Sicht Helmut Rumplers war die Funktion des Bundes in der Pax Britannica „sehr wohl auch mit einer Konsolidierung Deutschlands vereinbar, solange diese das Gleichgewicht Europas nicht störte“.37 Nach 1848 gab es in Großbritannien „a broad consensus in favour of Prussian leadership in Germany“.38 Die „neue Ära“ versprach die Einführung einer monarchischen Verfassung in Preußen nach britischem Vorbild. Die Tatsache, dass Preußen der industrialisierteste und wirtschaftlich liberalste Staat war, verstärkte die britische Unterstützung für Berlin in der deutschen Frage.39 Hinzu kam, dass die Tochter Königin Viktorias, ‚Vicky‘, Kronprinzessin von Preußen wurde. Der Aufstieg Preußens schien die britischen Erwartungen für die Entwicklung der Verfassung zu erfüllen. 1861 prophezeite Lord John Russell, der damalige Außenminister: „[The] course for Prussia, though not easy, is grand and glorious […] The pear will fall when it is ripe“.40 1865, kurz vor seinem Tod, und nach einem jahrelangen Widerstand gegen die Ziele der deutschen Nationalbewegung in SchleswigHolstein, kam Lord Palmerston zu der Schlussfolgerung: „Germany ought to be

35 Alexander Malet, The Overthrow of the Germanic Confederation by Prussia in 1866, London 1870, XV. 36 Ebd., 1. 37 Helmut Rumpler, Deutsche Bund und deutsche Frage, 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, Wien/München 1990, ‚Einleitung‘, 13; hierzu auch Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund und die europische Friedensordnung, in: ebd., 235–263, 248ff.; ders., Europa, Deutschland und die international Ordnung im 19. Jahrhundert, in: ders., Deutschland mitten in Europa. Aspekte und Perspektiven der deutschen Frage in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 1992, 71–106, 86ff. 38 Frank Lorenz Müller, Britain and the German Question. Perceptions of Nationalism and Political Reform, 1830–63, Basingstoke 2002, 93. Besonders auch Kapitel 4. Nützlich immer noch Veit Valentin, Bismarcks Reichsgründung im Urteil englischer Diplomaten, Amsterdam 1937. 39 John R. Davis, Britain and the German Zollverein, 1848–66, Basingstoke/New York 1997, 163ff. 40 George Peabody Gooch (Hg.), The Later Correspondence of Lord John Russell, 1840–1878. London 1925, 298.

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strong in order to resist Russian aggression, and a strong Prussia is essential to German strength“.41 1866 gab es noch immer zahlreiche Kritiker Bismarcks und der Politik Preußens. Wegen ihrer engen verwandtschaftlichen Verbindungen zu Coburg und Gotha, kritisierte beispielsweise Königin Viktoria Bismarcks Politik gegenüber dem Deutschen Bundes, insbesondere auch sein Vorgehen in der Schleswig und Holstein Frage. Das galt für den Umgang mit den Rechten der Augustenburger, die von der deutschen Nationalbewegung unterstützt wurden.42 Die Königin war immer noch ein wichtiger Faktor in der britischen Außenpolitik. Alle Außenminister mussten mit der Meinung der „Missus“, wie Lord Clarendon sie nannte, rechnen, besonders in Bezug auf Deutschland.43 Die Königin war aber nicht allein. Die Times verurteilte Bismarck ebenfalls: He has trampled with the most extreme insolence and the most perfect facility of the representative institutions of his country […] He is the idol of the Prussian aristocracy and the express impersonation of reaction. He dragged Austria into a war with Denmark, to commence which he employed the forces of the German Confederation, the honour of closing it being reserved for the troops of the Prussian monarchy. No man ever got so much his own way.44

Nach Ansicht der Times, zog Preußen ganz Europa mit sich in einen Krieg, der allein preußischen Interessen diente: „The preparations of Prussia“, schrieb die Times, „for consummating her designs on [Schleswig-Holstein] were so unscrupulously and even insolently advanced that Austria had no alternative between submissive assent and immediate resistance“.45 Die Nichtintervention und die Neutralität Großbritanniens während des preußisch-österreichischen Krieges waren folgerichtig.46 Außenminister, Lord Clarendon, schrieb zu Beginn des Krieges an Premierminister, Russell: „[We] ought not to meddle in this quarrel of bandits over their plunder“.47 Lord Derby, der während des Krieges Premierminister wurde, wurde wegen einer Kritik an der sogenannten „meddle and muddle“ Politik der Regierung Russell gewählt.48 In der außenpolitischen Debatte des Unterhauses betonte Außenminister Lord Stanley, dass „in the actual state of Europe“ sich die Situation wöchentlich, täglich und mit den ankommenden Telegrammen stündlich verändere. Er werde sich daher auf die im Laufe der Aussprache vom Abgeordneten Laing aufgeworfene Frage konzentrieren: 41 Francis L. Carsten, Essays in German History, London 1985, 186. Zur britischen Außenpolitik nach der Ära Palmerston Hildebrand, No Intervention, 85ff. 42 Zur Haltung der Königin: THE NATIONAL ARCHIVES (in der Folge PRO) PRO 30/22: Queen Victoria–Lord John Russell, 12.3.1866. 43 Paul Kennedy, The Realities behind Diplomacy. Background Influences on British External Policy, 1865–1980, London 1981, 66. 44 9. April 1866, Times. 45 4. Mai 1866, Times. 46 Zum Vorteil der britischen Neutralität im „Deutschen Krieg“ und dessen Stellung in der britischen Weltpolitik u.a. Hildebrand, No Intervention, 119ff. 47 2. April 1866, Times. 48 Porter, Britain, Europe and the World, 27.

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He wants some guarantee that no intervention is contemplated on our part. He wants some assurance that this country will not be dragged into a war as it was in the Crimean case. He admits the policy of the Government is intended to be that of non-intervention.49

Er habe seit Jahren die Meinung vertreten, dass Großbritannien nicht in einen Krieg auf dem Kontinent hineingezogen werden solle. Großbritannien verfolge „a pacific policy, a policy of observation rather than of action“.50 Großbritannien verstehe sich eher als „a friendly and neutral power […] desiring nothing more than the restoration of peace, and that this peace shall be permanent“.51 Die Regierung habe sich zusammen mit Frankreich in Berlin und Florenz für eine „temporary cessation of hostilities“ eingesetzt. As to the state of affairs at the present moment […] I wish distinctly to assure hon. Gentlemen and the country that the British Government stand, as regards the European controversy, free, unpledged, and uncommitted to any policy whatever. 52

Die Times unterstützte die Neutralitäts- und Nichtinterventionspolitik, und fragte: Who could profess to apportion between Austria and Prussia a piece of territory which Europe declared to belong to Denmark, and which Austria and Prussia themselves declared to belong to Germany? We speak only in the broad and universal interests of peace itself, and can but repeat that, whatever may have been the dealings with those Danish Duchies, it would be the extreme of folly and wickedness to consummate them by a Continental war. 53

Die Reaktion in Großbritannien auf den schnellen, überraschenden Sieg Preußens im deutschen Krieg 1866 fiel eher positiv aus.54 Im Unterhaus beschrieb Lord Stanley die Einstellung der Regierung folgendermaßen: With regard to the general policy of the Government I have only one remark to make. I think there never was a great European war in which the direct national interests of England were less concerned. We all, I suppose, have our individual sympathies in the matter. The Italian question I look upon as not being very distant from a fair settlement; and with regard to the other possible results of the war, and especially as to the establishment of a strong North German Power — of a strong, compact Empire, extending over North Germany—I cannot see that, if the war ends, as it very possibly may, in the establishment of such an Empire—I cannot see that the existence of such a Power would be to us any injury, any menace, or any detriment. It might be conceivable enough that the growth of such a Power might indeed awaken the jealousy of other Continental States, who may fear a rival in such a Power. That is a natural feeling in

49 HANSARD HOUSE OF COMMONS Debates 20 July 1866 (in der Folge HoC), vol. 184, 1217– 1258, 1253, verfügbar auch unter: hansard.millbanksystems.com/commons/1866/jul/20/ foreign-policy-question [letzter Abruf: 9.3.2018]. 50 Ebd. 51 Ebd., 1254. 52 Ebd. 53 4. Mai 1866, Times. 54 Thomas G. Otte, ‚A banditi quarrel‘: Great Britain and the 1866 War, in: Winfried Heinemann/Lothar Höbelt/Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, 107–127.

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John R. Davis their position. That position, however, is not ours, and if North Germany is to become a single great Power, I do not see that any English interest is in the least degree affected. 55

Mitte Juli 1866 hatte die Times ihre Haltung um 180 Grad gedreht. Sie fand jetzt, dass Preußen ein „great game“ gespielt habe, und dass seine Regierung „as much ability in its political manoeuvres as in its conduct of military operations“ gezeigt habe.56 In einer Artikelserie im Spätsommer 1866 bezeichnete die Times eine preußische Führungsrolle in Deutschland als willkommen und ein mächtiges Preußen als eine bessere Basis für die mitteleuropäische Ordnung als die zur Zeit des Deutschen Bundes. Die Times versuchte die britische Ambivalenz zu widerlegen, indem sie darauf hinwies, dass sich die deutschen Liberalen eher an der Herstellung der nationalen Einheit als am Liberalismus orientierten: „Difficult as it may be for an Englishman to realize the fact,“ schrieb die Times, this desire for unity is far stronger in the German mind than any impatience of bureaucratic control or love of political liberty. Unpopular as the Prussians are, and odious as the name of BISMARCK was but very lately to German Republicans, there are few, we suspect, who would not prefer incorporation with Prussia under Count BISMARCK’s ascendancy to the old state of things.57

Der alte Deutsche Bund wurde jetzt als hinfällig und aus der Zeit gefallen dargestellt: Die Times nannte ihn einen „Amphyctyonic Council“, der jetzt von preußischen Truppen nach Augsburg weggejagt worden war „where it is now lodged in two hotels“.58 Der Times erschien es jetzt besser, dass der österreichische Einfluss sich nach Osten richten sollte. Hier konnten die österreichischen Deutschen einen zivilisierenden Einfluss auf dem Balkan ausüben.59 Die Times begrüßte auch das Ende der österreichischen Herrschaft in Italien. Es zeigte aus britischer Perspektive die Verbindung von Entwicklungen in Deutschland mit der Unterstützung des italienischen Nationalismus.60 Das Verschwinden der kleineren deutschen Staaten wurde bedauert: Die Times beschrieb ihre Herrscher als with the exception of the wicked Elector of Hesse […] a well-behaved, respectable set, hardly ever venturing beyond the indiscretion of a left-handed marriage, or at the utmost, and in their dotage, upon a platonic flirtation with a ballet girl.

Man erkannte die kulturellen Vorteile von einer so grossen Anzahl von Kunstfördereren. Es gab aber auch eine deutliche Erleichterung, dass sie jetzt endgültig verschwunden waren. Die Times glaubte, „it was for the great advantage that Hanover and all the Minor States of Germany should be merged in their great Fatherland“.61 In Sachsen, las man in der Times, dass King Johann „is, like all the other North

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HoC Debates 20 July 1866, vol. 184, 1256. 13. Juli 1866, Times. 19. Juli 1866, Times. Ebd. 4. August 1866, Times. 23. August 1866, Times. 21. August 1866, Times.

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German Princes, reduced to the rank of a Prussian prefect“.62 Die Times sah dies aber als einen logischen Schritt, da Preußen seine süd-östlichen Grenzen jetzt sichern musste. „But when all is said“, schrieb die Times, we would be the last to deny that even little German princes and dynasties may have had their mission, more or less important to the public good. So had begging monks and reigning Popes, and many other institutions of which we have had enough, but of which we should never have been rid if we had waited till they had acknowledged that they had outlived their day of usefulness, and that the world might get on very well without them. 63

Für die Times bedeutete Preußens Sieg, dass Berlin jetzt das Recht hatte, alles so zu arrangieren, wie es wollte. „As a mere prize of fair conquest“, schrieb sie, „Germany belongs to Prussia“. Keine andere Macht hätte die Führung der deutschen Staaten übernehmen können. Austria renounced that leadership in 1806, if, indeed, she had not already done so in 1763, in 1648, or even in 1530, when the interests of the Empire were sacrificed to the bigoted or the ambitious views of the Imperial dynasty. 64

3. BRITISCHE REZEPTION DER NORDDEUTSCHEN BUNDESVERFASSUNG Das Argument, dass Preußen auf Grund seines Sieges das Recht habe, Deutschland so zu gestalten, wie es ihm gefiel, war ein sehr bequemes Argument, da es auch die allgemeine Gleichgültigkeit in Großbritannien gegenüber der Situation in Deutschland unterstrich.65 Als Informationen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes übermittelt wurden, waren die Reaktionen darauf eine logische Fortsetzung der bisherigen Haltung. Sie waren allgemein positiv. Schwächen in der neuen Bundesverfassung wurden hervorgehoben. Lord Augustus Loftus, seit 1865 britischer Botschafter in Preußen und seit 1868 auch beim Norddeutschen Bund akkreditiert, übermittelte im Januar 1867 als Erster einen vollständigen Entwurf der Verfassung.66 Seine Berichte über die Verfassung waren meistens deskriptiv. Er erkannte aber auch Mängel. So berichtete er nach London, dass die Verfassung „compiled in haste, without much consideration“ sei. „It was voted without much reflection or discussion […] the machinery, from being incomplete, cannot work.“ So gebe es kein Bundesstaatsministerium, das Bundesgesetze durchsetzen konnte, eine Schwäche, die, wie er schrieb „is becoming daily more apparent“. Die Verfassung gebe dem Bundeskanzler Bismarck zu viel Gewicht.

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19. Juli 1866, Times. 15. August 1866, Times. 3. November 1866, Times. Es ist interessant festzustellen, dass es beispielsweise 1864 im britischen Parlament mehr Deutschlandbezüge gab als 1866. 66 PRO 244/214: Augustus Loftus–Stanley 12.1.1867.

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Loftus charakterisierte ihn als „the sole actor on the stage“.67 Der Beschluss den Abgeordneten zum Reichstag keine Diäten zu gewähren, würde bedeuten, so Loftus, dass „none but men of independent fortune will be inclined to accept the mandate“. Das Verbot Staatsdiener zu ernennen würde seiner Meinung nach „exclude that class of Politicians in Prussia which may be deemed the most intelligent such for instance as professors, judges, lawyers, magistrates, & c“.68 Einer der Hauptgegner Bismarcks, Robert Morier, der 1866 zum Legationssekretär in Darmstadt ernannt worden war, fand viele Schwächen in der Verfassung. Er legte seine Auffassung hierüber nicht nur in seiner amtlichen Korrespondenz dar, sondern auch in einem 1869 zu diesem Thema veröffentlichten Artikel und in seinen Memoiren.69 Morier hatte enge Verbindungen zum deutschen Nationalverein, und betrachtete den Norddeutschen Bund als einen preußischen Versuch, sich auf Kosten Deutschlands und seiner nationalen Bewegung zu vergrößern.70 Der Norddeutsche Bund, in dem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu Preußen gehörte, war seiner Meinung nach – und hier machte er von einem zeitgenössischen Scherz Gebrauch – eine Allianz zwischen dem Hund und seinen Flöhen.71 Preußen war seinen eigenen Sonderinteressen und nicht der deutschen nationalen Einheit verpflichtet. Berlin sei auch kein wirklicher Förderer des Liberalismus. Aufgrund seines Postens in Hessen-Darmstadt war Morier insbesondere wegen der Stellung dieses Staates zum Norddeutschen Bund besonders kritisch gegenüber Preußen eingestellt: Die Provinz Oberhessen gehörte zum Norddeutschen Bund, nicht aber das übrige Staatsgebiet des Großherzogtums, das außerhalb des Norddeutschen Bundes blieb. Die neue Grenze zwischen Nord- und Süddeutschland entlang des Mains war für ihn schrecklich: „Of the many mysteries connected with the Prussian reconstruction of Germany“, schrieb Morier, „this exceptional position of the Grand Duchy of Hesse is perhaps the most mysterious“.72 Es sei, berichtete er nach London, eine „amphibious position“, die „intolerable“ sei, und die Darmstadt „half dependent and half independent“ ließe.73 Morier vermutete, dass diese sonderbare Entscheidung für Hessen-Darmstadts auf Verhandlungen zwischen Bismarck und den Franzosen zurückging. „With her own people Prussia broke faith“, schrieb er voll Ironie, „with her Gallic neighbour she was true to her word“.74 Morier hatte vor dem Ausbruch des militärischen Konfliktes mit dem Deutschen Bund Preußen unterstellt, dass es ihm allein um „territorial aggrandissment“ 67 Lord Augustus William Frederick Spencer Loftus, The Diplomatic Reminiscences of Lord Augustus Loftus, 1862–1879, 2 Bde., London 1894, vol. 1, 26. 68 PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 15.1.1867. 69 Robert Morier, The Reconstruction of Germany, in: North British Review March 1869, 133– 166; R. Wemyss, Memoirs and Letters of the Right Hon. Sir Robert Morier, G.C.B. from 1826 to 1876, London 1911. 70 Agatha Ramm, Sir Robert Morier, Oxford 1973, ‚Introducction‘. 71 Morier, Reconstruction of Germany, 160. 72 Ebd., 159. 73 PRO FO 244/218. Robert Morier–Stanley, 2. 12.1867. 74 Morier, Reconstruction of Germany, 160.

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gehe „with the primary object of crushing liberty at home, and debauching public opinion by the prestige of military success“ und fragte wie sich Großbritannien bei einem Sieg Preußens verhalten solle.75 Nach dem Sieg Preußens im Krieg, mit einem „galloping pace“,76 und dem erzwungenen Beitritt der norddeutschen Kleinstaaten zu einem künftigen Norddeutschen Bund im August 1866 verurteilte Morier die Bestrebungen und Versuche Preußens die kleineren deutschen Staaten zu mediatisieren. Bismarcks Nordbund war, so meinte er, „a great machine for pumping men and money out of the rest of Germany, and paving the way towards the Einheits Staat“.77 Moriers Widerstand und seine Nähe zu Königin Viktoria und Vicky machten ihn schon 1867 zum Objekt bismarckischer Intrigen. Bismarck wollte ihn von seinem Posten in Darmstadt abberufen lassen.78 Er hatte guten Grund für seinen Argwohn gegenüber Morier. Als Preußens Pläne für eine Militärreform bekannt wurden, erkannte Morier die negativen Auswirkungen dieser Reform für die kleineren deutschen Staaten. In einer privaten Audienz mit Königin Victoria am 28. Januar 1867 auf der Insel Osborne machte Morier der Königin klar, dass Staaten wie Coburg und Gotha nicht in der Lage sein würden, die neuen finanziellen Belastungen des Militärsystems zu tragen. Victoria, die ohnehin an der Fortexistenz der kleineren Staaten, wie dem ihres g geliebten Ehemanns Albert, interessiert war, schrieb nach diesem Gespräch in ihr Tagebuch: „[If] only things could take a better turn“.79 Interessant ist auch, dass auch andere Diplomaten über die Auswirkungen und Belastungen der preußischen Militärreformen auf die kleineren Staaten berichteten. Lord Augustus Loftus verfolgte die Bestrebungen Waldecks, das seine Souveränität lieber an Preußen abtreten wollte, als die Kosten des neuen Militärsystems zu tragen. Preußen wies diese Vorschläge zurück. Aus der Sicht von Loftus waren Moriers Überlegungen und kritischen Anmerkungen durchaus nachvollziehbar: It was feared that the actual mediatisation by Prussia of a Principality however small would have created an outcry in France – & that it would have unnecessarily created alarm among the South German States which are already increasingly anxious as to their future. It would likewise have disturbed the existing arrangements with respect to the votes in the Federal Council, for the vote now possessed by Waldeck would have been cancelled without passing into the hands of Prussia. An arrangement therefore has been come to between Prussia & Waldeck by which the former undertakes the general administration, leaving to the prince of Waldeck the Title & certain attributes of sovereignty. It is in fact a tutelage little short of mediatisation.80

75 Morier–Grant-Duff, 9.6.1866, in: Wemyss, Memoirs and letters, 65. 76 BODLEIAN LIBRARY Oxford, Nachlass Clarendon Dep. C 144: So Clarendon in einem Privatbrief an Cowley v. 3.7.1866. 77 21 December 1866, Morier–Stockmar. Gedruckt bei: Wemyss, Memoirs and letters, 91. 78 Ebd., 98–99. 79 Queen Victoria‘s Journal 28 January 1867: http://www.queenvictoriasjournals.org/home.do [letzter Abruf: besucht am 20. September 2017]. 80 PRO FO 244/215: Augustus Loftus–Stanley, 2. 8. 1867.

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Ähnliches berichtete John Ward aus Hamburg.81 Generell wurde die Gründung des Norddeutschen Bundes in Großbritannien positiv aufgenommen. Sie wurde als Rückkehr zur Stabilität wahrgenommen. Die Annahme des Indemnitätsgesetzes im preußischen Abgeordnetenhaus begrüßte die Times als einen Schritt in diese Richtung. Die Regierung Wilhelms I., kommentierte sie, habe dem Parlament einen „olive branch“ angeboten und sei „magnanimous“ gewesen. „We firmly believe“, meinte sie, „that the era of real Constitutional freedom is re-inaugurated in Prussia – and through her in Germany – under the very best auspices“.82 Die neue Einigkeit Deutschlands wurde auch begrüßt. „The nation itself“, schrieb die Times, has made an immense step in advance; it has found a head and a centre; it is one to all intents and purposes, and exhibits a close and compact front to foreign Powers, who already look upon it with respect […] To be of one mind on all subjects of foreign policy, in spite of dissensions on almost all home matters, is precisely what constitutes a really free and united nation, and the Prussians have proved their fitness for the supremacy to which they aspire in Germany. 83

Britische Beobachter waren, wie die deutschen Nationalliberalen, der Meinung, dass Einheit wichtiger sei als Liberalismus. Die Times drückte es so aus: It is not by liberty, at least not by disorderly liberty, that unity can be achieved, but it is on the basis of a firm, compact unity that an educated, patient, laborious people like the German may hope to establish sound freedom. 84

Unaufgeregt und gleichgültig verfolgte Großbritannien die Eingliederung und Annexion der kleinen Staaten im Norden, auch die Annexion des Königreichs Hannovers. Lord Augustus Loftus versuchte wegen des Privatvermögens des Königs von Hannover zu vermitteln. Die Regierung in London wollte sich jedoch in der Angelegenheit nicht engagieren. In diesem Sinne instruierte Außenminister Stanley den britischen Botschafter in Berlin: Your Excellency must make it clearly understood both as regards this step and as regards any other step which you may take in order to bring both the Parties to an understanding in the matter, that Her Majesty’s Government will not incur any responsibility either towards Prussia or towards the King of Hannover as to the terms to be agreed upon between them, or as to the observance by either party of such terms when agreed to.85

Königin Viktoria vermied es ebenfalls das hannoversche Königshaus offiziell zu unterstützen.

81 PRO FO244/216: Ward–Stanley, 22. 3. 1867. Ward berichtete an Stanley, dass „the extension of the Prussian military system to the commercial ports of northern Germany, is considered here to bear very hardly upon the interests of the population, & that the citizens are disposed to resort to all the means in their power to shake off or evade so onerous an obligation“. 82 28. August 1866, Times. 83 13. September 1866, Times. 84 19. Dezember 1866, Times. 85 PRO FO 244/217: Stanley–Loftus, 1.4.1867.

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Die Times warf wohl den Hohenzollern in einem Artikel Ende 1866 vor, dass diese glaubten, von Gottes Gnaden zu regieren. Sie war aber auch bereit, reaktionäre Tendenzen unter diesen Umständen als verständlich und sogar als nützlich anzusehen und zu akzeptieren. In Bezug auf das Indemnitätsgesetz erklärte die Times ihren Lesern: To make a Germany millions were wanted for the army, and the object of the vast outlay could not be laid bare before the world. For braving all obloquy, for going to work with all implements, for making the best of the worst means, he deserves full credit, and full credit is given to him by his grateful countrymen.

Bismarck selbst charakterisierte die Times als: „incorrigibly arrogant, despotic, and grasping“ und verwies auf die „impossibility of anything like freedom ever taking root in any soil trodden by his iron heel“ und fuhr fort: [We] do not the less think it our duty to point to the exceptional and extremely difficult circumstances with which the Prussian statesman has to contend. To measure the working of the law of the Press or of Parliamentary practice in Prussia by an English guage would be to forget that constitutions must grow up like trees, not be built up like houses.86

Die Times drückte den allgemein verfremdeten Standpunkt der meisten britischen Beobachter aus, als sie schrieb: It is impossible for us to look upon their struggle without interest, nor to invest ourselves with all their hopes and fears, with all their loves and hatreds; yet we should never forget that our position is that of mere lookers-on. It behoves us to be anxious to observe, slow to judge. 87

Andererseits war die Times, wie viele andere, der Meinung, dass, egal wie viele Mängel es in der neuen Verfassung gab, der Liberalismus am Ende an Macht gewinnen würde. Preußen und Deutschland, schrieb die Times, würden im Kampf um weitere Liberalisierung „winning their spurs“. Die Berichte britischer Diplomaten unterstrichen diese Sicht. Augustus Loftus analysierte in seiner Berichterstattung im Herbst 1866 und im Frühjahr 1867 sehr detailliert die Formulierungen der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die Verhandlungen unter den Ministern, über die konstituierende Versammlung sowie über die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus und zum Norddeutschen Reichstag. Obwohl Loftus keinen Hehl daraus machte, dass letztendlich die Macht und das Gewicht Preußens die Verfassung den anderen Staaten aufzwingen konnte, versuchte er dennoch, London zu versichern, dass „Count Bismarck is very sanguine of being able to command a considerable majority in the North German Parliament, and is therefore confident of their accepting the Federal constitution“. 88 Loftus befasste sich insbesondere mit dem neuen Universalwahlsystem. Es war bestimmt von größerem Interesse, wenn man in Betracht zieht, dass zur gleichen Zeit im britischen Parlament eine Wahlreform debattiert wurde. Seit dem Frühjahr

86 19. Dezember 1866, Times. 87 13. September 1866, Times. 88 PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 19.1.1867.

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1867 schickte er regelmäßig Berichte über die Verhandlungen im neuen Reichstag nach London.89 Trotz seiner Kritik an der Bundesverfassung, glaubte Loftus auch, dass sie sich allmählich in eine der britischen Verfassung entsprechende Richtung entwickeln würde. Die Landtage der Mitgliedstaaten würden zu örtlichen Behörden herabgestuft werden. Ein Oberhaus würde Mitgliedern der Aristokratie gebildet werden und dem House of Lords gleichen.90 Der Präsident des Norddeutschen Bundes würde den Kaisertitel annehmen müssen. Mit anderen Worten, der Norddeutsche Bund würde langfristig der Verfassungsordnung Großbritanniens entsprechen. Loftus’ Interpretation wurde anscheinend auch von der Regierung in London geteilt. So schrieb Stanley an Loftus: „I have seldom read a more interesting or lucid summary of a political situation […] and the Prime Minister [i.e. Mr. Disraeli], to whom I forwarded it, quite agrees in that opinion.“91 Auch Robert Morier, obwohl er der Verfassung weitgehend kritisch gegenüberstand, konnte positives entdecken. Preußen wollte er zumindest zugestehen, dass es den „Gordian knot“ der bisherigen deutschen Politik durchschlagen habe und versuche die anderen deutschen Staaten in den Norddeutschen Bund zu zwingen. Er glaubte aber, dass Preußens Bemühungen am Ende vergeblich sein würden. Der Norddeutsche Reichstag, argumentierte Morier, sei „the contribution of the professors and the nation to the new edifice“.92 Er erwartete, dass das Parlament an Macht gewinnen werde, vor allem, weil die Einnahmen des Bundes durch den Zollverein irgendwann die Schulden des Bundes nicht mehr decken würden.93 Unter britischen Beobachtern war die Meinung weitverbreitet, dass die norddeutsche Verfassung lediglich ein Übergangsstadium bilden würde. Dies hing u.a. mit den Erwartungen zu einer weiteren politischen Liberalisierung zusammen, wie es die Times formulierte: As a permanent arrangement the BISMARK regime would be intolerable; but what he is now erecting is not the definitive German edifice; it is only the scaffolding, and allowance must be made for any clumsiness or unsightliness in its appearance. The North German Confederacy is not what Professors would call the Fatherland; but it is nearer to the realization of the ‘dream of centuries’ than anything it had hitherto been found practicable to attain. 94

Andererseits wurde angenommen, dass der provisorische Charakter der Verfassungsordnung auch mit Blick auf die Staaten, die außerhalb des Bundes blieben, wichtig war. So waren die süddeutschen Staaten durch den neuen Zollvertrag in das Zollparlament eingebunden worden. Von Anbeginn ging man davon aus, dass die südliche Grenze des Norddeutschen Bundes nicht auf Dauer bleiben würde, und dass die Süddeutschen Staaten irgendwann dem Norddeutschen Bund beitreten

89 90 91 92 93 94

Ebd., Augustus Loftus–Stanley, 19.3. 1867. Loftus, The Diplomatic Reminiscences of August Loftus, vol. 1, 226–227. Ebd., 227. Morier, Reconstruction of Germany, 162. Ebd., 166. 25. Februar 1867, Times.

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würden.95 Schon Anfang August 1866 berichtete Augustus Loftus an Lord Stanley, dass es Bismarcks Ziel sei, die preußische Macht zu vergrößern und nicht, wie es die Nationalbewegung anstrebte, Preußen in Deutschland aufgehen zu lassen: „If at this moment“, so Loftus, [The] Imperial crown were offered to the King of Prussia, with the constitution voted by the National Assembly at Frankfort in 1849, and with the Electoral Law passed by that Assembly, the whole internal system of government in Prussia would be submerged. The Feudal party, with its limited notion of constitutional rights, would be swept to the winds, and a moral revolution would take place in Prussia of as great importance as the miraculous successes which have attended her arms.96

Loftus glaubte, dass Veränderungen kommen würden. „In my humble opinion“, fuhr er fort, „the rapid course of events will force Prussia – if not at present, at no distant date – willingly or unwillingly, to rally the nation round her standard, and to put herself at the head of Germany“.97 Für die Times war auch klar: Die kleindeutsche Nationalbewegung kritisierte Bismarck. Dieser aber blicke weiter in die Zukunft: „In order to unite all Germany“, schrieb die Times, „he felt it was necessary to gain a firm hold of half of Germany“.98 Die Rede König Wilhelms am 23. Februar 1867 bei der Eröffnung des Norddeutschen Reichstages machte deutlich, dass es das Ziel Preußens war, den Bund um die Süddeutschen Staaten zu erweitern. Sie bestätigte die bisherige Einschätzung vieler britischen Beobachter. Die Rede wurde in Großbritannien positiv aufgenommen. Loftus schrieb, dass „the Berlin press of all shades of political opinions concurs in the policy“ und heartily responds to the patriotic aspirations which it inspires. As regards the position of Prussia and Northern Germany towards Foreign States [your] L[ordship] will have perceived that great stress is laid on the pacific and non-aggressive policy of Germany, which at the same time the eventual unity of Germany under one head is unmistakably referred to as the ultimate and indispensable object of the German nation.99

Das verhaltende Vorgehen der preußischen Politik war wie Musik in britischen Ohren. Die Times betonte auch den perspektivischen, nicht-drohenden Charakter der Rede König Wilhelms. Der Krieg von 1866, schrieb die Times, brachte „consummations which the long lapse of centuries had been slowly maturing“. Der preußische König hatte auf diesen langen Prozeß der Integration hingewiesen, indem er den Wunsch aussprach, die süddeutschen Staaten sollten dem neuen deutschen

95 Hierzu ausführlicher die Beiträge von Hans-Werner Hahn zum Zollparlament in HMRG 31/2019 und von Wolf D. Gruner zu den süddeutschen Staaten vom Deutschen Bund zum neuen deutschen Bund in diesem Band. 96 Augustus Loftus–Stanley, 4. 8. 1866, in: Loftus, Diplomatic Reminiscences of Lord Augustus Loftus, 105–107. 97 Ebd. 98 19. Dezember 1866, Times. 99 PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 2.3.1867.

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Bund beitreten. „However close may be the ties contrived to knit together the various members of the same German family“, behauptete die Times, their union can never be a cause of uneasiness for their European neighbours. The Germans are a peace-loving, laborious people, anxious to keep their own, incapable of coveting what belongs to other people. Such strength as may accrue to them will never be turned to aggressive purposes.100

Im März 1867 wurden die geheimen Schutz- und Trutzbündnisse zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten bekannt. Diese neue Entwicklung wurde aber unaufgeregt und auch positiv aufgenommen. Loftus hatte Lord Stanley schon Anfang März berichtet, dass Bismarck „rejected as untimely the proposals which have been made to him by Bavaria for an intimate alliance with Prussia“ und, dass Bismarck nur wolle, dass die süddeutschen Staaten „should be in a position to protect the German territory from foreign aggression“.101 Die Times schien die Logik Bismarcks zu akzeptieren. Ihr Urteil war, dass „everything that tends to bring the Germans together […] renders a conflict with it a more gigantic and almost hopeless undertaking, and becomes thereby a material guarantee for the peace of Europe“.102 Die britische Regierung begrüßte die Verträge. Nachdem ihm der preußische Botschafter, Bernstorff, über die Verträge berichtet hatte, schrieb Stanley an Loftus: „I said that I was very glad, in the interest of European peace, to hear of the union of Germany for defensive purposes being effected“.103 Loftus seinerseits berichtete nach einer Audienz mit König Wilhelm: I observed to His Majesty that the policy of England was peace. The constitution of Germany on a solid and united basis would offer a fresh guarantee for its maintenance, supported by the assurances which His Majesty had just given of the purely defensive character of the treaties referred to.104

Die britische Annahme, dass die süddeutschen Staaten allmählich in den Norddeutschen Bund integriert werden würden, wurde durch Berichte über die Reorganisation des Zollvereins und die Bildung eines Zollparlaments gestützt. Schon im Oktober 1866 argumentierte die Times in dieser Richtung: „The need of commercial association“, informierte die Times, „gave the impulse to political union in Germany“. „Commercial unity“, unterstrich sie, „has now become a condition of existence for the whole of the North German Confederacy“. Die Times erwartete jetzt, dass der neue Bund die Einbeziehung von Mecklenburg und den Hansestädten in den Zollverein mit sich bringen würde. Sie glaubte auch, dass diese neue handelspolitische Einheit sich auch auf die süddeutschen Staaten erstrecken werde: „[They] can certainly have neither the power nor the will to break loose from those commercial engagements which have done so much for the material prosperity of the common country“. Für Großbritannien eröffnete die Erneuerung des Zollvereins 100 101 102 103 104

25. Februar 1867, Times. PRO FO 244/214: Loftus–Stanley, 2.3.1867. 28. März 1867, Times. PRO FO 244/216: Stanley–Lofus, 16.3.1867. Loftus, Diplomatic Reminiscences of Lord Lofus, vol.1, 167.

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vielversprechende Perspektiven für die wirtschaftliche Integration. „A renewal of the Zollverein compact“, meinte die Times, throughout Germany, North and South, and agreement with the Swiss Cantons as to the line to be followed, would open to Germany all Italy with all her ports in the Mediterranean and the Adriatic – Genoa, Venice, Ancona, Brindisi – and the way to the East, independently of all the goodwill and friendship of Austria. And were at some future time Austria and Germany, no less than Switzerland and Italy, to understand and endeavour to promote their true interests, there would be nothing to prevent such a freedom of commercial intercourse between them as might join all the Northern with all the Southern ports, and make the railway lines of the Brenner and the Sömmering, of the Gotthard and the Splugen, into as many channels for the world’s free traffic.105

Augustus Loftus war auch davon überzeugt, dass die wirtschaftliche Einbindung der süddeutschen Staaten ihren Beitritt zum Norddeutschen Bund mit sich bringen werde. Nach der Rede König Wilhelms betonte er den abwartenden Charakter der Bismarckschen Erweiterungspläne. Loftus betonte auch, dass, Count Bismarck does not wish at this moment to embarrass the consolidation of the Northern Confederation by any precipitate adjunction of Southern Germany. His intention appears to be to prepare the way for a perfect unity of all Germany under Prussian supremacy, by a reconstruction of the Zollverein, and by unitary measures in all matters of Commerce and internal legislation. This intention is clearly expressed in the King’s speech.

Loftus vermutete, dass es eine Reform des Zollverein geben werde, um Preußen mehr Kontrolle zu geben, und auch, um neue Gesetze zum Post- und Telegraphenwesen sowie weitere Strukturgesetze zu verabschieden: „Until these measures have been carried out“, schrieb er, a political alliance between the Southern States and the Northern Confederation w[oul]d. take no root. It might meet the necessity of a moment, but it would be ephemeral. The unity of the material interests of the nation must preceed their political unity; the closer the material interests of the North and South are knit together, the stronger will be their political alliance until the foundations of material unity are firmly laid, the entrance of the Southern States into the Northern Confederation w[oul]d. only tend to division and confusion. 106

Robert Morier hatte, wie oben angedeutet, behauptet, dass ein Problem Bismarcks war, dass Frankreich jetzt äußerst empfindlich über jedwelche Ausdehnung des preußischen Einflusses in den süddeutschen Staaten reagieren würde. Loftus schrieb auch in diesem Sinne nach London und meinte, dass jeder Versuch HessenDarmstadt in den Bund zu bringen, eine negative Auswirkung auf die deutsch-französische Beziehungen nach sich ziehen würde.107 Auf der anderen Seite schienen die Berichte von Loftus während der Verhandlungen in Deutschland über Handelsbzw. Militärverträge zu bestätigen, dass Napoleon III. ruhig bleiben würde.108 Bis-

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29. Oktober 1866, Times. PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 2. 3.1867. Ebd., Augustus Loftus–Stanley, 12.4.1867. PRO FO 244/215: Loftus-Stanley, 22.6.1867.

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marck selbst betonte in seinen Gesprächen mit Loftus ausdrücklich den allmählichen, friedliebenden Charakter seiner Pläne gegenüber den süddeutschen Staaten. Als der Großherzog von Baden versuchte, seinen Staat schon 1867 in den Norddeutschen Bund aufnehmen zu lassen, sagte Bismarck Loftus, dass er der Regierung Baden gesagt habe, „that the Pear when ripe would be easily gathered, but that by endeavouring to obtain it before the time by throwing a stone at it, the fruit would be injured“. Die Ähnlichkeit dieser Worte – von Loftus verbatim zitiert – mit denjenigen Lord John Russells im Jahre 1861 war vielleicht kein Zufall. Bismarck wusste, welche Wirkung sie in London haben würden. Immerhin gab es keinen Grund an seinen Aussagen zu zweifeln. Er hatte letzten Endes die Macht auf seiner Seite wie Loftus schrieb: Count Bismarck is evidently desirous that nothing should be done at this moment which could unnecessarily excite the popular passions in France, or force Bavaria & Wurtemburg to isolate themselves from Baden & Hessen. As regards the acceptance of the military convention & Zollverein Treaty, C[oun]t Bismark stated that if the former should not be accepted by the Chambers of those states, they would be excluded from the Zollverein. He did not seem however to apprehend that any such eventuality would arise. 109

Seit Ende 1866 berichteten britische Diplomaten über die Reform der Militärverfassung, aber auch über die schwierigen Bemühungen, durch den neuen Zollverein und das Zollparlament die politische Einheit zu verwirklichen. Die britische Reaktion auf solche Pläne war generell distanziert und gleichgültig. Die britische Regierung erkannte aber auch die möglichen Vorteile, im Vergleich zum vorherigen Stand der Handelsbeziehungen mit dem Zollverein. Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung war Großbritannien daher vorsichtig optimistisch. 4. GROSSBRITANNIEN, DER NORDDEUTSCHE BUND UND DIE EUROPÄISCHE DIPLOMATIE Die Gründung des Norddeutschen Bundes brachte wichtige Veränderungen in der internationalen Ordnung mit sich. Obwohl Großbritannien sich während des preußisch-österreichischen Krieges neutral verhalten hatte und eine Position der Nichtintervention vertrat, blieb es ein interessierter Beobachter der inneren Reorganisation Deutschlands. Es gab aber auch Situationen und Krisen in der internationalen Poltik, die ein britisches Engagement verlangten und in denen London nicht untätig bleiben konnte. Die Bildung eines neuen und großen Staates in Nordeuropa und, insbesondere, die Geschwindigkeit und der Erfolg des preußischen Sieges, machten die Nachbarn Deutschlands nervös. Diese Krisen und Spannungen konnten auch zu weiteren Konflikten mit dem Norddeutschen Bund führen. Hierbei spielten militärische Interessen, die eigene Sicherheit und der Nationalismus eine Rolle. Auch

109 Ebd., Augustus Loftus-Stanley 18.10.1867.

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wenn die britische Regierung eine Politik der Nichtintervention und der Friedenssicherung verfolgte, musste sie immer wieder aktiv werden, um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken und den Frieden zu sichern. Wie bereits angedeutet verfolgte Frankreich die Gründung des Norddeutschen Bundes mit großem Unbehagen. Dies betraf insbesondere die Ausbreitung der preußischen Macht. Frankreich hatte im Prager Frieden erreicht, dass die süddeutschen Staaten einen eigenen Bund bilden sollten, der in ein völkerrechtliches Verhältnis zum Norden treten könne. Preußen sollte nicht die Mainlinie nach Süden überschreiten.110 Die feindselige Haltung Frankreichs zu Preußen und zum Norddeutschen Bund war zwischen 1866 und 1870 eine Hauptsorge Großbritanniens. In diesen Jahren kam es immer wieder zu Krisen, die zu einem Krieg zwischen dem Norddeutschen Bund und Frankreich führen konnten. Großbritannien musste immer wieder aktiv werden, um einen militärischen Schlagabtausch zu verhindern. Auf lange Sicht hoffte man in London, dass sich Europa an den preußisch geführten neuen Staat in Norddeutschland gewöhnen werde. Als im Juli 1870 der Krieg zwischen Frankreich und Preußen dann dennoch ausbrach, war man in London überrascht. Das im Juli 1870 an Großbritannien gerichtete Anliegen Bayerns in der dynastischen Thronfrage und im emotionalisierten Konflikt zwischen Preußen und Frankreich zu vermitteln kam zu spät.111 In März 1867 wurde die britische Regierung über wachsende Sorgen der Niederlande wegen preußischer Pläne informiert. Man glaubte in Den Haag, dass Berlin die Grenzen zu den Niederlanden verändern wolle. Der Norddeutsche Bund hatte eine Mitgliedschaft Luxemburgs und Limburgs ausgeschlossen. Beide, das Großherzogtum Luxemburg und das Herzogtum Limburg waren bis 1866 Mitglieder des Deutschen Bundes und waren in Personalunion mit den Niederlanden verbunden. Loftus erkundigte sich bei Bismarck und König Wilhelm zur Grenzfrage. Beide versicherten ihm, dass diese Gerüchte ohne Grundlage seien.112 Spätere Nachforschungen in Paris zeigten aber, dass Frankreich der niederländischen Regierung Unterstützung gegen irgendwelche preußischen Drohungen angeboten hatte. Julius Fane, Chargé d’Affaires in Paris, schrieb: It is so obvious that both the Imperial Gov[ernmen]t and the French people are disposed to watch with the utmost jealousy any attempt on the part of Prussia to extend her territory or influence.

Fane meinte jedoch, dass die Angelegenheit übertrieben worden sei. Die französische Unterstützung „may have tended to encourage the Dutch Gov[ernmen]t rigorously to resist any encroachment upon their territory or independence which 110 Zu Frankreich s. den Beitrag von Ulrich Lappenküper in diesem Band. 111 PRO FO 9/202 Howard-Grenville, most confidential, 13.7.1870, Bericht und Telegramm 14.7.1870 sowie Telegramm 16.7.1870. BAYERISCHES HAUPTSTAATSARCHIV MÜNCHEN MA 644 Bray-Hompesch 15.7.1870. Auch Wolf D. Gruner, Süddeutsche Geschichtslandschaften zwischen regionaler, gesamtstaatlicher und europäischer Integration (1789–1993), Teil IV: 1867–1870, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 152(2016)/2018, 369–461, 452ff. 112 PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 9.3.1867.

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might be attempted on the part of Prussia“.113 Die niederländische Regierung versuchte kurz danach, die Beziehung zu Berlin zu verbessern. Die Lage blieb jedoch angespannt. Der niederländische Gesandte in London informierte Stanley dass: The Dutch Gov[ernmen]t have been lately apprehensive of aggression on the side of Prussia, and their fears on this ground are not wholly dissipated as it is known that Count Bismark has said that Prussia does not renounce all claims on Limburg. The Dutch Gov[ernmen]t believe that the Gov[ernmen]t of France have protested at Berlin against these claims and in favour of the integrity of the Dutch Territrory; and for this they are grateful to France. But there is no truth in the rumour that a close alliance between Holland and France is in contemplation. 114

Trotz dieser Hoffnungen wurde die Lage bald wieder kritisch. Dieses Mal stand Luxemburg im Mittelpunkt. Obwohl Luxemburg nicht zum Norddeutschen Bund gehörte, war die Festung der Stadt Luxemburg immer noch, wie schon vor 1866, von preußischen Truppen besetzt. Anfang März hatte der niederländische König angekündigt, er sei bereit das Land an Frankreich zu verkaufen. Bismarck hatte darauf erklärt, er sei nicht bereit, eine strategisch so wichtige Festung abzutreten. Loftus schrieb hierzu nach London: [T]he Military Party are extremely opposed to the withdrawal of the Prussian Garrison, and that a commission of this nature to France would be very ill viewed by the National Party. The latter assent that if Count Bismarck should yield to the exaction of France on this question he will lose all the prestige and the authority which he has lately acquired. 115

In dieser Situation schien ein Konflikt wieder unvermeidbar. Der preußische Botschafter traf sich mit Außenminister Lord Stanley und bat ihn, in der Luxemburger Frage zu intervenieren. Großbritannien solle den König der Niederlande unter Druck setzten, damit er das Angebot Luxemburg an Frankreich zu verkaufen wieder rückgängig mache.116 Bernstorff merkte auch an, dass Großbritannien die belgischen Grenzen garantiert habe, und dass mit dem Verkauf Luxemburgs an Frankreich zwischen Frankreich und Belgien eine lange Grenze entstehen würde Eine solche Grenze wäre schwer zu verteidigen.117 Die Antwort Stanleys hierauf war interessant. Erstens versuchte er, die Sache auf die lange Bank zu schieben, indem er meinte, nichts über die Stellung Preußens zum Verkauf zu wissen. Wenn Preußen dem Verkauf zugestimmt habe, dann I certainly did not consider that the arrangement, whatever might be its precise character, was one of a nature to call for the intervention of England. Though the principle involved might be questionable, yet if by so small a re-arrangement of territory the irritation now undoubtedly existing in France could be allayed, and the peace of Europe thereby secured, I should have thought so great an advantage cheaply purchased. 118

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PRO FO 244/216: Fane–Stanley, 7.3.1867. PRO FO 244/216: Stanley–Cowley, 27.3.1867. PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 30.3.1867. PRO FO 244/217: Stanley–Loftus, 1.4. 1867. Ebd., Stanley–Loftus, 2.4.1867. Ebd., Stanley–Loftus, 1.4. 1867.

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Stanley sagte weiter „that the possession of Luxemburg would materially affect the future of Belgium, though I could quite understand that the Belgian people and Government might feel some uneasiness on the subject“. Seine Position war klar: In conclusion, I stated that I must defer a final reply to his first enquiry: but I could not conceal from him my strong conviction that it would not be the duty of Her Majesty’s Government to interfere in the matter which seemed to be one entirely between France and Germany. 119

Diese Position wurde durchaus von der Times unterstützt. „As for ourselves“, las man, „we can pretend to nothing more than a bystander’s interest in this question“. Die ganze Sache ging, nach der Times, auf die Paranoia Frankreichs zurück für die es keine Grundlage gab. „Does the boldest prophet“, fragte die Times, venture to speak of an aggressive Germany? Is that, indeed, a nation to burst its bonds and emulate the Roman, Frank, and Norman examples? The Continent, and not less the hereditary character of races, must be changed before that becomes a world’s alarm. France will be France and Germany Germany in our time, and long after; and it is for France to decide whether she will be content with her own magnificent inheritance or will relapse into the old insanity of gambling for worthless land with countless treasure and priceless men. 120

Britische Diplomaten berichteten weiter über die Krise und verfolgten die Verhandlungen Preußens mit den süddeutschen Staaten über die Schutz- und Trutzbündnisse, die im Falle eines Krieges mit Frankreich in Kraft treten sollten. Bismarck informierte die britische Regierung über den preußischen Botschafter in London: It would be better for Prussia to make such a war than to lose the confidence of Germany and the position which she holds among nations. Luxembourg is like Baden, a sovereign European state, but at the same time a German state, and Germany will no more recognise the right of any Foreign power to dispose of the one than of the other. 121

Anfang Mai 1867 wurde die Luxemburger Frage geregelt. Außenminister Lord Stanley stimmte einem russischen Vorschlag einen Kongress in London abzuhalten zu.122

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Ebd., Stanley–Loftus, 2.4.1867. 10. April 1867, Times. PRO FO 244/217: Stanley–Loftus, 15.4.1867. Zur Luxemburger Krise u.a. Hildebrand, No Intervention, 185ff.; Howard, Britain and the Casus Belli, 67ff.; Richard Millman, British Foreign Policy and the Coming of the Franco-Prussian War, Oxford 1965, Kapitel III–V; auch: Punch, The London Charivari, May 4, 1867: „To be Sold“, [letzter Abruf: 14.03.2018].

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Punch, The London Charivari, 4.5.1867: „To be Sold“.

Luxemburg wurde neutralisiert, die Neutralität europäisch garantiert. Die preußische Garnison wurde aus Luxemburg abgezogen. Das Großherzogtum blieb jedoch Mitglied des Zollvereins. Über die Garantie der Neutralität Luxemburgs gab es nach der Konferenz eine ernste Auseinandersetzung zwischen Preußen und Großbritannien. Lord Derby und Lord Stanley hatten im Unterhaus und im Oberhaus Reden gehalten, in denen sie den Mitgliedern versichert hatten, dass diese Garantie nur eine gemeinsame und keine einseitige sei:123 Derby sprach im Oberhause zur auf der Londoner Konferenz beschlossenen Garantie für Luxemburg: „The guarantee is not a joint and separate guarantee, but is a collectiver guarantee, and does not impose upon this country any special and separate duty of inforcing its provisions. 123 13.5.1867, House of Lords Debates (in der Folge HoL), vol. 187, 378–379: Earl of Derby (Duchy of Luxemburg – The Conference); ebd., vol. 188, v. 20.6.1867, 144–158, in Auszügen gedruckt bei Bourne, Foreign Policy of Victorian Britain No. 90, 390–391; 14.6.1867, vol. 187, House of Commons Debates (in der Folge HoC), 1910–1936, Diskussion zu Luxemburg, Lord Stanley, 1916–1923 (Treaty of Luxembourg).

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It is a collective guarantee of all the Powers of Europe“.124 Lord Stanley betonte im Unterhaus, dass es mit Blick auf die Luxemburger Frage Ziel britischer Politik gewesen sei „to maintain the peace of Europe. We had no wish to give triumph to France over Prussia, or to Prussia over France. We only wanted to keep the peace, and it was known to everybody that we had no other interest“. 125 Großbritannien habe sich, um ein Scheitern der Konferenz zu verhindern schweren Herzens zu einer „collective European guarantee“ bereit erklärt.126 Ein Krieg in den neben Frankreich und Preußen sich wohl auch Österreich und Italien engagiert hätten, hätte das Ende Belgiens und Hollands bedeutet. Wäre Großbritannien zu einer Garantie nicht bereit gewesen, dann hätten die anderen Mächte Großbritannien als Verursacher des Krieges verantwortlich gemacht.127 Bismarck reagierte hierauf zornig und meinte, dass eine solche Auslegung die Garantie wertlos mache. Diese Argumentation wurde auch von der deutschen Presse unterstützt.128 Die kurze, aber bittere diplomatische Korrespondenz zu diesem Thema warf Licht auf eine grundlegende Meinungsverschiedenheit zwischen der britischen und der preußischen Regierung. Großbritannien war nicht bereit in irgendeiner Form die Sicherheit des Norddeutschen Bundes zu garantieren. Bismarck versuchte aber Großbritannien in diese Sicherheitsgarantie einzubinden. Die Londoner Konferenz einigte sich sehr schnell auf eine friedliche Lösung. Viele britische Beobachter meinten, dass die Konferenz eine Rückkehr zur Kongressdiplomatie signalisierte, und dass der Norddeutsche Bund doch keine Gefahr für den europäischen Frieden darstelle. Loftus drückte dies so aus: The success of the Conference, which saved the peace of Europe when France and Prussia were on the brink of war, was of great importance. It reassured the present, and it seemed a happy omen for the future. The fact that, for the time at least, war had been averted by a Conference suggests that this salutary precedent may on future occasions be appealed to in a kindred emergency.129

Diese positive Interpretation wurde auch durch andere Ereignisse unterstützt. Im Sommer 1867 beschlossen Bismarck und König Wilhelm die Pariser Weltausstellung zu besuchen. Trotz der Komplikationen des diplomatischen Protokolls, die fast eine weitere deutsch-französische Krise verursachten,130 war der Besuch ein Erfolg und, wie man glaubte, ein gutes Zeichen. Wie Loftus beruhigend an Stanley schrieb, hatte Bismarck nach seiner Rückkehr ihm erzählt, dass er mit dem Empfang in Paris zufrieden gewesen sei und „that, unless no dependence could be placed on French assurances and that French Statesmen were the most perfect comedians, no fear was to be entertained as regarded the maintenance of Peace“.131 124 125 126 127 128 129 130 131

HoL, vol. 187 (13.5.1867), 379. HoC, vol. 187, 1918 (14.6.1867, Stanley). Ebd., 1919. Ebd. PRO FO 244/215: Augustus Loftus–Stanley, 22.6. und 29.6.1867. Loftus, Diplomatic Reminiscences of Lord Loftus, vol. 1, 175f. PRO FO 244/215: Loftus–Stanley, 1. 6.1867. Ebd., Loftus–Stanley, 22.6. 1867.

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In jedem Fall versuchten britische Diplomaten, Information zu sammeln und die diplomatische Stimmung zu erfassen. Ähnliches konnte man auch in Bezug auf Schleswig sehen. Artikel 5 des Prager Friedensvertrages hatte festgelegt, dass Preußen einen Teil Schleswigs nach einer Volksabstimmung an Dänemark abtreten würde. Da Großbritannien vor 1864 die dänische Integrität unterstützt hatte, wurde dieses Thema jetzt von den britischen Diplomaten beobachtet. Loftus hatte aber das Londoner Außenministerium bereits im März 1867 gewarnt, dass Bismarck nicht bereit sein werde, Gebiet abzutreten, da er Schleswig unter strategischen Gesichtspunkten betrachtete und meinte, die Angelegenheit müsse erst vom Norddeutschen Reichstag diskutiert werden. Loftus war überzeugt, dass der Reichstag einer Abtretung nie zustimmen würde.132 Der französische Botschafter in Berlin versuchte Loftus zu überreden, gemeinsam mit ihm Druck auf Bismarck auszuüben. Loftus berichtete, dass er „carefully abstained from any allusions to this subject“.133 Im Juli 1867, als sich die Lage nach der Pariser Weltausstellung zu verbessern schien, verlangte Frankreich plötzlich offiziell, dass Preußen den Dänemark betreffenden Teil des Artikel 5 des Prager Friedens vollziehen müsse. Erneut schien wieder ein Krieg in Sicht zu sein, wie Loftus Stanley berichtete: I cannot conceal from Y.L. my opinion that the reopening of this question on the part of France at this moment is pregnant with the gravest consequences to the future […] in the present feverish state of the public mind in France and with the distrust mutually existing between France and Prussia it is much to be feared that the discussion of this question even should Prussia accept the discussion which is very doubtful will be unattended with any successful result.134

Zu einer ähnlichen Krise kam es im Herbst 1867 als französische Truppen in Rom erschienen, um den Papst gegen italienische Nationalisten zu verteidigen. Wie Robert Morier und andere berichteten, verursachten diese französischen Schritte unter den deutschen Katholiken Empörung und bedeuteten auch für Bismarck ein Problem. Als Frankreich vorschlug, einen Kongress abzuhalten, und auch Einladungen an die süddeutschen Staaten, einschließlich Hessen-Darmstadts, schickte, schien es eine Einmischung in die deutsche Politik zu sein. Bismarck erkannte jedoch schnell, dass er diese Situation ausnutzen könne, um einen Keil zwischen Frankreich und Großbritannien zu treiben. Im Gespräch mit Loftus versicherte er zunächst, dass er nicht beabsichtige, in Italien zu intervenieren. Die Multikonfessionalität in Deutschland mache das zu gefährlich, meinte er, wobei er auch die Ähnlichkeiten zwischen Preußens und Großbritannien hervorhob. Er betonte aber auch, dass eine französische Intervention in Italien den europäischen Frieden bedrohen würde.135 Später versuchte Bismarck über den preußischen Botschafter in London, Bernstorff, Stanley davon zu überzeugen, dass Frankreich und der Papst beabsichtigten, Italien

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PRO FO 244/214: Loftus–Stanley, 9.3.1867. Ebd. PRO FO 244/214: Augustus Loftus–Stanley, 20.7.1867. PRO FO 244/215: Loftus–Stanley, 18.10.1867.

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durch eine Vergrößerung der päpstlichen Territorien zu teilen. Hierzu schrieb Staneley an Loftus: „Count Bernsorff, to my surprize, appeared to attach some importance to this report.“136 Bismarcks Methoden waren Stanley inzwischen bekannt. Die britische Regierung musste und wollte sich aber aus den italienischen Problemen heraushalten. Nachdem der preußische Chargé d’Affaires Stanley besuchte, um ihm nochmals von der Gemeinsamkeit britisch-deutscher Interessen in Italien zu überzeugen, und ihm sagte, dass Bismarck vielleicht doch noch in Italien würde intervenieren müssen, sagte Stanley, dass from the latest intelligence that had reached me, I hoped the danger of an actual rupture was averted: that the Italian Government appeared to be acting with great prudence, and in a conciliatory spirit, and that I could not believe, until I should actually see the event occur, that the Emperor of the French would wantonly seek to destroy the Unity of Italy, which had been his own work, and was likely to be both the most important and most durable memorial of his reign […] There was no doubt that in the event of a war between France and Italy, the sympathies of this country would be warmly engaged on behalf of the weaker and younger Power, in which, from its creation, England had taken a strong interest; and all diplomatic means would be employed to bring the quarrel, should it unhappily arise, to an early and honourable conclusion.137

Stanleys Worte verdeutlichten: Er würde es nicht zulassen, dass Großbritannien in einen deutsch-französischen Streit hineingezogen werde. Bismarck könne von Großbritannien keine Hilfe gegen Frankreich erwarten. In den Jahren 1866–1870 wurden zwischen Großbritannien und dem Norddeutsche Bund eine Reihe von Projekten verwirklicht, die weniger spektakulär aber praktisch waren. So wurde zum Beispiel eine gemeinsame Kommission über die Schelde-Navigation eingesetzt; es kam zu einer Verlängerung der Telegraphenlinie von Indien nach London; man einigte sich auf eine gemeinsame Interessenvertretung in Ägypten, in der Türkei und in China und schließlich auf Regelungen für die Rinderpest. Das starke Interesse britischer Reformer am deutschen Model führte zu zahllosen Anfragen bei den britischen Diplomaten: Hierzu gehörten beispielsweise Informationen über das Erziehungswesen; über die Militärreform; zur Gesundheitsund Hygienepolitik. Bismarck erkannte vielleicht auch, dass seine Zusammenarbeit mit Großbritannien auf dem Balkan möglich sein könnte. Im Prinzip veränderte sich die britische Haltung jedoch nicht. London hielt an einer Politik der Nichtintervention fest. Es glaubte optimistisch an eine allmähliche liberale Entwicklung der deutschen Verfassung und war immer stärker davon überzeugt, dass der Norddeutsche Bund letztendlich die europäische Ordnung stabilisieren würde.

136 PRO FO 244/218: Stanley–Loftus, 30.11.1867. 137 Ebd., Stanley–Loftus 23.10.1867.

„WIEDEREINTRITT NACH DEUTSCHLAND“? Österreich-Ungarn und der Norddeutsche Bund Matthias Stickler Der Vorfrieden von Nikolsburg (26.7.1866) bzw. der Prager Frieden (23.8.1866) mit Preußen legten der Habsburgermonarchie zwar keine Gebietsabtretungen auf, besiegelten aber die Auflösung des Deutschen Bundes und die Neuordnung Deutschlands nach preußischen Vorstellungen und damit den Ausschluss Österreichs aus Deutschland. Die Habsburgermonarchie hatte damit ihre vormalige Hegemonialstellung in Deutschland zu Gunsten Preußens eingebüßt und drohte als Großmacht quasi abzusteigen. Diesen Status quo sah Kaiser Franz Josephs neuer Außenminister Ferdinand von Beust allerdings keineswegs als letztes Wort der Geschichte an, er verlor vielmehr den Gedanken eines „Wiedereintritts in Deutschland“ nicht aus den Augen. Ein weiterer wichtiger Protagonist einer solchen Politik war Erzherzog Albrecht von Österreich, Sohn des legendären Erzherzogs Carl, Onkel und enger Freund des Kaisers und seit 1866 ranghöchster Militär der Habsburgermonarchie. Hochfliegende Pläne für eine Revision der Ergebnisse von 1866 hatte ferner der mit Albrecht allerdings verfeindete österreichisch-ungarische Reichskriegsminister Franz Kuhn Freiherr von Kuhnenfeld. Erschwert wurde eine auf Revision der Ergebnisse von 1866 zielende Außenpolitik v.a. durch die sich aus der Umgestaltung der Habsburgermonarchie zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ergebenden innenpolitischen Probleme, aber auch durch die aus dem notorischen Finanzmangel und den sich im Gefolge des Ausgleichs vollziehenden militärpolitischen Veränderungen herrührenden Schwierigkeiten. Dennoch nahmen bei den österreichisch-französischen Verhandlungen der Jahre 1868 und 1869 über eine „alliance active“ oder „alliance passive“ unter Einschluss Italiens deutschlandpolitische Pläne schon festere Formen an. Wichtige Einblicke in die politischen Planungen der Wiener Führung jener Jahre gewährt ein von Erzherzog Albrecht im Januar 1869 unter der Überschrift „Revision der Karte von Mittel-Europa nach einem glücklichen Kriege gegen Preußen“ verfasster Denkschriftenentwurf, welcher die Umrisse einer gegebenenfalls zu schaffenden Nachkriegsordnung skizziert. Der schnelle Sieg des Norddeutschen Bundes und der verbündeten süddeutschen Staaten über Frankreich im Krieg 1870/71 entzog solchen Überlegungen schnell und im Ergebnis endgültig den Boden. Nachdem es angesichts mannigfaltiger Unwägbarkeiten für die österreichische Seite mit ausdrücklicher Zustimmung Erzherzog Albrechts und gegen den Willen von Kriegsminister Kuhn, im September 1870 nicht zum Kriegseintritt Österreich-Ungarns auf der Seite Frankreichs gekommen war, leitete Beust vor dem Hintergrund der französischen Niederlage einen Kurswechsel ein.

GRUNDSÄTZLICHES In jüngster Zeit haben sowohl ein österreichischer als auch ein deutscher Diplomatiehistoriker wichtige Werke zur Außenpolitik der späten Habsburgermonarchie vorgelegt, deren Titel auf ein grundlegendes Dilemma dieses Vielvölkerstaates ver-

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weisen: „Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866–1914“, so Walter Rauscher (Wien), „Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem“, so Konrad Canis (Berlin)1. Beides spielt auf ein grundsätzliches Problem österreichisch(-ungarisch)er Außenpolitik im langen 19. Jahrhundert2 an, dass nämlich dieses multinationale Imperium in besonderer Weise angewiesen war auf ein funktionierendes internationales System. In einem Europa, in dem das Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats immer mehr an Bedeutung gewann, war die Habsburgermonarchie elementaren Gefährdungen ausgesetzt, deren sich die regierenden Eliten auch sehr wohl bewusst waren. Kernanliegen der Außenpolitik der Habsburgermonarchie war deshalb neben der Absicherung ihres jeweiligen Territorialbesitzes die Bewahrung ihres Großmachtanspruchs. Während es Wien in der Zeit der Koalitionskriege gelungen war, seine von Frankreich angefochtene führende Stellung unter den europäischen Mächten wiederzugewinnen, was der glanzvoll inszenierte Wiener Kongress (1814/15) eindrucksvoll demonstriert hatte, setzte nach einer ca. dreißigjährigen Phase der leidlichen Stabilität im sogenannten „Bündnis der Drei Schwarzen Adler“ mit Preußen und Russland (1815–1848) und nach der erfolgreichen Überwindung der Revolutionen von 1848/49 allerdings ein allmählicher machtpolitischer Abstieg der Habsburgermonarchie innerhalb der europäischen Pentarchie (Russland, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Preußen) ein. Dies nicht zuletzt deshalb, weil zwischen Russland und Österreich als Folge des Krimkriegs (1853–56) eine, wie sich zeigen sollte, dauerhafte Entfremdung eintrat und Preußen nach 1850 nicht mehr bereit war, sich mit der ihm von der anderen deutschen Großmacht zugedachten Rolle als Juniorpartner zufriedenzugeben. Dies wurde keineswegs erst seit dem Amtsantritt Otto von Bismarcks im Jahr 1862 deutlich, bereits der spätere Deutsche Kaiser Wilhelm I., der seit 1858 preußischer Prinzregent war und nach dem Tode seines Bruders Friedrich Wilhelm IV. diesem 1861 als König von Preußen nachfolgte, war nicht zu einer Wiederaufnahme der konservativen Allianzpolitik zu österreichischen Bedingungen bereit. Eine folgenreiche, zeitgenössisch unterschätzte Niederlage erlitt Österreich zudem bereits frühzeitig in der Wirtschaftspolitik: Nachdem man in Wien die Tragweite der preußischen Zollvereinsbestrebungen zunächst unterschätzt hatte, scheiterten nach erfolgreicher Konsolidierung des 1834 1

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Walter Rauscher, Die fragile Großmacht. Die Donaumonarchie und die europäische Staatenwelt 1866–1914, Teil 1 und 2, Bruxelles u.a. 2014; Konrad Canis, Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67–1914, Paderborn 2016. Hierzu neben den eben genannten Titeln vor allem auch folgende Werke: Winfried Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Bd. 6), Paderborn/München 1999; Francis Roy Bridge, The Habsburg Monarchy among the Great Powers, 1815–1918, New York/Oxford/München 1990; Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, Stuttgart u.a. 1999; Helmut Rumpler, 1804-1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997; Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain, and the Crimean war. The destruction of the European concert, 1. publ. Ithaca u.a. 1972; Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Bde. 6.1.und 6.2.: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1989 und 1993.

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gegründeten Deutschen Zollvereins seither alle Bemühungen Österreichs, Anschluss an die in Gang gesetzte Entwicklung zu finden und sich dem Zollverein3 anzuschließen. Im Ergebnis verschaffte sich Preußen so einen frühen nationalpolitischen Vorsprung, weil auf wirtschaftlichem Gebiet Integrationsleistungen vollbracht wurden, die irreversibel und langfristig schädlich für die österreichische Deutschlandpolitik waren. Heinrich Benedikt hat deshalb nicht umsonst in diesem Zusammenhang von einem „handelspolitischen Königgrätz“ gesprochen.4 Was am Wiener Ballhausplatz und in der Hofburg zudem geflissentlich ignoriert wurde, war die Tatsache, dass Österreich im Konzert der europäischen Großmächte zunehmend isoliert war, weil es sich als Folge der eingetretenen Entfremdung nicht mehr der diplomatischen Unterstützung Russlands bedienen konnte. Die Habsburgermonarchie blieb deshalb im letzten auf die Kooperationswilligkeit ihrer deutschen Partner, und das heißt in erster Linie auf die Preußens angewiesen. Als Österreich nach einer Phase mühsamer Kooperation seit Oktober 1864 wieder auf einen Kurs der Eindämmung der preußischen Expansionsbestrebungen zurückkehrte, steuerte Bismarck denn auch immer unverhohlener auf eine gewaltsame Lösung des dualistischen Konflikts hin. Seit dem Frühjahr 1866 waren beide deutsche Großmächte zum Krieg entschlossen. Der unerwartet schnelle und gründliche Sieg Preußens in dem Mitte Juni ausgebrochenen „Deutschen Krieg“, den Harm-Hinrich Brandt nicht zu Unrecht als preußischen „Sezessionskrieg“ bezeichnet hat 5, bedeutete schließlich den völligen Zusammenbruch von Österreichs Machtposition in Mitteleuropa. Der Vorfrieden von Nikolsburg (26. Juli 1866) bzw. der Prager Frieden (23. August 1866) mit Preußen legten der Habsburgermonarchie zwar keine Gebietsabtretungen auf, besiegelten aber die Auflösung des Deutschen Bundes und die Neuordnung Deutschlands nach preußischen Vorstellungen und damit den Ausschluss Österreichs aus Deutschland bei gleichzeitiger Schaffung einer preußischen Hegemonialstellung in Deutschland mittels des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes6. Ähnlich bitter waren die Ergebnisse des Friedensvertrags von Wien mit dem Königreich Italien (3. Oktober 1866), in dem Österreich trotz der glanzvollen Siege Erzherzog Albrechts über das italienische Heer bei Custoza (24. Juni 1866) und des Admirals Wilhelm von Tegetthoff über die italienische Flotte bei Lissa (20. Juli 1866), die Reste des Königreichs Lombardo-Venetien abtreten und damit endgültig die Neuordnung Italiens durch Sardinien-Piemont bzw. Frankreich anerkennen musste. Die vertraglich festgelegte Rückführung der „Eisernen Krone“ der Langobarden, die seit dem Mittelalter die Herrschaft über Reichsitalien symbolisiert hatte und mit der Kaiser Franz Josephs Vorgänger Ferdinand „der Gütige“ noch 1838 zum König von Lombardo-Venetien gekrönt worden war, von Wien nach Monza brachte dies sinnfällig zum Ausdruck. Die Habsburgermonarchie hatte damit ihre 3 4 5 6

Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, Göttingen 1984. Heinrich Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit (Wiener Historische Studien, Band 4), Wien/München 1958, 57–69. Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, 161. Zum Norddeutschen Bund zuletzt: Ulrich Lappenküper/Ulf Morgenstern/Maik Ohnezeit (Hg.), Auftakt zum Nationalstaat: Der Norddeutsche Bund 1867–1871 (Friedrichsruher Ausstellungen, Band 6), Friedrichsruh 2017.

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vormalige Hegemonialstellung in Deutschland und Italien zu Gunsten Preußens bzw. Frankreichs eingebüßt und drohte damit als Großmacht quasi abzusteigen. DIE NEUAUSRICHTUNG DER AUSSENPOLITIK ÖSTERREICH(-UNGARNS) ALS FOLGE DES UMBRUCHS VON 1866/67 Es vermag deshalb eigentlich nicht zu verwundern, dass der neue österreichische bzw. österreichisch-ungarische Außenminister (Friedrich) Ferdinand (seit 1868 Graf) von Beust (1809–1886, im Amt 1866/1867–1871)7 die neue machtpolitische Situation keineswegs als letztes Wort der Geschichte ansah. Es war allein schon die Person des neuen „Reichskanzlers“, so Beusts offizieller Titel, der ja vorher sächsischer Ministerpräsident gewesen war, die signalisierte, dass man in Wien den Gedanken eines „Wiedereintritts in Deutschland“8 nicht aus den Augen verlor. Gleichwohl musste Österreich-Ungarn vorsichtig agieren. Dies vor allem deshalb, weil seine außenpolitische und militärische Handlungsfähigkeit durch den konfliktträchtigen Umbau des bisherigen Einheitsstaates in eine Doppelmonarchie beeinträchtigt war.9 Hinzu kam die Tatsache, dass eine antipreußische Politik Rücksicht zu nehmen hatte auf die öffentliche Meinung in Süddeutschland und in der westlichen Reichshälfte der Monarchie; auch nach dem Untergang des Deutschen Bundes gab es dort noch weiterwirkende Vorstellungen von einer „gesamtdeutschen“ Solidarität, gerade auch bei den österreichischen Deutschliberalen, auf deren Mehrheit im Reichsrat sich Beust stützte. Ein gegen Preußen gerichtetes Bündnis mit Frankreich

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Eine wissenschaftlich fundierte Gesamtbiographie Beusts ist bis heute ein Desiderat; s. vor allem folgende Arbeiten: Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850– 1866. Sächsisch-mittelstaatliche Koalitionspolitik im Kontext der deutschen Frage, Köln/Weimar/Wien 2001; Heinrich Potthoff, Die deutsche Politik Beusts von seiner Berufung zum österreichischen Außenminister bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870 (Bonner Historische Forschungen, Band. 31), Bonn 1968; Helmut Rumpler, Die deutsche Politik des Freiherrn von Beust 1848–50. Zur Problematik mittelstaatlicher Reformpolitik im Zeitalter der Paulskirche (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Band. 57), Wien/Köln/Graz 1972. So Beust am 18. Mai 1871 in einer Denkschrift für Kaiser Franz Joseph (zitiert nach Heinrich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, Frankfurt/Main 1979, 503). Zu den innenpolitischen Problemen der Habsburgermonarchie ausführlich Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bände. 7.1.und 7.2.: Verfassung und Parlamentarismus, Wien 2000 und im Überblick Matthias Stickler, Dynastie, Armee, Parlament – Probleme staatlicher Integrationspolitik im 19. Jahrhundert am Beispiel Österreichs und Sachsens, in: Winfried Müller/Martina Schattkowsky (Hg.), Zwischen Tradition und Modernität. König Johann von Sachsen 1801–1873, Leipzig 2004, 109–140 sowie Matthias Stickler, Staatsorganisation und Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie 1804–1918, in: Frank-Lothar Kroll/Hendrik Thoß (Hg.), Europas verlorene und wiedergewonnene Mitte. Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa (Chemnitzer Europastudien, Bd. 11), Berlin 2011, 47–76; dort auch Verweise auf weitere Literatur.

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oder gar eine Neuauflage des „Bruderkriegs“ stieß in diesen Kreisen auf keine Sympathie. Drittens musste Wien darauf achten, sich nicht als Juniorpartner Napoleons III. zum Steigbügelhalter französischer Hegemonialinteressen in Europa zu machen. Insofern musste es für Österreich-Ungarn in erster Linie darum gehen, durch eine Politik des Augenmaßes den noch verbliebenen Einfluss in Deutschland zu wahren, zu festigen und möglichst wieder auszubauen.10 Die Außenpolitik Österreich-Ungarns gegenüber dem 1867 gegründeten Norddeutschen Bund musste also notwendigerweise defensiv, nicht aggressiv sein. Bestrebungen Preußens, den von ihm hegemonial beherrschten Bundesstaat nach Süden auszudehnen, konnte Wien im Zeichen großdeutsch-föderalistischer Alternativen entgegentreten bei gleichzeitiger Förderung süddeutsch-partikularistischer und demokratisch-antipreußischer Strömungen. Hauptakteur der Außenpolitik Österreich-Ungarns in den Jahren 1866/67 bis 1870/71 war zunächst einmal Kaiser Franz Joseph (1830–1916, reg. 1848–1916).11 Die Außenpolitik war und blieb im gesamten langen 19. Jahrhundert ein Prärogativ der Krone, die jeweiligen Außenminister waren insofern im Prinzip ausführende Organe des monarchischen Willens, wobei die konkrete Stärke des Ministers und seine Handlungsspielräume auch und vor allem abhingen von der Person des Kaisers und Königs. Kaiser Franz Joseph handelte in den 68 Jahren seiner Regierung außenpolitisch unterschiedlich, ließ indes aber nie einen Zweifel daran, dass er die Außenpolitik der Habsburgermonarchie in einem zutiefst vormodernen Verständnis als „seine“ Außenpolitik betrachtete, für die er persönlich verantwortlich war. In dieser Perspektive war der Reichskanzler und Außenminister sein Berater. Hinzu kamen noch die beiden führenden Militärs: Reichskriegsminister (seit dem 18. Januar 1868) Franz Freiherr Kuhn von Kuhnenfeld (1817–1896)12 und Armeekommandant (seit dem 15. Januar 1868)13 Erzherzog Albrecht von Österreich (1817–

10 Canis, Die bedrängte Großmacht, 31. 11 Zu Kaiser Franz Joseph vor allem: Jean Paul Bled, Franz Joseph. „Der letzte Monarch der alten Schule“, Wien 1988; Harm-Hinrich Brandt, Franz Joseph I. von Österreich (1848–1916), in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland, München 1990, 341–381; Lothar Höbelt, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte, Wien 2009; Christoph Schmetterer, Kaiser Franz Joseph I., Wien/Köln/Weimar 2015; Karl Vocelka/Michaela Vocelka, Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Eine Biographie, München 2015. 12 Leider fehlt bis heute eine befriedigende Biographie dieses bedeutenden Militärs; im Überblick den in der Wertung durchaus zeitgebundenen Essay von Heinrich von Srbik, Reichskriegsminister Freiherr von Kuhn 1868–1874, in: ders. (Hg.), Aus Österreichs Vergangenheit, Salzburg 1949, 141–220 (Erstdruck 1944). 13 Am 15. September 1866 war Erzherzog Albrecht zum Armeeoberkommandanten ernannt worden, ein Amt, das dem Ausgleich geopfert werden musste.

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1895)14. Kuhn war konstitutioneller Minister im Rahmen des 1867 entstandene dualistischen Systems, während Erzherzog Albrecht eine gleichsam vor- bzw. extrakonstitutionelle Aura umgab. Als Sohn Erzherzog Carls, des Siegers von Aspern und Oberhaupt der Linie Teschen des habsburgischen Gesamthauses stand er dem Thron nahe, Kaiser Franz Joseph respektierte und schätzte ihn als kompetenten Fachmann und wichtigen Berater. Auch deshalb standen Albrecht und Kuhn zueinander in offener Konkurrenz, dies umso mehr, weil die endgültige Stellung der Armee in der neuen Doppelmonarchie ein latenter Konfliktpunkt war. Jenseits aller persönlichen Animositäten, die es zwischen Erzherzog Albrecht und Kuhn zuhauf gab, ging es in dem erst mit Kuhns Sturz 1874 endgültig entschiedenen, erbittert geführten Kleinkrieg um die Frage, ob die Armee gleichsam als ausführendes Organ des ja nur in nuce vorhandenen gemeinsamen „Reichsministeriums“ Teil des konstitutionellen Systems werden (so Kuhn), oder (so Albrecht) extrakonstitutionelles Instrument des Allerhöchsten Oberbefehls – also des Kaisers – bleiben sollte, um so die traditionelle Machtstellung der Dynastie auch unter den Bedingungen des Dualismus erhalten zu können. Erzherzog Albrecht setzte sich schließlich weitgehend durch und erreichte, dass er als Generalinspektor (seit dem 24. März 1869) und designierter Feldherr als ausführendes Organ des Allerhöchsten Oberbefehls, und damit des Kaisers, handeln durfte. In dieser Funktion kümmerte er sich allerdings nicht nur um militärische Fragen im engeren Sinne; vielmehr leitete er aus seinem Amt als designierter Feldherr auch ab, dass er eingebunden werden müsse in die außenpolitischen Entscheidungsprozesse. Was das Verhältnis von Erzherzog Albrecht zu Beust anbelangt, so wird man jenen zwar nicht zu den Freunden des Reichskanzlers zählen wollen, doch arbeiteten beide offenbar recht gut zusammen; der Feldmarschall bekannte einmal in einem Brief an den Grafen Taaffe vom 24. Dezember 1868, dass Beust ohnehin wisse, „welch warmen Anhänger er stets an mir hat“.15 Wie stark das Verständnis Kaiser Franz Josephs auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch von letztlich vormodernen Vorstellungen geprägt war, zeigt die Tatsache, dass er auch weiterhin traditionelle dynastische Heiratspolitik betrieb. Das Jahr 1866 bedeutete auf diesem Felde keine wirkliche Zäsur, die engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den katholischen Dynastien des Dritten 14 Johann Christoph Allmayer-Beck, Der stumme Reiter: Erzherzog Albrecht. Der Feldherr Gesamtösterreichs, Graz/Wien/Köln 1997 und Matthias Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Historische Studien, Band 450), Husum 1997 [zugl.: Diss. phil. Würzburg 1997]. 15 Eduard Graf von Taaffe, Der politische Nachlaß des ... , hg. von Arthur Skedl unter Mitwirkung von Egon Weiss, Wien u.a. 1922, 107. S. auch die von Dalwigk in seinem Tagebuch vom 14. März 1870 überlieferte Aussage Erzherzog Albrechts, „ein ganz Fremder, der die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in Österreich in einem Augenblick der größten Verlegenheit übernehme, könne wohl einmal in untergeordneten Dingen irren, aber im großen und ganzen habe Beust der Monarchie und dem Kaiser die größten Dienste geleistet. Beust verliere nie den Mut und den klaren Blick.“, in: Wilhelm Schüssler (Hg.), Die Tagebücher des Freiherrn Reinhard von Dalwigk zu Lichtenfels aus den Jahren 1860–71, Stuttgart/Berlin 1920 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Band. 2), 427f.

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Deutschlands, insbesondere den Häusern Sachsen und Bayern, aber auch zur katholischen Linie des Hauses Württemberg, bestanden fort und wurden auch noch weiter ausgebaut. So kam es bereits im Februar 1867 zum Verlöbnis zwischen König Ludwig II. von Bayern und Herzogin Sophie in Bayern, einer Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth. Als diese Verbindung im Oktober 1867 durch den jungen König aufgelöst wurde, was bezeichnenderweise in Berlin Genugtuung hervorrief, legten die Häuser Habsburg und Wittelsbach noch einmal nach: Am 20. Februar 1868 heiratete Prinz Ludwig von Bayern, der älteste Sohn des Prinzen Luitpold (1886–1912 Prinzregent von Bayern) und spätere König Ludwig III., Erzherzogin Maria Theresia von Österreich-Este, den letzten Spross der Linie Modena des Hauses Österreich. Durch derartige Heiratsprojekte, die übrigens auch nach 1871 bis zum Untergang der Habsburgermonarchie eine Fortsetzung fanden, wurde die Absicht verfolgt, die süddeutschen Staaten an Österreich-Ungarn zu binden und so deren Selbständigkeit gegenüber Preußen bzw. dem Norddeutschen Bund zu stärken. Wichtiger Protagonist einer solchen, auf katholisch-dynastische Solidarität zielenden Politik war neben dem Kaiser selbst Erzherzog Albrecht, der bereits 1865 seine Tochter Marie Thérèse mit Herzog Philipp von Württemberg, dem Oberhaupt der katholischen Linie des württembergischen Königshauses verheiratet hatte.16 Zwar kam angesichts der veränderten machtpolitischen Lage einer solchen alteuropäisch-dynastischen Politik kaum mehr als eine rein symbolische Funktion zu, zumal Bismarck 1866/67 durch die Schutz- und Trutzbündnisse mit den süddeutschen Staaten und den Umbau des Deutschen Zollvereins zu einem Zollbundesstaat Fakten im Hinblick auf eine enge Anbindung Süddeutschlands an den Norddeutschen Bund schuf. Gleichwohl brachte Kaiser Franz Joseph durch diese Heiratspolitik seinen Willen zum Ausdruck, die Souveränität insbesondere der süddeutschen Staaten zu wahren. Dem Königreich Sachsen, dessen Dynastie seit dem Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus dem Haus Habsburg verwandtschaftlich eng verbunden war, kam in dieser Perspektive zudem gleichsam eine Brückenfunktion zum Norddeutschen Bund zu. Die von Beust (vorläufig) betriebene Politik einer unbedingten Wahrung der Ergebnisse des Prager Friedens – d.h. vor allem die Erhaltung der Selbständigkeit der süddeutschen Staaten – war in erster Linie eine Konsequenz der realistischen Einsicht, dass eine militärische Lösung auch bei einem möglichen Zusammengehen mit anderen Staaten wie z.B. Italien und/oder Frankreich augenblicklich nicht möglich war. Die unter heftigen Geburtswehen eben erst aus der Taufe gehobene Doppelmonarchie musste sich innenpolitisch erst konsolidieren, die k.k. Armee befand sich mitten im größten Umbruch seit der Zeit der Befreiungskriege und musste gleichzeitig sowohl administrative Reformen wie auch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht verkraften, ein Unterfangen, das alle Kräfte in Anspruch nahm. 16 Bezeichnend ist auch der allerdings gescheiterte Versuch, 1866/67 ein Ehebündnis von Erzherzog Albrechts Tochter Mathilde mit dem italienischen Kronprinzen Humbert (Umberto) zustandezubringen; hierzu und zur Heiratspolitik der Habsburger insgesamt ausführlich Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich. Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, 29–31, 347–356 und 493–500.

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Erzherzog Albrecht legte den noch unfertigen Zustand der Armee in einer Denkschrift für Beust vom Juli 186717 ausführlich dar und forderte als Konsequenz aus den Fehlern der letzten Jahrzehnte neben der Bewilligung der notwendigen Rüstungsausgaben die Verfolgung einer konsequenten Friedenspolitik: Aus diesem Circulus vitiosus kann uns nur eine genial geführte Politik des Friedens herausführen, welche aber, wenn es einmal gilt, auch ohne Zögern den letzten Mann rechtzeitig unter die Waffen ruft u. die ganze Kraft auf einmal einsetzt. Eine solche Politik ist hoffentlich jetzt inauguriert; möge sie sich auch fernerhin treu bleiben.

Dies war eine deutliche Warnung vor außenpolitischen Abenteuern, für die keine militärische Basis vorhanden war. Hinsichtlich des einzuschlagenden außenpolitischen Kurses hatte Erzherzog Albrecht sich bereits einige Monate zuvor detaillierter geäußert. In einer Denkschrift vom 22. März 186718 – die man in engem Zusammenhang mit der eben zitierten Juli-Denkschrift sehen muss – hatte er geschrieben, die Schlagkraft der französischen Armee sei im Vergleich zur preußischen schwächer und Frankreich habe nur dann eine Chance auf einen Sieg, wenn es ihm gelinge, Nord- und Süddeutschland durch einen militärischen Stoß zu trennen. Hierzu benötige Frankreich aber Bundesgenossen. Da Staaten wie Belgien, die Niederlande oder Italien von Preußen weniger zu befürchten hätten als von Frankreich, komme für Paris einzig Österreich in Frage. Bei einem vorschnellen Eingehen auf ein solches Bündnisangebot sah Erzherzog Albrecht allerdings die Gefahr, dass Wien sich isoliere und irredentistische Staaten wie Italien, Serbien oder Rumänien der gegnerischen Koalition beiträten. Er stellte deshalb die Frage, ob es nicht besser sei, wenn Österreich im Falle eines französisch-preußischen Krieges neutral bleibe, in aller Stille rüste und sich dann zur rechten Zeit dem Sieger anschließe. Dieses Konzept einer bewaffneten Neutralität war die logische Konsequenz aus Österreich-Ungarns prekärer Lage, sowohl in militärischer wie auch in bündnispolitischer Hinsicht, es durfte sich nicht noch einmal, wie 1866, von Frankreich benutzen lassen, musste vielmehr seinerseits versuchen, Frankreich zu instrumentalisieren. Entsprechend blieb die Wiener Führung gegenüber den nach der Luxemburg-Krise 1867 einsetzenden Bündnisofferten Napoleons III. zunächst zurückhaltend.19 REVANCHE FÜR KÖNIGGRÄTZ? Die deutliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Berlin und Wien seit Anfang 1868 – nicht zuletzt hervorgerufen durch die großen Erfolge der partikularistischen Parteien bei den Wahlen zum Zollparlament in den süddeutschen Staaten, was Beusts Linie zu bestätigen schien – zog dann eine Wiederannäherung zwischen Frankreich und Österreich-Ungarn nach sich; im Juli 1868 bot Napoleon III. 17 Über Zahl und Zeit bei Aufstellung einer Armee für den Krieg (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Erzherzog Albrechts, Mikrofilmrolle 10). 18 „Stärkeverhältnis zwischen Frankreich und Preussen-Deutschland“ (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Erzherzog Albrechts, Mikrofilmrolle 10). 19 Canis, Die bedrängte Großmacht, 34f.

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schließlich Bündnisgespräche an, die sich ab dem Spätherbst auf das Ziel einer Dreierallianz von Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien hin konkretisierten. Am 20. Mai 1869 lag dann nach zähen Verhandlungen20 ein Entwurf für einen „Friedens-, Freundschafts-, und Beistandspakt“ vor, der im Wesentlichen folgendes vorsah: Die drei Mächte verpflichteten sich zu gemeinsamem Vorgehen in allen Fragen der europäischen Politik und garantierten sich ihren jeweiligen Besitzstand. Bei Anzeichen für einen Krieg würden sie eine Offensiv- und Defensivallianz abschließen, deren Bedingungen durch eine weitere Konvention zu regeln sei. Friedensverhandlungen und Territorialänderungen sollten nur gemeinsam und übereinstimmend geregelt werden. Italien war im Falle eines Kriegseintritts von Frankreich oder Österreich-Ungarn verpflichtet, sogleich 200.000 Mann zur Verfügung zu stellen. Wien wurde für den Fall eines Krieges mit Preußen der sofortige Kriegseintritt Frankreichs und Italiens zugesagt; im Falle eines Sieges und Territorialgewinnen Wiens sollte dieses Welschtirol an Italien abtreten. Offengelassen worden war im Text des Entwurfes bezeichnenderweise die Frage, wie Österreich-Ungarn bei einem preußisch-französischen (-italienischen) Konflikt zu handeln habe; Beust hatte in den Verhandlungen stets darauf bestanden, dass Wien dann neutral bleiben könne. Insofern bedeutete dieses Zwischenergebnis zumindest einen Teilerfolg für die österreichisch-ungarische Seite. Erzherzog Albrecht hatte die Verhandlungen mit Paris, die er allem Anschein nach aus dem Hintergrund in beratender Funktion begleitete, mit gemischten Gefühlen verfolgt. Dass die französische Seite indes um seinen Einfluss wusste, darauf lässt die Tatsache schließen, dass der französische General Prinz Napoléon Joseph Charles Paul („Plonplon“), ein Sohn des vormaligen Königs Jérôme von Westphalen, anlässlich seines Besuches in Wien im Juni 1868 Erzherzog Albrecht seine Aufwartung machte.21 In Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Dreierpakt verfasste Erzherzog Albrecht im November 1868 eine weitere Denkschrift unter dem Titel „Für den Fall einer Mobilisierung im Jahre 1869“22, in welcher er sich wiederum gegen eine vertragliche Bindung Österreich-Ungarns aussprach, da er fürchtete, Wien könne übervorteilt werden und am Ende erneut als isolierter Verlierer dastehen; ebenso misstraute er Italien, das er nach wie vor als irredentistische Macht ansah. Bis heute undurchsichtig sind die politischen Ziele, die die Wiener Führung mit ihrer damaligen Bündnispolitik ver-

20 Zu den Details vor allem Potthoff, Die deutsche Politik Beusts und Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. 21 Erzherzog Albrecht an Marie Thérèse, 7.6.1868 und 11.6.1868 (Archiv des Hauses Württemberg, Altshausen). Leider erfahren wir nicht, worüber beide Männer sprachen, seiner Tochter gegenüber stellt Erzherzog Albrecht nur fest, die Zeitungen würden viel aufschneiden. Offenkundig war er bemüht, die ganze Angelegenheit möglichst niedrig zu hängen. Als kleine Sensation und möglicherweise als Anzeichen für einen gewissen Gesinnungswandel Erzherzog Albrechts hinsichtlich Frankreichs musste das Zusammentreffen dennoch gewertet werden, hatte Plonplon doch den bezeichnenden Beinamen „Roter Prinz“ und war nicht zuletzt deswegen 1866 Thronprätendent der mit Preußen kollaborierenden ungarischen Linken gewesen. 22 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Nachlass Erzherzog Albrechts, Mikrofilmrolle 10.

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folgte. Der Mai-Entwurf sprach von den „compensations et ... remaniements territoriaux en conséquence d’une guerre éventuelle“.23 Konkretere Formulierungen waren noch im Februar und März im Gespräch gewesen, etwa der Art, dass beide Mächte oder Frankreich allein, falls es allein engagiert ist, die Waffen nicht eher niederlegen, als bis in Deutschland die Grundlagen eines dauernden Friedens durch Herstellung eines neuen, aus möglichst gleich mächtigen Staaten zu bildenden Bundes geschaffen, der Zweck des Krieges sonach erreicht ist.24,

was nur die Zerschlagung des Norddeutschen Bundes und eine völlige Neugestaltung der deutschen Verhältnisse bei Ausschaltung Preußens als Großmacht bedeuten konnte. Bei den Verhandlungen zwischen Österreich-Ungarn und Frankreich in den Jahren 1868 und 1869 über eine „alliance active“ oder „alliance passive“ unter Einschluss Italiens nahmen die deutschlandpolitische Pläne dann schon festere Formen an. Nicht vollständig geklärt ist indes bis heute, ob die Wiener Führung in der Tat konkrete Pläne für eine territoriale und machtpolitische Neuordnung Mitteleuropas hatte und ob eine solche, geradezu revolutionär anmutende Politik wirklich ernsthaft verfolgt wurde.25 Wichtige Einblicke in die politischen Planungen der Wiener Führung jener Jahre gewährt uns hierbei der von Erzherzog Albrecht im Januar 1869 unter der Überschrift „Revision der Karte von Mittel-Europa nach einem glücklichen Kriege gegen Preußen“ verfasste Denkschriftenentwurf, welcher die Umrisse einer gegebenenfalls zu schaffenden Nachkriegsordnung skizziert. Danach sollten erstens Frankreich und Österreich-Ungarn territorial vergrößert und so ein Kräftegleichgewicht zwischen beiden Mächten geschaffen werden; Frankreich sollte Belgien und Luxemburg, allerdings nicht das linksrheinische Deutschland bekommen, lediglich Saarbrücken und Saarlouis waren zur Abtretung vorgesehen; Der König von Belgien sollte mit der Rheinprovinz und Westfalen entschädigt werden. Bayern sollte seine altbayerischen Territorien an Österreich abtreten und dafür mit Baden, dem Elsass und der Pfalzgrafschaft Birkenfeld entschädigt werden. Preußen sollte als europäische Macht ausgeschaltet und auf seine Kerngebiete östlich der Elbe beschränkt werden, Schlesien wäre hierbei an Österreich-Ungarn gefallen. Zweitens sollte ein als Reich bezeichneter deutscher Staatenverbund ohne Preußen unter Führung Österreichs, welches diesem in Gestalt eines habsburgischen Erbkaisertums vorstehen sollte, geschaffen werden. Das Eingehen eines weiteren Bundes des Reiches mit Rumpfpreußen sollte hierbei grundsätzlich möglich 23 Hermann Oncken (Hg.), Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. 1863–1870 und der Ursprung des Krieges von 1870/71. Nach den Staatsakten von Österreich, Preußen und den süddeutschen Mittelstaaten (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bde. 19–21), 3 Bde., Stuttgart 1926, hier Band III, 186 (Art. VI). 24 Brief Vitzthums an Beust vom 19.2.1869, in: Oncken (Hg.), Rheinpolitik, Band III, 111f. 25 Hierzu Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, 43 sowie Matthias Stickler, Kleindeutschland unter Österreichs Führung? – Erzherzog Albrechts Plan für eine Revision der Karte Mitteleuropas nach einem glücklichen Krieg gegen Preußen 1869, in: Rainer F. Schmidt (Hg.), Deutschland und Europa. Außenpolitische Grundlinien zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg. Festgabe für Harm-Hinrich Brandt zum siebzigsten Geburtstag (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beihefte 58), Stuttgart 2004, 97–117.

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sein. Drittens sollten die innerdeutschen Verhältnisse durch Schaffung von vier bundesstaatlich zu organisierenden Kreisen, zu denen zwei österreichische Kreise hinzutreten sollten, völlig neu gestaltet werden. Die mittelstaatlichen Kreise sollten zum Kaiser in einem staatenbündischen Verhältnis unter Einbeziehung bundesstaatlicher Elemente stehen. Viertens sollte das Reich mit den nichtdeutschen Gebieten Österreich-Ungarns institutionell und parlamentarisch verklammert werden und zwar durch vereinigte Delegationen, bestehend aus einem Ober- und einem Unterhaus, in welche die Reichskreise, das vereinigte Parlament der österreichischen Kreise, der ungarische Reichstag und der vereinigte Landtag von Galizien und Bukowina Delegierte entsenden sollten. Unabhängig davon, für wie realistisch bzw. repräsentativ für die Wiener Führung man Erzherzog Albrechts Revisionsplan halten mag, so gewährt er uns jedoch tiefe Einblicke in das dem alteuropäischen Reichsgedanken immer noch verhaftete Denken der Dynastie. Auch nach 1866 hielt man am Bewusstsein der deutschen Stellung Habsburgs fest und hoffte auf eine Möglichkeit, diese zu erneuern und noch territorial auszubauen. Neben Erzherzog Albrecht machte sich auch Reichskriegsminister Kuhn Gedanken über eine Revision der Ergebnisse von 1866. In seinen Tagebüchern entwickelte er den Gedanken eines siegreichen Präventivkriegs gegen Preußen und Russland, für den er – im Unterschied zu dem hier wesentlich vorsichtigeren Generalinspektor Erzherzog Albrecht – die Armee als genügend gerüstet ansah. Er kritisierte deshalb in der ihm eigenen polemischen Art anlässlich eines Besuches des preußischen Kronprinzen die „feigen Friedensmänner, die Ruhe um jeden Preis wünschen und suchen, ...“. Er forderte stattdessen den Entschluss zur kühnen Tat, Russland von Preussen zu trennen und über Berlin nach Frankfurt marschieren. Das deutsche Kaiserreich proklamieren als föderativen Staat mit freiester Verfassung in den verschiedensten Staaten!

Dieses Reich sollte bestehen aus einem um Baden vergrößerten Württemberg, Bayern, einem um Oldenburg und Braunschweig vergrößerten Hannover, einem um beide Mecklenburgs vergrößerten Holstein, einem alle wettinischen Länder vereinigenden Königreich Sachsen, einem auf seine ostelbischen Gebiete beschränkten Preußen, ganz Zisleithanien, wobei Schlesien an Österreich fallen sollte. In Regensburg sollte ein gemeinsames Reichsparlament tagen, und außerdem eine deutsche Flotte gegründet werden.26 Während Erzherzog Albrecht vor allem die mit dem Charakter der Habsburgermonarchie als Vielvölkerstaat zusammenhängenden Probleme zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte, und den defensiven Charakter des zu schaffenden mitteleuropäischen Staatenbundes betonte, knüpfte Kuhn deutlich an Machtstaatsvorstellungen des großdeutschen Lagers an. Unberücksichtigt blieb hierbei die faktische Isolierung Österreich-Ungarns, seine dualistische Staatsstruktur und die Problematik der noch unvollendeten Militärreform. Kuhn berauschte sich an der Vorstellung eines österreichisch geführten großdeutschen Reiches als Land- und Seemacht, das er den von ihm als schwach eingeschätzten übrigen europäischen Großmächten abzutrotzen gedachte: 26 Kriegsarchiv Wien, Kuhn-Tagebücher, 7.10.1869.

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Matthias Stickler Nie wird der Moment zur Realisierung dieses grossartigen Planes sich für uns schöner und günstiger gestalten, als dermalen. Auf allen Thronen sitzen schwachbegabte Regenten, selbst Frankreich nicht ausgenommen, da Napoleon [unleserlich] und moralisch sehr herabgekommen ist. ... Jetzt fängt ihm aber die linke Partei bedeutend über den Kopf zu wachsen [an], wenn er sich nicht zu einer kühnen, rettenden Tat entschliesst, dann ist er verloren. Und wie soll er sich zu einer solchen Tat in seinem Zustande begeistern?! Auch die Verhältnisse in Russland sind für einen solchen Plan nicht ungünstig. Id quidem censeo faciendum Borussiam esse delendam. Aber die Männer hierzu?27

Diese hochfliegenden Pläne fanden allerdings keinen Niederschlag in der militärischen Planung der Generalstabsabteilung des Kriegsministeriums, es blieben Tagebuchphantasien. Bezeichnenderweise war Kuhn auch, anders als Erzherzog Albrecht, über die Verhandlungen mit Frankreich und Italien nicht näher unterrichtet. So berichtet er in seinem Tagebuch unter dem 3. April 1869, dass Beust ihn in einer Sitzung darüber informiert habe, dass man mit Italien und Frankreich gut stehe, was Kuhn, ohne hierauf irgendwie einzugehen, zum Anlass nahm, in seinen Aufzeichnungen wieder die Notwendigkeit eines sofortigen Präventivkriegs gegen Preußen und Russland zu beschwören.28 Allerdings drang Kuhn mit dieser Forderung bei Kaiser Franz Joseph nie durch.29 An der isolierten Stellung des Reichskriegsministers sollte sich auch in der Folgezeit nichts ändern, im Vorfeld des Ausbruchs des preußisch-französischen Krieges von 1870 diskutierte er seine Revanche-Pläne weder mit Erzherzog Albrecht noch mit Beust, die er beide grenzenlos verachtete.30 Insofern handelt es sich bei Kuhns Überlegungen um reine Privatmeinungen, die in keiner Weise Rückschlüsse zulassen auf interne Überlegungen der außenpolitisch Handelnden in Wien. Sie erklären allerdings, warum Kuhn beim Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs zu den Scharfmachern gehörte. Das Scheitern des Mai-Entwurfs von 1869 wegen unüberbrückbarer Differenzen zwischen Paris und Florenz über die Römische Frage enthob Österreich-Ungarn vorläufig der Notwendigkeit, außenpolitisch eindeutig Farbe bekennen zu müssen. Der weitere Fortgang der Verhandlungen mit Frankreich zeigt aber, dass es der Wiener Führung nicht um eine Revisionspolitik um jeden Preis ging. Im Gegenteil waren Beust und Kaiser Franz Joseph peinlich darauf bedacht, sich nicht in einen leichtfertig vom Zaun gebrochenen Krieg hineinziehen zu lassen. Erzherzog Albrecht war in die Verhandlungen dieser Monate31, anders als Kriegsminister Kuhn32, fest eingebunden. Seine diplomatische Mission nach Frankreich in den Monaten Januar bis März 1870 hatte den Sinn, sich einen Eindruck von der Schlagkraft der

27 Ebd. 28 Kriegsarchiv Wien, Kuhn-Tagebücher. 29 Lackey, General Friedrich Beck and the rise of the Austro-Hungarian general staff. Civil-military Scott Warren relations and the making of a modern military state, 1867–1906, Chapel Hill 1991, 196. 30 Ebd., 198ff. 31 Hierzu ausführlich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, 128ff. und Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich, Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, 364ff. 32 Ebd., 383.

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französischen Armee zu verschaffen; ganz offensichtlich überzeugte ihn das Gesehene nicht33, weshalb man in Wien gegenüber den französischen Anerbietungen nach wie vor vorsichtig blieb. Der Besuch des General Barthélemy Louis Joseph Lebrun in Wien im Juni 1870, der das Ziel verfolgte, das Bündnis beider Staaten zu besiegeln und Österreich-Ungarn auf einen unbedingten Kriegseintritt an der Seite Frankreichs gegen Preußen zu verpflichten, war deshalb im Ergebnis ein Fehlschlag. Weder Kaiser Franz Joseph noch Erzherzog Albrecht ließen sich festlegen und gaben nur unverbindliche Stellungnahmen ab, welche aber de facto einer Ablehnung der französischen Vorstellungen gleichkamen. Letzter warnte sogar indirekt vor einem überstürzten Kriegsbeginn, indem er das Frühjahr 1871 als besten Termin hierfür ins Gespräch brachte.34 Erzherzog Albrecht tat dies nicht in erster Linie aus Friedensliebe, im Gegenteil war er durchaus ein grundsätzlicher Befürworter eines Kriegsbündnisses mit Frankreich. Er musste jedoch der Tatsache Rechnung tragen, dass die k.k. Armee wegen der noch nicht abgeschlossenen Militärreformmaßnahmen zu einer erfolgreichen Kriegführung noch nicht in der Lage war. Dies zeigte sich in aller Deutlichkeit im Vorfeld des Ausbruchs des DeutschFranzösischen Krieges: Erzherzog Albrecht beurteilte die Lage insgesamt sehr zurückhaltend und mit deutlich pessimistischer Grundtendenz. So schrieb er am 15. Juli 1870 an seine Tochter Marie Thérèse, die Weltlage sei zu ernst, als dass man das zu Erwartende leichtsinnig nehmen könne. Ich fürchte, daß aus diesem Conflicte nach und nach ein allgemeiner u. gr. Weltkrieg entstehen wird, dessen Ende niemand absehen kann.35

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der norddeutsche Botschafter in Wien Hans Lothar v. Schweinitz am 13. Juli 1870 nach Berlin meldete, Beust habe ihm mitgeteilt, dass Kaiser Franz Joseph und Erzherzog Albrecht gegen den Krieg seien.36 Anders dagegen Reichskriegsminister Kuhn: Er plädierte für den unbedingten Kriegseintritt Österreich-Ungarns, um ja den richtigen Augenblick nicht zu verpassen. In diesem Sinne verfasste er am 14. Juli 1870 ein umfangreiches Memoire für Kaiser Franz Joseph37. Darin lehnte er die Neutralität Österreich-Ungarns strikt ab: Siege Frankreich, so könne zwar die deutsche Stellung Österreichs wiedergewonnen werden, doch dies nur um den Preis der Abtretung des linken Rheinufers; siege dagegen Preußen, so bedeute dies mittelfristig die Zerstörung der Habsburgermonarchie und den Aufstieg Preußen-Deutschlands zur europäischen Hegemonialmacht. Österreich-Ungarn müsse deshalb auf der Seite Frankreichs und im Bunde 33 34 35 36 37

Ebd., 371. Ebd., 376. Archiv des Hauses Württemberg, Altshausen. Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, 200. Kriegsarchiv Wien, Beck-Memoiren II, 849–854; abgedruckt in: Edmund von Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte. Das Leben des Generalstabschefs Grafen [Friedrich von] Beck. Nach seinen Aufzeichnungen und hinterlassenen Dokumenten [1848–1906], Zürich u.a. 1930, 457–460.

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mit Italien in den Krieg eintreten, dabei mittels der Revolutionierung Polens auch Russland mit Krieg überziehen, um diesen Riesen zu schwächen und vollkommen auf Asien zu verweisen, wenn nicht die Erde über kurz oder lang unter 2 Mächte, die Nordamerikaner und die Russen, geteilt werden soll. 38

Angesichts letzterer Prophezeiung ist man fast geneigt, Kuhn großen Weitblick zuzusprechen, doch zeigt gerade sein Insistieren auf einem Zweifrontenkrieg und die schon aberwitzig zu nennende Vorstellung, Russland aus Europa vertreiben zu können – dies angesichts der noch nicht abgeschlossenen Militärreform in ÖsterreichUngarn – welch gefährliches Wunschdenken sich hier Bahn zu brechen drohte. Des damit verbundenen Risikos einer Niederlage war sich Kuhn durchaus bewusst, doch glaubte er, dies eingehen zu müssen: Ist Preußen auch in diesem Falle Sieger, nun dann vollzieht sich das Geschick Österreichs wie in jenem, wenn letzteres neutral bleibt, nur vielleicht etwas schneller. 39

Im gemeinsamen Ministerrat, der am 18. Juli 1870 in Wien tagte, kristallisierten sich in der Diskussion sehr schnell drei Meinungen heraus: Ohne Chance war Kuhns „Weltkriegsprogramm“, welches Kaiser Franz Joseph bereits vorab verworfen hatte.40 Ungarns Ministerpräsident Julius Graf Andrássy trat für eine entschieden antirussische Haltung bei wohlwollender Neutralität zugunsten Preußens ein, die „Hofpartei“41 für eine Politik des Abwartens bei grundsätzlichem Offenhalten der Option eines Eingreifens auf Seiten Frankreichs.42 Der Kriegsausbruch zum jet-

38 Ein gesamteuropäischer Konflikt unter Einbeziehung auch der Völker der europäischen Türkei und Griechenlands war hierbei durchaus erwünscht. Territorial wollte Kuhn die süddeutschen Staaten sowie Bosnien und Rumänien annektieren, dafür auf Welschtirol und Galizien (letzteres zugunsten eines unabhängigen Polens) verzichten. Die k.k. Armee wollte Kuhn in drei Gruppen teilen, die Hauptmacht gegen Russland, untergeordnete Kräfte gegen Preußen und tertiäre Kräfte an der unteren Donau. 39 Dieser gleichsam achselzuckende Federstrich zeigt eindringlich, wie sehr Kuhns politisches Denken sozialdarwinistisch geprägt war. 40 Auf die Rückseite der Denkschrift hatte er mit Bleistift geschrieben „Politik Kuhns. Zur Durchsicht mit der Bitte um Rückstellung“, womit er, wie Lutz zu Recht bemerkt hat, dessen Ergüsse als Kompetenzüberschreitung kennzeichnete und damit, so wird man hinzufügen müssen, vom Tisch wischte; Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, 538, Anm. 7. 41 Lutz hat den Begriff „Hofpartei“ (als Sammelbezeichnung für Kaiser Franz Joseph, Erzherzog Albrecht, Potocki und Kuhn) in Auseinandersetzung mit Istvan Diószegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870–71, Budapest 1974 mit einleuchtenden Argumenten kritisch hinterfragt und besonders die Heterogenität dieser Gruppe betont, die im Unterschied zu den Deutschliberalen bzw. der ungarischen Déak-Partei nicht als relativ geschlossener Block handelte. Ob man Kuhn überhaupt in den engeren Kreis einer „Hofpartei“ wird zählen dürfen, ist angesichts seiner offenkundigen Ausgrenzung aus den militärisch-politischen Verhandlungen mit Frankreich seit 1868 fraglich. 42 Zu den Details die Ausführungen von Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches sowie Diószegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg; letzterer bietet auf den Seiten 286 bis 296 auch einen vollständigen Abdruck des Ministerratsprotokolls. Inzwischen ist dieses auch ediert in: Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates

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zigen Zeitpunkt stellte Erzherzog Albrecht und Beust, von deren übereinstimmender Neigung zu einem Revanchekrieg grundsätzlich ausgegangen werden kann, vor ein schier unlösbares Problem: Noch war die k.k. Armee nicht hinreichend gerüstet für einen so entscheidenden Kampf, und völlig auf sich allein gestellt waren Frankreichs Siegeschancen gegen Preußen ungewiss; Österreich-Ungarn stand also vor der Wahl, entweder unzureichend vorbereitet in den Krieg einzutreten, oder die Niederlage Frankreichs in Kauf zu nehmen und damit jede Hoffnung auf eine Revision der Ergebnisse von 1866 wohl für immer begraben zu müssen. Beust verlegte sich deshalb auf eine zurückhaltende Taktik: Er betonte zunächst, dass ÖsterreichUngarn, was natürlich so nicht zutraf, nach keiner Seite Verpflichtungen eingegangen sei, und stellte die Frage, ob es nicht geraten sei, die bisherige Passivität aufzugeben und empfahl, uns auf einen solchen Fuß zu setzen, dass uns die Ereignisse, wenn sie an uns herantreten, nicht unvorbereitet finden.

– bewaffnete Neutralität also, die ja durchaus die Möglichkeit eröffnen konnte, militärisch aktiv zu werden, sobald die Mobilmachungsvorbereitungen abgeschlossen waren. Hier hakte auch Erzherzog Albrecht ein; er verwies darauf, dass eine Mobilmachung sechs Wochen dauern werde, und wagte vor diesem Hintergrund eine Prognose hinsichtlich der Erfolgschancen Frankreichs: Die Franzosen dürften am 27.–30. Juli den Rhein überschreiten. Sie könnten Ende August an der sächsischen Grenze sein, Anfang September könne also die entscheidende Schlacht stattfinden, die uns zur Tat ruft.

Könne und wolle man also die Aktion im September, so rüste man jetzt gleich und energisch. Im anderen Falle lasse man die Rüstung ganz bleiben. Erzherzog Albrecht hatte also die Hoffnung, dass Frankreich siegreich sein würde, noch nicht aufgegeben, und für diesen Fall fasste er ein militärisches Eingreifen Österreich-Ungarns ins Auge. An diese Gedanken anknüpfend und Andrássys Vorschläge zurückweisend, wagte sich Beust nun ein Stück weiter vor; er betonte, dass ÖsterreichUngarn in den letzten Jahren mit Frankreich „auf einen guten Fuß“ gekommen sei, während es sich als unmöglich erwiesen habe, mit Preußen ein halbwegs vernünftiges Verhältnis herzustellen. Man habe sich von den sich überstürzenden Ereignissen zwar nicht mitreißen lassen dürfen, gegen Frankreich aber die Freundschaftspflicht [!] üben müssen, es vor einer Provozierung des deutschen Nationalbewusstseins zu warnen, und müsse alles vermeiden, was wie eine Unterstützung der Feinde Frankreichs aussehe. Er trat deshalb dafür ein, dass Österreich-Ungarn eine öffentliche Neutralitätserklärung abgeben solle, in deren Schutz man die Mobilmachung betreiben könne, und betonte in diesem Zusammenhang, dass im Falle eines französischen Sieges ein kluges Vorgehen Früchte tragen werde. Diese Äußerung ließ durchaus Spielraum sowohl für ein militärisches Eingreifen zu einem späteren Zeitpunkt, als auch für eine Taktik des Mitgewinnens des Krieges ohne großen Einsatz, der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867–1918. Bd. I/2: Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1870–1871. Bearb. v. Éva Somogyi, Budapest 2011, 3–14.

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wie sie Napoleon III. in den vergangenen Jahren mit wechselndem Erfolg häufig versucht hatte. Kaiser Franz Joseph entschied – nachdem er zuvor einen Vorschlag Potockis und Lónyays, nur eine Teilmobilmachung zu beschließen, in Übereinstimmung mit Erzherzog Albrecht abgelehnt hatte – schließlich im Sinne Beusts und Erzherzog Albrechts, nämlich dass vorläufig Neutralität beobachtet, zugleich aber mit der bei der Sachlage nötigen Armierung, und zwar zunächst mit den zeitraubenden Vorbereitungen, nämlich Befestigungsarbeiten und Pferdeeinkäufen, begonnen werden sollte. Den Mächten sei die Neutralität Österreich-Ungarns bekanntzugeben und gleichzeitig mit dieser Deklaration eine die Rüstungen motivierende Aufklärung zu geben.43

Mit dieser Formel hatte man die eigentliche Entscheidung vertagt, hielt sich jedoch die Tür für einen Kriegseintritt noch offen. Es war deshalb konsequent, dass am Tage der französischen Kriegserklärung an den Norddeutschen Bund (19. Juli 1870) Erzherzog Albrecht zum Armeekommandanten für den Kriegsfall ernannt wurde. Doch schon das Eintreten der süddeutschen Staaten in ihre Bündnisverpflichtungen gegenüber Preußen bedeutete im Grunde einen empfindlichen Rückschlag für Erzherzog Albrecht und Beust, die dies stets bezweifelt hatten und darauf einen guten Teil ihrer Siegesgewissheit gesetzt hatten. Erschwerend kam hinzu, dass die Mobilmachungsmaßnahmen nur schleppend vorankamen. KEIN „WIEDEREINTRITT“ Der schnelle Sieg Preußen-Deutschlands über Frankreich entzog dann allen Kriegsund Revisionsplänen schnell und im Ergebnis endgültig den Boden. Am 2. November 1870 wurden vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden französischen Niederlage die Mobilmachungsmaßnahmen, die man schon vorher reduziert hatte, endgültig eingestellt. Ende Dezember 1870 leitete Beust dann den offiziellen Kurswechsel im Verhältnis zu Preußen-Deutschland ein, indem er Kaiser Franz Joseph eine entsprechende Promemoria samt Depeschen-Entwurfs zusandte. Dessen Antwort –

43 Friedrich von Beck-Rzikowsky (1830–1920), damals Vorstand der Militärkanzlei Kaiser Franz Josephs, hat in seinen Memoiren den Ministerratsbeschluss als entscheidenden Schritt gegen einen Kriegseintritt Österreich-Ungarns interpretiert und sich eine maßgebliche Rolle bei der Zurückweisung der Kriegspläne zugesprochen, doch ist bei seiner Darstellung Vorsicht geboten, da sie fundamental vom Ministerratsprotokoll abweicht, insbesondere hat Beck nachweislich an der Sitzung nicht persönlich teilgenommen. Dass er ein unbedingter Gegner von Revancheplänen war, dürfte indes feststehen, und so ist, wie dies Glaise-Horstenau und Lackey auch überzeugend vertreten haben, anzunehmen, dass er vor bzw. am Rande der Sitzung Einfluss zu nehmen suchte, in der späteren Erinnerung dies aber verwechselte. Hierzu Beck-Memoiren II, 855–858; Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte, 166–170; Lackey, General Friedrich Beck and the rise of the Austro-Hungarian general staff, 218–220. Becks Bewertung der Sitzung dürfte ebenfalls aus der Sichtweise ex post heraus erklärbar sein.

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Ich habe Promemoria und Entwurf der Depesche nach Berlin gelesen. Benimmt uns zu viel Entgegenkommen nicht die Möglichkeit bei Gelegenheit des Friedensschlusses oder einer noch ungünstigeren Lage Preußens Garantien und etwaige Compensationen zu fordern. 44

– zeigt deutlich, dass der Kaiser die Hoffnung auf eine zumindest teilweise Revision der Ergebnisse von 1866 auch jetzt noch nicht vollständig begraben wollte. Mit der Annahme des Promemorias fügte er sich jedoch ins Unvermeidliche, es musste für Österreich-Ungarn nun darum gehen, in der gewandelten europäischen Ordnung, in der es sich wieder einmal isoliert fand, einen neuen Platz zu finden. Es war nicht zuletzt das Verdienst Julius Graf Andrássys, gemeinsamer Außenminister seit 1871, dass in Wien dauerhaft eine neue, zwar durchaus von spezifisch ungarischen Machtinteressen motivierte, aber in Bezug auf das Deutsche Reich zweifellos realistischere außenpolitische Richtung die Oberhand gewann, die endgültig einen Schlussstrich unter den preußisch-österreichischen Hegemonialkonflikt in Mitteleuropa zog. Erzherzog Albrecht war hierbei anfangs sein vehementer Gegner, er setzte auf eine enge Allianz mit Russland und misstraute Bismarcks Politik, dem er die Schmach von 1866 nicht vergeben wollte. Erst unter dem Eindruck des Friedens von San Stefano, der ihn tief enttäuschte und ihm die wahren Absichten der russischen Außenpolitik enthüllte, schwenkte Erzherzog Albrecht auf Andrássys Linie ein und verfolgte seither eine Politik der engen außen- und militärpolitischen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich.45 Zusammenfassend kann folgendes festgestellt werden: Der Revisionsplan Erzherzog Albrechts von 1869 und die Kriegspläne des Reichskriegsministers Kuhn markieren den Höhe- und Wendepunkt der preußenfeindlichen Politik ÖsterreichUngarns in den drei Jahren der Existenz des Norddeutschen Bundes. Beides zeigt die unbedingte Revanchebereitschaft maßgeblicher Kreise der österreichisch-ungarischen Führung in den späten sechziger Jahren und zum andern, dass es über die bekannten allgemeinen Formulierungen hinaus eben doch konkrete Überlegungen für die anzustrebende Nachkriegsordnung gab. Gleichwohl wird man festhalten müssen, dass Erzherzog Albrecht, anders als Kuhn, keineswegs ein blinder Fanatiker war. Er verfocht zwar die militärische Option stärker als Beust und hätte bei 44 Otto Ernst (Hg.), Kaiser Franz Joseph in seinen Briefen, Wien/Leipzig/München 1924, 330f. Dieses interessante Dokument wird leider vom Herausgeber – im Unterschied zu seiner sonstigen Praxis – nur vage datiert („noch vor den deutschen Siegen im Jahre 1870“), weshalb man davon ausgehen muss, dass die Datierung hier fehlte und Ernst diese selbst (und zwar falsch) vorgenommen hat. Lutz hat dieses Telegramm völlig ignoriert, was daran liegen dürfte, dass er Ernsts Quellensammlung nicht verwendete; gerade dieses Dokument schließt jedoch vollständig seine Argumentationskette hinsichtlich der prodeutschen Wende der österreichisch-ungarischen Politik im Dezember 1870, wo er zur telegraphischen Antwort Kaiser Franz Josephs auf Beusts Schreiben vom 25. Dezember 1870 keine Belegstelle nennt. Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches, 385f u. 572. 45 Hierzu ausführlich. Rainer F. Schmidt, Die gescheiterte Allianz. Österreich-Ungarn, England und das Deutsche Reich in der Ära Andrássy (1871–1878/79), Frankfurt/Bern/New York/Paris 1993 und Stickler, Erzherzog Albrecht von Österreich, Selbstverständnis und Politik eines konservativen Habsburgers im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, 392–438 sowie István Diószegi, Bismarck und Andrássy. Ungarn in der deutschen Machtpolitik in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wien/München 1999.

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einem besseren militärischen Zustand der k.k. Armee und einer günstigeren diplomatischen Lage zweifellos zum Kriegseintritt an der Seite Frankreichs geraten. In realistischer Einschätzung der Möglichkeiten Österreich-Ungarns erkannte er aber im konkreten Fall, dass ein kompromissloser Kriegskurs zu riskant war. Dass Erzherzog Albrechts Revisionsplan nicht zur Ausführung gelangte und sich Reichskriegsminister Kuhn in der entscheidenden Ministerratssitzung vom 18. Juli 1870 nicht durchsetzen konnte, wird man zudem als Beleg für die gemäßigte Haltung der Beust‘schen Außenpolitik werten dürfen, der unter „Wiedereintritt in Deutschland“ eben nicht einen gewaltsamen Umsturz der mitteleuropäischen Ordnung um jeden Preis verstand.

SCHWERPUNKT II:

MICHAEL SALEWSKIS „VERÄNDERUNGEN“ Eine Einführung Jan Kusber Michael Salewski, von 1980 bis 2003 Lehrstuhlinhaber für Neueste Geschichte im Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wäre 2018 achtzig Jahre alt geworden. Bekannt als Marine-Historiker mit einem Interesse an Kriegsgeschichte und internationaler Geschichte ist in der breiten Rezeption seines Werkes leider untergegangen, wie vielseitig er gearbeitet und gedacht hat. Er interessierte sich für den Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft und Zukunftserwartungen,1 arbeitete zu Frauen- und Geschlechtergeschichte, als gender studies noch nicht so stark akademisch etabliert waren. Sein letztes großes Buch vor seinem Tod im Jahre 2010 zu diesem Thema ist leider nur wenig rezipiert worden.2 Das ist bedauerlich, weil der überraschende Gedanke, die gelungen Verknüpfung und das Denken jenseits historischer Schulen die Lektüre lohnenswert macht. Dies gilt auch für eine Schrift aus seinem Nachlass, die eine Disziplin aufgreift, die aus vollends aus der Mode geraten ist – Geistesgeschichte. Sie war im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine nachgerade eigenständige Subdisziplin mit enger Überscheidung zur Geschichtsphilosophie und ging davon aus, dass sich Geist – vereinfacht gesagt – außerhalb von Körper und Raum manifestiert und entwickelt, mithin eine „eigene“ Geschichte habe. Es ist also keine Rückwärtswendung, sondern eine intellektuelle Provokation, wenn Salewski seine letzte Studie im Untertitel so nannte: Der Historiker, der auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft und auch sein eigenes Schaffen zurückblickt, betätigt sich als Philosoph. Salewski tat dies, indem er simple Fragen stellt. Was sind „Veränderungen“ und worin zeigen sie sich? Und hier kommt die Historikerzunft als akademische Disziplin ins Spiel: „Wie geht Geschichte“?

1 2

Zeitgeist und Zeitmaschine. Science-Fiction und Geschichte (= dtv 4445), München 1986. Michael Salewski, Revolution der Frauen. Konstrukt, Sex, Wirklichkeit (= Historische Mitteilungen. Bd. 75). Steiner, Stuttgart 2009.

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Welche professionelle Historikerin und welcher Historiker wüsste dies nicht gerne, und wer hat sich bei der Konzeption eines Forschungsvorhabens und bei einem Vertiefen ins historische Material nicht schon diese grundsätzliche Frage gestellt, die ob ihrer Schlichtheit fast unwissenschaftlich erscheint, wiewohl sie natürlich ihre Berechtigung hat. Salewski variierte damit eine Frage, die schon Edward H. Carr stellte, als er wissen wollte „Was ist Geschichte“.3 Auf beide Fragen kann es wohl kaum die eine Antwort geben, sondern nur eine Vielzahl, die von den jeweiligen Vorannahmen, angewandten Theorien und Konzepten abhängt. Aber immer lohnt das Nachdenken darüber, was gegeben ist oder scheint, was unter welchen Randbedingungen sich wie entwickelt und von welchem Sehepunkt4 die Priester der Clio ihr Material ordnen zu Interpretationen und – ja – auch Wertungen kommen. Salewski geht dabei davon aus – hier wäre er bei Richard Evans –, dass es das Faktum an sich schon gibt.5 Er war sicher kein Konstruktivist. Aber seine Gedanken aus dem Jahre 2008, unter welchen Bedingungen Geschichte entsteht, wie sie gemacht und wie über sie geschrieben wird, gehen über Ranke, auf den er sich im Text immer wieder bezieht, weit hinaus. Salewski geht in seiner Schrift darum, wie man die Geschichte, aufbrechen könnte, damit man sie nicht nur sieht, sondern begreift. Dieses „Begreifen“ hat für ihn etwas haptisches, es inkludiert aber auch die Frage nach dem Sinn und dem Verstehen. Sein Essay hätte er sicher selbst noch einmal einer kritischen Lektüre unterzogen, manches an Literatur und Belegen ergänzt (eventuell auch auf die neue Rechtsschreibung umgestellt). Salewski scheute auch den Griff zu populärer Literatur nicht, Filme sind für ihn ob der Wirksamkeit der erzeugten Bilder und Visionen oft wichtiger als die Erzeugnisse der eigenen Zunft. Insgesamt entsteht ein Leseerlebnis, das interessant bleibt. Ich selbst gehöre nicht zu den Schülerinnen und Schülern Salewskis; aber ich erinnere mich, dass er in den Vorlesungen, die ich bei ihm in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre an der Christiana Albertina hörte, von der Entwicklung der Argumentation her ähnlich vorging: Wir nehmen Teil an dem intellektuellen Inventar Salewskis, das aus ideengeschichtlichen Traditionsbeständen, Alltagsphänomenen und -begebenheiten und aktuellen, interdisziplinären Ansätzen der Forschung bestanden hat. Er geht kausal verknüpfend, aber auch assoziativ vor, wenn er in 14 Kapiteln wissen will, was eigentlich Veränderungen sind und wie kann man sie überhaupt bemerken und beschreiben kann? Schlüsselbegriffe, die die ältere Historiografie beschäftigt haben, wie „Schicksal“ oder „Macht“, hinterfragt er dabei ebenso, wie die Rolle von Individuen oder

3

4 5

Edward Hallet Carr, Was ist Geschichte?, 6. Auflage, Stuttgart 1981. Dieser Text geht, wie auch manche Bücher von Salewski, auf eine Vorlesung zurück. Siehe z.B. Michael Salewski, Deutschland. Eine politische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2 Bände. München 1993; ders., Der Erste Weltkrieg, 2. Aufl. Paderborn u. a. 2005. Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742. Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Campus, Frankfurt/M. 1998.

Einführung

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Kollektiven, bis hin zur „Nation“. Er diskutiert Singularität und Vergleich, reflektiert über das Ursache-Wirkungs-Prinzip als Grundlage historischer Argumentation und Darstellung. Die Linearität der Geschichte ist für ihn fragwürdig, das UrsachenWirkung-Prinzip damit auch, schon wegen des Zufalls. Veränderungen sind nicht nur aus jeweils einer Wurzel zu erklären sein, sondern aus vielen – nach Salewski: aus allen. Das kann natürlich nicht gelingen, und so sieht Salewski den Historiker denn auch als Bildhauer, der aus dem Vergangenen die Geschichte formt, durch seine Fragestellungen, durch den Zeitkontext und durch das Gefühl. Zugleich reduziert er das Vergangene. Indem manche Veränderungen sichtbar gemacht werden, geraten andere aus dem Blick. Geschichtswissenschaft ist daher nicht nur eine Geisteswissenschaft, sondern auch eine „Gefühlssache“, wobei der innere Widerspruch in diesem aus „Gefühl“ und „Sache“ zusammengesetzten Wort, so Salewski, bewusst gewählt ist: Die Welt der Gefühle zählt unmittelbar zur Geschichtswissenschaft und gehört zum Historiker. In dem letzten Kapitel schimmert die Skepsis an den Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft am stärksten. Geschichte, so Salewski, sei keine Wissenschaft. Dies überrascht ein wenig, liest man seine ersten Kapitel doch anders. Sein Fazit erklärt sich für ihn aber aus der funktionalistischen Nutzung von Geschichte durch unterschiedliche Akteure zu unterschiedlichen Zeiten – und aus der geringen Zukunftsfähigkeit der Geschichte. Es scheint, als habe Salewski, dem man im Grunde in Anlage und Argumentation seiner Schrift die Neugier auf die Welt anmerkt, gerade im letzten Kapitel die Begrenztheit des eigenen Lebens vor Augen gestanden. Jedenfalls hat er einen Text hinterlassen, der zur intellektuellen Auseinandersetzung über den „Sinn der Geschichte“6 einlädt.

6

So der anspruchsvolle und vollmundige Titel des Buches von: Baberowski, Jörg, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005.

Stets treu (05.09.08)

VERÄNDERUNGEN ODER: WIE GEHT GESCHICHTE? Geistesgeschichtliche Betrachtungen Michael Salewski (†) INHALT Vorwort 1. Fragen und Banalitäten 2. Tempora mutantur 3. Ungenügen 4. Natur und gut 5. Der Esel auf dem Eis 6. Menschen und Ursachen 7. Einzelne und Viele 8. Bruch und Kontinuität 9. Krieg und kein Frieden 10. Massen und Rückschritte 11. Werte und Unwerte 12. Weltgeschichte und Zusammenhänge 13. Mikroskope und Symbole 14. Gefühle und Befindlichkeiten 15. Traditionen 16. Schluß VORWORT Kann man über Vergangenheit nachdenken, obwohl sie doch unwiderruflich vergangen ist? Gar noch theoriefrei? Sind Theorien aller Art nicht immer die Voraussetzung für das Nachdenken über Geschichte? 1 Schon immer wurde über Geschichte nachgedacht, aber es blieb der Neuzeit vorbehalten, dieses Nachdenken

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Baberowski, Jörg, Über die schöne Schwierigkeit, Geschichte zu schreiben, in: F.A.Z. 29.07.2009.

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in theoretische Konzepte zu fassen. Diese ließen sich seit Ernst Bernheims2 Zeiten wie die Hemden wechseln; ihre Gesamtheit mauserte sich zu zahlreichen anspruchsvollen Geschichtsphilosophien und -theorien.3 So kam es, daß nicht nur die Gegenwart, 4 sondern auch die Vergangenheit hinter einem immer komplexeren und dichteren Schleier von Theorien nach und nach verschwand oder bis zur Unkenntlichkeit verfremdet wurde, und es fehlte nicht an Theorien, die genau das zu erklären wussten. Alles schien plausibel, weil Geschichte nach Hegel und Dilthey meistens als Geistesgeschichte begriffen wurde, wobei es bald keine Frage mehr war, daß diejenigen, die theoretisch an die Geschichte herangingen, dieselbe sich erst schufen. Das Denken in theoretisch vorgefertigten Bahnen und die Sprache selbst wurden zu den vornehmsten Schöpfungsinstrumenten; was nicht gedacht und gesagt werden konnte, existierte nicht; alles was existierte, war Konstrukt von Gedanken und davon abgeleitet der Sprache. Der ursprünglich aus den USA stammende „linguistic turn“ war der erste von vielen „turns“ und prägte ganze Historikergenerationen. Es ist bezeichnend, daß es für diesen Begriff keine adäquate deutsche Übersetzung gibt. Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan (in alphabetischer Reihenfolge) wurden zu den neuen „Kirchenvätern“ auch der Geschichtswissenschaft; keine akademische Prüfungsarbeit kam ohne sie aus – oft in geradezu ritualisierter Form, und den einen oder anderen erinnerte das an die unselige Praxis der marxistisch-kommunistischen Geschichtsschreibung ferner Tage, in der Marx, Engels, Lenin, Stalin immer vorkommen mussten. Gewiß gab es auch „deutsche“ Geschichtstheoretiker – man denke an Otto Gerhard Oexle oder Jan Rüsen5 – aber deren Einfluß reichte an den französischer oder amerikanischer Theoretiker nicht heran. Um die vorvergangene Jahrhundertwende hatte die deutsche Geschichtswissenschaft die historiographische Welt geprägt. Sie „erfand“ die „kritische Methode“, das „Seminar“, überwand den „Positivismus“, und eine ihrer weltweit beachteten Botschaften lautete: „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“. Das schloß allgemeinverbindliche Geschichtsphilosophien und -theorien als gültigen Rahmen aller Geschichtsschreibung a priori aus. „Individuum est ineffabile“ zitierte Friedrich Meinecke aus einem Brief Goethes an Lavater.6 „Nun stellen wir uns mal ganz dumm“: Ist es unmöglich, über Geschichte zu handeln ohne zu theoretisieren und zu „kulturalisieren“, sondern eine „praktische“ 2

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Über Theorien zu „Entwicklungsreihen“ sinnierten schon Bernheim und Dietrich Schäfer ausgangs des 19. Jahrhunderts, auch der Begriff „genetisch“ tauchte schon früh auf: Bernheim, Ernst, Lehrbuch der historischen Methode, und der Geschichtsphilosophie, 1898. Konferenz „Theorietheorie. Die Geisteswissenschaften als Ort avancierter Geisteswissenschaft“, Dubrovnik 26.–29.03.2009. Meier, Christian, Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik, München 2004. Eine „Enzyklopädie der Wissenschaftstheorien“ ist in Vorbereitung (Stefan Haas). Goertz, Hans-Jürgen, Umgang mit der Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995. Als Motto seiner „Entstehung des Historismus“.

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Beobachtung nach der anderen zu wagen, wobei deren Gesamtheit jenseits aller „Transdisziplinarität“7 auch ein Ganzes ergeben soll? Natürlich nicht, wird man sofort einwenden, das ist erkenntnistheoretisch gar nicht möglich, aber paradox kann es zugehen, warum eigentlich nicht? Es gibt zu denken, daß die Urväter der modernen Geschichtsschreibung, an ihrer Spitze Leopold von Ranke, schon Mitte des 19. Jahrhunderts gegen Geschichtstheorien (damals vornehmlich die Hegelsche) polemisiert und sie als Diskursanalyse (auch wenn es das Wort noch nicht gab) verworfen haben – Rankes Berchtesgadener Vorträge vor König Max II. von Bayern aus dem Jahr 1854 sind eine geistesgeschichtliche Gratwanderung (was man fast buchstäblich nehmen kann) und immer noch lesenswert.8 Davon redet heute niemand mehr; über diese „Rhapsodien“, wie sie der Altmeister selbst nannte, sind wir hinweg, sie werden meist schamhaft verschwiegen und fristen nur noch ein Schattendasein, dem man im Proseminar zumindest mit Nachsicht und wissenschaftlicher Pietät begegnet. Der nachfolgende Text will mitnichten daran anknüpfen, das wäre ebenso vermessen wie lächerlich, dennoch will er fragen: Wie geht Geschichte? 1. FRAGEN UND BANALITÄTEN Wie geht Geschichte? Schnell? Langsam? Geht sie ständig weiter oder auch einmal rückwärts? Rennt oder stolpert sie? Bleibt sie manchmal stehen? Gibt es sie vielleicht gar nicht? Ist sie ein Phantasma, ein Chamäleon? Warum ist sie nicht fassbar, warum verändert sie sich ständig? Oder wird sie angetrieben? Von wem, von was? Was ist der Motor der Geschichte?9 Oder ist sie ein Perpetuum mobile? Ein Zufallsgenerator? Wie kommt man zu solchen absurden Vergleichen? Wie kommt es, daß Geschichte anscheinend immer weitergeht und nie stehenbleibt, obwohl sich Menschen das manchmal wünschen? Stoppt der Tod die Geschichte? Offensichtlich nur für den Toten. Glaubt der an ein Leben nach dem Tod, geht sie auch für ihn wahrscheinlich irgendwie weiter, keiner weiß wie und wo. Warum bleibt nichts wie es ist, selbst wenn es als perfekt gilt, man sagt oft: „golden“. Gold ist „ewig“. „Aurea prima sata est aetas“10: Ovids Gedicht lernt wohl noch heute jeder Gymnasiast. Solche „goldenen Zeitalter“ könnten unbegrenzt fortgehen, sie tun es nicht. Warum? Seit der Antike bis in die Neueste Zeit hinein wurde immer wieder über die „mutatio rerum“11, den „Prozeß der Zivilisation“12 nachgedacht. Heute konstruie7

Schmale, Wolfgang: Trans- und Interdisziplinarität, in: Historische Mitteilungen der Rankegesellschaft (HMRG) Bd. 21, 2008, 3–11. 8 Umso erstaunlicher, daß es eine moderne Edition nicht gibt, man bleibt angewiesen auf: Ranke, Leopold von, Über die Epochen der neueren Geschichte, Vorträge, dem Könige Maximilian von Bayern gehalten, Darmstadt 1989 (unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe von 1954). 9 Assman, Aleida/ Assmann Jan (Hg.), Verwandlungen, Paderborn 2006. 10 Ovid, Metamorphosen I, 89–150. 11 Allgemein bekannt geworden durch „O alte Burschenherrlichkeit“.

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ren wir ihn selbst und sind doch nicht schlauer geworden, allen Diskursanalysen zum Trotz. Als Geschichte nicht mehr als Heilsgeschichte13 und damit als teleologisch und linear begriffen wurde, führte die Beobachtung der ständigen Veränderungen in der Geschichte erneut, wie schon in der Antike, zu „Kreislauf“Vorstellungen. Gemeinhin wird Giambattista Vico14 als deren „moderner“ Begründer angesehen: der Einfluß seiner „Scienza Nuova“ reichte über Montesquieu und Rousseau bis in die heutige Zeit.15 Als dieser Kreis im Zeitalter der Aufklärung wieder in Frage gestellt und nunmehr ein permanenter „Fortschritt“ à la Leibniz postuliert wurde, führte das sich sehr bald dermaßen ad absurdum, (Voltaire hat das im „Candide“ meisterhaft demonstriert und karikiert) daß nun „Rückschritt“ und „Degeneration“16 als Entwicklungsprinzipien ins Spiel kamen. Alle Geschichtsphilosophien, die sich damit beschäftigten, endeten jedoch im Ungenügen und liefen oft auf eine „tragische“ Scheinlösung hinaus. Auch das Christentum war nur eine Variante des aussichtslosen Versuchs, mit dem Prinzip der Veränderung durch die Postulierung eines „ewigen“ Endzustands in Himmel oder Hölle fertigzuwerden, wobei sich die Theologen und Philosophen davor hüteten, das „ewig“ auch nur definieren zu wollen; die Idee von Ewigkeit gleich Gegenwart wirkte ebenso elegant wie hilflos. Daß solche intellektuelle Hilflosigkeit auf’s Ganze gesehen alle Geschichtskonstrukte ebenso misslingen ließ wie alle anderen Gedankenspiele, liegt auf der Hand. Veränderung war immer. Oder bleibt manches doch so wie immer? Hat Hegel mit der Idee des „Statarischen“ in seiner „Einleitung zur Philosophie der Geschichte“ Recht? Warum erscheint uns etwas „modern“, nach einer bestimmten Zeit als „unmodern“? Warum entwickeln sich Dinge und Zustände? Das biologische Prinzip des „Alterns“ ist nicht auf Biologisches beschränkt. Auch Material und Ideen „altern“17. Bestimmte Dinge funktionieren nach einer gewissen Zeit nicht mehr, andere „altern“ unabhängig von ihrer nach wie vor gegebenen Funktionstüchtigkeit. Eine Turmuhr, ein „alter“ Dieselmotor aus dem 19. Jahrhundert können durchaus ihre Dienste tun – im Big Ben zu London seit 1848, der Diesel hundert Jahre lang in der Technischen Marineschule Kiel beispielsweise.18 Eine Dampflokomotive auch; die „Mollibahn“19 von Bad Doberan, oder noch bis heute fahrende Exemplare eines 12 Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, (1939). 13 Löwith, Karl, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, (1983), Stuttgart 2004. 14 Burke, Peter, Vico, Berlin 2001. Immer noch lesenswert: Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus, München 1959, 53–69. 15 Schulze, Winfried, Wahrnehmungsmodi von Veränderung in der Frühen Neuzeit, in: DFGColloquium: Die Entstehung des Neuen. Modelle des Wandels in den Kulturwissenschaften, Konstanz 2004. 16 Der aus der Medizin stammende Begriff für „Entartung“ wurde zeitgleich auf die „Kultur“ im Allgemeinen übertragen – so durch Nietzsche. 17 Für das späte 20. Jahrhundert stellte sich die „Betonalterung“ – etwa von Autobahnbrücken – als gravierendes Problem heraus, dem man wissenschaftlich zu Leibe zu gehen sucht. 18 Der MAN-Dieseleinblasemotor wurde 1913 geliefert und versieht – „Opa“ genannt – in der Marinetechnikschule bis heute seinen Dienst. 19 Die Doberan-Heiligendammer-Eisenbahn nahm 1886 ihren Betrieb auf, 2004 feierte man den „hundertjährigen Zug“.

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„Feurigen Elias“20 sind solche Beispiele, Oldtimer-Ralleys ebenfalls, und wie viele Museumsschiffe21 machen nicht Jahr für Jahr Dampf auf und stampfen frischgeputzt und gepönt durchs Meer! Gleich drei Hansekoggen schippern 2010 fröhlich durch die See: Repliken mit dem Etikett „1380“. Sind sie „alt“ oder „neu“? Als das neue Jahrhundert (so von Wilhelm II. befohlen) 1900 anbrach, reimte eine große Publikumszeitschrift: Nach langem und schwerem Daseinskampf Schiebt ab das alte Jahrhundert mit Dampf. Wir brauchen ein neues Fluidum Heil dir, elektrisches Säkulum.22

Den Inbegriff des Fortschritts symbolisierte eine elektrische Straßenbahn – mit Trittbrettern selbstverständlich. Heute gibt es „Trittbrettfahrer“ noch immer, (auf den Cable Cars in San Francisco, wo sonst?) die „Elektrische“ selbst aber steht im Museum, Kommunisten denken an Lenin. Besonders eindringlich kann man es an Autos sehen: Die von 1900 waren modern für die Zeitgenossen, sogar futuristisch, denn schon diesen war klar, daß das Auto „Zukunft“ haben wird.23 Für uns sind die „Oldtimer“ Antiquitäten und besonders wertvoll, wenn sie noch funktionieren. Wie ist der Prozeß beschaffen, der aus ersteren letztere macht? Wie lange werden „Gebrauchtwagen“ billiger, ab wann die „Oldtimer“ teurer? Wann und warum ist etwas „jung“ oder „alt“? Selbst bei Menschen stellt sich diese Frage und findet die unterschiedlichsten Antworten: Ein „junger“ Mann kann „alt“ aussehen oder umgekehrt; das „gefühlte“ Alter habe mit dem biologischen nichts zu tun – ab wann eigentlich ist ein Mensch alt“, wie lange „jung“? War Balzacs „femme de trente ans“ wirklich alt? Ab wann meine Mutter, Liz Taylor oder Elisabeth II.? Ist Älterwerden allein schon Veränderung? Sollte dies der Fall sein, so wäre jede Denkfigur, die davon ausgeht, daß sich etwas nicht verändern könnte, absurd. Jeder Tag, ja jede Stunde verändern immer alles Lebendige – Menschen eingeschlossen. Deswegen kann etwas als „Veränderung“ nur wahrgenommen werden, wenn es sich von den natürlichen, manchmal als „schleichend“ empfundenen Alterungsprozessen in welcher Weise auch immer unterscheidet, und vorab ist auch schon klar, daß jede Beobachtung von Veränderungen in einem Referenzsystem erfolgt, das sich via Beobachter selbst ständig verändert, indem es älter wird. Schon der ganz junge Immanuel Kant ist mit diesem Problem umgegangen: „Die Frage ob die Erde veralte“. 24 Sie hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Setzt man solche Beobachtungen mit der gängigen Evolutionstheorie ins Benehmen, wird sofort ein Paradox deutlich: Auf der einen Seite „altern“ Menschen und Sachen, manchmal rasch, manchmal langsam, aber unvermeidlich; auf der anderen unterliegen sie einem biologischen und physikalischen Gesetz, in dem es 20 Von diesen fährt noch die Strohgäubahn. 21 Allein in Deutschland gibt es in 22 Städten und Orten Museumsschiffe. 22 Michael Salewski, „Neujahr 1900“. Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht, in: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), 335–381. 23 Gutberlet, Bernd Ingmar, Tempo! Wie uns das Auto verändert hat, Berlin 2007. 24 Kant, Werke, AA I, 195.

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via Anpassung zu einer ständigen „Modernisierung“ der Species kommt, so daß Menschen, Tiere, Pflanzen aber auch technische Produkte wie „das Auto“ oder „das Flugzeug“ gattungsspezifisch gerade nicht „altern“, sondern immer „up to date“ sind. Was nicht mehr im „struggle of life“ bestehen kann, verschwindet nach und nach oder fristet sein Dasein in bestimmten Nischen. Daß daraus die abenteuerlichsten und falschesten gesellschaftlichen und politischen Schlüsse gezogen wurden, steht auf einem anderen Blatt und interessiert in diesem Zusammenhang nicht. Wendet man sich von solchen lange Zeitalter umfassenden und deswegen historisch kaum faßbaren Veränderungen ab und sich historischen Epochen zu, reicht es nicht aus, Menschen oder einzelne Artefakte unter den Kategorien „alt“ oder „jung“ zu sehen, denn in Wirklichkeit befinden sie sich nicht in einem gleichsam luftleeren „Raum“, sondern inmitten der Geschichte, die aus Zeit, Raum und Menschen besteht. Zeit vergeht, Raum besteht nur in einer theoretischen Denkfigur, alle Menschen sind vorübergehend. In Wirklichkeit verändert sich der Raum in der Zeit, 25 oft werden die Veränderungen der Zeit geradezu durch die des Raumes bestimmt.26 Von daher macht es einen Unterschied, ob ein bestimmtes Artefakt sich in dem einem oder dem anderen Raum befindet. Das gilt auch für Menschen; der ewig gewollt „jung“ bleibende Lehrer einer Grundschule wird zur lächerlichen Figur, der junge Eremit zum bewunderten alten Weltweisen; manch junger Politiker gibt sich alt(klug) wie einst ein Kinderkönig, irgendwann sagt jemand „junger Mann“ zu einem alten. Was die Dinge angeht: Vielleicht überlebt eine Hitlerbüste als Menetekel27; wahrscheinlicher ist es, daß sie so verschwindet wie die Hakenkreuze aus den Emblemen staatlicher Behörden, die historische „Umwelt“ ist in Deutschland für Hitlerbüsten seit 1945 Gift. Das heißt: Das „Schicksal“ des Artefakts wird durch Raum, Zeit und Geist (der alle Handlungen verantwortenden Menschen) bestimmt: es wird buchstäblich „historisch“; es verändert sich, selbst wenn es wesentlich (abgesehen von den „Alterungsspuren“) unverändert bleibt. Wer 1933 ein Hitlerbild an die Wand hing, war ein guter Nationalsozialist (oder Opportunist) und das Bild das Symbol dafür, es war sein ganzer Stolz oder ein Palliativ gegen unangenehme Fragen; wer dies nach dem Mai 1945 tat, musste mit dem Eingreifen der Besatzungsmacht oder des Staatsanwalts rechnen, und das Bild kam (bestenfalls) in die Asservatenkammer. Heute ist es durchaus ein Risiko, Hitler „vorteilhaft“ abzubilden. Das erheischt zumindest eine „Erklärung“, und wo sie fehlt, wächst der Verdacht des Rechtsradikalismus.28 Wie sind die Prozesse beschaffen, die das bewirken? Wie kann man feststellen, ob diese Relationalität „langsamer“ 25 Kiefer, Claus, Der Quantenkosmos, Frankfurt/M. 2008. S. die Rezension in F.A.Z. 28.02.2009, 37. 26 Es ist ein beliebtes Spiel, Ansichtspostkarten von beispielsweise 1925 mit solchen von heute nach dem Motto: früher-heute zu vergleichen. 27 Als bei „Madame Tussauds“ eine Hitler-Wachsfigur aufgestellt wurde, verlor diese binnen weniger Tage ihren Kopf: abgeschlagen von einem empörten Besucher. 28 Das ist einer der Hauptvorwürfe gegen illustrierte Produkte à la „Landser“, aber auch Veröffentlichungen beispielsweise aus einem Verlag am Starnberger See.

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oder „schneller“ wird – wer bestimmt dies? Was heißt das für den Blick auf Artefakte der Vergangenheit? Sicher ist, daß die Vorstellung, sie blieben, was immer sie gewesen, selbst dann naiv und falsch ist, wenn es sich um „unvergängliche Meisterwerke“, um kulturelles „Welterbe“ handelt – wie den Kölner Dom. Er stammt nicht aus dem Mittelalter: er ist immer hier und jetzt. Seine gedachte Umgebung gefährdet ihn sogar dann, wenn an dem Bauwerk selbst nicht im Mindesten, aber am Gesamtensemble gerührt wird. Diese Zusammenhänge sind für die Geschichte des Landes, genauer: der Landschaft unvermeidlich.29 Sie verändert sich ständig, manchmal atemberaubend schnell, wie es die jahrhundertlange Landschaftsgeschichte von Braunkohlenregionen, des Ruhrgebiets oder die der Niederlande ausweist. Allein der Bewuchs von Land ist geeignet, dieses zu verändern, und wo Land und Meer zusammenstoßen, verändert sich das Land ständig – bis hin zu als dramatisch empfundenen „Einbrüchen“ der See in das Land oder der „Landgewinnung“ aus dem Meer, wie man sie in der Zuidersee betrachten (und bewundern?) kann. Auch phantastische Ideen, wie die „Trockenlegung“ des Mittelmeers von Hermann Sörgel30 gehören in dieses Umfeld. Hier mischen sich die unterschiedlichsten Veränderungsprozesse, die von Fall zu Fall zu sezieren und in ihren Interdependenzen zu verstehen sind.31 Die Faszination sogenannter „unberührter“ Landschaften resultiert aus der Illusion, man habe es bei ihnen mit gleichsam eingefrorenen Zuständen aus ferner Vergangenheit zu tun.32 Ähnliches gilt für „renaturierte“ „Urwälder“, wie dem im Bayerischen Nationalpark33. Daß auch das nicht stimmt, bedarf keiner Erläuterung, die Stichworte Botanik und Erosion mögen genügen, und welcher Urwald würde sich selbst erklären? Ursprüngliche „Urwaldbewohner“ (nicht „grüne“ Ideologen, die in Urwäldern hausen) gibt es nur in der Vorstellungswelt derjenigen, die nicht in einem Urwald leben. Auch das Gefühl des „Altertümlichen“ ist relativ, was man sich klarmachen kann, wenn man Pferdefuhrwerke in „rückständigen“ Gebieten – etwa Rumäniens – mit solchen auf dem Kurfürstendamm vergleicht: Erstere wirken wegen ihrer Umgebung auf die Einheimischen weniger „alt“ als letzteres, wobei das Pferdefuhrwerk auf dem Kurfürstendamm weniger als solches gesehen und begriffen wird, als vielmehr als Symbol für etwas ganz anderes. Manchmal gibt es merkwürdige Überlappungen, wenn beispielsweise ein pferdebespannter Brauereiwagen tatsächlich Bierfässer auf die „Wiesn“ bringt. Der Pferdewagen in Ru29 Zum Begriff „Landschaft“ gibt es eine umfangreiche Literatur, z.B. Schindler, Richard, Landschaft verstehen. Industriearchitektur und Landschaftsästhetik, Freiburg 2005. 30 Gall, Alexander, Das Atlantropa Projekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Hermann Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers, Frankfurt/M. 1998. 31 Seggern Hille von/Werner, Julia/Grosse-Bächke, Julia (Hg.) Creating Knoledge. Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften, Berlin 2008. 32 Das Gleiche gilt für Tropfsteinhöhlen, obwohl jeder Besucher weiß, daß gerade diese sich ständig verändern – aber recht langsam. 33 Bei der Eröffnung des Bayerischen Naturparks drückte es der zuständige Minister so aus: „Ein Urwald für unsere Kinder und Kindeskinder“, [letzter Abruf am: 05.02.2009].

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mänien ist noch für den Transport von Menschen und Waren bestimmt, er hat nichts Romantisches, Traditionelles oder Nostalgisches an sich; die auf dem Berliner Kurfürstendamm oder der Münchener Theresienwiese stehen genau dafür. Ein Hauch von Nützlichkeit ist aber in letzterem Fall doch noch zu spüren, müsste das Bier doch andernfalls mit einem LKW transportiert werden – was man sich sparen kann – und damit Geld. Auch hier stellt sich wieder die Frage: Wieso kommt es zu diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen? Ab wann und wo wird das Pferdefuhrwerk als antiquiert begriffen? Wieso kommt es dazu? Wie verläuft der Veränderungsprozeß? Für eine Geschichte des Meeres gilt dies alles nicht. Sie ist deswegen etwas völlig anderes als die des Landes. „Meeresarchitektur“ gibt es nicht, und behauptet man dies doch, geht es gerade nicht um das Meer, sondern darum, wo es aufhört: seine Küsten und Strände. Künstliche Inseln wären hinzuzuzählen. Insoweit das Meer über Häfen und Deiche mit dem Land verbunden ist, gilt zwar das Prinzip ständiger Veränderung ebenfalls (man nehme als Beispiel die Hamburger Speicherstadt, die geplante Elbphilharmonie, ständige Deicherhöhungen), aber betrachtet man Schiffe im Wasser, das nur der Horizont begrenzt, greift die Relation nicht mehr: Die „Schlachtfelder“ von Trafalgar oder dem Skagerrak (kein Mensch spricht von „Schlachtensee“, meint man nicht den Ort) haben sich nicht verändert, sie werden sich vermutlich in historischer Zeit nie verändern. 34 Man nehme hingegen Waterloo, Königgrätz oder Verdun: Meist kann man nur noch ahnen, wie diese Schlachtfelder „damals“ ausgesehen haben;35 oft werden sie zwecks Tourismus künstlich hergerichtet oder auf alt getrimmt. Als eine Studentin während einer Exkursion nach Verdun36 an der fossé des baionettes eine Kornblume niederlegte, wirkte das auf ihre Kommilitonen wie ein Zeitsprung in das Grauen des Jahrs 1916. Ab wann wurde das entsetzliche Grab auf dem Schlachtfeld zum immer noch anrührenden Mahnmal? Wenn der Chapelain von Verdun 1976 immer noch fast täglich Gefallene aus dem Jahr 1916 beerdigte – war das ein reiner Akt der Pietät oder nicht vielmehr die Wiederbelebung der Trauer von einst? Wie alt also ist das Schlachtfeld von Verdun? Was hat sich verändert?37 Die Passagiere der „Titanic“ oder der „Queen Mary II“ aber sahen und sehen den Atlantik exakt so, wie ihn Kolumbus von der „Santa Maria“ aus gesehen hat.38 Oder hat sich die Hohe See in historischer Zeit verändert, weil die Menschen sie anders als früher sehen? Dieser Verdacht keimt manchmal, sieht man sich alte Meeresansichten mit ganz unwahrscheinlichen Wellenformen 39 an – hier 34 So die Acryl-Arbeiten von Martin Heidenreich. 35 Es gibt einen umfangreichen Schlachtfeldtourismus, der eine eigene historische Gattung: die Schlachtfeldbeschreibung, hervorgebracht hat, z.B. Rohde, Horst, Militärgeschichtlicher Reiseführer. Verdun, 4. Aufl., Hamburg 2008. 36 Mit dem Historischen Seminar der Universität Bonn in den 1970er Jahren. 37 Eindringlich: Werth, German, Verdun, Bergisch-Gladbach 1982. 38 Allerdings wäre zu berücksichtigen, daß Kolumbus von einem niedrigeren Standpunkt aus auf das Meer sah als der Kapitän der „Queen Mary II“. 39 Es könnte sich um sog. „Monsterwellen“ handeln – also etwas, das es tatsächlich gibt; einer der seltenen Fälle, in denen aus einem Mythos Realität (und nicht umgekehrt) wird.

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ließe sich die Frage stellen: Wer oder was hat diese uns fremde Wahrnehmung bewirkt?40 Oder haben sich Wellenamplituden auch verändert? Gibt es einen Zusammenhang mit dem vielbeschworenen „Klimawandel“; welche Gefühle werden Menschen beschleichen, die in hundert Jahren zum Nordpol wollen, nur Wasser finden und keine „Nautilus“ unter dem Eis?41 Was würde Robert E. Peary denken? Geht man jedoch von der ruhigen, rundum bis zum Horizont reichenden See aus, die im Hinblick auf Schiffe nur Medium ist: Was würde das bedeuten? Nimmt man die bekannte Definition, nach der sich Geschichte „in Raum und Zeit“ auslegt ernst, so gibt es keine „Seegeschichte“, denn was wäre der Raum? Eben deswegen spricht man nicht von ihm – obgleich es die Idee des „Seeraums“ gibt, der aber durch seine Grenzen an Land bestimmt wird, und „Seeherrschaft“ meint nie das Wasser, sondern die auf ihm schwimmenden Kriegsschiffe. 42 Portolan- und Mercatorkarten versuchen das Meer wie das Land in geometrische Figuren und Quadrate aufzuteilen – rein fiktiv, denn diese Dreiecke oder Quadrate43 kann niemand sehen, sie beziehen sich auf Prinzipien bei der Sicht von Menschen oder der Vermessung der Erde.44 Im Meer verändern sich nur die Artefakte, oft durch das Meer (Algenbewuchs z.B.), was sie theoretisch alle gleich schnell „altern“ lässt.45 Es gibt die an Land bestehende Relationalität nicht. Der „Fliegende Holländer“ ist ein uraltes unveränderbares Schiff46 und fliegt über ganz gegenwärtige Meere – ad infinitum, oder bis Richard Wagner kommt. Diese an sich klaren Unterscheidungen beginnen seit Kurzem sich zu verwischen; Meer ist nicht mehr gleich Meer, es gibt Konglomerate. Wurden beispielsweise Schelfmeere jahrtausendelang als Meere empfunden und sonst nichts, gelten sie heute als „halbes“ Land, weil es dort Bodenschätze wie Öl gibt, und wer sie ausbeutet, versucht die Gesetze des Landes auf diese Seegebiete zu übertragen.47 Das geht bis zu der als lächerlich empfundenen Geste Russlands, durch die Aufstellung einer unvergänglichen Flagge aus Titan auf dem Meeresboden unter dem Nordpol Besitzansprüche geltend zu machen. Worauf? Nicht auf das Wasser, sondern auf den Boden unter dem Wasser. Man wird sich einigen müssen, was 40 Marinemaler wie Bohrdt legten Wert darauf auch das Meer ortsgebunden zu malen – beispielsweise mit einer „Atlantikdünung“, die sich von den Wellen der Nordsee oder der Ostsee durchaus unterschied. 41 Der Spiegel 27.06.2008. 42 Die Drei- bzw. Zwölfseemeilenzonen verlängern das Land in die See und sollen auch hier Herrschaftsanspruch symbolisieren. Neuerdings versucht die Reklame die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Seapower“ zu visualisieren, vgl. MF 6/2009. 43 In der Marinegeschichte gab es sogenannte „Quadratkarten“. 44 Manchmal werden Breiten- und Längengrade, vor allem wenn sie „rund“ sind, künstlich sichtbar gemacht: in Mainz der 50. Breitengrad, in Greenwich der 0. Längengrad. Auf See wird der Äquator durch die „Äquatortaufe“ zu einem Ereignis, aber niemand hat ihn, den Äquator, je gesehen. 45 Allerdings wäre zu berücksichtigen, daß auch das Meerwasser chemisch gesehen unterschiedlich ist, so daß ein Schiff im Toten Meer schneller „altert“ als beispielsweise in der Ostsee. 46 „Mein Schiff ist fest, es leidet keine Not“ versichert der Fliegende Holländer Daland. 47 Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg lebt davon.

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Land, was Meer ist: es gibt keine sauberen Unterscheidungen mehr. Die Wahrnehmung der See hat sich fundamental verändert, die des Landes auch.48 Jahrtausendelang haben Menschen Land nur aus der irdischen Bodenperspektive sehen können. Gewiß: Von Bergen oder Türmen aus ließ sich ansatzweise so etwas wie eine „Vogelperspektive“ gewinnen. Die Bewohner des Berglands konnten manchmal weiter sehen als die des Flachlandes. Ganz im Gegensatz zum Ondit besaßen die Flachländer daher einen begrenzteren Horizont als die Bergbewohner.49 Wer hingegen vom Mont Ventoux (wie Petrarca) oder dem Mont Blanc (wie Balmat und Paccard) ins Land blicken konnte, ahnte, was ein Vogel sah, aber das war immer nur ein Analogon, eine klägliche Annäherung, Ikaros war für diese Sehnsucht und Hybris mythisches Symbol. Aber auch alle nachfolgenden Jahrhunderte wurden von dem unstillbaren Wunsch bestimmt, fliegen zu können. Insofern ist die Erfindung des Flugzeugs, ganz im Gegensatz zu der des Kraftwagens, nur der krönende Abschluß eines langen technischen und geistesgeschichtlichen Prozesses, der vom Vogel Rock, Engeln mit Flügeln, dem fliegenden Teppich bis zu Leonardo da Vinci, der Montgolfière und dem Zeppelin reicht. Bevor der Mensch mit Maschinen „richtig“ fliegen konnte, gab es Surrogate: Ob die „Möwe“ über den Eriesee oder der „Holländer“ über die Meere – es gab unzählige Assoziationen der Menschen mit der Idee des Fliegens. Massiv wurde es mit den Eisenbahnen, den „Vernichtern von Raum und Zeit“, wie es Heinrich Heine umschrieb. Züge, vor allem Schnell- oder „Blitzzüge“,50 vermittelten den Zeitgenossen ein eindringlicheres fliegerisches Ersatzgefühl als bisher; tatsächlich wurden sie oft als „fliegend“ umschrieben.51 Wie die Eisenbahnreise die Wahrnehmung von Landschaften veränderte, hat Wolfgang Schivelbusch52 einfühlsam beschrieben. Man kann die Ansicht des „vorbeifliegenden“ Landes durch die Fenster von Eisenbahnen mentalitätsmäßig durchaus als „Vorstufe“ zum Fliegen ansehen. Seitdem der Mensch fliegen kann, (genauer: mitfliegen, fliegen tut eine Maschine)53 hat sich seine Wahrnehmung des Landes (und der See) verändert. Er sieht aus der Höhe Dinge, die ihm früher unbekannt waren,54 er denkt Räume anders als zuvor. Das Land wird durch den Blick aus der Vogelperspektive verändert, es wird buchstäblich überschaubar, es enthüllt seine geologischen Strukturen, 48 In der Marine wird zwischen „Blue water“ und „Brown water“ unterschieden. Das „Blue Water“ gilt als das eigentliche erstrebenswerte Element, mit „Brown Water“ werden flache Randmeere wie die Ostsee bezeichnet – das Wasser als halbes „braunes“ Land, als „überschwemmte Wiese“. 49 Das Land Schleswig-Holstein wirbt mit dem Spruch: „Land der Horizonte“ und meint das natürlich positiv. Es müsste heißen: des begrenzten Horizonts. 50 Detlef von Liliencron, Der Blitzzug. 51 Z.B. der „Fliegende Hamburger“, ein propellergetriebener Zug zwischen Hamburg und Berlin. 52 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreise, Frankfurt/M. 2000. 53 Von daher die immer neuen Versuche, es doch den Vögeln gleich zu machen – Gleitflieger, Ultraleichtflugzeuge und dergleichen stehen dafür. 54 Mit „Google Earth“ lässt sich das heute von jedermann nachvollziehen. Die Luft-Archäologie boomt.

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vorgeschichtliche Siedlungsspuren, es offenbart sich und lässt den Menschen mit einem neuen Raumgefühl zurück – jeder nicht unsensible Passagier eines Verkehrsflugzeuges kann das bei Start und Landung selbst an sich beobachten. Das heißt: Nicht nur das Land selbst verändert sich ständig, die Sehweise auf das Land ebenfalls. Im Zeitalter der beginnenden Raumfahrt wurde eine weitere Stufe erreicht – wer entsänne sich nicht der ersten Bilder des Planeten Erde aus dem Weltraum! Das Gefühl vom „Raumschiff Erde“ konnte erst wachwerden, als es Menschen tatsächlich gelang, einen Blick auf die ganze Erde zu gewinnen – das hatte enorme geistesgeschichtliche Folgen, an denen wir uns bis heute abarbeiten, „Google Earth“ ist ein Versuch dazu. Die neuen Sehweisen ließen neue Ideen entstehen oder verschoben den Stellenwert von alten, und was früher als „groß und wichtig“ erschienen, war „plötzlich nichtig und klein“.55 Auch in der Geistesgeschichte gibt es „moderne“ und „alte“ Ideen; Gedankengänge, geistige Konstrukte, die „veralten“ – etwa Merkantilismus oder Absolutismus, Faschismus hoffentlich auch. Gibt es definierbare Grenzwerte? Asymptotische Annäherungen? Ab wann waren „Merkantilismus“ oder „Absolutismus“? Wer oder was bestimmte sie? Oft ist die Rede von einem „take off“ (Walt Whitman Rostow), einem technisch-industriellen „Sprung“. Wenn es ihn gibt: warum? Als er begann, kannte den Begriff im fliegerischen Sinn kein Mensch. Was muß als Bedingung vorhanden sein, damit es zu einem solchen „Take-off“ kommt, obwohl es Caesar nicht bedauert haben wird, keine Panzerdivisionen zu besitzen. Irgendwann wünschte sich jemand, es gäbe Panzer und Panzerdivisionen: warum?56 Wie kam er auf diese Idee, die vorher nicht in der Welt gewesen war? Gewöhnlich wird darauf hingewiesen, man müsse bis zu den assyrischen Streitwagen und bis zu der Panzerrrüstung mittelalterlicher Ritter oder aber zu „Panzerechsen“ und Schildkröten zurückgehen, und das Wort „Panzer“ selbst suggeriere eine solche technische „Evolution“. In Wirklichkeit verbindet den Panzerreiter des Mittelalters mit dem „T 34“ des Zweiten Weltkriegs nichts. Wie kommt es zu den Bedingungen des Wandels? Gilt das Prinzip Veränderung für alles – oder nur für Bestimmtes? Wo liegen die Unterscheidungskriterien? Ist der Begriff „ewig“ Umschreibung des Statarischen? Wie funktionieren die Hochrechnungen und Prognosen der Zukunft?57 Ab wann und warum führen sie sich ad absurdum? Bis wieviele Unbekannte können in die „hochrechnende“ Gleichung eingehen, in der es um die Zukunft geht, ohne daß sie unlösbar wird? Gilt das Prinzip der stetigen Verän-

55 Reinhard Mey, Über den Wolken. 56 Fuller, De Gaulle und Guderian gelten gemeinhin als die geistigen Väter von selbständig operierenden Panzerverbänden. 57 Dafür gibt es verschiedene Modelle, wie sie u.a. von demoskopischen Instituten entwickelt und angewendet werden. Larsen, Claus, Zur Asymmetrie von Prognose und Epignose in den Sozialwissenschaften, in: ders., Krasser sozialer Wandel, Opladen 1994. Zum geflügelten Wort ist der Kalauer von Veit Valentin(?) geworden: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“

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derung für alles gleich? Gibt es Menschen und Dinge, die sich schneller, andere, die sich langsamer entwickeln bzw. verändern, andere gar nicht – und warum? 58 Es gibt unwillkürliche und willentliche Veränderungen. Was unterscheidet die einen von den anderen? Wie definiert man die Grenzwerte? Räder kann man zurückdrehen. Auch neu erfinden? Es gibt Dinge, die verändern sich nie, obwohl sie wahrscheinlich einmal von Menschen „erfunden“ worden sind und daher theoretisch dem Prinzip der Fortentwicklung unterliegen wie beispielsweise das Rad, das in der Natur trotz „Rädertierchen“ nicht vorkommt und deswegen nicht „nachgeahmt“ werden konnte. An diesem Beispiel zeigt es sich: Es gibt Grundformen, dazu gehören Kreise, Drei- und Vierecke, Pyramiden, die sehr wohl von Menschen immer wieder „bearbeitet“ und zu technischen Erfindungen genutzt werden können; möglicherweise sind Schnee- und Bergkristalle mit ihren „unnatürlich“ streng symmetrischen Formen aufmerksamen Menschen schon sehr früh aufgefallen.59 Aber diese Formen selbst bleiben immer, was sie eigentlich sind – etwa ein Rad. Wird das Rad über einen bestimmten Grad hinaus verändert, ist es nicht mehr, sondern etwas anderes – eine Rolle, ein Exzenter beispielsweise. An christlichen Kreuzen lässt es sich ebenfalls verdeutlichen: Weichen sie über ein gewisses Maß hinaus von der traditionellen Form ab, werden sie als „Kreuz“ im christlichen Sinn nicht mehr wahrgenommen. Wo liegen die Grenzen der möglichen Veränderungen? Ab wann ist ein Rad eine Rolle? Wer oder was bestimmt das? Die Physik, die Natur, die Temperatur, die Psyche, oder alles zusammen, in jeweils bestimmter Gewichtung und Mischung? Was aber charakterisiert sie – und warum? Ab wann ist ein Glas „halbvoll“, ab wann „halbleer“? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen diesen Dingen und den Menschen, die sie gestalten? Obwohl die sich verändern, bleiben manche Dinge „im Kern“ was sie immer waren. Aber auch hier gibt es Grenzwerte: Ab wann schlägt Veränderung in Neues um oder zerstört, was es war? Und warum? Hier ist auf das „golden“ zurückzukommen: Ein Zeitalter wird ein „goldenes“ genannt, weil dieses Zeitstück als so wertvoll wie Gold angesehen wird; wie Gold, das sich nicht und niemals verändert. Jede alte Goldmünze, so sie nicht „abgegriffen“ ist, wirkt „wie neu“, wenn sie aus antikem Boden ausgegraben wird; Schliemanns Frau Sophie trug den „Goldschmuck des Priamus“; wer das nicht wusste, konnte annehmen, er sei jüngst hergestellt und frisch erworben worden. Häufig kann man in Museumsläden solche „uralten“ und doch ganz „neuen“ Schmuckstücke kaufen; jede „Replik“ versucht die Quadratur des Kreises, indem sie „ganz Altes“ mit „ganz Neuem“ zu vereinen sucht (besonders scheußlich, wenn Marmor durch Plastik ersetzt wird). Wenn eine „echte“ goldene Replik aus dem Schatz von Tyrins in der Vitrine eines Schliemann-Fans steht: um welche Zeit handelt es sich? Die schiere Unveränderlichkeit von bestimmten Materialien hat die Menschen immer schon fasziniert, man kann sogar eine Stufenfolge erkennen: Nach 58 „Du bist gar nicht älter geworden“ oder: „Du bist aber alt geworden“ umschreiben dieses Phänomen. 59 Wahrscheinlich gelten Kristalle als die ersten Hervorbringungen der „Natur“ die mit ihren Formen Technisch-Wissenschaftlich wurden.

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dem Gold kommt das Silber.60 Riesige Zeitalter wurden zuerst nach Stein, dann nach Metallen benannt; der Bronze folgte das Eisen – dieses rostet und vergeht bekanntlich, ist qualitativ also etwas anderes als (Urge)Stein und Bronze. Was heißt das für das Selbstverständnis der „Eisenzeit“? „Eisen“ soll das Leitmetall einer Zeit sein, die man die „Moderne“ nennen könnte, wäre sie nicht so alt. Aber mit dem Eisen ist die Idee von Gold und Silber als kulturellen Epochen, und von Bronze als Fortschrittsidee durchbrochen, genauer: mit dem Eisen verbindet sich zunächst keine Idee, sondern etwas Ökonomisches. Dieses wird dann symbolisch aufgeladen: Eisen ist nicht nur das Leitmetall der Industrialisierung; die Zeiten selbst sind „eisern“ und werden manchmal von einem „eisernen Kanzler“ bestimmt. „Gold gab ich für Eisen“: Die Parole aus dem Zeitalter der Befreiungskriege zündete und wurde immer wieder nachgeahmt: Die „eisernen“ Repliken waren materiell gesehen zwar weniger wert als Gold, ihr symbolischer und moralischer Wert überstieg den des Goldes jedoch bei Weitem, und jede Dame der höheren Gesellschaft, die zu Zeiten der napoleonischen Herrschaft in Preußen „eisernen“ Schmuck“ trug, durfte sich der Wertschätzung dieser Gesellschaft viel sicherer sein, als dies auch das glänzendste goldene Halsband der Marie Antoinette vermocht hätte.61 Das heißt: Selbst das „unvergängliche“, das „ewige“ Gold veränderte sich zur Apotheose des Eisens. Eisen und Krieg sind symbiotisch miteinander verbunden: Hinweis darauf, daß alle Geschichte Kriegsgeschichte ist. Das System der Epochenbezeichnungen befindet sich auf einer anderen Ebene, nichts passt mehr zusammen. Sollte man unser „Atomzeitalter“ nicht besser „Edelstahlzeit“ nennen, um an Gold und Silber anzuknüpfen? Gewiß, all das sind müßige Gedankenspiele, dennoch ist die Frage erlaubt: Was kommt danach? Die „Atomzeit“ kann es eigentlich nicht sein, der Begriff ist anderweitig besetzt. Diese wurde 1968 mit dem Referenzdatum vom 1. Januar 1900 eingeführt, das war eine ebenso willkürliche wie symbolträchtige Entscheidung.62 Mit Metallen als Symbolen für Zeitalter ist es anscheinend aus. Silber und Kupfer können „altern“, sie setzen Patina an, doch im Kern bleiben sie ewig und verändern sich und oxydieren nicht. Grünspan steht für Dauer, nicht für Vergänglichkeit. Dennoch käme kein Mensch auf die Idee, eine Goldmünze nach dem Alter des Goldes63 zu bestimmen, aus dem sie gemacht ist – das Gold der Münze mag Millionen Jahre alt sein. Erst wenn der Mensch Material formt, gewinnt es Zeit und Alter, dabei gibt es Zwischenstufen, wenn beispielsweise Steinsammler durchaus auf das „Alter“ ihrer Funde verweisen, manchmal sind das Millionen von Jahren. Indem sie ihre Steine gesammelt haben, verliehen sie ihnen „Alter“. 60 Typisch die Manie von Literaturwissenschaftlern, einer „goldenen“ Periode der Dichtung eine „silberne“ folgen zu lassen – das stammt schon aus der Antike. 61 Diese eisernen Repliken kann man beispielsweise im Kunstgußmuseum der Fa. Buderus bewundern. 62 Salewski, Neujahr 1900 Die Säkularwende in zeitgenössischer Sicht, in: Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), 335–381. 63 Seit wann Gold existiert, scheint unbekannt; man sprich in der Chemie von einem „Übergangsmetall“, verbindet damit aber keine Zeit, sondern periodische Klassifikation.

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Diese Steine sind nahezu unveränderlich, ihr „Alter“ ist eine Vorstellung desjenigen, der sie sammelt oder ausstellt.64 Denkt man dies konsequent zu Ende, wird alles (Menschen inklusive, auch sie bestehen aus Atomen) gleich alt: so alt wie die Welt selbst – und was war davor? Bei jedem Faustkeil ist das anders: Nicht sein Material, beispielsweise Flint, bestimmt sein Alter, sondern die von Menschen abgeschlagenen Kanten, und die künstlichen Kerben des Faustkeils konstituieren es. Genauso ist es bei „Versteinerungen“ von Pflanzen oder Tieren: In diesem Fall ist nicht das „Alter“ des Steins maßgeblich, sondern das, was daraus geworden ist. Tatsächlich ließe sich auch hier fragen, ob die Materialien, aus dem die „Versteinerungen“ bestehen, nicht auch auf ihr „eigentliches“ Alter hin bestimmt werden könnten – beispielsweise Kalk. Oft sind die Funde in Sedimentgesteine transformiert – aber diese Sedimente selbst haben eine „Historie“: Sie wurden durch natürliche Vorgänge, wie die Luft- und Wassererosion oder den CO2-Eintrag erst zu dem, was sie sind, so daß man durchaus fragen könnte, wie „alt“ denn ein Sedimentgestein ist, wird auf seine Entstehung verwiesen. Diese Materialien sind „älter“ als das, was sie in der Versteinerung darstellen. Aber das interessiert keinen Menschen. Die Faszination der „Fliege im Bernstein“ rührt vom Wissen her, daß vor Millionen Jahren ein flüchtiger Augenblick in Form der Fliege anscheinend unvergänglich erstarrt ist, und da diese Fliege evolutionsbedingt (fast) so aussieht wie Fliegen heute, entsteht die Illusion der versteinerten Zeit im Bernstein. Was die Artefakte betrifft: Solche Gerätschaften bleiben, obwohl sie ein bestimmtes Alter besitzen, bis in die Gegenwart hinein unverändert; man kann mit ihnen in der Gegenwart arbeiten, was bei so manchem urgeschichtlichen Nostalgiespektakel oder in vielen Museumsdörfern gerne vorgeführt wird. Manchmal wird versucht, jahrtausendealten Samen aus seiner Keimruhe zu erwecken: Falls das gelingt: Wie alt ist die daraus entstandene Pflanze? Jüngst wurde ein hunderttausend Jahre altes Bakterium aus Dauerfrost zum Leben erweckt. 65 Wie alt ist es „eigentlich“? Es scheint, als altere schneller, was komplexer bearbeitet worden ist, und technische Hervorbringungen der Spätmoderne altern besonders rasch – man spricht sogar von „Generationen“, etwa von Autos, Flugzeugen oder Computern. Heute erinnern manche Flugzeugtypen an das offensichtliche Ende von Veränderungen auch im technischen Bereich: Äußerlich betrachtet sehen Verkehrsflugzeuge aus den sechziger Jahren fast so aus wie heute.66 In der Nanotechnologie ist absehbar, daß die ständige Verkleinerung – etwa von Computerchips – an eine „natürliche“, weil molekulare Grenze stoßen wird – kleiner geht es dann beim besten Willen nicht mehr. Autos sind für jedes Jahrzehnt typisch. Dennoch ähneln sich Autos einander immer mehr: Gibt es eine asymptotische Annäherung des 64 Im Deutschen Edelsteinmuseum Idar-Oberstein finden sich „rohe“ Edelsteine, die nach dem Zeitpunkt ihres Auffindens datiert sind und „bearbeitete“, wobei das Herstellungsdatum ausschlaggebend ist. Wie alt die Steine wirklich sind, wird nicht gesagt. 65 Meldung in der Eckernförder Zeitung, 17. Juni 2009. 66 Es gibt immer wieder spektakuläre Versuche, völlig andere Formen zu entwickeln; durchgesetzt haben sie sich nicht, beispielsweise das Nurflügelflugzeug, das bis zu 25% Treibstoff sparen soll.

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Realen an das Ideale? Kommen Autoformen dem kleinsten theoretisch möglichen cw-Wert nahe, lassen sie sich in Beziehung auf die Windschlüpfrigkeit nicht mehr verändern. Sehen reale Autos verschiedener Automobilfirmen dennoch immer wieder anders aus, so daß man an den Modellen fast jedes Jahrzehnt ablesen kann, ist das Folge von Mode und Geschmack, nicht aber der Notwendigkeit und des Windwiderstands. Ist Vollkommenes theoretisch denkbar? Durchbricht „Vollkommenes“ Raum und Zeit? Ist es „zeitlos“? Was und warum empfinden wir etwas als „vollkommen“? Das kann mit Ästhetik und Logik zu tun haben. In diesem Fall gilt es als „vollkommen“ nur für jene, deren ästhetische und logische Maßstäbe „Vollkommenheit“ signalisieren, aber das ist es nicht allein. Anscheinend gibt es allgemein gültige Maßstäbe für „Vollkommenes“ – aber sie sind nicht außerhalb der Geschichte, sie können sich verändern. Beispielsweise verändern sich Schönheitsideale manchmal so drastisch, daß heute als häßlich erscheint, was einst als „schön“ galt und umgekehrt, wobei das „schön“ mit dem „vollkommen“ in der Betrachtung menschlicher Physis oft identisch ist. Aus dem durchaus positiv gesehenen „Embonpoint“ der vorvergangenen Jahrhundertwende wurde der als hässlich empfundene „Bierbauch“, aus der „vornehmen Blässe“ das „Käsegesicht“. Das aufklärerische „schön und gut“ – als Worthülse bis heute gebräuchlich – ist keineswegs als unveränderlich zu verstehen. Auch hier gibt es Grenzwerte: Ist Mona Lisa immer schön? Warum wird sie quer durch die Jahrhunderte als vollkommen und schön empfunden? Sind nicht die zahlreichen Karikaturen und Verfälschungen von Leonardo da Vincis Bild stummer Protest gegen die normative Macht des „Schönen“ in diesem Porträt? Wer ist dafür „verantwortlich“? Leonardo da Vinci? Steht das Bild für eine bestimmte Tradition? Was überhaupt sind Traditionen in diesem Zusammenhang? Das Festgefügte, Ewiggültige, das Unveränderbare? In der Architektur wird es besonders sichtbar, was man wörtlich nehmen kann, denkt man an den Begriff „Gotik“67. Schon im 15. Jahrhundert findet sich, vor allem in Italien, eine breite Front von Architekten und Baumeistern, die das „Gotische“ ablehnt, Giorgi Vasari gilt als Namensgeber, wobei der Begriff „Gote“ durchaus dem altgriechischen „Barbaren“ nachempfunden wurde. Seit dem 12. Jahrhundert überzogen ganz Nord- und Westeuropa, schließlich auch den Süden, gotische Bauformen, von denen die Kirchen am spektakulärsten waren; sie ragten buchstäblich in den Himmel, eine höher als die andere, die Apotheose befindet sich bekanntlich in Ulm. Durch nichts wird unser Bild vom „Hohen Mittelalter“ mehr bestimmt, als durch dieses Europa überziehende gotische Spinnennetz. Im Zeitalter des Humanismus wurde es als hässlich, finster empfunden. Nun prägte es das „Mittelalter“ in dessen Anschauung – negativ, und die eifrigsten Humanisten wollten dieses finstere mittlere Zeitalter schnell überwunden sehen, um zu der vermeintlichen Klarheit und Wahrheit der klassischen Antike zurückzukehren, die auf diese Weise ebenfalls ihr Gesicht fundamental wandelte. Die Gotik veränderte nicht nur das Stadt- und Landschaftsbild des „Mittelalters“, son67 Binding, Günther, Was ist Gotik? Eine Analyse der gotischen Kirchen in Frankreich, England und Deutschland 1140–1350, Darmstadt 2000.

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dern das aller kommenden Zeiten gleich mit, so als habe eine finstere Zeit auf die helle Neuzeit ihren Schatten geworfen, aus dem so rasch wie möglich herauszukommen, Bestreben aller Humanisten und Aufklärer wurde. Und das gelang; man braucht auf die kommenden Bau- und Denkstile bis hin zum Klassizismus nicht hinzuweisen. Indem Barock und Rokoko vor allem das 17. und 18. Jahrhundert prägten, verwandelten sie das Bild von Land und Geschichte erneut, und da die gotischen Hervorbringungen fast alle noch existierten – manchmal bemühte man sich darum sie abzutragen, manchmal aber auch schon, sie künstlich neu entstehen zu lassen, aber das blieben Ausnahmen –, entstand eine Melange aus verschiedenen Stilen als Kennzeichen vergangener und gegenwärtiger Epochen. Als man lernte und begriff, wie die „gotischen“ Baumeister einst vorgegangen waren, wurde im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung und Verwissenschaftlichung der Drang wach, mit den modernen Mitteln und Materialien, meist Stahl und Glas, auch den neuen statischen Fähigkeiten, die alten „Goten“ nachzuahmen und zu übertrumpfen: es kam zu den merkwürdigsten Hervorbringungen einer „Neogotik“, die von den Zeitgenossen um 1900 durchaus als Fortschritt und als schön begriffen wurde – man schmückte damit sogar Weltausstellungen,68 und die Amtsentwürfe preußischer Kirchen waren sehr oft „neogotisch“ angehaucht. War das nun Fortschritt oder Rückschritt? Es dauerte nicht lange, und die Neogotik wurde als Irrweg begriffen, als ein hässlicher dazu. Hatte sich das „hässlich“ im 15. und 16. Jahrhundert auf die originalen gotischen Kathedralen und Bauwerke bezogen, so nun auf die „modernen“ neogotischen Hervorbringungen – im Prinzip war es das Gleiche, und heute lässt sich beobachten, daß mehr und mehr „neogotische“ Architektur dem Denkmalschutz unterstellt, also als wertvoll und erhaltenswert begriffen wird. Nimmt man diese Prozesse zusammen, so lässt sich sagen, daß eine Idee – nämlich die der „Gotik“ – nicht nur ihre Zeit, sondern alle kommenden Zeiten verändert hat, und was für die Gotik gilt, ließe sich, in abgeschwächter Form, auch für die Romanik, die Renaissance, den Barock sagen. Was die Gotik freilich so einzigartig macht, ist der Umstand, daß der Begriff selbst über das Architektonische weit hinausgegangen ist, was bis zur „gothic novel“69 des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts führte und damit zu einer erheblichen Veränderung literarischen Denkens und Schaffens.70 Es gibt demnach nicht nur lineare Veränderungen, sondern auch mehrdimensionale. Bauwerke werden zu Ideen, Ideen haften an Bauwerken. Gelegentlich wird versucht, vermeintlich „Altes“ nicht nur in die Gegenwart zu transportieren, sondern als das „Alte“ wiederauferstehen zu lassen – am spektakulärsten dürfte dies in der Musik sein, wenn bestimmte Kompositionen einer bestimmten alten Zeit auf „historischen“ Instrumenten zu Gehör gebracht werden. Man verweist darauf, daß eben so ein Musikstück „zeitgenössisch“ geklungen haben muß. Für den modernen Hörer tritt dabei das Phänomen auf, daß er das, 68 Der deutsche Beitrag zur Weltausstellung von 1900 war ein gotisches Rathaus. 69 Klein, Jürgen, Der gotische Roman und die Ästhetik des Bösen, Darmstadt 1975. 70 Allerdings gibt es auch den „Barockdichter“.

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was seinerzeit ganz „modern“ und neu wirkte, nun als „altertümlich“ wahrgenommen wird – Beethoven scheint damit im doppelten Wortsinn „gespielt“ zu haben – oder welchen verborgenen musikalischen Sinn könnte seine „Hammerklaviersonate“71 haben? Durch die Aufführungspraxis mit „historischen Instrumenten“ wird die ursprüngliche Idee des Komponisten verfremdet: die vermeintlich „alten“ Instrumente lassen nicht das Original wiederauferstehen, sondern verfälschen es, indem der Zuhörer heute etwas anderes hört, als der Zuhörer um 1800. Damit verliert die Komposition selbst ihre Originalität – gerade, weil man versucht hat, sie wiederzubeleben. Rein theoretisch ließe sich vorstellen, solche Musik auf historischen Instrumenten Menschen zu Gehör zu bringen, die noch nie Musik gehört haben. Würden sie die musikalischen Schwingungen so wie die Zeitgenossen Monteverdis hören? Selbst wenn dies der Fall sein sollte: Es gäbe keine Möglichkeit, das festzustellen, weil jeder Maßstab fehlen würde. Ohne Maßstäbe aber lässt sich nichts verorten und definieren, das Experiment wäre so sinnlos wie das Kaiser Friedrichs II. mit den sprachlosen Babys. Aus der Dramaturgie vor allem Bert Brechts ist die Idee der „Verfremdung“ wohlbekannt;72 dennoch gibt es regelmäßig Aufregung, wird ein vermeintlich „historisches“ Stück, wie beispielsweise ein solches von Schiller, Henrik Ibsen oder Gerhard Hauptmann, in einem modernen oder besser: als einem als allzu modern empfundenen Gewand gegeben. Spielen solche Stücke in der Gegenwart von damals, spiegeln sie diese; stellten sie damals „Historisches“ dar, (etwa „Wallenstein“) so enthüllen sie das Bild der Geschichte, wie man es damals, also in der einstigen Gegenwart sah. Die angebliche „Verfremdung“ ist in Wahrheit das Gegenteil und die einzige Möglichkeit, das zum Ausdruck zu bringen, was die Dichter seinerzeit bewegte. Das Phänomen lässt sich nicht nur verallgemeinern, sondern ist geeignet, das Prinzip der Geschichtsschreibung selbst radikal infrage zu stellen. Historiker trachten danach, eine bestimmte Vergangenheit so zu sehen und darzustellen wie sie „eigentlich gewesen“ ist. Indem sie sich darum bemühen, versuchen sie die Wesenheiten von einst möglichst so zu sehen und zu verstehen, wie es ihnen damals angemessen gewesen sein soll. Da nun aber (fast) alles, was einst war, dem Prinzip der Veränderung unterzogen bleibt, gewinnt der Betrachter des Einst im besten Fall das Bild eines Gegenstandes, einer Person, ja der Vergangenheit insgesamt, das museal und damit fremd wirkt. Je genauer man die Gotik „nachzubauen“ versteht, je besser man sich in die Zeiten hineinversetzen kann, desto „wahrhafter“ soll das Bild dieser Vergangenheit erscheinen. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Indem der Betrachter sich bemüht, fern liegende Dinge, Menschen, Zustände in ihrer Eigenheit zu begreifen, verfremdet er sie unwillkürlich: Je authentisch „mittelalterlicher“ ein Ort auf den modernen Betrachter wirkt, desto größer sind die Verfälschungen, denn „damals“ eben lebte man nicht „im Mittelalter“, alle Häuser aus der eigenen Zeit waren „modern“ – wobei das Wort selbst höchst fragwürdig ist – und die Menschen empfanden sich nicht als in Kostüme gewandet. Indem wir aus unserer Gegenwart 71 Klaviersonate 29 B-Dur op. 106. Sie gilt – paradox genug – oft als ein Stück „neuer Musik“. 72 Helmers, Hermann (Hg.), Verfremdung in der Literatur, Darmstadt 1984.

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das alles – oft sachlich sehr zutreffend – rekonstruieren, verfehlen wir den „Geist“ der Sache, so daß jede Erzählung von der Antike oder dem Mittelalter nicht diese evoziert, sondern bloß unsere Vorstellungen davon. Das aber bedeutet, daß der Historiker umso „verkehrter“ liegt, je besser es ihm gelingt, die Artefakte von einst – damit sind auch Menschen und Zustände gemeint – in ihrer „Eigentlichkeit“ zu erfassen. In dieser Hinsicht ist auch der schlechteste Historienfilm dem besten wissenschaftlichen Werk überlegen, denn da agieren als „altertümlich“ verkleidete Menschen wie sie es hier und heute tun. Es gibt Filme, in denen die hohen Leistungen der Schauspieler nach und nach vergessen lassen, daß sie in einer fiktiven Vergangenheit handeln. Dann kann man wirklich ahnen, wie es „eigentlich“ „eigentlich gewesen“ ist.73 Die moderne Mediävistik74 und Frühneuzeitforschung bemüht sich redlich, diesem Teufelskreis zu entrinnen, der Erfolg bleibt zweifelhaft. Man kann diese Zusammenhänge sehr bequem linguistisch näher erläutern: Jeder Quartaner, der Caesars „Bellum gallicum“ übersetzt, erhält (so er es gut macht) einen ganz „modernen“ Text, dem nichts „Altertümliches“ anhaftet: Eben so hat Caesar geschrieben, und dabei hat er sich keine Gedanken darum gemacht, daß er sich des Lateinischen bediente. Der ungeheure Einfluß der antiken Autoren geht auch auf dieses sprachliche Phänomen zurück, denn selbst dann, wenn ein Gelehrter Griechisch oder Latein „fließend“ lesen konnte, konnte er dies nur, wenn er ganz automatisch die fremde Sprache in seine gegenwärtige übersetzte. So kommt es, daß das Empfinden der „Modernität“ im umgekehrten Verhältnis zum jeweiligen Alter des Textes steht, insoweit dieser in einer uns prinzipiell fremden Sprache verfasst ist. Deswegen fällt es umso schwerer, anscheinend „verständliche“, also die eigene Sprache, in ihren Veränderungen zu verstehen – das geht bis ins 20. Jahrhundert hinein, wenn man beispielsweise den Hitler-Stil als bombastisch, den von Goebels als maniriert und pathetisch empfindet, weil Sprache und Sprachstil sich seitdem so verändert haben, daß das heute nicht mehr als „normal“ empfunden wird – obwohl man glaubt, alles zu „verstehen“. Auf diese Weise läuft man Gefahr, gerade anscheinend „verständliche“ Texte gründlich misszuverstehen – was ist eine „ordinäre Schlacht“? Manchmal wird mit dieser Erscheinung gespielt, wenn in modernen Texten – etwa von Filmen oder Theatern – Sprachfetzen auftauchen, die „Altertümlichkeit“ signalisieren sollen: „Itzo schweige er“! Die Frage nach dem „Warum“75 selbst bedarf der Erläuterung: Kindern wird oft nachgesagt, sie „nervten“ die Erwachsenen mit ihrem dauerndem „warum?“ In Wahrheit steckt dahinter das Problem des Anfangs von allen Dingen, da der Mensch – offensichtlich auch schon der ganz kleine – davon ausgeht, daß alles, was existiert, aus etwas entstanden ist, man also immer weiter zurückfragen kann. Dennoch wird jedermann akzeptieren, daß die Frage nach dem „warum“ irgend73 Ein gutes Beispiel: der Film Scott, Ridley (Regie), 1492 – Die Eroberung des Paradieses (USA/GB/SPA/FRA 1992). 74 So die Arbeiten von Michael Borgolte, Michael Mitterauer u.a. 75 „Google“ warf am 26.10.2008 69 Millionen Websites auf das Stichwort „Warum?“ aus.

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wann einmal so sinnlos wird wie die nach Henne oder Ei. Wieder: warum? Wie sind die Grenzen beschaffen, jenseits derer es sinnlos ist, „warum“ zu sagen? Das gilt für alles, also auch für die Geschichte, und die biblische Lösung: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, ist nichts als der hilflose menschliche Versuch, mit diesem Problem fertigzuwerden. Die Vorstellung, Geschichte käme aus dem Nichts, ist ebenso wenig nachvollziehbar wie die Idee, da säße einer (oder eine) und beschäftige sich mit der Weltenschöpfung. Seit wann eigentlich? Warum verfiel er auf diese Idee? Und was war vorher? Das sind sinnlose Fragen, aber man kann sie stellen, und die menschliche Vernunft sucht unermüdlich nach Antworten, wohl wissend, daß es sie nicht gibt. Auch der neue Teilchenbeschleuniger des CERN, der größten Maschine der Welt, wird keine Antworten liefern, und nähmen die Physiker dies doch an, käme mit Sicherheit ein „Kind“ daher und fragte, was denn vorher gewesen sei, und die Physiker stünden da wie der Kaiser ohne Kleider. Die vorwurfsvolle Antwort auf solche kindisch/kindlichen Fragen lautet, daß diese im theoretischen Modell nicht vorgesehen sind, aber das hilft nichts.76 Das heißt: Es scheint aussichtslos zu sein, immer weiter zurückzufragen, dennoch ist das Prinzip der Geschichte die ständige Fortentwicklung von Dingen und Zuständen, und die Geschichtswissenschaft will wissen: warum? Darum soll es im Folgenden gehen. 2. TEMPORA MUTANTUR „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis“.77Noch knapper: „Tempus fugit“: Allein der Umstand, daß es diesen Satz bis heute gibt und auch „Nichtlateiner“ ihn kennen – die Standuhr der (Ur-)Großmutter genügt – weist darauf hin, daß das Prinzip der Veränderung Menschen seit altersher umgetrieben hat, und es kennzeichnet den „Fortschritt“ der Kultur, daß gerade jene Völker und Gesellschaften, die im Licht der Geschichte hell oder auch düster strahlen, besonders heftig von diesen Empfindungen bestürmt wurden, was sie keineswegs immer als positiv empfanden, oft als Chaos; die Wellen gewaltsamer Veränderungen, so ein beliebtes Bild, schlugen über ihnen zusammen – ob das nun die Perser, die Griechen, die „späten“ Römer oder die Goten waren: Das Bild von ihnen hat sich als ein hochdramatisches und dynamisches dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt, man sprach sogar von „Völkerwanderungswellen“; die „wandernden“ Völker veränderten die Welt, oft von Grund auf.78 Zogen sie weiter, oder waren sie aufgesogen, war nichts mehr so wie es vorher gewesen, das galt bis in die Ethnien hinein; früher sprach man von „Mischrassen“ und meinte den Umstand, daß es keine „reinen“ Griechen, Römer oder Germanen usw. mehr gab. 76 Dunsch, Jürgen, Mit Faust im Gepäck, in: F.A.Z. 15./16.08.2009: „Dieter Heuer leitet das Kernforschungszentrum Cern in Genf. Wie Goethes Faust will er ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält“ 77 Das Wort wird Lothar I. zugeschrieben, aber das ist unsicher. 78 Heute hat sich das Wort „Tsunami“ eingebürgert.

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Demgegenüber stand das Bedürfnis der Menschen, das Althergebrachte zu bewahren, vor allem „das Reich“ gleichsam ad infinitum weiterbestehen zu lassen. Das ging im jüdisch-christlichen Kulturkreis auf die Auslegung von Daniel 2 zurück. Diese Vorstellung zwang zum Erhalt des vierten, des letzten, des Römischen Reiches. Dieses durfte sich demnach nur graduell, nicht aber prinzipiell verändern. In solchen Ideen schimmerte Protest gegen das Prinzip einer Veränderung durch, die das, was Bestand haben sollte, zerstörte, um etwas Neues an dessen Stelle zu setzen. Daß sich solche Ideen auch säkularisieren ließen, bewiesen jene Zionisten, denen ein „Großisrael“ als bloße Fortsetzung eines seit Beginn der Geschichte oder mindestens seit des Auszugs der Kinder Israels aus Ägypten von Gott verliehenen Reiches erschien. Vor allem unkontrollierte Veränderungen ängstigten; in den Mythen der Völker erhielten markante Ereignisse eine Art Ewigkeitswert.79 Noch im 18. Jahrhundert konnte aus den Irritationen ob dieser ständigen Veränderungen sowohl die Idee des „guten Wilden“, 80 wie bei Rousseau, der es „ewig“ blieb, als auch die des „Fortschritts“ bzw. der Degeneration entstehen.81 Es schien, als gäbe es in der Welt tatsächlich menschliche Gemeinschaften, die von dem Prinzip der Veränderung unberührt blieben, als lebten sie in einem gleichsam „zeitlosen“ Raum – fast wie im Paradies, und die Vorstellung, daß die Vertreibung aus demselben mit der Sterblichkeit, also der Endlichkeit einer Entwicklung erkauft war, schlug sich in Miltons „Paradise Lost“, in Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ oder Steinbecks „East of Eden“ nieder; selbst Kolumbus war nicht frei von solchen Sehnsüchten und glaubte, einen der vier „Paradiesflüsse“ in „Indien“ entdeckt zu haben. Noch Paul Gauguin und Emil Nolde werden im 19. und im frühen 20. Jahrhundert82 auf die Suche nach Eden gehen, und die „paradiesische Tropeninsel“ ist bis in moderne Reise- und Immobilienprospekte hinein zum Topos und Objekt der Begierde geworden.83 Von daher wird begreifbar, was es geistesgeschichtlich bedeutete, als die Amerikaner eines dieser „Paradiese“ mit Atombomben zerstörten: das Atoll Bikini, Jüngster Tag im Kleinen.84 Im Zeitalter des Kolonialismus, d.h. schon seit dem 16. Jahrhundert, brachten die Kolonisten diesen „zeitlosen“ Gesellschaften, wie die Kolonisten sie verstanden, den Fortschritt in der Zeit und der Zeit und damit oft buchstäblich den Tod; man muß die Beispiele aus Mittel- und Südamerika85, 79 80 81 82

Münkler, Herfried, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009. Hofmann, Sabine, Die Konstruktion sozialer Wirklichkeit, Frankfurt/M 2001, 64–78. Becker, Thomas, Schwarz und Weiß. Nolde nahm 1913/14 an der Medizinisch-demographischen Neu-Guinea-Expedition teil; die hier entstandenen Skizzen und Bilder sind Gauguin verpflichtet, im Nolde-Museum zu Seebüll. 83 Scafi, Alessandro, Mapping Paradise. A history of Heaven on Earth, London 2006. Die Idee der „paradiesischen Insel“ gibt es auch als Verkaufsargument für Inseln. („Reif für die Insel“). 84 Kramer, Fritz, Bikini oder die Bombardierung der Engel. Auch eine Ethnographie, Frankfurt/M. 1983. Ders., Bikini. Atomares Testgebiet im Pazifik, Berlin 2000. 85 König, Hans-Joachim/Richenberg, Michael/Rinke, Stefan (Hg.), Die Eroberung einer neuen Welt. Präkolumbische Kulturen, europäische Eroberung, Kolonialherrschaft in Amerika, Schwalbach/Ts 2008.

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auch Afrika, gar nicht aufzählen. Die westliche Welt, die vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen hatte und damit sterblich geworden war, brachte diese Erkenntnis den „Wilden“ bei, deren oft wohlfunktionierende Gemeinschaften wie sie selbst darob zugrunde gingen. Schon zeitgenössisch wurde daran Kritik geübt,86 die aber das fatale christliche Missionsgebot und die Ideologie der „Entdeckung“ in der Regel übertönten. Den Entdeckern fiel auf, daß die in ungemessener „Zeitlosigkeit“ lebenden Einheimischen sich in atemberaubendem Tempo zu verändern begannen, nachdem sie von den Entdeckern gleichsam „angestoßen“ und ihrer „Unschuld beraubt“ worden waren; binnen weniger Jahre und Jahrzehnte brachen jahrtausendealte Kulturen, wie die der Maya, zusammen; selten nur wurden sie durch „Fortschrittlicheres“ ersetzt, und die Entdecker und Eroberer Amerikas87 wunderten sich ob der rasanten Veränderungen im „Indianerland“ zwischen ihren verschiedenen Fahrten dorthin. Wehrten sich eingeborene und als „steinzeitlich“ empfundene Kulturen gegen diese rasenden Veränderungen, wurden sie aus der menschlichen Gattung praktisch aus- und in Reservate eingeschlossen – die nordamerikanische Geschichte, auch die Australiens, ist seit Pocahontas Zeiten voll davon. Veränderung war wie ein Virus mit manchmal tödlichen Folgen, dabei spielte neben fehlendem Immunschutz gegen „zivilisierte“ Krankheitserreger der Entdecker der nun massenweise produzierte und verkaufte Alkohol oft eine fatale Rolle; das Danaergeschenk der Indianer: der Tabak konnte das nicht „ausgleichen“, manchmal im Gegenteil, wurden doch „Tabakscollegien“ als Errungenschaft fortschrittlicher europäischer Kultur empfunden – was teilweise bis heute der Fall ist,88 und je erfolgreicher die Entdecker, dann Kolonisten ihre Welt in die neue brachten, vor allem was Technik und gesellschaftliches Leben betraf, desto stürmischer vollzogen sich hier Entwicklungen, die allerdings oft außer Kontrolle gerieten und ins Elend führten, weil das historische und gegenwärtige Umfeld nicht stimmten. Es konnte auch anders sein. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Japaner bewusst und gewollt in einem eher „mittelalterlichen“ Zustand gelebt und schafften es nach 1854 in weniger als fünfzig Jahren, den vermeintlichen „Vorsprung“ des Westens ein- und teilweise zu überholen, nachdem dieser Westen mit verschwindend geringen Mitteln die westlichen Lebensweisen gewaltsam ins Land gebracht hatte; der Sieg über Russland, der fulminante japanische Triumph von Tsushima (1904) wurden schon von den Zeitgenossen als markante Zeitenwende begriffen. Nicht nur „der Westen“ entdeckte Japan, Japan entdeckte den Westen.89 Vergleicht man, beispielsweise, die Azteken Montezumas mit den Japanern der Mejizeit, so fällt auf, daß aus jeweils vergleichbaren statischen Verhältnissen dy86 Gollwitzer, Heinz, Geschichte des weltpolitischen Denkens I, Göttingen 1972, 234. 87 Konetzke, Richard, Entdecker und Eroberer Amerikas. Von Christoph Kolumbus bis Hérnan Cortéz, Frankfurt/M. 1963. 88 Hier ist an die ritualisierten Sitzungen des Bremer Tabakcollegiums zu erinnern. 89 Dambmann, Gerhard, Wie Japan den Westen entdeckte. Eine Geschichte in Farbholzschnitten, Stuttgart/Zürich 1988.

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namische Prozesse entstanden – einmal mit fatalem, tödlichem Ausgang, einmal mit dem letztlichen Anspruch auf Weltmacht. Dazu haben das Wissen um die Geschichte bzw. die vermeintliche „Geschichtslosigkeit“ beigetragen: So sehr sich Japaner und Chinesen auch abgeschottet hatten: Die Erinnerung an ihre Existenz und Geschichte hatten im Westen überlebt; kein Gelehrter – wenigstens nach Marco Polo – hätte geleugnet, daß diese Kulturen seit Jahrtausenden ständigen Veränderungen unterzogen waren – mochten sie so langsam wie auch immer vor sich gehen. In der „neuen Welt“ hingegen schien es keine Geschichte zu geben, und das, was die Entdecker und Eroberer vorfanden, galt ihnen immer als Gegenwart. Nahezu niemand verfiel zeitgenössisch, also kurz nach 1492, auf die Idee, die genuine Vorentdeckungsgeschichte zu erforschen, es sei denn um irgendwelchen Schätzen auf die Spur zu kommen, und wer dies aus wissenschaftlicher Neugier dennoch tat, konnte in dieser Geschichte nichts erkennen, was sich der eigenen christlich geprägten Geschichts- und Weltanschauung hätte anverwandeln lassen. Daß diese christliche Ideologie eine zusätzliche negative Rolle spielte, indem eine Geschichte ohne Christus (auch als Prophetie) eo ipso als gottfern, uninteressant und „minderwertig“ begriffen wurde, sei nur am Rand erwähnt.90 Von hier aus gesehen wäre es falsch, das Prinzip der Veränderung schlechthin als „gut“ oder „böse“ zu klassifizieren. Es konnte Verheißung oder Drohung, und oft beides zugleich sein. Die Angst vor der Veränderung und die Hoffnung auf die Veränderung bestimmten immer Menschenschicksale – von der Wiege bis zur Bahre. Viele Rituale basierten auf der Idee, daß man Veränderungen antizipieren könne, nichts dem Zufall überlassen bleibe – das ging im Kleinsten vom Altenteil bis zum Familiengrab, der antizipierten „Endstation“ menschlichen Lebens. In Fürstenhäusern wurde die Prinzenerziehung durch das Prinzip der Kontinuität bestimmt. Manchmal wurden Grabsteine und Gedenkplatten „vorsorglich“ gemeißelt und graviert – nur das eigentliche Todesdatum war im gegebenen Fall nachzutragen. Es ist selbstverständlich, daß Veränderungen angestrebt, befürchtet oder auch bloß hingenommen werden. Sie überhaupt zu vermeiden, scheint nicht möglich, selbst wenn „konservative“ Denkweise das oft zu behaupten pflegt. In diesem letzteren Fall bestehen die Veränderungen gerade darin, daß der Erhalt des Bestehenden, das als gut begriffen wird, nur möglich ist, wenn den Tendenzen zur Veränderung desselben energisch Widerstand geleistet wird, was nach Lage der Dinge nur dann möglich ist, wenn man durch entsprechende Änderungen der eigenen Lebens- und Denkweise dafür sorgt, daß das erfolgreich ist. Dieses Verfahren wird negativ gewertet, wenn solche Flexibilität und Aufgeschlossenheit für Neues und Anderes als Opportunismus, als das Flattern des Fähnchens nach dem Wind gedeutet wird – ein beliebtes politisches Argumentationsmuster der jeweils oppo-

90 Umso eifriger bemühte sich die Wissenschaft vorwiegend des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Besiedlung und der vorkolumbischen Zeit zu erforschen, oft sensationell zu „enthüllen“. Zillmer, Hans-Joachim, Kolumbus kam als letzter, München ²2005.

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nierenden Parteien in einer Demokratie.91Ob der Vatikan oder der „Prinz aus Zamunda“92: Beide können nur bleiben, was immer sie waren, weil sie sich ständig verändern: bewußt, gewollt. Hier bietet sich als Beispiel das Preußen des frühen 19. Jahrhunderts an: Im Selbstverständnis seiner Herrscher und Beamten war das ein „konservativer“ Staat, aber er konnte nach der Napoleonischen Herausforderung nur „konserviert“ werden, wenn das Prinzip der Veränderung im Bereich der Mittel und Methoden energisch verfolgt wurde – durch die Gesamtheit der preußischen Reformen nach 1807; dafür steht an erster Stelle der Name des Freiherrn vom Stein.93 Weil diese Reformen cum grano salis als erfolgreich galten, indem sie dem Staat zu neuer Macht und Ansehen verhalfen, (wovon die Untertanen gelegentlich profitierten) konnte Preußen, zusammen mit anderen konservativen Staaten, jene Mittel aufbringen, jene Methoden (etwa das Krümpersystem, die allgemeine Wehrpflicht) einüben, die der Bedrohung durch die Revolution und ihres Erben am Ende standhielten. Danach verfiel Preußen wieder in einen eher unbeweglichen konservativen Zustand; „Restauration“,94 nicht „Fortschritt“ wurde zur Staatsdevise, aber eben diese wurde durchaus als „Fortschritt“ empfunden.95 Karl Ludwig von Haller selbst wollte den Begriff „Restauration“ keineswegs als „Rückschritt“ verstanden wissen; es ging ihm um die „Konservierung“, also Rettung arg beschädigter Traditionen der Staatswissenschaften – fast wie in der Werkstatt eines Museums. Die restaurierten Staatswissenschaften waren nunmehr zäher und widerstandsfähiger als die der vornapoleonischen Zeit. Der nach 1815 angestrebte und erreichte Zustand war also keineswegs der von vor 1807, so daß die Vorstellung, Konservativismus96 schließe Veränderung aus, unhaltbar ist.97 Abgesehen davon, daß das nur dann der theoretische Fall sein könnte, wenn dieser Konservativismus davon überzeugt wäre, der „beste der Welt“ zu sein, man in der „besten aller Welten“ bereits lebe. Das mag in bestimmten Perioden und an manchen Orten der Geschichte der Fall gewesen sein, (wer weiß!) aber auch hier gab es nie jene absolute, gleichsam flächendeckende Zufriedenheit, die das Beharrungsprinzip in jedem Fall über das der Veränderung hätte triumphieren lassen – ein Bespiel mag die hohe Zeit der ludovizianischen Herrschaft um 1700 sein: Zwar gab es die Fronde nicht mehr, aber es gab sie nur deswegen nicht mehr, weil der König ein völlig neues Verständnis vom Hof und seinen Günstlingen entwickelt hatte: Der Hof Ludwigs XIV. war etwas Neues, oft Bewundertes, aber eben Besonders negativ: Der „Wendehals“ von 1989/90 in der Ex-DDR. Landis, John (Regie), Der Prinz aus Zamunda, USA 1988. Duchhardt, Heinz, Stein. Eine Biographie, Münster 2007. Ludwig Hallers Restauration der Staatswissenschaften machte den Begriff zur Epoche. Typisch: die Gebrüder Gerlach, Schoeps, Hans-Joachim, Aus den Jahren preußischer Not und Erneuerung. Tagebücher und Briefe der Gebrüder Gerlach und ihres Kreises 1805–1820, Berlin 1963. 96 Schild, Axel, Konservativismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. ahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. 97 Was bis zum anscheinend paradoxen Begriff der „Konservativen Revolution“ gegangen ist; Mohler, Armin, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Graz 2005.

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deswegen kein Hort des Beharrens, sondern lediglich das Resultat des Siegs der bourbonischen Monarchie über die Fronde. Das Schloß von Versailles98 war ein Neubau (wie der Pont neuf von Paris seinerzeit auch). Das bedeutet, daß Ludwig XIV. wie Heinrich von Navarra dem Prinzip der Veränderung unterlagen und selbst ständig veränderten; der eine, um es zu bleiben, der andere, um es zu werden: König von Frankreich. Diese politischen Veränderungen in Frankreich werfen die generelle Frage auf, inwieweit „unpolitische“, aber durch Menschen generierte Ereignisse, wie demographische Entwicklungen und Zustände Veränderungen bewirken. Während Ungenügen, Überheblichkeit, Neid usw., wesentliche Veränderungsfaktoren sind, bleiben die genuin demographischen oft im Verborgenen, oder werden nur am Rand wahrgenommen – etwa in dem Diktum von „jungen“, also „wachsenden“, oder „alten“, also „schrumpfenden“ Völkern. Demographische Kurven sind auf der einen Seite völlig „natürlich“, auf der anderen „künstlich“, indem Menschen in der Lage sind, ihr Reproduktionsverhalten rational zu steuern; in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der sog. „Pillenknick“ typisch. Sehr häufig werden demographische Entwicklungen auch mit Zuständen der Kultur, Wirtschaft, Religion kombiniert, und den Zusammenhang zwischen einer hohen Reproduktionsrate und niedrigem Einkommen gibt es in bestimmten Regionen der Erde bis heute. Demographische Kurven99 verändern gesellschaftliche und politische Wahrnehmungen und Zustände, sei es, daß sie sie abbilden, sei es, daß sie Folgen von Pandemien, Kriegen, Hungersnöten oder eines überbordenden Reichtums und hedonistischen Luxus’ sind. In Europa war die große Krise des 14. Jahrhunderts wesentlich Folge der verschiedenen verheerenden Pestzüge seit 1348 und gebar die Kultur des Totentanzes; die katastrophalen Bevölkerungsverluste im Dreißigjährigen Krieg bestimmten die beiden nachfolgenden Jahrhunderte in Mitteleuropa entscheidend und ließen die Idee von der notwendigen „Peuplierung“ menschenleerer Landschaften wachwerden. Das wiederum hatte enorme Auswirkungen auf den Landesausbau; das Oderbruch100 ist ein gutes Beispiel. Das Verhältnis zwischen Herrschern und Untertanen, etwa des Großen Kurfürsten wie auch Friedrich des Großen101 zu ihren Völkern, ist zuerst Folge der großen Bevölkerungskatastrophe von 1618 bis 1648 gewesen. Demographische Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Lebensgestaltung ganzer Populationen, die das gesellschaftliche Gefüge in den Grundfesten erschüttern können. Weil die Species „Mensch“ aber nie auf einer „Roten Liste“ stand, konnte sie nie auch einen besonderen „Artenschutz“ genießen 102 98 99 100 101

Burke, Peter, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 2005. Mueller, Ulrich u.a. (Hg.), Handbuch der Demographie, Berlin u.a. o.J. Nippert, Erwin, Das Oderbruch. Zur Geschichte einer deutschen Landschaft, Berlin 1995 Beck, Friedrich/Schmook Reinhart (Hg.), Mythos Oderbruch. Das Oderbruch einst und jetzt, Berlin 2006. 102 Günther Grass‘ Die Rättin, scheint mir ein symbolischer Hinweis auf diesen garstigen Zusammenhang zu sein.

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Kriege und Hungersnöte als Auslöser für Völkerwanderungen sind bis heute zu beobachten, und ist der Hunger nicht durch Menschen selbst verschuldet (wie in großen Teilen Afrikas), sondern Folge von natürlichen Gegebenheiten bzw. Veränderungen, wird man erneut außerhistorische Gründe für den Fortgang der Geschichte annehmen müssen. In Pestzeiten verödeten ganze Landschaften, es kam zu einer Fülle von Wüstungen;103 das Volksvermögen wurde durch den Tod stärker als alles Erbrecht umgeschichtet, es entstanden neuer Reichtum, neue Armut mit all den Spannungen, die im Zeichen des Ungenügens oder der Verteidigung der Fülle zu Veränderungen bis hin zu revolutionären Explosionen führten. Auch die sog. „kleine Eiszeit“ des 16. bis 18. Jahrhunderts 104 hat sich demographisch negativ ausgewirkt – in diesem Fall ist es sinnlos, nach Verantwortlichen oder gar Schuldigen zu fahnden. Das unterscheidet diesen „Klimawandel“ fundamental von dem heutigen, der oft Menschen zugeschrieben wird, die damit „schuldig“ werden.105 Manchmal überkamen solche Veränderungsprozesse die Menschen geradezu blitzartig, da genügten manchmal zwei oder drei Ernteausfälle, manchmal schlichen sie in Form säkularer Entwicklungen heran, wenn z.B. erhebliche Teile der Bevölkerung aus ökonomischer oder religiöser Not auswanderten und eine „Neue Welt“, beispielsweise in Amerika, schufen. Wer wollte leugnen, daß die Probleme der gegenwärtigen Migrationswellen nach Südeuropa ebenfalls zu ständigen, teils demonstrativ sichtbaren Veränderungen führen – eine Moschee im „christlichen“ Köln wird hier zum Symbol. Langfristige demographische Trends lassen sich zum Teil hochrechnen und damit prognostizieren; manchmal aber kommen sie unversehens daher, und schon Thomas Robert Malthus hat sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Folgen eine zukünftige Übervölkerung haben könnte; darauf basierte nicht nur eine große Wissenschaft, sondern aus solchen – manchmal bloß vermeintlichen – Erkenntnissen wurden von Politikern weitreichende Schlüsse gezogen, die das Gemeinwesen wesentlich beeinflussten und veränderten. Die Bevölkerungspolitik im Nationalsozialismus machte aus der Idee des „Volks ohne Raum“ ein dynamisches Prinzip mit hypertrophen Verheißungen für eine „germanische Zukunft“ und verheerenden Folgen für die deutschen Nachbarn. Die Schreckreaktion darauf war das Dogma, nach dem eine „ungehemmte“ Volksvermehrung Menetekel für die Zukunft sei und vermieden werden müsse. In einer charakteristischen Pendelbewegung tauchte dann wieder das Gespenst der „Schrumpfung“, vor allem des deutschen Volkes auf, und wenn solche Prozesse sich zugleich vollzogen, wie man es heute im Vergleich zwischen wohlhabenden Industriestaaten und armen Ländern der sogenannten „dritten und vierten Welt“ beobachten kann, resultierten daraus Spannungen, die unweigerlich zur Entladung tendieren, sollte es nicht gelingen, diese auszugleichen. 103 Nach wie vor „klassisch“: Abel, Wilhelm, Wüstungen in Deutschland, Frankfurt/M.1967. 104 Behringer, Wolfgang, Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“, Göttingen 2005. 105 Allerdings werden die Versteppung von Mittelmeerländern seit der Antike und das Verschwinden der mitteleuropäischen Wälder seit dem 15. Jahrhundert auch auf menschliches Verhalten zurückgeführt.

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Es nimmt nicht Wunder, daß seit dem 18. Jahrhundert die „Bevölkerungspolitik“ zu den arcana jeder Herrschaft zählte; den aufgeklärten absoluten Fürsten wurde klar, daß die „Peuplierung“ ihrer Lande wesentliche Voraussetzung zur Behauptung oder Erringung von Macht war, der Grundsubstanz des Staates; später haben demokratische Gemeinwesen wie etwa Frankreich durch eine bewusste Familienpolitik106 die Bevölkerungszahl anheben wollen, und da im Zeichen der Massenheere das „Menschenmaterial“ ausschlaggebend zu sein schien, kam es zu einer unheilvollen Verknüpfung zwischen Familien- und Militärpolitik. Den Höhepunkt erfuhr diese ungute Symbiose im sog. „Dritten Reich“. Verallgemeinert man das Problem, so ließe sich sagen, daß es die schiere Masse des Volkes ist, die Veränderungen ganz unbewußt bewirkt, nur weil sie Masse ist. Das gilt nicht nur für die demographischen Daten, sondern für alles, was unter „Masse“ verstanden wird. Sobald sich das Empfinden breit macht, es gäbe für zu viele Einwohner zu wenig Platz, sind Veränderungen aus dem Gefühl tiefen Ungenügens heraus programmiert. Ob der eingeforderte „Platz an der Sonne“, oder die Klagen über das „Volk ohne Raum“: In beiden Fällen trägt das Gefühl des Ungenügens zum Anstoß für Veränderungen bei. Fatal ist, daß in der Regel jeder Einzelne durchaus seinen „Platz an der Sonne“ finden könnte – und sei es auf einer Parkbank, und von ein paar Obdachlosen abgesehen, besaß jeder Angehörige des Volkes durchaus seinen Raum. Das mag sarkastisch und banal klingen: es lohnt sich, darüber nachzudenken. Alle diese Veränderungen vollzogen sich in einem strikten chronologischen Rahmen, der sich mit Jahres-, Monats- und Tagesnamen umschreiben ließ. Schon in den ersten Spuren menschlicher Zivilisation findet sich ein kalendarisches Bewusstsein, das zumeist auf religiöse oder auch ökonomische Ursachen zurückgeführt wird. Dem Prinzip der stetig voranschreitenden Veränderungen stand kalendarisch gesehen das des immer Wiederkehrenden entgegen: Jedes Jahr gab es die gleichen Konstellationen, seien es die der Gestirne, der Jahreszeiten, die des Tages selbst. Die im Kalender anscheinend ewige Wiederkehr der Zeit ließ aber nur bedingt eine ewige Wiederkehr von Ereignissen – etwa Aussaat und Ernte – erwarten. In manchen Jahren wurde zu spät ausgesät oder geerntet, in anderen gar nicht, weil das Wetter einen Strich durch alle Pläne machte. Der Kalender gab nur den Rahmen, nur die Takte des So-Sollens vor, aber nicht immer harmonierte er mit dem, was er zu fordern schien. Für die seinerzeit lebenden Menschen schien irgendwann der Kalender, das heißt die Zeit, gleichsam aus den Fugen zu geraten. Die beiden großen Kalenderreformen von 46 v. Chr. und 1582 n. Chr. werden zumeist auf wirtschaftliche Erfordernisse zurückgeführt. In Wirklichkeit ging es um die Neusynchronisierung zwischen Zeit und Veränderungen in der Zeit. Der zeitliche Rahmen aller Veränderungen hatte sich im Lauf der Jahrhunderte selbst verändert, und die Menschen hatten das Bedürfnis, beides neu zu synchronisieren. Die „Kalenderreform“ aus der Zeit der Großen Französischen Revolution hingegen gehorchte einer anderen Idee: Die Vergangenheit sollte endgültig abge106 Besonders drastisch in Folge des Krieges von 1870/71.; „Vater“ und „Mutter“ wurden gleichsam zum Beruf.

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schlossen und vorbei sein, so daß sie nicht in Gegenwart und Zukunft ausstrahlen konnte. Die Gesellschaft sollte gleichsam in ihren Urzustand zurückgesetzt, alle Menschen gleich, frei, brüderlich werden, um es dann mit der Geschichte noch einmal zu versuchen. Deswegen brauchte man ein neues Jahr „eins“. Bekanntlich ging der Versuch gründlich schief; Mussolinis Nachäffung mit dem faschistischen Kalender wirkte dann nur noch lächerlich. Als Fazit ergibt sich, daß der Ablauf der Zeit selbst ständigen Veränderungen unterliegt, Zeit läuft nicht „gleichmäßig“ ab. Sie kann beschleunigt werden, indem ein paar Tage fortfallen wie 1582, auch das Gegenteil mit den „jours complémentaires“ wurde versucht. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ließ sich anscheinend kosmologisch begründen: Die Erde drehte sich um sich und um die Sonne, das Sonnensystem in seiner Galaxis. Wartete man nur lange genug, schien alles wiederzukehren – so Sonnen- und Mondfinsternisse; der Abstand der Planeten voneinander und von der Sonne schien immer gleich, kleine Schwankungen glichen sich früher oder später aus. Es ist charakteristisch, daß aus solchen Himmelsbetrachtungen die Scharlatanerie der Astrologie entstand; wer daran glaubte, meinte, daß alles prädestiniert war, und manchmal bewirkten astrologische Voraussagen – man denke an Wallenstein – auf der Erde gewaltige Veränderungen. Dies war für die „Gläubigen“ den Sternen geschuldet, so daß diese und nicht sie für alle Veränderungen verantwortlich waren. Es dauerte lange, bis diese Form der Veränderung als Unsinn entlarvt und auf Jahrmärkte verbannt wurde. Aber dieses zugleich statische und dynamische Bild des kosmologisch Unveränderlichen bekam Risse, als bewusst wurde, daß das Weltall ständig expandiert – und wir mit ihm auf einer unerhörten Reise sind. Das heißt: Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit bewegen wir uns auf kosmischen Bahnen, die – ja wohin? – führen. Es war logisch zu postulieren, daß dieser Expansion des Weltalls eine Kontraktion folgen werde, bis man wieder zum Anfang von Raum und Zeit, also zum „Urknall“ zurückgekehrt sei, woraufhin sich das System erneut, also in Wiederholung, in Bewegung setzen konnte. Aber die Denkfigur, daß die Expansion „ewig“ weitergehen wird, schien ebenso legitim, so daß selbst im äußersten Makrokosmos das Prinzip ständiger Veränderung herrschte. 3. UNGENÜGEN Am einfachsten und einsichtigsten ist tatsächlich die Ableitung von Veränderungen aus dem Ungenügen. Wer in Zeiten und an Orten lebt, die ihm aus irgendwelchen Gründen nicht gefallen, wird sich in aller Regel darum bemühen, das zu ändern. Tut er das nicht, beherrschen ihn Hilflosigkeit, Fatalismus, Resignation, bestenfalls die Idee der Prädestination (wie bei überzeugten Calvinisten) oder des Stoizismus (wie bei Friedrich dem Großen), und in der Philosophie der davon betroffenen Individuen und Gesellschaften wird oft das „Schicksal“ bemüht, dem man „hilflos“ ausgesetzt sei. Es gibt auch die Vorstellung, dieses Schicksal zu „meistern“, ihm „in den Rachen zu greifen“; meist jedoch geht der Mensch nicht mit seinem Schicksal um, sondern dieses mit ihm; man „hadert“ mit ihm. Nicht er

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selbst, das „Schicksal“ verändert den Menschen und seine Welt. Die Vorstellung vom Schicksal ist anthropomorph; es kann „gütig“ oder sogar „schwanger“ sein.107 Schon in der Antike wurde aus den „fata“, den Sprüchen der Seher, beispielsweise der Sibylle, das personalisierte „Fatum“, das „daherschritt“. Das Schicksal, nicht der Mensch, kann ändern oder nicht Inwieweit ist „das Schicksal“ mit „der Geschichte“ identisch?108 Auch eine andere Frage ist möglich: Welchen Teil der Geschichte macht das Schicksal aus, welcher Teil des „Schicksals“ ist „Geschichte“? Wer überhaupt hat „Schicksal“? Verändert „Schicksal“ Menschen oder Menschen das „Schicksal“? Ist Schicksal gleich Los?109 Und wer hat es zugeteilt? Der heftige Streit um den Determinismus, den es seit einigen Jahren wieder gibt, kreist wie eh und je vergeblich um solche vermeintlich „einfachen“ Fragen.110 In der These von „alten“ und „jungen“ Völkern wird das Prinzip von Veränderung oder Beharren ebenfalls sichtbar: „Junge“, so heißt es, wollten sich entwickeln, wachsen, alles verändern; „alte“ bewahren, was ist. „Jung“ wird mit Wachstum assoziiert, „alt“ mit Stillstand oder Schrumpfen. Die „alten Römer“ und die „jungen Germanen“ sind stereotyp geworden, obwohl näheres Nachdenken zum Ergebnis führt, daß die Epitheta „alt“ und „jung“ sinnlos sind. Ist das Beharren in unerfreulichen Zuständen kein freiwilliges; kommt das Moment eines von Menschen erzeugten Zwanges hinzu, entsteht eine Art „Gefängnissyndrom“: Die unterdrückten Menschen befinden sich nicht in einer freien, offenen Welt, sondern in einem riesigen Gefängnis, das von außen bewacht und im Inneren von Spitzeln durchsetzt ist. Befreien sie sich daraus, so durch Revolutionen oder Freiheitskämpfe; Wilhelm Raabes „Schwarze Galeere“, die „Gefangenenchöre“ aus „Fidelio“ und „Nabucco“, das „We shall overcome“ (nicht nur in der Version von Joan Baez), Peter Weirs: „Die Truman-Show“111 sind zu literarischen, musikalischen und filmischen Symbolen dafür geworden. Im Jahr 2009 hat das Jahr 1989, genauer: der 9. November, der Tag des „Mauerfalls“, diese Qualität gewonnen. Dahinter steht die naive Annahme, das Grundsubstrat alles Existierenden existiere in einem Zustand der Freiheit: eine bloße Wunschvorstellung oder eine Ideologie,112 die den Menschen nicht auszutreiben ist. Das Ungenügen am Hier und Heute kann sich auf verschiedene Weise ausdrücken. Wird die Gegenwart als „schlecht“ empfunden, setzt automatisch das Bestreben ein, die Zukunft zu verbessern, die Gegenwart also zu verändern, dafür bedarf es keines theoretisch erdachten „Plans“, sondern die beklagenswerten Ist107 Soweit ich sehe, gibt es keine Untersuchungen zu Wortverbindungen mit „Schicksal“; das Wort selbst taucht in zig-tausenden von Titeln auf, vgl. die Kataloge der Nationalbibliothek 108 Martin Buber: „Schicksal und Freiheit sind einander angelobt/Dem Schicksal begegnet nur, wer die Freiheit verwirklicht“. 109 Danis, Juana/Möde, Erwin, Schicksal und Mythos, München 1982. 110 Was die Historiker betrifft, war der Auftaktvortrag Wolf Singers zur „Hirnforschung“ beim Historikertag in Aachen 2000 eine Art „Startschuß“. 111 Weir, Peter (Regie), The Truman Show, USA 1998. 112 Freiheit und Geschichte, 2009; Meier, Christian, Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?, Berlin 2009.

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Zustände geben das notwendige Handeln vor. So wie in Mittelalter und Früher Neuzeit die Kirche – etwa von Martin Luther – als „semper reformanda“ begriffen wurde, konnten es auch Staaten und Gesellschaften sein. Die Idee der Staatsreform ist mit der Idee des Staates selbst symbiotisch verbunden, insofern eine organische Staatsauffassung vorliegt, wie sie im Historismus113 entwickelt worden und im naiven Staatsverständnis bis heute „lebendig“ geblieben ist. Allerdings gibt es auch die gegenteilige Vorstellung vom Staat als eines unveränderlichen Gottesstaates, gleichsam einer Monade oder eines „Gedanken Gottes“ (Ranke). In diesen Fällen wäre allein die Idee der Veränderung eine Blasphemie gewesen – Monaden und Götter sind als vollendet gedacht; das Vollendete zu verändern hieße es zu verschlechtern – das aber können letztlich nur Teufel, das übersteigt menschliches Vermögen. Die von manchen radikalen Islamisten „verteufelten“ Europäer spiegeln diese Vorstellung; auch anderswo war und ist etwa von „weißen Teufeln“ die Rede. Ein sich im Wesen verändernder Gott hingegen ist undenkbar, auch wenn ihm durchaus menschliche Eigenschaften zugesprochen werden wie Traurigkeit, Zorn, Liebe, Güte. Manche Formen des Islam beharren deswegen bis zur Gegenwart auf unabänderlichen Staats- und Religionsgesetzen; die Scharia ist für sie nicht verhandelbar. Im Christentum half man sich mit dem Gedanken, daß der Teufel als von Gott gewollter „Versucher“ das Schlechtere, das Böse als „Versuchung“ den Menschen als „Besseres“ vorgaukelte – oder aber im Auftrag Gottes als pädagogische Strafinstanz in Erscheinung trat.114 Erlagen die Menschen der Versuchung, oft einer Fata Morgana gleich, geschah es ihnen Recht, wenn sie ins Elend gerieten; taten sie Buße, wurde das Unglück (etwa eine Flut, eine Feuersbrunst, ein Erdbeben) zur gerechten Sühne.115 Entscheidend war, daß danach die Welt wieder in Ordnung, d.h. gott-vollendet war. Solche gottgewollten Veränderungen waren immer nur vorübergehender, katalysatorischer, erzieherischer Natur, sie besaßen keine eigene Qualität. Auch die Vorstellung des von Gott eingesetzten, nur ihm verantwortlichen Herrschers ließ Veränderungen nur „im Auftrag“ Gottes zu – aber warum hätte Gott etwas Vollkommenes, das er selbst geschaffen hatte, verändern sollen? Im Gottesgnadentum116 selbst lag ein Moment ständigen Beharrens. Dieser beruhigende Gedankengang wurde bei Juden und Christen durch den Skandal der „Sündflut“ gestört. Nahm man die Bibel ernst und wörtlich – und das war bis in die frühe Neuzeit hinein bei vielen Menschen Standard – so blieb zu erklären, warum Gott seine Schöpfung gleichsam wieder „kassiert“ und durch eine neue ersetzt hatte – denn die „Arche Noah“ war ja der Embryo einer neuen Welt; in der Idee des „Generationenschiffs“, von zoologischen Gärten oder den 113 Nach wie vor das Standardwerk: Meinecke, Entstehung des Historismus. 114 Diese Vorstellung führte noch 2009 zum Rücktritt eines österreichischen Bischofs, der den Wirbelsturm „Cathrina“, der 2006 New Orleans zerstört hatte, als gerechte „Strafe Gottes“ deutete. 115 Jakubowski-Tiessen, Manfred, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992. 116 Flor, Georg, Gottesgnadentum und Herrschergnade. Übermenschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht, Köln 1991.

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Bemühungen, das Gen-Material von Pflanzen und Tieren zu „bunkern“, lebt das in der Science-Fiction,117 ansatzweise in der Wirklichkeit, fort.118 Die Theologie ist der Frage nach dem „Sinn“ der Arche Noah immer wieder nachgegangen. Die Erklärung, die Menschen selbst seien daran „schuld“ gewesen, daß Gott sein Werk wieder vernichten musste, warf das unlösbare Problem der menschlichen Willensfreiheit auf, das der Calvinismus eindeutig zu Gunsten des Determinismus entschieden hatte. In diesem Fall musste in Gott eben mehr stecken als es sich eine naive menschliche Moral vorstellen konnte, und von da zu einem pointierten Atheismus, der auf einen solchen Gott pfiff, war es nicht weit. Nach manchen Irrungen und Wirrungen der Aufklärung aber kam die restaurierte Gesellschaft Europas überein, doch lieber wieder an das unveränderbar Gute in Gott zu glauben – und damit auch in dem Herrscher „von Gottes Gnaden“, dafür steht etwa der russische Kaiser Alexander I. Auch diese Idee säkularisierte sich, indem sich die Menschen einen „bösen“, besser: kriminellen Herrscher nur schwer vorstellen konnten. Die europaweite Empörung ob Machiavellis „Principe“ war zwar nur geheuchelt, dahintersteckte aber die Idee, daß es einen von Gott eingesetzten „bösen“ Fürsten in einem christlichen Staat „eigentlich“ nicht geben dürfte. Bei den tatsächlichen fürstlichen „Bösewichtern“, für die paradigmatisch „Iwan der Schreckliche“ stehen mag, handelte es sich daher um Usurpatoren, wie Napoleon, falsche Zaren, Menschen, die „an sich“ den Thron nie hätten besteigen dürfen, und die das nur geschafft hatten, weil Gott damit einen züchtigenden Zweck verfolgte. Es gehörte zu den menschlichen Bedürfnissen, solche „Schurken“ am Ende scheitern zu sehen – das geht von Shakespeares Richard III. bis zu Saddam Hussein. Von der prinzipiellen „Unschuldsvermutung“ bei Herrschern aller Art profitierten noch Hitler und Stalin: Obwohl diese strafrechtlich betrachtet Schwerverbrecher waren, glaubte die Mehrheit (?) der beherrschten Völker an ihre Redlichkeit, Güte, Gerechtigkeit. Das geflügelte Wort: „Wenn das der Führer wüsste“,119 umschrieb die Irritationen ob nationalsozialistischer Verbrechen, die nie und nimmer mit der Person des Adolf Hitler in Verbindung gebracht wurden.120 Erst nach 1945 befreite sich die Bevölkerung aus dieser Suggestion – sie wirkte auf viele wie ein Schock, und noch heute gibt es unbelehrbare Menschen, meist aus der rechtsradikalen Szene, die vorwurfsvoll darauf hinweisen, es habe seitens Hitlers keinen schriftlichen Befehl zum Holocaust gegeben.121 Nach der Säkularisierung der Staatsidee lag es auf der Hand, daß Veränderungen unabhängig vom Zustand des eigenen Staates, der eigenen Gesellschaft auch dann unvermeidlich waren, wenn man das im Grunde gar nicht wollte. Weil alle Staaten und Gesellschaften nun zum einen Menschen- und nicht Gotteswerk waren, in Nachbarschaften lebten und es keine „herrschaftsfreien“ Räume auf der 117 Roland Emmerich (Regie), 2012 (USA 2009). 118 Etwa in der „Arche Noah: Gesellschaft für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt & ihre Entwicklung“. 119 Basil, Otto, Wenn das der Führer wüsste, Rastatt 1981. 120 So lange Zeit Ludwig Beck; Müller, Klaus-Jürgen, Ludwig Beck, Paderborn 2007. 121 Das Problem gut und knapp abgehandelt: Kershaw, Ian, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41, 2. Aufl., München 2008, 541–588.

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Erde mehr gab, kam es zu unvermeidlichen Interdependenzen: Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt: Die Stabilität und die Zufriedenheit mit den eigenen Zuständen, die nicht verändert werden sollen, sind erschüttert, wenn eben genau deswegen andere Staaten oder Gesellschaften Neidkomplexe der verschiedensten Art entwickeln, weil es ihnen nicht so gut geht wie einem selbst. Das hat mit einer „Wettbewerbssituation“ (Dieter Langewiesche) unter den Nationen zunächst nichts zu tun. Manchmal wurde das Überlegenheitsgefühl Freund und Feind gegenüber spektakulär sichtbar gemacht, wenn man diese zu prachtvollen, imponierenden Staatsspektakeln von Kronjubiläen bis Feldparaden einlud. Solche Inszenierungen sollten zum einen demonstrieren, wie „gut“ man selbst war, darüber hinaus eine abschreckende Wirkung entfalten – ein bewußt eingesetztes Mittel moderner Diktatoren vom Schlage Hitlers122 und Stalins. Rituelle Selbstbstbeweihräucherung wurde in der Französischen Revolution auf dem Marsfeld, im Wilhelminismus „Unter den Linden“ und im Stalinismus auf dem Moskauer „Roten Platz“ zelebriert. Daß sich „die anderen“ jemals einfach mitgefreut hätten, ist nicht überliefert; die diplomatischen Akten aber sind voll von meist skeptischen, manchmal neidischen, meist negativen Kommentaren.123 Auf diese Weise entstanden an den Grenzen und in den diplomatischen Beziehungen Spannungen, die zur Entladung tendierten – ganz gegen den Willen der jeweils „Reicheren“, „Glücklicheren“, „Saturierteren“, denen es nur auf Einschüchterung angekommen war, nicht aber auf Veränderungen des machtpolitischen status quo. Aber auch diese Idee war trügerisch: Gerade wenn solche Einschüchterung „funktionierte“, war damit in aller Regel eine Verschiebung der Machtgewichte verbunden – dafür bedurfte es keiner gesonderten Abmachungen und Verträge. Die Geschichte des europäischen Staatensystems und seines Kolonialismus bietet zahlreiche Beispiele.124 Manchen Kolonien sah man das Parallelogramm der Kräfte, das zu ihrer Entstehung geführt hatte, geographisch geradezu an – man denke an die oft merkwürdig aussehenden europäischen, mehr noch nordamerikanischen Landkarten und Staaten mit ihren „künstlichen“ Grenzen; der „Caprivi-Zipfel“ in Afrika125 ist ein hübsches Beispiel. Zahlreiche Stammeskonflikte, die es in mancherlei Form bis heute gibt, gehen auf unsinnige einstmalige koloniale Grenzziehungen nach dem Prinzip dieses Parallelogramms der Kräfte zurück und sind bis heute ständige Quelle von Ungenügen, schlimmstenfalls Kriegen und Völkermorden. Schon die sog. „Völkerwanderungen“ in der Spätantike gingen mit solchen Veränderungsprozessen einher, die häufig in brutale Kriege umschlugen. Grenzen sind nicht gleich Grenzen, sondern spiegeln oft tiefgreifende Veränderungen, Mitteleuropa war voll von ihnen, und das führte mit dem erwachenden 122 Bei der großen Parade der Wehrmacht aus Anlaß von Hitlers 50. Geburtstag überflogen Flugzeuge der Luftwaffe immer wieder den Aufmarschplatz so daß die anwesenden Botschafter den Eindruck empfingen, Deutschland verfüge über eine riesige Luftwaffe. 123 Typisch die Berichte von François-Poncet zu den NS-Spektakeln. 124 Der angebliche „Tausch“ zwischen Sansibar und Helgoland war charakteristisch: Tatsächlich wurde nichts „getauscht“, sondern nur Einflusssphären neu definiert. 125 Zwischen Angola, Namibia, Zambia, Botswana.

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Staatsbewußtsein im 19. Jahrhundert zum Wunsch, solche Grenzen ein für alle Mal zu „fixieren“, was nebenbei gesagt meist nicht gelang. Wo dies nicht auf „natürliche“ Weise, etwa durch das Meer, Flüsse oder Gebirgszüge, möglich war, entstanden dynamische Grenzen, die in den Zeiten von Territorialgewinnen und -verlusten – meist nach Kriegen – die jeweiligen Machtverhältnisse spiegelten. Auch auf diesem Feld gab es gewaltige Unterschiede: Zum einen konnten Grenzen als bloße Grenzräume begriffen werden – „Militärgrenzen“ zählten oft dazu – zum anderen konnten Grenzen buchstäblich fest und starr wie Beton sein – Beispiele, auch aus jüngster Zeit in Deutschland, Israel oder den USA (Mexiko), erübrigen sich. Dann prallten die Machtprojektionen der Rivalen hart aufeinander, und oft hielten auch die „stärksten“ Grenzen diesem Ansturm nicht stand, wohingegen es in weitflächig gestalteten Grenzräumen flexibler zuging. Daß Staaten in ihrer territorialen Ausdehnung und Gestalt „auf immer“ unveränderbar sein sollen,126 spiegelt eine Entwicklung erst aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und hat sich auch nur sporadisch durchgesetzt. Der nämliche Prozeß läßt sich auf dem innergesellschaftlichen Feld finden: Werden die Gegensätze und Ungerechtigkeiten im sozialen Miteinander einer Gesellschaft zu groß, bauen sich unweigerlich Spannungen auf, die im äußersten Fall zu Bürgerkriegen oder Revolutionen führen – also mächtigen Veränderungen gegen den Willen derer, die nichts verändern wollen. Nicht von Ungefähr sprechen Historiker von der „Revolutionsreife“ bestimmter Epochen. Auch hier lässt sich eine Entwicklung beobachten, die darauf zielte, aus solchen inneren Spannungen keine weitreichenden Veränderungen entstehen zu lassen: die Staaten kamen überein, sich in die „inneren Angelegenheiten“ der anderen souveränen Staaten nicht einzumischen. Mit dem langsam wachsenden Bewusstsein von der Universalität der Menschenrechte wird dieses Prinzip zunehmend erschüttert und in Frage gestellt127 – eine weitere Quelle für Veränderungen aus einem Ungenügen heraus. Während also die eine Seite keine Veränderungen des status quo will, ist die andere gerade darauf aus, das generiert den Fortgang der Geschichte, die deswegen, sieht man nach außen, zum größten Teil Kriegsgeschichte ist, blickt man nach innen, die von „Klassenkämpfen“, wie es Karl Marx formulierte. Ungleichgewichtigkeiten generieren als solche Spannungen, die nur bis zu einem bestimmten Grad auf Dauer „ausgehalten“ werden. Ist die kritische Marke überschritten, kommt es zur Spannungslösung – meist eben durch Kriege oder Revolutionen. Da es diesen Zusammenhang schon immer gab und er den Verantwortlichen meist auch bewusst war – der „cauchemar des révolutions“ – gab es immer auch Bemühungen; die Überschreitung dieser Grenze zu verhindern: durch Reformen, die noch „rechtzeitig“ einzuleiten Staatskunst war. In diesem Fall blieben die Veränderungen gleichsam „kontrolliert“, aber Veränderungen gab es. Die Geschichte 126 Die „Unverletzlichkeit des Territoriums“ ist beispielsweise ein Grundsatz des NATOBündnisses. 127 Die „Nichteinmischung“ der Staaten in die deutsche Judenverfolgung vor dem Zweiten Weltkrieg ist das bekannteste Beispiel – es löste die Zweifel am Prinzip selbst aus.

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der römischen Revolution seit den Gracchen ist ein Musterbeispiel und fasziniert bis heute. Die Ungleichgewichtigkeiten werden manchmal auch in Form eines „Gefälles“ gesehen; in Europa und Deutschland war oft die Rede von einem West-Ost oder einem Nord-Süd-Gefälle. Beide Gefälle umschrieben den Umstand, daß es in einigen Teilen Europas besser zuging als in anderen, und die Versicherung von Politikern, man wolle diese Gefälle „ausgleichen“, gehörte und gehört zur Staatsräson der Europäischen Union. Die Vorstellung vom „Gefälle“ gilt bis in Kleinigkeiten hinein, wenn die allgemeine Meinung davon ausgeht, daß es ein Gefälle in der Versorgung der Bevölkerung mit KiTa-Plätzen gibt: Entgegen dem allgemeinen Trend dreht sich hier die Vorstellung vom West-Ostgefälle übrigens um: die KiTa-Versorgung im Osten Deutschland ist besser als die im Westen. Je mehr Nachbarn es mit unterschiedlichem Status gibt, desto komplexer und gefährlicher erscheint das daraus entstehende Beziehungsgeflecht – bis es oft undurchschaubar wird: ein Zustand, wie er oft für die Periode der „Kriegsreife“ vor 1914 behauptet worden ist, will man nach den Kindergärten das Staatengeflecht bemühen. Hier sind alle Ingredienzien beisammen: Geht man der Einfachheit halber davon aus, daß es „saturierte“ und nicht saturierte Staaten gab (Deutschland und England, die im 19. Jahrhundert Siege eingefahren hatten auf der einen, Russland und Frankreich, aber auch die Balkanstaaten, die Niederlagen erlitten hatten, auf der anderen), wird verständlich, daß und wie Spannungen entstehen mussten – politische Beobachter sprachen von der „aufgeladenen Atmosphäre“, Reichskanzler Fürst von Bülow von der „dunklen Wolke über der Nordsee“ – und meinte keineswegs das Wetter –, so daß vor allem in den saturierten Staaten 1914 der Eindruck entstehen konnte, man sei unversehens und contre cœur in den Krieg „hineingeschlittert“. „Schlittern“ umschreibt Bewegung und Veränderung: unfreiwillige in diesem Fall. Dabei kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob dies richtig oder falsch war (und ist, siehe unten), sondern auf das Prinzip der Veränderung schlechthin: Obwohl einige Staaten und deren Gesellschaften keine Veränderungen wollten, wurden diese ihnen von jenen, die sie wollten, gewaltsam aufgenötigt, wie Deutschland die parlamentarische Republik, und da das von jenen, die das nicht gewollt hatten, als negativ, als Nötigung empfunden wurde, entstand bei ihnen der Wunsch nach erneuter Veränderung – und sei es in einer „Rolle rückwärts“, etwa in die Zeit von vor 1914, wie das im deutschen Revisionismus und Monarchismus nach 1918128 der Fall sein sollte. Der Staat und Teile seines Volks fühlten sich nach 1918 außer Balance gebracht, vom Sonnenplatz verdrängt, und suchten das wieder zu korrigieren: Das war der giftige Bodensatz der Gesellschaft, aus dem der Nationalsozialismus und seine Dystopien129 sprießen konnten.

128 Salewski, Michael, Das Weimarer Revisionssyndrom, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bd. 30, Heft 2, 1980, 14–25. 129 Kroll, Frank-Lothar, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998.

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Insgesamt gesehen können auch eine erreichte „Zufriedenheit“, ein begrüßter status quo nicht gegen Veränderungen gefeit machen – wenigstens solange diese nicht „flächendeckend“, sondern Teil eines Geflechts unterschiedlicher Zustände sind. Von daher wird es verständlich, daß gerade jene Staaten und Gesellschaften, denen es gut geht, eine Art „Weltherrschaft“ propagieren: Nicht aus „imperialistischen“ Gründen, (die gibt es von Fall zu Fall natürlich auch) sondern aus der Überlegung heraus, daß auf diese Weise die Konfliktstoffe, die Reibungen an den Grenzen überwunden werden, so daß ein allgemeiner Zustand der Ruhe eintreten könnte; das Römerreich hat das in der nachaugusteischen Zeit (fast) geschafft, die US-Amerikaner in erster Linie schufen 1919 den Völkerbund und 1945 die UNO (und schafften es nicht). In der Völkerbundsatzung sowie in der Charta der Vereinten Nationen ist mit keinem Wort die Rede von „Weltherrschaft“. (Es sei denn die des Rechts). Schon die Propagierung des „Freihandels“ durch England im 17./18. Jahrhundert ließe sich als eine Vorstufe dieses Wunsches interpretieren. Solchen Ideen hing der Fabianer H.G. Wells nach, der vom Ideal einer „Weltregierung“ als Voraussetzung für den Weltfrieden träumte.130 Das färbte bis in die Politik ab, wenn sich „Weltmächte“ als Zwischenstufe hin zu einer „Weltregierung“ begriffen.131 Der Nationalsozialismus und der sowjetische Kommunismus waren die bisher letzten (pervertierten) Versuche dazu. Selbst die globale Entwicklungshilfe gehorcht diesem Mechanismus, der immer dann ganz deutlich wird, wenn armen Völkern geholfen werden soll, damit sie nicht auf die Idee verfallen, ihr elendes Land zu verlassen und Europa zu „stürmen“ – Süditalien und Spanien können ein Lied davon singen; an die 2000 „Bootsflüchtlinge“ in Lampedusa allein zu Weihnachten 2008 führten eine beredte Sprache und ließen einen „Kollaps“ befürchten.132 Der Drang, verändernde Gegensätze gleichsam „aufzusaugen“ und damit unschädlich zu machen, bestimmte (und bestimmt) auch Teile der weltweiten Wirtschaftspolitik, wenn sich nationale Firmen zu internationalen Konzernen, diese zu gewaltigen Wirtschaftsimperien zusammenschließen; der moderne Begriff „Globalisierung“ oder die Formierung von „NGO“s („Non Governmental Organizations“) machen das deutlich. Nicht mehr Konkurrenz sorgt dann für Bewegung und Veränderung: man ruht selbstbewußt und -zufrieden in sich selbst. Manchmal spielt und spekuliert eine politisch und ökonomisch einflussreiche Kaste aus Größenwahn, Dummheit, Gier, Langeweile weltweites Monopoly. Sie tut es, weil sie zutiefst davon überzeugt bleibt, daß sich im Grund nie mehr etwas verändern wird, so daß das System, in dem man sich befindet, als stabil und resistent begriffen werden kann.133 Gerade deswegen glaubt man es sich leisten zu können, im 130 Wells, Herbert Georges, The Common Sense of World Peace, London 1929 (mit Virginia Woolf). 131 Neitzel, Sönke, Weltmacht oder Untergang. Die Weltreichslehre im Zeitalter des Imperialismus, Paderborn 2000. 132 Die Presse, 29. 12.2008. 133 Paradigmatisch das Verhalten von GM, Ford, Chrysler in der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008: die schärfsten Konkurrenten taten sich zusammen und flüchteten gemeinsam unter den finanziellen Schirm des Staates.

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„Spiel“ bis an die Grenzen der Belastbarkeit von beiden gehen zu können ohne wirklich befürchten zu müssen, daß diese Grenzen brechen134. Reichtum wird zur Schau getragen, Skrupellosigkeit als Tugend ausgegeben. Genau dies würde vermeiden, wer unsicher wäre und der Stabilität des Systems nicht traute. Das Bemühen, die Geschichte stillzustellen, weil alles gut war, führte in solchen anscheinend solide beharrenden Staaten und Gesellschaften nicht nur zu großem konservativem Beharrungsvermögen, sondern dazu, daß die als gut begriffenen Zustände es immer weniger wurden, weil außerhalb dieses Staates und seiner Gesellschaft andere Fortschritte erzielten, die im schlimmsten Fall die eigenen hohen Standards veralten ließen und entwerteten. Typisch die Spätzeit Friedrichs des Großen: Nach dem Siebenjährigen Krieg befand sich Preußen auf dem Höhepunkt seiner politischen Macht und Größe, hatte es sich doch den anderen großen Mächten gegenüber behauptet. Ranke sollte daraus die gängige zeitgenössische Definition für eine große Macht ableiten. Zwar sahen alle anderen Parameter katastrophal aus, denn wenn der König gesiegt hatte, dann in der Manier des Pyrrhus, aber das trat nicht ins Bewußtsein der Adelsgesellschaft, die sich im Glanz der Krone sonnte und die außenpolitische und gesellschaftliche Macht genoß. Indem der König das in einer langen Friedenszeit zu bewahren suchte, glitten ihm die Mittel aus der Hand, mit denen er diese Größe einst erreicht hatte; die Katastrophe kam 1806, als das ausgehöhlte Gebilde am 14. Oktober dieses Jahres schlagartig zusammenbrach, ein Tag reichte. Napoleon hat es auf das unvergeßliche Bonmot von den Lorbeeren Friedrichs des Großen gebracht, auf denen die Preußen eingeschlafen seien. Dabei hatte Friedrich II. durchaus erkannt, daß es auch in der Friedenszeit energischer Reformen bedurfte,135 um die Magazine und die Kriegskasse zu füllen136; er leitete sie ein, aber er konnte sie nicht so radikal umsetzen, wie es nötig gewesen wäre, denn äußerlich gesehen schien alles so gut wie eh und je, das Bedürfnis nach Reformen war bei den Großen zu klein. Die hartnäckige Reformunwilligkeit der beiden ersten Stände im Frankreich Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. wird als eine maßgebliche Ursache der Großen Französischen Revolution begriffen, und schon der Freiherr vom Stein wollte in reformunwilligen Fürsten die „wahren Jakobiner“137 sehen. Wer gegen Veränderungen war, weil er es gerade so, wie es war, als optimal empfand, suchte sich vor Einflüssen von außen zu schützen. Das war die Politik der Chinesischen Mauer, des römischen Limes, der weiten Blockade, der „natürlichen Grenzen“, wenn diese als unüberwindbar galten, wie lange Zeit der Rhein. Die Franzosen propagierten seit den Tagen der Revolution den Rhein als „natürli134 Die „Rettung“ großer Banken wie der HRE oder der Citigroup wurde regelmäßig damit begründet, daß diese Banken „systemisch“ seien – was im Klartext bedeutet: am System soll nicht gerüttelt werden. 135 Hubatsch, Walther, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung, Köln ²1982. 136 Das war bekanntlich die Quintessenz des 2. Politischen Testaments Friedrichs des Großen. 137 So in dem Schreiben Steins an den Großherzoglichensächsischen Staatsminister von Gersdorff vom 10. 12. 1817.

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che Grenze“ ihres Landes.138 Von den Staatsmännern und zunehmend der Bevölkerung der nichtfranzösischen Staaten und Territorien westlich des Rheins wurde das als potentielle Aggression begriffen; in Wahrheit drückte sich darin der Wunsch aller Friedliebenden in Frankreich aus, eine „sichere“, eine „unüberwindbare“ Grenze zu gewinnen – also das genaue Gegenteil. Noch der Bau der Maginotlinie war der verzweifelte Protest des „siegreichen“ Frankreich gegen die ihm 1919 verweigerte Rheingrenze. Im späten 19. Jahrhundert wurde die „splendid isolation“ Englands Gemeinplatz. Wir wissen längst, daß diese niemals „splendid“ gewesen ist. Allein der Umstand, daß der britische Außenminister Robert Arthur Salisbury, der das zuerst behauptete, in der „Isolation“ Englands durch die See für England etwas Gutes sah, wies den Begriff der „Isolation“ als Gegenbegriff zu dem der „Veränderung“ aus. Die Idee, sich abkapseln zu müssen oder zu sollen, war eigentlich zutiefst unbritisch, weil gegen das maritime Denken gerichtet; in den kritischen Jahrzehnten vor 1914 schien die „splendid isolation“ dennoch das kleinere Übel zu sein, oft mit dem Empfinden verbunden, sich nicht nur gegen eine missgünstige oder sogar feindliche Außenwelt behaupten zu müssen, sondern Ausdruck des Empfindens, daß alles so bleiben sollte, wie es war. Noch heute ist in England populär, wer alte Zöpfe pflegt und nicht abschneidet; „Who goes home?“ verweist auf uralte Zeiten und wirkt im Zeichen des modernen Terrorismus doch gespenstisch aktuell – so als käme Guy Fawkes zurück. In dem Maße, in dem die äußere Bedrohung wächst, werden die inneren Verhältnisse als besser oder als gut empfunden. Dann werden die „Errungenschaften der Revolution“ vehement, oft blutig verteidigt, sie dürfen nicht geändert werden. Der leidenschaftlichste Gegner des Kriegs wandelt sich zum glühenden Kriegsbefürworter: Um die „Errungenschaften der Revolution“ zu verteidigen, war Maximilien Robespierre bereit, alle seine Prinzipien über Bord zu geben. Ähnliches drückte sich auch in der Idee des „Burgfriedens“ von 1914 aus: Die innere Zerrissenheit des Reiches, die nach Veränderungen geradezu schrie (Dreiklassenwahlrecht in Preußen) wurde durch das vor allem durch Hindenburg propagierte139 Ideal des in einheitlichem Willen kämpfenden Volkes übertüncht und die Parole ausgegeben, daß man alles verteidige, was einem heilig, lieb und teuer sei; der Kaiser brachte es auf die Formel: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Die bewusste Bewahrung des früher als ungenügend empfundenen status quo im Inneren wurde nun als Wert gesehen, an dem während des Krieges nicht gerüttelt werden sollte, und das funktionierte fast vier Jahre lang. Entwicklungen und Veränderungen, die nicht unmittelbar positiv auf die Kriegführung wirken konnten, galten als unangebracht, manchmal landesverräterisch. Das Empfinden oder Wissen darum, daß man etwas „besser“ machen könnte oder sollte dürfte einer der Hauptantriebsmotoren der Geschichte sein. Der Wille 138 Stollwerk, Dieter, Das Problem der Rheingrenze unter besonderer Berücksichtigung Ludwig XIV., Phil. Diss. München 1972. Wein, Franziska, Deutschlands Strom-Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930, Essen 1992. 139 Pyta, Wolfram, Hindenburg, Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2009.

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zu Veränderungen ist im Allgemeinen umso ausgeprägter, je schlechter es zugeht – im Staat, in der Gesellschaft, aber auch beim Einzelnen. Das zeigt sich bereits rein äußerlich in dem Umstand, daß die Meistererzählungen von dramatischen Veränderungen einer Art Zeitdilatation unterliegen, indem jene meist wenigen Jahre, in denen das Ungenügen zur Aktion führte oder zwang, ausführlicher beschrieben werden als Epochen, in denen angeblich „nichts geschah“. Wenn aber Geschichte hauptsächlich aus dem Ungenügen entsteht, wird man sie insgesamt eher als Tragödie ansehen müssen, denn bisher haben die Kämpfe gegen das Ungenügen im besten Fall immer nur zu erfreulichen Zwischenergebnissen geführt. Im großen Ganzen aber gebiert ein Ungenügen das nächste und oft gerade aus der vermeintlichen Überwindung dieses Ungenügens heraus. Eine „glückliche“ Geschichte ist langweilig, dramatisch ist die andere. 4. NATUR UND GUT Man kann die Räson gewaltsamer Veränderungen begreifen – aber warum gibt es Veränderungen auch dann, wenn diese nicht von außen angestoßen werden? Darüber hat sich schon Leopold von Ranke den Kopf zerbrochen. Mit der allgemeinen Staatslehre, irgendwelchen Evolutionstheorien und der Geschichtsphilosophie kommt man hier nicht weiter, man muß das Augenmerk auf andere Dinge und Disziplinen richten. Zu ihnen gehören die Biologie, die Psychologie aber auch Naturerscheinungen wie der Klimawandel, Katastrophen, wie das Lissabonner Erdbeben von 1755140 oder das von San Francisco 1906141, die enorm viel verändert haben. Wenn das, was ist, durch Naturgewalten so vollständig verschlungen wird, daß aus einer einst blühenden Geschichte nur noch Natur wird, hat das die Menschen seit Platons Zeiten fasziniert, „Atlantis“ ist das bekannteste Beispiel; in Deutschland spielten neben Vineta der Untergang von „Rungholt“ 1362 und die „grote Manndränke“ von 1634 eine ähnliche Rolle. Heute kämpfen die Menschen um Sylt, das unterzugehen droht, so wie es einige pazifische Inseln schon erlebt haben.142. Historische Veränderungen können also auch geographischen Ursprungs sein – wie an der Westküste Schleswig-Holsteins und Dänemarks; plötzlich können neue Inseln „auftauchen“ oder blühende Städte unter Lavamassen verschwinden, Pompeji und Herkulaneum sind die bekanntesten Beispiele; Untergang von Städten und Dörfern in Schlammlawinen gibt es immer wieder. Deren Geschichte ist gleichsam totgeschlagen. Vulkanausbrüche, Tsunamis, Hurrikans, Erdbeben bewirken und erzwingen Veränderungen, die die betroffenen Menschen oft „rückgängig“ machen wollen, 140 Aus der großen Literaturfülle dazu: Günther, Horst, Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa, Frankfurt/M. 2005. 141 Lauer, Gerhard/Unger, Thorsten (Hg.), Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008. Smith, Philip (Regie), The Big One - Das große Beben von San Francisco, USA/POL 2006. 142 Der natürliche Untergang Japans wurde von der Science-Fiction bereits behandelt.

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weil vorher alles gut war. Das heißt, die notwendigen Veränderungen nach solchen Ereignissen sind eigentlich das genaue Gegenteil: Es soll sich nichts verändert haben! Auch Kriege werden von den betroffenen Menschen oft als „Naturereignisse“ begriffen, die ähnlich wie verheerende Fluten, Flammen und Stürme143 über das Land ziehen. Der „Sturm aus dem Osten“, gemeint sind Hunnen, Mongolen und „Bolschewisten“, wurde von den Europäern real oder virtuell als traumatisch erfahren und veränderte mindestens die Hälfte Europas nachhaltig. Das wirkte in Deutschland bis nach den Zweiten Weltkrieg. Am Ende solcher Ereignisse wird das Bedürfnis wach, alles wieder gleichsam „auf Null“ zu stellen, was man sogar in Russland beobachten konnte, als jene staatlichen Strukturen wiedererstanden, die im Mongolensturm oder nach der Oktoberrevolution von 1917 anscheinend untergegangen waren. Daß das grundsätzlich problematisch ist, hat der Wiederaufbau der deutschen Städte nach 1945 ebenso bewiesen wie die Diskussion um die Folgen des 11. Septembers 2001, als sofort die Frage auftauchte, ob die Twintowers nicht wiederaufgebaut werden müssten. Auch die „Renaturierung“ von Bergbauregionen, die Wiederherstellung von „Naturlandschaften“ in Form von „Naturschutzgebieten“ (oder des Bikini-Atolls) gehören ebenso wie unzählige „Museumsdörfer“, wiederhergestellte Judenfriedhöfe oder Römerstraßen in dieses Muster.144 Auch Botanik und Zoologie sind nicht frei davon, wenn alte Getreidesorten wie Dinkel wieder angebaut, Wölfe, Adler, Bisons usw. wieder in die freie Wildbahn ausgesetzt bzw. „rückgezüchtet“ werden, und wer sehnte sich nicht nach „alten“ Tomaten- und Apfelsorten! In Pompeji wie im Palast von Knossos, der aus Steinen und Phantasie rekonstruiert worden ist, in den wiederaufgebauten vor- und frühgeschichtlichen Pfahlbauten im Bodensee könnte man zur Not wieder leben. Manche Yuppies finden es schick, in restaurierten alten Windmühlen oder Fabriken hoch „designed“ zu wohnen, ein Ex-Manager in einer italienischen Burg aus dem Mittelalter – mit Zugbrücke und Schießscharten. Sucht man nach dem größten Nenner aller denkbaren „natürlichen“ Veränderungen mit ihren Ausstrahlungen und Folgen auf die menschliche Geschichte, landet man zwangsläufig in der Erdgeschichte und der Astronomie. Die Erde insgesamt verändert sich ständig – einmal schneller, einmal langsamer; zur Zeit offensichtlich schneller. Der Blick zurück, beliebtes Thema der Medien, denen es die Dinosaurier angetan haben, beweist schlagend, daß es ständig fundamentale Veränderungen im globalen Rahmen gegeben hat. Diese wirkten entsprechend zunächst auf Botanik und Zoologie ein, am Ende auch auf die Menschen, 145 Darwins Evolutionstheorie war die natürliche Folge. Es bedarf keiner Begründung, daß der Blick nach rückwärts, aber auch nach vorwärtsgerichtet werden kann, und da zeigt sich, daß es utopisch wäre anzunehmen, daß diese Millionen Jahre währenden Veränderungen irgendwann und irgendwie einmal zum Stillstand kommen könnten – völlig unabhängig, was Menschen mit ihrem Klima anstellen können oder nicht. Die Astronomie ist inzwi143 Typisch Theodor Fontanes Roman Der Sturm. 144 Küster, Hansjörg, Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft, München 2009. 145 Stapledon, Olav, Last and First Men.

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schen, gepaart mit der Weltraumforschung, so weit fortgeschritten, daß wir ziemlich genau auf das zukünftige Schicksal dieses Planeten schließen können – ein Blick zum Mars genügt: Dort, so heißt es, hätten vor langer Zeit Wasser und Luft existiert und damit die Grundbedingungen für Leben, und so wie der Mars heute, werde die Erde in wie vielen Jahrmillionen und -milliarden aussehen. Nun ließe sich sofort einwenden, daß die „Geschichte“ gerade des Mars zeige, daß Veränderungen zum Stillstand kommen könnten, denn heute wirkt er tot und starr, 146 aber auch das stimmt nicht, denn denkt man nur genügend nach vorne, wird auch der Mars irgendwann einmal von Menschen betreten und von der Sonne verschlungen, und im Vorfeld dieses kosmischen Ereignisses wird es auch auf dem „toten“ Mars gewaltige Veränderungen geben. Da der Mars nur pars pro toto steht, ergibt sich daraus, daß es Dauerhaftes und „Unvergängliches“ in der Geschichte niemals gibt. Der Kosmos selbst verändert sich ständig, wird größer und größer – oder kleiner und kleiner; die hilflose These vom „Urknall“ macht nur Sinn, wenn man weiß, warum der Himmel nachts dunkel ist, und daß sich die Welt wieder in ihren Embryo zurückzieht, wurde spätestens seit Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ Gemeinplatz. Es kommt also lediglich darauf an, jene Veränderungen zu erfassen und zu interpretieren, die in kosmisch gesehen sehr kurzer Zeit ablaufen, wobei die Abfolge von Lebenszeiten der Generationen als eine Art Maßstab gelten kann. Das lässt sich bequem an verschiedenen Beispielen demonstrieren, hier soll es um das Phänomen des Städtebaus gehen. Es gab grundsätzlich zwei „Philosophien“: Die eine zielte auf die Restauration, die andere auf die – um es plakativ zu sagen – „autogerechte Stadt“, wie sie Le Corbusier bereits in den zwanziger Jahren „angedacht“ und Hans Bernhard Reichow 1959 gefordert hatte.147 Hinter der Ersteren stand der Wunsch, die gewaltsamen Veränderungen, die der Krieg bewirkt hatte, möglichst ungeschehen und ungesehen zu machen, hinter Letzterer die Überzeugung, daß der Fortgang der Geschichte unaufhaltsam sei und man die Chance nutzen müsse, diesen Fortschritten – buchstäblich – den Weg zu bahnen.148 Natürlich gab es auch Mischformen. Während Warschau und Danzig wie die Frauenkirche zu Dresden reine Repliken wurden, versuchte man es in Berlin, Lübeck oder Münster mit der Idee des potemkinschen Dorfes, indem nur die Fassaden auf alt getrimmt wurden, dahinter aber moderne Gebäude entstanden, wie das „Alte Rathaus“ zu Potsdam, das innen ganz neu ist; die zur Zeit bekanntesten Beispiele dürften der Reichstag sein und demnächst das Berliner Stadtschloß. Und es gab vollkommen „neue“ Städte, die nur zufällig da lagen, wo einst die alten gestanden hatten: In Europa dürfte „Kaliningrad“ das bekannteste Beispiel sein, und „Truva“ hat mit welchem „Troja“ nichts zu tun. Aber man kann auch einige deutsche Innenstädte dazuzählen, Pforzheim, Kiel beispielsweise, das als erste deutsche Stadt eine „Fußgängerzone“ 146 Die hartnäckige Suche nach einstigem „Leben“ auf dem Mars ist immer auf die Erde rückbezogen. 147 Reichow, Hans-Bernhard, Die autogerechte Stadt – Ein Weg aus dem Verkehrschaos, Ravensburg 1959. 148 Typisch der gegenwärtige Werbeslogan: „Wir machen die Bahn frei“.

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schuf, also das Gegenteil der Vorstellung von der „autogerechten“ Stadt. Fußgängerzonen greifen mentalitätsmäßig auf die Zeit vor dem Automobil zurück, gleichzeitig gelten sie als Inbegriff urbanen „Fortschritts“; manchmal wird versucht, diese Spannung aufzuheben, indem sie zu „Spielstraßen“ deklariert werden, in denen sich auch Autos bewegen dürfen: so langsam oder schnell wie Fußgänger! In Wirklichkeit unterliegen die Vertreter der Idee von Fußgängerzonen dem Irrtum, früher habe es sie doch auch gegeben. Das Gegenteil war meist der Fall:149 Selbst durch die engsten Gässchen sausten Kutschen, Wagen, trabten Pferde aller Art mit oft unerträglichem Lärm und Gestank, und Fußgänger sprangen besser zur Seite, wenn dieser Verkehr durch die Gassen preschte.150 Was die Twintowers betrifft, so zog sich der architektonische Streit um ihre Rekonstruktion, die aus moralischen Gründen unvermeidlich war, über Jahre hin. Das Ergebnis wird zwar auf der einen Seite eine Rekonstruktion als Mahnmal sein, auf der anderen ein „Fortschritt“, indem der Neubau alle Fehler vermeiden soll, die den alten Zwillingstürmen anhafteten, und darüber hinaus wird der neue „Twintower“ (der es eben nicht ist) selbst zum Symbol der Freiheit und des unaufhaltsamen Fortschritts. Sieht man von solchen erzwungenen „Veränderungen“ ab, die nicht durch den Kollektivwillen derer bestimmt werden, die sie vornehmen, so bleibt die Frage bestehen, warum sich etwas verändert, obwohl niemand etwas verändern will, und keinerlei Nötigung zur Veränderung besteht, komme diese von außen oder innen. Noch einmal: Man gehe davon aus, daß es keine natürlichen, religiösen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder welche Zwänge auch immer zur Veränderung gibt: alles ist gut. Die Menschen leben gleichsam auf einer „Insel der Seligen“, hier schwingt die Idee der „Splendid isolation“ wieder mit. Diese Insel liegt nicht wie ein Fort im feindlichen Indianerland, oder ein Luxusdampfer in stürmischer und piratenverseuchter See, sondern sie wird von einer harmlosen, ungefährlichen, paradiesischen Außenwelt umspült. Sie wird weder von anderen Menschen noch von der Natur bedroht. Die Insel selbst ist reich und besitzt alles, was für das glückliche Leben nötig ist, im Idealfall ist sie autark. Tatsächlich war „Autarkie“ zeitweise für einige Staaten ein Ideal; in der Idee des „Generationenschiffs“ lebt sie in der Science-Fiction fort.151 Wir haben es hier mit utopischen Plots zu tun,152 wie sie spätestens seit Thomas Morus, Tommaso Campanella und Francis Bacon im Schwange waren; auch die Idee von „Eldorado“ spielte eine Rolle. Solche Inseln gehen dann zugrunde, wenn das Böse von außen einbricht, es erübrigt sich, auf die sattsam bekannten Beispiele erneut einzugehen. Die Faszina149 Auch das Bild vom „schmutzigen“ Mittelalter beginnt sich offensichtlich zu wandeln; Fossier, Robert, Das Leben im Mittelalter, München 2009. 150 Terroine, A., Un bourgeais parisien du XIII siècle Geoffrey de Saint-Laurent,1245?–1290, 1992. 151 McCaffrey, Anne/Moon, Elizabeth, Das Generationenschiff, in: Die Planetenpiraten, München 2001; Steinmüller, Angela und Karl-Heinz, Pulaster. Roman eins Planeten, 3. Aufl., Berlin 1990. 152 Saage, Richard, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991; Seibt, Ferdinand, Utopica. Zukunftsvisionen aus der Gegenwart, München 2001.

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tion, die bis heute von der Meuterei auf der „H.M.S. Bounty“ (1789) ausgeht, beruht darauf, daß es eine solche paradiesische Insel tatsächlich gegeben haben soll: Pitcairn. Aber gerade die Geschichte dieses Beispiels zeigt, daß selbst dieses nicht der Boden des Glücks ist. Was aber geschieht, wenn es den Einbruch von außen eben nicht gibt? Wenn die Menschen auf der Insel – „Insel“ ist hier metaphorisch gemeint – einfach glücklich und zufrieden sind und nichts Veränderungswürdiges finden? Hegel entwickelte die Theorie, daß in derartigen Gesellschaften die Geschichte stillgestellt, eben „statarisch“ ist, und noch heute gibt es die These, daß es solche „statarischen“ Gesellschaften nicht nur tatsächlich gegeben hat, sondern einige von ihnen bis heute existieren – in Form von urtümlichen Kloster- oder Glaubensgemeinschaften (etwa der Hutterer), im Urwald des Amazonasgebietes, oder irgendwo im finstersten Afrika. Auch Phantasie oder Wirklichkeit des „Yeti“ gehorchen diesem Muster en miniature, denn daß es den überhaupt geben soll, „funktioniert“ nur dann, wenn man annimmt, er habe sich wie das Ungeheuer von Loch Ness nie verändert.153 Solchen Gesellschaften wird unterstellt, daß sie keine Geschichte haben, weil sich bei ihnen nie etwas verändert – selbst wenn sich Bewohner solcher Habitate für die Geschichte zuständig fühlen, wie beispielsweise Annalisten und Chronisten in Klöstern. Die Völkerkunde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lebte von dieser Vorstellung und glaubte – wie bis heute in Dahlem154 und anderswo zu besichtigen – zeigen zu können, daß Gesellschaften, die noch immer mit Pfeil und Bogen jagten, gegenwärtige Abbilder einer fernen Steinzeitkultur seien, die es gleichsam via Teleportation in die Gegenwart verschlagen hat. Sie hätten sich eben nie verändert. Diesen Gesellschaften wurde jede Entwicklung nicht nur abgesprochen; es konnte ernsthaft darüber diskutiert werden, ob sie tatsächlich menschliche Gemeinschaften waren155, oft wurden die Aborigines Australiens 156 als Beispiele bemüht, und es hat bis in die letzten Jahre (2007) gedauert, bis sich der australische Staat für die Folgen solchen Denkens bei ihnen entschuldigt hat. Auch die sogenannte „Hottentottenvenus“, Sarah Bartmann, wurde erst jüngst wieder Mensch und feierlich begraben157; sie hatte als eine interessante „Mischung“ aus Mensch und einer Art „Untermensch“ gegolten; sie war „wissenschaftlich“ von Georges Cuvier seziert, ihr Abguß im Museum ausgestellt worden. Wenn es nicht irgendwelche „Verhältnisse“ sind, die zur Veränderung drängen, bleiben nur noch einzelne Individuen übrig, die das bewirken können. Nicht die Masse verändert, es sind die Einzelnen. Selbst Kollektive bestehen nur aus Einzelnen mit je eigenem Willen, der zwar auf ein nämliches Ziel gerichtet ist – ein Fußballtor beispielsweise, einen Taufstein – aber jeder Fußballspieler und je153 Messner, Reinhold, Yeti – Legende und Wirklichkeit, Frankfurt 1998. 154 Ethnologisches Museum; früher: Völkerkundemuseum. 155 Darüber hat schon Georg Forster nachgedacht: Van Hoorn, Tanja, Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts (Hallische Beiträge zur Europäischen Aufklärung 23), Tübingen 2004. 156 Leitner, Gerhard, Die Aborigines Australiens, München 2006. 157 Salewski, Michael, Revolution der Frauen. Konstrukt, Sex, Wirklichkeit, Stuttgart 2009.

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der Täufer wird innerhalb des gegebenen Referenzrahmes nach seinen ureigensten Mitteln und Methoden dieses Ziel zu erreichen suchen – den Ball im Tor, den „Heiden“ in der Taufe. Diese Bewegungskräfte aber sind menschlicher Natur und nicht „historischer“ oder nur insoweit, als historische Erfahrungen auf das Denken und Handeln des Individuums einwirken können, wobei wir nicht wissen, wie dieser Prozeß in Hirn, Herz und Seele des Menschen abläuft. Wir sehen nur das Ergebnis – etwa der „Hand Gottes“158 oder einer „Gewissensprüfung“.159 Damit ist man von der Ebene der Geschichte auf die der Religion, Anthropologie, der Psychologie, der Biologie gerutscht, die es tatsächlich oft auch in der Kombination mit dem Wort „historisch“ gibt. Aber es gibt noch ein anderes, viel eindrücklicheres Beispiel, das uns unmittelbar bis heute betrifft und die Frage einschließt, wie Menschen nach ihrem Tod weiter verändern können: Es sind die Frauen und Männer des Widerstands gegen Hitler. 1944 gescheitert, erlebten sie nach 1945 einen beispiellosen Triumph, indem sie das deutsche Volk und seine Verfassung fundamental veränderten. Die Bundesrepublik wäre niemals so aufgebaut worden, wie es 1949 er Fall war, ohne die ständige Einwirkung der Widerständler, wobei es natürlich auch unter diesen Unterschiede gab: Goerdeler und Stauffenberg beispielsweise bewirkten mehr als Harro Schulze-Boysen.160 Aber auch manchen Naturwissenschaftlern wurde diese Eigenschaft zugesprochen, so Albert Einstein, der es nicht nur zu einem Forum in Potsdam brachte, sondern gleich das Wissen um den gesamten Kosmos mit seiner Physik fundamental veränderte. Die nationalsozialistische Politik suchte das mit der Propagierung der „Deutschen Physik“ zu kompensieren und machte sich damit schon zeitgenössisch lächerlich. In abgeschwächter Form galt das auch für lange Epochen, die sich bis heute in den Strukturen von Straßen- und Schulnamen zeigen, manchmal ganze Viertel bestimmen und insgesamt ein getreues Abbild des herrschenden historischen Selbstverständnisses sind. Aus Adolf Hitler-Straßen wurden solche für Adenauer, und manchmal verraten bereits Breite und Lage von Straßen mit historischen Namen die Intentionen der Namensgeber von einst. Die „Stalinallee“ in Berlin ist ein typisches Beispiel. An „Bismarck-Straßen“ ließe es sich leicht demonstrieren, und es steht zu vermuten, daß es in Niedersachsen oder Bayern prozentual weniger davon gibt als in Brandenburg oder MecklenburgVorpommern. Alle Menschen sind nicht gleich. Während jedes Kollektiv nach den größten gemeinsamen Nennern sucht – etwa eine Nation, eine Partei, eine Kirche – zeichnet sich das abendländische Menschenbild seit der Neuzeit dadurch aus, daß es sich jeder Kollektivierung zu entziehen sucht, obwohl es in schier unendlich vielen Kollektiven lebt. Auch die Vorstellung, ein einzelner Mensch sei nur ein „winziges Rädchen im Weltengetriebe“, ist Derivat der aufklärerischen Vorstel158 Maradonnas „Hand Gottes“ ist sprichwörtlich geworden, dabei wollte er nur ein Tor schießen. 159 Wie liefen die Prozesse ab, die zum „Verrat“ von vier hessischen Landtagsabgeordneten an ihrer Vorsitzenden im November 2008 führten? 160 Erst 2009 bequemte sich die Stadt Kiel, eine Straße nach ihm zu benennen.

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lung vom „l’homme machine“ in der großen Konstruktion der „machina“, deren Motor Gott ist. Wird hier das Winzige, Kleine, Unbedeutende angenommen, das Austauschbare, so geht die gegenteilige Vorstellung davon aus, daß einzelne Menschen dieses Getriebe so ölen, so in Gang setzen, so zum Stillstand bringen oder außer Kontrolle geraten lassen können, daß sie damit zu wahren Weltenschöpfern oder -vernichtern werden – und damit ist man bei einer der ältesten Geschichtsinterpretationen überhaupt angelangt; Heinrich von Treitschke brachte es in seiner „Deutschen Geschichte“ auf den plakativen Satz: „Männer machen die Geschichte“.161 Selten ist ein Historiker ob eines solchen Satzes (zu Unrecht) mehr geschmäht worden, und die moderne Struktur-, Gesellschafts- und Gendergeschichte basiert auf dem glatten Gegenteil dieser Behauptung. Die kollektive Verdrängung des „großen“, die Welt verändernden Individuums aus dem historischen Gedächtnis ist ein Phänomen sui generis der Wissenschaftsgeschichte. Die allgemeine Meinung von heute geht wie selbstverständlich davon aus, daß es in den „Niederungen“ der Politik wie der Wirtschaft eigentlich niemals „große“ Männer (geschweige denn Frauen) und „Heroen“ gegeben hat, und viele Historiker haben große Schwierigkeiten, wenn sie von „Karl dem Großen“162 oder „Friedrich dem Großen“163 reden sollen. In der Biographik ist es ein moderner Trend, nicht mehr einen „Helden“ beschreiben zu wollen, sondern eher ein Monster, bestenfalls einen „Menschen in seinem Widerspruch“.164 Demgegenüber fällt auf, daß von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen („Albert der Große“) Künstler, Kulturschaffende und Wissenschaftler nie mit dem Epitheton „groß“ versehen wurden. Dabei ließen sich ein „Bach der Große“, ein „Mann der Große“, oder ein „Mommsen der Große“ durchaus vorstellen, denn es gibt auch unter Künstlern und Wissenschaftlern Familien, in denen die Begabungen so vererbt werden, wie die Sukzessionsrechte im Hohen Adel. Einige von ihnen aber waren besonders „groß“.165 Das kollektive Gedächtnis ist heute anders als früher bereit, solchen geistigen Giganten, und nicht bloß Kaisern, Königen und Staatsmännern wenn überhaupt weltstürzende, also verändernde Einflüsse zuzugestehen,166 das gilt selbst für Gestalten, die früher keines Gelehrten Blickes würdig gewesen wären (z.B. Olympe de Gouges, Karl May, Max Schmeling, die „Beatles“, die „Rolling Stones“, Andy Warhol, Bill Gates, Alice Schwarzer, Michael Jackson), doch hat die moderne Strukturgeschichte diese insofern eingefangen und „gezähmt“, als das Handeln solcher Individuen als von den „Rahmenbedingungen“ abhängig gesehen wird: 161 Nordalm, Jens, Der gegängelte Held. „Heroenkult“ im 19. Jahrhundert am Beispiel Thomas Carlyles und Heinrich von Treitschkes, in: HZ 276 (2003) 3, 647–675. 162 „Karl der Sachsenschlächter“ war in der NS-Zeit eine typische Verunglimpfung. 163 Mit den Bezeichnungen „der Große“ bzw. „II.“ werden automatisch Wertungen verbunden 164 Schieder, Theodor, Friedrich der Große. Ein Königtum der Widersprüche. Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg, Berlin 1983. Neuestes Beispiel: Die Trilogie von John Röhl zu Wilhelm II. 165 Entsprechende genealogische Nachfahrentafeln gibt es in der Tat. 166 Albert Einstein ist das beste Beispiel, oft ist die Rede vom „Zeitalter Einsteins“ oder gar dem „Kosmos Einsteins“.

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Ohne die entsprechenden „Rahmenbedingungen“ hätten sie sich nicht so entfalten können, wie es der Fall war, und insofern sind sie dann doch wieder logische „Produkte“ eines Kollektivs mit seinem „Zeitgeist“. Hindenburg beispielsweise konnte nur zum Mythos werden, weil alle Ingredienzien und die partiellen Vorbilder dafür schon vorhanden waren – vor allen anderen Bismarck und Moltke.167 Sieht man von den vielfältigen Implikationen dieser Theorien um die „großen Männer“ ab, bleibt die schlichte Frage, warum diese Individuen es schafften, etwas zu verändern, wenn es nichts zu verändern gab. Die Vorfrage lautet, warum sie es überhaupt wollen. Dabei soll es nicht um das jeweils „Neue“, das „noch nie Dagewesene“ ex nihilo gehen, das niemand vermisst hat, als es noch nicht existierte, weil niemand darum wußte oder auch bloß davon ahnte. Es liegt auf der Hand, daß die Welt auch ohne da Vincis „Mona Lisa“ oder die neun Beethovensymphonien ausgekommen wäre: Indem Beethoven sie schrieb, fügte er dem Bestand der Welt etwas Neues hinzu; nach dem „warum“ fragt kein Mensch. Und wie viele Sinfonien sind der Welt verlustig gegangen, weil Mozart so früh gestorben ist? Auch hier stellt niemand die Frage, ob und was das bedeutet hat. Man kann sich also etwas vorstellen, das nicht ist, und in der Science-Fiction wird mit dem Gedanken an „Alternativwelten“ damit gespielt: Aus Nicht-Vorhandenem wird Nicht-Vorhandenes konstruiert, manchmal sehr logisch. Dieses hat reale Auswirkungen auf Vorhandenes. Ohne Ron Hubbards Science-Fiction-Bücher gäbe es keine Scientology-Kirche (Organisation, Bruderschaft, wie immer man das nennen mag). Und wie viele Kirchen sind gar nicht erst entstanden, weil die potentiellen Stifter zu jung starben? Sind das Verluste, die man bedauern kann? Wie groß ist die Masse all dessen, das nicht geworden ist, weil irgendein Ingredienz fehlte? Auch jede Weltraumrakete, die nicht irgendwann in der Erdatmosphäre verglüht oder zurückstürzt, lässt der Erde etwas endgültig abhandenkommen, und jeder auf ihr einschlagende Meteorit macht sie und jedermann schwerer.168 Aber darum geht es nicht, sondern vielmehr um die Frage, warum ein Mensch den Drang verspürt, etwas anderes als bisher zu machen, obwohl die allgemeine Meinung sich darin einig ist, bereits in der besten aller Welten zu leben und dieser nichts Sinnvolles mehr hinzufügen zu können. Also: was sind die Gründe für den Versuch oder gar den Zwang, etwas verändern zu wollen, wenn es das Ungenügen an den bestehenden Zuständen nicht ist? Es geht auch nicht darum, daß man sich aus welchen persönlichen Gründen auch immer selbst neu „verwirklichen“ will, oder bereits Bestehendes technisch „verbessert“ wird: das eine ist eine menschliche Eigenschaft jenseits aller Historie, das andere ein üblicher Entwicklungsprozeß, Folge von Erfahrung und Wissenschaft, dafür gibt es den ingenieurwissen-

167 Pyta, Wolfram, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, o.O. 2009, 69– 90. 168 So ließe sich die Gewichtszunahme bei jedem Menschen durch den Einschlag des TunguskaMeteors berechnen!

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schaftlichen Begriff von „Versuch und Irrtum“.169 Daß dieser Prozeß auch einmal an ein Ende kommt, wurde bereits als Frage und Warnung formuliert. 170 Manche Autoren haben versucht, die Lehre von der „Entropie“171 auch auf die Geschichte anzuwenden; das Thermodynamische wird auf das Historische übertragen. So lassen sich gesellschaftliche Spannungen solange „ausgleichen“, bis aus einer „Klassengesellschaft“ ein gesellschaftlicher Einheitsbrei ohne Höhen und Tiefen geworden ist, die „klassenlose Gesellschaft“; in China wurde dies auch symbolisch ausgedrückt, indem alle Menschen von Mao bis zum Arbeiter gleich gekleidet herumliefen. Ob das stimmte, steht auf einem anderen Blatt. Es geht, um dies zu wiederholen, um die Veränderung selbst; auf Grund der Prämissen (alles ist gut), also nur um die Verschlechterung von als vollkommen empfundenen Dingen und Zuständen durch einzelne Menschen. 5. DER ESEL AUF DEM EIS „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er auf’s Eis“: Warum? Es gibt keinen vernünftigen Grund, dennoch tut er es, selbst auf die Gefahr hin, einzubrechen. Natürlich sind diese „Esel“ Menschen, und sie scheinen sich wie „Esel“ zu benehmen. Man kann ein ähnliches Phänomen im Zusammenhang mit Vandalismus172 beobachten: Etwas Funktionierendes, Wertvolles, Akzeptiertes wird beschädigt oder zerstört, ohne daß es dafür den geringsten „vernünftigen“ Grund gibt: ein „destruktiver Zeitvertreib“ wie es Alexander Demandt genannt hat. Deswegen spricht man von „sinnloser“ oder „blinder“ Zerstörungswut, und manchmal wird das auf besondere soziale Verhältnisse zurückgeführt, ein typisches Unterschichtenphänomen – was nicht stimmt. Feuerkatastrophen wie die in Kalifornien oder Australien sind oft Folge von Brandstiftung; sogar „Massenmord“173 wird von den Brandstiftern in Kauf genommen. Kann eine Handlung sinnlos sein? Theodor Lessing hat schon 1919 von der „Sinngebung des Sinnlosen“ als Maxime der Geschichte gesprochen.174 Im Fall des Vandalismus würde man unterstellen, daß hier ein primitiver Instinkt oder ein biologischer Zwang am Werk sind – also etwas, das mit der Idee der Geschichte, insofern sie Geistesgeschichte ist, nicht kompatibel ist. Auch die Idee des „schlechten Charakters“ spielt eine Rolle – und erklärt nichts. Die Vandalismusforschung unterstellt vielen Zerstörungsorgien pathologische, fanatische, religiöse Gründe, immerhin Gründe. Was den letzteren 169 Daß dieses Prinzip ebenfalls an eine Grenze stößt, hat Radkau, Joachim, Technik in Deutschland, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1990, am Beispiel der Atomtechnik aufgewiesen. 170 Etwa von Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis heute, Frankfurt/M. 2008. 171 Populärwissenschaftlich gehalten (und für Historiker gerade noch zu verstehen): Zeh, H. Dieter, Entropie, Frankfurt/M. 2005. 172 Demandt, Alexander, Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997; Lorenz, Maren, Vandalismus als Alltagsphänomen, Hamburg 2009. 173 So der australische Premierminister Rudd am 9. Februar 2009. 174 Lessing, Theodor, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1983.

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Fall betrifft, sind Bilderstürmer und „Götzen“ zertrümmerer vom Muster des a priori Sinnlosen auszunehmen; die Zerstörung der Buddhafiguren in Afghanistan im Jahr 2001 beispielsweise machte für die Taliban durchaus Sinn.175 Selbst Amokläufe können für den Amokläufer „sinnvoll“ sein, „beweist“ er sich oder anderen doch etwas. Darum geht es hier nicht, nicht auch um die vielerörterten Fragen der Hirnforschung, die sich auf den „freien“ oder „unfreien“, den determinierten Willen beziehen, sondern lediglich um Aktionen, die aus keinem ersichtlichen Grund etwas zum Schlechteren verändern. Solche Handlungen „aus dem Bauch heraus“ (oft unter Alkohol- und Drogeneinfluß) verändern und treiben die Geschichte als Ergebnis des Sinn-Losen weiter. Es liegt auf der Hand, daß nicht die Geschichtswissenschaft nach dem „Warum“ dieses Sinnlosen zu fragen versteht, sondern die oben genannten anderen Disziplinen. Was für Rabauken und „Rowdys“ auf der Straße gilt („Randalismus“), war Königen billig; die Formel: „car tel est no(s)tre plaisir“176 unter allen königlichen Edikten in Frankreich umschrieb seit 1472 den Umstand, daß nichts einer Rechtfertigung bedarf. Nicht weil der König legibus absolutus ist, sondern weil es ihm „Spaß“ macht, wobei man den modernen Begriff „Spaß“177 nicht mit dem frühabsolutistischen „plaisir“ verwechseln sollte. Das Absolutistische besteht nur darin, daß er nicht sagen und verantworten muß, warum es ihm „plaisiert“. Die Folge ist allemal eine bestimmte Veränderung der Zustände – im Großen wie im Kleinen. Es sieht so aus, als gehe aus dem unergründlichen Willen des Einen etwas Neues durch Entwicklung und Veränderung hervor, dabei kommt es nicht darauf an, daß der König das „erklärt“. Er kann es einfach tun, weil ihm das, was er tut, besser gefällt als das, was er nicht tut. Er tut so, als unterläge er keinerlei Zwang, denn Zwang wäre die Gegenidee zur königlichen Freiheit. Ob das in Wahrheit immer der Fall war, ist durchaus zweifelhaft, aber darauf kommt es hier nicht an, denn in diesem Fall griffe erneut das Prinzip der Veränderung auf Grund eines Ungenügens. Bestehen dieses Ungenügen, dieser Zwang – und sei er noch so subtil – aber nicht, gibt es keine Erklärung, man ist wieder auf das Instinktive angewiesen, ohne zu wissen, wie es dazu kommt. Hängt man es hoch auf, gehören Liebe und Haß, Leidenschaften und Zynismus dazu – letztlich das ganze Bündel menschlicher Emotionen als Gegenwelt zur rationalen, um die es hier auch noch nicht gehen soll. Was diese Irrationalismen bewirken, kann dann freilich höchst „vernünftig“ fortentwickelt werden, und wenn sich am Ende daraus etwas Gutes ergibt, wird automatisch auf eine „vernünftige“ Ursache zurückgeschlossen, aber das ist ein Trugschluß, Vernunft kann unvernünftig sein. Ein Beispiel dafür bietet die Alchemie mit ihrer Suche nach dem „Stein der Weisen“178 und der Kunst, Gold zu machen, also ganz alte Dinge, von traditionel175 Das Fällen der Donarseiche durch Bonifatius war nicht besser – und wird heute katholischerseits gefeiert! 176 de Somaize, Anton Bodeau/Livet, Charles Louis, Dictionnaire des Précieux, Hildesheim 1972 Stichwort: „Privilège du Roy”, 18 177 Den Begriff „Spaßgesellschaft“ gibt es vermutlich erst seit 1990: Boberowski, Heiner, Adieu, Spaßgesellschaft. Wollen wir uns zu Tode amüsieren?, Wien 2004. 178 Coudert, Allison, Der Stein der Weisen Die geheime Kunst der Alchimisten, Herrsching 1992.

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len Vorstellungen getragen. Am Ende macht Johann Friedrich Böttcher Porzellan, etwas vollkommen Neues, noch nie Dagewesenes,179 nichts was vorher bedacht und geplant war, und wer wollte leugnen, daß das die Welt veränderte – nicht nur in Meißen, sondern mit den Porzellanisolatoren180 auf alten Telegraphenmasten ganze Landschaften.181 Nicht nur in Amerika sind sie bis heute zu sehen. Sie formten das Landschaftsbild so mit wie heute die elektrischen „Windmühlen“ weite Küstenstriche. Was wäre Dresden ohne das „Grüne Gewölbe“, und die Species des „Elefanten im Porzellanladen“ gäbe es auch nicht! Lächerliches gibt es auch im Bereich der Mode, wenn etwa der „Windsorknoten“182, die „Farah-Diba-Frisur“, angeblich „königlichen“ und „kaiserlichen“ Ursprungs, zu massenhafter Nachäffung verleiten und damit das äußerliche Bild der Straßengesellschaft (und Friseurläden) tatsächlich verändern. Dabei ist der Windsor-Knoten so überflüssig wie ein Kropf, und das weibliche Kopfhaar braucht alles andere als eine „Farah-Diba-Frisur“. Oder doch? An diesem und an anderen modischen Beispielen lässt sich zeigen, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an das, was als bloße Laune, als lustiges Experiment, als Ausdruck der Extravaganz von nur Wenigen zelebriert wurde, sich zu einem gesellschaftlichen Zwang verwandelt. „Man trägt das so!“ „Ich kann mich mit meinem langen Rock nicht mehr unter die Leute wagen“. Wieder stellt sich die Frage: Ab wann greifen diese Zwänge, wie sind sie definiert, warum verschwinden sie wieder – und kehren immer wieder, etwa die verschiedenen Rocklängen, zurück? Wie tief und wie weit solcher „Un-Sinn“ verändert, und welche Folgen das wiederum hat, führt zur Ausgangsfrage zurück. Selbstverständlich gibt es auch begründete, binnenlogisch „vernünftige“ Moden, die nicht diesen Ritualen unterliegen – Schnürkorsetts und -schuhe sind auf ewig „out“. Es gab Zeiten, in denen „langhaarige Affen“ (Bildzeitung) zum Inbegriff einer Ideologie hochstilisiert wurden, und in wie vielen Familien entbrannte bitterer Familienzwist ob der Haartracht aufmüpfiger Knaben!183 Das Wort „Glatze“ umschreibt heute nicht nur ein biologisches Phänomen, sondern eine politische Grundüberzeugung. Mögen sich derartige Phänomene nach und nach und nicht ohne Logik entwickelt haben, so geht anderes auf den puren Zufall zurück: Wenn nichts geplant, vorherbedacht wird, entwickelt sich alles anscheinend „zufällig“ in die eine oder andere Richtung. Erst im Nachhinein kann man Zusammenhänge erkennen, – „das war kein Zufall!“ – die für diejenigen, die den „Zufall“ ausgelöst haben, nicht

179 Für ihn; daß das Porzellan in China längst erfunden war, wusste er nicht. 180 Bei Ebay war am 06.11.2008 ein Porzellanisolator der Fa. Rosenthal aus dem Jahr 1930 im Angebot. 181 Man sehe sich unter diesem Gesichtspunkt Bilder moderner amerikanischer Städte – Washington inklusive – an! 182 Der Herzog von Windsor selbst legt Wert darauf, daß nicht er die Bezeichnung erfinden habe, der „dicke Krawattenknoten“ stamme aus Amerika 183 Der sog. „Haarnetzerlaß“ (ZDv 10/5) von 1971 der Bundeswehr wurde ebenso bekannt wie er als lächerlich empfunden wurde.

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erkennbar waren – die Alternativgeschichte184 lebt von dieser Idee. In dem Roman „Der große Süden“ („Bring the Jubilee“ 1953) von Ward Moore185 wird durch eine völlig banale Unachtsamkeit eines „Zeitreisenden“ die Schlacht von Gettysburg „zufällig umgekehrt“, die Föderation gewinnt – mit unabsehbaren, genauer: absehbaren Folgen für die Weltgeschichte. Die Geschichte geht fort, die Dinge verändern sich, weil einzelne Menschen sinnlose und/oder zufällige Handlungen begehen, die durch nichts induziert, gefordert oder gerechtfertigt sind. Nur unter dieser Prämisse kann es überhaupt zur Veränderung von an sich optimalen Zuständen kommen. Der Volksmund spricht davon, man „fordere sein Glück heraus“; wer sich bewusst „in Gefahr begibt, kommt darin um“. Immer wieder suchen anschließend Historiker nach dem Vernünftigen im Un-Sinn, meist finden sie etwas und glauben dann daran. Der „Zufallsgenerator“186 der IT-Technik ist das Eingeständnis der Menschen, daß sie selbst nichts Zufälliges tun können – wer also tut es? Was eigentlich ist der „Zufall“? Diese Frage bewegte schon Aristoteles.187 Selbst wenn man es wüsste, wäre damit immer noch nicht erklärt, warum so etwas geschieht. Diese Frage nach dem „Warum“ ist nur dann legitim, wenn man von der Allgemeingültigkeit des Ursachen- und Folgenprinzips samt seiner Logik ausgeht, alle Chaostheorien, „Quantensprünge“ beiseitelässt. Nimmt man diese aber als causa prima der Veränderung und setzt sie mit den Prinzipien des Sinnlosen und des Zufälligen ins Benehmen, erhält man eine Ansicht von der Geschichte als einer Art von moderner Monade, die nicht zu durchdringen ist und höchstens zu (heute elektronischen) Glasperlenspielen verleitet. Da die Menschen diesen Verdacht schon oft und lange gehegt haben und deswegen frustriert waren, kamen sie auf die Idee mit dem geschichtslenkenden, über der Geschichte stehenden Gott oder Weltgeist, der sich zum „deus in“ bzw. „ex machina“, oder zur „Vorsehung“188 fortentwickelte. Daß sie damit allen Ehrgeiz und alle Souveränität aufgaben, wurde ihnen meist nicht klar, es war die Flucht ins metaphysische Exil. In der Tat fragt es sich, inwieweit einzelne Menschen die Welt aushebeln können; die Idee mit dem archimedischen Punkt ist zu einem beliebten Bild geworden. Daß es ihn in historicis nicht gibt, haben viele gelehrte Untersuchungen nachgewiesen, denn man kann an unzähligen Punkten den Hebel ansetzen; das Verhältnis von „Zufall und Notwendigkeit“ ist nach Jacques Lucien Monod189 längst besprochen, nicht nur in den Naturwissenschaften,190 eine Lösung hat sich nicht gefunden. Wenn Menschen etwas verändern oder anstoßen, damit es sich bewegt, ohne dafür einen Grund nennen zu können, ist es wahrscheinlich, daß wir 184 Salewski, Michael (Hg.), Was wäre wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Stuttgart 1999 (HMRG Beiheft 36). 185 Moore, Ward, Der große Süden, München 2001. 186 Knuth, D.E., The Art of Computer Programming. Bd. 2, Reading 1997. 187 Mainzer, Klaus, Der kreative Zufall. Wie Neues in die Welt kommt, München 2007. 188 Zuletzt bei Adolf Hitler; auch Bush jr. war von solchen Vorstellungen nicht frei. 189 Monod, Jacques, Zufall und Notwendigkeit, 9. Aufl., München 1991. 190 Google warf am 07.11.08 zum Begriffspaar „Zufall und Notwendigkeit“ 544.000 Betreffe aus.

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bloß nicht in der Lage sind, den wahren Grund zu erkennen. Jean Tinguely hat das Prinzip in seinen oft als absurd und sinnlos empfundenen dynamischen Skulpturen sichtbar gemacht; es ist zu vermuten, daß er in ihnen Abbilder der „monde comme il va“ gesehen hat, wie es schon Voltaire behauptete. Daß es einen Grund (und Zweck) von Veränderungen aller Art überhaupt nicht geben könnte, widerspricht unserer Vernunft so wie die Annahme, es könnte zweidimensionale Gegenstände geben (oder vom Nordpol aus ließe sich nach Norden gehen, das Beispiel stammt von Stephen Hawking). Also wird unermüdlich in jeder Generation weiter nach Gründen gefahndet, um jenen Punkt auszumachen, an dem der Hebel am „vernünftigsten“ angesetzt werden kann. Hierbei gerät man rasch auf Ebenen und in Bereiche, für die kein Historiker zuständig ist, so daß diese, käme man bei der Fahndung zu einem „vernünftigen“ Ergebnis, sich als inkompetent, ja als überflüssig erklären müssten. In der Tat gibt es seit einigen Jahren vor allem in der Hirnforschung191 Ansätze zu dieser „Welterklärungsformel“, und durch die philosophische Hintertür kommt das alte Problem der Willensfreiheit – oder eben nicht – zum Vorschein.192 Kann man etwas wollen, obwohl man nicht wollen will? Ohne anscheinend zureichenden Grund können Menschen Dinge verändern, die eigentlich nicht verändert werden sollen, weil sie als gut, besser: als optimal begriffen werden. Werden sie dennoch verändert, so kann das auf einen eingeborenen Destruktionstrieb (die Rabauken – ein genetisches Defizit?) zurückgehen, aber auch das Gegenteil ist denkbar: Solche Menschen empfinden einen unüberwindbaren Drang, etwas Gutes tun zu müssen – selbst wenn alles schon gut ist. Hier ist nicht der Ort, um das Verhalten der „Gutmenschen“193 soziologisch oder psychologisch zu erklären; es genügt festzustellen, daß es offensichtlich außergeschichtliche Gründe gibt, die Geschichte schaffen, weil irgendein Mensch glaubt, er sei berufen, Gutes zu tun. Es mag zynisch klingen, aber der Verdacht wird wach, daß das meist die eigentliche Ursache für die Erfindung von Erlösungsreligionen aller Art gewesen ist. Auch im historischen Mikrokosmos findet man dieses Wohltätersyndrom als Ursache von Veränderungen, 194 die dann, wenn sie gleichsam „historisch“ werden, weil sie den Ursachen- und Folgen-Mechanismus ausgelöst haben, mit Wohltaten oft gar nichts mehr zu tun haben. Man wird vielen Wohltätern unterstellen dürfen, daß sie in erster Linie Wohltun, um sich selbst wohl zu fühlen; sie werden verehrt, angebetet, heiliggesprochen. Ob Albert Schweitzer oder Mutter Theresa – sie schufen im Bereich der Ethik Werte, die 191 Hagnr, Michael, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt/M. 2008. Cechura, Suitbrt, Kognitive Hirnforschung. Mythos einer naturwissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens, Hamburg 2008. 192 Geyer, Christian (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt/M. 2004. 193 Angeblich soll Franz Steinkühler als erster „Gutmensch“ bezeichnet worden sein (Gesellschaft für deutsche Sprache). 194 Häufig gerieren sich Firmeninhaber in dieser Richtung; daraus entstehen manchmal Stiftungen, aber es kann auch sein, daß der Wohltäter ganz nach eigenem Gusto dies und jenes fördert, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen – die Beispiele aus der Gegenwart sind bekannt.

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„mit Geld nicht zu bezahlen“ und noch weniger zu lehren195 sind. Dennoch fühlten sie sich reich „bezahlt“; ihr Ruhm währt oft über das Leben hinaus – dafür lohnt es sich, „Gutes zu tun“. Mancher Name ist nur deswegen nicht dem ewigen Vergessen anheimgegeben, weil das Gute sich anscheinend in solchen Gestalten von Ewigkeit zu Ewigkeit inkarniert hat – Elisabeth von Thüringen, ist eine solche historische Figur, der letztlich alles Menschliche abgeht, weil sie als übermenschlich verehrt wurde, noch von Richard Wagner. Daß dieser Mechanismus bis heute funktioniert, demonstriert die erstaunliche Geschichte und Karriere des im Exil lebenden Dalai Lama. Stiftungen privaten oder öffentlichen Rechts haben ganz entscheidend zu wesentlichen Entwicklungsprozessen in der Geschichte beigetragen und nicht nur solche, die aus meist steuerlichen Gründen ins Leben gerufen worden sind.196 Um die geht es nicht. Die Idee der „Foundation“ durchsetzt viele Gemeinwesen, wobei immer wieder mit dem Gedanken gespielt wird, was denn geschehen würde, wenn sich diese Foundations anders entwickelten als ursprünglich geplant.197 Die Bürokratisierung von Stiftungen, ihre Verrechtlichung, ihre Verankerung in Staat und Gesellschaft bestimmen diese mit; das Gutestun wird oft zur Staatsräson198 und entbindet ethische Prinzipien, die oft mühsam genug mit demokratischen in Übereinstimmung gebracht werden müssen.199 Oft gelingt dies nicht, und dann mag es sein, daß es in solchen Stiftungen zum dialektischen Umschlag von „gut“ zu „böse“ kommt. Die Geschichte und die kulturellen Einrichtungen des Jesuitenordens200 seit Jahrhunderten, oder die von „Opus Dei“ seit dem 20. Jahrhundert, haben diesen Verdacht genährt und mussten für solche Phänomene herhalten. Was aber ist, wenn es gute Menschen im Sinne unserer gültigen Wertekanons (oder was man dafür hält) tatsächlich gibt? Dann tun sie wohl und gut – und keiner weiß davon, weil sie es nicht sagen, denn sie sind bescheiden, sie treten hinter der Sache zurück, die sie fördern. Anonyme Stifter (wie hoch mag ihr prozentualer Anteil an allen „Gutmenschen“ sein?) sind vermutlich sehr gewöhnlich; sie wirken im Verborgenen, man weiß deswegen nicht, was sie bewirken und verändern wollen – und was sie wirklich verändern. Wir haben es hier mit einer Quelle für Veränderungen zu tun, die trübe oder sogar unerkennbar ist – würden wir sie erkennen, wären sie es nicht. Man muß sich von der Idee, daß alles seinen zureichenden Grund hat, verabschieden, das wussten schon die französischen Aufklärer. Auch der tröstliche Gedanke, daß man den Grund nur noch nicht wisse, aber irgendwann und irgendwie in Erfahrung bringen werde, verkennt das ganz andere System geschichtlicher Etwa im Berliner Schulfach „Ethik“. „Mißbrauch erbeten“ titelte die Süddeutsche Zeitung am 18.02.2008. Asimov, Isaac, Die Foundation-Trilogie, 7. Aufl. München 2006. Typisch die gegenwärtigen Parteistiftungen von der KAS bis zu „Rosa Luxemburg“. Michel Foucault hat das mit dem Begriff „Rassepaternalismus“ umschrieben. Tatsächlich empfanden „gute Menschen“ anderen gegenüber „väterlich“ und konnten sich eine demokratische Gleichberechtigung mit den von ihnen Beglückten nicht vorstellen – das war noch ein Problem des ostelbischen Adels im frühen 20. Jahrhundert. 200 Hartmann, Peter Klaus, Die Jesuiten, München 2001.

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Existenz, geschichtlichen Fortschreitens. Man wird ehrlicherweise von einem „ignoramus“ ausgehen müssen, und zwar einem dauerhaften, also nicht einer Zwischenstufe des „Noch-nicht-Wissens“, die prinzipiell überwindbar ist. Die Kosmologen unterscheiden zwischen „unverständlich“ und „unverstanden“.201 Letzteres hält Hoffnung wach, ersteres umschreibt Resignation. In der Historie gibt es ebenfalls beides, hier geht es um das „unverständlich“. Gibt es dieses tatsächlich, dürfte sich Geschichtsschreibung nur auf das Verstehbare konzentrieren – genau das tut sie nicht, auch wenn der Begriff des „Verstehens“ zu den ehrwürdig-alten der Geschichtswissenschaft zählt. Die Erforschung der Shoa ist für die Geschichte des Nicht-Verstehbaren paradigmatisch geworden, denn „verstehen“ kann sie niemand, bestenfalls „erklären“, aber auch das fällt dermaßen schwer, daß jeder, der sich daran versucht, in schlimmsten Verdacht geraten kann.202 Es fragt sich daher, warum wir überhaupt noch Geschichte auf Feldern betreiben, die zwar unbezweifelbar existent sind, aber gleichsam im Kosmos des „Unverständlichen“ schweben. Schlimmer noch: Man kann sich vorstellen, daß gerade die Erinnerung an Unverständliches nach und nach verloren geht, sich so auflöst wie eine Sommerwolke im Himmelsblau: Dann weiß niemand mehr, daß es da etwas Unverständliches überhaupt gegeben hat. Was man gar nicht weiß, kann nicht erforscht werden, wir helfen uns mit dem probaten „Nichts“: Da sei nichts, da sei nie etwas gewesen. Ist es absurd anzunehmen, daß das ein Trugschluß ist? Historiker doktern an Symptomen und Spiegelungen herum, den eigentlichen Grund sehen sie nicht, und wenn sie ihn postulieren, ist das Selbstbetrug. Wahrscheinlich gibt es keinen Grund. Es gibt keinen Grund, einen Grund der Geschichte anzunehmen. Ein bekanntes Beispiel für die buchstäbliche „Unergründlichkeit“ ist die nun schon fast hundert Jahre anhaltende Diskussion um die Kriegsursachen von 1914, die hier nochmals aufzunehmen ist, eine anscheinend unendliche Geschichte: Sämtliche denkbaren Ursachen und Gründe sind des Langen und Breiten diskutiert worden, am Ende wird der Satz von Lloyd George aus dem Jahre 1919, man sei in diesen Krieg „hineingeschlittert“, wieder als der Weisheit letzter Schluß ausgegeben,203 und da das einer jüngeren Historikergeneration, die (zu Recht) alles besser wissen will, nicht gefällt, setzt sich das Karussell der Ursachenforschung erneut in Bewegung – ad infinitum, ein (vorläufiger) Höhepunkt ist für 2014 zu erwarten. Und wir wissen immer noch nicht, was die Ursachen waren, aber der eine oder andere wird wissen, daß es sinnlos ist, nach ihnen zu fahnden. Die These, der Erste Weltkrieg sei ausgebrochen, weil Gavrilo Princip in einer bestimmten Minute eines bestimmten Tages an einem bestimmten Ort seine Pistole abgedrückt hat,204 ist genauso plausibel wie jene, die in der gesamten Geschichte des 19., ja schon des 18. Jahrhunderts,205 sogar der Weltgeschichte insgesamt 201 Meurers, Joseph, Kosmologie heute, Darmstadt 1984. 202 Das Werk des Historikers Ernst Nolte steht dafür paradigmatisch. 203 Man kann auch „stolpern“: Meyer-Arndt, Lüder, Die Julikrise 1914: Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte, Köln/Weimar/Wien 2006. 204 Man kann sich leicht vorstellen, daß die Pistole eine Ladehemmung gehabt hätte – was dann? Gerade vor 1914 gab es zahlreiche gescheiterte Attentate, kein einziges löste einen Krieg aus. 205 Typisch: Geiss, Imanuel, Der lange Weg in die Katastrophe, 2. Aufl. München 1991.

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die Ursachen des Krieges sieht; die üblichen Erklärungen laufen immer auf ein „Sowohl als auch“ heraus. Man streitet sich dann nur noch um den jeweiligen „Stellenwert“ der einen oder anderen Tatsache, der einen oder anderen Idee, Weltanschauung, Religion. Historiker suchen diesem Dilemma zu entrinnen, indem sie Ursachen von Anlässen unterscheiden. Das ist unlogisch. Parallel zu Princip könnte man die Handvoll von Terroristen, die am 11. September 2001 ins World Trade Center flogen, als die Ursachen eines nun schon (2009) achtjährigen Krieges gegen den Terrorismus ansehen – oder die angeblich ausgebliebene Aufklärung in der islamischen Welt. Stellt man beide Thesen gegeneinander, löschen sie sich gegenseitig aus wie interferierende Wellen, man steht mit leeren Händen da. Allerdings wäre hinzufügen, daß die Veränderung hin zum Ersten Weltkrieg auch wesentlich aus dem Gefühl des Ungenügens resultierte – wenigstens bei einigen Beteiligten. Dennoch gehörte es zu den heiß diskutierten Themen der Nachkriegszeit, warum das alte Europa selbst seine „Lichter gelöscht“ hatte, wie es Edward Grey formulierte, obwohl es in Frieden, Glück und Wohlstand lebte. Ein ähnliches Problem stellte sich im Zeitalter des Antoninus Pius, das als das „glücklichste“ der Römischen Geschichte galt und doch sehr rasch und sehr gründlich verändert wurde – keineswegs zum Heil der Menschen. Vielleicht macht es manche glücklichen Menschen noch glücklicher, andere Menschen unglücklich zu machen: dann hätte man seinen Grund, wobei es keine Rolle spielt, ob das rational, geschweige denn ethisch vertretbar ist. Bewegen wir uns von diesen vertrackten Fragen des Anfangs fort, bleiben die nach den Mechanismen der Veränderungen durch einzelne Menschen. Hier befindet man sich wieder auf sicherem Boden, aber man muß sich bewusst bleiben, daß man die causa prima eben nicht kennt und auf sie auch nicht zurückgeschlossen werden kann. Das ist den handelnden Menschen selbst unmöglich, wie jede Autobiographie zeigt, denn diese zielt in umgekehrter Chronologie vom Ende auf den Anfang; der Autor glaubt auf Grund all dessen, was er bewirkt und erfahren hat, auf die eigentlichen Ursachen seiner Erfolge oder Misserfolge zurückschließen zu können. Das ist ein Trugschluß, den man gelegentlich entlarven kann, vergleicht man authentische Tagebücher206 mit einer nachträglichen Autobiographie. Das wurde bis zur Lächerlichkeit deutlich, als nach dem 3. Oktober 1990 viele kluge Menschen behaupteten, sie hätten den Untergang der DDR schon lange vorausgesehen. Sie deuteten ihre eigene Haltung teleologisch. Das war keine Boshaftigkeit, keine bewusste Lüge, sondern nur ein für den menschlichen Geist typisches Verfahren. Es schlägt sich in der oft gehörten Formel nieder: „Das habe ich ja schon immer gewusst (oder gesagt)“. Nach dem Zweiten Weltkrieg behaupteten sehr viele Deutsche, sie hätten gewusst, daß der Krieg von Anfang an verloren gewesen sei: Genaueres Zusehen hat das Gegenteil erwiesen: Die meisten Deutschen glaubten, dieser Krieg werde die Revision des Ersten Weltkriegs sein, also „gut“ ausgehen, und bis zum Gelingen der Invasion im Juni 1944 blieb eine Mehrheit davon überzeugt, daß man den 206 Typisch: Die (unveröffentlichten) Tagebücher Alfred Graf von Waldersees und seine „Denkwürdigkeiten“.

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Krieg gewinnen werde.207 Daß es besser sein könnte, ihn zu verlieren, kam nur ganz wenigen Menschen in den Sinn; selbst die zum militärischen Widerstand gegen Hitler Entschlossenen hofften zumindest auf ein „Hubertusburg“. „Nach Tische“ las man es anders, und es waren kaum Zeitzeugen zu finden, die bereit gewesen wären zuzugeben, daß auch sie an den „Endsieg“ geglaubt hatten. Der „Urknall“, unerklärlich, ist also erfolgt: wie geht es nun weiter? Wann setzt sich etwas in Bewegung, wie tut es dies, wie entsteht das Geflecht von Ursachen und Folgen, das von nun an selbstverständlich gilt? 6. MENSCHEN UND URSACHEN Es ist vom einzelnen Menschen auszugehen, nicht von einer Gruppe, einem wie immer gearteten Kollektiv. Kein Mensch ist einzeln, jeder hat eine Familie, gleichgültig ob er sie kennt. Ist die Familie bekannt, lebt man in ihr, kann die These entstehen, die Familie sei die „Keimzelle“ des Staates, der Nation, der Gesellschaft. Der engsten Familie, der „genealogischen Einheit“, folgt die weitere Verwandtschaft, manche nennen sie „Sippe“. Diese sei Teil eines „Stammes“, und Laien sprechen noch heute von den „Stammbäumen“ ihrer Familie. Infolge des Phänomens des „Ahnenschwundes“ kommt es zu weiterer Kollektivbildung, wobei der Grad der Verwandtschaft aller mit allen irgendwann alle Mitglieder des Kollektivs erfasst, aber das Charakteristikum der Verwandtschaft aller mit allen ist wie zu einer homöopathischen Dosis verdünnt. Aus dem Bewusstsein des rein biologischen und genetischen Verwandtseins (etwa mit Cäsar oder Karl dem Großen) wird ein theoretisches Prinzip, das im Lauf der Geschichte seit dem Hohen Mittelalter als „Nation“, oder, in einer anderen Denkfigur, seit dem 19. Jahrhundert, als „Rasse“ bezeichnet wird. Es ist erheblich leichter zu definieren was „Nation“ nicht ist als zu bestimmen, was sie ist – wenn sie ist, auch daran gibt es Zweifel. Noch im 20. Jahrhundert pflegte man von den „Großrassen“ der „Europiden“, „Negriden“ und „Mongoliden“ zu sprechen, bis in der letzten Stufe nur noch von „der Menschheit“ die Rede ist. Dafür hat sich der wissenschaftliche Begriff des „homo sapiens sapiens“ eingebürgert, er gilt weltweit – von Pygmäen und Aborigines bis zu Juden und „WASPs“.208 Die Idee „Menschheit“ als einer einzigen biologischen Species ist so alt nicht; wahrscheinlich hat sie H.G. Wells mit seinem Roman „War of the Worlds“ (1898) zuerst ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Das hing eng mit der kosmologischen Vorstellung zusammen, daß die Erde ein Raumschiff ist, das in den unendlichen Weiten des Alls mehr oder weni-

207 Salewski, Michael, Kriegswenden 1941, 1942, 1944, in: Möller, Horst/Tschubarin, Aleksandr (Hg.), Mitteilungen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, München 2005, 94–105. 208 White Anglo-Saxon Protestant – lange Zeit der menschliche „Gipfel“ in der Vorstellungswelt der amerikanischen Elite.

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ger hilflos navigiert und jederzeit darauf gefasst sein muß, von den „Anderen“ – heute den „Aliens“ – entdeckt und schlimmstenfalls zerstört zu werden.209 Es liegt in der Logik dieser Stufenfolge, daß darüber hinaus „höhere“ Wesen postuliert werden; die prinzipielle menschliche Unzulänglichkeit („das ist ja nur menschlich!“), konstitutiv für (fast?) alle Menschen, fordert gebieterisch die Existenz von Höherstehenden, von „Vollkommeneren“, zumal in der Verbindung mit versagender Technik sehr oft die Rede vom „menschlichen Versagen“ die Rede ist. Diese höher in der Stufenfolge der Evolution angesiedelten Wesen können Götter, Engel oder Dämonen als gefallene Engel sein, jedenfalls zumeist Geistwesen aller Art, die irdischer Körperlichkeit entraten, und zum allerletzten Schluß geht in den höchstentwickelten monotheistischen Religionen und idealistischen Philosophien all dies in einen einzigen göttlichen Geist (oft à la „Solaris“)210 ein – aus dem dann – der Kreis ist geschlossen – in einem Schöpfungsakt wieder „Adam und Eva“ hervorgehen. In der Science-Fiction findet man derartige Szenarien beispielsweise bei Adam Wisniewski-Snerg, Stanislaw Lem, Walther Miller jr. oder Brian Aldiss.211 Wie unbehaglich den Religionsstiftern die Vorstellung von der letztendlichen „Vergeistigung“ der Menschen war, lässt sich aus der absurden Denkfigur ableiten, nach der die Menschen gleichzeitig als Geist (oder Seele) zu Gott eingehen, und leiblich „wiederauferstehen“. Irgendwann wird dem Menschen bewusst, daß er ist – die Kinderpsychologen sind sich nicht einig, vermuten jedoch, daß das mit zwei bis drei Jahren der Fall ist.212 Von diesem Moment an kann sich das Kind etwas anderes vorstellen, und was es sieht, kann es verändern, sei es spielerisch, sei es im Zorn oder aus Langeweile. Irgendwann wird ihm sein Tun bewusst, man erkennt das an seinem „schlechten Gewissen“, wenn es etwas „angestellt“ hat. Damit wird das Prinzip der Veränderung in Gang gesetzt, ohne daß man wüsste: warum? Das Mobile über dem Bettchen wird abgerissen. Die Tapete verschmiert, dem Püppchen Arme und Beine ausgerissen, was auch immer. Für Erwachsene oder auch größere Kinder mag das als „kindisch“ erscheinen, sie sind darüber hinweg – glauben sie. Ob Kleinstkinder und auch Kleinkinder wissen, was sie tun, bleibt fraglich, aber irgendwann wissen es die kleinen Menschen und müssen lernen, die Konsequenzen zu tragen. Mit Beginn der Schulzeit ist diese Stufe in der Regel erreicht, es beginnt „der Ernst des Lebens“.213

209 Satirisch überhöht bei Douglas Adams: „Per Anhalter durch die Galaxis “, patriotisch eingefärbt in Emmerich, Roland (Regie), Independence Day, USA 1996 Die andauernde Faszination, die von Star Trek ausgeht, basiert auf der nämlichen Idee. “ 210 Lem, Stanislaw, Solaris, Berlin 2006. 211 Wisniewski-Snerg, Adam, Das Evangelium nach Lump, München 1982; Miller, Walther M., Lobgesang auf Leibowitz, München 2000. Aldiss, Brian Wilson, Helliconia, 3. Aufl. München 1992. 212 Damon, Wiley & Sons (Hg.), Handbook of Child Psychology, 6. Aufl. 2006. Hier spielt der Spiegel eine wichtige Rolle: Irgendwann erkennt sich das Kind in seinem Spiegelbild. 213 Jörg, Sabine/Kellner, Ingrid, Der Ernst des Lebens, Augsburg 2007. Dieser beginne mit der Einschulung.

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Bis zu diesem Zeitpunkt beschränkt sich ihr Verändern auf ihre engste Umgebung, also meist die Familie, dann den Kindergarten, heute auch schon die KiTa. Es ist ihnen möglich, den Lebensrhythmus ihrer Familie zu beeinflussen – sei es positiv, indem sie mit ihrem Vater zu spielen wissen, sei es negativ, indem sie ihre Mutter zu einem Nervenbündel machen, das seinen außerhäuslichen Aufgaben nicht mehr gerecht wird. Das heißt: Selbst die kleinsten Kinder können nach dem Ursachen- und Folgen-Prinzip erhebliche Veränderungen bewirken; ihr dauerndes Quengeln kann beispielsweise als jener Hebel angesehen werden, der das ganze familiäre System aus den Angeln heben kann – es gibt abschreckende Beispiele, in denen die dafür zuständigen Jugendämter hilflos erscheinen. Was ein Kind in seiner Familie „verändern“ kann, bleibt im Allgemeinen für die Allgemeinheit unerheblich. Was aber geschieht, wenn in allen Familien alle Kinder derart „verändern“? Es liegt auf der Hand, daß es hier von der Quantität zur Qualität geht. Weil, um es an einem Beispiel zu erläutern, Familien mit Kindern oft finanziell „abstürzen“, die Mütter überfordert sind, gibt es staatlicherseits Bemühungen, Familien finanziell zu entlasten, Müttern Erholungszeiten einzuräumen, was unmittelbar auf jene Betriebe zurückwirkt, die Mütter eingestellt haben. Sie gelten heutzutage als sozial „fortschrittlich“, viele befürchten Wettbewerbsnachteile und suchen deswegen nach Staatshilfe. Aus dem Verhalten eines Kleinkindes ergeben sich auf diese Weise fundamentale Veränderungen in der Familienpolitik, die wiederum erhebliche Auswirkungen auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Gemeinwesen bis hin zum Nationalstaat haben können. Nun wäre es ganz falsch, wollte man daraus ein Prinzip, gar ein historisches „Gesetz“ ableiten: Die Erforschung der Geschichte der Kindheit214 hat deutlich gemacht, daß es Zeiten gab, in denen all dies keine Rolle spielte. Man nennt sie heute leichtfertig „kinderfeindlich“; in Wahrheit wurde in diesen Zeiten das Problem „Kind“ anders wahrgenommen als heute – und noch heute lässt sich das in Bildern erkennen, auf denen kleine Kinder wie Erwachsene erscheinen und auch so gekleidet sind. Kindheit galt als eine bloße, oft zeitlich flüchtige Durchgangsstufe individueller Biographien; daß „Kindheit“ wie auch „Alter“ aber Dauerzustände im Geschichtsrhythmus der Gesellschaft sind, wurde erst nach und nach bewusst; hier hat Philippe Ariès Entscheidendes geleistet. Die heute im „zivilisierten Westen“ verpönte Kinderarbeit galt in den längsten Zeiten der Geschichte als völlig normal, so daß das Veränderungspotential von Kindern als Kinder auf das gesellschaftliche Ganze gering blieb, sieht man davon ab, daß die hohe Kindersterblichkeit oft zu Verwerfungen in der familiären Tektonik und Genealogie führte. Erst das „pädagogische Jahrhundert“, das man gemeinhin mit J.-J. Rousseau und Pestalozzi beginnen lässt, wurde sich dieser Zusammenhänge bewusst und entwarf neue Kinder-Welten, die ihr eigenes Recht erhielten und mit der der „Erwachsenen“ in Beziehung gesetzt werden mussten.215 Aber nachdem nicht nur der „Wert“, sondern auch die Würde von Kindern entdeckt und begriffen wurde und ein Bewusstsein für Kinder entstanden war, färbte das auf die Gesamtheit von 214 Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, Neuausgabe München 2003. 215 Demnächst vgl. Coray (Pseudonym), Drei Kinder im Herrengarten.

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Volk und Staat ab, veränderte sie in typischer Weise. Kindergärten wurden nicht mehr bloß als folgenlose Ghettos für Kinder begriffen, sondern als wertvolle Mosaiksteine des gesamten Gesellschaftsbildes, das sie charakteristisch veränderten. „Kind- oder Altengerecht“ wurden dafür die Schlagwörter. Seitdem sahen „junge“ Völker mit vielen Kindern in ihrem sozialen Leben ganz anders aus als „alte“ Völker mit wenigen Kindern („Rentnerstaat“). Rücksicht auf Kinder (seltener alte Menschen) wird oft zum Gradmesser der Zivilisation; der weltweite Kampf gegen Kinderarbeit und Kinderlähmung216 illustriert dies, und wenn es in Westeuropa Kampagnen gegen Läden gibt, die Teppiche aus Kinderarbeit anbieten, wird schon deutlich, daß die Idee „Kind“ das ethische Normengefüge beeinflussen und verändern kann, so daß Kinder nicht nur materiell, sondern auch ideell maßgeblich zu Veränderungen bzw. zu Diskussionen über Veränderungen anregen – ohne als vereinzelte Individuen (mit Ausnahmen) selbst das Geringste dazu beitragen zu können.217 Das Schulkind geht mit anderen Schulkindern und seinen Lehrern Beziehungen ein. Sehr bald schälen sich bestimmte Schülertypen heraus: der Faule, der Fleißige, der Speichellecker, der Aufmüpfige, der Streber usw. Hinzu kommt, daß alle Schüler in einer Klasse keine Gleichen sind, sondern sich von Anfang an in einer strengen Hierarchie wiederfinden. Entgegen aller Annahmen von Rousseau (Discours sur l’inégalité, 1755) sind Kinder eben nicht anfangs alle gleich. Oft wird das seitens der Lehrer noch verstärkt, indem, beispielsweise, Noten von 1-6 verteilt, Schüler nach ihrer Größe gesetzt werden, die „guten“ hinten sitzen dürfen, die „schlechten“ vorne sitzen müssen. Klassenräume spiegeln diesen Prozeß; die aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sind zu Symbolen des „Autoritären“, des „Undemokratischen“ geworden; heute hüten sich Pädagogen davor, „frontal“ zu unterrichten, die Schulkinder in „Reih und Glied“ zu setzen. An runden Tischen gibt es kein „oben“ und „unten“.218 Der Einfluß der Tüchtigeren auf die anderen wurde nicht nur nicht geleugnet, sondern seitens des Lehrers gefördert; noch heute ist es eine beliebte „pädagogische“ Übung, „schlechteren“ Schülern durch „bessere“ helfen zu lassen. In Wahrheit wird damit ein Herrschaftssystem eingeübt, das von Anfang an mit den gewollten demokratischen Gleichheitsprinzipien kollidiert. Das politische System wird von Schülern also a priori als defizitär begriffen. Damit hat man wieder das „Ungenügen“ vor sich, das zur Veränderung drängt – in diesem Falle, indem die „guten“ Schüler von den nicht so guten „niedergemacht“ werden („Streber!“, „Muttersöhnchen!“, „Besserwisser!“) oder das demokratische Prinzip durch ein diktatorisches ersetzt wird, in dem die „tüchtigeren“ Schüler bestimmen – wohin der Klassenausflug gehen soll, wer beim Schultheater die Hauptrolle spielen darf 216 „Polio plus“ nennt sich das ehrgeizigste Hilfsprojekt der weltweit agierenden Rotary-Clubs. 217 Der Song von Grönemeyer, Herbert, Kinder an die Macht greift dieses Thema auf. Auch die oft diskutierte Idee, Eltern bei Wahlen so viele Stimmen zusätzlich zu geben wie sie Kinder haben, gehört in diesen Umkreis. 218 „Runde Tische“ wurden im Umkreis der sog. „Wende“ bekannt und berühmt: sie sollten die Gleichberechtigung aller an ihnen Sitzenden symbolisieren.

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usw. Auch bloße Kraft und blanke Gewalt werden zu Sozialstrukturen, wenn die Großen und Starken die Kleinen und Schwachen „abziehen“, wie das euphemistisch heute heißt. Es liegt auf der Hand, daß die Minderprivilegierten versuchen werden, das zu verändern, was von den Privilegierten als negativ empfunden wird, denn sie möchten ihre Stellung gar nicht verändern. Sie müssen also reagieren, falls ihre Position angegriffen wird. In das System kommt Bewegung, was dem „Klassengeist“ meist nicht bekommt. „Veränderung“ kann also a priori als „gut“, als „schlecht“ oder aber als „Nullsummenspiel“ erfahren werden, wenn die einen als negativ empfundene Dinge verändern wollen, die davon Betroffenen durch entsprechende Veränderungen (bis hin zur Schlägerei auf dem Schulhof) das zu verhindern wissen. Vom Klassenverband zur Gesamtschule, von dort zur allgemeinen Bildung in Betrieben bis zu Universitäten: Um die Entstehung von immer größeren und komplexeren Kollektiven und deren Veränderungspotential soll es hier nicht gehen, sondern um die Entwicklung des Individuums, und zwar im Hinblick auf es selbst so wie seine Umwelt, in die seine Veränderungen hineinwirken, so daß sie sich selbst verändern. Was bereits im Großen für das Verhältnis von Staaten und Nationen zueinander im historischen Raum zu beobachten war, wiederholt sich hier im Kleinen. Es gibt „Wunderkinder“ unterschiedlichster Provenienz, die bereits in sehr jungen Jahren wesentliche Veränderungen bewirken können; aus ihnen entwickeln sich manchmal „Genies“, manchmal werden sie zu tragischen Gestalten. Auch um diese Ausnahmen soll es hier nicht gehen, sondern um die gleichsam „standardisierte“ Biographie vom Kind zum Erwachsenen, so ähnlich wie das Simone de Beauvoir im „Deuxième sexe“219 für die „Standardfrau“ versucht hat. Dieser Lebensweg wird dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch (anscheinend) immer „vernünftiger“ wird, je mehr er gelernt und erfahren hat. Mit dem Ende der Ausbildung, in der Regel mit knapp zwanzig, bzw. bei „Akademikern“ dreißig Jahren, ist damit Schluß. Fortan gilt dieser Mensch als „fertig“ und „gefestigt“, er hat die „Reifeprüfung“ bestanden, er unterliegt – beispielsweise – nicht mehr dem Jugendstrafrecht, er wird „mündig“, er wird seine Anschauungen nicht mehr nur deshalb verändern, weil er älter wird und Neues lernt – beliebtes Beispiel ist das „unvernünftige“ Verhalten der „pubertierenden Tochter“, die irgendwann „schon vernünftig“ wird – sondern weil es die Verhältnisse von außerhalb sind, die den jungen Menschen zu Veränderungen nötigen, meistens aus dem Gefühl des Ungenügens an vorgefundenen Zuständen heraus. Ist dies aber nicht der Fall, und der „fertige“ Mensch verändert doch, fragt es sich erneut: warum? Gibt man zu, daß es „verborgene“ Ursachen gibt, bleibt ein unerklärlicher Rest, den man gelegentlich auf das „Geniale“ oder das „Destruktive“ in diesem Menschen zurückführt, ohne definieren zu können, was dieses denn ausmacht. Man wird an die ehrgeizigen Versuche von Pathologen aus dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert erinnert, die das Gehirn von Genies nach deren Tod sezierten um zu begreifen, warum diese Genies waren – natürlich völlig vergeblich. 219 de Beauvoir, Simone, Das andere Geschlecht, Reinbek 2000.

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Da der Mensch nun immer enger und interdependenter mit der Umwelt und der Gesellschaft verflochten ist, er in einer „Struktur“ lebt, werden die Folgen seines verändernden Tuns immer komplexer, je „bedeutender“ dieser Mensch ist, oder als solcher wahrgenommen wird: Wenn ein kleiner Meister zu seinem Lehrling „Basta!“ sagt, interessiert das niemanden; sagt es ein Bundeskanzler, wird daraus eine politische Philosophie, die weitreichende Folgen hat. Sagt ein Schuldirektor, seine Lehrer seien „faule Säcke“,220 ärgert das vielleicht die Lehrer seiner Schule, aber ansonsten bleibt das folgenlos. Sagt es ein Ministerpräsident, stört er eine große Menschenmenge auf und initiiert gewaltige Veränderungen – in diese und jene Richtung, darauf kommt es hier nicht an. Also gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der „Bedeutung“ des Individuums und der Bedeutung seiner Handlungen, zumeist wird das mit dem Begriff der „Verantwortung“ umschrieben: Je höher jemand gestellt ist, desto mehr „Verantwortung“ trägt er. Er muß sie tragen, weil sein Handeln Folgen auslöst, die weit über das hinausgehen, was man bei „gewöhnlichen“ Menschen erwarten kann. Hinzu kommt, daß jedes Handeln wie unter einem Vergrößerungsglas gesehen wird: Auch kleine, unbedachte Worte und Taten können gewaltige Wirkungen auslösen; John Röhl hat das für Kaiser Wilhelm II. 221 auf tausenden von Seiten minutiös nachgewiesen: Der Kaiser glaubte, er allein könne die Politik insgesamt lenken und so verändern, wie es seinem neoabsolutistischen Selbstverständnis entsprach, und Röhl stellt die These auf, daß Wilhelm II. tatsächlich in diesem Sinn ein „autokratischer“ Herrscher gewesen ist und damit die höchste und letzte Verantwortung für die Geschichte trug, die in den Ersten Weltkrieg führte. Diese These ist schon deswegen fragwürdig, weil sie die komplexe Dialektik verkennt, die einen modernen Staat auszeichnet, aber sie ist geeignet, etwas Grundsätzliches zur Frage beizutragen, warum sich überhaupt etwas verändert, wenn als Ausgangspunkt ein optimaler Zustand, wie er mit der Reichsgründung von 1871 eingetreten war und von der Mehrheit des Volkes so verstanden wurde, vorliegt. Daß dabei zu einem bestimmten Prozentsatz auch bei Wilhelm II. der Faktor des Ungenügens den Ausschlag gab und die Veränderungen bewirkte, führt zu der generellen Frage, ob man die Faktoren des „Genügens“ oder „Ungenügens“ im komplexen Bild der Gegenwart irgendwie quantifizieren kann, so daß sich hieraus ableiten ließe, warum Veränderungen aus Ungenügen oder trotz „Genügens“ dann eintreten, wenn ein bestimmter Grenzwert gleichsam prozentual überschritten wird. Banal gesprochen: Zwar ist nach der opinio communis „alles gut“, aber einige meinen, alles sei doch nicht so gut – ob man es verändern soll? Wieviel Ungenügen wird „billigend in Kauf genommen“, um das existierende Optimum nicht zu gefährden? Im Fall von Wilhelm II. handelt es sich um Dinge, die von der Allgemeinheit als „gut“ empfunden wurden und vom Kaiser nach dem Prinzip „car tel est nostre plaisir“ 220 Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen, zitiert in: Schwandt, Ehrhard, Lehrer sind faule Säcke. Nachrichten aus der pädagogischen Provinz, Berlin 1996. Vgl. auch Die Zeit 26/1995, „Faule Säcke?“ 221 Röhl, John, Kaiser Wilhelm II., 3 Bde., München 1993–2008.

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dennoch verändert wurden. Solche Veränderungen lösen oft eine Kettenreaktion aus, ohne daß die eigentliche Ursache erkennbar wäre. Von daher entstand die Denkfigur von der Geschichte als eines von selbst ablaufenden seelenlosen Mechanismus, in dem es logischerweise dann auch keine Verantwortlichen mehr gibt, selbst dann nicht, wenn Einigen eine besondere Verantwortung zugesprochen wird – ein paradoxes Resultat.222 Wie funktionieren Veränderungen, wenn das Individuum in einem Kollektiv aufgeht, anders gefragt: Lassen sich Kollektive als Individuen verstehen? Im Historismus war es eine ausgemachte Sache, daß Nationen und Staaten insgesamt als organische Individuen angesehen werden müssten; Friedrich Meinecke hat in seinen Werken die Entstehung dieses Gedankens beschrieben. 223 Von daher war es logisch, solchen Gebilden menschliche Eigenschaften zuzusprechen – von guten bis schlechten, und oft wurden andere Völker mit solchen identifiziert, entlarvenderweise sogar durch die Verwendung des Singulars: „der Franzose“, „der Russe“ usw. Damit waren nie einzelne Franzosen oder Russen gemeint, sondern das ganze Volk, dem man dann mit anthropologischen Maßstäben begegnete: Es konnte „mutig“ oder „feige“ sein, ein „Krämervolk“ oder „liederlich“, und vermeintliche „Schurkenstaaten“ gibt es bis heute: es existiert nahezu keine menschliche Eigenschaft, die nicht auch auf das Kollektiv als Ganzes übertragbar gewesen wäre. Den „fleißigen Deutschen“ gibt es allen Arbeits- und Urlaubszeitstatistiken zum Trotz als Stereotyp noch heute! Auf die Spitze wurde dieses Denkverfahren in jenen „geographischen“ Darstellungen Europas getrieben, die als Menschen, Tiere, Ungeheuer usw. daherkamen.224 Von daher war es logisch zu vermuten, daß solche Kollektive wie einzelne Menschen handelten. In diesem Fall wurde der wirklich einzelne Mensch, egal wo er sich befand, nur zum Rädchen im Getriebe,225 besser: zu einer Zelle des organischen Staatskörpers: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, brachte es der Nationalsozialismus auf den Punkt. In diesem Fall musste der einzelne Mensch sich seiner Fähigkeit, von sich aus etwas zu verändern, begeben, indem er sich „einreihte“, „gleichschalten“ ließ und seine Fähigkeit dem Staat und seinem Führer zur Verfügung stellte, der darüber allein gebot. Denn nun griff wieder, was schon das Schulkind gelernt hatte: es gab trotz der Gleichschaltung (alle sind in der Klasse vier) „so’ne und solche“; einige waren „gleicher als Gleiche“ – der Volksmund hat dafür in feines Gespür entwickelt. Eine strenge Hierarchie mit dem formalen oder informellen Klassensprecher an der Spitze bestimmte das Bild der Klasse. Das ließ sich leicht auf den Staat übertragen, und der Führer oder Diktator stand 222 In einem Gedicht zur Jahrhundertwende 1899/1900 heißt es: „die Welt ein Maschinengetriebe“ vgl. Salewski, Neujahr 1900. 223 Vor allem in Die Entstehung des Historismus. 224 Ein schönes Beispiel: Hessel Gerritz’ „Leo Belgicus“ vgl. F.A.Z 14.03.2009, 43. Dormeier, Heinrich, Humoristisch-satirische Europakarten von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg. Bestand und Besonderheiten, in: Stamm-Kuhlmann, Thomas/Elvert, Jürgen/Aschmann, Birgit/Hohensee, Jens (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag (HMRG Band 47), Stuttgart 2003, 525–542. 225 Weltberühmt wurde die Darstellung Charles Chaplins in Moderne Zeiten. (USA 1936)

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an der Spitze einer Pyramide aus lauter Gleichgeschalteten aber nicht Gleichen. Gerade Diktatoren liebten es, sich wie ihre Anhänger, ihr „Volk“ zu kleiden, um damit zu suggerieren, sie seien nicht „besser“ oder „größer“ als diese. Der von Sun Yat-sen eingeführte Anzug wurde in der westlichen Wahrnehmung zum „Mao-Anzug“, den angeblich alle Chinesen trugen. Das stimmte zwar nicht, dennoch trug diese Vorstellung dazu bei, in den unter kommunistischer Herrschaft „ächzenden“ Chinesen „blaue Ameisen“ zu sehen – in dem entsprechenden fleißigen „Ameisenstaat“. Bemerkenswerterweise spielte bei Diktatoren und Staatsmännern auch die körperliche Größe (oder das Gegenteil, man denke an Napoleon, „le petit caporal“) eine Rolle; manche versuchten durch allerlei Tricks „größer“ zu erscheinen.226 Aber indem „die Großen“ so taten, als seien sie Menschen „wie du und ich“, wurden sie doch zu besonders „Großen“, wobei der uralte Topos der Bescheidenheit eine wichtige Rolle spielte – häufig war unter den Anhängern Hitlers die Rede von der „wahren Größe“ des „Führers“, die sich gerade in seiner „Bescheidenheit“ spiegele. Dennoch hatte das zelebrierte Eintopfessen des „Führers“ am „Eintopfsonntag“ mit dem der gewöhnlichen Volksgenossen nichts zu tun. Von Napoleon bis Hitler und Mao gibt es zahlreiche Beispiele für diese bewussten Anbiederungen. Noch heute kann man mit Amüsement beobachten, wie mancher brave bayerische Politiker in der Fernsehöffentlichkeit auf der „Wies’n“ tapfer seine „Maß“ Bier trinkt, obwohl man ihm ansehen kann, daß ihm eine Tasse Kaffee viel lieber wäre. Kommt man auf Hitler zurück, so war genau das die Basis seiner Macht, indem er sich die Basis anverwandelte und den Eindruck zu erwecken verstand, es sei genau umgekehrt. Sogar verheiratet war er mit „seinem Volk“. Nun bewirkte er und er allein die Veränderungen, seien sie ihm von außen aufgezwungen, seien sie seiner „genialen“ Eingebung geschuldet, daraus entstand die These vom „starken Diktator“227 Hitler, der sich in bester absolutistischer Manier als „erster Diener seiner Rasse“ präsentierte. Letzteres könnte eine mögliche Erklärung für an sich unerklärliche Veränderungen sein: Der Macht-Mensch begreift sich nicht nur als „legibus absolutus“, sondern als Demiurg, als Schöpfer, oft versucht er zu einem Heiligen zu werden, im Mittelalter war man mit dem „heilig“ als Epitheton für Könige rasch zur Hand („Ludwig der Heilige“).228 Bei Michael Burleigh229 („Irdische Mächte, göttliches Heil“) findet man dazu zahlreiche Beispiele. Schöpfer aber ist man nur dann, wenn man etwas schöpft, am besten aus sich selbst heraus – wie Zeus Athene, wie der Christengott seinen Sohn. Die bei bestimmten Menschen anzutreffende unendliche Selbstüberschätzung will es tatsächlich mit dem weltenschöpfenden Gott, 226 Als Karl Dönitz, später Gerhard Schröder buchstäblich vor mir standen, kam sie mir als ausgesprochen „klein“ vor – Helmut Kohl dagegen „riesig“. 227 Funke, Manfred, Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen, Düsseldorf 1989. 228 Daß es dazu einen gewissen theologischen und teleologischen Zwang gab, darf freilich nicht geleugnet werden. 229 Burleigh, Michael, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008.

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der als existent postuliert wird, (Hitler ließ daran keinen Zweifel, auch Stalin berief sich nachweislich auf Gott) – in Konkurrenz treten, und da ein wesentliches Kriterium die Einmaligkeit, das noch nie Da gewesene ist, man weder Huhn noch Ei sein will, kann es dazu kommen, daß solche Menschen für andere irrational, ja kontraproduktiv Dinge anstoßen und in die Welt setzen, von denen sie hoffen, daß sie die Geschichte bewegen werden: Das wäre dann eine Geschichte von ihren Gnaden.230 Sie unterläge nicht mehr Gott, einem Schicksal oder einer Vorsehung, sondern allein ihnen selbst. Auf diese Weise glauben sie sich Unsterblichkeit zu verschaffen – und zünden, wie Nero Rom an oder wollen, wie Xerxes bis zu den Säulen des Herakles. Alexander will nach Westen ziehen, nachdem er den Osten unterworfen hat und damit die ganze bekannte Welt erobern,231 Caesar nach Osten, weil er den Westen besiegt hat und die Weltherrschaft zum Greifen nahe sieht, Hitler nach Indien, weil die Sowjetunion zusammengebrochen ist und der nationalsozialistischen Weltherrschaft nur noch Amerika und Japan im Wege stehen, Stalin die sibirischen Ströme umleiten, weil der Staat „abstirbt“ und es nur noch die klassenlose Gesellschaft gibt, die sonst nichts mehr zu tun hat. Die Weltgeschichte ist voll von solchen unsinnigen Handlungen und Ideen,232 die, wurden sie begonnen, die Geschichte aber tatsächlich weitergetrieben, zu teils gewaltigen Entwicklungen geführt haben. Näheres Zusehen macht freilich oft klar, daß auch diese anscheinend aus dem Nichts stammenden Anstöße sehr wohl auf historische Reminiszenzen zurückgehen – die historische Kette: Alexander-Caesar-NapoleonHitler-Stalin macht das deutlich. In christlich geprägten Zeitaltern wurden solche Bemühungen von den etablierten Kirchen und frommen Zeitgenossen oft als „Blasphemie“ empfunden – dagegen regte sich Widerstand, von Canossa233 und der Vendée bis zur Bekennenden Kirche und zu „Solidarnosc“. Die Kehrseite der Medaille besteht in der Idee nicht der Weltenschöpfung, sondern der Weltvernichtung, unterliegt doch auch die Vorstellung von der Doomsdaymaschine234 dem nämlichen Muster, und es gibt im atomaren Zeitalter genügende Anhaltspunkte dafür, daß so etwas nicht nur als biblische Apokalypse denkbar, sondern hier und heute auch machbar ist. Über 70.000 atomare Sprengköpfe in den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges hätten zur buchstäblichen Weltvernichtung ausgereicht. Schon Hitler werden in der Düsternis seines Endes solche Phantasien nachgesagt – zum Glück hatte er keine Atombomben.235 Deswegen sind Technologien, die das ermöglichen, mit unkalkulierbaren Gefahren verbunden, wenn sie in die falschen Hände geraten, obwohl diese die „richtigen“ zu sein 230 Klaus Kinski hat das in Fitzcarraldo glänzend gegeben. Regie: Werner Herzog (BRD 1982). 231 Demandt, Alexander, Alexander der Große, München 2009. 232 Laak, Dirk Van, Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technische Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999. 233 Vgl. die Deutung Canossas durch Johannes Fried. 234 Vorgedacht von Hermann Kahn, spielte sie im Film (Kubrick, Dr. Strangelove) und in der Musik (Melodic Death Metal Band), in Star Trek und vielleicht auch in der Wirklichkeit eine Rolle. 235 Genau das behauptet jedoch Karlsch, Rainer, Hitlers Bombe. Die Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche, München 2007.

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scheinen – die Geschichte der Nonproliferation ist die Geschichte des (aussichtslosen) Versuches, ihnen zu begegnen. Da das diejenigen der Jüngeren wissen, die von derlei Ideen geplagt werden, wirken sie als zusätzliche Verführung: Geschichte machen ist möglich, das ist bewiesen: also mache auch ich Geschichte. 236 Nicht als Objekt, sondern als Schöpfer dieser Geschichte, schlimmsten- und ersatzfalls als deren Vernichter. Nicht die Geschichte geht weiter: Ich gehe weiter! 7. EINZELNE UND VIELE Wurde bisher vom einzelnen Menschen ausgegangen, wenngleich es vereinzelte Menschen, sieht man von Robinson Crusoe zeitweise ab, nicht gibt, so stellt sich als nächstes die Frage, wie Kollektive insgesamt verändern, wie die einzelnen „Rädchen im Getriebe“, die „Einzelzellen“ des Organismus miteinander umgehen und sich am Ende zusammenfügen, um Bestimmtes zu verändern. Ein Mensch sagt: Ich bin Schüler. Oder: Ich bin Soldat. Oder: Ich bin Katholik. Oder: Ich bin Deutscher. Das heißt, er begreift sich nicht allein als Einzelsubjekt, sondern als Teil eines größeren Ganzen, das eine höhere Kompetenz und Legitimität beansprucht als jene, über die er als Einzelwesen verfügt. Damit wird er nicht nur zum Rädchen und zur Zelle, sondern auch, weil er vernünftig ist, zum Repräsentanten, zum Symbol für etwas anderes als er selbst es ist; er ist gleichsam außer sich, jede Uniform237 oder Tracht zeugt davon. Als der amerikanische Präsident George W. Bush am „Ground Zero“ 2001 einen Feuerwehrmann demonstrativ in den Arm nahm, war das kein bestimmter Mr. Miller (Name erfunden) sondern „der Feuerwehrmann“ in seiner Feuerwehruniform. Er sollte bloß der „firefighter“ „an sich“ sein; der persönliche Name war gleichgültig und uninteressant.238 Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, der Einzelne ist zugleich „überzeugter“ Feuerwehrmann, Soldat, Katholik, Deutscher, was auch immer, oder er ist es par la force des choses – also dank Herkunft, Bildung, Tradition, Zwang usw. In ersterem Fall wird sein Bestreben dahin gehen, sich als Persönlichkeit mit dem Überpersönlichen zu identifizieren, in letzterem nach Möglichkeit sich von ihm abzugrenzen, was bis zur Verleugnung oder Bekämpfung des Kollektivs gehen kann, dem er zwangsweise angehört. Dazwischen gibt es die Gleichgültigen, die wahrhaft A-Sozialen. Beispiele sollen die gepressten Soldaten der friderizianischen Armee und die studentischen Offiziersanwärter von Langemark sein: Viele der Ersteren empfanden sich nicht als freiwillige „Soldaten“ und Vaterlandsverteidiger, sondern als 236 „Mach keine Geschichten!“ Was heißt das? 237 Beim Militär, auch der Bundeswehr, wird nie versäumt, Rekruten darauf aufmerksam zu machen, daß sie mit ihrer Uniform ihr Land vertreten und repräsentieren. 238 Der Vergleich mit dem „unbekannten Soldaten“ bietet sich an. Sibylle Salewski erhielt als Journalistin vom SFB den Auftrag, die Identität des Feuerwehrmannes zu lüften – nur für Deutschland. Sie schaffte es. Hans von Seeckt prägte die Devise: „Generalstabsoffiziere haben keinen Namen“.

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dazu gezwungene (durch das Kanton-Reglement) und wollten ihren Status ändern: sie desertierten, wo möglich. Die anderen fühlten sich als Kameraden unter gleichgesinnten Kameraden und fielen „freudig“ für das Vaterland – angeblich239 mit dem Deutschlandlied auf den Lippen: symbolischer Beweis für die vollständige Identität zwischen Individuum und Kollektiv. Bewegten sich diese in Harmonie und parallel zu dem Kollektiv, vermieden alle Spannungen mit ihm, gerieten Erstere in ein permanentes Spannungsgeflecht, aus dem sie sich zu befreien suchten. Sie wollten die Veränderung, sie wollten, daß das, worin sie verstrickt waren, sich ändert. Diese beiden Gruppen bewirkten Veränderungen, die auf die gleichgültige Masse – denn von deren Mehrheit muß man ausgehen – nolens volens einwirkten, meist half auch eine „innere Emigration“ nicht. Je rigoroser und durchorganisierter ein Staat oder eine gesellschaftliche Gruppe waren, desto schwieriger wurde es allen gemacht, die sich dem entziehen wollten. (Dies war nach 1945 das Standardargument der „Mitläufer“). Das wiederum führte zu dem Paradox, daß diejenigen, denen alles egal war, oft höchst aktiv werden mussten, um ihren Standpunkt behaupten zu können. Man kann dieses Paradox am Phänomen des „Nichtwählers“ verdeutlichen: Indem sich dieser bewusst seines Wahlrechts begibt, fördert er ungewollt meist Standpunkte, die seinen Idealen und Vorstellungen gar nicht entsprechen – beispielsweise radikale Parteien. Kommen diese an die Macht, wird er es noch schwerer haben, seinen Standpunkt der Gleichgültigkeit zu bewahren, und oft wird er sich nun an jene wenden müssen, die ihm höchst gleichgültig waren, nun aber als das geringere Übel betrachtet werden: Er wählt wieder das geringste Übel, nicht aus Überzeugung, um später hoffentlich überhaupt nicht mehr wählen zu müssen.240 Diese dialektischen Zusammenhänge werden heute in der Politischen Bildung vermittelt (oder auch nicht). Menschen, um es nun zu verallgemeinern, die mit den Kollektiven, in denen sie leben, zufrieden sind, verspüren keinen Drang, die Kollektive zu ändern, bei den anderen ist es umgekehrt, sie treiben die Geschichte voran. Es gibt zahlreiche Biographien, in denen beide Positionen nacheinander vertreten werden: Aus Monarchisten werden Republikaner, (Friedrich Ebert, Gustav Stresemann) aus Protestanten Katholiken, (Heinrich IV.) aus Kommunisten Neo-Nationalsozialisten (Horst Mahler) aus Verändernden Beharrende und umgekehrt.241 Man nehme zum Beispiel Napoleon I.: Er war innerhalb „der Revolution“ großgeworden, diente ihr, war mit ihr eins. Irgendwann – wahrscheinlich nach dem Italienfeldzug – genügte ihm dies nicht mehr, er wollte an die Spitze der Revolution treten, und nachdem ihm dies gelungen, sie beenden und überwinden, auch das gelang ihm.242 Damit stand er auf der einen Seite immer noch in der kollektiven Revolution, auf der anderen über und gegen sie. Das konnte bis zur Groteske gehen, daß er seine 239 Das war eine patriotische Presse-Erfindung. 240 Eine Nichtwählerpartei gibt es nicht, vgl. den Bericht des Instituts Allensbach in: F.A.Z. 22.07.2009. 241 Für Bismarck wurde der zeitgenössische Begriff „weißer Revolutionär“ geprägt – vgl. den Titel der Biographie von Lothar Gall. 242 Paradigmatisch: Bainville, Jacques, Napoléon, Paris 1931.

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Frau Josefine Beauharnais verstieß und eine Lothringerin heiratete, um in einer Volte rückwärts in den uralten Adel Europas als gleichwertig aufgenommen zu werden – in den gleichen Adel, den er wie kaum ein anderer bekämpft hatte und weiter bekämpfte.243 Nebenbei bemerkt gehörte er zu jenen von Hegel beschriebenen „Großen“, die „weltbewegend“ wirkten und wussten was an der Zeit war; für Jacob Burckhardt blieb er der „kräftige Ruinierer“, was im Sinne von Weltschöpfung versus Weltvernichtung aufs selbe herauskam.244 Die ungeheuere „Beschleunigung“ der Geschichte zwischen 1789 und 1815 hatte das Prinzip der Veränderung in der Geschichte auf seinen bisherigen Höhepunkt geführt; daß es danach wieder „langsamer“ zuging, war natürlich, wurde von jenen, die diese Zeit bewusst erlebt und mitgestaltet hatten, aber als Stillstand und Stagnation empfunden,245 wogegen sich Widerstand regte – die Jahreszahlen 1830 und 1848 deuten den Prozeß an, der bereits vertraut ist. Ist „der Geist“ eines Kollektivs, einer Gesellschaft, eines Staates etwas anderes als die Summe der einzelnen Geister (sagen wir besser: der einzelnen Vernunft) der diese Kollektive bildenden Menschen? Gibt es einen „Mehrwert“ oder einen dialektischen Umschlag von der Quantität zur Qualität? Weiß ein Kollektiv mehr als alle einzelnen Menschen in diesem Kollektiv? Was kann dieser „Mehrwert“ sein, wie trägt er zur Veränderung des historischen Prozesses bei – oder tut er das gar nicht? Es kommt nicht von Ungefähr, daß das Wort „Kompromiß“ oft mit dem Adjektiv „faul“ daherkommt. In einem „faulen Kompromiß“ sind Teile der Einzelvernunft verlorengegangen: das Kollektiv weiß also weniger, als es die einzelnen Mitglieder des Kollektivs tun. Oft scheint der Wille jedes Einzelnen in „Kompromissen“ unterzugehen oder sich abzuschwächen. Werden so geschwächte Kollektive von einzelnen Menschen nur als Instrumente ihres eigenen Veränderungswillens benutzt und mißbraucht? Das wird heutzutage gerne Managern von Konzernen und Bankiers unterstellt, die solche riesigen Gebilde nur führen, um sich selbst und ihre Aktionäre „gierig“ zu bereichern, wogegen sich brave Entrüstung vom Bundespräsidenten bis zum Bischof wendet; „shareholder value“ ist zum Schimpfwort geworden. Ob das im Einzelfall stimmt, sei dahingestellt, hier geht es um die viel schwerer wiegende Frage: Wer ist Herr des historischen Verfahrens? Welche Rolle spielten die Staaten? Als sei es selbstverständlich, gingen auch Historiker davon aus, daß es „Preußen“, „England“, „Frankreich“, „Russland“ „Österreich“ gab (und teilweise gibt), und jedem dieser Gebilde wurde eine bestimmte „Macht“ zugesprochen; oft waren die Begriffe „Staat“ und „Macht“ identisch. Die Vorstellung der Rankeschen „Pentarchie“ basierte auf einem Bild, in dem diese fünf „Großen Mächte“246 im Mit- und Gegeneinander den Lauf der Weltgeschichte bestimmten. „Harmonie und Sonderung“ waren für Ranke die eigentlichen Bewegungsgesetze (wobei das 243 244 245 246

Vgl. den Begriff „Drei Kaiser Schlacht“. Was am Beispiel Hitlers Sebastian Haffner schon früh demonstriert hat. Sehr einfühlsam von Vigny, Grandeur et misères militaires beschrieben. Demandt, Alexander, Ranke unter den Weltweisen. Vortrag zu seinem 200. Geburtstag, HU Berlin.

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Wort „Gesetz“ paradox ist) innerhalb der Pentarchie. Bei ihm „spielen“ die Mächte mit den Menschen, es gab auch das umgekehrte Bild: Bismarck „spielte“ mit den Mächten wie ein Jongleur mit „fünf Kugeln“. Das Modell Leopold von Rankes aber überwog: die Mächte, nicht die Menschen „spielten“. Aber was heißt „Macht“? Wie selbstverständlich war Ranke von mehr oder weniger gleich „mächtigen“ Mächten ausgegangen („Die großen Mächte“) – wie anders hätte er seine Gleichgewichtstheorie entwickeln können? In Wahrheit ging es wesentlich nur um zwei, drei Jahrhunderte, und der Zustand der machtpolitischen „Gleichwertigkeit“ währte immer nur wenige historische Augenblicke. Die Machtgewichte verschoben sich – ständig, unvermeidlich, daraus entstand die Dynamik der Diplomatie, ein mächtiger Antriebs- und Veränderungsfaktor.247 Gewiß bemühten sich nach Ranke auch andere um eine Definition dessen, was eine „Macht“, genauer: eine „große Macht“ sei, und derlei lernte man vor fünfzig Jahren noch im Proseminar, aber das Aufkommen von „Weltmächten“, „Supermächten“ einerseits und der Rücksturz von solchen in die politische Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit andererseits zeigten, daß Macht niemals gleich Macht war. Das hing vielmehr von einer ganzen Kette von sich in der Zeit ebenfalls ständig verändernden Faktoren ab. Beispielsweise galten Schweden, auch Dänemark und die Niederlande zeitweise durchaus als „große Mächte“. Sie sanken nach und nach oder auch ziemlich plötzlich – Dänemark 1864 – zu mittleren oder kleinen Mächten herab – aber wie definierte sich das? Durch die Herrschaft über mehr oder weniger Territorien, Heere, Flotten, Volksvermögen? Der Umschlag von der großen zur kleinen (oder umgekehrt) Macht erfolgte sehr oft nach Kriegen und in den nachfolgenden Friedensschlüssen. Auch Österreich-Ungarn nach 1918 war ein „Fall“, in dem eine große Macht plötzlich zu einer ganzen Handvoll von „kleinen Mächten“ wurde – mit all den machtpolitischen Folgen, auf die es hier nicht ankommt. Manchmal halten sich in den machtlos gewordenen Staaten noch Attribute und Relikte einstiger „Größe“, wenn es beispielsweise in Schweden einen „Reichstag“ gibt oder in Wien eine Hofburg. Es liegt auf der Hand, daß die Geschichte dieser Veränderungen für lange Zeit als der Grundtext von Geschichte überhaupt galt – Geschichte als Mächtegeschichte. Sie war bestimmt durch ständige Veränderungen, die in langen Perioden der Geschichte durch eine – man könnte sagen: – Handvoll Menschen bestimmt wurde. Irgendwann haben aber einzelne Menschen jenseits bloßen diplomatischen und/oder militärischen Vermögens in und für diese „Mächte“ bestimmte Gesetze, Strukturen und Bürokratien geschaffen und nebenbei den Aufstieg des Bürgertums – etwa das „Allgemeine Preußische Landrecht“ (1794), das „Bürgerliche Gesetzbuch“ (1900), das „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ (1909), die Schulpflicht. Oft weiß man später nicht mehr so genau, wer das im Einzelnen denn konkret getan hat. Wer etwa hat verfügt, daß man in Deutschland rechts fährt, in England links? Und wieso werden Geschwindigkeitsbeschränkungen immer auf eine Null abgerundet? also: 100 km, 50 km, 30 km? Wer ist dafür ver247 Klaus Hildebrand erkannte als einer der ersten jüngeren Historiker die historische Bedeutung der Diplomatiegeschichte und nannte eine Buchreihe „neue Diplomatiegeschichte“.

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antwortlich, warum ändert sich das nicht? Anstelle der Null könnte man eine drei setzen, eine fünf – eigentlich jede Zahl zwischen eins und neun. In diesem Kontext unterscheidet sich die Null in keiner Weise von einer der anderen neun Ziffern. Gehört sie auch zu den „magischen“ Zahlen wie drei oder sieben? Es sind beliebte Fernsehquizsendungen, die oft Antworten auf diese im ersten Augenblick absurd oder irrelevant wirkenden Fragen bieten, aber dahinter steckt ein generelles Problem: Sind die Gesetze eines Landes, um ein Beispiel zu nehmen, Ausfluß eines gesellschaftlichen Geistes, Willens, oder sind sie lediglich die Summe von Gedanken, die sich einzelne Menschen in bestimmten Situationen zu bestimmten Zeiten gemacht haben?248 Gibt es den „L’esprit des lois“, wie es Montesquieu behauptete? Kann man das, was die Regel ist, nicht mehr feststellen, gewinnen solche Hervorbringungen ein Eigenleben: alle sind der Roten Ampel unterworfen, obwohl die über keinerlei „esprit“ verfügt, und dem Paragraphendschungel des Strafgesetzbuchs, und da wir nicht mehr im Absolutismus leben, ist es auch keinem Einzelnen mehr möglich, das straflos zu ändern. Soll etwas geändert werden, das ursprünglich als unveränderbar gegolten hat – etwa das Grundgesetz – muß sich ein oft schwerfälliger Apparat in Bewegung setzen, der genau auf dem basiert, was man verändern will – bei uns also dem Grundgesetz. Das heißt: Gesetz, Komment, Bürokratie gewinnen ein oft als „gespenstisch“ begriffenes Eigenleben. Der entlarvende Satz, man wolle etwas „unbürokratisch“ erledigen, weist auf das Dilemma: Die Bürokratie wurde ja gerade deswegen erfunden, weil eine Nicht-Bürokratie als ungerecht, willkürlich und unzuträglich empfunden wurde. Wenn es nun „unbürokratisch“, zugehen soll (regelmäßig nach Naturkatastrophen), so impliziert dies den Verdacht, diese anonyme Bürokratie habe ein Eigenleben entfaltet, und zwar ein als negativ begriffenes: Kein einzelner Mensch entscheidet: Die Bürokratie tut es. Die Bürokratie verändert, und die Geschichte des Formular(un)wesens249 könnte zeigen, wie die Mechanismen beschaffen sind, die zu diesem Ergebnis geführt haben.250 Dieser Gedanke wird auch in der Science-Fiction weitergesponnen, wenn zweckdienliche Erfindungen ein bedrohliches Eigenleben entwickeln – „HAL“, der Computer aus der „Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick, ist dafür nach Orwells „Big Brother“ zum Symbol geworden.251 Aber es geht auch banaler: In jeder modernen Verwaltungsbehörde wird nach einem bestimmten Verfahren gearbeitet, in dem – idealtypisch – ein Sachbearbeiter einen Vorschlag unterbreitet, sein Vorgesetzter diesen ergänzt oder verändert, dessen Vorgesetzter ebenfalls usw. bis zum „Rotkreuz“ oder „Grünkreuz“,252 wie 248 Montesquieus De l’esprit des lois und Voltaires Essai sur les mœurs et l’esprit des nations machen das Problem deutlich. 249 Abdullah, Rayan/Henze, Karsten, Formulare – von der Wiege bis zur Bahre. Formulare im Corporate Design, München 2007. 250 Sehr hübsch thematisiert in der Oper von Boris Blacher, Preußisches Märchen: „Das Leben ist ein Vorgang, geordnet A bis Z“. 251 Schmiederer, Ernst, HAL, der Bordcomputer aus „2002 Odyssee im Weltraum“ feiert Geburtstag, in: Die Zeit 14/1997. 252 Damit ist das verbindliche Farbstiftsystem gemeint.

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es in der „Geheimsprache“ von Bürokratien heute oft heißt. Man spricht von einem „Kamm“, der abgearbeitet werden muß, wenn eine Sache nicht nur in der Hierarchie von unten nach oben behandelt wird, sondern gleichzeitig von mehreren Sachbearbeitern oder Referenten auf gleichen Ebenen. Schon Heinrich Otto Meisner hat daraus in seiner „Archivalienkunde“253 das Fazit gezogen, daß das revidierte Konzept das wahrhaftige Original ist. In diesem Idealfall kann der Historiker genau ablesen, wer was wann und warum verändert hat, so daß man die Verantwortung dafür exakt zuordnen kann, wobei das Prinzip und das Problem der Letzt- oder Gesamtverantwortlichkeit, das beispielsweise in zahlreichen Kriegsverbrecherprozessen eine wichtige Rolle gespielt hat, hier nicht berücksichtigt wird. Man kann also tatsächlich sagen: Quod est in actis est in mundo, Veränderungen werden sichtbar. Daß dies im Zeitalter des Telefons und des Computers oft nicht mehr der Fall ist, beklagen nicht nur Historiker – je transparenter die Welt im Zeitalter der informationellen Revolution wird, desto undurchschaubarer auch. Bürokratie mag lästig sein, sie ist aber nicht existentiell, auch die Bürokratie hat sich von der Keilschrift bis zum Computer ständig fortentwickelt. Manchmal wurde sie auch „abgebaut“, im schlimmsten Fall bis hin zur Willkür. Die „Geheime Staatspolizei“254, eine breit wuchernde Bürokratie, gilt bis heute als ein abschreckendes Beispiel. Indem man diese pervertierte Bürokratie dann wieder bekämpfte, erstand sie nach 1949 neu mit dem Versprechen, fortan werde es „gerechter“ zugehen. Wurde diese „Gerechtigkeit“ ins Absurde getrieben, mußte die „wuchernde“ Bürokratie wieder „beschnitten“ werden,255 was nicht ohne bürokratische Vorgaben und Prinzipien möglich war – ein circulus vitiosus. Großen Kollektiven wie Staaten, Nationen, Kirchen unterstellt man ein Eigenleben, aber nicht im Auf und Ab bloßer Bürokratie. Tut „Frankreich“ etwas? Oder „Russland“? Und wer oder was bestimmt, was wer tut, also verändert? Von der jeweils höheren „Verantwortung“ von Menschen, die viel zu sagen haben, war schon die Rede, nun geraten die „Staatenlenker“ in den Blickpunkt, die sich nicht mehr als Demiurgen empfinden, aus sich heraus keineswegs Neues schaffen wollen, sondern sich als Beamte ihres Staates begreifen, also im Sinne des Beamtentums „weisungsgebunden“ sind. Der letzte „Weisungsbefugte“ in der Hierarchie ist „der Staat“, (oder die Kirche, der Konzern, was auch immer) dem sie dienen. Es kommt nicht von ungefähr, daß gerade im Zeitalter des Absolutismus die Devisen aufkamen: „Ich dien“, (Friedrich Wilhelm der Große Kurfürst) „Ich bin der erste Diener meines Staates“, (Friedrich II.). „Patria inserviendo consumor“ (Bismarck). Das „L’étât c’est moi“ Ludwigs XIV. klingt zwar umgekehrt, stellte aber ebenfalls eine untrennbare Symbiose zwischen Herrscher und Staat her, und daß dieser Staat allemal „größer“ war als auch der größte Ludwig, lag auf der Hand.

253 Meisner, Heinrich Otto, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Göttingen 1969. 254 Paul, Gerhard, Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 2003. 255 Meistens wird Bürokratie „abgebaut“ – was suggeriert, sie sei ein bauliches Gebilde – eher ein Labyrinth.

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Wiederum Ranke hat es dann auf den absurden Höhepunkt mit seiner Behauptung getrieben, Staaten seien „Gedanken Gottes“. Alle diese Devisen weisen auf das Problem hin: Da ist ein Staat, der einen eigenen Willen, ein eigenes Leben, einen eigenen Geist besitzt: und ich bin dessen oberster Diener, ich muß ihm, seiner „Staatsräson“ gehorchen.256 Tatsächlich führt das „legibus absolutus“ in die Irre, denn von den eigentlichen, den als „göttlich“ begriffenen Gesetzen ist der Fürst mitnichten absolutus, ganz im Gegenteil: Er ist ihnen ganz besonders unterworfen, hat ihm doch Gott, und nur Gott, auf den Thron verholfen – daran glaubte noch Wilhelm II. So war es nur logisch und konsequent, wenn Ludwig XIII. und Ludwig XIV. Kardinäle als erste Berater engagierten – Richelieu257 und Mazarin.258 Diese waren nicht nur gute „Staatsdiener“, sondern auch Kirchenfürsten, den Gesetzen und Moralgeboten der Kirche unterworfen – wenigstens in der Theorie, aber die färbte doch auf die Praxis ab. Die Kardinäle waren gleichsam „Botschafter Gottes“. Das hat lange Zeit in der Geschichtswissenschaft niemanden interessiert; inzwischen wissen wir, daß das bedeutsam war.259 Solange das Konstrukt von den Staaten als „Gedanken Gottes“ gültig war, konnte man über die Eselsbrücke vom Gottes-Dienst zum StaatsDienst gehen,260 aber das ist bei einer säkularisierten Staatsidee nicht mehr möglich. Also: was tun? Wie sich begreifen, wie den Staat begreifen? Vorschläge dafür hat es genug gegeben – vom „Nachtwächterstaat“ Ferdinand Lasalles bis zum Staat als bloßer „Versicherungsanstalt“, und im Zeichen der Säkularisierung wurde solchen kollektiven Gebilden, das mussten nicht nur Staaten sein, jede Metaphysik abgesprochen. Dagegen sprachen zu fast allen Zeiten Staatssymbole,261 die manchmal bewusst wie beim Danebrog, der während der Schlacht von Lyndaniz 1219 vom Himmel gefallen sein soll, manchmal unbewußt als transzendent begriffen wurden; niemand durfte sie beleidigen. Jede verbrannte Fahne Israels bei pro-palästinensischen Demonstrationen meint das Land selbst, das „verbrannt“ werden soll, und wird die Nationalhymne des sportlichen Gegners vor einem Fußballspiel ausgepfiffen, soll das Spiel abgebrochen werden.262 Dennoch bleibt die Frage: Was tut „Israel“? Was die „Deutsche Bank“? Was will „die Kirche“? Wie versteht sich „die Bundeswehr“? Das sind Organisationen, die nach dem Prinzip der volonté générale und nicht der volonté de tous263 funktionieren – 256 Wieder hat Friedrich Meinecke dies in seiner „Idee der Staatsräson“ am tiefdringendsten durchdacht und dargestellt. 257 Aus der großen Fülle: Mousnier, Roland, L’homme rouge ou la v ie du cardinal de Richelieu (1585–1642), Paris 1992. 258 Dulong, Claude, Mazarin, Paris 1999. 259 Schultz, Uwe, Richelieu. Der Kardinal des Königs. Eine Biographie, München 2009. 260 Das klang noch in der berüchtigten Sportpalastrede von Josef Goebbels nach, wenn er behauptete, die Soldaten würden in den Kampf (für das Reich) „wie in einen Gottesdienst“ gehen. 261 Hattenhauer, Hans, Deutsche Nationalsymbole. Geschichte und Bedeutung, München 1980; 4. Auflage 2006. 262 Diese Anregung wurde in Frankreich formuliert. 263 Die „volonté de tous“ wird im Sinne Rousseaus negativ gewertet: Pöbel, Masse, Stimmvieh sind gängige Umschreibungen.

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aber sind sie nicht mehr? Damit wird der Verdacht lebendig, es könnte tatsächlich eine metaphysische Welt geben, in der nicht Menschen als Individuen, sondern irgendwelche „Geister“ lebendig und wirkungsmächtig wären. Tatsächlich ist sehr oft vom „Geist“ einer Sache, einer Menschenmenge, einer Organisation die Rede; der „Klassengeist“ in Schulen ist zur Satire geworden. Einzig Kirchen, Konfessionen und Religionen insgesamt haben mit dieser Vorstellung kaum Schwierigkeiten und halten unverbrüchlich an der uralten Idee fest, daß ihr jeweiliger Gott die Geschichte „macht“, „lenkt“, dafür sorgt, daß sie weitergeht oder aber in einem „jüngsten Tag“ endet. In Menschenhand hingegen steht, das ist absehbar, nur die Möglichkeit der Weltvernichtung. Freilich sollte man hinzufügen, daß die Denkfigur des „Terraforming“ in der Science-Fiction (aber auch bei „realistischen“ Überlegungen zur Besiedlung von Mond und Mars) eine Rolle spielt: Tote, unwirtliche Planeten und Monde werden zu historischem Leben erweckt; mit der Schaffung von Luft und Wasser beginnt man meist, und Stanislaw Lem hat darauf hingewiesen, daß es ohne Religion nicht geht. In demokratisch-parlamentarisch verfassten Gemeinwesen scheint die Frage nach dem verändernden Urgrund leicht beantwortbar zu sein: Es sind „der Souverän“, das Wahlvolk. Im idealtypischen Schema ist alle politische Macht immer nur geliehen; es ist eine beschränkte, eine vom Volkswillen bestimmte. Jeder Bürger, so hört man es in Wahlkämpfen landauf landab, sei der eigentliche Souverän, man möge daraus die Konsequenz ziehen und zur Wahl schreiten. Nun weiß jeder, daß seine Stimme fast nichts zählt – es gibt ab und an in sehr kleinen demokratischen Gemeinwesen wie einer nordfriesischen Hallig Ausnahmen – und er weiß auch, daß sein Willen in dem eines Kollektivs bis zur Unkenntlichkeit untergeht. Nur noch akribische Statistiker erlauben sich den Luxus, Wahlergebnisse bis auf die buchstäblich „letzte Stimme“ auszuzählen. Meist erfährt „der Souverän“ nichts davon und findet sich bestenfalls in einer Tausenderzahl wieder, völlig anonymisiert. Der „Souverän“ als Einzelmensch ist ein Nichts, es sind die Kollektive, die etwas sind – und denken? Wenn die „Deutsche Bank“ etwas will, will das die Mehrheit aller Besitzer oder Aktionäre – und will das der Vorstandsvorsitzende (2008) Josef Ackermann auch, oder doch etwas mehr, das nur er wollen kann? Ist er lediglich der Vollstrecker des Willens der Aktionäre, oder doch mehr? Wofür eigentlich bekommt er sein Gehalt? Doch nicht, weil er Buchhalter und Maschinist der „Deutschen Bank“ ist. Daß er nicht die „Deutsche Bank“ ist, liegt aus einem banalen Grund auf der Hand: Er ist ein Mensch, die „Deutsche Bank“ u.a. ein wolkenkratzerartiges Gebilde in Frankfurt am Main. Es ist nicht anonym, sondern hat ein Logo, gleichsam ein Namensschild, jedermann in Frankfurt kann es sehen. Die „Deutsche Bank“ sagt etwas – allen, die sie sehen; es ist die Kunst der Architektur, dieses Sagen zu entschlüsseln. Das gelingt, manchmal nicht, manchmal spektakulär, das Dresdner Militärmuseum ist das neueste (und eindrucksvolle) Beispiel. Ackermann, den Menschen, sehen die Wenigsten; daß er ein Mensch ist, gerät nur dann ins allgemeine Bewusstsein, wenn er sich „menschlich“ verhält, das kann positiv oder negativ gemeint sein. Wie aber sind die Beziehungen zwischen der

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„Deutschen Bank“ und ihm gestaltet, wobei es hier nicht um das Organisatorische und Administrative geht? Deutlicher wird es weiter „oben“, nehmen wir den Papst: Er vertritt, nach seinem Selbstverständnis, Christus auf Erden. Von diesem erhält er seine Legitimation und seine Befehle. Gleichzeitig ist er ein Mensch in einer herausgehobenen Position und kann enorme Veränderungen bewirken, er ist eine moralische Autorität: Ist er in diesem Sinne aber nur die Hegelsche „Marionette des Weltgeistes“, wie man Christus hier nennen mag? Versteht er sich so, kann er für nichts, er ist völlig unverantwortlich. Das kollidiert aufs Schärfste mit der „höheren Verantwortung“ jedes „höhergestellten“ Menschen. Von daher wäre es logisch, in einem Papst einen völlig verantwortungs-losen Menschen zu sehen und zugleich jenen, der die höchste Verantwortung trägt. Dieser Widerspruch wird deutlich, wenn aus dem Papst der „Prof. Ratzinger“ wird, der ein Buch über Jesus 264 geschrieben hat. Die „Regensburger Rede“ Benedikt XVI. (Joseph Alois Ratzinger?) vom 12. September 2006265 trieb diese Schizophrenie auf die (vorläufige) Spitze. Nimmt man an, daß abstrakte Organisationen von Staaten und Kirchen bis zu Schulen und Krankenhäusern wie auch immer etwas „verändern“ können, wobei man wahrscheinlich wieder auf die dialektische Methode zurückgreifen muß, nach der es um die Interdependenzen dieser Organisationen und der Menschen in ihnen geht, liegt es auf der Hand, daß hier eine volonté générale schwer vorstellbar ist, zumal sich die meisten nichtmenschlichen Gebilde in Konkurrenz zueinander befinden: Der eine Konzern will dies, der andere das Gegenteil; die „Deutsche Bahn“ dieses, „die „Lufthansa“ jenes. In der Praxis können sich auf diese Weise Nullsummenspiele ergeben, indem der Veränderungswille auf den des Konkurrenten stößt und beide sich gegenseitig neutralisieren. Autowerke bauen Motoren, die möglichst wenig Benzin verbrauchen, Mineralölfirmen wollen mehr Benzin verkaufen. Setzt sich die volonté générale durch, verändert sich etwas nach dem Prinzip des Parallelogramms der Kräfte. Je nach den einwirkenden Veränderungsvektoren kann das rascher oder langsamer geschehen; in revolutionären Zeiten meist rascher, in konservativen langsamer. Ein weiterer undurchsichtiger Faktor, der bei Veränderungen eine Rolle spielt, ist das Phänomen der Inkompetenz. Dahinter verbirgt sich das generelle Problem – satirisch in „Murphys Law“ gefasst – daß „moderne“ Organisationen dermaßen kompliziert und komplex geworden sind, daß sie von einem Einzelnen, oft auch von den an sich zuständigen Gremien nicht mehr durchschaut und begriffen werden können; jüngst hat die Bankenkrise (HSH Nordbank, Hypo Real Estate, KfW usw.) das deutlich gemacht: Die „Investment-Banker“, so wurde überall kolportiert, hätten ihre eigenen Produkte und Strategien nicht mehr begriffen. Die Öffentlichkeit warf den Vorständen, vor allem aber auch den Aufsichtsräten „Inkompetenz“ vor: Wer also hat Veränderungen bewirkt – in diesem Falle offensichtlich unerwünschte? Alle menschlichen Organisationen basieren auf der Idee 264 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i.Br. 2007. 265 Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Freiburg i.Br. 2006.

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der individuellen oder kollektiven Verantwortlichkeit, tertium non datur. Es lässt sich aber nachweisen, daß Verantwortung manchmal überhaupt nicht wahrgenommen werden kann; die „Fahndung“ nach einem Verantwortlichen läuft oft ins Leere. Dennoch tut man so, als gäbe es bestimmte Persönlichkeiten, die sie trügen – meist mit sehr persönlichen, unangenehmen Folgen für diese. Stereotyp und oft als „mutig“ charakterisiert ist die Erklärung, man „nehme die Verantwortung auf sich“ – obwohl man selbst dafür rein gar nichts könne.266 Gängige Erklärung dafür ist, daß etwas „aus dem Ruder gelaufen“, etwas „außer Kontrolle“ geraten sei – man sucht dann nach „Sündenböcken“. Was aber ist, wenn sich diese nicht finden lassen und eine Bank oder eine Autofabrik dennoch Pleite gehen? Wer oder was hat das bewirkt? Meist erst im Nachhinein wird deutlich, wie an sich „unscheinbare“ Ursachen im Zusammenhang mit anderen „unscheinbaren“ Ursachen zu sehr entscheidenden Veränderungen geführt haben. Die Synergieeffekte bei den Ursachen lassen sich nur nachträglich erkennen oder auch konstruieren; den dramatis personae sind diese Einsichten verwehrt – dennoch werden sie dafür „verantwortlich“ gemacht, weil eine Sache keine Verantwortung tragen kann. Nicht die Brücke am Tay ist an ihrem Einsturz „schuld“ – es ist der Brückenbauer, und da das nun im Selbstverständnis wahrscheinlich aller Architekten und Pontifices gar nicht ging, meinte Theodor Fontane: die Hexen; auch das World Trade Center trifft keine „Schuld“ am unzeitigen Zusammensturz – aber vielleicht neben den Terroristen seine Architekten und Erbauer?267 Die „Vermenschlichung“ von Staaten,268 Organisationen und Gegenständen aller Art führt zu einem weiteren Problem, das als kaum lösbar gilt: Auch wer annimmt, daß Staaten und Organisationen bloß Menschenwerk sind und von Menschen geleitet werden, kommt nicht um die Tatsache herum, daß das, was sie geschaffen haben, in der Regel länger „lebt“ als sie selbst – manchmal hunderte und tausende von Jahren; das Alter des chinesischen Reichs ist ein beliebtes Beispiel, das „tausendjährige Reich“ des Adolf Hitler suchte das zu antizipieren. Das heißt: Solchen Gebilden haftet eine potentielle „Unsterblichkeit“ an, die mit der Endlichkeit der sie lenkenden Menschen drastisch kontrastiert. Die ewige Suche des Menschen nach dem „Gen der Unsterblichkeit“ – in der Science-Fiction ein beliebtes und großes Thema – geht auf den Wunsch zurück, ebenso „alt“ werden zu können wie das, dem man dient. Nur in diesem Fall ließe sich postulieren, daß man dafür wirklich „verantwortlich“ ist, sich tatsächlich damit identifizieren kann. Sarkastisch ist manchmal die Rede davon, dieses oder jenes Land/Organisation werde diesen oder jenen seiner „Lenker“ überleben, „verkraften“, „abschütteln“ – wie der Hund die Flöhe. Sieht man es positiv, wird an die goldenen Eimer zu denken sein, die laut Goethe von Hand zu Hand gereicht werden – was aber ist, wenn einer in der Kette nicht mehr will? 266 Typisch die Erklärung des bayerischen Finanzministers Erwin Huber vom 28. Oktober 2008. 267 Der Katastrophenfilm Flammendes Inferno, Regie: John Guillermin (USA 1974), hat das schon früh und geradezu prophetisch thematisiert. 268 Man entsinne sich des sprichwörtlich gewordenen Satzes von Gustav Heinemann, er liebe nicht den Staat, sondern seine Frau.

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Nehmen wir das „Deutsche Reich“: Gleichgültig, wann man es beginnen lässt: Es gibt keinen einzigen Deutschen, der es „von der Wiege bis zur Bahre“ hätte begleiten, lenken, verteidigen usw. können. Der Begriff „Deutsches Reich“ war über Jahrhunderte stets gegenwärtig, obwohl es ein „Deutsches Reich“ bis 1871 nicht gegeben hat; manchmal wurde der Begriff „Reich“ mit den Epitheta „heilig“ oder „römisch“ garniert. Er enthielt immer aber die historische Dimension und die Hoffnung auf weiteres Überleben – ad infinitum oder genauer: im Danielschen Schema der „translatio imperii“ bis zum Jüngsten Tag. Deswegen galt der „Untergang“ des Heiligen Römischen Reiches 1806 als metaphysischer Skandal, und deswegen musste das Reich in den Augen jener, die den „Verrat“ Franz II. nie anerkannt hatten, „wiederbegründet“ und nicht bloß – neu? – gegründet werden – man entsinne sich der heftigen Debatten im Umkreis des 1. Januar 1871.269 Als „das Reich“ dann 1945 tatsächlich (und wahrscheinlich endgültig)270 „unterging“, rührte das nahezu niemanden, und als die Bundesrepublik Deutschland aus der Taufe gehoben wurde, brach Eugen Gerstenmaier vergeblich eine Lanze für die Bezeichnung dieses Gebildes als „Deutsches Reich“. 271 Die gerade um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkommenden Visionen vom „Untergang“ ganzer Staaten, Rassen, Nationen war immer mit dem Willen gepaart, es nicht nur nicht dazu kommen zu lassen – das „Götterdämmerungsmotiv“ wurde säkularisiert – sondern in einem bestimmten winzigen Abschnitt der Geschichte des „Deutschen Reiches“ dafür zu sorgen, daß über den eigenen Tod hinaus das Wohl des Reiches gesichert blieb. Dann konnte es „ewig“ 272 oder mindestens „tausend Jahre“ lang weiterleben. Die „Walhalla“ bei Regensburg ist sichtbarer Ausdruck dieses Zusammenhangs, die Kyffhäusersage auch.273 Die „Untergangsvision“ selbst ist antropomorph: Wenn Kaiser, Kanzler und Admiräle vor 1914 düster vor dem „Untergang“ warnten („Weltmacht oder Niedergang“), so stand dahinter eine rein menschliche Idee: Eine Nation, eine „Rasse“ könne so „untergehen“ wie ein Mensch mit seinem Schiff. 274 Die sprachliche Kombination von „Vater“, „Mutter“ und „Land“ trug zur Vermenschlichung des abstrakten Gebildes bei; dementsprechend konnte die Idee vom „Vater-LandsVerrat“ entstehen, wobei es bemerkenswert ist, daß von einem „Mutter-LandsVerrat“ fast nie die Rede war. Der „Dolchstoß“ in den Rücken des Vaterlandes von 1918 war durch und durch männlich gedacht. Tatsächlich waren viele Deutsche 1918 verblüfft, daß die Nation (war sie es noch?) keineswegs „untergegangen“ war, sondern sich bloß die Staatsform verändert hatte, während das „Deut269 Wilhelm II. sprach ständig von der „Wiederbegründung“ des Deutschen Reiches durch „Wilhelm den Großen“, seinem Großvater. 270 Vielleicht wurde die letzte Chance zu einer neuen „Wiederbegründung“ des Deutschen Reiches mit dem 3. Oktober 1990 vergeben. 271 Das erzählte mir vor vielen Jahren Eugen Gerstenmaier anlässlich einer Ranke-Tagung. 272 Es wird berichtet, daß Stauffenberg mit dem Ruf „Es lebe das ewige Deutschland“ gestorben sei. 273 Der „Ewige Reichstag“ zu Regensburg auch? 274 Man entsinne sich der Schlachtschiffsuntergangsszene mit Alec Guiness in dem Film Adel verpflichtet, Regie: Robert Hamer (UK 1948).

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sche Reich“ weiterbestand. Es war keineswegs so, daß alle Menschen, die den „Staat“ bildeten, sich als „untergegangen“ fühlten – manche, vielleicht sogar die meisten, ganz im Gegenteil. Der „Untergang“ war nur eine Denkfigur, die aus der Vermenschlichung des Staates resultierte und aus der Furcht, auch Unsterbliche könnten sterben. Tatsächlich wurde oft gepredigt, es sei besser „unterzugehen“ als ein „Helotendasein“ zu fristen – daß Wilhelm II. den heroischen Untergang nicht Folge leisten konnte und sich zum Asylanten machen ließ, versetzte der monarchischen Idee in Deutschland einen Stoß, von dem sie sich nicht mehr erholen sollte. Ganz anders in Israel: im Mythos Massada lebt die Staatsidee noch heute, Soldaten werden dort vereidigt. Heroischer Untergang ist eine uralte Vorstellung und geradezu seit Vergils Zeiten ein Topos in Kunst und Kultur. Richard Wagner demonstrierte es eindrucksvoll im „Fliegenden Holländer“: Dieser könnte bis zum Ende aller Zeiten (das Wagner annahm) weiter „leben“, aber Liebe sorgt dafür, daß er mit seinem Schiff „unter-“ und er in „Nichts“ vergeht – das ihn liebende Weib allerdings auch. Nur weil es den Menschen anscheinend schwerfällt, die „Unsterblichkeit“ des eigenen Kollektivs aus immer „nachwachsenden“ Generationen275 zu begreifen, konnte die Idee vom „Untergang“ ganzer Völker entstehen. Gewiß, denkt man an das Schicksal etwa von Cimbern und Teutonen, ließe sich die Idee „Untergang“ begreifen; in letzter Konsequenz versuchte der Nationalsozialismus mit der Ermordung „aller“ Juden, den regelrechten, buchstäblichen Untergang eines Volkes herbeizuführen – mit kläglichem Ergebnis, so zynisch das klingen mag.276 Ansonsten ist niemals ein Volk „untergegangen“277; selbst die schlimmsten Pandemien haben das nicht geschafft – es blieb immer „nur“ bei einem manchmal drastischen Bevölkerungsrückgang. Auf der „Roten Liste“ stand die Menschheit nie. Aus unzähligen Gründen kam es immer wieder zu „Völkervermischungen“; wurde das als negativ empfunden, ergab sich die absurde Idee der „Rassereinheit“ als Ideal. Wäre diese tatsächlich machbar gewesen, wäre dieses „rassereine“ Volk zum Aussterben verdammt gewesen; Inzucht und Degeneration hätten es vernichtet. Die Griechen von Heute sind nicht die Griechen aus Solons Zeiten, aber ein Stückchen Solon steckt in jedem Griechen. Gewiß hat sich das antike „Griechesein“ bis zur homöopathischen Dosis verdünnt; „die Griechen“ von heute erscheinen als eine Völkermischung. Dennoch lässt sich der eine oder andere Grieche, beispielsweise auf dem Peloponnes, tatsächlich als Nachfahre eines antiken Olympiasiegers denken, und „beim Griechen“ isst man gern. Menschen lassen sich nicht nur in Familien, Sippen, Nationen, Organisationen vielfach „verorten“, sie tun dies auch selbst. Sie werden nicht „vereinnahmt“, sondern sie bauen sich selbst Beziehungen auf – ganz individuell. Die in diesen Beziehungen entstehenden Kräfte und Faktoren sind geeignet, Veränderungen zu 275 Jureit, Ulrike/Wildt, Michael, Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005. 276 Man vergleiche die „Zielvorgaben“ der Wannseekonferenz mit den „Resultaten“! Man hat nur die Hälfte „geschafft“ – und keinen einzigen amerikanischen Juden vergast! 277 Selbst die Herero und Nama nicht, aller – berechtigten – Empörung zum Trotz.

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bewirken, die jenseits des Mainstreams liegen. In der heutigen Zeit hat sich dafür der Begriff des „Netzwerkes“ herausgebildet. Nicht von Ungefähr erinnert er an ein Spinnennetz, in dessen Zentrum der einzelne Mensch, der das Netzwerk geschaffen hat, eben „wie die Spinne im Netz“ sitzt. Der Vergleich lässt sich weiterführen, indem diese „Spinne“ darauf wartet, daß sich in ihrem Netz „etwas tut“, damit sie reagieren kann. Der Aufbau dieses Netzes gehorcht nur teilweise bestimmten Regeln, er ist stärker von individuellen Faktoren abhängig, und da dies prinzipiell für alle Menschen gilt, wird die Geschichte nicht mit einem, sondern mit so vielen „Netzen“ überzogen, wie es Menschen gibt, denn in Netzwerken lebt (fast) jeder Mensch. Heute gibt es sogar ein „World Wide Web“, das mit dieser abstrakten Idee im „Web 2“ buchstäblich ernstzumachen versucht, und (fast) jedermann steckt in ihm. Die einen (konventionellen) Netze sind größer, die anderen kleiner; manchmal kommen sie sich ins Gehege, sie werden nicht nur geknüpft, sondern auch zerrissen, in jedem Fall werden sie durch eine nimmer endende Dynamik bestimmt. Sie verändern sich und das, wofür sie gesponnen worden sind. Sie entstehen im Laufe des Lebens immer wieder und neu. Dabei gibt es einen Zusammenhang zwischen der Bedeutung des Individuums und der seines Netzes. Das hängt von einfachen biologischen Gegebenheiten (Alter) ebenso wie von allen Eigenschaften und erworbenen Fähigkeiten ab. Die Wahrnehmung der Welt und ihrer Geschichte erfolgt gleichsam durch die Maschen dieses Netzes. In der Jugend sind diese größer, in der Mitte des Lebens meist kleiner, am Ende werden die Maschen des Netzes wieder größer, am Schluß ist die „Spinne“ allein, tot und ohne Netz. Jeder Mensch, der aufmerksam lebt, kann an sich selbst beobachten, wie solche Netze entstehen und vergehen: Fäden werden gesponnen, Freundschaften geknüpft, oft über mehrere Stationen, aber genauso gut können die Fäden abreißen, kann das Netz zerreißen – sei es, daß man das bewusst will, sei es als Folge des Umstands, daß die eigene Lebenskohorte älter geworden ist und nach und nach wegstirbt. Zwar lassen sich solche individuellen Netze flicken, indem Alte durch Junge ersetzt werden, aber meist wirkt es lächerlich und frustrierend, wenn ein alter Mensch sich krampfhaft darum bemüht, sein Netz auch dann aufrecht zu erhalten, wenn die ursprünglichen Teilnehmer daran nicht mehr vorhanden sind und jüngere Jahrgänge ihre eigenen Netze zu spinnen beginnen, so dass das alte eigene sehr schnell alt aussieht. Es liegt auf der Hand, daß Netzwerke in enger Beziehung zu Kollektiven und Massen stehen, aber sie sind doch das jeweils individuelle Moment des Lebens und lassen sich nicht „gleichschalten“. Auf diese Weise geraten in alle Veränderungsprozesse individuelle, unberechenbare Momente; die angeblichen „Strukturen“ erweisen sich als relative, die Geschichte verliert auf diese Weise ein weiteres Stück ihrer erhofften Rationalität. Natürlich gibt es Menschen, die sich Netzwerken ganz bewusst zu entziehen suchen – ein extremes Beispiel dürfte der Mönch in seiner Zelle in einem einsamen Schweigekloster sein. Diese Individuen scheiden sich bewusst von der Welt ab; oft meint man, sie seien gar nicht mehr „von dieser Welt“, aber das täuscht, denn nun ist wieder ein dialektischer Vorgang zu beobachten: Indem sie ihr Ere-

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mitendasein pflegen, werden sie zu Markenzeichen einer bestimmten Kultur; haben sie „Pech“, werden sie verehrt, man pilgert zu ihnen: sie werden nolens volens in die (meist religiöse) Gesellschaft als „Säulenheilige“ vereinnahmt und gewinnen gegen ihren Willen oft eine Autorität, die an jene von Geburt an hochgestellter und -geachteter Adeliger mit viel „Verantwortung“ gemahnt. Ein hübsches Beispiel bietet der Eremit aus dem „Freischütz“: Nicht nur daß er das Stück zum guten Ende bringt: Seine pure Existenz erschüttert die Geschichte samt ihren Traditionen bis an den fürstlichen Hof; er, nicht Ottokar ist der Herr des Verfahrens. Weil der Eremit anders als die übrigen Protagonisten über kein „Netzwerk“ verfügt, ist er gleichsam „absolut“ und nutzt dies aus. Die Netzwerkforschung278 bemüht sich, diese komplexen Zusammenhänge zu erläutern; man muß befürchten, daß sie ebenfalls an eine undurchdringliche Grenze gerät. Wie wichtig modernen Gesellschaften die „Netzwerkerei“ ist, lässt sich aus den vielfältigen Bestrebungen ablesen, Netzwerke ganz bewusst zu gründen, zu steuern.279 Häufig wird darauf verwiesen,280 daß mangelnde Netzwerkarbeit zum beruflichen oder gesellschaftlichen Misserfolg führt. Es ist eine vielerörterte Frage, inwieweit Netzwerke moralisch zu beurteilen sind. Das reicht vom Vorwurf „Vetternwirtschaft“ zu betreiben oder „Seilschaften“ zu bilden bis zu veritablen Verschwörungstheorien. Während niemand auf die Idee verfällt sich zu fragen, ob die Zugehörigkeit zu einem (gesetzestreuen) Kollektiv moralisch zu rechtfertigen ist, wird diese Frage bei der Netzwerkerei ständig gestellt; oft müssen sich Menschen entschuldigen, dem einen oder anderen „Old-Boy’s“-Netzwerk anzugehören, das eine oder andere Netzwerk selbst zu schaffen und zu betreiben. Dahinter steckt das Dilemma der nicht normierten „Werte“, die noch zu behandeln sind. Indem jedes Netzwerk je individuell ist und als höchste Räson des Egoismus – im eigentlichen Wortsinn – angenommen wird, werden bei Außenstehenden Zweifel an der Allgemeinverbindlichkeit „sittlicher Normen“ in diesen Netzwerken wach. Das schlechte Image, das Netzwerke oft genießen, beruht auf dem Verdacht, hier würden allgemein gültige Gesetze und Verfahren (etwa bei der Stellenvergabe) unterlaufen, es gehe hierbei nicht „mit rechten Dingen“ zu. Da dies im Prinzip allen Netzwerken unterstellt wird, ergibt sich daraus ein riesiges potentielles Geflecht von Falschheit, Lüge und Betrug, das die Welt in Atem hält. Ob es dieses wirklich gibt, ist zweifelhaft; entscheidend bleibt, daß durch Netzwerke verursache Veränderungen jedes Mal einer moralischen Rechtfertigung bedürfen. Wo diese nicht gelingt, bauen sich Spannungen auf, die zur gewaltsamen Entladung tendieren – und das verändert noch schneller und unkontrollierter als alles andere.

278 Watts, Duncan J., Six Degrees. The Science of a Connected Age, New York 2003. 279 Das war das Thema der HiTaTa von 2008. 280 So im Feminismus, der bewusst „Netzwerke“ zu gründen versucht.

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8. BRUCH UND KONTINUITÄT Historiker haben gelernt, prozeßhaft zu denken, auf dieser Basis funktionieren alle Voraussagen der Zukunft. Der Begriff „Hochrechnung“ umschreibt das Prinzip: Aus allem Wissen der Vergangenheit – bis zum heutigen Tag, insoweit auch dieser vergangen ist – wird auf das Zukünftige geschlossen, und in vielen Fällen erhält man auf diese Weise zuverlässige Aussagen über die Zukunft; Versicherungen und Rentenkassen müssen insofern immer in die Zukunft voraussehen. In Wahrheit ist diese „Zukunft“ nur die fortgeschriebene Vergangenheit, eigentlich hat sie keine Zukunft, denn Zukunft ist das, was wir nicht wissen, schon Jacob Burckhardt hat das so gesehen.281 Nähme man an, daß sich in der Geschichte tatsächlich alles logisch und „prozeßhaft“ vollzieht, könnte es keine qualitativen Veränderungen der Geschichte geben, nur graduelle. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber, daß das nicht der Fall ist, deswegen sprechen Historiker von „Brüchen“ und grenzen sie von „Kontinuitäten“282 ab, was zwei unterschiedliche Sehweisen sind, auch wenn jeder Bruch eine Ursache hat, also auch prozeßhaft entstanden ist, nur mit dem Unterschied, daß man schwer oder gar nicht mehr erkennen kann, wie dieser Prozeß beschaffen war. Er scheint ex nihilo zu kommen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und es ist eine gängige Übung, einen Begriff aus der Biologie zur Umschreibung dieses Umstandes zu verwenden: Mutation. Er wird meist im Zusammenhang mit dem der „Evolution“ verwendet: Das zuerst von Charles Darwin erforschte Prinzip der ständigen biologischen Veränderungen, im „Darwinjahr“ (2009) wieder in aller Munde, wurde schon sehr bald auf die Geschichte und die Gesellschaft übertragen; „Sozialdarwinismus“ wurde zu einem beliebten historischen Schlagwort.283 Dementsprechend verstand man „Mutation“ auch im Darwinschen Sinn. Diese Deutung gehorcht dem gleichen Denkmuster wie jenem, das den Staat oder andere gesellschaftliche Gebilde als „Organismen“ wahrnimmt, denn „Mutieren“ kann nur etwas Lebendiges, etwas Organisches. Diese Mutationen sind die spektakulärste Form der Veränderung, oft unvorhersehbar, überstürzt, die Faktoren Raum und Zeit scheinen außer Kraft gesetzt, die Ereignisse „überstürzen sich“.284 Mutieren niedere Lebewesen wie Viren fortlaufend, so höher organisierte seltener, und „mutierte“ Menschen (im darwinistischen Sinn) sucht man vergeblich – warum also sollte ein noch höheres „Wesen“ wie beispielsweise der Staat „mutieren“? Von einer Demokratie zu einer Diktatur, einer Republik zu einem 281 Burckhardt, Jacob, Griechische Kulturgeschichte, 2. Band, Frankfurt 2000, Abschnitt 4: Die Erkundung der Zukunft. 282 Es gibt zahlreiche Buchtitel mit dem Begriffspaar „Bruch und Kontinuität“; sehr häufig auf die Übergänge von Frieden zu Krieg oder den Holocaust bezogen – beispielsweise: Goodman-Thau, Eveline (Hg.), Bruch und Kontinuität. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1995. 283 Altner, Günter (Hg.), Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, Darmstadt 1981. Sarasin, Philippe, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt/M 2009. 284 Typisch: Der 9. November 1918.

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Kaiserreich usw., der Beispiele gibt es genug, zumal leicht einsehbar ist, daß es einen prozeßhaften Weg beispielsweise von der Republik zur Monarchie nicht gibt, umgekehrt auch nicht, wenngleich es beide „Prozesse“ in der Geschichte immer wieder gegeben hat – aber eben nicht zwangsläufig oder gesetzmäßig. Zwar suggeriert die antike Vorstellung vom Kreislauf der Verfassungen etwas anderes, aber das ist jenem Kreislaufdenken geschuldet, das für den Fortgang der Geschichte als Denkfigur gilt. Nachdem „Gesetze“ aus „der Geschichte“ generell verbannt worden sind – zu Recht – kann es also auch keine „gesetzliche Regelmäßigkeit“ geben, die aus dem einen das andere „gesetzmäßig“ entstehen ließe. Die Theorie des „Sozialdarwinismus“ hat sich als Ideologie entpuppt, die freilich von Diktatoren gerne propagiert und oft grausam realisiert wurde; die unmenschliche Idee und Wirklichkeit der „Euthanasie“ im „Dritten Reich“ bildet ein abschreckendes Beispiel. „Brüche“ in der Geschichte sind auf einer anderen Ebene genau das, was ein einzelner Mensch bewirkt, nur weil es ihm gefällt; einen zureichenden vernünftigen Grund gibt es nicht. Es sei denn, man akzeptiert, daß es verborgene Ursachen gibt, die sich der menschlichen Erkenntnis prinzipiell entziehen. Dann ist man wieder bei der Metaphysik. Sobald man rationale Gründe für einen „Bruch“, eine „Mutation“ erkennen kann, sind sie es nicht mehr, sondern nur besonders rasch ablaufende Prozesse, Kontinuitäten. Diese kann man analysieren – sei es die Geschichte eines Tages, eines Ereignisses. Sehr häufig wird aus einem Bruch eine Kontinuität, wenn man die Ursachen besser erkennen kann: Beispielsweise wurden im 19. Jahrhundert Reformation und die große Französische Revolution eher als Bruch verstanden, heute als säkulare Prozesse; und das, was den Bruch zu einem solchen machte, wird immer kleiner, unscheinbarer, verschwindet schließlich ganz,285 so daß am Ende die Reformation sich über mehrere Jahrhunderte hinzieht, die Französische Revolution spätestens mit der Fronde beginnt. Ähnlich ist es mit dem Faschismus, der nicht erst 1922, sondern schon vor 1914 begonnen hat – und manche meinten, er sei weit über 1945 hinausgegangen, man erinnere sich des Vorwurfs der Achtundsechzigerbewegung, die Bundsrepublik sei „faschistoid“. Gelten „Brüche“ als plötzliche Veränderungen, aus welchen Gründen auch immer, so Kontinuitäten als das Übliche im historischen Prozeß, und wenn sie sich verändern, so gehorchen diese Veränderungen dem dialektischen Prinzip. Das heißt: Etwas verändert sich langsam und stetig so lange, bis aus diesen Veränderungen der qualitative „Umschlag“ erfolgt. Nach wie vor gilt Hegels Philosophie der Geschichte als das Musterbeispiel dieser Geschichtsdeutung, tatsächlich wird sie durch zahlreiche praktische Beispiele bestätigt: Das als autokratisch und monarchistisch begriffene deutsche Kaiserreich verwandelte sich bis 1918 nach und nach zu einem parlamentarischen und demokratischen Gemeinwesen, indem dem Reichstag immer mehr „demokratische“ Rech285 Der (vermeintliche?) Anschlag der 95 Thesen durch Luther an die Tür der Schlosskirche zu Wittenburg wurde gern als typisches Symbol für den „Bruch“ verstanden – heute spielt er (fast) keine Rolle mehr.

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te zufielen, das monarchische Prinzip immer weiter hinter dem einer Regierung zurücktrat, die nun immer weniger als bloße „Leitung“, sondern als auch dem Reichstag, der gewählten Vertretung des Volkes, verantwortlich begriffen wurde: Innerhalb des formell immer noch bestehenden (bismarckschen) Systems war bis 1917 der Höhepunkt dieser schleichenden Veränderungen erreicht,286 und ein Jahr später schlugen diese in eine Revolution um, die nun das etablierte, was man als radikalen Bruch empfunden hätte, wäre es, sagen wir um 1900, geschehen. So aber wurde die Geschichte nur von jenen als Bruch verstanden, die die schleichenden Veränderungen entweder nicht wahrgenommen, oder aber geleugnet hatten – dazu zählte selbstverständlich der oberste Repräsentant des alten Systems selbst, Wilhelm II., der deswegen folgerichtig abdanken und ins Exil gehen musste. Wie sehr dieser „Bruch“ in Wahrheit eine „umschlagende“ Kontinuität war, zeigte sich darin, daß unterhalb der obersten Ebene fast alles beim Alten blieb, weil es bereits im Sinne des Neuen verwandelt erschien. Das führte zu der These, daß es sich 1918 gar nicht um eine „richtige“ Revolution gehandelt habe, denn die „alten Eliten“ blieben weitgehend an der Macht. Das gilt sogar für führende Persönlichkeiten wie Stresemann, Erzberger, Rathenau, sogar Hindenburg. Den beiden Ersteren wurde von manchen Historikern ein „Damaskuserlebnis“ angedichtet, letzterem die Idee des „Ersatzkaisertums“, des „Statthalters“ – in Wahrheit zeichnen sich diese Biographien durch eine große Kontinuität aus.287 Das Gefühl, in der Revolution die Kontinuität zu bewahren, schlug sich u.a. in der Fortführung der Bezeichnung „Deutsches Reich“ und nicht etwa „Deutsche Republik“ nieder, aber auch in der Handels- und Kriegsflagge, so daß der Begriff „Weimarer Republik“ nur ein Unterbegriff war, der auf die neue Verfassung des alten Gebildes verwies. Auch ein drittes Reich hat es nie gegeben, denn das „Deutsche Reich“, also das „erste“ (ein „zweites Reich“ gab es auch nicht), blieb bis 1945 bestehen. Es ist üblich, dem Verhältnis zwischen „Bruch und Kontinuität“ nachzugehen und daraus auf den Charakter einer bestimmten Epoche zu schließen, wobei das eine Extrem oft als „revolutionär“, das andere als „anti-revolutionär“ oder „konservativ“ bezeichnet wird.288 Wenn tatsächlich eine Revolution der anderen folgt, werden diese Revolutionen selbst zu einer Kontinuität; bleibt alles „ewig“ konservativ, steht die Geschichte, wie gesehen, anscheinend „still“. Beides sind Axiome, die mit der historischen Wirklichkeit nichts zu tun haben, aber Hilfsmittel, die es erleichtern sollen, das Prinzip von Veränderung und/oder Beharrung besser zu verstehen. Die subjektiv von den Menschen der Späten Neuzeit in Europa – auf diese wolle man sich begrenzen – empfundene „Beschleunigung“ der Geschichte nahm 286 Rauh, Manfred, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. 287 Wright, Jonathan, Gustav Stresemann 1878–1929.Weimars größter Staatsmann, München 2006; Ruge, Wolfgang, Matthias Erzberger. Eine politische Biographie, Berlin 1976; Pyta, Wolfram, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2009. Gall, Lothar, Rathenau. Porträt einer Epoche, München 2009. Im März 2009 gab es eine Tagung zum Thema: Die vielen Leben der Biographie. Biographien als kulturwissenschaftliches Paradigma (Österreichische Nationalbibliothek Wien, 25.–28. März 2009). 288 Typisch die russischen Revolutionen von 1905 und 1917.

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1789 ihren Ausgang, denn seitdem war der Begriff der Revolution eine ständige Größe; Bismarck wurde der Satz vom „cauchemar des révolutions“ in Abwandlung des verbürgten Satzes vom „cauchemar des coalitions“ nachgesagt; sei es, daß die Menschen in Revolutionszeiten lebten, in einer nachrevolutionären oder einer vorrevolutionären Zeit, und meist wird das französische Beispiel bemüht, in dem tatsächlich vier Revolutionen in kurzer Zeit aufeinanderfolgten, so daß man das gesamte Jahrhundert von 1789 bis 1871 als ein „revolutionäres“ bezeichnen könnte. Die Jahreszahlen 1789, 1830, 1848, 1871 galten jeweils als Höhepunkte in diesem revolutionären Prozeß, wobei die Paradoxie dieses Begriffes bewusst gewählt ist: Geht man nämlich davon aus, daß eine Revolution ein kurzes, heftiges, einen Bruch bewirkendes Ereignis ist, bleibt die Vorstellung, eine Kette von Revolutionen könnte einen „Prozeß“ bilden, paradox. Haben wir es hier wieder mit einem jener dialektischen „Umschläge“ zu tun, die Hegel meinte – diesmal gleichsam nur „umgekehrt“, indem aus den Revolutionen die Kontinuitäten hervorgehen? Wird auf diese Weise Revolution zu einem geistigen Prinzip, zu einer „permanenten“ – wie „semper reformanda“? In der Tat gibt es die Idee der ständigen Revolution: Revolution wird zur Kontinuität, man kann in einem „revolutionärem Zeitalter“ leben. Auch in der Geschichtswissenschaft ist der Begriff „Revolution“289 längst auch zu einem Synonym für Kontinuität geworden, spricht man doch, beispielsweise, von der „agrarischen Revolution“, der „industriellen Revolution“, der „Revolution der Frauen.“ In allen Fällen sind eben keine Revolutionen im „klassischen“ Sinn gemeint, sondern Prozesse der „longue durée“. Das Gegensatzpaar „Bruch und Kontinuität“ aber verweist noch auf ein anderes historisches Phänomen, dem bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist: Warum, so ließe es sich umschreiben, gehen manche Dinge und Zustände, manche Entwicklungen schneller oder langsamer voran als andere? Gibt es Kriterien, nach denen zu entscheiden ist, ob die Geschichte „schneller“ oder „langsamer“ verläuft, und zwar unabhängig von den bereits dargestellten Prozessen der langen bzw. kurzen Dauer? Man kann sich das Problem klarmachen, denkt man an Entwicklungen aus der Vergangenheit, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes stattgefunden haben. Gibt es eine feststehende Relation zwischen sich verändernden Dingen und der dafür erforderlichen Zeit? Warum gehen bestimmte Dinge rascher als andere voran, wenn sie sich qualitativ nur unwesentlich verändert haben? Ein schlagendes Beispiel bietet der Eisenbahnbau oder der von Autobahnen: Das deutsche Eisenbahnnetz wurde wesentlich zwischen 1860 und 1914 gebaut, etwa 50 000 km, pro Jahr also rund eintausend Kilometer. Ab 1914 wurden weiter Eisenbahnstrecken gebaut, aber nunmehr wesentlich langsamer, und 1978 bewegte sich der Eisenbahnbau wie eine Schnecke: für die 178 km zwischen Frankfurt und Köln wurden 20 Jahre von der Planung bis zur Fertigstellung benötigt. Ähnlich ist es mit dem Autobahnbau: Das Grundnetz von etwa 6000 km entstand binnen sechs Jahren; heute benötigt man für einen Kilometer Autobahn zehn bis 20 289 Zum Revolutionsbegriff: Griewank, Karl, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1969.

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Jahre, manchmal länger. Nun kann man einwenden, daß sich die Ansprüche und Verfahren geändert haben, aber wollte man die verschiedenen Bauzeiten miteinander vergleichen, müsste auch berücksichtigt werden, was im Fortschritt der Technik „an sich“ heute beschleunigend wirkt. Die preußischen Eisenbahnen wurden ohne Bagger, Laster und Computer gebaut, aber deren Trassenführung überzeugt bis heute, die Gleisanlagen sind immer noch befahrbar. Das fiktive Eisenbahnnetz von Friedrich List wirkt bis heute „modern“. Auch die Autobahnen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden in „Handarbeit“ und in einer Trassenführung gebaut, die bis heute wesentlich Bestand hat. Gewiß, es waren daran erheblich mehr Arbeiter beteiligt als heutzutage, aber jeder einzelne Arbeiter von Heute wiegt in seiner Effizienz hundert oder gar tausend von 1930 auf, und ein Bagger schafft in einer Stunde so viel wie hundert Arbeiter mit Schaufeln an einem Tag. Der Hauptgrund für die stetige Verlangsamung von Veränderungsprozessen wird gemeinhin in der komplexer gewordenen Bürokratie gesehen, in den Anforderungen eines demokratischen Mitwirkungsprozesses, er gilt auch als Folge einer höheren Wertschätzung der menschlichen Gesundheit, ja der „Menschenwürde – wobei der Einfluß ökologischen Denkens und Handelns ständig größer geworden ist. Ökologische Prinzipien aber haben es in der Regel an sich, technische und industrielle Vorhaben zu verlangsamen oder gar zum Stillstand zu bringen. 290 Das heißt: Zu den säkularen Problemen des 20. Jahrhunderts zählte die Herausforderung, Ökonomie und Ökologie miteineinander zu „versöhnen“, dabei spielte der Zeitfaktor meist keine, oder eine nur untergeordnete Rolle. Natur ist regelmäßig langsam, Technik meist schnell: auf diese Faustformel ließe es sich bringen. Werden frisch gebaute Gebäudeensembles durch neu gepflanzte Bäume „begrünt“, dauert es lange, bis die Bäume zu den Häusern herangewachsen sind – auf Immobilienprospekten ist dies immer schon geschehen. Manchmal versucht man deswegen, große Bäume zu verpflanzen, der Natur auf diese Weise Beine zu machen. Manchmal werden industriell erzeugte Dunst- und Schwefelwolken durch „blauen Himmel“ abgelöst – die Transformation des Ruhrgebietes291 von einem gigantischen Industriemoloch zu einer bukolischen Idylle oder einem riesigen Museum – die „Zeche Zollverein“ ist typisch – ist in vollem Gang; die „Renaturierung“ ist ein Prozeß, in dem die Zeit anscheinend rückwärts läuft. Allerdings gibt es einen „Verfremdungseffekt“, wenn diese renaturierten Landschaften nicht nur zu Museen, sondern auch zur Kulisse umfangreicher künstlerischer Darstellungen werden. Daß sich technische Dinge, die nicht für den „alsbaldigen Verbrauch“ bestimmt“ sind, verändern, verlangsamt historische Prozesse ebenfalls, weil es zu anderen und vielschichtigen Interessenkollisionen zwischen den „Machern“ dieser Dinge und jenen kommt, die sie bloß „erdulden“ müssen – wie die Nachbarschaft einer Start- oder Autobahn, eines Kraftwerks oder auch einer infernalischen Lärm erzeugenden Diskothek. 290 Typisches Beispiel die Kontroversen um Asse und Gorleben als Atomendlager. 291 Hünemörder, Kai, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973) (=HMRG Bd. 53), Stuttgart 2004.

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Im Extremfall hat man es am Ende mit einer Art von Entropie zu tun: nichts geht mehr. Im Phänomen der Planung von Atomkraftwerken wurde das bereits sichtbar. Manche wurden gebaut, aber nie in Betrieb genommen. Sie stehen als häßliche Mahnmale sinnlos in der Landschaft (Mülheim-Kärlich) oder sind zu einem harmlosen Freizeitvergnügen geworden (Hamm-Uentrop). Das heißt: Das höhere Bewusstsein von der Komplexität aller Veränderungen bringt diese irgendwann zum Stillstand, und Bewegungen können nur noch dann entstehen, wenn sie mit einem an sich untragbaren Risiko, mit Skrupellosigkeit, ja mit Lug und Trug erkauft sind. Auch dafür gibt es Beispiele. Die blauäugige, besser: grüne Vorstellung, bevor sich etwas verändern darf, müssen alle möglichen Folgen dieser Veränderung bedacht sein, führt sich ad absurdum, wenn gerade durch diese potentielle Veränderung etwas Neues bewirkt werden soll, das man zwar „hochrechnen“, nicht aber sicher und zweifelsfrei vorhersagen kann. Hier greift nämlich wieder: Die Zukunft ist das, was wir nicht wissen. Kümmern sich die Macher um die „Technologiefolgenabschätzung“292 aber nicht oder nur schludrig, so werden sie zu Recht der Willkür und des Zynismus geziehen – dann geht es zwar rasch voran, aber der Preis zerstört die Ideale, um die es bei den Verbesserungen doch „eigentlich“ gehen sollte. Jeder Kampf um eine Startbahnverlängerung, ein Atomendlager, eine neue Autobahn, Brücken über die Elbe 293oder den Großen Belt zeugt von diesem unlösbaren Konflikt. Das glatte Gegenteil gibt es auch: Eine immer stärkere Beschleunigung von historischen Prozessen, wobei es die Neuzeit kennzeichnet, daß die Katalysatoren dafür vom geistes- zum naturwissenschaftlichen Bereich verschoben sind. Während als „geisteswissenschaftlich“ bezeichnete Ideen dazu tendieren, immer langsamer zu werden, überstürzen sich naturwissenschaftliche geradezu; es kommt zu atemlosen Jagen, das manchmal außer Kontrolle zu geraten scheint. Der ehrwürdige Begriff der „Revolution“ erfährt im Zusammenhang mit Kürzeln wie „CD“, „DVD“ „MP“, „IT“ oder tausend anderen, die zusammen eine neue Sprache generieren, von den nicht Eingeweihten („digital natives“) als „geheim“ genommen wird, eine elektronische Variante. Das Symbol des angebissenen Apfels (wohl aus dem Paradies?) auf „iPhones“ und anderen elektronischen Geräten verweist auf menschliches Erkenntnisstreben und dessen Gefahren. Wie im Zeitraffer beschleunigen sich technische Prozesse; eine „Generation“ technischwissenschaftlicher Hervorbringungen folgt der anderen und zwar so schnell, daß der Begriff „Generation“ unpassend und altertümlich wirkt. Jede CEBIT oder Funkausstellung öffnet dem staunenden Publikum neue ungeahnte Welten vom Nano- bis zum Cyberspace.294 Wo das Moment der Entropie mit diesem rasanten zusammenstößt, steilen sich wahre „Tsunamis“ auf, und auf dieser Welle reitet

292 Dazu gibt es eine umfangreiche Literatur, z.B.: Bröchler, Stefan (Hg.), Handbuch Technologiefolgenabschätzung, 3 Bde., Berlin 1999. 293 Gemeint die geplante „Waldschlösschenbrücke“ zu Dresden. 294 Der Begriff stammt von William Gibson, er verwendete ihn zuerst in seinem Roman Newromancer.

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kein Bismarck mehr.295 Strudel, Abgrund, Lawine: das passt besser und zwingt manchmal die Verantwortlichen: zu rasender Eile – oder stoischem „Aussitzen“. Beides kann gleichzeitig sein. Auf diese Weise werden Spannungen neuer Art erzeugt, die es wohl erst seit dem Zeitalter des technisch-industriellen „Take-off“ gibt, und von denen anzunehmen, sie wären auf Dauer auszuhalten, pure Illusion ist. Die Prinzipien der Veränderung oder des Beharrens führen sich in der Praxis des Lebens ad absurdum; niemand vermag mehr einen festen, geschweige denn archimedischen Standpunkt zu beziehen: Haltlosigkeit im eigentlichen Sinn des Wortes ist das Resultat, und die Menschen trauern den „guten alten Zeiten“ und ihrer unverwüstlichen Schreibmaschine von 1959 nach. Scheint es, als werde das Gegensatzpaar Bruch und Kontinuität dermaßen ad absurdum geführt, bleibt es für die reale „Bewältigung“ der Geschichte doch unabdingbar. Aber man muß sich darüber im Klaren sein, daß wir mit einem Instrument hantieren, das an sich denkbar ungeeignet ist. Dennoch gibt es kein besseres, will man nicht erneut auf ein allgemeines „ignoramus“ hinaus. 9. KRIEG UND KEIN FRIEDEN Nichts verändert schneller und drastischer als Kriege, und je drastischer sie verlaufen, desto mehr. Dabei gibt es ein weiteres Paradox: Krieg gilt seit der Antike als der „Vater aller Dinge“, indem er alle oder doch viele Dinge zerstört oder verändert. Nirgendwo ist die Dialektik von Zerstörung als Neubeginn eindrucksvoller zu erfahren als in der Idee des Krieges; der „Phönix aus der Asche“ ist nur eines von unzähligen Symbolen dafür. Der Krieg ist ständig schöpferisch tätig und frisst, was er gebiert, wie Chronos seine Kinder. Mit keinem menschlichen Phänomen sind Metaphern des Bewegenden, Erregenden, Dynamischen, des Zerstörenden, Antreibenden, Verbrecherischen, des Naturhaften, Klimatischen stärker verbunden als mit dem Krieg. Auch die Begriffe Glück und Unglück sind symbiotisch mit dem Krieg verbunden, und manchmal erscheint der „heroische Untergang“ als das wahre Glück. Weltgeschichte ist immer Kriegsgeschichte,296 sei es daß Krieg herrscht, vor- oder nachbereitet wird, und aus dem Nachher wir meist ein Vorher, dann kommt der nächste Krieg.297 Daß das ein Skandal war, wussten die Menschen seit Lysistratas Zeiten, deswegen durchziehen Friedensschalmeien die Geschichte genauso kontinuierlich wie Kriegstrompeten. Zumindest bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts haben alle Friedensbemühungen nur selten, und dann immer nur vorübergehend gefruchtet; es war schon viel, wenn es im Lauf der Jahrhunderte gelang, den Menschen, bes295 „Unda fert nec regitur“. 296 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das in Deutschland als Skandal empfunden, die „Kriegsgeschichte“ musste der „Militärgeschichte“ weichen – vgl. die Definitionen bei Müller, Rolf Dieter, Militärgeschichte, Stuttgart 2009. 297 Daß Menschen dafür ein Empfinden besessen haben ergibt sich aus der Denkfigur des „Hundertjährigen Krieges“ von 1337–1453, der natürlich nicht aus mehr als hundert Jahren Kriegführung bestand.

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ser: den Staaten wenigstens ein „schlechtes Gewissen“ zu machen, wenn sie einen Krieg planten oder vom Zaun brachen. In dieser Beziehung bildete der Kriegsächtungspakt von 1928, so unwirksam er in der Realität blieb, eine wesentliche Zäsur, indem er die bis dahin billige Möglichkeit, Kriege „irgendwie“ zu rechtfertigen, theoretisch ausschloß. Weil der Vertrag von 1928 aber den schlimmsten aller Kriege, den Zweiten Weltkrieg, nicht verhindert hat, verlor er alles Interesse. Die moderne Friedensforschung hat ihn mühsam wieder zum allgemeinen Bewusstsein gebracht – mit zweifelhaftem Erfolg. Es ist hier nicht der Ort, um über das sehr komplexe Phänomen von Kriegsursachen nachzudenken. Je weiter die Zeit fortschritt, desto komplexer wurden sie, und ähnlich wie bei der Betrachtung der Weltgeschichte, ließen sie sich als Totalität des Bestehenden interpretieren. Daraus wurde nicht nur die „Totalität“ des modernen Krieges abgeleitet, sondern auch jener Fatalismus, der die dauernde Existenz des Krieges in einer seiner Phasen als geradezu „natürlich“ begriff, eben: als „Glied in Gottes Weltordnung“ (Moltke d.Ä.). Geht man davon aus, daß bereits im „Frieden“ sich ständig etwas verändert, so tut es dies im Krieg in potenzierter Weise. Von daher rührte das Empfinden der Menschen, in „ruhigen“ oder in „stürmischen“ Zeiten298 zu leben. In der menschlichen Erinnerung dehnen sich die vier bzw. sechseinhalb Jahre der beiden Weltkriege ins schier Unendliche – vier Jahre zwischen zwei Wahlen gelten oft als ein „Nichts“: Kaum hat man gewählt, denkt man schon an die nächste Wahl. Frieden wurde trotz aller (unvermeidlichen) Veränderungen als beharrend empfunden, Krieg als dynamisch, das konnte sich auch im Binnenbereich der Kriegsmatrix steigern, wenn aus einem „Stellungskrieg“ ein „Bewegungskrieg“ (oder umgekehrt) wurde. Es gab Epochen in der Geschichte, die auch in die kollektive Erinnerung als reine Kriegszeiten eingegangen sind; den Gegenbegriff „Frieden“ gab es nicht mehr: Die Bezeichnungen „Hundertjähriger“ oder „Dreißigjähriger Krieg“ zielen auf ganze Epochen, mehrere Generationen, die im „Unfrieden“ leben mußten. Man mache sich klar, daß im ersteren Fall drei Generationen geboren wurden, die mit dem Wort „Frieden“ nie etwas Reales haben verbinden können; zwischen 1618 und 1648 war es ein großer Teil der Bevölkerung, der nie im „Frieden“ gelebt hat. Alle Existenz in solchen Kriegszeiten, selbst wenn sie, wie im Fall des „Hundertjährigen Krieges“, gelegentlich unterbrochen erscheinen, basierte auf dem Umstand, daß der Krieg eben genau so, wie das Kant formulieren sollte, der „Normalzustand unter den Völkern“ war. Aber gerade weil sich der Krieg über Generationen hinzog, verlor er seine verändernde, innovative Kraft und führte nicht zu Fort- sondern Rückschritten, was man am Dreißigjährigen Krieg gut beobachten kann: Es wurden nur zerstört: Menschen und Dinge, und der Krieg hatte alle schöpferische Kraft verloren, Neues an dessen Stelle zu setzen. Zwar gebar der Krieg Kriegshelden wie Tilly, Wallenstein oder Gustav Adolf, Dichter wie Grimmelshausen und Künstler wie Callot, aber die Soldaten waren nur „groß“ im Zerstören, die „Magdeburgische Hochzeit“ erschüttert noch heute. Wo sie aufbau298 Typisch: Theodor Fontanes Roman Vor dem Sturm.

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en wollten, scheiterten sie kläglich. Insofern sind derartige Generationenkriege das Gegenteil von den „kurzen fröhlichen Kriegen“, wie sie in der Erinnerung für das 18. und 19. Jahrhundert oft weiterleben. Daß das nicht stimmt, bedarf keiner Erläuterung; entscheidend ist der Kontrast zu einem Schema, in dem die Idee des Friedens gar nicht mehr vorkommt, der Krieg also alles Außergewöhnliche, das ihn sonst kreativ werden lässt, vermisst. Die „überlangen“ Kriege sind nur noch Elend, Hässlichkeit, Mangel und Tod. Die Imagination des Krieges bestimmte wahrscheinlich seit altersher sämtliche menschlichen Kulturen, und von daher wird es erklärlich, warum bis ins 20. Jahrhundert hinein der Krieg keineswegs bloß perhorresziert, sondern ganz im Gegenteil als wünschbar eingestuft wurde.299 Und zwar nicht, weil man gerne tötete oder getötet werden wollte, nicht einmal um ein Held (und kein Feigling) zu werden, obwohl es derlei immer gegeben hat, sondern weil die Idee der Veränderung durch Krieg sehr oft mit der Hoffnung auf Fortschritt auf den unterschiedlichsten Feldern verknüpft war. Das reichte von hehren moralisch-sittlichen Fortschrittsideen300 bis zu banaler Alltagstechnik.301 Es gab kein Feld menschlicher Existenz und menschlichen Zusammenlebens, das nicht von der Idee des Krieges als Veränderungsmotor bestimmt worden wäre, und das galt selbst dann, wenn die jeweiligen Obrigkeiten sich anscheinend darum bemühten, den Krieg zu „hegen“.302 Das Veränderungspotential aller Kriege war stets größer als das Vermögen, ihn kontrolliert zu führen und damit zu bändigen, und wo dies anscheinend doch gelang – etwa nach dem preußisch-österreichischen Krieg von 1866 – stellte sich binnen Jahresfrist heraus, daß gerade dieser Krieg so viel verändert hatte wie kaum einer zuvor. Sei es in Preußen, das mit der Gründung des Deutschen Reiches fundamental verändert wurde, sei es in Österreich, das zur Doppelmonarchie verwandelt, sich kaum noch wiedererkannte. Eine anscheinende Selbstverständlichkeit kommt hinzu: Wenn Baustile und Glaubensrichtungen wie das Christentum die Landschaft dauernd verändert haben, so gilt dies in ungleich höherem Maße für den Krieg, und zwar seit altersher. Schon die ersten menschlichen Hervorbringungen werden durch das Phänomen Krieg bestimmt, die Artefakte aus fernster Vergangenheit sind Spuren des Krieges, wie Lanzen und Schwerter in Mooren und Gräbern. Das setzte sich bis in die Neuzeit ungebrochen fort: Ganze Landschaften werden durch Burgen und Festungswerke bestimmt, Städte durch Wälle, Gräben, Zeughäuser, Parade- und Exerzierplätze. Heerstraßen durchziehen das Land, Kasernen und Wehrbauten aller Art bestimmen es; als die Industrialisierung begann, waren es Gewehr- und Munitionsfabriken, dann solche für schweres Gerät, die ganze Regionen prägten. 299 Das letzte große Beispiel: Bernhardi, Friedrich von, Deutschland und der nächste Krieg, 6. Aufl. Stuttgart 1913. 300 Vgl. die Reden Robesspierres zum Krieg! 301 Der Generaloberst Hans von Seeckt beklagte nach 1919 den Verlust von Knowhow infolge der erzwungenen deutschen Entwaffnung. 302 Göse, Frank, Der Kabinettskrieg, in: Beyrau, Dietrich/Hochgeschwender Michael/Langewiesche, Dieter (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, 121–148.

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Die Veränderungspotentiale des Krieges überschatteten oft den Staat, was bis zu dem Diktum Carlyles gehen konnte, Preußen sei nicht ein Staat, der eine Armee, sondern eine Armee, die einen Staat besitze. Wahrscheinlich gründen die Ideen von Bukolik und Schäferromantik auf der unstillbaren Sehnsucht der Menschen, es möge ein Paradies geben, in dem der Krieg keine Spuren hinterlassen hat, aber das blieb immer Utopie, über kleine „Friedensinseln“ ist der Anblick von Land nie hinausgekommen. „Mondlandschaft“ war nach dem Zweiten Weltkrieg eine geläufige Metapher. Hier geht es nicht um die Folgen im Einzelnen, sondern nur um das Prinzip der Veränderung, genauer: um den Grad von Veränderungen durch Kriege. Da liegt es auf der Hand, daß die Größe des Kriegs, seine Dauer, die Zahl seiner Teilnehmer und Opfer, aber auch die Potentiale der Kriegführenden eine ebenso entscheidende Rolle spielen wie die Führung des Krieges und sein Ausgang, wobei Sieg bzw. Niederlage als jeweilige Eckpunkte betrachtet werden können. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann den Verantwortlichen zu „dämmern“, daß der kommende Krieg, gleichgültig ob mit Sieg oder Niederlage endend, unter dem Strich mehr Verluste als Gewinn, mehr Negatives als Positives bringen würde, und der alte Moltke warnte in seiner letzten Reichstagesrede vor diesem kommenden Krieg mit eindringlichen Worten.303 Lokale Kriege verändern wesentlich Lokales, Weltkriege Globales, und so mag es sein, daß die erwartete ständige Abwesenheit von Weltkrieg in den kommenden Jahrhunderten die Methoden der Veränderungen selbst entscheidend verändern werden. Kriege nach der sog. „Völkerwanderungszeit“ wurden im hohen und späten Mittelalter in der Regel lokal ausgetragen, berührten andere Länder und Kontinente wenig oder gar nicht (die „Kreuzzüge“ waren eine Ausnahme); den Chinesen war es egal, ob man in Europa einen Hundertjährigen Krieg führte, und die Einwohner Amerikas wußten gar nichts davon, konnten davon also auch nicht berührt werden. Drohte manchmal dennoch ein buchstäblicher Weltkrieg, wie mit dem Siegeszug der Mongolen oder Osmanen, wurde das im „Abendland“ meist mit apokalyptischen Denkmustern bewältigt: Das waren gar keine „normalen“ Kriege, sondern „Strafgerichte“ Gottes: Gog und Magog hinter flammenden Bergen: diese Vision findet sich schon in der Ebstorfer Weltkarte. Brachen diese Völker hervor, so standen sie im Dienst des Teufels, d.h. Gottes. Die Schizophrenie des Krieges enthüllte sich dann oft in der Idee des „bellum iustum“, denn der wurde im Selbstverständnis der Menschen, die daran glaubten, ja gerade im Auftrag Gottes gegen den Teufel geführt – den nämlichen, den Gott gleichsam als Katalysator im moralischen Getriebe der Welt eingesetzt hatte. Deswegen war er unentbehrlich geworden. Die Transzendierung der „Kriegsfurie“ gehörte schon immer zu den beliebtesten psychologischen Versatzstücken aller Kriegführenden, das hat sich bis heute nicht geändert. Insbesondere in den zeitgenössischen propagandistischen Metaphern für den Ersten Weltkrieg, der zunehmend als transzendentes Phäno303 Förster, Stig, Hellmuth von Moltke und das Problem des industrialisierten Volkskriegs im 19. Jahrhundert, in: Foerster Roland G.(Hg.), Generalfeldmarschall von Moltke. Bedeutung und Wirkung, München 1991 103–116.

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men begriffen wurde, (typisch Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, Walther Flex’ „Der Wanderer zwischen den Welten“) drückten dies aus. Die gewöhnlichen, gleichsam erdgebundenen Kriege hingegen waren auf Klein-Klein getrimmt (allein von den Zahlen der daran beteiligten Krieger her) und galten durchaus als Menschenwerk. Nahezu alle Kriege, die sich nicht zwischen Staaten und nach einer „ordentlichen“ Kriegserklärung abspielten, wurden negativ gewertet: Es waren „schmutzige“ oder, wie man heute zu sagen pflegt, „asymmetrische“. Die Bemühungen um ein System der „treuga Dei“ zeugt dem „Deus“ zum Trotz von solchen Unterscheidungen, und es gehörte zum Prestige von Herrschern, wenigstens tageweise Frieden gebieten zu können. Im Zuge der Vernetzung der Welt, wofür manchmal Begriffe wie Imperialismus, Kolonialismus, Globalisierung stehen, wurden nach und nach sämtliche Territorien der Erde miteinbezogen und damit verändert; den Höhepunkt bildete das frühe 20. Jahrhundert. Seitdem ist der Welt-Krieg nicht mehr der entscheidende Antriebsmotor für Veränderungen, was nicht heißt, daß „lokale“ Kriege inzwischen auch dorthin ausstrahlen, wo sie gar nicht geführt werden; die Kriege in Afghanistan und im Irak haben das gerade demonstriert. Manchmal dienen Kriege in der Ferne auch der Bildung daheim – wem würde der Name Pompeius im Zusammenhang mit der alt-„ehrwürdigen“ Kriegsform der Piraterie heute nichts mehr sagen! Dennoch ist der gegenwärtige Zustand etwas qualitativ anderes, und wir wissen (noch) nicht, wie sich forthin „weltgeschichtliche“ Veränderungen abspielen werden. Der nun erreichte Zustand der monde politique ist einmalig, und es hat ihn noch niemals in der Weltgeschichte gegeben. Historiker als „Fachleute“ sind dafür nicht zuständig, denn es geht um mehr als ein „Fach“. Ist die schiere Größe des Krieges ein wichtiger Faktor im Szenario der Veränderungen, so sind es Sieg oder Niederlagen nicht minder. In aller Regel führt der Sieg zur Beharrung, die Niederlage zur Veränderung. Zwar wird auch jeder Sieg den Sieger verändern, aber im Sinne der bereits besprochen Kontinuität: Das britische Weltreich besteht nach dem siegreichen Ersten Weltkrieg (zunächst) weiter; die USA setzen ihren Weg zur ökonomischen Beherrschung Europas nach dem Sieg fort. Frankreich „restauriert“ sein Ungenügen von 1871 und will wieder zu jener Macht werden, die es vor 1870 gewesen ist – wobei es hier nicht um die Frage geht, ob ihm dies gelungen ist oder nicht. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer, vorweg Deutschland, Österreich, das Osmanische Reich und Russland. Hier ist das Prinzip der Veränderung nach Niederlagen geradezu paradigmatisch zu greifen, und es ist typisch, daß diejenigen, die die Niederlage nicht anerkennen wollten, zu den übelsten Revisionisten wurden. Zwischen diesen beiden Polen von Sieg und Niederlage gibt es Zwischenformen – Italien, Japan beispielsweise – in denen Veränderungen und Beharrungsvermögen nach dem Krieg miteinander rangen; es ließe sich in diesem Sinne eine Skala entwerfen, auf der es von extremen Veränderungen, oft revolutionären Charakters auf der einen, bis zu eisernem Beharren auf der anderen Seite ginge.

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Niederlagen erzwingen Veränderungen aus dem Prinzip des „Ungenügens“ heraus, Siege oft aus dem des „Esels auf dem Eis“.304 Das Verhalten nach Niederlagen versucht die Geschichte nach rückwärts laufen zu lassen, indem es sich besonders stürmisch nach vorne bewegt. Der Niederlage muß im kommenden Krieg bald wieder ein Sieg folgen, der die letzte Niederlage folgenlos machen soll. In diesem paradoxen Spannungsgeflecht definiert sich die Idee des Revisionismus,305 der als Fortschritt im Sinne des Zurück (etwa nach 1914) begriffen wird. Um dies zu erreichen, müssen jene Faktoren, die zur Niederlage geführt haben, tunlichst beseitigt werden. Es wird „ausgemistet“, „geradegerückt“, „ausgemerzt“ usw. Wurde der Krieg im Zeitalter des Chauvinismus manchmal als „reinigendes Gewitter“ empfunden – notabene bevor real gestorben wurde – so mußte nach der Niederlage alles beseitigt werden, was im Krieg „schiefgelaufen“ war; von den Bündnissen, den Wehrgesetzen, der Rüstungsindustrie angefangen bis zu den Ressourcen, Finanzen und Mentalitäten im Konzept des „potentiel de guerre“.306 Auch jene Schlachtenlenker, die die Niederlage auf dem Schlachtfeld zu verantworten hatten, mussten oft daran glauben. Auf diese Weise wurde schlechthin alles von einem Veränderungswillen erfasst, der, weil mit Emotionen wie Scham, Ehre, Wut verbunden, besonders virulent war. Solchen Veränderungen sollte sich niemand entziehen können, der „Ehre im Leib“307 hatte; wer es dennoch tat, verfiel eisiger Verachtung, schlimmstenfalls dem Tod. Wenn der Krieg rief, hatten alle Menschen, nicht nur die Soldaten, zu folgen, und in der sich entwickelnden Idee vom „totalen Krieg“308 wurde der Krieg wieder wie ganz am Anfang zum „Vater aller Dinge“. An Stelle des zivilen trat oft das „Kriegsrecht“, eine Primitivform des zivilen. Man kann darüber nachdenken, ob wir es hier nicht mit der denkbar größten Regression zu tun haben. Die Vorstellung, nach einem all-out atomaren Krieg würden die wenigen überlebenden Menschen wieder in einer primitiven Hordengesellschaft ihr Dasein fristen, war nicht nur in der ScienceFiction ein beliebtes Thema. Den Gegenbegriff zu „Krieg“ gibt es im Grunde nicht; „Frieden“ ist bloß eine Idee, oft ein Euphemismus und nichts als ein Wunsch – das wusste schon Immanuel Kant, dessen „Ewiger Frieden“ nur ein Gasthaus, und für Hellmuth von Moltke d.Ä. bekanntlich ein „nicht so schöner“ Traum war. Im Frieden wird der Krieg vorbereitet: „Si vis pacem para bellum“. Es ist typisch, daß noch heute jeder die Pistolenpatrone „9mm-Parabellum“ kennt. Der einzige Unterschied zum Krieg besteht in dem Umstand, daß noch „natürlich“ und meist nicht gewaltsam gestorben wird; man sich noch „natürlich“ bewegen und leben kann, obwohl zumindest 304 Das wurde schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der „siegreichen Sowjetunion“ unterstellt. Es gebar den „Kalten Krieg“. 305 Salewski, Das Weimarer Revisionssyndrom. 306 Maull, O., Heer und Wirtschaft. Ein Beitrag zu den Fragen des ‚potentiel de guerre’und der totalen Mobilmachung, Diss. Giessen 1936. 307 Aschmann, Birgit, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München 2013. 308 Daraus entwickelte Ludendorff 1922 die Idee des kommenden als eines „totalen“ Krieges: Ludendorff, Erich, Der totale Krieg, Remscheid 1988.

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in der Moderne bereits alles auf den Krieg als der Apotheose (im Guten wie im Schlechten) aller Veränderungen ausgerichtet ist. Es ist noch nicht lange her, daß jeder männliche Eidgenosse sein Sturmgewehr im Schrank hatte – mitten im „Frieden“. Der Krieg wirft sein Veränderungspotential gleichsam voraus, und solange man wie selbstverständlich davon ausging, daß jedem Frieden ein Krieg folgen werde und müsse, waren alle Veränderungen, oft technischer Natur, zwingend notwendig. Sie standen nicht prinzipiell zur Disposition; manchen Autobahnen sieht man ihren Charakter als Behelfsstart- und Landebahnen für Kampfflugzeuge (z.B. Fiat G 91, F-104) noch heute an. Im „Kalten Krieg“ gipfelte die Idee von der Permanenz des Krieges überhaupt: Der Frieden war nunmehr bloß noch eine illusionäre Denkfigur. Gustav Heinemanns Diktum vom Frieden als dem Ernstfall umschrieb es exakt; der Krieg, wenn auch „kalt“, war ständig präsent. Ganze Generationen sind im Bewusstsein aufgewachsen, daß dieser „kalte Krieg“ eben der Kantsche „Normalzustand“ unter den Völkern war. Alle Bestrebungen liefen nur darauf hinaus, das „kalt“ nicht „heiß“ werden zu lassen; die Vorstellung, den Begriff „Krieg“ als Signatur des Zeitalters selbst zugunsten des „Friedens“ abzuschaffen, etwa in der Bezeichnung der Epoche als der des „kalten Friedens“. Diese Wortklauberei galt der Mehrheit der Bevölkerungen in Europa als die versponnenen (und gefährlichen) Ideen grünäugiger Pazifisten, die nicht ernstgenommen wurden – gleichsam eine aussterbende Species der Gattung Mensch. In Friedenszeiten, die als solche verstanden werden, geht es ruhiger zu, sieht man von allen Veränderungen ab, welche die Aussicht auf den nächsten Krieg generieren. Seit Fernand Braudel spricht man von der „longue durée“,309 dem „langen Atem der Geschichte.“ Idealtypischerweise bedeutet dies keinen Stillstand, sondern nur ein gemächlicheres Voranschreiten. Tritt Stillstand („Verkrustung“) de facto ein, wird das sehr bald als Ungenügen empfunden, das Karussell der Veränderungen beginnt deswegen sich wieder in Bewegung zu setzen. Man wird das Phänomen Krieg als Ursache von Veränderungen nicht begreifen können, macht man sich nicht folgendes Paradox klar: In der „klassischen“ Epoche der europäischen Staatenkriege ging es zumeist um „Gleichgewicht oder Hegemonie“ (Ludwig Dehio)310. Anscheinend war der Mechanismus immer gleich: Das machtpolitische Gleichgewicht erschien aus welchen Gründen auch immer gestört, es kam den Kriegführenden darauf an, es entweder wiederherzustellen („Balance of power“) oder aber eine Hegemonie zu errichten, die Beispiele sind von Ludwig XIV. über Napoleon, Hitler und Stalin bekannt. Wenn es deshalb jedoch tatsächlich zu einem Krieg kam, ging der oft auf die Vorstellung vom genauen Gegenteil zurück, indem jeder kriegführende Staat, so er sich „freiwillig“ zum Krieg entschlossen hatte, also nicht a priori überfallen wurde und kapitulierte, sich Chancen ausrechnete, den Krieg wenn nicht zu ge309 Honegger, Claudia (Hg.), Fernand Braudel: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt/M. 1977. 310 Dehio, Ludwig, Gleichgewicht oder Hegemonie, Darmstadt 1996.

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winnen, so doch glimpflich aus ihm hervorzugehen. Hubertusburger Lösungen aber waren nur dann wahrscheinlich, wenn die Kriegführenden annähernd gleich stark waren, so daß niemand hoffen konnte, eine „bedingungslose Kapitulation“ durchsetzen zu können. Unterstellt man, daß kein „vernünftiger“ Staat in einen Krieg ziehen würde, von dem er von vorneherein weiß, daß er unterliegen müsste, weil er der Schwächere ist und es auch bleibt,311 so bedeutet dies im Umkehrschluß, daß nicht etwa die Ungleichgewichte den Krieg generiert haben, sondern im Gegenteil: das vermeintliche Gleichgewicht der Kräfte und Chancen. Nur weil diese bestehen, wagen es die Kontrahenten, einander an die Gurgel zu gehen. Zwar werden immer wieder David gegen Goliath-Szenarien bemüht, aber in der historischen Wirklichkeit ist das äußerst selten, und Monaco oder Andorra werden sich hüten, Amerika den Krieg zu erklären.312 Sind die Ungleichgewichte zu offensichtlich, fördern sie auf diese Weise den „Frieden“. Das Wort ist deswegen in Anführungszeichen zu setzen, weil dieser Frieden dem bekannten Kant’schen gleicht und jenes Ungenügen produziert, aus dem sich die a priori Unterlegenen immer wieder zu befreien suchen. Fazit: Ob Gleichgewicht oder Hegemonie: Es scheint keinerlei menschliche Formen des Zusammenlebens zu geben, die den Krieg als ständige Möglichkeit der eigenen Existenz ausschließen würden. Der „ewige Krieg“ ist eine Konstante und ein wesentlicher Antrieb der Geschichte. 10. MASSEN UND RÜCKSCHRITTE Es fällt schwer, sich geschichtliche Prozesse ohne individuelle Menschen vorzustellen, obwohl die Geschichtswissenschaft ständig mit dieser Denkfigur operiert. Da gibt es nicht nur „die Gesellschaft“, „die Nation“, sondern auch ganz undifferenziert „die Massen“;313 nimmt man es negativ, „den Pöbel“ „das Proletariat“,314 neuerdings „das Prekariat“ usw. Allen diesen Begriffen liegt die Idee zugrunde, daß eine „Masse“ anders agiert und reagiert als ein einzelner Mensch, eine Gruppe, ein von seinen Ideen und Inhalten her definiertes Kollektiv – beispielsweise eine Kabinettsrunde, der Generalstab einer Division. Insofern ist „Masse“ vom Begriff des „Kollektivs“ qualitativ unterschieden. Eine typische Kennzeichnung (und Stigmatisierung) für Masse ist das Adjektiv „blind“. Psychologen sprechen vom „Gruppenzwang“,315 um Vorkommnisse zu erklären, die anders nicht erklärt werden können. Dabei gibt es zwei Deutungsmodelle: In dem einen werden ein oder mehrere „Anführer“ oder „Meinungsmacher“ pos311 Allerdings hat Kershaw, Ian, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkriegs 1940/41, 2. Aufl. München 2008, darauf hingewiesen daß viele der japanischen Entscheidungsträger vom Verlust des Krieges gegen die USA vor dessen Beginn überzeugt waren. Hier griff dann der irrationale „Ehren- und Treuebegriff“. 312 Arnold, Jack (Regie), Die Maus die brüllte (GB 1959). 313 Canetti, Elias, Masse und Macht, Frankfurt/M. 1996. 314 Geht man von der Herkunftsbezeichnung aus, wird zu erklären sein, warum der Begriff „Proleten“ negativ besetzt ist 315 Sader, Manfred, Psychologie der Gruppe, 9. Aufl., Weinheim/München 2008.

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tuliert, Meinungsbildner, „Multiplikatoren“, Machtmenschen, die die anderen „mitreißen“, „verführen“, zu Handlungen contre cœur veranlassen; in dem anderen wirken anonyme Ereignisse so auf eine „Masse Mensch“ ein, daß diese sich irrational verhält, ohne daß das gelenkt und geplant ist. „Die Massen“ werden also im ersteren Fall bewusst und gewollt von bestimmten Individuen manipuliert, im anderen macht sich die Masse, oft „der Mob“, gleichsam selbständig und wütet ohne alle Lenkung und Ratio blindlings. Mischformen gibt es auch, Veränderungen bewirken beide. Es erübrigt sich, für den ersten Fall historische Beispiele zu bemühen, es sind zu viele, und jede Diktatur, die auf vermeintlichen oder tatsächlich „charismatischen“ Führern und nicht allein Terror beruht, gehorcht diesem Muster und behauptet, die „Massen“ hinter sich zu haben. Für den zweiten Fall braucht man sich nur den Sturm auf die Tuilerien oder das Winterpalais vorzustellen – man kann auch an die „große Furcht“ im Frankreich der vorrevolutionären Zeit denken oder ganz banal an ein Fußballstadion, wenn es vermeintlich „um alles oder nichts“ geht. Unbestreitbar verändern diese „Massen“ die Geschichte, gleichgültig, ob sie das wollen oder nicht. Kann man im ersten Fall vom Willen des und der einzelnen „Führer“ ausgehen, denen es allerdings oft dann so ergeht, wie es Goethe im „Zauberlehrling“ symbolisiert hat, so ist im zweiten Fall das nicht gesteuerte, das „elementare“ Verhalten Ursache historischer Veränderungen, die nicht auf einzelne Individuen oder Kollektive als Individuen zurückgeführt werden können. Dabei spielen Gerüchte oft eine entscheidende Rolle, wobei es nicht darauf ankommt, ob sie „wahr“ oder „falsch“ sind.316 Manchmal lässt sich zurückverfolgen, wer ein Gerücht in die Welt gesetzt hat, aber das ist eher Ausnahme, so daß man im Allgemeinen nicht weiß, wer Veränderungen durch Gerüchte eigentlich verursacht hat.317 Historiker flüchten sich dann manchmal in das unverbindliche „man“. Rousseaus Modell von der volonté génerale“ und der „volonté de tous“ hilft hier nur zum Teil weiter, denn in Wahrheit kann von „volonté“, weder in der einen noch der anderen Form die Rede sein, und die Resultate des historischen Veränderungsprozesses können ganz andere sein als die, die sich jene, die sie ausgelöst, vorgestellt haben. Können bloße Gerüchte real verändern, so lässt sich dies auch für die sich selbst erfüllende Prophezeiung sagen: Vor allem im Wirtschaftsleben ist zu beobachten, daß bloße positive oder negative Voraussagen, die jeder realen Grundlage entbehren, oft genügen, um Veränderungen zu bewirken – etwa indem Aktienkurse steigen oder fallen, und es fehlt nicht an Mahnern, die genau darauf hinweisen, sei es, indem sie das Prinzip der „self-fulfilling prophecy“ überhaupt verdammen, sei es, daß sie es gezielt als Mittel zur Veränderung einsetzen. Hier hat man es also erneut mit einem irrationalen Veränderungsfaktor zu tun, der höchst reale Auswirkungen haben kann. Häufig wirkt er nur, wenn er auf „die Masse“ gezielt ist, der man die notwendige Analysekraft nicht zutraut. Sie fällt deswegen auf diese Propheten herein. Und da deren Prophezeiungen oft eintreffen, nur weil 316 Kongeniales Bild: A. Paul Weber, Das Gerücht, 1943. 317 Das Kinderspiel „Stille Post“ illustriert das trefflich.

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sie es prophezeit haben, gewinnen sie im Rückblick den Anstrich von „echten“ Propheten, (die es natürlich nicht gibt) was sie in Wahrheit nie gewesen sind. Das Urmuster findet sich schon in der Bibel. Es liegt auf der Hand, daß alle diese Prozesse im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung in potenzierter und sich ständig beschleunigender Weise möglich sind. Verbreiteten sich Gerüchte in früheren Zeiten nur langsam durch mündliche oder schriftliche Weitergabe, oft in einem Schneeballsystem, so genügt heute oft ein einzelner Mausklick, um gewaltige Veränderungen hervorzurufen oder Massen zu „mobilisieren“.318 „Masse“ kann jedoch auch positiv begriffen werden. Dann handelt es sich nicht um eine „blinde Masse“, die sich manipulieren lässt, sondern um eine bewusste, eine kritische Masse319, die weiß, daß sie es ist: Jeder will ein Teil „der Masse“ sein, weil er weiß, daß nur die Masse erreichen kann, was dem einzelnen unmöglich ist. Unstrukturierte Masse wandelt sich in solchen Fällen zu mehr oder weniger dicht organisierten Interessenkollektiven. „Zusammen sind wir stark“ ist ein beliebtes Schlagwort nicht nur von Gewerkschaften. Man erkennt dies auch im positiven Sinn, wenn beispielsweise Massen von Menschen sich gemeinsam gegen ein Hochwasser stemmen, wie es bei der großen Oderflut 1997 der Fall gewesen ist. In solchen Fällen verschmelzen die Menschen ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung zu einem Kollektiv der besonderen Art: Es wird nicht bewusst gebildet, sondern entsteht spontan par la force des choses – also der Flut. Das Prinzip der Solidarität adelt solche „Massen“, und es kommt nicht von Ungefähr, daß die vielleicht berühmteste polnische Gewerkschaft sich den Namen „Solidarność“ gab, um damit anzudeuten, daß sie nicht nur auf die eigenen Mitglieder, sondern auf die Masse des Volkes zielte – was bekanntlich von Erfolg gekrönt war. Ein Beispiel für das Agieren von Massen findet sich in der Idee des Streiks, der konsequenterweise bis zum „Massenstreik“ oder dem „Generalstreik“ fortgehen kann; auch „Bürgerinitiativen“ gehorchen ihm. Aber auch im alltäglichen Leben kommt es vor, daß nicht etwa die Anführer der Massen Veränderungen bewirken können, sondern die Masse selbst, und sei es, indem geplante Veränderungen zurückgenommen werden müssen: Die „Deutsche Bahn“ hat mit ihrem kühnen Plan, Gebühren für die Inanspruchnahme des Bahnschalters320 zu erheben, das beispielhaft erlebt, der Plan musste sang- und klanglos begraben werden. In diesem wie in anderen Fällen fragt es sich, wie groß und stark „die Massen“ sein müssen, um etwas bewirken zu können, das die gewöhnlichen „Führer“ der Massen nicht wollen. Natürlich werden es einzelne sein, die den Protest, etwa gegen die Bahnpläne formulieren,321 aber dieser kann nur deswegen durchschlagen, weil die den Protest Formulierenden sicher sein können, daß „die Massen“ hinter ihnen stehen. Man spricht vom „Druck“, den „die Massen“ ausüben – dabei 318 Ein Bespiel lieferte ein junger Mann, der per Facebook zur Party auf Sylt aufrief und binnen Tagen 5000 Jugendliche tatsächlich nach Sylt brachte (14.06.2009). 319 Es ist bemerkenswert, daß „kritische Masse“ auch ein physikalischer Begriff ist. 320 Im September 2008. 321 Dessen rühmte sich der Sozialverband des VdK am15.09.2008.

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bekommen jene, um die es geht, die „Massen“ vielleicht gar nicht zu Gesicht. Was also heißt: „Druck?“ Hier ist nicht jener physische „Druck“ gemeint, den beispielsweise illegale und kriminelle Inkassobüros auf ihre „Kunden“ buchstäblich ausüben. Unter „Druck“ wird jener verstanden, der mit der Physik gar nichts, mit der Psychologie alles zu tun hat. Manchmal wird der zu groß; die Betroffenen „knicken ein“, „rudern zurück“, schlimmstenfalls „zerbrechen“ sie an diesem Druck. Auch das ist zunächst nur im übertragenen Sinn zu verstehen, aber manchmal schlägt das ins sehr Reale um, wenn beispielsweise ein Bankier aus dem Fenster oder ein Unternehmer vor einen fahrenden Zug springt, wie es nicht nur in der Bankenkrise von 1929 vorgekommen ist.322 In allen Fällen haben wir es wieder mit rein menschlichen Phänomenen zu tun, und man tut sich schwer in dem Bemühen, die Ursachen solcher Katastrophen auf solche allgemeiner Art und auf das Individuelle hin zu sezieren; neben dem Qualitativen gibt es das Quantitative: Oft wird durch Umfragen versucht festzustellen, wie groß diese Masse, diese Massen sind, wie sie sich zusammensetzen, und es ist eine beliebte Übung in einer parlamentarischen Demokratie darauf zu verweisen, daß Legislative und Exekutive dem in Prozentzahlen ausgedrückten Willen der Massen entsprechen sollen. Die gesamte Demoskopie basiert auf der Idee der „Masse“, wobei diese statistisch gesehen wird: Um eine „Massenbefragung“ durchzuführen, bedarf es in der Regel keineswegs einer „Masse“; ein bis zweitausend „Fälle“, manchmal weniger, genügen: Das Individuelle ist im „Massenhaften“ vollständig untergegangen; es spielt keine Rolle mehr, was der Einzelne denkt oder meint: Er ist nur Bruchteil der „Masse“. Richten sich Legislative und Exekutive oft bewusst oder unbewußt nach solchen „Massen“, indem sie die Gesetzgebung und deren Ausführung dem Willen dieser Massen (also der volonté de tous) in der Regel – auf die Ausnahmen wird noch einzugehen sein –, anzupassen suchen, ist die Judikative stolz darauf, diesem Mechanismus nicht zu unterliegen. Die Idee von der „dritten Gewalt“ ist solchen Nötigungen und Zwängen nicht unterworfen, oder nur insoweit, als sie den Zwängen demokratisch zustande gekommener Gesetze gehorchen muß. Jedoch nicht mechanisch, sondern in Abwägung individueller Faktoren. Das macht die „Unabhängigkeit“ des gesetzlichen Richters aus, der auf diese Weise ebenfalls „verändern“ kann – bis hin zur Perversion eines „Volksgerichtshofes“ (unter Roland Freisler).323 Indem dieser das Recht schamlos beugte, ließ er den Staat noch tiefer als bisher entarten, schuf zugleich aber in makabrer Konsequenz durch seine Todesurteile gegen die Verschwörer des 20. Juli 1944 Märtyrer und damit eine wichtige Grundlage für den Aufbau eines „anderen Deutschlands“ – nach dem Krieg. 322 Auch der „Fall Adolf Merkle“ von 2009 erinnert daran. 323 Das Dilemma wurde in den Nürnberger Nachfolgeprozesse, etwa gegen das OKW oder das Auswärtige Amt deutlich: Man konnte nur Individuen belangen; diese verwiesen zu Recht darauf, daß sie eben nicht „das OKW“ oder „das Auswärtige Amt“ seien. Von da bis zur Unterstellung, es handele sich um Willkürjustiz war nicht weit, vgl. Kastner, Klaus, Die Völker klagen an. Der Nürnberger Prozes 1945–1947, Darmstadt 2005. Seidler, Franz W., Das Recht in Siegerhand. Die 13 Nürnberger Prozesse 1945–1949, Selent 2007.

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Freilich ergibt sich hier das nächste Dilemma: Obwohl die Idee einer Demokratie gerade darauf beruht, daß der Wille der Massen-Wähler ausgeführt wird, kommt es in der Praxis immer wieder vor, daß das genaue Gegenteil der Fall ist. Will man nicht zynisch annehmen, daß jedes Mal ein Macht-Mißbrauch vorliegt, muß es inhärente Gründe dafür geben, daß „die Masse“ etwas will und die Regierenden etwas anderes: Volksmeinung und Regierungsmeinung prallen oft aufeinander; das Nichtharmonieren beider wird oft euphemistisch als Zeichen einer „lebendigen Demokratie“ verharmlost, meist mit dem beruhigenden Hinweis darauf, man habe alle vier Jahre ja Gelegenheit, seinen „Fehler“ zu korrigieren, und tatsächlich ist es in Wahlzeiten eine beliebte Übung, „denen da oben“ einen „Denkzettel“ zu verpassen oder ihnen etwas „ins Stammbuch“ zu schreiben: Seht euch vor, wir könnten auch ganz anders. Der „Protestwähler“ ist zu einer Standardfigur geworden. Mag man diese Beziehungen als unvermeidlich, ja als „normal“ empfinden, so gibt es Phänomene, die damit nicht zu erklären sind, ein drastisches Beispiel ist die Debatte um die Todesstrafe. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wird die Forderung nach ihr laut, vor allem, wenn die Öffentlichkeit durch ein besonders scheußliches Verbrechen erschüttert ist, und die Befürworter versäumen es nie darauf hinzuweisen, daß das des Volkes Meinung ist.324Auf subtile Weise wird das seit geraumer Zeit in Kriminalserien des Fernsehens deutlich, wenn der gejagte Verbrecher am Ende eben nicht bloß gefangen wird, sondern zu Tode kommt, sei es durch eine Polizeikugel oder einen Selbstmord. Tatsächlich gibt es nach allen Umfragen 325 eine solide Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Dennoch wird sich in Deutschland kein demokratischer Politiker, keine verfassungskonforme Partei für sie offen einsetzen, das Thema ist im politischen Diskurs, auch in Wahl-Zeiten, absolut tabu. Damit ist das demokratische Prinzip an seinem Fundament durchbrochen: Es geschieht etwas nicht, obwohl eine Mehrheit will, daß etwas geschieht. Eine Veränderung wird abgelehnt, alles bleibt beim Alten. Wer eigentlich ist dafür verantwortlich? Niemand wird sagen: weil ich es will, bleibt die Todesstrafe tabu. Werden diejenigen, die via Gesetzgebungsprozeß die Todesstrafe theoretisch einführen könnten, also die Parlamentarier, gefragt, warum sie es nicht tun, obwohl das Volk es will, wird die Antwort zumeist lauten, das ließe sich mit dem Grundgesetz nicht vereinbaren, aber in Wahrheit entzieht es sich ihrer Kompetenz, denn die Grundrechte, im Grundgesetz niedergelegt, verfügen, daß die Todesstrafe abgeschafft ist. Die Grundrechte aber stehen nicht zur Disposition des Parlaments. Der Artikel 1 des GG ist eine „Ewigkeitsklausel“, für den davon abgeleiteten Artikel 2 GG gilt das Gleiche. Sind sie wie die Gesetzestafeln Moses’ aus dem Himmel auf die Erde gefallen? Jedermann weiß, daß der Parlamentarische Rat, also einige Menschen, über sie beraten und befunden 324 Besonders drastisch im „Fall Daschner“. 325 Eine Mehrheit der Deutschen war für die Todesstrafe für Saddam Hussein. 2/3 der Tschechen sind für die Wiedereinführung der Todesstrafe, nach einer Gallupumfrage von 2005 sind 71% der US-Amerikaner für die Todesstrafe.

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haben, mehr: sie haben sie formuliert und dabei nur zum Teil auf jene Grundrechte zurückgegriffen, die bereits vorher festgelegt worden waren – etwa in der Weimarer Reichsverfassung, in der es die Todesstrafe durchaus gab. Warum also sind sie „sakrosankt“, wo sonst in menschlichen Dingen doch nichts „sakrosankt“ ist; wenigstens sind davon alle überzeugt, die nicht an die reale Existenz von Heiligen glauben – die dann auch noch „,massenhaft“ zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sich inkarniert haben müssten. Spott beiseite: Es existiert etwas in der historischen Wirklichkeit, das unveränderbar selbst dann ist, wenn eine Mehrheit oder die Repräsentanten dieser Mehrheit es verändern wollen. Eine derartige Veränderung könnte nur dann stattfinden, wenn das gesamte politische und gesellschaftliche System so verändert würde, daß die Grundrechte nicht mehr gelten. Die Eingangsthese, nach der in der Geschichte sich immer alles verändert, erscheint in diesem und in einigen anderen Fällen radikal durchbrochen; ja es kennzeichnet diese Facette der Geschichte, daß sie sich nicht verändert, unter keinen Umständen, es sei denn durch radikalen Zwang und Terror. Es ließe sich vorstellen, daß die Todesstrafe wieder eingeführt würde, sollte es radikalen Islamisten gelingen, aus Deutschland einen „Gottesstaat“ zu machen. So unwahrscheinlich dies ist, bliebe es doch wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, um den historischen Prozeß in diese Richtung weiterzutreiben. Allerdings hielt sich die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1960 die Möglichkeit offen, in Kriegszeiten die Todesstrafe unter Umständen doch wieder zu verhängen. Mit dem 13. Zusatzprotokoll zu dieser Konvention entfiel seit dem 2. Mai 2002 auch dieser „Ausweg“. Die geradezu panische Scheu der Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes vor einer direkten Demokratie und die restriktive Handhabe des Instruments von Volksbegehren und -entscheiden deuten darauf hin, daß gerade diejenigen, die sich als die eigentlichen Vertreter „des Volks“ begriffen, eben diesem Volk nicht trauten und deswegen das glatte Gegenteil von dem beschlossen, was im Falle des Vertrauens in dieses Volk geboten gewesen wäre. Gemeinhin wird das mit üblen historischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“, das ja ebenfalls auf seine Art „Volksbefragungen“ durchführte, zurückgeführt; in Wahrheit verbirgt sich dahinter die Furcht vor unkontrollierter Veränderung, vor einem Aufweichen von als rational und sittlich verstandenen historischen Prozessen. Insofern ist alle repräsentative Demokratie, aller Parlamentarismus nur gespielt, ein faute de mieux, und keineswegs Abbild eines „natürlichen Volkswillens“, wie es unverdrossen behauptet wird. Angenommen, die Todesstrafe würde durch einen Volksentscheid wieder eingeführt, so stellte sich die Frage, ob die Geschichte dann tatsächlich „vorangeschritten“ ist – oder nicht vielmehr zurück. Die Veränderung wäre eine Rückwärtsentwicklung, eine Revision – hin in eine Zeit, in der die Todesstrafe auch in Deutschland galt. Veränderung nicht als „Fortschritt“, sondern als „Rückschritt“: die Geschichte liefe gleichsam wie ein Film rückwärts, das Beispiel der Tschechischen Republik macht das deutlich. „Rücksturz ins Mittelalter!“ würden Demagogen rufen.

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Diese Vorstellung gibt es in der Science-Fiction-Literatur durchaus;326 auch in der seriösen Geschichtswissenschaft lassen sich Beispiele für eine anscheinend „rückwärts“ laufende Geschichte finden: So wird aus der hochentwickelten, aber zunehmend dekadenten höheren Gesellschaft der römischen Spätantike wieder die mehr oder weniger kulturlose ländliche adelige Gesellschaft, aus der sich dereinst die „höhere“ entwickelt hat.327 Die zivilisatorischen Hervorbringungen der reifen Römerzeit verfallen oder werden „verlernt“, sie werden nicht mehr begriffen, aus komplizierten Thermen werden unverstandene Ruinen, aus Viadukten sinnlose Brücken, und es ist schon viel, wenn aus der Porta Nigra gleich zwei Kirchen, aus der Trierer Basilika eine evangelische Kirche werden. Man verlernt seine eigene Geschichte – buchstäblich, denn auch die Kunst des Lesens und Schreibens verkümmert. Noch heute gibt es schriftliche Überlieferungen, die wir nicht zu lesen verstehen,328 und wer weiß, wie weit wir ohne den Stein von Rosette gekommen wären. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis überhaupt eine Idee davon wach wurde, daß es sich bei dem, was man in Rom und in anderen antiken Städten an Trümmern vorfand, um mehr als alten Plunder handelte, den man nützlich ausschlachten konnte.329 Erst seit dem 18. Jahrhundert übten „antike Ruinen“ ihren morbiden künstlerischen Reiz aus. Da man sie im Original schlecht verpflanzen konnte (das geschah erst später, man denke an Napoleons kulturellen Raubzug nach Ägypten und den berühmten Obelisken) entstanden in zahlreichen fürstlichen Parkanlagen künstliche Ruinen. Es blieb Albert Speer vorbehalten, dies zu durchdenken und daraus seine aparte „Ruinenwerttheorie“ zu entwickeln, die aus der Not eine Tugend machen wollte. Sie findet bis heute ihre Anhänger, die Berliner Gedächtniskirche ist ein halbherziges Beispiel: Nie wiederaufgebaut, wird sie sorgsam als Ruine gepflegt. Dennoch ist die These, hieran sehe man, wie Geschichte rückwärtslaufen könne, falsch. Abgesehen davon, daß selbst in den „finstersten“ und wirrsten Zeiten der sog. „Völkerwanderung“ es immer auch echte „Fortschritte“ auf vielen Feldern menschlichen Lebens gab, trat fundamental Neues in die Geschichte, das es bisher überhaupt nicht gegeben hatte, ein Beispiel mag genügen: die flächendeckende europäische Christianisierung, oder korrekter: die Dominanz des Christentums.330 Hier erkennt man einen historischen Prozeß gleichsam von den Katakomben bis zu den Kathedralen, und er schritt in Europa ständig fort – einmal schneller, ein anderes Mal langsamer, nicht ohne Rückschläge (Lindisfarne, Slawensturm) aber lange irreversibel. Daß sich das seit zweihundert Jahren umkehrt – besonders drastisch in Frankreich, das wie kein anderer Staat in Europa sich viel auf seine „Säkularisation“ seit der Großen Französischen Revolution zugutehält – 326 Salewski, Zeitgeist und Zeitmaschine. 327 Demandt, Alexander, Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diokletian bis Justinian (284–565 n. Chr.), 2. Aufl. München 2008. 328 Die Sprache und Schrift der Etrusker gehören dazu. 329 Vgl. das klassische Werk von Gregorovius, Ferdinand, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, 1859–1872, 4 Bde., Neuausgabe 2. Aufl. München1988. 330 Die Mediävistik (Borgolte, Mitterauer, Lundt) hat inzwischen deutlich gemacht, daß von einer durchgehenden Christianisierung Europas nicht die Rede sein kann.

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ist von buchstäblich säkularer Bedeutung, wird von der säkularisierten Gesellschaft aber nicht richtig wahrgenommen – manchmal erinnert dies an jenen Prozeß, der die Kenntnisse des Aristoteles für tausend Jahre verkümmern ließ, obwohl sie jahrhundertelang die Geschichte und ihren Fortgang mitbestimmt hatten. Es gab Historiker und Philosophen, die sahen gerade in diesen Jahrhunderten des später sogenannten „hohen“ Mittelalters (von einem „niedrigen“ spricht niemand) den Gipfelpunkt einer tausendjährigen Entwicklung; die Ideen eines Joachim von Fiore, eines Otto von Freising, eines Moses Maimonides kamen nicht von Ungefähr: Sie konnten sich einen weiteren Fortschritt der christlichen (und jüdischen) Geschichte nicht vorstellen und leisteten sich dann, will man es säkular ausdrücken, das sacrificium intellectus eines „dritten Reiches“ wie bei Joachim, oder des „achten Buches“ wie in der Weltchronik von Otto. Das Finale furioso der Weltgeschichte passte zwar in den Heilsplan, war zugleich jedoch Ausdruck der Überzeugung, daß hier auf Erden nun nichts Wichtiges mehr kommen konnte. Im Grunde gab es keine irdische Zukunft; Maimonides blieb „unschlüssig“.331 Das Unbehagen an einer solchen Deutung der historischen Entwicklung resultiert aus der Frage, ob jede Entwicklung, jede Veränderung qualitativ „gleichwertig“ mit anderen ist, anders formuliert: Man kann sich bestimmte zivilisatorische „Fortschritte“ vorstellen, die sub specie historiae überhaupt nicht ins Gewicht fallen, weil es auf der anderen Seite massive „Rückschritte“ gibt: Der Fortgang der Geschichte in manchen mittelöstlichen und arabischen Ländern illustriert das sehr plastisch, Dubai ist ein gutes Beispiel, und in Nordkorea oder dem Iran spitzt sich das Problem zu, indem als „mittelalterlich“ empfundene religiöse bzw. ideologische Regimes die modernsten, besser: postmodernsten Technologien und Waffen zu erwerben suchen. Dies sind Beispiele aus der Gegenwart; die aus der Vergangenheit sind eindringlicher, vor allem das deutsche: Das Deutsche Reich veränderte sich zwischen 1871 und 1914 in rasanter Weise; aus einem Agrarstaat wurde ein Industrie- und Wissenschaftsstaat, Deutschland verfügte über die meisten Nobelpreisträger, die gebildetsten Akademiker, die tüchtigsten Schulen und Universitäten, die fortschrittlichste chemische und Schwerindustrie, das rascheste Wirtschaftswachstum, die intelligentesten Erfindungen – eine schier unabsehbare Kette, wie sie mancherorts, etwa in Wustrau, sehr eindringlich und nostalgisch der heutigen Generation museal vorgeführt wird.332 Gleichzeitig degenerierte dieser Staat von einem, wie man es genannt hat, „Europäischen Normalstaat“ westlicher Provenienz zu einer neoabsolutistischen Autokratie, zu einer halben Diktatur, zu einem Staat, für den Kriege keine Atavismen waren.

331 Borgolte, Michael, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlands 300 bis 1400 n. Chr., München 2006. 332 Brandenburg-Preußen Museum Wustrau.

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Mag diese Deutung der Epoche Widerstand wecken – der ließe sich begründen –,333 ist an dem zweiten deutschen Beispiel nicht zu rütteln: Im Zeitalter Hitlers entfaltete Deutschland eine vielbewunderte technische Modernität, etwa im Straßen- und Städtebau, in der Rüstungsindustrie, ja sogar im Sozialwesen und im Sport. Gleichzeitig verfiel dieser Staat der finstersten, atavistischsten Form historischer Existenz, er degenerierte zu einer „Horden-Gesellschaft“ („Führer befiel, wir folgen!“) die ihre Umwelt wie ganz am Anfang der Geschichte als eine prinzipiell feindliche („Umgeben von einer Welt von Feinden“ hieß es schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs) wahrnahm. Die „Regierung“ war in Wahrheit ein äußerst raffiniertes und erfolgreiches Verbrechersyndikat. Ein größerer Sprung rückwärts ist kaum denkbar, und es fragt sich in der Tat, ob man für die Zeit von 1933 bis 1945 überhaupt noch von „Kontinuitäten“ sprechen kann, sondern von einem Bruch ausgehen muß. Dafür steht meist „Auschwitz“. „Auschwitz“ ist ein radikales Beispiel für die Frage nach der Qualität bzw. den Quantitäten historischer Veränderungen, anders formuliert: Gibt es eine wie auch immer definierbare Rangierung von Veränderungen, beispielsweise von „guten“ zu „schlechten“, von „nötigen“ zu „überflüssigen“, von „wertvollen“ zu „schädlichen“? Und: wer bestimmt die Reihenfolge, wer stellt die Maßstäbe auf? Sind diese allgemein gültig, oder unterliegen sie selbst ständiger Veränderung – naturnotwendig, nicht weil dieser oder jener es will? „Auschwitz“ steht auch für den stets wieder misslingenden Versuch, ein historisches Phänomen zu isolieren, dem Geflecht von Ursachen und Folgen zu entziehen, nichts anderes bedeutet die Rede von der „Singularität“ von „Auschwitz“, über die jahrzehntelang ergebnislos diskutiert worden ist.334 Die Eingangsfrage, ob es etwas „außerhalb von Zeit und Raum“ geben könne, stellt sich hier mit den schwerwiegendsten Konsequenzen: Bejaht man sie und verweist auf „Auschwitz“ als – nein, eben nicht „Beispiel“ – so durchbricht und verwirft man das gesamte theoretische Gebäude der Geschichtswissenschaft, und zu welchen Folgen das führt, wissen wir (noch) nicht. Offensichtlich gewinnt mit „Auschwitz“ eine besondere moralische Matrix an Gewicht, und daran lässt sich leicht die weiterführende Frage knüpfen, ob nicht alle historischen Veränderungen auch dieser Matrix unterliegen. Kommt man zum Schluß auf das Massenphänomen zurück, stellt sich hier die Frage, ob man eine „Masse“ dennoch so wie Staaten oder Organisationen als Individuen mit individuellen Eigenschaften sehen kann: Auf der einen Seite geht der Einzelne in der Masse unter, auf der anderen gestaltet er sie mit und trägt von hier aus gesehen all jene Verantwortung auch, die der „Masse“ zugeschrieben wird. Ist Masse „das Volk“, wird die Idee der „Kollektivschuld“ oder der „Kollektivscham“335 deutlich: Auch wenn der Einzelne nicht die mindeste Schuld trägt: In333 Vgl. zur Fischer-Kontroverse: Böhme, Helmut, „Primat“ und „Paradigma“am Beispiel des Ersten Weltkriegs, in: Lehmann, Hartmut (Hg.), Historikerkontroversen, Göttingen 20001, 89–139. 334 Meier, Christian, Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute, 2. Aufl. München1990, 38. 335 Der Begriff stammt bekanntlich von Theodor Heuss.

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dem er Teil einer Masse ist, die als „Volk“ begriffen wird, bleibt er Schuld und Scham verhaftet, und da die Masse zumindest in historischen Dimensionen unsterblich ist, weil ihr immer neue Generationen zuwachsen, sind auch diese durch das Kainsmal von Schuld und Scham gezeichnet – ad infinitum. Oft wehren sich Menschen mit Empörung dagegen, für etwas haftbar gemacht zu werden, das sie als Individuen überhaupt nicht zu verantworten haben, weil sie noch nicht geboren waren, als das Unrecht geschah („Die Gnade der späten Geburt“), aber indem sie immer auch zugleich Teil der Masse sind, können sie tragischer Verstrickung in Schuld, Scham – und Sühne – nicht entrinnen. Der Entkolonialisierungsprozeß nach der Konferenz von Bandung (1955) wurde immer wieder durch das Phänomen geprägt, daß die ehemaligen Kolonialmächte sich bei den einst Unterworfenen entschuldigen mussten oder sollten – dabei lebte niemand mehr von jenen „Kolonisten“, die das Unrecht einst begangen hatten. Masse ist Schicksal, Tragik, Lebensform. Masse verändert oft gegen den Willen Einzelner, die in ihr stecken. Massen sind meistens rückschrittlich, nach vorne „stürmen“ sie selten und wenn, meist „blind“. Dennoch müssen (fast) alle mit, gleichgültig, ob ihnen das „passt“ oder nicht. Damit ist das Massenphänomene in eine andere Dimension verlagert: eine menschliche und moralische. 11. WERTE UND UNWERTE Man nähert sich diesem Komplex wieder am ehesten, geht man vom Menschen selbst aus. Oft empfinden alte Menschen die alten Zeiten als die „guten“, „wertvollen“, die gegenwärtigen als die „schlechten“, „wertlosen“, und die „gute alte Zeit“ ist stereotyp geworden. Das bezieht sich nicht nur auf politische, wirtschaftliche, religiöse, kulturelle usw. Verhältnisse, sondern auf die menschliche Gattung insgesamt, die in einer biologisch durch nichts gerechtfertigten „Entwicklung“ wahrgenommen wird, so als ob sich „die Menschheit“ binnen Jahrzehnten genetisch so verändert hätte, wie es höchstens in vielen tausend Jahren der Fall sein könnte. Diese Fehlperzeption ist ehrwürdig alt: Die Jugend von heute ist „verdorben“, „faul“, „träge“, alte Werte werden nicht mehr hochgehalten usw. – früher war das ganz anders. Weit verbreitet ist die Vorstellung: Früher war überhaupt alles besser und die Menschen auch.336 Die genau entgegengesetzte Denkfigur gibt es auch: Früher war alles schlechter, die eigene Erinnerung daran kann nicht trügen. Aus dem Elend der Vergangenheit führte der Lebensweg in die Herrlichkeit des Heute. Viele Erinnerungen, die sich auf die Epoche von etwa 1800 bis 1870 bezogen, waren von diesem Muster geprägt, so daß häufig der Eindruck entstehen konnte, die eigene Lebensgeschichte und die allgemeine hätten sich nach einem teleologischen Muster „per aspera ad astra“ entwickelt. Nun wird jeder halbwegs vernünftige Mensch sofort zugestehen, daß solche Klischees absoluter Unsinn und der Diskussion nicht wert sind. Wie also kommt 336 Illies, Florian, Generation Golf, München 2001.

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es, daß selbst höchst intelligente Menschen in den Chor des Jammerns über die gegenwärtigen Zeiten und deren „verdorbene Jugend“ einstimmen – es ist bezeichnend, daß dies schon Sokrates nachgesagt und seitdem ständig nachgeplappert worden ist. Das Umgekehrte kommt auch vor, ist jedoch wesentlich seltener. Es gibt dafür eine Reihe von Erklärungsversuchen, die unmittelbar mit der Deutung der Geschichte insgesamt zusammenhängen. Das kann einsichtig werden, versucht man die angeblich besseren früheren Zeiten als historische Erzählung des eigenen Lebens zu verstehen.337 Dann wird das Bild einer – allerdings kurzen – Vergangenheit evoziert, an der man einst selbst teilgenommen hat, in der man lebte: als Kind, Schüler, Student. Weit entfernt davon, sich selbst aus der Gegenwart als ein fremdes, fernes, unfertiges und unbekanntes Wesen zu begreifen, bürdet man den Sack sämtlicher Erfahrungen des gesamten Lebens auf die Schultern jenes jungen Menschen, der man selbst einmal gewesen ist. In der Erinnerung wird dieser daher zu jenem, der man gegenwärtig zu sein meint: klug, besonnen, erfahren, moralisch gefestigt usw. – und nun glaubt der alte Mensch es wirklich zu wissen: früher war man fröhlicher, der Himmel war blauer, das Wasser sauberer, der Sommer noch ein Sommer, zu Weihnachten lag Schnee, die Lehrer waren strenger aber gerechter, die Eltern fleißiger und frömmer, man war als junger Kerl tüchtiger und braver als die jungen „Warmduscher“ und Jammerlappen von heute. Da das menschliche Gedächtnis selektiv arbeitet, werden die negativen Erfahrungen ausgeblendet – nicht „the good is oft enterred with their bones“338 – es ist das „bad“. Das „Früher-war-alles-besser“-Syndrom ist Derivat von „Degenerationsthesen“,339 die bis heute in der Denkfigur des Sozialdarwinismus weiterschwingen. In scharfem Kontrast dazu geben die allermeisten alten Menschen, die sich als Pessimisten zu verstehen gegeben haben aber zu, daß Manches seit ihrer Jugend doch „besser“ geworden ist: etwa auf dem wirtschaftlichen, technischen, dem medizinischen Feld. Häufig werden diese von jenen aber nicht als entscheidend angesehen, sondern lediglich als Surrogate, als sekundär begriffen. Worauf es „eigentlich“ ankomme, sei schlechter geworden: Vertrauen ineinander, Ehrlichkeit, Fleiß, Gemeinschaftssinn usw., also vermeintlich „überzeitliche“ Werte. Ein kleines Beispiel liefert die Legende um die DDR: Bei vielen Bewohnern der ehemaligen DDR wurde die Behauptung stereotyp, die Ex-DDR sei das bessere Sozialmodell, obwohl der Staat insgesamt „technisch“ und „ökonomisch“ bei weitem nicht so „fortschrittlich“ gewesen sei, wie der „kalte“ „kapitalistische“ Westen. Darauf nämlich, so diese Deutung, käme es nicht an, vielmehr darauf, daß man im

337 Nicht von Ungefähr wurden sie zum Bestseller: Kügelgen, Wilhelm, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Stuttgart 1922. Auch Erinnerung und Gedanke von Bismarck ist dadurch geprägt. 338 Shakespeare, Julius Caesar. 339 Gilman, Sander/Chamberlin, E. (Hg.), Degeneration. The dark Side of Progress, New York 1985.

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Osten „wie eine Familie“ gelebt habe, große Solidarität und eben kein „kalter Kapitalismus“ geherrscht hätten, es also „menschlicher“ zugegangen sei. 340 Dieser Irrglauben ist typisch und befällt viele alte Menschen, die gerade deswegen von den Jungen als „alt“ empfunden werden, obwohl Historiker anscheinend „schlagend“ beweisen können, daß diese Verklärung der Vergangenheit eine völlig falsche Perzeption ist. Der Idee des „Früher war alles besser“ steht die These entgegen, daß früher alles schlechter war, wobei es eine beliebte Übung von Politikern ist zu behaupten, es sei ihretwegen eben immer alles besser geworden, und dieser Prozeß werde sich fortsetzen, würden die Wähler sie weiter an der Macht lassen. „Per aspera ad astra“ gilt auch hier. Für die Zeit des Nationalsozialismus bedarf das keiner Erläuterung, es konnte nach dessen gewaltsamem Untergang nur besser werden, und auch das vermeintliche „Wirtschaftswunder“ nach 1948 erschien so, weil es nur aufwärts gehen konnte. Aber je nach Konjunktur wirken auch andere Vergangenheiten als schwarz eingefärbt und kontrastieren scharf mit der besseren Gegenwart – für die man, ist man selbstbewusst genug, selbst mit gesorgt hat: Etwa Margarethe von Trotta, die von der „bleiernen Zeit“341 filmisch handelte und diese damit für ihre Gegenwart überwand. Wenn sich das „bleiern“ auf die Ära Adenauer bezog, so zeigt dies die unterschiedlich möglichen Wahrnehmungen ganzer Epochen; galt diese Ära doch für viele als das genaue Gegenteil: als jene der Befreiung aus „bleiernem“ totalitärem Joch. Trotta und mit ihr die Generation der sog. „Achtundsechziger“ glaubten ihrerseits, sich von diesem „bleiernen“ Joch des Adenauerregimes befreien zu müssen. Die Vergangenheit konnte also diametral gegensätzlich selbst dann begriffen werden, wenn diese Differenz nicht auf einer bestimmten Ideologie beruhte. Der Slogan: „Keine Experimente!“342 wurde symbolträchtig und ging in den Argumentationsschatz der Politikwissenschaft ein. Das war mit der bereits erörterten Idee der Restauration und des Konservativismus als Anti-Veränderungsprinzipien verknüpft. Alle diese Deutungen von Veränderungsprozessen basieren auf einer einzigen Idee: die Geschichte wird von Werten und Unwerten bestimmt; diese sind es, die der Geschichte „eigentlich“ kongenial sind – alles andere ist Beiwerk, letztlich uninteressant, man könnte darauf verzichten: auf die Werte kommt es an! Seit Friedrich Meineckes bahnbrechendem Aufsatz zu „Kausalitäten und Werten“ von 1928343 schien es entschieden: Nicht die „Kausalitäten“ hätten zu interessieren, sondern die „Werte“. In geradezu abschätziger Manier hatte Meinecke alles „bloß“ Kausale als Relikt blutleerer Aufklärungshistorie diffamiert und damit die Grundlage für eine Geschichtsschau geliefert, in der es eben nicht um die Kausalitäten, sondern um die Werte ging. Sie eigentlich veränderten die 340 Typisch der Film: Becker, Wolfgang (Regie), Good Bye, Lenin (D 2003). Vgl. die regelmäßigen Umfrageergebnisse zur „Stimmung“ der ostdeutschen Bevölkerung: Zwanzig Jahre nach der „Wende“ geht die Verklärung der DDR munter fort. 341 Trotta, Margarethe von (Regie), Die bleierne Zeit (BR Deutschland) 1981. 342 Slogan der CDU im Bundestagswahlkampf 1957. 343 Meinecke, Friedrich, Über Kausalitäten und Werte, in: HZ 137 (1928) 1, 1–27.

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Geschichte und trieben sie voran. Trotz der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die ja in seine „Idee der Staatsräson“ von 1924 durchaus eingeflossen waren, beharrte Meinecke ganz im Sinne Rankes auf der verändernden Kraft der „Werte“ ohne zu hinterfragen, inwieweit diese ebenfalls Kausalitäten und Veränderungen aller Art unterlagen. Das transzendente Korsett, in das Ranke und seine Epigonen die Geschichtsschreibung zu zwängen versucht hatten, war immer noch nicht abgestreift, dazu bedurfte es offensichtlich erst eines weiteren Weltkrieges. Daß „Werte“ als mächtiger Antriebsmotor der Geschichte gelten, ist heute unbestritten; das Problem hat sich auf die Frage verlagert, was denn „Werte“ eigentlich sind, wie man sich ihrer versichern, wie man sie definieren könnte. Auch der Begriff der „Kausalität“ ist seines pejorativen meineckeschen Charakters entkleidet, wozu die modernen Erkenntnisse der Physik im Einsteinschen Kosmos gewiß beigetragen haben. Ursachen und Kausalitäten bilden eine Einheit, sind aber nicht identisch, schwingt bei Kausalität doch das NaturwissenschaftlichMechanische mit, bei Ursachen das Philosophisch-Geisteswissenschaftliche. Eng mit dieser Sehweise verbunden ist das Problem des „Stellenwerts“. Wenn „Werte“ der Maßstab sind, gewinnen Begriffe wie Moral, Ethik, Gewissen den entscheidenden historischen Stellenwert: Vergangenheit ist nicht gleich Vergangenheit, sie muß qualifiziert werden. Man kann dies tun, weil man im Fortgang der Zeit selbst den archimedischen Punkt zu erkennen glaubt, von dem aus man mit dieser Vergangenheit fertigwerden kann – frei nach dem Motto: Wer vom Rathaus kommt ist klüger, die Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung, man sieht den Wald, nicht lauter Bäume. Schon seit längerem nimmt sich die Teildisziplin der „Erinnerungskultur“ der „Erinnerungsorte“344 an, und das Einst wird inzwischen durch die Brille der Gegenwart gesehen: bewußt und gewollt. Das unterscheidet diesen Zugang zur Vergangenheit von dem althergebrachten, der nun nur noch als eindimensional, wenn nicht als naiv erscheint.345 Geht man davon aus, daß die Vergangenheit als ein Prozeß wahrgenommen wird, der bis zum heutigen Tag ständig fortgeht und mit dem Fortschreiten der Zeit sich ständig wandelt, wird das Bedürfnis wach, diese Veränderungen zu ordnen und zu klassifizieren. Das kann in einer eher „objektiven“ und in einer eher „subjektiven“ Weise geschehen: In ersterem Fall wird es das Bemühen des Betrachters sein, den Gegenständen und Phänomenen der Vergangenheit eine Art „Stellenwert“ zuzuschreiben, wobei es um „wichtiger“ und „unwichtiger“ geht – für die Zeit, die man betrachtet, aber auch jene, die dieser folgen wird. Aus der unendlichen Fülle des Vergangenen wurden deswegen nur die vermeintlich „großen“ Ereignisse herausgefiltert, was sich in einer Geschichtsschreibung niederschlug, in der es wesentlich nur um die „Haupt- und Staatsaktionen“ ging. Diese wiederum wurden in der Geschichtsschreibung vor dem Historismus in „gute“ und „schlechte“ aufgeteilt, wobei die „guten“ in Erbauungsliteratur und 344 François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001. 345 Cornelißen, Christoph u.a. (Hg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt/M. 2003. Ders., Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: GWU 54, 2003, 548–563.

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oft Fürstenspiegeln landeten, die „schlechten“ in die Menetekel- und Folterkammern für gelehrige Thronnachfolger gerieten; Machiavellis „Principe“ nahm hier den prominentesten Platz ein, was den preußischen Kronprinzen Friedrich bekanntlich zu seinem „Antimachiavell“ inspirierte, von dem er sich schleunigst distanzierte, als er selbst auf Prinzipien aus dem „Principe“ zurückgriff – ab 1740. Erst nach 1945 dämmerte es vielen Historikern, daß dieses Klassifizierungsverfahren nicht nur defizitär war, sondern die Vergangenheit, die man erforschen wollte, verzerrte, und aus diesen Zweifeln kristallisierten sich jene Zugänge zur Vergangenheit heraus, die – je nach Perspektive – als „Alltagsgeschichte“ „mikroskopische Geschichte“, „Geschichte von unten“, „back to the roots-Geschichte“ daherkamen. Nun entsann man sich auch, daß schon Persönlichkeiten wie Voltaire, Jacob Burckhardt, Karl Lamprecht, Eckart Kehr, Veit Valentin und, sah man nur genauer zu, viele andere, die bislang gleichsam nicht „satisfaktionsfähig“ gewesen waren, diesen Ansatz schon einmal verfolgt hatten, und in den seit dem 19. Jahrhundert aufblühenden „Altertumsvereinen“ wurden das „Lokale“ und das „Kleine“ immer schon hochgehalten und gepflegt. Aber es dauerte eine geraume Zeit, bis aus der Gesamtheit dieser Zugänge zur Vergangenheit eine neue Teildisziplin der Geschichte erwuchs: die „Landesgeschichte“.346 Manchmal kam diese Sorte von „Kulturgeschichte“ eher in Form eines Etikettenschwindels daher (Voltaires „Essai sur les mœurs et l’esprit des nations“ ist ein Beispiel), manchmal in der Form persönlicher Betroffenheit (Eckart Kehr, Veit Valentin). Daß im Zuge gewisser Moden und Trends dann die „Haupt- und Staatsaktionen“ samt ihren Kaisern und Königen ihrerseits aus dem Blick gerieten, weist darauf hin, daß es nicht genügt, die eine Perspektive durch die andere zu ersetzen. Nur die Kombination aller lässt einen befriedigenden Zugang zur Geschichte finden. Aber das war nur der als „objektiv“ begriffene Weg. Es gab immer auch einen „subjektiven“, und in diesem spielten nicht die „wichtigen“ oder „unwichtigen“ Dinge die entscheidende Rolle, sondern jene, die als besonders „wertvoll“ oder als besonders „verwerflich“ galten. Diese Klassifizierung war nur Menschen möglich, die über eine verbindliche ethische Skala verfügten. War dies der Fall, so ließ sich die gesamte Geschichte aufteilen in das, was „gut“ und jenes, was „schlecht“ war. Oft geschah das nach dem Verfahren: Jenes ist besser geworden, dieses schlechter, das ist gleichgeblieben. Jeder Mensch, vor allem aber der Historiker, bildet sich ein, er verfüge über ein Instrumentarium, das es ihm erlaubt, die Komplexität des Einst so zu sezieren und aufzubrechen, daß man die Vergangenheit neu arrangieren und hierarchisieren kann. Die Idee des Dekonstruktivismus, wie er aus der Philosophie von Jacques Derrida stammt und in die Geschichtswissenschaft übertragen wurde,347 lebt davon. Die Unterscheidung zwischen „wichtig“ und „unwichtig“ zählt zwar immer noch zu den methodischen Kategorien der Geschichts346 Führendes Organ: Blätter für deutsche Landesgeschichte, seit 1852. 347 Rorty, Richard, Philosophy as a Kind of Writing, an Essay on J. Derrida, in: ders., Consequences of Pragmatism, Essays 1972–1980, Minnesota 1982, 90–109. Vgl. die sarkastischen Bemerkungen von Langewiesche, Dieter, Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, München 2008, 15–22.

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schreibung, und die „Gewichtung“ der Vergangenheit ist das Grundkonstrukt der Geschichte überhaupt geblieben. Aber die Wörter „wichtig“ und „unwichtig“ selbst sind fraglich: Wer eigentlich verfügt, daß die Biographie eines Kaisers „wichtiger“ ist als die eines Köhlers? In Folge dessen gibt es umfangreiche, detaillierte Biographien – etwa eines Halunken oder einer „Kindsmörderin“ aus dem 17. Jahrhundert. (Da darf der Hinweis auf „Faust“ natürlich nicht fehlen – Goethe als Wegbereiter) Die Autoren solcher Bücher versäumen es nie darauf hinzuweisen, daß man das Ganze doch, bitteschön, „paradigmatisch“, gar „symbolisch“ lesen und begreifen wolle – womit dann den „Helden“ solcher Biographien eine Ehre zu Teil wird, deren sie sich zu Lebzeiten nicht im Traum versehen hätten. Das wohlfeile Prinzip des „pars pro toto“ erlaubt mit diesem Trick alles und relativiert „wichtig“ und „unwichtig“ bis zur Unkenntlichkeit. Wie aber das Eine oder das Andere moralisch und ethisch zu bewerten und zu gewichten sind, bleibt der „subjektiven“ Methode vorbehalten, und hier auch endet der Erkenntniswert des Dekonstruktivismus, denn dieser begreift sich als wertneutral und allein „strukturalistisch“ gedacht. Auf dem Feld sittlicher, moralischer Bewertungen gibt es keine feststehenden gleichungsartigen Relationen; Wichtiges kann unmoralisch sein, Unwichtiges moralisch. Dennoch interessieren sich Menschen meist mehr für die quantitativen Gewichte als für die besonders ethischen – wie anders ließen sich die Bibliotheken erklären, die mit ganz unethischen, aber wichtigen Themen aus der Vergangenheit angefüllt sind, Beispiele erübrigen sich. Untersucht man die Geschichte aber nach ethischen Kategorien, so wird eine Skala implementiert, die von „gut“ bis „böse“ reicht,348 wobei man oft ein „sehr“ oder „weniger“ hinzufügen kann. Diese Skala wird nicht ausschließlich durch das einzelne Subjekt konstituiert, sondern sie hat sich in einem langen Prozeß als allgemein verbindlich hergestellt. Dieses moralische Normengefüge ist dann jene „Struktur“, in welche die Geschichte eingepasst werden muß. In diesem Zusammenhang ist dann oft vom „Abendland“ oder dem „Christentum“ die Rede – Begriffe für diese Strukturen, die man als für alle und auch alle Welt als verbindlich ansieht. Daß sich daraus im Zeitalter multikulturellen Denkens und Empfindens unlösbare Widersprüche ergeben müssen, liegt auf der Hand; manchmal werden sie besonders drastisch sichtbar – wenn es, beispielsweise, um eine Burka oder gar einen „Ehrenmord“ in einem grundsätzlich „christlichen“ Kulturkreis geht. Der Mörder wird (zu Recht) bestraft; er selbst fühlt sich unschuldig, missverstanden und empfindet sich keineswegs als „Mörder“ im „abendländischen“ Sinn. Betrachtet man die Geschichte der Historiographie, so fällt auf, daß lange Jahrhunderte hindurch – bis hin zu Bossuet – Geschichte als Kirchengeschichte verstanden wurde, und die Kirche stand auf der Skala zwischen Gut und Böse lange Zeit ganz auf der Seite des „Gut“.349 Erst mit der Säkularisierung auch der Geschichtswissenschaft änderte sich das, und nun wurde „Weltgeschichte“, also das Quantitative und nicht das Moralische zum Maßstab des Interesses. Zwar gab 348 Typisch: die „Acta Sanctorum“. 349 Deswegen macht ein Titel wie Kriminalgeschichte des Christentums (Denzler) noch heute Skandal.

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es die Idee einer Weltgeschichte auch in der Heilsgeschichte, 350 aber darunter wurde lediglich etwas Spirituelles, nichts Reales verstanden; „Welt“ war nur, wenn sie als christlich begriffen wurde, alles andere stand außerhalb dieser Welt in einem unbestimmten gottesfernen Raum, den möglichst rasch zu durchqueren, um wieder an christliche Gestade zu gelangen, ein wichtiges Motiv der Entdeckungsgeschichte war. Im Zuge der Säkularisierung wurde verfügt, daß der Historiker anders als die Kirche oder die Justiz nicht über Gut oder Böse zu urteilen habe, ihm keine Richterfunktion zukomme, sondern er „sine ira et studio“ nur darstellen müsse, wie es „eigentlich gewesen“ sei. Es konnte nicht ausbleiben, daß solche Maximen den Vorwurf der moralischen Beliebigkeit bei frommen Menschen provozierten; diese Historiker wurden eines grenzenlosen Relativismus geziehen, der sich in den Augen moralisch gefestigter Menschen nicht ziemte. Solcher Geschichtsschreibung wurde jede ethische Bedeutung abgesprochen. Im Zuge der Nationalstaatsbildung im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert trat die „sittliche Idee des Staates“ hinzu, bzw. an die Stelle der heilsgeschichtlichen Sehweise, jedoch blieb das Argumentationsmuster gleich: Nur wer nunmehr eine teleologisch angelegte Geschichte des Werdens „der Nation“ schrieb, galt als bedeutender Historiker, daraus entwickelte sich das, was man etwa als „Borussismus“ bezeichnet hat: Niebuhr, Droysen, Ranke, Treitschke u.a. wurden dafür berühmt.351 In allen diesen Fällen wurden automatisch „sittliche“ Kategorien an das historische Material angelegt und damit das Gute vom Schlechten getrennt – was bis in die Quantitäten reichte, wenn „guten“ Herrschern mehr Seiten gewidmet wurden als „schlechten“.352 Relativismus, gepaart mit „Positivismus“ und „Historismus“ wurden hingegen zu abschreckenden Indices für eine seelenlose, moralfreie Wissenschaft, die sich gerade deswegen selbst ins historische Aus beförderte. Das galt für Menschen wie für Sachen, und wenn etwas in diese Kategorien nicht paßte, wurde es nicht als „historisch“ wahrgenommen – „Auschwitz“ wird auf diese Weise der Geschichte herausoperiert; bestenfalls bleibt eine Narbe zurück – so eine Art „Kollektivscham“, wie das der Bundespräsident Theodor Heuß einmal genannt hat. „Historisch“ wird etwas nur dann, wenn es sich in der Zeit erkennbar verändert; die gegenwärtige Diskussion um die „Klimakatastrophe“ gehorcht diesem Muster und hat die Klimaforschung als historische Teildisziplin hervorgebracht. Eine Geschichte von „gut“ und „böse“ gibt es nicht, wohl aber unzählige Reflexionen über „gut und böse“353: Nur selten wird über die Begriffe selbst nachgedacht; meistens gilt „gut“ a priori als gut, und „böse“ a priori als böse – aber ist das richtig? Schon Goethe hat es trefflich formuliert: die Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft – oder ist es umgekehrt, wie Generationen von Gelehrten 350 Löwith, Karl, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953. 351 Korrekterweise muß man hinzufügen, daß es dazu (vor allem im süddeutschen und österreichischen Raum) auch immer Gegenbewegungen gegeben hat. 352 Man sehe sich unter diesem Gesichtspunkt die Allgemeine Deutsche Biographie an! 353 Aus der großen Fülle von Literatur über das Gute und das Böse stellvertretend: Arendt, Hannah, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München/Zürich 2007.

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gerätselt haben? Lassen sich Gut und Böse als Phänomene deuten, die durchaus veränderbar sind? Wären sie es, es gäbe eine historische „Gut und BöseForschung“, in der Geschichtswissenschaft sucht man sie vergeblich. Der Grund ist ebenso schlicht wie banal: Unveränderbares hat keine Geschichte. Aber gibt es Unveränderliches? Wenn nach geologischen Maßstäben sogar Eisbergen und Wüsten eine Art „Geschichte“ zugeschrieben wird, kann diese sich ebenfalls „schleichend“ oder „plötzlich“ verändern; Gletscher „ziehen sich zurück“, Meeresspiegel „steigen“, die arktische Polkappe verändert ständig ihr Aussehen und wird kleiner usw. Hier tritt uns wieder die Vermenschlichung auch der Natur entgegen, (der arme junge Eisbär auf der kleinen schmelzenden Eisscholle!) die auch auf den Staat angewendet wird, sowie auf alle Institutionen, die zur Struktur der Geschichte zählen. Alles verändert sich ständig, alles? Veränderungen prägen die Geschichtswissenschaft; das bekannte Goethewort, nach dem die Geschichte alle dreißig Jahre umgeschrieben werden müsse, zielt darauf. Diese sich ständig verändernde Geschichtswissenschaft ist zum einen rein quantitativ und eklektisch bedingt, indem immer mehr Wissen über die Vergangenheit zu einer immer neuen „Meistererzählung“ zwingt, auf der anderen, und dies ist entscheidend, durch sich wandelnde Wertekanons – man lese eine deutsche Hitlerbiographie aus der Zeit vor 1945 und eine danach: Man kann kaum glauben, daß es sich um denselben Mann, dieselbe Sache handelt. Das heißt: Ganz automatisch werden alle Veränderungen in eine sich ständig verändernde Form gepresst. Diese ist das jeweils gültige Wertesystem. Dieser Umstand impliziert, daß sich Wertesysteme ändern können und immer wieder geändert haben, manchmal bis aus „Gut“ „Böse“ und aus „Böse“ „Gut“ wurde – hier wäre erneut auf George Orwells „1984“ zu verweisen. Man hat es also mit einer doppelten Relativität zu tun, die sich auf die Geschichte selbst und die Erzählung der Geschichte bezieht, darüber hinaus durch die eingangs dieses Kapitels geschilderte menschliche Seh- und Verhaltensweise der eigenen Vergangenheit gegenüber bestimmt wird. Geht man davon aus, daß „Werte“ ebenso wie alles andere menschliche Hervorbringungen sind, die der Veränderung unterliegen, so wird Geschichte nicht mehr vor dem unveränderlichen Hintergrund eines wertegestirnten Himmels zu schreiben sein, sondern dieser Himmel muß ständig neu geschaffen und verteidigt werden: Generation für Generation. Nun wird das „Auschwitz“-Problem durchsichtig: Wenn es in der Geschichte vieles ganz unterschiedliches „Böse“ gibt, ebenso wie vieles „Gute“, dazwischen eine breite Skala von Grautönen, so wird „Auschwitz“ das „absolut“ Böse zugewiesen. Dieses wäre in diesem Fall tatsächlich „außer Raum und Zeit“, es stünde vor Beginn der Geschichte, es symbolisierte die als absurd entlarvte Frage nach dem Ursprung aller Dinge und deren Veränderung. „Außerhalb von Raum und Zeit“ heißt außerhalb der Geschichte, das kann man nicht erforschen, weil jeder Versuch ins Nichts führte. Die Befürworter der Singularitätsthese354 machen sich nicht klar, daß sie „Auschwitz“ damit nicht nur aus der Geschichte überhaupt ver354 Sperber, Manès, Churban oder die unfassbare Gewissheit. Essays, München/Wien/Zürich 1979.

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bannen, sondern dieser Tatsache damit auch alle moralischen Kategorien entziehen, die an jedem historischen Ereignis und dessen Veränderung haften. Die Begriffe „Gut“ und „Böse“ ergeben nur dann einen Sinn, wenn sie mit etwas real Existierendem, also etwas Geschichtlichem kombiniert werden – Erich Kästner brachte es auf die jedermann geläufige Formel: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Man könnte sich philosophisch mit Shakespeares Hamlet trösten: „Der Rest ist Schweigen“, aber das Ungenügen an dieser Scheinlösung triebe die Diskussion weiter, wobei es zutiefst unredlich wäre, jenen Historikern, die die Absolutheitsthese ablehnen und auch „Auschwitz“ in Relation zu andern Dingen in der Geschichte sehen, der moralischen Verwerflichkeit zu zeihen: Wer „Auschwitz“ „relativiert“, ist „unten durch“: wissenschaftlich und moralisch. Es fällt deswegen schwer, anhand dieses Phänomens erkenntnistheoretische Probleme zu erörtern – das wirkt blasphemisch, (wie Theaterstücke, Filme und Musik zu „Auschwitz“ auch) und genau damit scheinen sie die These von der Relativität von Auschwitz zu widerlegen, ist das Denken in Ursachen und Folgen selbst doch sonst keine Blasphemie – warum sollte es also eine Diskussion zu „Auschwitz“ sein? „Auschwitz“ ist extrem; aber die notwendig immer selektive Wahrnehmung der Geschichte als ständiger Veränderung basiert zum einen auf dem „Gedächtnis“ des Einzelnen, des Kollektivs, der Nation, zum anderen auf einem Wertekanon, der aber nicht absolut ist: Ein Beispiel: Die Veränderung der Mode wird zwar wahrgenommen, erheischt aber keine übertriebene Aufmerksamkeit.355 Die Entwicklung der Atombombe wird hingegen als Mega-Ereignis begriffen. Der „Bikini“ und das „Bikini-Atoll“ machen das deutlich.356 Alles, was man in der Vergangenheit wahrnimmt, wird durch das Raster der bekannten Folgen gesehen; gleichzeitig aber nach den Kategorien „gut“ bis „böse“ klassifiziert. „Der Bikini“ steht für Sex und Lust, „das Bikini-Atoll“ für Sakrileg und (potentiellen) Tod. Dabei ist das eigene Ich ausschlaggebend, denn dieses hat alle vorhandenen Maßstäbe der Klassifikation für sich in einer Weise adaptiert, die diesen Maßstab überhaupt erst handhabbar macht. Das Ungenügen an diesem Verfahren hat Leopold von Ranke in den klassisch gewordenen Satz vom Ich, das man „gleichsam auslöschen“ müsse, gefasst – wohl wissend, daß das unmöglich ist; er selbst hat sein Ich in seine Werke durchaus eingebracht, und so geht es allen Historikern; auch jenen, die für sich das Gegenteil behaupten. Der jedem Menschen eingeborene Moralkodex filtert alle Veränderungen in der Geschichte. Ändert sich dieser Kodex, verändert er die Wahrnehmung der Geschichte. Man betrachtet die Geschichte „wie in einem Spiegel“.357 Man sieht sie und gleichzeitig sich selbst, das ist unvermeidlich. Jede Veränderung im eigenen Leben verändert die Geschichte, die man sieht und zu beschreiben sucht. Das gilt nicht nur für Historiker, sondern für jeden, der in die Zeit zurückblickt und einem Dritten sagt, was er sieht. Wenn der Großvater dem Enkel vom Krieg erzählt, ist das Großvaters Krieg und sonst 355 König, René, Die zweite Haut, Berlin 1987. 356 Stölken-Fitschen, Ilona, Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995. 357 Bergmann, Ingmar, Regie: Wie in einem Spiegel (Schweden 1961).

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keiner. Ein Beispiel, anscheinend banal, mag das erläutern: Thema: „Unser Besuch im Zoo“. Eine fünfte Klasse besucht einen Zoo und schreibt anschließend einen Aufsatz: „Ein Besuch im Zoo“. In der sechsten geschieht das Gleiche, und dann in allen Klassen bis zur Oberprima. Nun wird man erkennen, daß der Zoo von Zehnjährigen ganz anders gesehen wird als von Fünfzehn- oder Achtzehnjährigen: Es gibt, kennt man den Zoo selbst nicht, für den Leser aller dieser Zoo-Geschichten nicht nur einen Zoo, sondern so viele verschiedene, wie es die Autoren der Zoogeschichten sind. Wie der Zoo „eigentlich“ ist, muß der Leser mühsam herauszubekommen suchen: In den Sexta-Geschichten gibt es viele Löwen und Tiger, in den Sekundaberichten viele Affen und Papageien, in denen der Primen nur noch exotische Tiere und ein Aquarium. Was ist richtig? Die Frage nach richtig oder falsch führt sich ad absurdum und gleichzeitig auf eine der Grundaussagen Immanuel Kants aus der „Kritik der reinen Vernunft“ zurück. Was Kant umschrieb, empfindet man als „hehr“ und „tief“, das wurde in früheren Zeiten jedem frischgebackenem Studenten beigebracht; der Zoo gilt als „banal“, man zuckt mit den Schultern: Im Grunde geht es um dasselbe: die Idee des Transzendentalismus. Unzählige Erkenntnistheorien versuchen Ordnung in den „Zoo“358 zu bringen. Allein der Umstand, daß es so viele von ihnen gibt, weist auf die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten hin. Die Geschichte ist transzendent und oszilliert auf diese Weise ständig, und zwar für jeden Menschen anders. Niemand weiß, wie sich der jeweils andere ein historisches Ereignis vorstellt, wie er es sieht, denn es gibt keine Identität zwischen menschlichen Geistern, höchstens „Geistesverwandtschaften“ – wieder eine hilflose Floskel, mit der man erreichen will, daß es, beispielsweise, eine „allgemeine Meinung“ gibt. Mag das für die Gegenwart gelegentlich funktionieren, weil (fast) alle zur gleichen Zeit das Gleiche anschauen – etwa den Terroranschlag vom 11. September 2001 am Abend des 11. September, einen Papstbesuch in Australien, einen Tsunami in Indonesien – so ist dies für die Vergangenheit ausgeschlossen, weil es kein gemeinsames Medium gibt. Es gibt niemanden und nichts, das darüber befinden könnte, ob und was der eine oder der andere sieht und zu erkennen meint. Dies schon deswegen nicht, weil im ersten Fall es nur um eine zeitliche Dimension geht: die Gegenwart, in jedem anderen um drei interdependierende: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Diesem Mangel suchte man manchmal abzuhelfen, indem bestimmte Bilder zu Ersatzmedien stilisiert wurden. So kam es, daß beispielsweise das Wernersche Bild der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlossers von Versailles, in jedem Schulbuch abgedruckt, zum sichtbaren Symbol des Ereignisses selbst wurde, wobei das pikante Aperçu darin liegt, daß das kollektive Gedächtnis mit dem 18. Januar 1871, so wie ihn Werner dargestellt hatte, mit der Reichsgründung selbst identifiziert wurde, so daß bis heute bei Laisen der Irrtum vorherrscht, das Reich sei am 18. Januar 1871 gegründet worden. Und da Werner – aus hier nicht zu er358 Nicht mit dem physikalischen „Teilchen-Zoo“ zu verwechseln – nur: woher stammt dieser Unsinn, den jeder Physiker nachplappert?

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örternden Gründen – die militärischen Momente dieser Proklamation in den Vordergrund gerückt hatte, konnte die Auffassung entstehen, das Reich sei eine reine Militärgründung gewesen. Das wiederum hatte schwerwiegende Auswirkungen, die bis 1945 und danach weiterwirkten; das Gespenst des „Militarismus“ war dabei das durchschlagendste. Dennoch wurde wenigstens von den Zeitgenossen diesem Bild eine bestimmte Authentizität zugesprochen, schließlich stammte der Maler aus derselben Generation. Was aber war, wenn es diesen biologischen Zusammenhang nicht mehr gab und die Bildproduzenten selbst auf „die Geschichte“ angewiesen waren? Von daher wurde seit den Zeiten von H.G. Wells der Wunsch wach, vermittelst einer „Zeitmaschine“359 an den ursprünglichen Ort des Geschehens zu reisen: Wer die Kreuzigung Christi unmittelbar erlebte, konnte nicht wissen, was daraus entstand. Gerade dieses Beispiel hat die Science-Fiction späterer Zeiten immer wieder fasziniert, wobei es natürlich das Paradox gab, daß der Zeitreisende ja wusste, was aus alledem entstanden ist,360 weil er anders gar nicht gewusst hätte, daß da in Jerusalem ein ganz besonderer Delinquent ans Kreuz geschlagen worden ist. Er konnte an den Ort des Geschehens ja nur deswegen reisen, weil er schon wusste, was dort geschehen würde. Die Autoren behalfen sich meist mit der Denkfigur, daß der Zeitreisende „sein Sein gleichsam auslöschte“ und nur die Zeitgenossen beobachtete und fragte. Noch heute kümmern sich Historiker um „Zeitzeugen“; die klügeren unter ihnen wissen, daß sie keineswegs in der Lage sind, in die eigene Vergangenheit „zurückzugehen“. Ihre Aussagen werden von Erinnerungen bestimmt, die durch den Ablauf der seitdem vergangenen Zeit mitgeprägt sind. Sie verändern sich deswegen ständig.361 Es ist auch ein Irrtum, bietet man in der Gegenwart vermeintlich „objektive“ geistige Produkte aus der Vergangenheit an; die heftige Diskussion um die „Zeitungszeugen“, die Initiative eines tüchtigen britischen Verlegers, verdeutlicht dies: Es ist schlicht unmöglich, auch das „originalste“ Exemplar, sagen wir des „Völkischen Beobachters“ heute so zu lesen, wie dies zeitgenössisch der Fall war, und nur die Krücke einer ausführlichen Kommentierung könnte versuchen dafür zu sorgen, daß man nicht das „Falsche“ liest und wahrnimmt. Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, daß die modernen Herausgeber schon wissen, was moralisch „richtig“ und „falsch“ ist. Um diese Problematik dementsprechender Editionstechniken soll es hier aber nicht gehen.362 Wer aber ist für die moralischen Kategorien zuständig, geht man davon aus, daß auch diese „historisch“ sind und daher dem Ursachen-Folgen-Prinzip ebenso gehorchen wie dem der Veränderung? Hier haben wir wieder jenes Problem vor Augen, das nach der „Natur“ oder „Geschichte“ der Grundrechte fragen ließ. Die359 Das Buch The Time Machine erschien 1895. 360 Die Science-Fiction-Wissenschaft spricht vom „Großvaterparadoxon“. 361 Das macht die populären historischen TV-Produktionen von Guido Knopp im ZDF so problematisch, so daß der Spott vom „Berufs-Zeitzeugen“ aufkommen konnte. 362 Das Problem wird paradigmatisch an der immer noch nicht vorhandenen „kritischen“ Edition von Hitlers „Mein Kampf“ deutlich.

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se sind eng mit etwas verbunden, das man als „Moral“, „Ethik“, „Gewissen“ zu bezeichnen pflegt. Die übliche Behauptung geht dahin, daß sie diese vor aller Geschichte seien; die Geschichte zwar bestimmten, ihr selbst aber entzogen blieben. Moral und Gewissen gelten für den Neandertaler wie für jeden homo sapiens. Religiöses Denken geht von den „Geboten“ Gottes aus, die eben auf die Erde gefallen sind, damit sich die Geschichte in eine „gute“ Richtung entwickeln lasse. Bezeichnenderweise läßt die Bibel die nahe liegende Frage offen, wie denn die Menschen vor den Zehn Geboten gedacht und gehandelt haben. Da gab es ja noch kein „du sollst“.363 Begreift man alles Gewesene als ein sich ständig veränderndes System aus übergeschichtlichen „Werten“ und irdischen Gegebenheiten, lässt sich die These entwickeln, daß in der dialektischen Aufhebung beider das Irrationale, Widervernünftige Geschichte wird, denn diese „Werte“ sind nicht rational bedingt, sondern liegen vor der Ratio, keiner weiß wo. Geht man nun davon aus, daß Ethik und Moral nur zwei Denk- und Handlungsanweisungen unter vielen möglichen sind, die geschichtsmächtig werden können, ist es ebenso logisch, Haß, Gewalt, Lüge, Unmoral als Maßstab der Geschichte für möglich zu halten – den „Herrn des Hasses“ gab es zumindest in einem Pop-Song, der die Charts eroberte.364 Dem wurde dann „die Liebe“ entgegengestellt. Tatsächlich gibt es in der dystopischen Literatur „Haß-Planeten“,365 und ohne Zweifel wird man auch diesen „Geschichte“ nicht absprechen können. Aber es ist eine „andere“ Geschichte als jene, die uns „normal“ erscheint. Eine Parallelgeschichte, eine Alternativgeschichte, die auf ganz anderen Maßstäben beruht als auf jenen, die für uns verbindlich, wenn auch ideal sind. In beiden Fällen wird das, was wir „Geschichte“ nennen, zur bloßen Funktion dieses „vorgeschichtlichen“ Werte- oder Unwertekanons und damit bestenfalls zum Abklatsch desselben. Die Geschichte verlöre jeden Wert sui generis. Sie könnte auch nicht sein. Seit altersher werden die Welt und ihre Geschichte als jene begriffen, die „sind“ und als jene imaginiert, die „sein sollen“. Die völlig unhinterfragten moralisch-sittlichen Maßstäbe sollen auf die gesamte Weltgeschichte angewendet werden; die Vorstellung, eine Geschichte wie die der Khmer unter Pol Pot, Zentralafrikas unter Idi Amin, Deutschlands unter Hitler, Afghanistans unter den Taliban – es gibt leider viele weitere Beispiele – hätte die gleiche Berechtigung zu sein wie die unsere, gilt als fragwürdig, und wenn solche Tyrannen und ihre Systeme beseitigt werden, gilt die Richtigkeit der Geschichte als wieder hergestellt; die altrömische Idee der „damnatio memoriae“ gilt nach wie vor, wird allerdings aus „moralischen“ Gründen in manchen Fällen – so dem deutschen – als „Menetekel“ in der Erinnerung fixiert.366 Wer dagegen verstößt und den moralischen Zeigefin363 Gemeint ist die Zeit ab der Vertreibung aus dem Paradies und der Übergabe der Gesetzestafeln an Mose. 364 DÖF, Codo 1983. 365 Es gibt auch SF-Produkte, die im Titel das Wort „Haßplanet“ führen, z.B. Vlcek, Ernst, Haßplanet (Utopia Heft Nr. 581). 366 Das gilt besonders für die Konzentrationslager, die sorgfältig restauriert und gepflegt werden. Nach dem Amoklauf von Winnenden, März 2009 wurde die Forderung nach der damnatio

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ger unten läßt, gerät in Erklärungszwang – regelmäßig ist dies der Fall, wenn sich jemand mit Hitler beschäftigt und sich gleichzeitig weigert, die verbindlichen Wertenormen auf die Biographie dieses Mannes anzuwenden.367 Auf der einen Seite ist es opinio communis, daß Hitler außerhalb jeder Moral und Ethik stand, auf der anderen werden genau diese Maßstäbe automatisch auf ihn angewendet, so daß es schon theoretisch unmöglich ist, Hitler so zu beschreiben, wie er „eigentlich“ gewesen ist. Die dafür notwendige Empathie ist schlechterdings nicht aufzubringen,368 und gelänge dies doch, wäre man erst recht nicht in der Lage, Hitler zu beschreiben – man würde vielmehr versuchen, ihn nachzuahmen. In vollem Wissen um die Verlogenheit seiner Argumente reklamierte Hitler vorgeblich „wertvolle“, das heißt von der allgemeinen „Moral“ akzeptierte „Werte“ auch für sich und benutzte ein Begriffsvokabular, das anscheinend diesem Wertekanon gehorchte. Noch im Zweiten Weltkrieg sprach beispielsweise nicht nur Hitler, sondern auch Eisenhower von dem „Kreuzzug“, den man führen müsse. Das ist deswegen besonders aufschlussreich, weil in beiden Fällen der Begriff „Kreuzzug“ von beiden als etwas Positives im verbindlichen bürgerlichen Wertekanon wahrgenommen wurde. Aber im Falle Hitlers war das Camouflage, denn er lebte in einem diametral anderen Wertesystem, in dem „Kreuzzüge“ keinen Platz hatten. Eisenhower hingegen verstand den Begriff „Kreuzzug“ so, wie es zu dieser Zeit in der westlichen christlichen Welt üblich war und begriff Hitlers „Kreuzzug“ als Blasphemie, die niemals akzeptiert werden konnte, wobei die nüchternen Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung, nach der es zum einen „Kreuzzüge“ erst in der Vorstellung des 19. Jahrhunderts gegeben hat, (es waren „bewaffnete Wallfahrten“)369 diese zum anderen alles andere als „positiv“ zu bewerten sind, keine Rolle spielte. Gerade in den modernen Kriegen wurde der Krieg immer wieder mit der Pflicht zur Wiederherstellung der ethischen Grundwerte begründet. Diesen wurde wie selbstverständlich eine Allgemeinverbindlichkeit für alle Menschen in aller Geschichte zugeschrieben, und selbst diejenigen, die sie bewusst verletzt und damit den Krieg heraufbeschworen hatten, pflegten zu behaupten, nicht den Gegnern, ihnen selbst gehe es um diese Werte. Niemand hätte sich dazu bekannt, aus purem Haß, Ehrgeiz, Gier, Bosheit usw. zu handeln; weder Hitler noch Stalin, weder Hussein noch Bin Laden hätten sich selbst als „Schurken“ bezeichnet; der Begriff „Schurkenstaat“ umschreibt nichts Reales, sondern etwas sich negativ Vorgestelltes, er ist sinnlos. Auch die übelsten „Schurkenstaaten“ leugneten, „Angriffskriege“ zu führen, man schoß immer nur zurück.

memoriae für Tim K., den Amokläufer, von den Hinterbliebenen der Opfer öffentlich erhoben. 367 Damit eckte 2008 der 105-jährige Johannes Heesters an, der in einem holländischen TVInterview Hitler als einen „netten Kerl“ bezeichnete. Nur sein Alter bewahrte ihn vor einem Sturm der Entrüstung – man nahm ihn nicht mehr ernst. 368 Das ist das Dilemma sämtlicher nach 1945 entstandener Hitlerbiographien, vgl. Schreiber, Gerhard, Hitler-Interpretationen 1923–1983, Ergebnisse, Methoden und Probleme, 2. Aufl. 1984. 369 Mayer, Hans-Eberhard, Geschichte der Kreuzzüge, 10. Aufl., Stuttgart 2005.

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Aus der Gesamtheit dieser ethischen Vorstellungen erwuchs im Verlauf der Geschichte die Idee der „Menschenrechte“, die die Welt in mehr als einer Beziehung geprägt und verändert hat. In ihrer „universalen“ Bedeutung, die ihnen wie selbstverständlich zugeschrieben wird,370 kommen ihnen eine Art Monopolstellung zu. Sieht man es formal und nüchtern, wird man fragen dürfen, ob es sich hierbei nicht erneut um den letztlich untauglichen Versuch handelt, dem Veränderungsphänomen auch im Bereich der „Werte“ zu entgehen. Denn die „Menschenrechte“ sind eine Denkfigur, die erst in einer bestimmten historischen Situation371 überhaupt entstanden ist; lange Perioden der von Menschen gestalteten Geschichte kamen ganz ohne sie aus – und sie wurden von der Mehrheit der Menschen offensichtlich auch nicht vermisst. Die Verabsolutierung der Menschenrechte ist so gesehen wider die „natürlichen“ historischen Prozesse, und es bleibt zu fragen, ob sie ihre monopolistische Stellung werden behaupten können. Das ist mehr als fraglich, auch wenn sich das sittliche Empfinden, vor allem das des Westens, gegen diesen garstigen Gedanken sträubt – was den Westen ehrt, zweifellos. Gibt man zu, daß „Werte“kanons, die auf Haß und Bösartigkeit beruhen, zwar Geschichte generieren können, die aber nur als „wertlose Auswüchse“ der Geschichte, wie sie „eigentlich“ sein soll, wahrgenommen werden, wird es komplizierter. Sieht man nicht einfach die Gegenbegriffe zu diesen Werten – die kann man leicht verdammen – sondern Werte, besser: Standards, die eben nicht nur als die Rückseite der bekannten Medaille oder als das Böse, das am Ende „stets das Gute schafft“, begriffen werden können, treten ganz andere Maßstäbe in Erscheinung. Nicht Haß, aber Fanatismus beispielsweise, nicht Lüge sondern Dialektik, nicht Bösartigkeit aber Indifferenz, nicht Recht aber die Scharia usw. werden als die Basis der Geschichtsveränderungen angenommen: Es ließe sich demnach ein „Werte“-System denken, das weder dem hellen noch dem finsteren gleicht, sondern sui generis ist und als solches auch Geschichte schafft: Sind das in diesem Fall auch bloße „Auswüchse“, die zu beseitigen sind? Oder lässt sich, beispielsweise eine Geschichte denken, in der Fanatismus372 und Dialektik373 die entscheidenden Triebkräfte sind, innerhalb eines eigenen Systems von Ursachen und Folgen, in dem die uns bekannten ethischen Grundsätze (oder ihre Perversion) keine Rolle spielen? Da wir seit jeher mit dem uns altvertrauten Wertekanon als Matrix der Geschichte leben, können wir uns solche anderen prinzipiell anders funktionierenden historischen Welten nur schwer vorstellen – aber kann es sie nicht, wenigstens theoretisch, doch geben? Immer wieder wurden bestimmte Herrschaftssysteme verdächtigt, eine Weltherrschaft anzustreben, die eben nicht nach den alten Maßstäben, sondern nach völlig neuen funktionieren sollte. In der Alterna370 Tönnies, Sibylle, Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte, Wiesbaden 2001. 371 Man bemüht sich eifrig, die Wurzeln schon in der Antike zu finden: Giradet, Klaus M./Nortmann, Ulrich., Menschenrechte und europäische Identität. Die antiken Grundlagen, Stuttgart 2006. 372 Fanatismus als wahre Antriebskraft der Geschichte hat schon Voltaire in der Enzyklopädie postuliert. 373 Der „dialektische Materialismus“ hat das zumindest versucht.

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tivgeschichte wurde mit Wonne ausgemalt, wie die Welt geworden wäre, hätte Hitler zuerst den Zweiten, dann den Dritten Weltkrieg gewonnen und die Weltherrschaft errungen.374 An diesen Glasperlenspielen wird erkennbar, daß die schlichte Formel, Geschichte basiere auf einem, und zwar einem einzigen Wertesystem, so nicht aufgeht. Geschichte kann ganz anders sein, und es gibt zumindest zeit- und teilweise Ansätze zu dieser „ganz anderen“ Geschichte. Alle Veränderungen bewegen sich für uns auf den ersten Blick an Hand der Werteskala, die gelegentlich umgekehrt erscheint, aber Veränderungen von Etwas, das wir nicht kennen, sind undenkbar. Dennoch kann man postulieren, daß es sie geben kann. Man wird also vorsichtig mit der Idee der Linearität der Geschichte sein müssen, und die Vorstellung, daß es nicht nur eine, sondern unendlich viele Welten samt ihrer Geschichte gibt, ist seit der Aufklärung ein beliebtes Gedankenspiel – die Leibniz’sche Idee von der „besten aller Welten“ spiegelt das. 12. WELTGESCHICHTE UND ZUSAMMENHÄNGE Diese Überlegungen deuten es bereits an: So wie die Linearität der Geschichte fragwürdig, das Ursachen-Folgen-Prinzip es damit auch ist, werden Veränderungen nicht nur aus jeweils einer Wurzel zu erklären sein, sondern aus vielen, richtiger: aus allen. Dahinter steht die Einsicht, daß alles mit allem „irgendwie“ zusammenhängt, so wie jeder Mensch mit jedem. Es genügt theoretisch also nicht, die Ursachen des Ersten Weltkrieges (oder eines beliebigen anderen Großereignisses) in bestimmten Zeiten und Räumen zu suchen, sondern in allen. Dabei ergibt sich sofort die Schwierigkeit bestimmen zu müssen, was denn ein „Großereignis“ ist. Es liegt auf der Hand, daß das von vielerlei Faktoren abhängt und im Verlauf der verflossenen Zeit sich ständig geändert hat und weiter ändern kann. Was einst als „groß“ erschien, wirkt später „klein“ und umgekehrt. Je nach den Zusammenhängen, in denen man ein historisches Ereignis verortet, gewinnt oder verliert es an Bedeutung, dazwischen gibt es fließende Übergänge. Dennoch sei die These gewagt, daß alle historischen „Ereignisse“ mit allen zusammenhängen, insofern die Welt als Geschichte375 und die Geschichte als Welt zu begreifen sind. Das soll ansatzweise an einem Beispiel demonstriert werden: Zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges zählte in der Wahrnehmung der Zeit in vorderster Linie der deutsch-französische Gegensatz, und den Krieg aus diesem Ursachenbündel heraus zu entwickeln, ist einfach, man kann zwanglos bis Bouvines zurückgehen, denn da wurde die „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern angeblich grundgelegt. Im Begriff des „Erbfeindes“ wird die Idee sichtbar, daß sich Konflikte (für die symbolisch Bouvines 1214 stehen könnte) „vererben“, und aus diesem Grund niemand an ihnen „schuld“ ist. Der Erste Weltkrieg wäre so gesehen das vorletzte Glied in dieser unheilvollen Kette. In ihr hat sich im Laufe 374 Basil: Otto, Wenn das der Führer wüsste!, Wien 1966. 375 Welt als Geschichte war der Titel einer renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift.

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der Zeit zwar ständig etwas verändert – einmal siegte der eine, ein anderes Mal der andere – aber die „Erbfeindschaft“ selbst erscheint als Ausdruck einer großen unveränderbaren Kontinuität, „die Geschichte“ selbst ist dafür verantwortlich. Plakativ: Frankreich war „immer“ Deutschlands „Erbfeind“, Deutschland „immer“ Frankreichs, und so wird es immer bleiben – es sei denn, einem der beiden Staaten gelänge es, den anderen ein für allemal „auszulöschen“, wie es einst Rom mit Karthago gelang.376 Leider gibt es genügende andere Beispiele aus der Geschichte, in denen die Aufhebung der Erbfeindschaft durch die Methode Karthago versucht worden ist. Die Ursachen des deutsch-französischen Gegensatzes vor 1914 liegen so offensichtlich zu Tage, daß deswegen nicht von Frankreich, sondern von England ausgegangen werden soll. Ganz gewiß gehörte die deutsch-britische Rivalität in der sogenannten „Weltpolitik“ zu den Kriegsursachen. Diese Rivalitäten drückten sich in unterschiedlichen Phänomen aus: dem Flottenbau, dem Bündnissystem, den Spannungen in den verwandten Königshäusern, der globalen Handelskonkurrenz, der antagonistischen Kolonialpolitik. Eine Voraussetzung für all dieses war die endgültige Einverleibung Indiens durch England im 19. Jahrhundert, nachdem schon der „Weltkrieg“ von 1755 bis 1763 den „Auftakt“ gebildet hatte. Damit war ein wichtiger Stein des Britischen Empires in der Wahrnehmung der vorvergangenen Jahrhundertwende gelegt. Um den nunmehr ständig zwingend notwendigen Zugang zu Indien rankten sich die afghanischen Konflikte, die im Mittelmeer, um den Suezkanal und damit den gesamten Orient; hier spielten das Osmanische Reich, dann die Türkei, Österreich, Italien, Russland und zahlreiche andere Staaten wichtige Rollen. Vor allem der russisch-englische Gegensatz, Erbteil des Krimkriegs, schien unüberwindlich und verführte Deutschland zu der Annahme, England müsse „kommen“, um Rückhalt in seinem permanenten Weltkonflikt mit Russland zu finden – ein schwerer Irrtum, der mit dem unerwarteten377 russisch-englischen Ausgleich von 1908 offenkundig wurde. Dabei war für die russische Entscheidung das Potential Englands in Indien und das Japans in Fernost mit ausschlaggebend. Das englisch-japanische Bündnis von 1902 und die ernüchternden Erfahrungen von 1904/05 ließen Russland anscheinend keine andere Wahl. Das wurde mit einer drastischen Verschlechterung des Verhältnisses zum Dreibund erkauft. Also gehören die Machtverhältnisse in Japan, Indien und China zu den Ursachen des Weltkrieges. Die deutsch-englische Krise um die Krügerdepesche und den Burenkrieg ließ das Problem der Rivalität fast aller großen europäischer Staaten in Afrika hell aufflammen: Die Interessen der Großmächte rieben sich in Afrika – ob der Burenkrieg, Faschoda, der Sudan, Kongo oder Marokko: Afrika wirkte wie ein Generator, der in Europa Spannungen erzeugte. Ganz Afrika „vom Kap bis Kairo“ gehört also ebenfalls zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs. 376 Diese Vorstellung bestimmte oft Friedensschlüsse, in denen die Besiegten genau das vermuteten: Die Kette sollte unterbrochen werden. 377 Die deutschen diplomatischen Mentalitäten waren immer noch durch die Krimkriegskonstellation geprägt.

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In Südafrika wurden „die Buren“ deutscher Auffassung nach von den Engländern bedrängt und unterdrückt. Die „Buren“ aber kamen ursprünglich aus Holland. Dieses wurde von Deutschland und dem Herrscherhaus der Hohenzollern als ein eng „rassenverwandtes“ Volk angesehen, dem man „natürlich“ zugeneigt war – das kam in dem ominösen Telegramm deutlich zum Ausdruck. Aber woher stammten solche rassischen Vorstellungen? Hier ist man sehr schnell bei Lagarde, Gobineau, Houston Steward Chamberlain usw. – und damit dem unheilvollen Rassendenken der Vorkriegszeit, das die Geister verwirrte, sie im „Panslawismus“ und „Pangermanismus“ aggressiv werden ließ. Nebenbei bemerkt geriet Frankreich damit von einer anderen Seite her in das Ursachenboot. Die Rassenvorstellungen drückten sich gleichzeitig in Wilhelms II. Bild von den Völkern Europas aus, die ihre „heiligsten Güter“ wahren sollten: expressis verbis. Dieses Bild ließ er Nikolaus II. als eine Art „Handlungsanweisung“ zukommen. Aber das Denken in Rassen überlagerte diese Vorstellungen: Ob „Pangermanismus“ „Welschtum“ oder „Panslawismus“: Solche Zuschreibungen zerstörten traditionelle europäische Mächtebeziehungen und strahlten weit über Europa aus. Russland war in das Ursachenbündel nicht nur durch Afghanistan, Indien, Japan und China, sondern eben auch durch den „Panslawismus“ mit einbezogen, und da Wilhelm II. den Zaren zum Wächter gegen den „Buddhismus“, den „Mohammedanismus“, machen wollte, ist man bei einer nichtstaatlichen, nämlich einer religiösen und ideologischen Facette der Kriegsursachen angekommen; in den verschiedenen Orientkrisen vermengte sich das, diese schlugen auf den Balkan zurück und betrafen ganz unmittelbar Österreich-Ungarn, Serbien, Montenegro, Albanien, aber auch Italien. Ohne den englisch-japanischen Ausgleich von 1902, ohne das Auftrumpfen der USA seit 1898, wobei die „atlantische Brücke“ zwischen England und Amerika schon im Bau war, lässt sich das Ursachenbündel aber nicht vervollständigen. Zum „rassischen“ Gegensatz trat der zwischen den „demokratischen“ und den „autokratischen“ Herrschaftsformen. Nicht erstaunlich ist es, daß auf diese Weise sämtliche Großmächte und alle wichtigen Existenzformen menschlichen Lebens in das Bündel einbezogen waren, sondern daß sich einige kleine „Inseln der Seligen“ isolieren ließen, wenn oft auch mit Mühe:378 Spanien, Schweden, die Schweiz, Luxemburg, einige Staaten Süd- und Mittelamerikas, Afrikas und Innerasiens. Hier erscheint die These, nach der die Ursachen des Ersten Weltkrieges zu schildern bedeutet, eine Weltgeschichte zu erzählen, doch durchbrochen, wenngleich es nicht schwerfallen würde, auch diese vermeintlich „weißen Flecken“ miteinzubeziehen. Aber das würde gekünstelt wirken. Es genügt aber auch, wenn weit mehr als 90% des Seienden zu den Ursachen gezählt werden muß. Auch Kunst und Wissenschaft ließen sich einbeziehen, Maurice Barrès und Gustav Freytag mögen dafür prototypisch stehen, und der Deutschenhaß Tolstois ver-

378 Zumindest Dänemark, Belgien, die Niederlande spielten bei der Kriegsplanung eine Rolle und waren im Dispositiv der Strategie fest eingeplant – Dänemark und Schweden sollten „Glück“ haben, Belgien und Luxemburg nicht.

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giftete in Russland und Deutschland das friedliche Miteinander.379 Diese Zustände gelten für alle Räume der damaligen „Gegenwart“ und alle verflossene Zeit. Erst jenseits des „Mittelalters“ dürfte es schwierig sein, Ursachen des Ersten Weltkrieges zu finden; auszuschließen ist dies freilich nicht. Auch eine „Weltgeschichte“ wird immer blinde Stellen haben, nichts ist perfekt.380 Bemerkenswert scheint es, daß der „Handelsimperialismus“, den man früher gerne als eine der Hauptursachen des Kriegs angesehen hat, heute nahezu keine Rolle mehr spielt. Gewiß gab es ökonomische Konkurrenzen, aber die wurden durch die Effekte der „Globalisierung um 1900“, wie es Klaus Hildebrand381 formuliert hat, bei weitem übertroffen, sie wirkten nicht kriegsfördernd, sondern friedensverlängernd – freilich ohne ein Allheilmittel gegen den Krieg zu sein. Der Krieg brach nicht nach marxistischer „Gesetzlichkeit“ aus, sondern aus Ursachen, die weit schwieriger zu quantifizieren sind. Daß man gerade das 19. Jahrhundert als das des „Duells“ ansehen kann, trug nach den „duellartigen“382 „Einigungskriegen“ von 1864–1871 zweifellos zur Bereitschaft bei, es wieder zu wagen – nahezu in allen Staaten. Ute Frevert383 hat darauf hingewiesen, daß gerade die bürgerliche Gesellschaft von der Duell-Idee durchtränkt war – diese ließ sich unschwer auf die Staaten übertragen, so daß die Sozialgeschichte mindestens des 19. Jahrhunderts mit ins Boot der Kriegsursachen gehört. Die Demonstration wird hier abgebrochen, weil ihre Weiterführung am Ende tatsächlich zu einer Weltgeschichte führen müsste,384 die einerseits auf den Ersten Weltkrieg zuliefe, dank ihrer Quantitäten und Qualitäten diesen aber andererseits wesentlich seiner historischen Bedeutung entkleidete, indem nun andere Facetten ebenso wichtig erscheinen. Damit stellt sich das eingangs formulierte Problem, nach dem Geschichte zu erzählen letztlich immer heißt, eine Weltgeschichte zu erzählen. Das aber steht in diametralem Gegensatz zu der ständig weiter sich spezialisierenden Geschichtswissenschaft.385 Aber man ahnt, warum Leopold von Ranke im höchsten Alter mit dem Schreiben einer Weltgeschichte begonnen und sich nicht auf kleine Geschichten beschränkt hat, wie es viele alte Historiker tun. Wohl wissend, daß ihm dies nicht gelingen konnte, und er darüber sterben würde. Seine „Weltgeschichte“ ist in der Tat ein Torso geblieben, dennoch ist sie vollendet.386 379 Vor allem sein Roman Les Déracines. Gustav Freytag, Soll und Haben. 380 Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas/Freitag, Ulrike (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt/M 2007. 381 Hildebrand, Klaus, Globalisierung 1900. Alte Staatenwelt und neue Weltpolitik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2006, 3–31. 382 So zuerst Andreas Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, 3. Aufl., Freiburg 1993. 383 Frevert, Ute, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1995. 384 Das wurde jüngst in einem monumentalen „Rundumschlag“ zum 19. Jahrhundert versucht: Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. 385 Dennoch boomt die „Globalgeschichte“. 386 Ranke, Leopold von, Weltgeschichte. Die Geschichte der abendländischen Welt von den ältesten historischen Völkergruppen bis zu den Zeiten des Überganges zur modernen Welt, 8 Bde., München 1921.

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Aus diesem weltgeschichtlichen Syndrom lässt sich ableiten, daß alle Veränderungen von allen Veränderungen abhängen. Es gibt nur graduelle Unterschiede. Man hat sich daran gewöhnt, diese in „wichtige“ oder eher „unwichtige“ aufzugliedern. Daß man darin seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Problem gesehen hat, dokumentiert der vielzitierte Satz Leopold von Rankes, nach dem jede Epoche „unmittelbar zu Gott“387 sei. Das begründete nicht nur die transzendentale Auffassung von Geschichte, sondern war Ausdruck des Problems von „wichtig“ und „unwichtig“: Bei Gott ist alles gleich wichtig. Die Unterscheidungskriterien sind demnach rein menschliche, damit fehlbare, wandelbare, relative. Das bereits besprochene Wertesystem kann das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen versuchen. Verändert sich das System selbst, werden auch diese beiden Kategorien verändert: Was wichtig war, erscheint nun als unwichtig und umgekehrt. Der einzelne Historiker entscheidet darüber, aber er tut es nur im dialektischen Umgang mit dem, was als „Masse“ oder „Kollektiv“ bezeichnet wurde. Diese antizipiert, was „wichtig“ und „unwichtig“ ist, auch wenn es niemanden gibt, der das irgendwie verantworten könnte – die Masse ist „blind“. Dennoch steckt der Historiker in ihr und übernimmt – nolens volens – ihre Kategorien und Werte. Das heißt: Wenn er etwa eine Geschichte der Skagerrakschlacht erzählt, erzählt er sie so, wie diese Massen und Kollektive es bedingen. Das ist der eingestandene oder unbewußte Hintergrund seiner Erzählung. Nach dreißig Jahren hat er die Geschichte wieder zu erzählen: Er selbst hat sich verändert,388 die „Masse“ auch. Das Ereignis, um das es geht, ist nur auf den ersten Blick das Unveränderliche: Da Geschichte immer historia plus historia rerum gestarum ist, wie schon Hegel wusste und das Zoo-Beispiel es zeigte, hat sich „Skagerrak“ selbst verändert. Diese Veränderungen werden durch jene bewirkt, die von den Kollektiven einerseits, den Lebensumständen des Historikers andererseits ausgehen. Unter dem Strich bleibt nur der Name des Stücks gleich: Skagerrak. Dahinter aber verbirgt sich etwas Unterschiedliches. Es passt sich aber jeweils in die Geistesströmung der Zeit ein, mehr: Es kann nur in dieser existieren, ein „Skagerrak“ außerhalb des Hier und Heute gibt es nicht. Manchmal werden gerade herausragende Ereignisse der Geschichte zu virtuellen, was sich bis in moderne Elektronikspiele niederschlägt. Indem Jugendliche „Seeschlacht“389 spielen, schaffen sie eine Schlacht in der Gegenwart neu – freilich in einer derart zynisch verfremdeten Form, daß diejenigen, die „Skagerrak“ noch selbst erlebt haben mögen, empört wären. Bestimmte historische Vorkommnisse sind durch die Gegenwart so entstellt, daß nur noch der Begriff bleibt – oder kann sich heute jemand eine frühneuzeitliche „Hexenverbrennung“ wirklich vorstellen? 387 In der erwähnten Einleitung zu den Epochen der Geschichte, den Vorträgen Rankes vor Ludwig I. von Bayern. 388 Ich spiele auf meine beiden Aufsätze zu Skagerrak an: Salewski, Michael, Skagerrak! 60 Jahre Rückblick, in: ders. (Hg.), Die Deutschen und die See, 2. Bd., (HMRG Bd. 45) Stuttgart 2002, 74–78; ders., 90 Jahre Skagerrakschlacht – Reflexionen, in: Epkenhans, Michael/Hillmann, Jörg/Nägler, Frank (Hg.), Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung, München 2009, 369–384. 389 „Seeschlacht“ gibt es auch als Brettspiel; die Genesis ist „Schiffe versenken“.

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In der Geschichte von historischen Jubiläen wird es noch deutlicher, nehmen wir als Beispiel den 17. Juni 1953. An diesem Tag geschah etwas, das der Erinnerung wert erschien. Folglich erinnerte man sich am 17. Juni 1954 dieses Ereignisses, und dann alle Jahre wieder. Immer wenn eine „runde“ Zahl an der Reihe war – also 10, 15, 20, bis 50 – wurde diese Erinnerung besonders akzentuiert und zwar jeweils von denen, die zu diesen Zeiten Einfluß besaßen, Meinung bildeten, das waren oft Bundeskanzler und Präsidenten, aber auch Schriftsteller, Journalisten, Historiker und natürlich „Zeitzeugen“, die vermeintlich genau wussten, wie es „wirklich gewesen ist“. Wie es „eigentlich“ im Sinne Rankes gewesen ist, konnten sie nicht wissen, weil ihr Wissen durch den Ballast der seitdem verflossenen Jahre und ihres Ältergewordenseins verzerrt wurde – unausweichlich. Sie erzählten die Geschichte des 17. Juni daher immer gleich und immer neu und anders, und die Gesamtheit dieser Erzählungen veränderte das historische Moment 17. Juni 1953 ständig. Das konnte bis zu den größten Verfälschungen gehen – aber Vorsicht: Von Verfälschung ließe sich nur dann reden, wenn es den archimedischen Punkt der Interpretation, das Absolutum in und einer Geschichte tatsächlich gäbe. Wir haben gesehen, daß das nicht der Fall ist, so daß der Vorwurf der Verfälschung Ausfluß einer Geschichtsdeutung ist, die auf einer bestimmten Matrix basiert. Diese wird als allgemeinverbindlich angenommen, sie ist es nicht. Diejenigen also, die angeblich „verfälschen“, sind sich dessen nicht bewusst; für sie ist „richtig“, was sie sagen, sie haben bloß verändert. Der 17. Juni ist ein Musterbeispiel für diesen Prozeß: Zum nationalen Feiertag erhoben, wandelte er sich von einem stolzen oder auch traurigen Tag des Gedenkens zu einem fröhlichen Ausflugstag, was zweifellos dazu beigetragen hat, daß man den 17. Juni als Feiertag zugunsten eines Tages im Oktober wieder verwarf. Tatsächlich erschien der 17. Juni vielen Menschen als völlig pervertiert, seine Abschaffung als eine notwendige Operation nach der Methode des Dr. Eisenbarth. An dieser Entwicklung war, entgegen mancher vorwurfsvollen Festrede, niemand „schuld“, waren es doch wieder einmal „die Massen“, die den Prozeß völlig unreflektiert in Gang gesetzt hatten und von ihm mitgerissen wurden. Es ist zuzugeben, daß es auch gewollte und bewusste Verfälschungen gibt, die die Geschichte zum bloßen Mittel eines ganz anderen Zweckes machen,390 darum soll es hier nicht gehen. Nur auf den ersten Blick ist der 17. Juni ein punktuelles Ereignis, dem anscheinend kein Prozeßcharakter anhaftet. Untersucht man ihn historisch,391 wird sofort das zeitliche und räumliche Umfeld in den Blick geraten, und die Kreise, die das zieht, werden immer größer: Nicht nur die gesamte „DDR“ gerät in den Focus, sondern die UdSSR und der „Ostblock“ desgleichen, auf der anderen Seite die Bundesrepublik, die NATO und die Westmächte, und ist man bei dieser „ersten“ und „zweiten“ Welt, fällt es nicht schwer, auch die „dritte“ miteinzubeziehen, und damit hat man sie wieder: die Weltgeschichte. Der 17. Juni wirkte seit 1953 auch in alle Zukunft, und zwar nicht nur im Rahmen des „Jubiläumsrummels“. 390 Das ist ein regelmäßiger Vorwurf an „historische“ Filme. 391 Wolfrum, Edgar, Geschichtspolitik und Deutsche Frage. Der 17. Juni im nationalen Gedächtnis der Bundesrepublik (1953–1989), in: Geschichte und Gesellschaft Bd. 24, 1998, 384–411.

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Das wurde allerdings erst erkennbar, als mit den Demonstrationen in der DDR seit dem Oktober 1989 ein unmittelbar einsichtiger Anknüpfungspunkt gegeben war: Wahrscheinlich ist die „friedliche“ Revolution von 1989 auch auf die Erinnerung an die blutige Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 zurückzuführen, so daß das Ereignis von 1989 auch von dem des 17. Juni 1953 abhängig war. Umgekehrt war es nach dem 9. November 1989 eine beliebte rhetorische Übung darauf hinzuweisen, daß das alles „eigentlich“ schon mit dem 17. Juni 1953 begonnen habe. Wieder wird erkennbar, wie aus einem „Bruch“ eine „Kontinuität“ konstruiert wird. Es gibt kein historisches Ereignis, das sich nicht auf diese Weise verorten ließe, und eigentlich verorten müsste, wollte man wissen, was ein historisches Ereignis „eigentlich“ – im Sinne Rankes – ist. Da dies in der Praxis nicht möglich ist, haftet jeder Geschichte die Unvollkommenheit als Prinzip an, und wenn dennoch von „Standardwerken“ oder „Klassikern“ geredet wird, bezieht sich das höchstens auf wissenschaftliche, künstlerische, ästhetische, insgesamt äußerliche Faktoren, nicht aber auf das Inhaltliche, denn das kann niemals „Standard“ sein. Geht man davon aus, daß Geschichte immer alles ist, Geschichtswissenschaft also notwendigerweise immer nur eine Auswahl aus einer schier unendlichen und schier unendlich interdependenten Fülle bleibt, wird nicht allein die Bedeutung der erörterten Wertekanons einsichtig, die diese Auswahl bestimmen, sondern darüber hinaus fragt es sich, warum bestimmte Dinge der Betrachtung „höchst würdig“ sind, andere nicht, wenn in beiden Fällen die Werteskala keinen Unterschied erkennen lässt. Es ist sicher, daß sich Historiker ihre Welt als Vorstellung selbst schaffen, aber nun muß man sie auch sezieren. „Dekonstruieren“ sagt man heute. Wie geschieht dies? Welche Rolle spielt der Fortgang der Geschichte? 13. MIKROSKOPE UND SYMBOLE Am Anfang steht die Zeit. Alle Geschichte ist in der Zeit, jede Zeit ist vergangen. Je länger ein historisches Ereignis in der Zeit zurückliegt, desto kleiner wird es im Hier und Heute. Das gilt für die Sachen und die Zeit selbst: So wie für ein kleines Kind die Zeit zwischen zwei Weihnachtsfesten schier unendlich ist, wirkt sie einige tausend Jahre entfernt wie ein flüchtiger Moment. Man denkt nicht mehr in Jahren, gar Monaten und Tagen, wie in der bezeichnenderweise sogenannten „Zeitgeschichte“, sondern in Jahrzehnten, Jahrhunderten, bald Jahrtausenden, dann in hunderttausenden von Jahren. Alle Ereignisse werden immer kleiner, je weiter sie zurückliegen; in fernen Zeithorizonten wimmelt es von vielen Ereignissen, die perspektivisch immer „winziger“ werden, und diese fügen sich zu einem Bild zusammen, das nie der „Wirklichkeit“ entsprach, sondern allein dem geistigen Mikroskop des Historikers geschuldet ist. Da die Ereignisse des Einst immer weiter sich von der Gegenwart entfernen – fast so wie der ständig expandierende Kosmos, der den Nachthimmel schwarz macht – handelt es sich, um im Bild zu bleiben, eher um einen Film, und damit ist das Prinzip der Veränderung durch Raum und Zeit mit dem der Veränderung durch den sich verändernden Menschen

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umschrieben. Je weiter es in der Chronologie hin zur Gegenwart geht, desto größer erscheinen die einzelnen Ereignisse; sie stoßen sich irgendwann einmal im Raum, bestenfalls fügen sie sich wie die einzelnen Teile eines Puzzles zu einem geschlossenen Bild zusammen: so entsteht ein „Geschichtsbild“,392 in dem sie alle nach bestimmten Kategorien und Werten aufeinander bezogen und „weltgeschichtlich“ vereint sind. Historiker sind flugs dabei, solche Bilder, eigentlich Filme, zu fixieren und mit Namen zu versehen: „Antike“, „Mittelalter“, „Neuzeit“ sind solche Begriffe. Oder: „Barock“, „Klassik“, „Moderne“, „Postmoderne“. Da man immer von einem Anfang ausgehen muß, sei es Henne oder Ei, stellt sich erneut die Frage nach dem Ingangkommen des Ursachen-Folgen-Prinzips. Wie erläutert, geht das niemals ohne die Wertemaßstäbe ab, zu denen auch Vorlieben oder Antipathien des betrachtenden Historikers zählen können: Der eine will nur die Geschichte der „Haupt- und Staatsaktionen“ erforschen, der andere zu den „Wurzeln der Gesellschaft“ zurück; den dritten interessiert die Geschichte des Wahren, Guten, Schönen, einen anderen Auschwitz. Unterstellt man, daß der ferne Geschichtsfilm das alles in sich enthält – in welcher Schichtung und Gewichtung auch immer – so wählt der Historiker immer aus, er seziert das, was er a priori vorgefunden hat und versucht daraus sein eigenes Werk zu schaffen – wie der Bildhauer, der aus einem Marmorblock am Ende eine Skulptur schafft. Die ist zwar immer noch Marmor, aber doch viel mehr. Das eigentliche Problem steckt jedoch in dem Umstand, daß der Historiker auch den Marmorblock selbst gemacht und nicht einfach vorgefunden hat. Daß heißt: Er geht keineswegs von einem „ursprünglichen“ Material aus, sondern von seinen eigenen Vorstellungen von diesem Material. Das Subjekt schafft sich sein „Objekt“, das deswegen auch subjektiv ist. Ist dieses Verfahren beliebig, oder unterliegt es Regeln, die über jene hinausgehen, die durch das „Werkzeug des Historikers“393 und die Wertekanons bestimmt werden? Man kann die Frage bejahen, begreift man Geschichte als ein Spiel, das nach Regeln funktioniert, die man sich selbst gemacht hat. 394 Um zu „gewinnen“, lassen sich diese Regeln so manipulieren, daß sie einem Mitspieler als Willkür erscheinen, und wenn er dagegen protestiert, kleidet er dies oft in den Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“. Das allgemeine historische objektive und subjektive Relativitätsprinzip erlaubt es, beliebige Ereignisse aus diesem Konglomerat des Vergangenen so zu gewichten, daß die Mosaiksteine ins Bild passen – dessen Umrisse man sich vorher gemacht hat. Die Vorstellung, aus tausenden von Scherben setze sich die Vase „wie von selbst“ zusammen ist schon deswegen falsch, weil die Scherben sich ständig verändern. Sie werden größer und kleiner, 392 Vgl. die Definition in Wikipedia „Geschichtsbild“: „Unter einem Geschichtsbild versteht man im Allgemeinen die Summe der geschichtlichen Vorstellungen eines Menschen oder eine Gruppe. Je weniger Wissen, desto mehr Fantasie bestimmt das jeweilige Geschichtsbild.“ Jostkleingrewe, Christina u.a. (Hg.), Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln 2005. 393 Brandt, Ahasver von, Werkzeug des Historikers, 17. Aufl., Stuttgart 2007. 394 Das habe ich als „Das Spiel der Außenpolitik“ vor 1914 bezeichnet: Salewski, Michael, Der Erste Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn u.a. 2005, 66–77.

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schwerer und leichter, fester und plastischer – ad infinitum. Nur wenn die ordnende Hand eine Vorstellung davon besitzt, wie das fertige Bild aussehen soll, kann sie jene Mosaiksteine aus dem Ganzen heraussuchen, die das Bild formen: aber es ist ein rein subjektives, ein unverbindliches Bild, das auch ganz anders aussehen könnte. An Hand von Hitlerbiographien vor und nach 1945 wurde das bereits angedeutet. Dahinter steckt ein generelles Problem: Selbst wenn man „ab ovo“ Geschichte betreiben will, bleibt nichts anderes übrig, als von der Gegenwart solange zurückzugehen, bis man es gefunden hat – oder das auch bloß meint: das „ovum“. Unvermeidlich bedient man sich im Vorfeld jeder „Erzählung“, die in der Chronologie voranschreitet, zunächst des glatten Gegenteils: Nicht von den Ursachen auf die Folgen, sondern von den Folgen auf die Ursachen wird zurückgeschlossen. Es hat immer wieder Versuche gegeben, daraus ein darstellerisches Prinzip zu machen, doch über Ansätze und lobenswerte Versuche ist das nicht hinausgekommen.395 Der Grund liegt auf der Hand: So schwierig es bereits ist, von einer Ursache zu deren Folgen im Gang der Ereignisse zu gelangen, so unmöglich ist dies „umgekehrt“. Das Handicap jeder Geschichtserzählung besteht in dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Wunsch, möglichst „objektiv“ zu bleiben und der unvermeidlichen Einsicht, daß dies nicht nur nicht möglich, sondern diese Unmöglichkeit konstitutiv ist. Wird dieses Verfahren gleichsam „zu dick“ aufgetragen, geraten solche Darstellungen in den Verdacht der Teleologie oder der Ideologie. „Zurück“ kann ein Film laufen, die Geschichte nie. Es bleibt dem „Konstrukteur“ einer Geschichte „von rückwärts“ nichts übrig, als aus den jeweiligen Folgen genau jene Ursachen abzuleiten, die zu ihnen geführt haben. Er kann nicht links und rechts vom Wege abirren, ohne sein „Ziel“ also das „ovum“ zu verfehlen. Auch Akten- und Quelleneditionen führen aus diesem Dilemma nicht heraus. Manchmal kommen sie mit der großspurigen Ankündigung daher, nur die Quellen und sonst nichts präsentieren zu wollen, aber kein Herausgeber kommt umhin, seiner Edition eine bestimmte Struktur zu verleihen, soll sie nicht unbenutzbar und damit sinnlos sein. Das heißt: Selbst wenn der Historiker sich bemüht, alles „Subjektive“ bewusst auszuschalten, indem er nur noch die Quellen „sprechen lässt“ hat er den Quellen, um im Bild zu bleiben, dieses Sprechen erst beigebracht. Sei es durch eine chronologische oder Sachgliederung, was auch immer. Deswegen wäre es hoffnungslos, wollte man sich durch eine Aktenedition „von hinten nach vorne“ durcharbeiten. Daß solche Unternehmen, oft die größten, ihrerseits von Ideologien, Vorurteilen usw. triefen, hat die Geschichte der „Großen Politik der europäischen Kabinette“396 deutlich gemacht: Obwohl die Herausgeber mit Aplomb betonten, sie seien nur der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet, wurde die Bände der „Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amts“397 395 Diwald, Hellmut, Geschichte der Deutschen, München 1999. 396 Lepsius, Johannes/Mendelssohn-Bartholdy, Albrecht (Hg.), Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914, Berlin 1920ff. 397 So der Gesamttitel.

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von den ehemaligen Alliierten als apologetisch verworfen: sie schufen ihre eigenen – die übrigens nicht anders verfuhren. Der Hintergedanken bei nahezu allen Quellensammlungen liegt natürlich nicht in der Quellensammlung selbst, sondern in dem Wunsch, diese möge als „Grundlage“ für eine „quellengesättigte“ Darstellung dienen. Merkwürdigerweise ist oft genau das nicht gelungen; aus der „Großen Politik“ ist vor 1945 kein einziges halbwegs „objektives“ Buch zur deutschen Außenpolitik vor 1914 hervorgegangen.398 Die apologetischen Tendenzen der Quellensammlung wurden vielmehr auf die Darstellungen selbst übertragen. Auf diese Weise veränderte die Gegenwart – damals also die der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“ – die kaiserliche Vergangenheit, und es dauerte weitere dreißig, vierzig Jahre, bis eine andere Generation sich erneut ans Werk machte: wieder mit Quelleneditionen, wieder mit Gesamtdarstellungen, die ihren ideologischen Charakter, nun auf die „neuen“ Sammlungen gestützt, nicht verbergen konnten.399 Selbst in den einschlägigen Archiven wird man diesen Aporien nicht entgehen können: Jedes Findbuch vergewaltigt die Vergangenheit mit ihren eigenen Mitteln, aber ohne sie gäbe es sie gar nicht – manchmal schlummern wahre „Schätze“ jahrhundertelang in irgendwelchen Archiven, weil sie nie verzeichnet worden und nur durch Zufall aufgefunden worden sind. Plötzlich konstruieren sie ein Stück Geschichte, das es vorher nicht gegeben hat. Es ist für die Praxis tatsächlich notwendig, sich einen „Plan“ und theoretische Gedanken zu machen, vorher zu überdenken, was erforscht werden soll. Man muß auswählen, rangieren, katalogisieren, kurzum den ganzen komplizierten wissenschaftlichen Mechanismus in Gang setzen, der es in der Regel erlaubt, ein Buch über eine Sache, eine Epoche, was auch immer zu schreiben. Wenn es zutrifft, daß in der Geschichte alles mit allem „irgendwie“ zusammenhängt, ließe sich aber auch theoretisch eine Geschichtsschreibung als interesseloser (im Sinne Kants) Rekonstruktionsversuch der Vergangenheit begreifen. In der Praxis würde das bedeuten, daß der Historiker in seiner Gegenwart einen ganz beliebigen Faden eines noch unbekannten Gewebes aufnimmt, der ihn in ein noch unbekanntes Labyrinth zieht. Da er dessen Struktur nicht kennt, folgt er einmal dem einen, ein anderes Mal dem anderen Gang ohne zu wissen, ob und wie diese Gänge zusammengehören, ob sie je an einen „Ausgang“, an ein Ziel führen. Auch dies wäre eine „rückwärtige“ Geschichte – aber welche? Es ließe sich vorstellen, daß er alles, was er in dem Labyrinth sieht, aufschreibt, ohne zu wissen, was es eigentlich bedeutet, woraus es entstanden ist, was daraus hervorgehen wird, und wie er selbst daraus hervorgehen wird. Das Verlaufen von Kindern in unbekannten Höhlensystemen ließe sich als Metapher nehmen. Dieser Historiker unterschiede sich von einem mittelalterlichen Annalisten insofern, als es ihm nicht darauf ankäme, eine bestimmte Epoche, einen umgrenzten Raum, eine bestimmte Sache (etwa ein Kloster) „annalistisch“ zu erforschen, sondern gleichsam alles, was ihm unter die Augen und in den Verstand kommt – ohne alle Maßstäbe, ohne 398 Vielleicht kann man Kantorowicz ausnehmen. 399 Ich spiele auf die Werke zum Kriegsausbruch 1914 von Fritz Fischer und Immanuel Geiß an.

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alle Gewichtung, ohne Werte. Ließe sich idealtypischer Weise annehmen, daß ihm dies gelänge, schüfe er auf diese Weise eine zweite Welt, eine andere Geschichte; er würde zum Schöpfer dieser Geschichte, die sich dann unabhängig von ihm fortentwickeln könnte, denn sie enthielte viel mehr als das, was sein Geist in sie hineingesteckt hat. Dieser Versuch ist, soweit ich weiß, in der Wissenschaft400 nie gemacht worden, und es ist zu bezweifeln, daß man ihn unternehmen kann. Gleichwohl wäre er geeignet, die traditionellen Vorstellungen von Geschichte und Geschichtsschreibung grundsätzlich in Frage zu stellen. Nun kann man einwenden, daß der Historiker, eben weil er es ist und er sein Handwerk versteht, eben nicht nach Belieben mit dem historischen Material umgehen kann, sondern nur nach ganz bestimmten, verbindlichen, nachprüfbaren Regeln. Gibt es einen consensus omium unter den Historikern, können auf diese Weise durchaus vergleichbare historische Werke entstehen; der Beliebigkeit ist eine Grenze gesetzt. Solange darüber hinaus die nämlichen Wertekanons gelten, und die Historiker in einer Generation fundamental gleich zu denken gelernt haben, (oft spricht man von „Denkschulen“), scheint es, als sei eine verbindliche Geschichtsschreibung möglich, die das Prinzip der Veränderungen zwar nicht leugnet, diese aber nachprüfbar macht und kontrolliert in das gleichsam „gültige“ Geschichtsbild miteinbeziehen kann. Die „klassischen“ Werke etwa von Droysen, Burckhardt, Ranke, Treitschke, Lenz sind in dieser Beziehung „einheitlich“, die von Th. Schieder, Th. Schieffer, G. Ritter, W. Conze, F. Fischer, K.-D. Erdmann auch. Auch jüngere Generationen von Historikern könnte man dergestalt „zusammenfassen“: L. Gall, J. Kocka, H. U. Wehler, H. A. Winkler, A. Demandt, D. Langewiesche, K. Hildebrand oder eine „Wissenschaftlergeneration“ weiter: Eckart Conze, Ute Frevert, Frank Kroll, Sönke Neitzel, Paul Nolte. 401 Darin spiegelt sich der jeweilige Zeitgeist – Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“ ist dafür prototypisch, so wie eine Generation zuvor Meineckes „Idee der Staatsräson“, oder noch eine Generation früher Rankes „Große Mächte“ und Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ (die so ja nie hießen, aber mit diesem Titel ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind). Die Historiographie hat mindestens seit Heinrich Ritter von Srbiks Zeiten402 dafür gesorgt, daß diese Werke im jeweiligen Kontext des Zeitgeistes gesehen werden; die historia rerum gestarum ist so zur historia geworden. Der Prozeß der Auswahl wird immer rigoroser, je weiter es in der Zeit zurückgeht und je umfangreicher die Zeiträume sind, die man beschreiben will – wenigstens theoretisch. In Wirklichkeit ist oft das Gegenteil der Fall, wenn minimale Überreste – etwa in Form einer Himmelsscheibe (man denk an die von Nebra) oder einer Skulptur (man denke an die 35 000 Jahre alte „Venus vom Hohlen Fels“) – dazu herhalten müssen, ganze Jahrhunderte oder Jahrtausende zu kenn400 Das ist die eigentliche Faszination von virtuellen Welten wie „Second life“ oder „SIMS“. 401 Das sind willkürlich herausgegriffene Beispiele und stellen weder eine Reihenfolge noch eine Bewertung dar! 402 Srbik, Heinrich Ritter von, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, München 1950.

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zeichnen. Dieses Phänomen ist sogar in den historischen Begriffskanon eingegangen, wenn in der Vor- und Frühgeschichte von der „Zeit der Band- oder Schnurkeramik“ oder der „Bronzezeit“ die Rede ist – so als ob die Menschen damals nichts anderes zu tun gehabt hätten als Keramik zu verzieren und Bronze zu gießen. Das heißt: Die Zeit verkleinert die historischen Ereignisse nicht nur, sondern kann sie auch gewaltig aufblähen. Das liegt daran, daß es einen horror vacui auch in der Geschichte gibt: Eine Geschichte, die nur ein Torso ist, ist heute anders als noch vor hundert Jahren schwer vorstellbar und weckt Unbehagen, das hängt auch mit dem „weltgeschichtlichen“ Aspekt, der „Geschichte als Welt“ zusammen. Immer muß aller Raum ausgefüllt sein, wie der einer Zeitung, gleichgültig was immer geschehen und zu berichten ist, und wenn Traditionen und Überreste (im Droysenschen Sinn) dazu nicht ausreichen, werden jene, die vorhanden sind, so lange wie mit einer Luftpumpe aufgeblasen, bis sie den Raum leidlich anfüllen.403 Es liegt auf der Hand, daß das so gewonnene Bild nur noch wie durch einen Zerrspiegel erscheinen kann, als etwas absolut Willkürliches. Ob es schon eine Geschichte des Mondes gibt – keine „Natur“-, sondern eine „Menschen“-Geschichte des Trabanten? Denkbar ist es. Manchmal wird dieses Verfahren auch auf den Faktor Zeit angewendet, wenn bestimmte Abläufe bis in Tage, Stunden, Minuten hinein verfolgt werden. Hier gibt es Beispiele, von denen die Tage der Julikrise von 1914 erneut paradigmatisch sind: Hier kommt es buchstäblich auf jede Minute an – ähnliches gilt für den Tag von Pearl Harbor, den 7. Dezember 1941, oder den 20. Juli 1944.404 Die Dekonstruktion der Vergangenheit kann zur Deformation der Vergangenheit führen, und damit diese nicht zu grotesk aussieht, werden massenweise Theorien und Analogien, Vermutungen und Glaubenssätze bemüht, um dem Ganzen einen halbwegs plausiblen Anstrich zu verleihen. Völlig unbekümmert kann dann behauptet werden, der männliche Steinzeitmensch habe Mammuts gejagt, der weibliche Ähren gesammelt und die Felle erlegter Bisons gegerbt. Das ist kompletter Unsinn, aber es wird geglaubt, weil das Eingeständnis: wir haben keine Ahnung, wie es „10 000 BC“405 zuging, schwerfällt. Nicht alle Ereignisse und Überreste verändern sich durch die Chronologie und die Phänomene des horror vacui. Es gibt Dinge, die sind wie ein „rocher de bronce“ in der Geschichte – zumindest wird das behauptet, womit man wieder bei der Frage ist, ob das Prinzip der Relativität tatsächlich immer und für alles gilt. Für das Problem der verschiedenen Wertekanons wurde das erörtert; nun gibt es Ereignisse – Dinge und Personen – die unabhängig von dem Wertekanon, in dem sie verortet werden, die zeitliche Perspektive durchbrechen. Die Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang gerne von „Transzendenz“ oder „Symbolismus“. In welchem Verhältnis stehen diese zur „Masse“ des Gewesenen und zur „Masse“ der es Betrachtenden? 403 Das gilt ganz besonders für die Gattung des „historischen Romans“ à la Scott. 404 Aus diesem Umstand hat ein tüchtiger Verlag eine ganze Buchserie gemacht, in der jeweils nur ein Tag beschrieben wird. 405 Emmerich, Roland (Regie), 10000 B.C. (USA/Neuseeland/Namibia 2008).

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Ein Beispiel soll das erläutern: Bereits in der Antike war von den sieben „Weltwundern“ die Rede. Die meisten derselben sind verschwunden, die Pyramiden stehen noch heute, nicht nur wesentlich unversehrt, sondern aufs schönste herausgeputzt. Um die Pyramiden herum kristallisierte sich immer wieder „große“ Geschichte, die oft nur deswegen „groß“ erschien, weil sie im „Schatten der Pyramiden“ ablief, Napoleon dürfte das bekannteste Beispiel sein,406 auch Rommel jagte den Pyramiden nach, es klappte nur nicht. Wir wissen ziemlich genau, wann wer die Pyramiden zu welchem Zweck gebaut hat: das ist völlig irrelevant. Niemand muß wissen, wann sie gebaut worden sind, niemand von wem und wozu, es genügt in ihrem Schatten zu stehen und etwas von der Erhabenheit, der Transzendenz zu spüren, die von ihnen ausgeht. Die ägyptische Sphinx im Pyramidenensemble ist ein vielleicht noch eindringlicheres Symbol, verkörpert sie diese Zusammenhänge doch in perfekter Weise – und zwar von Anfang an. Sie ist quer durch alle Zeiten und fasziniert immer wieder Philosophen wie Hegel, oder Maler wie Gustave Moreau. Gelten Sphinx und Pyramiden als eindeutige Symbole, transzendieren sie alle Zeiten, so gilt dies auch für andere „Weltwunder“, und da es zum Bedürfnis der Menschen zählt, solche Dinge zu betrachten, sich von ihnen anrühren zu lassen, konnte der Plan erwogen werden, nicht nur sieben „neue“ Weltwunder zu kreieren, sondern unter ihnen mit dem Tadsch Mahal und der Jesusfigur von Rio auch „moderne“407. In diesen Fällen reicht die Symbolkraft nicht so weit zurück wie für die antiken Weltwunder, aber jene, die sie propagieren, erwarten einen ähnlichen Prozeß, und wer mehrere tausend Jahre vorausdenkt, gewinnt der Speerschen Ruinenwerttheorie etwas Zusätzliches ab – nämlich keine Ruinen, sondern etwas ständig Aktuelles, gleichsam Lebendiges. Der Fortgang der Zeit wird es mit sich bringen, daß die modernen Weltwunder irgendwann einmal von den antiken insofern nicht mehr zu unterscheiden sein werden, als die zeitliche Perspektive so fern gerückt ist, daß die Jahre 2000 vor Christus und 2000 nach Christus zu einer zeitlichen Einheit verschmelzen – das ist denkbar, wenn man in hunderttausenden von Jahren rechnet. Löscht sich die Menschheit nicht selbst aus (was wahrscheinlich ist), gibt es keinen Grund nicht anzunehmen, daß auch noch in hunderttausend, ja Millionen Jahren Geschichte sein wird. Die transzendenten historischen Symbole sind es, weil sie von Menschen und nicht von der Natur gemacht worden sind. Sie unterscheiden sich fundamental von „Naturwundern“, die niemals jene Transzendenz ausstrahlen können wie Hervorbringungen eines längst vergangenen menschlichen Geistes. Der Mensch feiert sich als Geist in solchen Überresten – die Menhire der Bretagne und Stonehenge in England zählen dazu. Demgegenüber mögen Ayers Rock, die Niagarafälle oder der Grand Canyon „großartig“ sein: niemand wird bei ihrem Anblick seelisch erschauern (bei frommen Menschen mag das anders sein, weil sie diese 406 Schöne Beispiele bei: Ulz, Melanie, Auf dem Schlachtfeld des Empire. Männlichkeitskonzepte in der Bildproduktion zu Napoleons Ägyptenfeldzug, Marburg 2008. 407 Zu ihnen gehören außerdem: Chichen Itza, Chinesische Mauer, Kolosseum, Mach Picchu, Petra.

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„Wunder“ als von Gott, also ebenfalls von „Geist“ geschaffen ansehen) – es sei denn, sie werden mit menschlichem Schicksal oder besonderen Mythen in Verbindung gebracht: Little Big Horn, die Externsteine, die Loreley. Solche „lieux de mémoire“408 sind Natur und Menschenwerk zugleich. Manchmal werden bestimmte Dinge ganz plötzlich zu solchen Symbolen mit transzendentaler Qualität: Die „Titanic“ in ihrem Untergang, die Twintowers im Moment ihres Zusammenstürzens; Monte Cassino beim Luftangriff von 1944, die Dresdner Frauenkirche bei der Bombardierung – oder bei ihrer Wiedererstehung? In allen diesen Fällen scheinen Raum und Zeit außer Kraft gesetzt; diese Ereignisse durchbrechen sie, sie lassen sich nicht wie alles andere perspektivisch verkürzen, verkleinern oder vergrößern. Sie sind. So wie sie sind, müssen die Menschen mit ihnen umgehen, die Historiker auch. Das allgemeingültige Prinzip der Veränderungen ist entscheidend durchbrochen, dafür bedarf es keines Gottes oder Teufels: das hat der Mensch selbst so geschaffen. Er wehrt sich offensichtlich gegen das „panta rhei“, wohl wissend, daß er ihm verfallen ist. Sind diese transzendenten und doch handgreiflichen historischen Symbole die Planke „Batavia 510“? Was für die Sachen gilt, gilt für die Menschen: Einigen wenigen auserwählten wird ebenfalls diese transzendente Symbolik zugemessen, die sie nicht ins historische Vergessen sinken läßt, sondern sie quer durch die Zeiten als „ewig“ ausweisen. Natürlich denkt man hier zuerst an die großen Religionsstifter: Konfuzius, Laotse, Buddha, Christus, Mohammed. Das waren unbestreitbar Menschen in ihrer Zeit. Sie lebten und starben wie andere Menschen auch, aber am Beispiel von Jesus von Nazareth kann man erkennen, daß es ein menschliches Bedürfnis gewesen sein muß, diese Anfangs- und Endpunkte menschlicher Existenz zu durchbrechen: Jesus wird jahrhundertelang durch die „Propheten“ „angekündigt“, er ist virtuell schon „da“; nach seinem Tod, der nur als Episode erscheint, wird er ad infinitum weiterleben: zuerst auf Erden, dann im Himmel, zu dem er „auffährt“. Mit dieser Biographie wird ein Mensch zu einem zeitlosen transzendenten Symbol; das gilt, in abgeschwächter Weise, auch für die anderen. Sie alle „leben“ auch in der Gegenwart, und das Christentum postulierte, „bis in alle Ewigkeit“. Es liegt auf der Hand, daß das für Menschen so attraktiv war, daß sie es zu imitieren suchten. Das ist der Ursprung der Idee, Menschen würden nach ihrem Tod als „Geist“ – im individuellen Sinn – weiterleben. Ob der „Geist des Vaters“, der der Mutter, ob „Rebecca“409: In Gespenstergeschichten und -filmen wird der Wunsch deutlich, auch „gewöhnlichen“ Menschen Transzendenz und Symbolismus zuschreiben zu können – und sei es in der Form eines „Fliegenden Holländers“ oder eines „Zombie“. Hier hat sich seit der Antike anscheinend nichts geändert; die „Manen“ gibt es immer noch, und immer noch wird bei Trauer- oder Gedenkfeiern der „Geist“ des Verblichenen beschworen, manchmal direkt angesprochen. Da man ausschließen kann, daß sich dahinter irgendetwas Rationales verbirgt, haben wir es mit dem Versuch zu tun, auch irdischen Menschen die Qualität von Religionsstiftern, vor allem von Christus oder Mohammed zuzumessen. In der Institution 408 Nora, Pierre, Lieux d mémoire, 3 Bde., Paris 1997. 409 Hitchcock, Alfred (Regie), Rebecca (USA 1940).

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der „Heiligen“ und der „Heiligsprechung“ ist das bis heute ein wichtiges Teilstück des Katholizismus, denn diese Heiligen leben bereits ewig und wirken ganz irdisch in die Geschichte – ein Blick nach Altötting oder in einen anderen Wallfahrtsort genügt. Dort werden „Heilige“, also Menschen, als real existent ganz persönlich angesprochen; man bittet sie um ihre Fürsprache, man dankt ihnen für ihre Hilfe. Hier ist nicht der Ort, um die theologischen Konsequenzen zu ziehen,410 es fragt sich vielmehr, ob es außer diesen Religionsstiftern und ihren Frommen andere Menschen gibt, die sich dermaßen verwandelt haben, besser: sich dermaßen jeder Verwandlung entziehen konnten, denn wir gehen davon aus, daß Religion und Religionsstiftung Menschenwerk wie jedes andere sind. Die Antwort lautet: nein. Es gibt keine „säkularen“ Gestalten, denen die Eigenschaften der Religionsstifter und Heiligen zuerkannt würden. Außergewöhnliche Menschen haften zwar länger im menschlichen Gedächtnis als ein „Normalsterblicher“, und immer wieder bemühen sich einige von ihnen schon zu Lebzeiten um „Unsterblichkeit“ – die Mitglieder der Académie française werden expressis verbis als die „Unsterblichen“ bezeichnet und sie wehren sich dagegen nicht – aber das ist lediglich Umschreibung des Wunsches, man möge sich dieses Menschen möglichst lange erinnern, wohl wissend, daß diese Erinnerungen einmal doch verblassen und verschwinden werden – oder wer würde noch die vierzig Namen von 1850 (um ein Beispiel zu nehmen) kennen? Gewiß, man erinnert sich noch an Persönlichkeiten aus der Antike, mögen es Xerxes, Salomon, die Königin von Saba, Solon, Platon oder Aristoteles sein. Manchmal verbindet sich damit sogar Anschauliches, wie es die ägyptischen Mumien ausweisen. Tut ench Amun zählt auch dazu – aber was sind 5000 oder auch 6000 Jahre? Bezogen auf die Existenz der Gattung Mensch fast nichts, und aus der Zeit von vor zehntausend Jahren oder früher kennen wir keinen einzigen Menschen mehr, obwohl wir mit Sicherheit annehmen, daß es sie gegeben hat. Ein paar Gräber und Knochen sind zumeist alles, was darauf hinweist, und geht man nur weit genug zurück, fehlen auch diese. Wenn Tut ench Amun gleichsam „weiterlebt“, so freilich nicht, weil er so bedeutend gewesen wäre, sondern weil es einem glücklichen Zufall zu verdanken ist, daß seine Totenmaske erhalten blieb. Sie ist das Entscheidende, nie und nimmer aber das „Transzendente“, nicht einmal das „Symbolische“, denn gerade, weil es so scheint, als könne man diesen vergangenen Menschen als Individuum erkennen, kann er nicht zum Symbol werden. Das schlägt sich in erbitterten prinzipiellen Diskussionen nieder, ob man mumifizierte Menschen, sie mögen so „alt“ sein wie sie wollen, „ausstellen“ und „begaffen“411 dürfe, wie dies einst Sarah Baartmann412 widerfuhr. Im Christentum half man sich mit der Denkfigur, daß Christus als „Mensch“ natürlicherweise wie ein Mensch aussehen konnte, und da die Idee „Mensch“ nicht an einem Gesicht haftete, war es logisch, Christus viele

410 Ich verweise auf das „Heiligen-Lexikon“. 411 Die Ausstellung „Körperwelten“ (seit 1996) zeigen plastinierte Menschen, ihr „Erfinder“ Gunther von Hagen bleibt umstritten, man wirft ihm „Mumienpornographie“ vor. 412 Der sog. „Hottentottenvenus“.

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Gesichter zuzugestehen – bis hin zu einem mit der Gasmaske.413 Der Islam hat daraus eine andere Konsequenz gezogen: Abbilder von Mohammed sind verboten – das ist völlig logisch, will man der Aporie Mensch-Gott entrinnen.414 So wie es „bedeutende“ Menschen in der Vergangenheit gab, darf man postulieren, daß es solche auch in der Zukunft geben wird. Die Geschichte geht weiter und „produziert“ neue Menschen. Nur kennt sie niemand; sie werden erst entstehen. Man kann sich den „Skandal“ verdeutlichen, macht man sich klar, daß beispielsweise Immanuel Kant der Name Otto von Bismarck garantiert nichts gesagt hat – obwohl ihn doch jedes Schulkind kennt. Und Aristoteles hat den Namen Immanuel Kant nie gehört – wie peinlich für einen Philosophen! An den zeitlichen Rändern der Geschichte lässt sich das Problem ahnen – wer hätte im Sommer 1889 das „süße“ Baby aus Braunau am Inn namens Adolf nicht gerne geherzt, einen Teufel in Babygestalt? Aber das wusste niemand.415 Immer wieder haben sich Menschen wenigstens zu „Halbgöttern“ stilisiert, auf die bekannten Beispiele ist nicht einzugehen. Dahinter stand immer der Wunsch, es diesen Religionsstiftern nachzutun, gelungen ist es nie. Bestenfalls haben sie die Spanne, in der man sich ihrer erinnerte, verlängert, und das sind dann die „Großen“ der Geschichte, die von der Geschichtswissenschaft, in die jeweils gültigen „Strukturen“ eingebunden wurden. Sie unterliegen wie alle und alles den Mechanismen der Veränderungen, die gelegentlich schneller oder langsamer ablaufen als bei „gewöhnlichen“ Menschen, aber sie sind nicht frei davon, und es ist eine beliebte Übung auch von Historikern, die Hegelschen Kammerdiener zu spielen, um diese Gestalten durchs Schlüsselloch zu beobachten und „menschlich“ bis „allzumenschlich“ erscheinen zu lassen. Indem man das tut, verwandelt man sie sich an; sie werden zu Menschen „wie du und ich“. Jedes „Goldene Blatt“ verfährt nach diesem Muster. Schon das berüchtigte Bild, das den Reichspräsidenten Ebert in der Badehose zeigte,416 zielte in diese Richtung, wenn es auch eher als Verunglimpfung und Beleidigung verstanden wurde. „Halbgötter“ würden es vorziehen, wenn Menschen ihnen Altäre errichteten, doch das war, von einigen römischen Ausnahmen abgesehen, durchgängig nicht der Fall; meist mussten sie sich mit Denkmälern begnügen, und die Drohung eines „Denkmalsturzes“ schwebte wie ein Damoklesschwert über jedem Denkmal. Nur selten kam es nach solch einem „Sturz“ zu einer Wiedererrichtung417. Die Prinzipien der Veränderung blieben in Kraft, trotz aller Bemühungen, sie außer Kraft zu setzen. 413 Ich erinnere an das bekannte Bild von George Grosz. 414 Deswegen werden von frommen Muslimen Mohammed-Karikaturen als Gipfel der Blasphemie empfunden. 415 Roman Polanskis (Regie) Film Rosemarys Baby (USA 1968) hat das intelligent thematisiert. 416 Titelbild der Illustrierten Zeitung Nr. 34. Es zeigte Ebert in Haffkrug am 15.5.1919. 417 Ein gutes Beispiel: Das Denkmal Wilhelms I. am „Deutschen Eck“, dessen Wiedererrichtung auf den Willen eins (reichen) Einzelnen zurückging. Auch die Wiedererrichtung des Rauch‘schen Reiterstandbilds Friedrichs II. von Preußen „Unter den Linden“ fällt in diese Kategorie. Zu Denkmälern insgesamt: Fornoff, Roger, Mythen aus Stein. Nationale Monumente als Medien kollektiver Identitätsfindung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Plöhn, Jürgen (Hg.), Sofioter Perspektiven auf Deutschland und Europa, Berlin 2006, 41–68.

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Von daher wird plausibel, daß allein die Religionen jene transzendenten Kräfte entfalten, die geeignet sind, Veränderungen zu stoppen, und es sieht nicht so aus, als würden sie einmal „absterben“, obwohl dies immer wieder einmal behauptet und versucht wurde, zuletzt im Kommunismus. Insofern ist Religion nicht „Opium fürs Volk“, sondern ein wesentliches Lebens-Mittel, ohne das es offensichtlich nicht existieren kann. Die von Biologie und Medizin vorgenommene Einordnung des Menschen in das Reich der „Lebewesen“, wobei es keine qualitativen sondern nur noch graduelle Unterschiede zwischen Menschen und Tieren gibt, widerspricht offensichtlich dem natürlichen menschlichen Selbstverständnis, das sich mit der Stiftung von Religionen dagegen bisher mit Erfolg gewehrt hat. Der Mensch soll eine Seele besitzen, selbst wenn sie ihm abgesprochen wird, dem bekannten Virchow-Zitat zum Trotz. Was eigentlich bewegt einen Menschen, wenn er bei „Madame Tussaud“ einer Wachsfigur namens Adolf Hitler den Kopf abreißt?418 Noch heute machen die „Kreationisten“ in den USA Front gegen die Evolutionstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts und wissen Proselyten zu machen. Eine völlig säkularisierte Welt ist undenkbar; deren Geschichte wäre es auch, denn diese ist Geistesgeschichte und sonst nicht. Gäbe es diesen Geist nicht, Geschichte wäre nicht. 14. GEFÜHLE UND BEFINDLICHKEITEN Es gibt viele Gründe für Veränderungen, die Geschichte machen, den Grund kennen wir nicht. Wir wissen, daß Geschichte unergründlich ist und tun so, als ob wir mit Hilfe des Ursachen-Folgen-Prinzips den Gang der Geschichte erkennen und erläutern könnten. Das können wir in Grenzen und innerhalb des Systems, indem wir eben nicht jenen archimedischen Punkt gefunden haben, von dem aus man die Geschichte erkennen und grundsätzlich erklären könnte, sondern wir behaupten nur, daß wir ihn gefunden haben – etwa mit einer neuartigen Fragestellung. Insofern sind Historiker Hochstapler und Selbstbetrüger, aber indem sie wissen, daß sie es sind, können sie versuchen, darüber hinwegzukommen. Sich in Bescheidenheit zu üben, ist der einzig angemessen Umgangsform des Historikers mit der Geschichte. Indem Historiker sich verändern, verändern sie die Geschichte; indem diese sich verändert, verändern sie sich selbst. Dieser Wechselprozeß währt das ganze Leben, er ist die Arbeit des Lebens, und ist dieses Leben gut, so ist es Lust. „Labor ipse voluptas“ hat es Ranke genannt. In dieser Sentenz schwingen Irrationales und Emotionales. Natürlich lässt sich fragen: was heißt „labor“, was „voluptas“? Veränderungen können anscheinend ohne Gefühlregungen wahrgenommen werden – „einfach so“ –, woran prinzipielle Zweifel erlaubt sind – oder sie lösen urtümliche Gefühle wie Angst oder Freude aus, werden als „Glück“ oder „Unglück“ empfunden, das hängt erneut von der Werteskala ab, in der jeder Einzelne lebt und denkt. Über Glück, Glücksgefühl und Unglück in der Weltgeschichte hat 418 Vgl. Focus-Online vom 05.07.2005: „Mann reißt Hitler-Kopf ab“.

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schon Jacob Burckhardt nachgedacht.419 Dies sind Kategorien, die mit den Prinzipien der Veränderung oder dem von Ursachen und Folgen anscheinend nichts zu tun haben; sie sind subjektiv, und in „glücklichen Zeiten“ (kann eine Zeit „glücklich“ sein?) gibt es unglückliche Menschen und umgekehrt. Glück ist nur die Brille, mit der man die Geschichte ansieht;420 daß auch diese sich in ihrer historischen Dioptrienzahl ständig verändert, bedarf keines Beweises. Selbst in allgemein anerkannten „glücklichen Zeiten“ gab es große Inseln des Unglücks – oder wie wäre das Leben von Sklaven in antiken „Sklavenhaltergesellschaften“ anders zu charakterisieren? – und das Bild von der „halkyonischen Stille“, das Ranke gebrauchte, weist auf das Gegenteil. Nun ließe sich einwenden, Kategorien wie Freude oder Angst verlören bei der Betrachtung ferner Zeiten jeglichen Sinn, will man die Freude des Erkennens und Schaffens selbst nicht als Glück oder Unglück, als Freude oder Angst nehmen. Nicht was war, löst solche Empfindungen aus, sondern das, was man in seiner Gegenwart mit dieser Vergangenheit macht. Die Ermordung Caesars weckt heute nur noch akademisches Bedauern, die von Michelle oder einem anderen kleinen Mädchen von heute unmittelbare Betroffenheit. Es liegt auf der Hand, daß das Erstere so fern in der Zeit liegt, daß es uns emotional nicht mehr berührt, das andere so nah, daß es die nüchterne Betrachtung zu überwuchern droht. Auch diese Unterscheidung ist relativ: Zum einen gibt es durchaus Fälle, in denen vergangenes Glück oder Leid sehr wohl zu gegenwärtigen Gefühlsausbrüchen führen – bis hin zu Weinen und Schluchzen, wird eine anscheinend weit zurückliegende Geschichte erzählt, nebenbei lebt der „Historienfilm“421 davon, und ich habe selbst erlebt, wie der große Biograph des Staufers Friedrichs II., Carl A. Willemsen, während der Vorlesung in Bonn in Tränen ausbrach, als er das Ende Konradins erzählte – auf der anderen haben es die Symbole gerade an sich, daß sie unmittelbar gegenwärtig wirken. Das wird in der Religion besonders deutlich, wenn Christen sich am Karfreitag der Kreuzigung Jesu erinnern: Sie trauern wirklich, hier und heute, obwohl Jesus vor beiläufig 2000 Jahren ans Kreuz geschlagen wurde. Die Trauer darob lässt nie nach, und die Freude über die Auferstehung auch nicht. Indem jeder, der sich mit Geschichte beschäftigt, auf diese Weise unmittelbar mit ihr in seiner jeweiligen Gegenwart verknüpft ist, verwandelt er die Geschichte zu einem Gegenwärtigen; moderne Didaktikkonzepte suchen das zu nutzen, indem sie Kindern die Vergangenheit so darbieten, daß diese sie in ihre Gegenwart einverwandeln können. Ein Geschichtslehrer, der jungen Leuten beispielsweise den Gersteinbericht oder das Tagebuch der Anne Frank zu lesen gibt, wird damit ganz reales Entsetzen, unbändiges Mitleid auslösen: das sind Gefühle im Hier und Jetzt; sie wurden 419 Burckhardt, Jacob, Über das Studium der Geschichte. Der Text der ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen’ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter Ganz, München 1982, 169. 420 Bellebaum, Alfred/Barheier, Klaus (Hg.), Glücksvorstellungen Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie, Opladen 1997. 421 Vgl. das Interview mit Peter Hoffmann um den neuesten „Stauffenberg“-Film, F.A.Z. 17.01.2009.

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in einer fernen Vergangenheit erzeugt, aber sie verändern Gegenwart und Zukunft. Häufig resultieren Gefühle wie Freude und Dankbarkeit aus dem überwundenen Unglück der Vergangenheit, das auf diese Weise aus Not Fülle, aus Angst Hoffnung, aus Unglück Glück machen kann. Von hier aus betrachtet ist es nicht weit bis zu der (falschen) These, auch der Zweite Weltkrieg habe sein Gutes gehabt, indem er die längste Friedenszeit der Geschichte generiert habe – zur Freude aller Davongekommnen und Nachgeborenen. Es liegt auf der Hand, daß aus solchen Vorstellungen Opferattitüden und Märtyrerlegenden erwachsen, und häufig wird den sinnlosen Kriegsopfern von einst damit doch noch ein Sinn unterlegt – man ist eben nicht „umsonst“ gestorben. Dieser Mechanismus funktioniert vorwiegend in militarisierten Gesellschaften bis heute und findet seinen makabren Höhepunkt in der Befriedigung, ja Freude bei Angehörigen eines „erfolgreichen“ Selbstmordattentäters im Irak oder in Afghanistan. Daß genau dieser Regelkreis dazu führt, daß das gesamte etablierte Wertesystem sich umkehrt, indem nun Mord und Selbstmord als höchste Tugenden erscheinen, sei nur am Rande vermerkt. Damit im Zusammenhang steht das Phänomen des „Lernens aus der Geschichte“. Keine Behauptung ist falscher als jene, aus der Geschichte könne man nur lernen, daß aus der Geschichte nichts zu lernen ist. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir überhaupt etwas lernen, so immer aus der Geschichte – woraus auch sonst? Allein die Geschichte als Totalität des Vergangenen kann jenes Anschauungsmaterial, jene Beispiele bereitstellen, die zum Lernerfolg in der Gegenwart führen. Aus der Zukunft ist nichts zu lernen, wir lernen aber für die Zukunft aus der Vergangenheit. In diesem Zusammenhang gewinnt das Prinzip der Veränderung eine neue Facette: Zwar lässt es sich nicht außer Kraft setzen, aber gleichsam an einem Zipfel halten wir es fest: dem unserer Gegenwärtigkeit, ein Beispiel: Die große Depression und Bankenkrise von 1929–1931 ist zugleich ein Stück aus der Vergangenheit und ein Menetekel für die Gegenwart. Die Krisen auf dem Finanzsektor, die 2008 die Welt erschütterten, führten alle Kommentatoren – man ist versucht zu sagen: ausnahmslos – in die große Depression von 1929 zurück. Diese erschien plötzlich nicht mehr wie ein bloß akademisches historisches Ereignis, sondern hing im Bewußtsein der Menschen unmittelbar mit ihrer Gegenwart zusammen – und man versuchte, aus ihr zu „lernen“. Unzählig waren die Kommentare, die auf der einen Seite den Warncharakter dieser fernen Jahre betonten, auf der anderen darauf beharrten, daß die Welt daraus gelernt habe, es diesmal so schlimm also nicht kommen werde. Ohne das historische Beispiel hätte niemand zu wissen gemeint, wie man sich in dieser Krise richtig zu verhalten hat: die Vergangenheit stellt die Maßstäbe bereit, sie wird in das gegenwärtige Handeln miteinbezogen. Nur Skeptiker stellen die Frage, ob die vermeintlichen Lehren aus der Geschichte in Wahrheit nicht Irrlehren sind, es demnach also besser wäre, von der Geschichte nichts zu wissen. Kein anderer als Adolf Hitler hat diese These vertreten und behauptet, es sei besser, nichts aus der Geschichte zu wissen als das Falsche. Zu den pessimistischen Varianten zählt die Behauptung, die Geschichte zeige, daß alles schon einmal dagewesen ist und sich ständig wiederholen kann. Aus

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diesem Pessimismus resultiert die oben genannte Behauptung. Sie ist zwar sachlich falsch, richtig hingegen, wenn sie damit zum Ausdruck bringt, daß Geschichte niemals nach Regeln und Gesetzen abläuft, sondern immer neu ist, was ja dazu führt, daß wir die Zukunft nicht erkennen können. Ist Geschichte mit Gefühlen aus der Gegenwart befrachtet, wird sie selbst zu etwas Lebendigem, man kann sich ihr nicht mehr wie einer bloßen „Sache“ nähern, sie fordert den Betrachter vielmehr auf dem menschlichsten Gebiet überhaupt heraus: dem der Empfindungen, früher sprachen manche von „Seele“. Geschichtswissenschaft ist daher nicht nur eine Geisteswissenschaft, sondern auch eine „Gefühlssache“, wobei der innere Widerspruch in diesem aus „Gefühl“ und „Sache“ zusammengesetzten Wort bewußt gewählt ist: Wir tun so, als könnten wir Geschichte, wenn schon nicht wertfrei, so doch ohne Gefühle betreiben. Das ist a priori unmöglich, so daß die Welt der Gefühle unmittelbar zur Geschichtswissenschaft zählt; die moderne Emotionsforschung hat das bereits deutlich gemacht.422 „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“ umschreibt präzise das Problem: Jede Vergangenheit ist von Gefühlen durchtränkt, die der Historiker erfühlen muß, indem er seine eigenen Gefühle mit denen aus der Vergangenheit in Relation setzt. Da die menschlichen Gefühle aber außerordentlich schwanken, temporär und grundsätzlich, schwankt das Bild der Geschichte. Zu den vielen bereits erwähnten Relativitäten zählen also auch jene, die mit Gefühlen von einst und jetzt zu tun haben. Weil sie sich ständig verändern, verändern sie die Anschauung von der Geschichte und damit die Geschichte selbst, – sie sind von Zeiten, Orten, Alter usw. abhängig. Das durch sie erzeugte Bild in der Geschichte schwankt auch. Es ist also keineswegs gleichgültig, ob ein Historiker „froh und glücklich“ ist, wenn er Geschichte schreibt, oder „traurig und unglücklich“. Die Natur hat es so eingerichtet, daß Letzterer gerade deswegen in aller Regel gar keine Geschichte schreiben kann und eine „Schreibblockade“ empfindet, aber es gibt Ausnahmen. Daß solche Gefühle die jeweilige Geschichtsphilosophie mitprägen, bedarf keiner Erläuterung, so daß wir in der Summe aller Arbeiten zur Geschichte auch eine solche aller Gefühle haben. Zu den elementaren Gefühlen zählen Leidenschaften aller Art, die das Handeln und Denken von Menschen oft steuern: bewusst oder unbewußt, gewollt oder ungewollt. Da das wahrscheinlich auch in aller Vergangenheit so war, sieht sich der Historiker mit dem Problem konfrontiert, seine eigenen Leidenschaften an jenen der Vergangenheit abarbeiten zu müssen. Von daher wird verständlich, was Ranke meinte, wenn er in seiner „Englischen Geschichte“ davon sprach, der Historiker müsse sein Sein „gleichsam auslöschen“. Er meinte offensichtlich nicht Fleisch und Blut des Historikers, nicht auch seinen Geist, als vielmehr seine Gefühle und Leidenschaften, die die Vergangenheit verzerren. Heinrich von Sybel hat dann trotzig das antike „sine ira et studio“ zum Leitmotiv der Geschichts422 Frevert, Ute (Hg.), Geschichte bewegt. Über Spurensucher und die Macht der Vergangenheit, Hamburg 2006; Dies. (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003; Aschmann, Birgit (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluß von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts (HMRG Beiheft Nr.62), Stuttgart 2005.

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schreibung machen wollen – und ist damit grandios gescheitert423. Auch die Vorlieben der Historiker für bestimmte Themen aus der Geschichte werden von Gefühlen und Leidenschaften bestimmt. Ändern sich diese im Verlauf seines Lebens, werden sich auch die Gegenstände ändern, die ihn historisch interessieren. Im Lebenswerk großer Historiker ist dies deutlich zu erkennen: Es wirkt deswegen „organisch“, weil meist das eine aus dem anderen „erwächst“. 424 Wer wissenschaftliche Nachrufe auf Historiker studiert, wird rasch merken, daß die Autoren dieser Nachrufe immer bemüht sind, diesen „roten Faden“ zu erkennen und das wissenschaftliche Leben des zu Würdigenden „rund“ zu machen. Nun gibt es Leidenschaften, die ein ganzes Leben lang andauern können, aber auch andere, die nur in bestimmten Perioden des Lebens auftreten. Der Historiker aber ist gehalten, sein Leben lang zu forschen. Es liegt auf der Hand, daß das sein Urteil beeinflusst. Zwar wird er auch auf abstrakte Weise die eine oder andere Leidenschaft aus der Vergangenheit erkennen und analysieren können; trifft die These von der dialektischen Einheit zwischen Objekt und Subjekt in Anschauung der Geschichte aber zu, so verliert eine Geschichte, in der die Geschichte der Leidenschaften nicht mit „Kompassion“ beschrieben wird, an Gewicht; sie wird blutleer. Das muß nicht immer ein Nachteil sein, das „abgeklärt“ hat seinen Wert, und von daher kommt das Taciteische und Sybelsche Postulat von „sine ira et studio“, das Leitschnur historischer Erkenntnis sein soll, aber das Bestreben nach der größten asymptotischen Annäherung des Historikers an die Vergangenheit wird dadurch nicht gefördert. Es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob ein junger, unsterblich verliebter Historiker die Geschichte von Romeo und Julia beschreibt, oder ein seniler Greis, dem die Frau davongelaufen ist. Da vieles aus der Geschichte mit Leidenschaft in Form von Sex, Liebe und deren Ab- und Unarten verbunden ist (was früher oft geleugnet wurde, so daß vor allem „Helden“ wie „ohne Unterleib“ erschienen), so breiten heutzutage nicht nur Boulevardblätter es genüsslich aus, wenn wieder einmal ein „hohes Tier“ seinen Hut nehmen muß, weil er die „niederen Dienste“ einer Prostituierten in Anspruch genommen hat und damit zu einem „Risiko“ für das Wohl der Gesellschaft geworden ist. Hegels Kammerdienerperspektive ist zum wohlfeilen Voyerismus geworden und färbt die Geschichte auch sexuell ein – was es früher, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Geschichte im Umfeld von Kleopatra, Lucretia Borgia, Lola Montez z.B.) nicht gegeben hat, so daß sich Geschichte auch in dieser Beziehung verändert – gleichsam vom unschuldigen Kind bis zur „Hure Babylon“. Ist im „Idealfall“ nicht jener der „richtige“ Historiker, der selbst von diesen Leidenschaften befallen ist, nicht „über ihnen“, sondern mitten in ihnen steht? Das gilt beispielsweise auch für den Fall, daß jemand die letzten Tage eines historischen Helden beschreibt und gleichzeitig weiß, daß auch er bald sterben wird. Das widerspricht zwar dem Ge-

423 Gerade seine Deutsche Geschichte troff nur so von Leidenschaft! 424 Salewski, Michael/Schröder, Josef (Hg.), Dienst an der Geschichte. Gedenkschrift für Walter Hubatsch, Göttingen 1985, VII–XXVIII.

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bot der Distanz, das als eine Tugend betrachtet wird, aber es fragt sich, welche Geschichte die wahrhaftere ist, und da spricht vieles für Ersteres.425 Alle diese Betrachtungen führen wie von selbst zu der Frage, ob unter solchen Umständen von der Geschichtsschreiberei überhaupt noch als von „Wissenschaft“ gesprochen werden kann, zumal „die Geschichte“ alles andere als „wissenschaftlich“ ist. Es gibt eine Geschichte der Wissenschaften, aber Geschichte ist niemals wissenschaftlich: Ist es also zulässig, sie mit Kategorien zu behandeln, die ihr selbst fremd sind, wobei „die Geschichte“ das nicht als Defizit empfindet, weil sie sich völlig außerhalb des wissenschaftlichen Kosmos bewegt und: überhaupt nicht „denkt“? Nur weil wir nicht anders können, als „Geschichte zu denken“, denken wir, die Geschichte selbst täte dies auch, „wissenschaftlich“ dazu – ein unzulässiger Zirkelschluß. Es gibt keinen „wissenschaftlichen Frieden“, keinen „wissenschaftlichen Krieg“, keine „wissenschaftliche Stadt“, auch wenn man diesen Begriffen oft anthropologisch begegnet. Wieder wird erkennbar, daß wir im Grunde gar nichts erkennen, sondern immer nur einzelne Atome aus einem undefinierbar großen Ganzen repräsentativ herauspicken; mit Wissenschaft, wie sie gemeinhin begriffen wird, hat das nichts zu tun. Wir arbeiten uns mit den falschen Instrumenten am falschen Objekt ab und nennen das „Geschichte betreiben“. Es ist Hochstapelei. 15. TRADITIONEN Alle Veränderungen in der Geschichte werfen die Frage auf, was denn mit jenen Menschen, Sachen, Zuständen geschieht, die verändert worden sind: Die Menschen von einst gibt es nur in der Erinnerung, aber auch die noch Lebenden erkennen, daß sie sich verändert haben, manchmal so drastisch, daß die Legende aufkommen konnte, jemand sei „über Nacht“ weiß geworden. Was man war, ist auch nur Erinnerung, keine Realität; was man sein wird, desgleichen. So entsteht das Bild einer Vergangenheit wie auf einem alten habvergilbten Photo: Man weiß, was und wie sich auf das in diesem Bild Dargestellte verändern wird; die Menschen aber, die uns von dem Bild aus anblicken, wissen es nicht, das Bild hat nur einen bestimmten Zeitpunkt, den mathematischen Trennstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft, den man Gegenwart nennt, festgehalten. Es bildet nur einen bestimmten Moment des Gewesenen als die Gegenwart von damals ab, vielleicht eine hundertstel Sekunde. Das Photo mag von Vergangenem erzählen; von seiner Zukunft, unserer Vergangenheit, weiß es nichts, das wissen nur wir, die Betrachter. Ein bekanntes Beispiel liefert jenes Photo, auf dem in einer großen Menschenmenge, die 1914 auf dem Odeonsplatz in München von der Mobilisation erfuhr, ein bestimmter Mann abgebildet ist: Adolf Hitler. Dessen Portrait wird dann eingekreist, und das Photo so vermittelt. Das hat nichts mit Geschichte, sondern nur mit Besserwisserei von Historikern zu tun. Je älter diese Bilder sind, desto vager und unbestimmter erscheinen sie zumeist – wann war das noch mal? Sie 425 Ansatzweise gibt es das, vgl. Der Spiegel v.22.03.2007: „Auf der Terrortreppe des Todes“.

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verblassen nach und nach, am Ende weiß „kein Mensch mehr“, wie etwas gewesen ist; Spekulationen, Vermutungen, Phantasien, Theorien schießen ins Kraut – man kann sie bei „historischen“ Spektakeln aller Art bequem besichtigen, selbst wenn jedermann weiß, daß und warum dies unmöglich ist: Moderne Menschen zwängen sich in barocke Uniformen oder Kostüme, hantieren mit „urtümlichen“ Vorderladern,426 üben Renaissancetänze und Napoleons Schlachten ein usw. – ein unendliches Feld der Betätigung. Alles aber zielt darauf ab, etwas Vergangenes in der Gegenwart wiederherzustellen. Diese Spektakel kommen ausgesprochen oder unausgesprochen mit dem Wunsch daher, es möchte möglich sein, etwas Vergangenes wiederherzustellen. Manchmal werden ganze Orte samt ihren Einwohnern derart verfremdet: Rothenburg o.d.T. oder Dinkelsbühl beispielsweise werden als Artefakte aus dem Mittealter in die Moderne versetzt; dazu passt, daß es mitten in Rothenburg einen permanenten „Weihnachtsmarkt“ gibt – auch im Juli. Diese „Musealisierung“ frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die gesamte gegenwärtige „Kultur“; oft sind Museum und Realität kaum noch zu unterscheiden.427 Hier lässt sich beobachten, was im Bereich der IT-Möglichkeiten und Multimedia zur Zeit heiß diskutiert wird: Wie vermischen sich Realität und Illusion, wird es demnächst virtuelle Welten geben, die von der realen Welt nicht mehr zu unterscheiden sind? Schon heute ist sicher, daß „süchtige“ Spieler sich in der virtuellen Welt verwandeln können und dann oft selbst nicht mehr wissen, ob das, was sie sind, real oder irreal ist. Das Veränderungsprinzip ist hier an einem entscheidenden Punkt angelangt. Nun fragt es sich: Warum wollen das Menschen? Alles geschieht freiwillig; niemand zwingt jemanden in solchen Orten zu wohnen, sich in Computerspielen zu verlieren, den „traditionellen Narrensprung“428 von Rottweil mitzumachen, sich mittelalterlich zu verkleiden oder eine sinnlose „Eiswette“ abzuschließen429. In der Regel gründen solche Rituale auf Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit, die als bedeutend wahrgenommen wird. Im Gedächtnis der Menschen handelt es sich dabei meist um etwas Gutes, wenigstens „Interessantes“; aber auch Mord und Totschlag, Pestzüge, Kriege und Schlachten können dazugehören – es gibt unzählige Beispiele für nachgestellte Gefechte, Kampagnen, und es ist noch nicht so lange her, daß „Moritaten“ meist „gruseligen“ Inhalts zur Gaudi der Zuschauer auf Jahrmärkten dargeboten wurden; Villon430 war immer, und die „Geisterbahn“ auf der Kirmes ist ein blutleeres Relikt. Das Grauen der Vergangenheit wird zum goutierten „faint thrill“431 in der Gegenwart; wer kann, lässt sich alle zehn Jahre in Oberammergau amüsieren. Gleichwohl gibt es einige wenige Ereig426 „Reenactment“ nennt man dies – wie auf einem ausrangierten Truppenübungsplatz in Wildflecken, vgl. FAZ vom 7.11.2009. 427 Zacharias, Wolfgang (Hg.), Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990. Witzig: Shawn Levy (Regie), Nachts im Museum (USA 2006). 428 So in der amtlichen Mitteilung der Stadt Rottweil. 429 In Bremen. 430 François’ Villons Lasterhafte Balladen wurden weltberühmt. 431 Dieses verballhornte Shakespeare-Zitat war Motto eines Verlages für Kriminalromane.

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nisse und Erinnerungen aus der Vergangenheit, die niemand „wiederbeleben“ will – Auschwitz zählt dazu, und wenn, nur als Menetekel oder als Versuch zu großer Kunst; der Film „Schindlers Liste“432 mag dafür stehen. Was unterscheidet die Erinnerung an das „Gute, Edle, Schöne“ von der an das „Schlechte, Falsche, Böse“? Letzteres kann sich im Gedächtnis der Gegenwart nur als „abschreckendes Beispiel halten“ und verfällt dennoch manchmal der „damnatio memoriae (Es gibt vermutlich auf der Welt keine einzig Adolf-Hitler-Straße mehr), das andere lebt symbolisch ständig fort; die Namen von Straßen, Schulen, Brücken usw. sind Träger dieser „guten“ Erinnerung. Das heißt: Im Nachhinein wird Menschen bewusst, daß es Veränderungen gegeben hat, die die Gegenwart „besser“ oder „schlechter“ gemacht haben, und nun setzt sich ein Mechanismus in Gang, der dafür sorgen soll, daß das Gute in der Gegenwart bewahrt, das Böse entweder vergessen, verdammt oder zum Menetekel wird. Dieses Verfahren heißt „Tradition“.433 Tradition hat nichts mit Geschichte und Geschichtswissenschaft zu tun, selbst wenn die „Traditionalisten“ sich oft als die wahren Hüter der Vergangenheit geben; als jene, die dafür sorgen, daß die – meist „guten“ – „Lehren“ aus der Vergangenheit nicht verloren gehen. Traditionen werden „hochgehalten“ – wie die Monstranz in der Fronleichnamsprozession. Mehr noch: „Traditionalisten“ machen sich anheischig, aus dem unendlichen Mosaik der Geschichte jene Puzzleteile ausfindig machen zu können, die für das Wertegeflecht der Gegenwart konstitutiv sind. In Wahrheit zerstört Tradition Geschichte, zerfleddert, verfälscht sie, und lässt sie so erscheinen, wie es einem gegenwärtigen Bedürfnis angenehm ist. Nicht die Verächter der Geschichte sind ihre wahren Feinde, sondern die Traditionalisten. Jeder wahrhafte Historiker wird sich vor Traditionen zu hüten haben, will er nicht in die Irre gehen, oder zumindest in die Zeit der frühen Aufklärung zurückfallen, in der es ein beliebte Übung war, Geschichte nur als Tradition – oft des eigenen „Hauses“ – zu verstehen und auf ihre Lehren für die Gegenwart hin zu sezieren – schon die frühneuzeitlichen Fürstenspiegel434 frönten diesem Verfahren, die Prinzenerziehung in Preußen und anderen europäischen Staaten war ganz auf die jeweils eigenen Traditionen zugeschnitten,435 die meisten Schul- und Lehrbücher auch. Reste dieses Traditionalismus – etwa im „Borussismus“ oder in der amtlichen Militärgeschichtsschreibung des Preußischen Großen Generalstabs – finden sich bis ins 20. Jahrhundert hinein.436

432 Spielberg, Steven (Regie), Schindlers Liste (USA 1993). 433 Assmann, Aleida, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999; Walle, Heinrich, Tradition: Ein Weg der Weitergabe von Kontinuität, in: HMRG21 (2008), 245–272. 434 Der Berühmteste stammt bekanntlich von Machiavelli. Vgl. auch Anton, Hans Hubert (Hg.), Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Darmstadt 2006. 435 Stamm-Kuhlmann, Thomas, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992. 436 Hintze, Otto, Die Hohenzollern und ihr Werk, Reprint der Originalausgabe von 1915, Hamburg, Berlin 1987.

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Traditionen im Militär437 eignen sich besonders gut zur Erläuterung von Veränderungsphänomenen, weil sie es ständig mit einer Geschichte zu tun haben, die in der Gegenwart als negativ empfunden wird: der Institution des Krieges. Bis vor kurzem wurden militärische Traditionen durch die vergangenen Kriege „gestiftet“ wie einst das „Eiserne Kreuz“. Die Vorstellung, derlei könne es auch in Friedenszeiten geben, ist erst in jüngster Zeit durchdacht worden, nachdem das Krieg-Nachkrieg-Vorkrieg-Krieg-Schema dauerhaft durchbrochen scheint. Das heißt: Heutige Traditionen, etwa in der Bundeswehr, die sich nicht mehr auf vergangene Kriege beziehen, sind etwas ganz Neues. 438 Sie gehorchen nicht mehr den altvertrauten Traditionsmustern; die neue Tradition selbst steht an einem Anfang, sie selbst muß Tradition bilden – für die Zukunft. Wie dieses Verfahren aussehen wird, weiß man noch nicht, denn es ist völlig neu und unerprobt. Was die „alten“ Traditionen betrifft, wissen wir hingegen hinreichend, wie die Mechanismen ihrer Entstehung und ihres Wirkens aussehen.439 Dabei greifen Menschen auf das zurück, was sie im Idealfall als Kinder und Jugendliche erfahren haben: Vorbilder. Waren es zunächst – wieder idealtypisch – Eltern, Lehrer,440 Pfarrer, so werden solche Vorbilder in dem Maße „größer“ und abstrakter, in dem jungen Menschen die Vergangenheit der Welt als eigene Erfahrung zuwächst. Wer nichts aus der Geschichte weiß, kann auch keine Vorbilder aus ihr generieren – und damit keine Tradition. Das Wissen von Geschichte ist eine notwendige Voraussetzung zur Traditionsbildung, aber dieses Wissen ist nicht „wissenschaftlich“, sondern allein subjektiv, ein Zerrbild des Vergangenen. Was nicht zur Tradition taugt, wird ausgeblendet. Im Idealfall stellen solche traditionswürdigen Vorbilder die Geschichte gleichsam still, indem ihr vergangenes Denken und Wirken als „überzeitlich“ begriffen wird und Maßstäbe setzt, an denen alle anderen seitdem verflossenen Zeiten gemessen werden. Hier hat man es wieder mit dem Versuch zu tun, dem „tempus fugit“ zu entrinnen, aber indem man dies versucht, verfälscht man genau das, worum es angeblich geht: den Respekt vor der Geschichte. In Wahrheit profanieren wir die Geschichte, benutzen sie wie einen Steinbruch, nehmen keine Rücksicht darauf, daß die Tektonik der Vergangenheit darüber zu Bruch geht. Im schlimmsten Fall bleiben nur noch Traditionen im Gedächtnisspeicher des Einzelnen oder eines Kollektivs – das sind die wahrhaft „geschichtslosen“ Existenzen, denen es höchst gleichgültig ist, ob sich etwas verändert hat oder nicht – solange die Traditionen funktionieren. Häufig wird dieses Verfahren mit dem Hinweis darauf gerechtfertigt, daß man nicht alles 437 Caspar, Gustav-Adolf/Marwitz, Ullrich/Ottmer, Hans-Martin, Tradition in deutschen Streitkräften bis 1945, Bonn, 1986; Bald, Detlef/Klotz, Johannes/Wette, Wolfram, Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten und Traditionspflege, Berlin 2001; vgl. auch Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr vom 20.09. 1982. 438 Die erstmalige Verleihung eines neu geschaffenen „Tapferkeitsordens“ für die Bundeswehr am 5. Juli 2009 hat die (alte) Diskussion um das „Eiserne Kreuz“ wieder angefacht. 439 Hier sind die sog. „Traditionsecken“ in Liegenschaften der Bundeswehr aufschlussreich; inzwischen sind sie selten geworden. 440 Tausch, Reinhard/Tausch, Anne-Marie, Erziehungs-Psychologie. Begegnung von Person zu Person, 11. Aufl. Göttingen u.a. 1998.

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„relativieren“ dürfe, es unveränderbare Werte gebe. Traditionen sind immer auch symbolbildend.441 Indem eine Tradition für eine bestimmte „überzeitliche“ Sache steht, wird sie anscheinend allen Veränderungsprozessen entzogen. In Wahrheit kommt es ständig vor, daß beispielsweise traditionswürdige Gestalten aus je unterschiedlichen Gründen zu Symbolen für ganz unterschiedliche Dinge werden, und „positive“ Traditionen ins Negative umschlagen können um dann tunlichst beseitigt zu werden wie im „Fall Mölders“.442 Auf diese Weise verschwinden nach und nach Hindenburg- und Tirpitzstraßen; Carl-Peters-Straßen gibt es kaum noch, dafür erhalten Kasernen die Namen von Offizieren und Unteroffizieren, die als „Helden“ begriffen werden, oft weil sie eben nicht „heldenhaft“ im Sinne ihrer, sondern unserer Zeit waren443; die „Feldwebel-Schmid-Kaserne“ in Rendsburg steht dafür, eine „Wilm-Hosenfeld-Kaserne“ gibt es (noch) nicht – was bis zur Stiftung von Denkmälern für Deserteure (u.a. Bonn, Stuttgart) gehen kann. Es gibt auch das Gegenteil von „Tradition“, den bewussten Verzicht darauf oder, ehrgeiziger noch, den Versuch, kommende Veränderungen zu antizipieren, der Geschichte in der Gegenwart eine Richtung in eine Zukunft aufzudrängen, von der man weniger annimmt, daß sie kommt – als daß sie wünschenswert wäre, hier wäre erneut auf das Zukunftsdenken und -handeln moderner Diktaturen zu verweisen. Das ließe sich „Futurismus“ nennen, wäre der Begriff nicht kunst- und literaturhistorisch eindeutig besetzt, so daß man das Phänomen an Hand konkreter Beispiele erläutern muß: Lange verstand Brasilien sich als ein Staat, dessen Hauptstadt Rio de Janero hieß. Darüber schwebte, fast buchstäblich, ein gigantischer Christus, der segnend seine Hände über Stadt und Land breitete. Irgendwann beschloß Brasilien – genauer: beschlossen ein paar Männer – eine neue Hauptstadt mitten in den Urwald des Amazonas zu bauen: Brasilia. Das war auf der einen Seite geradezu urtümlich im Sinne einer späten Landnahme und Kolonisierung, ja der biblischen Maxime von der Untertänigkeit der Natur dem Menschen gegenüber gedacht, auf der anderen als Herausforderung einer Zukunft, die man als nicht mehr unbekannt begriff. „Brasilia“ blieb, im Gegensatz zu vergleichbaren Fällen, keine Utopie, sondern wurde Wirklichkeit.444 Es entstand eine „futuristische“ Stadt als Symbol der Zukunft, als Vorwegnahme von Veränderungen, die erst noch kommen sollten, etwa der Rodung und Urbarmachung des Regenwalds. Hier geht es nicht darum, ob das am Ende gelungen ist, sondern um die Idee, historische Veränderungen nicht nur zu „erleiden“, sondern in eine bestimmte 441 Salewski, Michael, Über historische Symbole, in: Schoeps, Julius H. (Hg.), Religion und Zeitgeist im 19. Jahrhundert, Stuttgart/Bonn 1982, 157–184. 442 Hagena, Hermann, Jagdflieger Mölders. Die Würde des Menschen reicht über den Tod hinaus. Ein Beitrag über militärische Vorbilder und Traditionen, Aachen 2008. 443 Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/1601 vom 23.05.2006: „Kasernennamen und das Traditionsverständnis der Bundeswehr“. Zu Wilm Hosenfeld: Vogel, Thomas, „Ich versuche jeden zu retten“. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, München 2004. 444 Eine „nichtwirkliche“ Variation dieser Idee in Herzog, Werner (Regie), Fitzcarraldo (BRD 1982).

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Richtung zu zwingen. Ähnliche Verfahren gab es im Großen und im Kleinen schon oftmals, meistens in architektonische Zitate gekleidet – etwa im HansaViertel445 oder in der Stalin-Allee446 in Berlin. In beiden Fällen sollte Zukunft vorweggenommen werden; hier in antagonistischer Manier, wir befanden uns im „Kalten Krieg“. Bereits der Eiffelturm von Paris hatte diesem Prinzip gehorcht, wenn sein Erbauer ihn und die Weltausstellung als Startschuß für die großartige Zukunft Frankreichs begreifen wollten – das funktionierte, und tatsächlich wäre Paris seitdem ohne den Eiffelturm nicht das gewesen, was es heute und vermutlich morgen ist. Häufig ist im Zusammenhang mit futuristischen Projekten expressis verbis die Rede von einem „Bruch mit der Tradition“. Da die Geschichte nun aber weitergeht, kommt es dazu, daß diese Artefakte, die, als sie errichtet wurden „nicht an der Zeit“ waren, im Idealfall die Zeiten symbolisch prägen, genauer: sie tun so, als nähmen sie kommende Zeiten vorweg, die Idee des „Bauhauses“ dürfte eines der schlagendsten Beispiele sein. In der Regel jedoch prägen bewusst gewollte „futuristische“ Bauwerke nur ihre eigene Gegenwart. Vergeht diese, erleiden sie das Schicksal alles Seienden: sie werden selbst älter, veralten, werden zu Symbolen nicht mehr der Zukunft, sondern der Zukunft der Vergangenheit – wie das „Atomium“ in Brüssel. Haben diese Dinge besonderes „Glück“, werden sie gar zu modernen Weltwundern, das bleibt abzuwarten. Zukunft ist also nicht nur das, was wir nicht wissen. Wir basteln uns unsere Zukunft selbst – zumindest glaubten das beispielsweise die Erbauer von Magnitogorsk oder Dubai. Daß sie dabei einem fundamentalen Irrtum unterlagen, indem sie voller Naivität, Omnipotenzgehabe (Stalin) oder Arroganz (oft allem zusammen) annahmen, sie könnten sich aus ihrer eigenen Zeit fortstehlen und à la Wells mit der Zeitmaschine ins Jahr 802.701 reisen, verweist darauf, daß es Menschen unmöglich ist, sich das Nicht-Wissen vorzustellen. Im Endergebnis fragt es sich, ob Tradition oder dieser Futurismus die bessere Sonde in die Vergangenheit bzw. in die Zukunft ist. Die Antwort wird lauten: weder noch. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wirken diese Griffe in die vermeintliche Zukunft umso altertümlicher, als sie von der realen Zukunft ein- und überholt werden.447 Daß sie dann zur „Tradition“ zählen, ist ebenso ironisch wie unvermeidlich. Der moderne Denkmalschutz ahnt dies, wenn er Gebäude und Ensembles oft schon unter seine Fittiche nimmt, wenn diejenigen, die sie nutzen, noch nicht im Traum daran denken, daß sie „traditionswürdig“ sein könnten. Wie „zukunftsträchtig“ war doch der Nierentisch! Heute ist er ein Traditionsstück aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

445 Dolff-Bonekämper, Gabi/Schmidt, Franziska, Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin 1999. 446 Die jetzige Karl-Marx-Allee. Nicolaus, Herbert//Obeth, Alexander, Die Stalin-Allee. Geschichte einer deutschen Straße, Berlin 1997. 447 Fast jeder „alte“ Science-Fiction Film demonstriert dies eindrucksvoll.

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16. SCHLUSS Wissen wir, wie Geschichte geht? Daß sie sich nicht auf einem vorgefertigten Trampelpfad von Theorien bewegt, dürfte keine Frage sein; aber bricht sie so einfach durch das Dickicht eines Gewesenen, von dem man gar nicht weiß, wer es gemacht oder hat wachsen lassen? Gegenwart ist bekanntlich nichts anderes als der mathematische, eindimensionale Trennstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft. Unterstellt man, daß Geschichte nur in der Zeit ist, wird man der Vergangenheit so wenig habhaft wie der Zukunft. Beide sind in der Gegenwart zeitlos. Das Produkt aus Raum, Zeit, Mensch ist gleich Null, weil die Zeit gleich Null ist. Jeder Überrest aus der Vergangenheit existiert nicht in dieser, sondern in der Gegenwart, ist von daher etwas qualitativ anderes als je zuvor und je in Zukunft. Das wusste schon Johann Gustav Droysen. Etwa der Kölner Dom: Man glaubt, er stamme aus dem Mittelalter, in Wirklichkeit ist er jetzt und hier. Das Mittelalter gibt es nur im Jetzt; als es war, war es kein „Mittelalter“, und in tausend Jahren werden die Menschen über unseren Begriff „Neuzeit“ spotten. Die hilflose Denkfigur der „Postmoderne“ lässt das Problem grell aufscheinen. Das Einst ist Einbildung. Die Symbiose aus dem Überrest und seiner Zeit ist gelöst, damit ist der Überrest nicht mehr das, was er war. Dennoch tun wir so, als könnten wir den Überrest wie eine Zeitmaschine benutzen um mit diesem „Fahrstuhl in die Römerzeit“448 zu gelangen. Das ist ein elementarer Trugschluß. Aus diesem Grund sind auch mittelalterliche „Spektakel“, Museumsdörfer mit alten Handwerken, gespieltes Leben „wie um 1900“ oder 1804, Expeditionen wie die mit der „KonTiki“ nicht nur sinnlos, sondern irreführend. Wer über die Vergangenheit nachdenkt, tut dies in der Gegenwart; wer die Zukunft „voraussieht“ tut dies ebenfalls in der Gegenwart. Da diese aber nichts Starres, Unbewegliches ist, sondern wie ein Auto namens „Janus“449, das nach vorne fährt, während die Mitfahrer nach rückwärts sehen, haben wir es mit der letzten und gleichsam absoluten Stufe des Veränderungsprinzips in der Geschichte zu tun. Man mag das immer noch Wissenschaft nennen, mag das tun, wer will. Ein letzter garstiger Gedanke fehlt noch: Wer eigentlich bestimmt oder verfügt, daß Geschichte immer ist? Abgesehen von der mathematischen Formel, in der die Null das Produkt bestimmt, ließe sich denken, daß es Geschichte nur als eine Hervorbringung unter vielen gibt. Vielleicht ist sie auch schon fortgegangen, steht hinter der nächsten Ecke und amüsiert sich, daß wir sie nicht mehr sehen. Ganz selbstverständlich und naiv gehen Menschen davon aus, daß Geschichte immer und immer alles ist. Die Mode früherer Zeiten, in denen nur bestimmte Gegenstände aus der Vergangenheit der Betrachtung wert waren, ist längst der Überzeugung gewichen, daß Geschichte alles, es nichts außerhalb der Geschichte gibt, und alles was war, der Betrachtung „höchst würdig“ ist, wobei es nicht auf Rankes Transzendenz, sondern lediglich auf die Mittel und Methoden ankommt, um aus den unscheinbarsten oder massenhaftesten Resten des Einst im Hier und 448 Dieser Fahrstuhl existiert in der Realität: in Köln. 449 Von der Fa. Zündapp.

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Heute Erkenntnisse zu gewinnen – die quantitative Methode lebt von dieser Idee. Dennoch geht auch diese davon aus, daß es nichts außerhalb der Geschichte gibt – wer aber könnte dies beweisen? Ist Geschichte eine Hervorbringung des menschlichen Geistes, ist sie wandel- und fehlbar, kann nicht vollkommen sein, sie könnte auch nicht sein, und es fällt schwer, sich Geschichte vorzustellen, wenn man tot ist. An diesem Punkt haben erneut alle Religionen dieser Welt ihren Auftritt, und jeder Atheismus stößt an eine unüberwindliche Grenze. Daß er immer zum Scheitern verurteilt ist, weiß er selbst; er weiß aber auch, daß er ist – das genügt. Auch wenn die Logik nicht stimmt: Kann man sich das Universum ohne Geschichte vorstellen? Oder „Löcher“ in der Geschichte – ein bisschen analog zur Denkfigur der „Löcher“ in Raum und Zeit, die die Science-Fiction bis heute faszinieren? Ein „schwarzes Loch“ Geschichte?450 Man braucht gar nicht weit zu gehen: Mars und Venus genügen, um diese Frage nicht als absurd erscheinen zu lassen, denn dort gibt es menschlichem Dafürhalten nach (bisher) Geschichte nicht. Das würde sich erst ändern, wenn das tertium comparationis „der Geschichte“ auf dem Mars ist: der Mensch. Aber vielleicht ist die Geschichte dort schon so losgegangen wie die Marsroboter? Müssen es immer Intelligenzen sein, die Geschichte schaffen? Dieser Gedanke ist in den „Terminator“-Filmen451 bereits bedacht worden: Hier werden Geschichtsräume entworfen, in denen nur noch Maschinen – Roboter, Androiden und dergl. handeln. Schaffen die Geschichte? Denkt man weiter, ist man wieder ganz am Anfang, das Nachdenken über die Geschichte und wie sie „geht“ führen in lauter Paradoxien, in absurde Abgründe. In letzter Konsequenz nehmen wir an, daß Geschichte nur das Produkt einer Überlegung von wahrscheinlich unzähligen intelligenzbegabten Species, nicht notwendiger Weise biologischer, und sonst nichts ist. Es gibt jedoch keine Kriterien, die diese Behauptung bestätigen oder falsifizieren könnten. Wir nehmen nur an, daß Denken in Geschichte eine menschliche, und nur eine menschliche Eigenschaft ist – so wie das Selbstbewusstsein, das man allen anderen belebten Gattungen einfach abspricht. Man kann Geschichte denken, das ist verdächtig. Das Nichts ist dem Sein unendlich überlegen, davon war schon Sartre überzeugt, und so mag sich der Mensch im allgemeinen, der Historiker im Besonderen als jener Schiffbrüchige auf der einsamen Insel im Ozean fühlen, der unverdrossen den weitab ihre Bahn ziehenden Schiffen zuwinkt, nie gerettet wird, aber weiterlebt. Vielleicht hat er ja eine „Insel der Seligen“ erwischt.

450 Vgl. die teils ironische Diskussion um die Thesen von Heribert Illig, der ganze Jahrhunderte in ihrer Existenz leugnete. 451 1. Film: James Cameron (Regie), The Terminator (USA 1984).

GIESEBRECHTS „GESCHICHTE DER DEUTSCHEN KAISERZEIT“ Über ein Schlüsselwerk der deutschen Mediävistik Simon Groth Die „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, ein Werk von über 5000 Seiten in insgesamt zwölf Büchern, aus der Feder Wilhelm von Giesebrechts ist – so die These des vorliegenden Beitrages – ein Schlüsselwerk der deutschen Mediävistik, da es auf drei zusammenhängenden Feldern einen prägenden Eindruck hinterlassen hat. Dies gilt zum einen für die Binnenperiodisierung des Mittelalters in eine (deutsche) ‚Kaiserzeit‘, von der das Spätmittelalter als vermeintlich negativ zu beurteilende Zeit des Machtverfalls (der Kaiser) abgesetzt wurde. Dies gilt zum anderen für die thematische Ausrichtung des Werkes, das damit die beiden maßgeblichen Untersuchungsgegenstände der Mittelalterforschung verfestigte, die man als ‚Herrscherkonzentration‘ und ‚Staatsfixierung‘ verschlagworten könnte. Und dies gilt zum Dritten für die Art und Weise, wie Giesebrecht Geschichte schrieb, indem er Rankes Methode der kritischen Quellenbindung mit dem editorischen Textverständnis der Monumentisten um Georg Heinrich Pertz kombinierte, zugleich jedoch eine leicht zu lesende, populäre Darstellung der ‚eigenen‘ Vergangenheit schuf.

Als Friedrich Wilhelm Benjamin Giesebrecht1 im Jahre 1855 den ersten Band seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit vorlegte2, fand dieser, wie es in einem

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Eine grundlegende Würdigung, die gleichermaßen die beruflichen Stationen und Werke wie private Anekdoten berücksichtigt, wurde von seinem Schüler Sigmund Riezler für eine Gedächtnisrede verfasst; Sigmund Riezler, Gedächtnisrede auf Wilhelm von Giesebrecht. Gehalten in der öffentlichen Sitzung der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München zur Vorfeier ihres 132. Stiftungstages am 21. März 1891, München 1891. Auch: ders., Giesebrecht, Wilhelm von, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 49/1904, 341–349; sowie: Karl Theodor Heigel, Wilhelm von Giesebrecht, in: ders.: Essays aus neuerer Geschichte, München/Stuttgart/Leipzig, 313–325. Zum familiären Hintergrund: F. Winkel, Vom Mirower Pfarrhaus u. d. Fam. Giesebrecht, in: Mecklenburg-Strelitzer Heimatblätter 3/1927, 35–49; Karl Büchsel, Aus der Geschichte der Familie Giesebrecht aus Mecklenburg, in: Genealogie 13/1964, 313–322. Aus der jüngeren Forschung: Rudolf Schieffer, Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), in: Katharina Weigand (Hg.), Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München 5), München 2010, 119–136. Zum Verlag, in dem die in einem ersten Titelentwurf noch mit bestimmten Artikel überschriebene ‚Geschichte der deutschen Kaiserzeit‘ erschien, sowie zu den Konditionen des Vertrages: Wolfgang Lent, Neues aus einem Verlagsnachlaß – Zur Geschichte des Wissenschaftsverlages

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noch zu Lebzeiten des Autors erschienenen Eintrag in Meyers Konversationslexikon heißt, „durch patriotischen Schwung und glänzende Darstellung wie durch gründliche Forschung allgemeinen Beifall“3. Den Zeitgeist treffend4, hatte Giesebrecht einen absoluten Bestseller geschrieben – als 1880 der fünfte, bis zum Jahr 1164 reichende Band erschien, hatten die ersten zwei Bände bereits die 5. Auflage erreicht –, durch den er zu einem Klassiker der Geschichtsschreibung geworden ist5. Einem Urmeter gleichend, hatte er für die Mittelalterforschung – als Teil der sich im 19. Jahrhundert formierenden Geschichtswissenschaft – darüber hinaus einen grundlegenden Maßstab geschaffen6. Denn die „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“7 ist ein bis heute prägendes Motiv der deutschen Mittelalterforschung. Zum einen, weil Giesebrecht mit seiner Kaiserzeit eine vielfach implizit wie explizit aufgegriffene Binnenperiodisierung vorlegte (die sich bei ihm aus einem zentralen Werturteil ableitete)8; zum anderen, weil dieses Motiv, das seinerseits nochmals in zwei interdependente Themen unterteilt werden kann, die zentralen Gegenstände der Mittelalterforschung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert definierte: Seine Geschichte ist die Geschichte der ‚Kaiser‘ als Protagonisten im mittelalterlichen ‚Reich‘ als dem maßgeblichen geschichtlichen Ort, der spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert auch als deutscher ‚Staat‘ verstanden wurde. Damit lag Giesebrecht passgenau auf der von Leopold von Ranke begründeten9 und von Heinrich

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C. A. Schwetschke & Sohn und seines Verlegers Moritz Bruhn (1851–1876), in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 17/2008, 59–100, hier 83–87. Art. Wilhelm von Giesebrecht, in: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Aufl., Bd. 7: Gehirn – Hainichen, Leipzig/Wien 1885–1892, 332. Auch: Heigel, Giesebrecht, 323: „In dieser Zeit der Hoffnung auf eine Auferstehung Deutschlands erschien Giesebrechts Kaisergeschichte, zugleich eine wissenschaftliche That und ein nationales Ereignis“. Gleichwohl fehlt er in den einschlägigen Überblickswerken: Lutz Raphael (Hg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch (Beck'sche Reihe 1687), München 2006; Volker Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997. Eine Würdigung hingegen bei: Heinrich von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde., München 1950–1951, hier Bd. 1, 297. Etwa: Harry Bresslau, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad II. (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), 2 Bde., Leipzig 1879–1884, hier Bd. 1, Vorwort, VIf.: „Wie viel mein Buch dem seinigen [gemeint ist Giesebrechts Kaiserzeit] verdankt, wie sehr es auf der von ihm gelegten Grundlage beruht, wird man auf jeder Seite erkennen; ich glaubte es demselben schuldig zu sein, wo ich zu abweichenden Resultaten gelangt bin, das in jedem irgendwie erheblichen Falle zu motivieren“; Gerold Meyer von Knonau, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V. (Jahrbücher der Deutschen Geschichte), 7 Bde., Leipzig 1890– 1909, hier Bd. 1, Vorwort, VII: „ (…) der dritte Band der Geschichte der deutschen Kaiserzeit (…) wird eine Grund legende Arbeit über diesen Zeitabschnitt ohne allen Zweifel bleiben“. Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 6 Bde., Braunschweig/Leipzig 1855–1895. Eine Volksausgabe ohne Exkurse, hg. u. fortgesetzt von Wilhelm Schild, 6 Bde., Meersburg 1929–1930. Eine gekürzte Version wurde als Paul Alfred Merbach (Hg.), Geschichte der deutschen Kaiserzeit in Auswahl, Berlin 1923 publiziert. Vgl. dazu unten: „Wo der deutsche Name den vollsten Klang hatte“: Die deutsche Kaiserzeit. Etwa: Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke (1795–1886), in: Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1, 38–63.

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von Treitschke kurz vor der Jahrhundertwende nochmals angemahnte Linie der Konzentration auf den Staat, dessen „Wille“ für Treitschke der „allerwirklichste Wille, der auf Erden besteht“, sei, und der durch „die leibhaftige Persönlichkeit der handelnden Männer“ exekutiert werde10. Oder auf das Mittelalter gewendet: Die Kaiser des Reichs machten die Geschichte. Beiden Entitäten legte Giesebrecht hierbei die Prämisse eines ‚deutschen‘ Gehaltes zugrunde, der damit in seltsamer Statik als transhistorisches Moment fungierte. Obschon er durchaus eine organische Entwicklung konstatierte sowie den Grundlagen der deutschen Geschichte nachging, diente das ‚Deutsche‘ als verbindende Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart11 und erscheint damit als naturgegebene (beziehungsweise ‚gottgegebene‘) Ontologie. Gleichzeitig verstand er diese nationale Perspektive als Heuristik, die für ihn gerade nicht der eigenen Wissenschaftlichkeit entgegenstehe, vielmehr diese eigentlich erst konstituiere12. Dabei war Giesebrechts Werk weder der erste noch der einzige auf das Mittelalter bezogene Beitrag zu diesen Diskursen, doch war es der erfolgreichste und so-

10 Heinrich von Treitschke, Die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Vorbemerkung bei Übernahme der Redaktion der Historischen Zeitschrift, in: Historische Zeitschrift 76/1896, 1–5, Zitat 5: „So wenig sich die Geschichte als ein dialektischer Prozeß verstehen läßt, ebensowenig kann der allerwirklichste Wille, der auf Erden besteht, der Wille des Staates, verdrängt werden durch die unbestimmte Vorstellung einer allumfassenden Volksseele oder die leibhaftige Persönlichkeit der handelnden Männer durch die mehr oder minder abstrakten Begriffe von sozialen Gegensätzen oder wirtschaftlichen Interessen“. Die Losung „Männer machen die Geschichte“ in: ders., Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1., Leipzig 1879, 28. Auch: ders., Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, Bd. 1, hg. von Max Cornicelius, Leipzig 21899, Einleitung, 6: „(…) Personen, Männer sind es, welche die Geschichte machen“. 11 Dazu auch seine Königsberger Antrittsvorlesung: Wilhelm Giesebrecht, Die Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 1/1859, 1–17, etwa 8: „Wer sich nun in das Studium der Geschichte vertieft, der hat es nicht mehr so sehr mit einer abgestorbenen Vergangenheit (…) zu thun, als das Leben großer Nationen, in denen die Gedanken Gottes sich gleichsam verkörpern, in seinem Ursprung und Wachstum zu verfolgen und zu begreifen. Da schlägt sich von selbst die Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart; das Gestern gewinnt Bedeutung durch das Heute, der heutige Tag durch entschwundene Zeiten; da erst lebt der Historiker nicht mehr im Tode, sondern im Leben (…)“. Dies bedeutete für Giesebrecht freilich keine Absage an eine Universalgeschichte; vielmehr könne eine solche erst auf der Grundlage nationaler Geschichte verstanden und geschrieben werden (ebd., 9). 12 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage, XVI: „Ein grosser innerer Segen ruht auf der Wissenschaft der vaterländischen Geschichte; sie ist nicht allein dem Ariadneknäuel zu vergleichen, das uns durch die dunklen Irrgänge der Zeiten zu dem Eingange zurückführt, durch den unserere Vorfahren in die Geschichte eintraten; sie ist ebensosehr der Fackel gleich, die unseren Pfad erhellt und, vorwärts wie rückwärts ihre Strahlen werfend, dem Ausgange zuleuchtet“. Dazu auch die beiden theoretisch-methodologischen Schriften Giesebrechts (hier in Anm. 11 und 45), wo dieser Punkt ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

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mit paradigmatisch. Denn im Gegensatz zu Heinrich Ludens „Geschichte des Teutschen Volkes“13 und August Friedrich Gfrörers „Kirchengeschichte“14 war es klar konturiert sowie auf einen immer noch enormen, aber doch vergleichsweise überschaubaren Zeitabschnitt bezogen und entstammte nicht der Feder eines antipreußisch gesinnten, katholischen Konvertiten; im Gegensatz zu Johann Jacob Mascovs „De rebus Imperii Romano-Germanici“15 konnte Giesebrecht auf die Vorarbeiten der Monumenta Germaniae Historica sowie der Regesten Johann Friedrich Böhmers und Philipp Jaffés zurückgreifen und im Gegensatz zu Gustav Adolf Harald Stenzels „Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern“16 oder Friedrich Ludwig Georg von Raumers „Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit“17 deckte seine ‚Geschichte der deutschen Kaiserzeit‘ das ‚eigentliche‘ Mittelalter in Gänze ab, wenngleich der letzte Band von seinem Schüler Bernhard von Simson vollendet werden musste. Giesebrecht selbst arbeitete bis zu seinem Tod 38 Jahre an diesem Monument, über das sein Zeitgenosse Wilhelm Dilthey die Prognose wagte, es werde „lange das Hauptbuch für die Geschichte des deutschen Mittelalters bleiben“18. Die Bedeutung der insgesamt zwölf ‚Bücher‘ (die auch einzeln verlegt wurden) in sechs Bänden und acht Teilen (der 3. und der 5. Band erschienen jeweils in zwei gesonderten Abteilungen)19 erstreckte sich überdies auch auf ein anderes Feld. Von 13 Heinrich Luden, Geschichte des Teutschen Volkes, 12 Bde., Gotha 1825–1837. 14 August Friedrich Gfrörer, Allgemeine Kirchengeschichte, 4 Bde., Stuttgart 1841–1846. Auch: ders., Papst Gregor VII. und sein Zeitalter, 7 Bde., Schaffhausen 1859–1864. 15 Dazu kommt, dass auch Mascovs Werk nicht, wie ursprünglich geplant, von der älteren deutschen Geschichte bis zu Kaiser Sigismund reicht, sondern lediglich die mittlere von drei anvisierten Epochen behandelt; Jacob Mascov, Commentarii de rebus Imperii Romano-Germanici a Conradi usque ad obitum Henrici III., Leipzig 1741 (21751); sub Henrico IV et V ab ao. 1056–1123, Leipzig 1748; sub Lothario II et Conrado ab ao. 1125–1152, Leipzig 1753. Zu den weiteren Werken auch: Johann August Ritter von Eisenhart, Mascov, Johann Jakob, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 20/1884, 554–558. 16 Gustav Adolf Harald Stenzel, Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern, 2 Bde., Leipzig 1827/1828. 17 Friedrich von Raumer, Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, 6 Bde., Leipzig 1878. 18 Wilhelm Dilthey, Literaturbrief, in: Westermanns Monatshefte 53/1882, 278f. (ND in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus „Westermanns Monatsheften“. Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen. 1867–1884, hg. von Ulrich Herrmann [Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften XVII], Göttingen 1974, 449). 19 1. Band: Geschichte des zehnten Jahrhunderts, Braunschweig 1855/2. Aufl., 1. Band: Gründung des Kaisertums, Braunschweig 1860. Gewidmet ist dieser Band „Sr. Majestät dem Könige Friedrich Wilhelm IV. von Preußen“. 1. Buch: Die deutschen Völkerschaften in der Zerstreuung. Einigung in der fränkischen Monarchie; 2. Buch: Gründung des deutschen Reichs 900– 950; 3. Buch: Gründung des römischen Kaiserreichs deutscher Nation. Das Kaiserthum der Ottonen 951–1002; 2. Band: Blüthe des Kaiserthums, Braunschweig 1857. 4. Buch: Befestigung des Reichs durch Heinrich II. 1002–1024; 5. Buch: Das Kaiserthum auf seiner Machthöhe unter Konrad II. und Heinrich III. 1024–1056; 3. Band: Das Kaiserthum im Kampfe mit dem Papstthum. 1. Theil: Erhebung des Papstthums, Braunschweig 1862. 6. Buch: Erhebung des Papstthums in Heinrichs IV. Jugend 1057–1077; 7. Buch: Heinrichs IV. Kämpfe um die Erhaltung des Kaiserthums 1077–1106; 2. Theil: Heinrich V. Quellen und Beweise, Braunschweig

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grundsätzlicher Prägekraft war nämlich die Art und Weise, wie Giesebrecht Geschichte schrieb20. Seine Methode der (kritischen) Quellenbindung – bei ihm in umfangreichen Anhängen dargeboten – kombinierte Rankes methodologisches Postulat des „[z]eigen, wie es eigentlich gewesen“21 mit dem auf Georg Heinrich Pertz fußenden editorischen Textverständnis der Monumentisten22 und setzte damit einen ebenfalls gültigen Standard23. In den verschiedenen Auflagen wird an vielen Stellen das Bestreben Giesebrechts deutlich, neue Handschriften- und Quellenfunde (wie -befunde) in seinen Anmerkungsapparat zu integrieren24.

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1865. 8. Buch: Ausgang des Streits mit dem Papstthum unter Heinrich V. 1106–1125; 4. Band: Staufer und Welfen, Braunschweig 1872–1874 (2. Bearb. 1877). 9. Buch: Die Regierung Lothars und Konrads III. Staufer und Welfen. 1125–1152; 5. Band: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts; 1. Abtheilung: Neuer Aufschwung des Kaiserthums unter Friedrich I., Braunschweig 1880. 10. Buch: Neuer Aufschwung des Kaiserthums unter Friedrich I. 1152–1164; 2. Abtheilung: Friedrichs I. Kämpfe gegen Alexander III., den Lombardenbund und Heinrich den Löwen, Braunschweig 1880. = 11. Buch: Friedrichs I. Kämpfe gegen Alexander III., den Lombardenbund und Heinrich den Löwen, 1164–1181; 6. Band: Die letzten Zeiten Kaiser Friedrichs des Rothbarts. Nebst Anmerkungen und Register zu Band 5 und 6, hrsg. u. fortges. von Bernhard von Simson, Leipzig 1895. 12. Buch: Die letzten Zeiten Friedrichs I. 1182–1190. Dies war eigentlich von ihm gar nicht intendiert gewesen; Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Theil 1, Braunschweig 41873, Vorrede zur vierten Auflage, XXII: „Nicht leicht wird ein Schriftsteller bei der ersten Anlage eines Buches den Erfolg desselben klar zu übersehen vermögen; er täuscht sich über denselben nur allzu leicht. Auch hier zeigte es sich bald als Täuschung, wenn der Verfasser glaubte, daß eine auf das größere Publikum berechnete Geschichte der deutschen Kaiserzeit die eigentlich gelehrten Kreise wenig berühren würde“. Leopold Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 1824, VII. Dazu auch: Konrad Repgen, Über Rankes Diktum von 1824: „Bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“, in: Historisches Jahrbuch 102/1982, 439–449. Horst Fuhrmann, Die Monumenta Germaniae Historica und die Frage einer textkritischen Methode, in: Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medio evo 100/1995/96, 17–29; Hartmut Hoffmann, Die Edition in den Anfängen der Monumenta Germaniae historica, in: Rudolf Schieffer (Hg.), Mittelalterliche Texte. Überlieferung – Befunde – Deutungen. Kolloquium der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica am 28./29. Juni 1996, Hannover 1996, 189–232. Folgerichtig lautet die zweite Widmung des ersten Buches: „Den Meistern deutscher Geschichtsforschung G. H. Pertz und Leopold Ranke gewidmet als Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit“ (Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1). Als Begründer der deutschen ‚Geschichtswissenschaft‘ verstand er Barthold Georg Niebuhr Giesebrecht, Entwicklung, 9f. Fortsetzung des Zitats aus Anm. 20: „Von den verschiedenen Seiten wurde das Buch in die wissenschaftliche Discussion gezogen und vielfach zum Ausgangspunkt für weitere Forschungen genommen. Dies drängte aber mit Nothwendigkeit den Verfasser dazu, die eigene Forschung in den späteren Bänden mehr und mehr zu vertiefen, und zugleich, da trotz der starken Auflagen wiederholt neue Drucke nöthig wurden, auch jene Untersuchungen, die sich inzwischen an das Werk angeschlossen hatten, unverzüglich für dasselbe zu verwerthen“.

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Zugleich hatte er selbst sowohl auf ein allgemeines Publikum gezielt (was in der Zunft durchaus mit mildem Spott registriert wurde)25 als auch besonderen Wert auf die ‚künstlerische‘ Form gelegt26, und damit eine mit wenig anderen Arbeiten zu vergleichende Lektüre geschaffen, deren Popularität sich aus eben dieser Verbindung von allgemeiner Verständlichkeit mit konsequenter Quellenbindung speiste27. Das Echo im Blätterwald deutscher Zeitschriften politischer und historischer Ausrichtung war dementsprechend enorm28 und mehrfach wurde explizit auf den pädagogischen oder didaktischen Wert für Schüler und Lehrer29 (sowie Mädchen und Frauen)30 hingewiesen, wie auch Giesebrecht wiederholt diese Aufgabe seiner Kaisergeschichte betont hatte31. In verschiedenen Anekdoten ist darüber hinaus Verbreitung und Wirkung des „Giesebrechts“ überliefert32, wobei hier diejenige 25 Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. Abteilung I: Allgemeines), München/Berlin 1911, 490: „Seine gemeinplätzigen Betrachtungen verlangen vom Leser sowenig Nachdenken wie eine normale Schulrede. Er malt dafür, wie es das große Publikum immer gerne sieht, die gemütliche Seite der Geschichte herzhaft aus“. 26 Er selbst hatte in Jugendjahren nicht nur Werke der griechischen Klassik ins Deutsche übersetzt, sondern auch ein Drama über die ‚Familie‘ Ottos des Großen verfasst und verstand sich in diesem Sinne auch als Schriftsteller (dazu: Riezler, Gedächtnisrede, 10f. und 34). In einer Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke (wie Anm. 81) hatte Giesebrecht als notwendige Eigenschaften eines „wahrhaft grossen Historikers“ auch auf einen „ausgebildete[n] Sinn für die literarische Kunstform“ (31) verwiesen. Und Heigel hatte in der von ihm herausgegebenen fünften Auflage des 3. Bandes in seinem kurzen Vorwort das Werk Giesebrechts als dasjenige eines „Künstlers“ charakterisiert (Karl Theodor Heigel, Zur fünften Auflage, in: Wilhelm von Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 3. Bd., Leipzig 51890, IXf., hier X: „Nicht nur ein hervorragender Forscher, sondern ein echter Künstler ging uns in ihm verloren“). 27 Diese Einschätzung findet sich immer wieder; (pars pro toto) die Anzeige in: Literarisches Centralblatt für Deutschland 1855, 67: „Die Darstellung ist durchgehend schön und ansprechend; sie setzt keine Vorkenntnisse voraus, und ein Jeder kann sie mit ungestörtem Vergnügen lesen. Wer aber die Quellen kennt, der fühlt in jedem Satze, daß hier fester Boden ist; er erkennt fast in jedem Worte das sichere Fundament, worauf der Bau ausgeführt ist“; auch: Heigel, Giesebrecht, 322. 28 Eine vollständige Sammlung der verstreuten Anzeigen und Besprechungen in teilweise sehr ephemeren Zeitschriften des 19. Jahrhunderts erscheint ohne weiterführenden Erkenntnisgewinn; jedoch: Wilhelm Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1., Braunschweig 1855, dem einige Reaktionen auf das erste Buch des ersten Bandes nach dessen erstmaligem Erscheinen vor 1855 beigegeben sind. 29 Vgl. etwa den Nachtrag zu Wattenbachs Rezension in den Neuen Jahrbüchern für Philologie und Pädagogik, wo vom Herausgeber Rudolph Dietsch hinzugesetzt wurde, dass das Buch, auch wenn es sich aus der Besprechung eigentlich ergebe, ausdrücklich zur Lektüre „gereifterer Schüler“ empfohlen werde: „Wir haben lange kein Buch gelesen, welches wir mit gleich gutem Rechte und Gewissen in dieser Hinsicht empfehlen könnten“ (402f.). 30 Felix Dahn, Bausteine. Gesammelte kleine Schriften. Zweite Reihe, Berlin 1880, 397–419, hier 400: „Und so ist das Buch, neben der Belehrung edelste Unterhaltung gewährend, besonders für Studenten der Gymnasien und Hochschulen, nicht weniger aber für gebildete Mädchen und Frauen ein schöner Pfad in eine reizvolle Partie deutscher Geschichte“. 31 Vgl. etwa Anm. 54. 32 Etwa: Heigel, Giesebrecht, 322.

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der Baronin Hildegard von Spitzemberg, Ehefrau des württembergischen Gesandten in Berlin, hervorsticht, nach der Bismarcks geflügeltes Wort eines verweigerten Canossaganges33 auf ihre Lesefrucht zurückgehe34. Für Giesebrecht bedeutete das mehrbändige Opus magnum wiederum einen nicht unwesentlichen Karrieresprung. 1857 wurde der bisherige Oberlehrer des Joachimsthaler Gymnasiums35 als ordentlicher Professor der Geschichte nach Königsberg berufen und ein Jahr später mit dem von König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen anlässlich des Jubiläumsjahres des Verduner Vertrags gestifteten VerdunPreis36 ausgezeichnet. 1862 folgte er auf Heinrich von Sybel als Professor der Geschichte in München und wurde dort zum beständigen Sekretär der Historischen Kommission ernannt; 1865 schließlich durch die Verleihung des Ordens der bayrischen Krone in den Adelstand nobilitiert. Wenige Jahre vor seinem Tod (18. Dezember 1889 in München) erhielt er zudem den Wedekind-Preis. „WO DER DEUTSCHE NAME DEN VOLLSTEN KLANG HATTE“: DIE DEUTSCHE KAISERZEIT Der Zusammenhang der Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war für Giesebrecht eine leitende Evidenz und die Anlage seines Werkes stark von dieser Prämisse geprägt. Die ‚Kaiserzeit‘, so vermerkte er im Vorwort seines ersten Bandes, sei nämlich die Periode, in der unser Volk, durch Einheit stark, zu seiner höchsten Machtentfaltung gedieh, wo es nicht allein frei über sein eigenes Schicksal verfügte, sondern auch anderen Völkern

33 Otto Gerhard Oexle, Canossa, in: Étienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001, Bd. 1, 56–67. Auch: Matthias Pape, „Nach Kanossa gehen wir nicht“. War Anastasius Grün (Graf Anton Auersperg) Bismarcks Stichwortgeber im Kulturkampf?, in: Lotte Kery (Hg.), Eloquentia copiosus. Festschrift für Max Kerner zum 65. Geburtstag, Aachen 2006, 245–264. 34 Rudolf Vierhaus (Hg.), Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, Göttingen 1960, 135: „22. Mai [1872] Mittwochs brachte ich endlich meinen Giesebrecht zu Ende, ein Buch, das mich auf das lebhafteste interessiert und angesprochen hat. Besonders Heinrichs IV. Geschichte erregte mich sehr … In der letzten Reichstagssoiree sprach ich Bismarck über Heinrich IV., speziell die Szene zu Canossa, so daß ich mich als moralische Veranlassung seines so großen Beifall gehabten Wortes ansehen kann: ‚Nach Canossa, meine Herren, gehen wir nicht!‘“. 35 Während Schieffer vermutete, dass Giesebrecht für seine Darstellung Ottos II. im Rahmen der ‚Jahrbücher‘ nachträglich promoviert worden sei (vgl.: Schieffer, Giesebrecht, 121), verweist Heigel auf dessen Arbeit über die italienische Geschichtsschreibung (Heigel, Giesebrecht, 315). 36 Zum Preis: Katharina Weigand, Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und nationaler Vereinnahmung: der Verdun-Preis, in: dies./Jörg Zedler/Florian Schuller (Hg.), Die Prinzregentenzeit. Abenddämmerung der bayrischen Monarchie?, Regensburg 2013, 105–127. In der zeitgenössischen Literatur firmierte der Preis oftmals als „Großer Königspreis“ und nicht als „Verdun-Preis“.

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Simon Groth gebot, wo der deutsche Mann am meisten in der Welt galt und der deutsche Name den vollsten Klang hatte37.

Gegenüber der eigenen, negativ begriffenen Gegenwart diente die Vergangenheit folglich als Richtschnur der Zukunft38. Mit der Wendung der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ hatte er also nicht nur ein Etikett im Sinne einer leicht aufgreifbaren Bezeichnung für das deutsche Früh- und Hochmittelalter gefunden, sondern zugleich ein Deutungsraster dieser Epoche präfiguriert39, indem er ganz bewusst einen Abschnitt der mittelalterlichen Geschichte auswählte: Das Buch, dessen erster Theil hiermit der Lesewelt übergeben wird, beginnt von der Gründung des deutschen Königthums und des römischen Kaiserreichs deutscher Nation, stellt in seinem weiteren Gange die Glanz- und Blüthezeit dieses Reichs dar, indem es von den glorreichen Thaten der Ottonen, der fränkischen Kaiser und Hohenstaufen erzählt, und endet mit den Kämpfen, in denen das Kaiserthum den vereinten Angriffen der Päpste, Reichsfürsten und freien Städte erliegend von seiner stolzen, weltherrschenden Höhe herabsteigen mußte 40.

Doch „in dem Augenblick, wo diese Geschichte die Erinnerungen an Deutschlands Herrlichkeit und Größe aufs Neue zu erwecken sucht“, stünden „die Sterne nicht günstig über unserem deutschen Vaterland: Kleinmuth und Uebermuth drohen vereint ihm Gefahr“, wie Giesebrecht in einem zweiten Vorwort der bereits 1860 erschienenen zweiten Auflage des ersten Bandes protokollierte: Aus dem Glaube an eine große Zukunft unseres Volkes ist es geboren, in diesem Glauben tritt es zum zweiten Mal in die Welt, und der hoffende Glaube ist die nachhaltigste Wehr gegen schwächlichen Kleinmuth und frevelnden Übermuth41.

Als 1871 dann (endlich, wie man aus der Sicht Giesebrechts hinzufügen möchte) ein neues deutsches Kaiserreich gegründet worden war, machte er im kurz darauf erscheinenden vierten Band über die Staufer und Welfen postwendend auf die „Parallelen zu den Zeitereignissen“ aufmerksam und betonte – trotz Verweis auf die Verschiedenheit der beiden ‚Reiche‘42 – die Duplizität der Ereignisse: 37 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage, Vf. 38 Ebd., VI: „Zu vielfach hat unser Volk die traurigen Folgen seiner inneren Zersplitterung erfahren, zu schwer hat es unter dem Einfluss fremder Mächte, welche die innere Spaltung Deutschlands für ihre Zwecke benutzten, zu leiden gehabt, und zu lange ist es in der ununterbrochenen Entwicklung seiner reichen Kräfte gehindert worden, als daß es nicht mit der heißesten Sehnsucht nach jener Zeit eines einigen, großen, mächtigen Deutschlands zurückverlangen sollte. Diese Sehnsucht durchzieht unser ganzes Volk; sie durchdringt das gesamte deutsche Leben in unseren Tagen“. 39 Dazu auch die Einschätzung Wattenbachs (Verweis unten in Anm. 104): „Daher bezeichnet der Titel des vorliegenden Werkes eine scharf umgrenzte Periode und zugleich ihren wesentlichen Charakter, dasjenige was ihren Anspruch auf gesonderte Behandlung begründet“ (399). 40 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage, V. 41 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur zweiten Auflage, XX. 42 Neben dem Vorwort des vierten Bandes (folg. Anm.) auch: Wilhelm von Giesebrecht, Deutsche Reden, Leipzig 1871, VIf.: „Wir sprechen von einer Herstellung des Reiches, aber in Wahrheit hat der neue deutsche Staat mit dem alten heiligen römischen Reiche deutscher Nation wenig, nicht einmal den Namen gemein, Das alte Kaiserreich wurzelte eben so tief in den

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Aber jeder Tag zeigt mehr, daß das neue Reich doch die Erbschaft des alten anzutreten genöthigt war. Wenn auch zum Theil mit veränderten Namen, es sind dieselben Mächte, welche heute, wie in den Tagen Lothars und Konrads, die Entwicklung des Reichs behindern.43

Damit funktionierte die Epochenbildung Giesebrechts als Sehnsuchtsort44, der als gleichermaßen taugliches Vorbild wie Idealbild ‚deutscher‘ Größe und (Welt)Geltung glorifiziert wurde45. Mittels einer publizierten (und eben vielfach gelesenen) Beschreibung wollte der Autor dabei an dem Prozess der Nationswerdung aktiv teilnehmen, diesen kommentieren und mit der Geschichte verknüpfen46. Aus diesem nationalen Referenzobjekt der Vergangenheit klammerte Giesebrecht folglich bewusst die folgenden Jahrhunderte des vermeintlichen Niedergangs der Kaiserherrschaft aus47, als eine Zeit des Machtverfalls einsetzte, deren Folgen bis hinein in die ‚Moderne‘ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung und Nationswerdung Deutschlands negativ beeinflusst hätten48. Die damit einhergehende Trennung in ein vorbildhaftes Früh- und Hochmittelalter (als der ‚Geschichte der deutschen Kaiserzeit‘) und ein davon abgesetztes Spätmittelalter als Zeit des Niedergangs war nicht nur auf inhaltlicher Ebene prägend, sondern beeinflusste darüber hinaus in signifikanter Weise die Ausrichtung der deutschen Mediävistik49.

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Vorstellungen und Zuständen des Mittelalters, wie das neue in den Verhältnissen der Gegenwart“. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 4: Staufer und Welfen, III. Gleichzeitig betonte er, dass der Leser diese Parallelen selbst ziehen müsse, da „die Pflicht des Historikers (…) nach dieser Seite scharf bestimmt“ sei und „niemals ungestraft verletzt“ werden dürfe (S. IIIf.). Vgl. Anm. 37. Dazu auch: Wilhelm von Giesebrecht, Über einige ältere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit. Vortrag in der öffentlichen Sitzung der kgl. Akademie der Wissenschaften am 28. März 1867 zur Feier ihres einhundert und achten Stiftungstages, München 1867, 3–6 und 19f. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 2 (1857), Vorwort, VIIIf.: „wenn es ihm [dem Verfasser] gelingen sollte, das Bild jener großen Zeit mit voller Lebendigkeit zu vergegenwärtigen, das Buch auf das Herz und die Gesinnung jedes deutschen Lesers mit zwingender Gewalt einen fesselnden, anregenden und aufrichtenden Einfluß üben muß“. Ähnlich das am 10. Februar 1871 geschriebene Vorwort einer kleinen Sammlung von Reden Giesebrechts: „Von Jugend auf beseelt den Verfasser die Ueberzeugung, daß die deutsche Nation nur in festerem Zusammenschluß die verlorene und ihr in jedem Betracht gebührende Weltstellung wiedergewinnen könne. Seit Jahrzehnten hat er in Wort und Schrift dieser Ueberzeugung unverdrossen Ausdruck gegeben; für sie ist er in jedem Wirkungskreis, der sich ihm erschloß, eingetreten; aus ihr ist sein umfassendes Werk über die Geschichte der deutschen Kaiserzeit hervorgegangen (…)“ (Giesebrecht, Deutsche Reden, VIII). Vgl. Anm. 40. Etwa: Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage, V– VII. und öfters. Dazu auch: Rudolf Schieffer, Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in: ders./Peter Moraw (Hg.), Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62), Ostfildern 2005, 39–61; Bernd Schneidmüller, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte

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Bis in das dritte Jahrtausend hinein blieb das sogenannte ‚Interregnum‘ ein wenig geschätzter und deswegen auch wenig beachteter Teil des Mittelalters50. Die Zeit der mittelalterlichen ‚deutschen‘ Kaiser war indes gegen derart grundsätzliche Kritik immunisiert51 und die Bewertung der einzelnen Kaiser selbst wurde zwangsläufig in ein prinzipielles, ebenfalls gegenwartsbezogenes Deutungsschema integriert, in dem jeder Kaiser vor der Folie der Bewahrung kaiserlicher Macht gegenüber den römischen Interessen der Päpste und den partikularen Interessen der Fürsten ausgeleuchtet wurde52.

politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53/2005, 485–500; Gerd Althoff (Hg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992. 50 Zu den Bewertungen dieser Periode: Marianne Kirk, „Die kaiserlose, die schreckliche Zeit“ – Das Interregnum im Wandel der Geschichtsschreibung vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Europäische Hochschulschriften 3/944), Frankfurt am Main u.a. 2002; Bernd Schneidmüller, Konsens, Territorialisierung, Eigennutz. Vom Umgang mit spätmittelalterlicher Geschichte, in: Frühmittelalterliche Studien 39/2005, 225–246; Peter Schuster, Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 269/1999, 19–55. Auch: František Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 243/1986, 529–589. Zum aktuellen Stand der Forschung: Martin Kaufhold, Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230–1280 (MGH Schriften 49), Hannover 2000. Zur Forschungsgeschichte: Frank Rexroth, Geschichte erforschen oder Geschichte schreiben? Die deutschen Historiker und ihr Spätmittelalter 1859– 2009, in: Historische Zeitschrift 289/2009, 109–147. 51 Einzig über die richtige Blickrichtung kaiserlicher Aktionsfelder – koloniale Aufgabe im Osten gegenüber der Auseinandersetzung mit den römischen Päpsten und italischen Städten im Süden – wurde spätestens seit Giesebrecht immer wieder gerungen. Für Giesebrecht selber bedeutete Ottos Kaisertum eine Aufgabe, „die es [‚das deutsche Volk‘] für die Weltgeschichte zu lösen berufen ist“. Daher seien Fragen nach dem Nutzen dieser Politik nur von solchen „aufgeworfen worden, die es Otto höchlich verargt haben und überhaupt den gewaltigen Gang der Geschichte lieber nach ihrer Kurzsichtigkeit meistern, als der Nothwendigkeit der Dinge nachdenken und sie begreifen wollen“ (Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1 (21860), 762, erstes Zitat 764). Heinrich von Sybel widersprach Giesebrecht (wenngleich in Anerkennung des Werkes Giesebrechts wie in Anerkennung der „persönlichen, geistigen und sittlichen Größe der alten Kaiser“) und unterstellte dieser Hinwendung ein fälschliches Ziel. Die sich daraus entspinnende Kontroverse, die auch unter der Wendung Sybel-Ficker-Streit firmiert, prägte die deutsche Mediävistik bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dazu: Simon Groth, in regnum successit. ‚Karolinger‘ und ‚Ottonen‘ oder das ‚Ostfränkische Reich‘? (Rechtsräume 1 / Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 304), Frankfurt am Main 2017, 4 Anm. 15 mit den entsprechenden Verweisen. Zu den Streitschriften: Friedrich Schneider (Hg.), Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten Deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck 1941 (21943) (das Zitat Sybels aus: Über die neueren Darstellungen der Deutschen Kaiserzeit, München 1859, hier 10). Zur ‚Ostforschung‘ (mit Bezug auf Friedrich Baethgen): Joseph Lemberg, Der Historiker ohne Eigenschaften. Eine Problemgeschichte des Mediävisten Friedrich Baethgen (Campus historische Studien 71), Frankfurt am Main 2015, 80–232. 52 Dazu auch: Schieffer, Giesebrecht, 131: „Zwei destruktive Kräfte waren es, die im Geschichtsbild Giesebrechts und der meisten seiner Zeitgenossen einst und jetzt das Gefüge des Reiches

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Während die ersten beiden Bände mittels einer evolutionären Verlaufsmetaphorik als „Gründung“ (ab der zweiten Auflage) sowie „Blüthe“ übertitelt sind, handelt der folgende vom „Kaiserthum im Kampfe mit dem Papstthum“, worauf ein vergleichsweise kurzer (555 Seiten), die Zeit Lothars III. und Konrads III. thematisierender Band namens „Staufer und Welfen“ folgt. Die Herrschaft Friedrich Barbarossas wird dagegen auf etwa 1800 Seiten ausgebreitet und erstreckt sich über zwei Bände in drei Büchern, wovon das letzte von seinem Schüler Bernhard von Simson auf der Grundlage von im Nachlass erhaltenen Vorarbeiten posthum ausgearbeitet wurde. Diese ungleichgewichtige Konzentration auf Friedrich den „Rothbart“, wie der Staufer bei Giesebrecht heißt, und unter dem es zunächst einen „[n]eue[n] Aufschwung des Kaiserthums“ gegeben habe, liegt nicht nur in der im Vergleich zum 10. Jahrhundert signifikant umfangreicheren Quellenüberlieferung begründet, sondern auch in der Barbarossa zuerkannten Stellung53. Gleichzeitig blieb das Werk jedoch unvollendet, da die folgende Zeit der staufischen Herrscher, also Heinrich VI., der staufisch-welfische Thronstreit und Friedrich II., im Gegensatz zur eigentlichen Konzeption ohne eigene Darstellung blieben. Dagegen reichte sein Panorama in einem 100 Seiten starken Vorlauf des ersten Bandes über „Die deutschen Völkerschaften in der Urzeit“ und der Spätantike mit der „Gründung germanischer Staaten auf römischen Boden“ sowie anschließenden 50 Seiten über das Kaisertum Karls des Großen und seiner fränkischen Nachfolger weit über die Ottonen beziehungsweise die „Geschichte des zehnten Jahrhunderts“ (so der Titel der ersten Auflage des ersten Bandes) hinaus. DIE MACHER DER GESCHICHTE: DIE DEUTSCHEN KAISER Das nicht nur bei Giesebrecht, sondern in vielen Werken der älteren Forschung sich spiegelnde Bild des Mittelalters, das aufgrund der auflagenstarken Verbreitung einiger Werke eine kanonisierende Wirkung hatte, könnte als ‚Herrscherkonzentration‘ bezeichnet werden. Auch diese Ausrichtung hatte für Giesebrecht eine erzieherische Komponente. Denn er beabsichtigte mit seinen Ausführungen explizit auch auf „die Lehrer an den höheren Schulen, wie die reiferen Zöglinge derselben“ einzuwirken, die durch das „Bilde, das wir von der Herrlichkeit des alten Reichs entworfen haben“, begreifen lernen sollten, „daß es vor allem die christlich-heroischen Tugenden unserer Vorfahren waren, die sie frei, mächtig und groß machten“54. bedrohten und jedenfalls im Mittelalter die Kaiserherrlichkeit zum Einsturz gebracht hatten, nämlich die Machtansprüche der Landesfürsten und des römischen Papsttums, in der politischen Sprache des 19. Jahrhunderts der Partikularismus und der Ultramontanismus“. 53 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 5, Vorbemerkung, V: „Die Geschichte Friedrich des Rothbarts ist so reich an Ereignissen von welthistorischer Bedeutung, so wichtig für unsere nationale Entwicklung, überdies durch die Persönlichkeit des Kaisers selbst so anziehend, daß sie von jeher ein besonderes Interesse erregen mußte“. 54 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Vorwort zur ersten Auflage, XVI.

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Obschon Giesebrecht postulierte, dass es das höchste Ziel [der historischen Wissenschaft]“ sei, „das Leben der Menschheit, wie es sich in dem Zusammen- und Auseinandergehen der Völkerindividualitäten gestaltet, in seiner Entwicklung zu begreifen, in der Totalität aller seiner Erscheinungen zu erfassen55,

sind es stets die Kaiser, die handeln, die agieren, die Kämpfe ausfechten und dabei Siege erzwingen oder Niederlagen einstecken müssen: Mit der Seelenruhe eines Oberlehrers der alten Schule, der normal und pathologisch angelegte Kinder über denselben Kamm schert, verteilt Giesebrecht seine Zensuren. Uneingeschränktes Lob erhalten alle Herrscher, denen kraftvolles Auftreten nachgerühmt werden kann, scharfen Tadel alle, die sich schwächlichen Handelns schuldig gemacht haben56.

In diesem Sinne steht innerhalb der Bände die jeweilige aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen nacherzählte Ereignisgeschichte der Könige und Kaiser der drei Herrscherdynastien der Ottonen, Salier und Staufer im Mittelpunkt, die zwar regelmäßig, aber wenig umfangreich von strukturellen Beobachtungen ergänzt wurde. Sein zugrundeliegender Wertmaßstab zielte auf die relativ profane Frage nach der Stellung der Kaiser innerhalb des europäischen Abendlandes respektive nach der erfolgreichen (oder nicht erfolgreichen) Durchsetzung kaiserlicher Macht gegenüber dem römischen Papst, auswärtigen Herrschern und Reichen sowie deutschen Fürsten, die mit einer ebenfalls im Ungefähren belassenen universalhistorischen Konzeption des Kaisertums grundiert wurde57. Giesebrechts Konzentration auf den jeweiligen Herrscher lag damit auf der grundsätzlichen Linie einer personal gebundenen Ereignisgeschichte, die sich auch an zwei anderen Großprojekten der deutschsprachigen Mittelalterforschung ausmachen lässt. Auf der einen Seite stehen hier die vom Frankfurter Stadtbibliothekar Johann Friedrich Böhmer (1795–1863) zunächst als Vorarbeit für die Editionen der Monumenta Germaniae Historica konzipierten Regesten-Bände58, auf die Giesebrecht in seinem Anmerkungsapparat immer wieder verwies. Ziel der sich daraus 55 Giesebrecht, Entwicklung, 16. 56 Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, 490. 57 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 3, 3:„Wenn die christlichen Völker des Abendlandes (…) sich jetzt nicht allein gegen die Angriffe der heidnischen Völker behauptet, sondern diese zum großen Theil dem Christenthum gewonnen und in den Ideenkreis der christlichen Völker hineingezogen hatten, so geschah es vor Allem durch die Mannhaftigkeit der deutschen Kaiser. Ihr unbestreitbares Verdienst bleibt es, in dem vielleicht gefahrvollsten Wendepunkt die Zukunft der abendländischen Welt gerettet zu haben“. Die Grundlage lieferte hierfür das karolingische Kaisertum Karls des Großen, durch das die Auseinandersetzung zwischen ‚Römern‘ und ‚Germanen‘ in einer Synthese aufgehoben und durch die die antike römische und christliche Kultur vor dem Untergang gerettet worden sei; auch: Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, etwa 93f., 107 oder 119f. 58 Christine Ottner, Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer. Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft, in: Karel Hruza/Paul Herold (Hg.), Wege zur Urkunde, Wege der Urkunde, Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24), Köln 2005, 257–291.

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entwickelnden (beziehungsweise darauf aufbauenden) „Regesta Imperii“ war (und ist) es, sämtliche urkundlich und historiographisch belegten Aktivitäten der römisch-deutschen Könige und Kaiser von den Karolingern bis zu Maximilian I. (ca. 751–1519) in Form deutschsprachiger Regesten aufzuarbeiten. Anders als der Name suggeriert, ging es hierbei aber nicht um die Geschichte des Reiches an sich, sondern vielmehr um eine Engführung auf die Geschichte des jeweiligen Herrschers im Reich59. Gleiches gilt auf der anderen Seite für die sogenannten „Jahrbücher der Deutschen Geschichte“ (beziehungsweise zunächst „Jahrbücher des Deutschen Reichs“)60, die ergänzend zu diesem tabellarischen Verzeichnis die reine Sammlung von Ereignissen in eine monographische Form überführten. Auch hier ging es nicht um eine Strukturgeschichte, sondern um eine möglichst jahrgenaue Rekonstruktion der Herrschertätigkeit. Verdichtet und popularisiert wurde dieser Zugriff dann in Büchern wie die „Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer“ (1909, viele Auflagen und Nachdrucke) oder den „Herrschergestalten des deutschen Mittelalters“ (1927, viele Auflagen und Nachdrucke) von Karl Hampe (1869–1936), die publizistisch dessen größten Erfolge waren61, oder dem ebenfalls vielgelesenen Buch Johannes Hallers über das „altdeutsche“ Kaisertum62. Bereits die Titel der Monographien verweisen auf die auf Giesebrecht zurückgehende Traditionslinie, die nicht nur auf dem Feld der populären Literatur über das Mittelalter im Grunde bis in das dritte Jahrtausend hinüber reicht. DER ORT DER GESCHICHTE: DAS MITTELALTERLICHE REICH ALS DEUTSCHER STAAT Im Vorwort seiner Kaisergeschichte hob Hampe – ganz im Zugang Treitschkes – dann hervor, dass die „staatliche Entwicklung“ im „Mittelpunkt“ stehen solle,

59 Peter Moraw, Politische Landschaften im mittelalterlichen Reich – Probleme der Handlungsdichte, in: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Landschaften im Mittelalter, bearb. von Ralf-Gunnar Werlich, Stuttgart 2006, 153–166, hier 158: „Die Regesten hießen und heißen seit Böhmer Regesta Imperii, und spiegeln vor einen fiktiven Tatbestand (statt korrekterweise ‚Regesta Imperatoris‘), spiegeln vor die ganze Breite der deutschen Geschichte statt der dünnen Linie der Königsgeschichte“. 60 Friedrich Baethgen, Die Jahrbücher der deutschen Geschichte, in: Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1958, Göttingen 1958, 70–81. Auch: Thomas Zotz, Präsenz und Repräsentation. Beobachtungen zur königlichen Herrschaftspraxis im hohen und späten Mittelalter, in: Alf Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, 168–194, hier 170, der anmerkte, dass die „Jahrbücher“ nach ihrem Inhalt wohl treffender als „Jahrbücher der Deutschen Könige“ übertitelt worden seien. 61 Dazu: Folker Reichert, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 79), Göttingen 2009, 212–219. 62 Johannes Haller, Das altdeutsche Kaisertum, Stuttgart 1926.

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wodurch die „führenden Persönlichkeiten“ hervortreten könnten63. Die Herrscherkonzentration als ein konkreter Gegenstand der historischen Forschung wurde – nicht nur bei Hampe – also ostentativ durch die Auseinandersetzung mit dem mittelalterliche ‚Staat‘ als Abstraktum (im Sinne einer ‚Staatsfixierung‘) grundierend ergänzt, bei der – wenige Jahre nach der ‚Drei-Elemente-Lehre‘ Georg Jellineks64, dem „Meilenstein“ der deutschen Staatslehre65 – eine aktuelle Terminologie sowie zeitgebundene Analysekonzepte auf die mittelalterliche Geschichte übertragen wurden66. Bei Georg von Below findet sich diese Vorstellung auf die Spitze getrieben67; seine Monographie über den „Deutschen Staat des Mittelalters“, erstmals 1914 erschienen und 1925 in zweiter Auflage gedruckt, sollte, so Below, „den Staat des Mittelalters als Staat, die mittelalterliche Verfassung als staatliche Verfassung, (…) das mittelalterliche Staatsrecht als öffentliches Recht“ beschreiben68. Denn der „Staat“ sei für Historiker „der Mittelpunkt der geschichtlichen Anschauung“69. Auch wenn er seinem selbstgesteckten Ziel eigentlich nicht gerecht wurde, sein Buch vielmehr die von ihm geschätzte und gepflegte Form der wissenschaftlichen Kontroverse aufgriff und damit vor allem im ersten Teil als eine Schrift gegen die von ihm als falsch deklarierten Thesen der älteren Verfassungsgeschichte zu lesen ist, war die Wirkmächtigkeit des Werkes enorm70. Neben einer ganzen Reihe von

63 Karl Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer, Leipzig 1909, Vorwort. 64 Jellinek bestimmte, dass die drei Merkmale „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und „Staatsgewalt“ zur Anerkennung eines Staates als Völkerrechtssubjekt erforderlich seien; Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (Recht des modernen Staates 1), Berlin 1900, 21905, 31914. Dazu: Georg Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 28), Tübingen 2000. 65 Etwa: Andreas Anter, Max Weber und Georg Jellinek. Wissenschaftliche Beziehung, Affinitäten und Divergenzen, in: Stanley L Paulson/Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 27), Tübingen 2000, 67– 86, Zitat 67. 66 Zu den einzelnen Phasen der Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Staat: Groth, in regnum successit, 231–269. 67 Dazu auch: Georg von Below, Der Deutsche Staat des Mittelalters, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 8/1914, Sp. 521–552. 68 Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Leipzig 1914 (21925), Zitat III. Dazu auch: Groth, in regnum successit, 235 mit Anm. 26. 69 Georg von Below, Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung, München/Berlin 21924, 129 (Erste Auflage mit dem differenten Untertitel „Geschichte und Kulturgeschichte“, Leipzig 1916). 70 Zum Werk auch: Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 142), Stuttgart 1998, 120–130; Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 16), München 2005, 82–84.

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Rezensionen und Stellungnahmen71 haben insbesondere Alfons Dopsch72 und Friedrich Keutgen73 die Ausführungen Belows aufgegriffen und dem Buch Belows ergänzende Studien mit ähnlichen oder gleichlautenden Titeln an die Seite gestellt74. Gegenüber dieser extensiven und expliziten Bezugnahme auf den Staat als transhistorisches Phänomen, die als eine von drei Phasen mediävistischer Paradigmen des Staatsbegriffes anzusehen ist75, findet sich bei Giesebrecht noch eine naive Wortverwendung, doch bereitete er damit zugleich den Boden für die folgenden Elaborate. So erkannte Giesebrecht bereits für die ‚Urzeit‘ der ‚deutschen Stämme‘, als diese in wechselnder Freund- wie Feindschaft nebeneinander auf deutschem Boden lebten, ‚staatliche‘ Strukturen. Sein Begriff des ‚Staates‘ diente ihm also als übergreifende Bezeichnung für jegliche Form der Regelung eines Gemeinwesens. Umstandslos wird folglich vom Römischen Reich, über die merowingische und karolingische Zeit hinweg, bis zum ‚deutschen‘ Reich Heinrichs I. vom Staat geschrieben, der seinerseits von auswärtigen Staaten oder Reichen umgeben gewesen sei. Eine klare begriffliche Trennung zwischen ‚Reich‘ und ‚Staat‘ findet sich nicht. Die „Gründung des deutschen Reichs“ datierte Giesebrecht dabei in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts. So sei auf den „Verfall des ostfränkischen Reichs“ zunächst der „Versuch“ Konrads I. gefolgt, ein „einiges Reich zu gründen“, bevor dieses Ziel dann unter seinem Nachfolger Heinrich I. erreicht worden sei76. Dieses, bereits im Mittelalter selbst diskutierte Narrativ wurde in der (deutschen) Mittelalterforschung in unzähligen Varianten durchdekliniert77. Während Giesebrecht Heinrich I. als handelnde Person und Spiritus Rector schilderte, sei das von ihm gegründete Reich eine eigenständige Neuschöpfung gewesen. Wie bei Below ist ein klarer Gegenwartsbezug erkennbar, und die Beschreibung dieses Reiches liest sich als (erstrebte) Antizipation des „Deutschen Reiches“ von 1871: Wie die strahlenden Juwelen der goldene Reif zur Krone verbindet und hierdurch sich das herrliche Sinnbild irdischer Macht gestaltet, so faßte die königliche Gewalt die deutschen Länder

71 Pars pro toto: Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 120/1919, 1–79, hier 9 Anm. 1: „Die wahre Staatsnatur des mittelalterlichen Staates ist von G. v. Below (…), wie man meinen sollte, endgültig nachgewiesen worden“. 72 Alfons Dopsch, Der deutsche Staat des Mittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 36/1915, 1–30. 73 Friedrich Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918. 74 Auch: Philipp Zorn, Der deutsche Staatsgedanke, Leipzig 1921. Kulminationspunkt dieses Paradigmas dürfte das 1940 erschienene Buch von Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, Weimar 1940 sein. Dazu jüngst: Johannes Liebrecht, Die junge Rechtsgeschichte. Kategorienwandel in der rechtshistorischen Germanistik der Zwischenkriegszeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 99), 107ff. und 138ff. 75 Vgl. Anm. 66. 76 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, Kapitelüberschriften. 77 Groth, in regnum successit, 1–29.

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Simon Groth zusammen und gab ihnen geeint erst ihre volle Kraft und Bedeutung. (…) In der Idee, die Heinrich faßte, erschien das Reich nicht viel anders, denn als ein Bund der deutschen Stämme unter der Vorstandschaft des von allen gewählten Königs 78.

Doch bereits Heinrich sei vor das Problem der partikularen Interessen der Fürsten gestellt worden, aber durch „Ruhe, klare Erkenntniß der wahren Lage der Dinge und durch jene gepriesene Friedfertigkeit, die ihn deutsches Blut nicht zwecklos gegen Deutsche vergießen ließ“, habe er im sechsten Jahr seiner Herrschaft das Werk der Einigung vollenden können: Friedlich und still war Alles vollendet; eine neue Ordnung der Dinge war auf Jahrhunderte hin mit Leichtigkeit, wie auf Zauberschlag möchte man sagen, gegründet; endlose Wirren sah man auf das Einfachste gelöst79.

DIE METHODE DER GESCHICHTE: „QUELLEN UND BEWEISE“ Als Giesebrecht zu Ostern 1833 in Berlin sein Studium begann, war der Weg zu einem historischen Lehrstuhl keineswegs vorgezeichnet, allein es gab noch kein derartiges Spezialstudium, doch kreuzte sich sein Lebensweg mit dem Leopold von Rankes, der 1824 außerordentlicher und 1834 ordentlicher Professor der Berliner Universität geworden war und dort in sowohl methodischer als auch institutionellorganisatorischer Weise ‚Geschichte‘ als Wissenschaft (und als wissenschaftliches Studienfach) begründete80. Giesebrecht nun wurde von Ranke in den erlesenen Zirkel derjenigen Studenten aufgenommen, die in kleinem Kreise in Rankes Privatwohnung zusammenkamen, um sich mit ausgewählten Fragen der Geschichte und der damit zusammenhängenden Quellenüberlieferung zu beschäftigen 81. Während

78 Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, 208. 79 Giesebrecht: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, 215f., Zitat 216. Der Abschnitt endet mit den romantisch-prosaischen Worten: „Es war, wie wenn bei nächtlichem Dunkel ein geheimer Schrecken über die Menschheit hereinbricht, da tobt und drängt Alles wild durcheinander, und von Minute zu Minute wächst die fürchterliche Verwirrung, bis endlich die Sonne plötzlich im Morgen aufblitzt und ihre lichten Strahlen die Gefilde vergolden; leicht sondern sich dann die verwirrten Massen, Ordnung und Ruhe kehrt zurück, und die Welt lacht wieder in ihrem Glanze den Menschen. Heinrichs klarer und ruhiger Geist war jene Sonne, welche das Dunkel über den deutschen Ländern in Licht wandelte“. 80 Etwa: Andreas Dieter Boldt, Das Leben und Werk von Leopold von Ranke, Oxford/Bern/Berlin 2016 (zuerst Englisch: The Life and Work of the German Historian Leopold von Ranke (1795– 1886). An Assessment of His Achievements, Lewiston 2014); Dominik Juhnke, Leopold Ranke. Biografie eines Geschichtsbesessenen, Berlin 2015. 81 Wilhelm von Giesebrecht, Gedächtnisrede auf Leopold von Ranke. Gehalten in der öffentlichen Sitzung der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München zur Feier ihres einhundert und achtundzwanzigsten Stiftungstages am 28. März 1887, München 1887, 14f.

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Giesebrecht bei einer von Ranke gestellten Preisfrage über das Leben König Heinrichs I. noch seinem Kommilitonen und Freund Georg Waitz unterlag82, wurde er bei der daraus resultierenden, von Ranke initiierten Reihe der „Jahrbücher des deutschen Reichs“ berücksichtigt und verfasste eine Darstellung Ottos II., die 1840 als Giesebrechts erste Veröffentlichung erschien83. Dem Konzept entsprechend, durchschritt er auf Basis der Quellenüberlieferung die zehnjährige Herrschaftszeit in streng chronologischer Weise und ergänzte seine Darstellung um einen fast gleichstarken Anhang mit Exkursen zu Spezialproblemen. Im Folgejahr publizierte er eine aus späteren Quellen gewonnene Rekonstruktion der Annales Altahenses84 und konnte sich, von Ranke empfohlen, zwischen Herbst 1843 und Ostern 1845 mit einem preußischen Stipendium vom Schuldienst suspendieren, um in italienischen Archiven und Bibliotheken Handschriftenstudien zu betreiben, über die er Georg Heinrich Pertz, den Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, brieflich mehrfach in Kenntnis setzte85. Diese inhaltlich-formalen wie methodisch-quellenkritischen Prägungen waren es, die Giesebrecht auch seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit zugrunde legte, doch lockerte er die strenge chronologische Bindung der Jahrbücher auf und überführte den teilweise ausufernden Anmerkungsapparat in einen entweder beigestellten oder in einem folgenden Band gedruckten Anhang, den er jeweils mit „Quellen und Beweise“ übertitelte. Dort gibt er (jeweils noch weiter unterteilt) in Form einer kommentierten Bibliographie zunächst Auskunft über die allgemeine Quellen- und Literaturgrundlage, um dann seitenbezogen die jeweils benutzten Quellen sowie die maßgebliche Literatur anzuzeigen und tiefergehend zu kommentieren oder zu problematisieren.

82 Siehe das Vorwort von Leopold Ranke zur ersten Auflage von: Georg Waitz, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter König Heinrich I. (Jahrbücher des Deutschen Reichs unter dem Sächsischen Hause 1,1), Leipzig 1836 (21885, 31885, 41963), VIII–XII, hier XI. 83 Wilhelm Giesebrecht, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter der Herrschaft Kaiser Ottos II. (Jahrbücher des Deutschen Reichs unter dem Sächsischen Hause 2,1), Berlin 1840. 84 Wilhelm Giesebrecht, Annales Altahenses. Eine Quellenschrift zur Geschichte des 11. Jahrhunderts, aus Fragmenten und Excerpten hergestellt, Berlin 1841. 85 Wilhelm von Giesebrecht, Briefe W. von Giesebrechts an G. H. Pertz. Aus den Jahren 1843 bis 1847, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 17/1892, 9–29.

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Diese ‚kritische‘ Methode ging auf Ranke und dessen Lehrform des quellenbezogenen Seminars zurück86, das nicht nur seine unmittelbaren Schüler prägte87, sondern, durch diese perpetuiert und katalysiert88, zum Regelfall an allen Historischen Seminaren wurde89. Sowohl die ‚Jahrbücher‘ als auch Giesebrechts ‚Kaiserzeit‘ nutzten diesen Ansatz für (oder überführten ihn auf) das Schreiben von Geschichte. Der Erfolg (und die Lesbarkeit) des hier im Mittelpunkt stehenden Werkes liegt vor diesem Hintergrund jedoch darin begründet, dass Giesebrecht – anders als etwa Waitz90 – die Kombination von Einzelergebnissen als zulässiges Verfahren verstand. Durch das erzählende Füllen von Überlieferungslücken konnte er folglich zu einer zusammenhängenden Geschichte kommen und blieb damit nicht auf der Ebene der reinen ‚Geschichtsforschung‘ zurück91. Umgekehrt versetzten ihn erst die Erfolge des ‚produktiven Positivismus‘92 (an der er gleichsam seinen Anteil hatte) der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Lage, ein solches Unternehmen zu wagen.

86 Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke und die Begründung der quellenkritischen Geschichtsforschung, in: Jürgen Elvert/Susanne Krauß (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen (Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft 47), Stuttgart 2003, 23–33. 87 Georg Waitz, Die historischen Übungen zu Göttingen. Glückwunschschreiben an Leopold von Ranke zum Tage der Feier seines fünfzigjährigen Doctorjubiläums 20. Februar 1867, Göttingen 1867, 4: „(…) die Pflichten des Historikers: Kritik, Präcision, Penetration“. 88 Zu Waitzʼ Wirken in Göttingen: Ulrich Muhlack, Die Stellung von Georg Waitz in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, in: Bohumil Jirousik/Josef Blüml/Dagmar Blümlova (Hg.), Jaroslav Goll a jeho žáci, Budweis 2005, 165–181. 89 Grundsätzlich: Hans-Jürgen Pandel, Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs, in: Horst Walter Blanke (Hg.), Transformationen des Historismus. Wirtschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Waltrop 1994, 1–31; Karl Ferdinand Werner, Historisches Seminar – Ecole des Annales. Zu den Grundlagen einer europäischen Geschichtsforschung, in: Jürgen Miethke (Hg.), Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar. 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, Berlin u.a. 1992, 1– 38. 90 Zu Waitz’ Ablehnung kombinatorischer Schlüsse: Georg Waitz, Falsche Richtungen. Schreiben an den Herausgeber von Georg Waitz, in: Historische Zeitschrift 1/1859, 17–28, etwa 24; ders., Zur Würdigung von Rankes Historischer Kritik, in: Historische Zeitschrift 6/1861, 349– 355, hier 354f. An Giesebrecht schrieb Waitz im Zusammenhang mit dessen Rekonstruktion der Annales Altahenses: „ich leugne nicht, hie und da hat mich ihre Vorliebe, einen Zusammenhang zu machen, wo die Quellen nichts davon wissen, ein bischen offendirt“ (Zitat bei: Riezler, Gedächtnisrede auf Wilhelm von Giesebrecht, 53 Anm. 22). 91 So schrieb Waitz an Giesebrecht nach dessen Veröffentlichung seines Buches über Otto II., er wisse, „dass Ihre Behandlungsweise sich von der meinigen auf’s entschiedenste unterscheidet“, und Giesebrecht an seinen Onkel, dass er und Waitz von den Schülern Rankes diejenigen seien, „die in ihrer Richtung am weitesten auseinander gehen“. Die Zitate bei: Riezler, Gedächtnisrede auf Wilhelm von Giesebrecht, 14 mit Anm. 23 (53). 92 Dazu auch: Groth, Das Mittelalter – Eine ‚endliche‘ Geschichte. Über einen Denkstil der deutschen Mediävistik (in Vorb.).

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DIE KRITIK AN DER GESCHICHTE: DIE WAHRHEIT DER WISSENSCHAFT Die immer wieder vermerkte, auf die Jugend zielende erzieherische Absicht korrespondierte bei Giesebrecht also mit einem ausgeprägten Methodenbewusstsein, mit dem er das ebenfalls wiederholt ausgesprochene Ziel verfolgte, zur ‚Wahrheit‘ der Geschichte vorzudringen93. Sein Wahrheitsbegriff bezog sich zwar auch auf die Abbildung der ‚historischen Wirklichkeit‘94, beinhaltete daneben aber auch eine Werturteilsfreiheit: „Wo Freiheit ist, da ist die Möglichkeit des Irrthums, aber ohne Freiheit und Selbstständigkeit der Forschung gibt es im Sinne der Wissenschaft keine Wahrheit“95. Damit stand Giesebrecht an der Schwelle zwischen der Aufklärungshistorie des 18. Jahrhunderts und der sich entwickelnden positivistischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts96, indem er die Legitimation seiner ‚Kaisergeschichte‘ aus beiden Bereichen ableitete. Diese hybride Stellung bedingte eine Vielzahl an mitunter emphatischen Auseinandersetzungen, die sich teilweise explizit gegen das allgemeine Geschichtsbild des Autors richteten. Die insbesondere aus dem katholischen Milieu kommenden Angriffe gegen das Werk97, die grundsätzlich auf der Linie des allgemeinen Kulturkampfes lagen98, 93 Giesebrecht, Entwicklung, 4, wo er die Vorzüge ‚deutscher‘ Geschichtswissenschaft gegenüber derjenigen anderer „Völker“ skizzierte und dabei auf die „Gründlichkeit der Forschung“ sowie auf das „Wahrheitsgefühl“ verwies. Die wesentlichen Charakteristika seien „ein unermüdlicher Fleiß im Ansammeln des Materials, der Ernst und die Gründlichkeit der Forschung, wie die Wahrheit und Unparteilichkeit der Gesinnung“. 94 Auch: Giesebrecht, Über einige ältere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, etwa 4: „Aber die Anschauungen des Historikers erwachsen nicht, wie die des Dichters, aus seiner eigener Phantasie, sondern sind die Frucht angestrengten Studiums. Wenn der Dichter schafft, was nun und nirgends gewesen, so hat der Historiker einzig und allein das Gewesene darzustellen und Niemand kann zur Anschauung desselben anders gelangen, als durch unermüdliches Forschen in den Resten der Vergangenheit, durch ein geistiges sich Sichversenken in die Zustände der Vorzeit, in deren Dunkel oft nur der schärfste Blick und die gespannteste Aufmerksamkeit richtig beobachtet“. 95 Giesebrecht, Entwicklung, 11. 96 Ebd., 11–13, die Geschichtswissenschaft gründe sich auf einem „Streben nach objektiver Wahrheit und Unpartheilichkeit“ (13), der er zudem noch die „deutsche Gründlichkeit“ (14) an die Seite stellte, durch die deutsche Historiker ihren europäischen Kollegen fraglos überlegen seien. 97 O. A., Protestantische Elemente in Giesebrecht's Kaisergeschichte, in: Der Katholik. Zeitschrift für katholische Wissenschaft und kirchliches Leben 10/2/1863, 221–230, 318–331 und 439– 460; 12/2/1864, 329–358 und 568–584; 13/1/1865, 191–209. 98 Der konfessionelle Gegensatz des protestantischen ‚Preußen‘ Giesebrecht gegenüber dem tief verwurzelten bayrischen Katholizismus wurde ihm, der bereits bei seiner Antrittsrede abschließend verkündet hatte, „Sie wissen, daß ich Preuße bin, und Sie wissen, daß ich Protestant bin“, nicht nur nach seinem Wechsel nach München vorgeworfen, sondern auch in einer 1865 in Mainz anonym erschienenen Polemik zum Vorwurf gemacht, die publiziert wurde, als er versuchte, den durch ein spezielles Examen ausgebildeten Fachlehrer für Geschichte in der Prüfungsordnung zu verankern; O. A., Giesebrecht’s Geschichtsmonopol im paritätischen Bayern, Mainz 1865, etwa 19.

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kritisierten etwa die antikatholische, protestantische Haltung des Autors, durch die er eine ‚falsche‘ Wahrheit der Epoche vermittelt habe99. Der tschechische Pädagoge Jan Lepař wiederum störte sich an der dezidierten Verherrlichung der ‚deutschen‘ Kaiser mit ihrer vermeintlich abendländischen Mission100, während sich der Schweizer Historiker Eduard Fueter rückblickend gegen den „prononciert pädagogische[n] Charakter“ der Bände stellte101. Der allgemeine Tenor der Fachwelt war dagegen zunächst ein anderer: „Sie haben“, so Ranke 1878 in einem Brief, zu Ihrem großen Werke eine doppelte Begabung mitgebracht, die der Kritik und der liebevollen, durchsichtigen, zuweilen an das Poetische der Volksbücher streifenden, zugleich durch und durch patriotischen, ich möchte sagen, zugleich männlichen und doch kindlichen Darstellung. So ist denn auch Ihr Erfolg über alle Erwartungen, die man hegen konnte, groß gewesen. Es ist ein Werk, das in die Zeit und deren Bewegung hineingewachsen ist 102.

Die Fachkollegen Ernst Dümmler103, Wilhelm Wattenbach104 oder Max Büdinger105 hatten bereits unmittelbar nach dem Erscheinen des ersten Bandes positive Besprechungen verfasst. Teilweise erweiterten sich die unmittelbaren Rezensionen auch zu eigenständigen Beiträgen, die nur kurz auf das gesamte Werk oder den zu besprechenden Band eingingen, um dann einzelne Punkte oder Ergebnisse zu diskutieren106. Die Bandbreite der Äußerungen umfasste darüber hinaus auch Geistesgrößen wie Felix Dahn oder Wilhelm Dilthey. Während ersterer in einer langen Besprechung die grundlegende Anlage und nationale Ausrichtung begrüßte, dabei die universale Aufgabe eines ‚deutschen‘ Kaisers (gegen Sybel) betonte, und einzig die nicht ausreichende Differenzierung zwischen germanisch-deutschem Königtum und römischen Kaisertum monierte107, ist es besonders die Einschätzung des Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Dilthey, die Anlage und Eigenart des Werkes treffend beschreiben: Es mußte als ein Unternehmen von der größten Wichtigkeit für den politischen Bestand unserer Nation erscheinen, zu erkennen, was dies deutsche Kaiserthum in Wirklichkeit gewesen, (…):

99 Er selbst betonte dagegen eine für jede Geschichtswissenschaft notwendige konfessionelle Unparteilichkeit; Giesebrecht, Entwicklung, 14. 100 Jan Lepař, Über die Tendenz von W. Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Prag 1868, etwa 4, 11 oder 20. 101 Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, 489. 102 Leopold von Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte, hg. von Alfred Dove, Leipzig 1890, Nr. 301, 543. 103 In: Literarisches Centralblatt für Deutschland 1855, 685f. (ohne Angabe des Autors). 104 In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 1/1855 (= Jahnsche Jahrbücher für Philologie und Paedagogik 72), 397–402. 105 In: Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 7/1856, 50–60 und 8/1857, 224–232. 106 Etwa: Conrad Varrentrapp, Zur Geschichte der deutschen Kaiserzeit, in: Historische Zeitschrift 47/1882, 385–422. 107 Dahn, Bausteine, 397–419.

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es ist gerade diese objective Erfassung des Gesamtzustandes seiner Faktoren, der Veränderungen in ihm, welche den Hauptvorzug Giesebrechtʼs ausmacht.

Grundlegend sei auf der einen Seite die „Objektivität historischen Auffassens“ als Schüler Rankes sowie auf der anderen Seite der aktuelle Stand der Wissenschaft, durch den Giesebrecht erst in die Lage versetzt worden sei, „eine Arbeit in Angriff zu nehmen, welche für das Bewußtsein der deutschen Nation von ihrer eigenen politischen Vergangenheit ein durch nichts Anderes überbotenes Interesse hat“108. Folglich, so Dilthey in einer weiteren, anonym erschienenen Besprechung109, ruhe das Werk „in der Methode auf der Technik, welche das Resultat der Arbeiten an den Monumenten und der Schule Rankes ist“, und sei „erfüllt von dem seit dem Freiheitskriege in idealem Schwung unser Volk bewegenden Bilde deutscher Volkseinheit und Macht, das uns als ein Ideal aus der Vergangenheit herüberleuchtet“, so dass das „Werk durch streng quellenmäßige und patriotisch begeisterte Darstellung der Kaiserzeit [sucht], auf die Gegenwart zu wirken“110. Für Dilthey ist es also gerade die Gleichzeitigkeit von ‚objektiver‘ Wissenschaft mit dem Anspruch, die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens einzusetzen, durch die sich Giesebrechts Kaisergeschichte ausgezeichnet habe. Dahingehend postulierte sein Schüler Sigmund Riezler noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass „Giesebrecht’s deutsche Kaiserzeit ein Werk“ sei, „das nie ganz veralten“ werde „und auf das die Nation stolz sein darf, weil die der Geschichte eigenthümlichen ethischen Vorzüge darin aufs glücklichste zur Geltung gebracht sind“.111 Doch bereits mit dem Erreichen des Sehnsuchtsortes einer eigenen deutschen Nation hatten sich auch die Bewertungsmaßstäbe zu wandeln begonnen112 und verschiedentliche Kritik wurde vorgebracht. Heinrich von Sybel würdigte, trotz divergenter Anschauung über das eigentliche Wesen und das anzustrebende Ziel mittelalterlicher Kaiserpolitik, in einem Nachruf den Autor zwar als gleichermaßen fähigen ‚Geschichtsforscher‘ wie ‚Geschichtsschreiber‘, doch habe sein Werk, das nicht bloß die Erkenntnis der Vergangenheit befördern, sondern auch der Zukunft seines Volkes dienen [sollte], indem es durch die Schilderung der vergangenen Größe in der Gegenwart das Bedürfnis der nationalen Einheit schärfte, und zugleich in der alten Reichsverfassung ein bewährtes Muster zur Nachbildung vorführte,

108 Wilhelm Dilthey, Literaturbrief, in: Westermanns Monatshefte 40/1876, 106ff. (ND, in: ders., Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, 3. Literaturbrief, 13–21, Zitate 14). 109 Wilhelm Dilthey, Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859–1874, hg. von Ulrich Herrmann (Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften XVI), Göttingen 1972, 29–45. Nachdruck der Besprechungen: Preußische Zeitung 19 (12.01.1861), 2f. / 21 (13.01.1881), Beilage, 1 / 23 (15.01.1861), 1 / 25 (16.01.1861), 3 und Beilage, 1. 110 Ebd., 32f. (Preußische Zeitung 19 vom 12.01.1861, 3). 111 Riezler, Giesebrecht, 345. 112 Siehe bereits das Vorwort von Bernhard von Simson im 6. Band des Werkes: Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 6, Vorwort von Bernhard von Simson, V–VIII.

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das selbstgesteckte Ziel verfehlt, was Giesebrecht auch selbst bereits erkannt habe113. Für Ernst Bernheim war Giesebrecht ein Beispiel „pragmatischer“ Geschichtsschreibung, was für Bernheim bedeutete „das Leben und Thun [einer Person] als Beispiel der Vaterlandsliebe oder Tugend, Religion u.s.w.“ darzustellen114, während Georg von Below ihn als ‚politischen‘ Historiker einstufte, der es als „Aufgabe des Geschichtschreibers“ angesehen habe, „politisch auf das Publikum zu wirken“115. In ähnlicher Weise wurde beanstandet, dass Giesebrecht grundsätzlich zu wenig systematisiert und wichtige Themenbereiche, etwa die Kulturgeschichte, zu wenig berücksichtigt habe116. In den einschlägigen Literaturüberblicken beziehungsweise Darstellungen der Geschichte der (deutschen) Geschichtswissenschaft wurde in der Folge auf die „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ oftmals gar nicht mehr eingegangen117, oder ihr Autor nur peripher gestreift118. Walter Goetz erkannte zwar Giesebrechts „Gelehrsamkeit“ und die „an Ranke geschulte Methode“ an, beurteilte ihn aber im Vergleich zu dem zeitgleich in München lehrenden Carl Adolph Cornelius als „[i]m Grunde (…) wissenschaftlich und menschlich nicht sehr bedeutend“ und postulierte, dessen aufgrund der ‚Kaisergeschichte‘ erworbener „Ruhm“ sei gesunken, „je mehr sich die mittelalterliche Forschung vertieft“ habe119.

113 Heinrich von Sybel, Giesebrecht und Döllinger. Eröffnungsrede zur Versammlung der Historischen Kommission (1890), in: ders., Vorträge und Abhandlungen. Mit einer biographischen Einleitung von C. Varrentrapp, München/Leipzig 1897, 321–335, Zitat 325. 114 Ernst Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie. Mit Nachweis der wichtigsten Quellen und Hilfsmittel zum Studium der Geschichte, Leipzig 5./6. neubearb. Aufl. 1908, 38 (3./4. Aufl. 1903, 32). 115 Below, Geschichtsschreibung, 53. 116 Etwa (mit grundsätzlicher Würdigung): Srbik, Geist und Geschichte, 296: „Wenngleich das Werk ganz überwiegend politische und Personengeschichte ist und von Rankes großer Beachtung der geistigen und künstlerischen, ja selbst der rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abweicht, und wenn auch die Breite und Pathetik den Leser leicht ermüdet und die Höhe des Geistesfluges nicht recht befriedigt (…)“ habe das Werk „bei aller Unvollkommenheit durch ihr Eigenwesen (…) einen ansehnlichen Platz in der Geschichte der deutschen Historiographie“. 117 Etwa: Moritz von Ritter, Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft. An den führenden Werken betrachtet, München/Berlin 1919; Walter Goetz, Die deutsche Geschichtschreibung des letzten Jahrhunderts und die Nation (Vorträge der Gehe-Stiftung zu Dresden 10/2), Leipzig 1919 mit einem kurzen Verweis auf den publizistischen Erfolg (12). 118 Below, Geschichtsschreibung, 34: „Aber wir vermissen doch in seiner Schilderung die energische Frage nach den hinter den wertvollen Einzelheiten stehenden Ideen“. Kurze Bezugnahmen auch auf 28 und 43, ohne tiefergehende Beschäftigung mit Giesebrecht. 119 Walter Goetz, Die bairische Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 138/1938, 255–314, Zitate 297.

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In einer zu Beginn der 30er Jahre erschienenen ideengeschichtlichen Dissertation über die „Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung“, in der Giesebrecht den Endpunkt des Untersuchungsgegenstandes markiert120, wurde dann in einem gewissen Sinne resümierend festgehalten: Der erste Band der Geschichte der deutschen Kaiserzeit mit seinem emphatischen, nicht immer das Banale meidenden Stil läßt nach der Lektüre den Eindruck zurück, daß das Wunschbild des Verfassers von deutscher Macht und Herrlichkeit das kritische Urteil zurückdrängt, und man muß schon schärfer zusehen, wenn man die Elemente einer kühleren und skeptischeren Auffassung der deutschen Reichsgeschichte entdecken will, die dann allerdings in den späteren Bänden viel stärker in den Vordergrund treten121.

Spätestens jetzt war das „monumental masterpiece“122 obsolet und damit Wissenschaftsgeschichte geworden. 1964 erkannte Hermann Heimpel dann in dem „veralteten Werke“ aufgrund der „wissenschaftliche[n] Treue der Erzählung wie der den Bänden beigegebenen ‚Beweise‘“ nur noch ein „Behelf der Forschung“ sowie ein „Zeugnis verehrungswürdiger Gelehrsamkeit“123. Und Rudolf Schieffer beendete seine 2010 erschienene biographische Skizze zwar ebenfalls mit einem Verweis auf die Leistung Giesebrechts und seiner Generation für die „Konstituierung von Geschichte als einer ihrer selbst bewußten Disziplin und für deren Fundierung in systematischer Quellenkritik“, doch aufgrund seiner Prämissen wie thematischen Ausrichtung sei das Werk selbst – so das abschließende Urteil – in die Ferne gerückt124. Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass in der aktuellen Forschung die „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ nur noch als Spiegel gleichsam anachronistischer wie veralteter Urteile dient oder (wie die „Jahrbücher“) als Zettelkasten der politischen Ereignisgeschichte.

120 Walter Schieblich, Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht (Historische Abhandlungen 1), Berlin 1932, zu Giesebrecht 129–149: „So hat sich denn Giesebrechts Darstellung der Kaisergeschichte auf eine Geschichte der inneren und äußeren Machtstellung des deutschen Kaisertums reduziert. Die einzelnen Kaiserideen, die theokratische und die organische, die nationaldeutsche und selbst die universalhistorische, sind entschieden zurückgetreten. (…) Mit dem späteren Giesebrecht beginnt die eigentliche Zeit der wertfreien Tatsachenforschung auf dem Gebiete der Kaisergeschichte, die Ideengeschichte unseres Problems ist mit ihm zu Ende“ (147). 121 Schieblich, Auffassung, 129. 122 Fred Hoover, Giesebrecht, Wilhelm von, in: Kelly Boyd (Hg.), Encyclopedia of Historians & Historical Writing, 2 Bde., London/Chicago 1999, Bd. I, 464–465, hier 465. 123 Hermann Heimpel, Giesebrecht, Friedrich Wilhelm Benjamin von, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 6/1964, 379–382, Zitate 381f. 124 Schieffer, Giesebrecht, 135f.

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* In einem seitenstarken Aufsatz hat Stephanie Kluge jüngst die „Bewertung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die frühe bundesrepublikanische Mediävistik“ unter der titelgebenden Leitfrage „Kontinuität oder Wandel?“ untersucht und dabei festgehalten, dass sich „[i]n der Gesamtbilanz (…) ein heterogenes Bild deutlich erkennbarer Kontinuitätslinien auf[spannt]“ und „sich viele maßgebliche Mediävisten in ihrer Beurteilung hochmittelalterlicher Königsherrschaft auch in bundesrepublikanischer Zeit noch deutlich in den vor 1945 entwickelten Zugängen bewegten“125. Doch setzt ihre Untersuchung126, die insbesondere den Aspekt der ‚Macht‘ mittelalterlicher Herrscher thematisiert, zeitlich erst mit der Mediävistik der Weimarer Republik ein, so dass die Grundlagen dieser Ausrichtung verdeckt blieben. Eine entscheidende Funktion dürfte hierbei dem monumentalen Werk Giesebrechts zukommen, das als Verbindung von „höchster Gelehrsamkeit und den leichteren Elementen der Popularität“127 eines der wichtigsten Werke der (deutschsprachigen) Mediävistik war und trotz seiner ‚Ferne‘ immer noch ist. Der Schüler Rankes128, der selbst keine eigene Schule ausbildete129, ebnete nicht nur den Ausrichtungen der ‚Herrscherfixierung‘ und ‚Staatskonzentration‘ die 125 Stephanie Kluge, Kontinuität oder Wandel? Zur Bewertung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die frühe bundesrepublikanische Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 48/2015, 39–120, Zitat 119. 126 Die von Kluge gezogenen Linien der Mittelalterforschung der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts dürfen jedoch keineswegs verabsolutiert werden. Mit Eugen Rosenstocks Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250 (Leipzig 1914), Alexander Cartellieris vierbändiger Arbeit über Philipp II. August, König von Frankreich (Leipzig 1899–1922) oder Fritz Kerns Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter (Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Leipzig 1914) gab es gerade in der Zeit der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts durchaus innovative Ansätze, über die eigene Nation hinausgehende Interessen oder ungewöhnliche Perspektiven, die in unterschiedlicher Art und Weise rezipiert wurden. Zu Rosenstocks Werk die Besprechung von Walter Platzhoff (In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 35/1914, 524–527); zu Otto Cartellieri: Matthias Steinbach, Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland (Jenaer Beiträge zur Geschichte 2), Frankfurt am Main 2001; und zu Fritz Kern: Johannes Liebrecht, Fritz Kern und das gute alte Recht. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 302), Frankfurt am Main 2016, besonders 9–40. 127 So Heimpel mit Verweis auf Lord Acton (s. Anm. 130): Heimpel, Giesebrecht, Friedrich Wilhelm Benjamin von, 381. 128 Ranke zählte Giesebrecht (neben Sybel und Waitz) wohl zu seinen wichtigsten Schülern und bezeichnete ihn in seinen Briefen, die durchaus auch private Bereiche streiften, wiederholt als „Freund“; Ranke, Zur eigenen Lebensgeschichte, Nr. 290, 532. 129 Walter Goetz nannte als Schüler Giesebrechts, „die in der Wissenschaft weiter arbeiten konnten“, Karl August Heigel (*25. März 1835 in München; †6. September 1905 in Riva del Garda), Sigmund (Otto) Riezler (*2. Mai 1843 in München; †28. Januar 1927 in Ambach oder München), Henry Simonsfeld (*15. Oktober 1852 in Mexiko-Stadt; †5. April 1913 in München) und Edmund Freiherr von Oefele (*6. Dezember 1843 in Ziegetsdorf; †24. November 1902 in München); Goetz, Die bairische Geschichtsforschung, 298. Heigel verwies aus Giesebrechts

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Bahn, sondern wirkte auch in seiner Methode, der kritisch-strengen Quellenbindung im Geiste Rankes130, für die deutsche Mittelalterforschung stilbildend. Er tat dies in Symbiose mit den „Jahrbüchern der deutschen Geschichte“, an denen Giesebrecht von Anfang an beteiligt war, und die mit ihrer Beharrlichkeit der jahrweisen Darstellung und ihren ausufernden Anmerkungen konsequente Grundlagenforschung betrieben. Davon hob sich Giesebrechts Kaiserzeit mit ihrer moderaten Form ab131 (weswegen den Jahrbüchern eine längere Halbwertzeit zukommt), doch gehen beide Konzepte auf denselben Geist (Rankes) zurück132. Und auch wenn sich während der langen Entstehungszeit bestimmte Zielsetzungen und Voraussetzungen veränderten, sein Werk wenig proportional erscheint und von unhaltbaren (romantisch-romantisierenden) Werturteilen wie augenfälligen Inkonsistenzen geprägt ist, hat es einen nicht zu verkennenden Anteil an der thematisch-inhaltlichen wie methodischen Formierung der deutschen Mediävistik im 19. Jahrhundert und der daraus folgenden Mittelalterforschung der Weimarer Republik, indem es den festen Boden einer Gesamtdarstellung lieferte (die die Jahrbücher aufgrund ihrer lückenhaften Entstehung nicht boten), auf die aufgebaut werden konnte133. In einem übertragenen Sinne könnte man insbesondere den ersten Band damit auch als ‚Urknall‘ der deutschen Mediävistik begreifen. Trotz aller Kritik bildet die „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ damit ein bis heute wichtiges Fundament der Mittelalterforschung. Wenngleich dies nicht unbedingt bedeutet, dass es lohnenswert erscheint, die über 5000 Seiten in Gänze neu zu lesen, dürfte es doch weiterführend sein, die Geschichtlichkeit der eigenen Bestände weiter auszuloten.

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Königsberger Zeit noch auf Bernhard Simson (*19. Februar 1840 in Königsberg, Ostpreußen; †15. August 1915 in Berlin); Heigel, Giesebrecht, 316. In hagiographischer Topik: Giesebrecht, Gedächtnisrede, 14f.: „Indem er [Ranke] vor unseren Augen arbeitete, wurden wir selbst zur Arbeit hingerissen. Um was es sich handelte, war einzig und allein die Anwendung der richtigen Methode in der Geschichtsforschung, und die wurde nicht in abstracten Regeln gelehrt, sondern unmittelbar in der Uebung, sei es, dass sie der Meister selbst an ihn gerade beschäftigenden Objecten zeigte oder dass er unsere Elaborate seiner Kritik unterwarf. Er konnte in helles Lachen und wahren Jubel ausbrechen, wenn es ihm gelang, die falsche Tradition zu vernichten und den historischen Vorgang so darzulegen, wie er gewesen sein musste“. Dazu auch: John Acton, German Schools of History, in: The English Historical Review 1/1886, 7–42, hier 22: „(…) Giesebrecht, the only critical historian of the middle ages who is a popular classic, who occupies a moderating position between extremes, is peculiarly cautious against the solicitations of doubt“. Dazu auch aus englischer Perspektive: Acton, German Schools of History, 29: „This [die Preisfrage Rankes über das Leben Heinrichs I., aus der sich das Konzept der Jahrbücher entwickelte] was the foundation of what has been for so long incomparably the first school of history in the world, not for ideas or eloquence, but for solid and methodical work“. Wattenbach beginnt seine Rezension des ersten Buches (wie Anm. 104) mit dem Hinweis, dass „über die wichtigsten, einfluszreichsten Verhältnisse“ entweder die Untersuchungen noch gänzlich fehlten oder es widersprüchliche Meinungen gebe (397), so dass die Ankündigung Giesebrechts, den er als ausgewiesenen Experten, in dem sich die Gabe zur Darstellung „mit der Neigung und dem Geschick zur kritischen Forschung“ verbinde, charakterisierte, „überall mit groszen Erwartungen aufgenommen worden“ sei (398).

DAS MODELL DER SUBJEKTIVEN AUTHENTIZITÄT FÜR DIE ANALYSE PUBLIZIERTER TAGEBÜCHER AM BEISPIEL DER TAGEBÜCHER ERICH EBERMAYERS 1933–19391 Peter Henning Der vorliegende Artikel macht der Geschichtswissenschaft den Vorschlag mittels des Modells der subjektiven Authentizität zu einem adäquaten Umgang mit gedruckten Tagebüchern zu kommen, gerade dann, wenn diese Tagebücher eine äußere Quellenkritik nicht bestehen. Bisher wurden solche Quellen meist nicht weiter beachtet, doch man kann mit dem Modell der subjektiven Authentizität, die in solchen Quellen erhaltene innere Authentizität aufspüren und so aus den Quellen valide historische Aussagen generieren. Dabei arbeitet dieser Beitrag nicht rein geschichtstheoretisch, sondern sucht seine Erkenntnisse auch an einem konkreten Fallbeispiel, den Tagebüchern Erich Ebermayers von 1933–1939, zu verifizieren. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist der aktuell in den Geisteswissenschaften häufig verwendete Begriff der „Authentizität“, der eingehend in seinen verschiedenen Bedeutungsfacetten analysiert wird. Des Weiteren werden die wichtigsten literaturwissenschaftlichen Methoden und Begrifflichkeiten vorgestellt, die jeglicher Arbeit mit Tagebüchern zu Grunde liegen sollten. Das Untersuchungsmaterial sind die publizierten Tagebücher des Schriftstellers Erich Ebermayer. Die Genese der Tagebücher sowie die Biographie Ebermayers werden in der gebotenen Prägnanz dargestellt. Ebermayers Tagebücher eignen sich besonders gut, um das Modell der subjektiven Authentizität zu exemplifizieren, da sie nachträglich bearbeitet wurden und nicht tagesaktuell verfasst sind. Dennoch kann man aus ihnen eine Menge historisch relevanter Erkenntnisse gewinnen, wenn man in der Lage ist, mittels fruchtbringender Analysemethoden ihre innere Authentizität herauszuarbeiten.

EINLEITUNG Der Begriff der Authentizität erfuhr in den vergangenen Jahren eine immense Aufmerksamkeit sowohl innerhalb der öffentlichen Medien als auch in verschiedensten Wissenschaftsbereichen. Es besteht eine gesellschaftlich „große Nachfrage nach Authentizität.“2 Die Ursachen für diesen „Boom“ scheinen in dem Verlangen der

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Dieser Aufsatz ist im Rahmen meines Dissertationsprojekts zu Erich Ebermayer bei Prof. Dr. Wolfram Pyta, Universität Stuttgart entstanden. Susanne Knaller, Original, Kopie, Fälschung. Authentizität als Paradoxie der Moderne, in: Martin Sabrow/Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016, 44–61, 44.

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Menschen zu liegen, den Verlust des Subjekts in der Postmoderne zu überwinden. „Authentizität“ soll dem Subjekt helfen, sich seiner Selbst zu vergewissern.3 Eingedenk der gesellschaftlichen Aktualität sind auch im Wissenschaftssystem Forschungen über Definition, Erzeugung, Wahrnehmung, Rezeption und Diskurse der Authentizität in Gang gekommen. Hierbei zeichnet sich vor allem die Literaturwissenschaft, mit Analysen zur Ästhetik der Authentizität oder mit textanalytischen Arbeiten zur Erzeugung von Authentizität aus.4 In der Geschichtswissenschaft, für die der Begriff Authentizität eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, scheint allerdings nur wenig Interesse an theoretischen Forschungen zum Authentizitätsbegriff zu bestehen. Historische Studien, die mit einem theoretisch elaborierten Authentizitätsbegriff arbeiten, gibt es kaum.5 Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an der Arbeit mit einem komplexen, postmodernen Authentizitätsbegriff auch in der Geschichtswissenschaft – sichtbar vor allem im Leibniz-Forschungsverbund zur historischen Authentizität6 – erwacht. Im ersten Sammelband des Forschungsverbundes wird dann das Arbeitsgebiet auch möglichst großflächig erschlossen, es gehe um „das Phänomen der Authentisierung von Vergangenheit überhaupt.“7 Dabei wird der Geschichtswissenschaft die Aufgabe zugewiesen, Antworten auf Fragen zu formulieren wie „was wurde zu welcher Zeit für authentisch gehalten? Warum führten die zeitgenössischen Akteure die Kategorie authentisch ins Feld?“8 In dieser Konzeption wird Authentizität – und deren Erzeugung – als zu erforschendes Objekt der Historiographie gesehen. Nicht gesehen wird hierbei, wie die Geschichtswissenschaft selbst mit den verschiedenen Authentizitätsbegriffen umgeht. Der Authentizitätsbegriff der Geschichtswissenschaft selbst muss in den Blick genommen werden, erst dann kann man sich überhaupt mit Authentizität als Forschungsobjekt beschäftigen. Von dem her nimmt die vorliegende Studie die Perspektive der Historik ein. 3

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Siehe hierfür Antonius Weixler, Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt, in: ders. (Hg), Authentisches erzählen. Produktion, Narration, Rezeption, Berlin/Boston 2012, 1–32, 7–8. Neben dem von Weixler (Anm. 3) herausgegebenen Sammelband siehe auch den Sammelband Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006. Man möchte allenfalls Avishai Margalit/Gabriel Motzkin, Anstifter und Vollstrecker: Hannah Arendts Authentizitätsbegriff als Kriterium zu Beurteilung Adolf Eichmanns, in: Gary Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited. „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt a. M. 2000, 202–227, zitieren, doch wird beim Lesen des Aufsatzes schnell klar, dass es sich vielmehr um eine existenzialphilosophische Abhandlung am historischen Fallbeispiel Adolf Eichmanns handelt, als um eine historische Studie. Siehe Anm. 2. Martin Sabrow/Achim Saupe, Historische Authentizität. Zur Kartierung eines Forschungsfeldes, in: dies. (Hg.), Historische Authentizität, 7–28, 10. Andrea Rehling/Johannes Paulmann, Historische Authentizität jenseits von „Original“ und „Fälschung“. Ästhetische Wahrnehmung – gespeicherte Erfahrung – gegenwärtige Performanz, in: Sabrow/Saupe (Hg.), Historische Authentizität, 91–125, 99–100.

Das Modell der subjektiven Authentizität

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Dass dies bisher noch nicht geschah, wird vor allem darin begründet sein, dass der Begriff der Authentizität in der Geschichtswissenschaft reserviert ist für die äußere Quellenkritik, die nach Entstehung, Originalität und Authentizität der überlieferten Quelle fragt.9 Die Frage nach Authentizität klärt darüber auf, „ob der genannte Autor den Text auch wirklich geschrieben hat, ob der Text in der Form überliefert ist, in der ihn der Autor abgefasst hat und ob er wirklich aus der Zeit stammt, aus der er zu stammen vorgibt.“10

Damit ist das immense Potential des Begriffes jedoch noch lange nicht ausgereizt. Durch Anleihen bei Nachbardisziplinen wie der Philosophie und der Literaturwissenschaft kann man für die Geschichtswissenschaft einen theoretisch fundierten Authentizitätsbegriff erarbeiten, den man fruchtbringend für die innere Quellenkritik, d.h. für die Interpretation historischer Quellentexte, verwenden kann. Im Folgenden wird dies versucht. Dazu wird zuerst ein allgemeiner Authentizitätsbegriff vorgestellt, um die Anwendbarkeit dieses Begriffes für die Geschichtswissenschaft zu exemplifizieren. Danach wird das poetische Konzept der subjektiven Authentizität genauer erläutert. Die Validität des Konzeptes wird sodann bei der Interpretation einer historischen Quelle, genauer gesagt den publizierten Tagebüchern Erich Ebermayers aus der NS-Zeit, getestet. Diese werden vorher einer (äußeren) Quellenkritik unterzogen, genauso wie der tendenziell unbekannte Autor der Tagebücher in einer biographischen Skizze kurz vorgestellt wird. Da das Analysematerial ein publiziertes und bearbeitetes Tagebuch ist, können die am einzelnen Text gewonnen Erkenntnisse auch auf weitere Texte dieser Art appliziert werden. Dafür scheint es aber nötig, auch einige Erklärungen zur Gattung des Tagebuches und zum Tagebuchschreiben einfließen zu lassen. Der Authentizitätsbegriff bildet hierbei den roten Faden der Erklärungen. Ziel der Arbeit ist es, zu zeigen, dass mittels eines elaborierten Authentizitätsbegriffes auch aus publizierten und bearbeiteten Tagebuchtexten gewichtige historische Erkenntnisse zu generieren sind. Erkenntnisse, die nicht gewonnen werden könnten, beurteilte man diese Quellen allein nach ihrer „äußeren“ Authentizität, da sie hier leicht in Ungnade fallen und man sich folglich nicht weiter mit ihnen beschäftigt.

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Klaus Arnold, Quellenkritik, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, 255–257. 10 Ernst Opgenoorth/Günther Schulz: Einführung in das Studium der Neueren Geschichte, 7. Aufl., Paderborn 2010, 185.

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I. FACETTEN DES AUTHENTISCHEN Der Begriff „Authentizität“ reicht bis in die griechische Antike zurück. Authentizität meint hier „Urheber“ und wurde schon von den griechischen Kirchenvätern zur Bezeichnung von Echtheit verwendet.11 Bereits hier wird der Begriff legitimatorisch in Bezug auf Schriftstücke verwendet, man bezeichnet damit ihre Verbindlichkeit und Rechtmäßigkeit.12 Über die Jahrtausende hinweg hat sich diese Grundkonstellation – bei aller inhaltlicher Erweiterung des Begriffes vor allem ab dem 18. Jahrhundert13 – erhalten: „Der Begriff des ‚Authentischen‘ unterliegt keiner buchenswerten Veränderung.“14 Im heutigen Alltagsgebrauch wird „Authentizität“ referentiell verwendet und meint eine Übereinstimmung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, in dem Sinne, dass die Authentizität quasi im Objekt selbst, als ontologische Qualität enthalten ist.15 Diese Begriffsverwendung ist unberührt von den in die Geisteswissenschaften Mitte des 20. Jahrhunderts eingezogenen Diskursen der Postmoderne. Im heutigen Wissenschaftssystem müssen Definitionen mit ontologischer Referenz als unterkomplex erscheinen und folglich wurde auch für den Authentizitätsbegriff statt einer referentiellen eine relationale Beschreibung entwickelt, als deren Kern die Erkenntnis gilt, dass Authentizität ein Ergebnis verschiedener Zuschreibungs- und Beglaubigungsprozesse ist. Sie ist damit nicht gegeben, sondern wird stets neu verhandelt.16 Aufbauend auf verschiedenen Definitionsversuchen und Bedeutungsfacetten des Begriffes hat Antonius Weixler eine komplexe Systematisierung verschiedener Authentizitätsbegriffe für den Bereich schriftlicher Texte erarbeitet17, von der für unsere Arbeit vor allem die Unterscheidung zwischen Subjekt-Authentizität und Objekt-Authentizität von Interesse ist. Objekt-Authentizität ist bezogen auf die außerhalb des Textes liegende „Wirklichkeit“. „Wirklichkeit“ darf hier allerdings nicht als ontologischer Begriff ver-

11 K Röttgers/R. Fabian, Authentisch, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1: A–C, Darmstadt 1971, Sp. 691–692. Der von E. Krückberg verfasste Artikel zu „Authentizität“ muss als misslungen bezeichnet werden, da hier eine rein marxistische Darstellung vorliegt. 12 Weixler, Authentisches erzählen, 6. 13 Sabrow/Saupe: Historische Authentizität, 15–16, führen das neuzeitliche Authentizitätsverständnis auf die „Sattelzeit“ zwischen 1750 und 1850 zurück; Weixler, Authentisches erzählen, 4–5, weist auf die Vorreiterrolle der Autobiographie Jean-Jacques Rousseaus bei der Bildung eines modernen Authentizitätsbegriffs hin; Knaller, Original, Kopie, Fälschung, 47, erklärt die heutige Bedeutung des Begriffes vorrangig aus der Philosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. 14 Klaus Grubmüller/Klaus Weimar, Authentizität, in: Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1: A–G, Berlin/New York 1997, Sp. 168–169, 168. 15 Weixler, Authentisches erzählen, 8 und 14. 16 Knaller, Original, Kopie, Fälschung, 49 und 61; Weixler, Authentisches erzählen, 8 und 12. 17 Weixler, Authentisches erzählen, 12ff.

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standen werden. Denn jede ernsthafte Wissenschaftstheorie stellt heute „die Unmöglichkeit einer „authentischen“, unmittelbaren Referenz zwischen „Wirklichkeit“ und medialer Kommunikation fest.“18 Objekt-Authentizität kann also nur die Art und Weise bezeichnen, mit der ein Verhältnis zwischen Text und außertextueller Wirklichkeit gestaltet wird.19 Wird der Begriff Authentizität in Bezug auf ein bestimmtes Individuum verwendet, kann man ganz allgemein von Subjekt-Authentizität sprechen. Hier geht es darum, dass der Rezipient den „Inhalt einer Äußerung als ‚wahrhaftig‘ oder ‚original‘ im Hinblick auf den Urheber der Äußerung“ bewertet.20 Eine Sonderform hierbei ist die von Weixler so genannte Individual-Authentizität, diese liegt dann vor, wenn ein Text eine Einheit von Erzähler, Autor und Figur darbietet und der Rezipient den Text dementsprechend als aufrichtige, ehrliche, echte, wahrhafte Äußerung eines ganzheitlichen Ichs versteht.21 Diese Form der Einheit entsteht etwa durch die literarische Gattung des Tagebuchs mit dem ihr inhärenten biographischen Pakt. Mit dem für die praktische Anwendung gebildeten Begriffsrepertoire des Geschichtsdidaktikers Hans-Jürgen Pandel kann man hier auch von Erlebnisauthentizität sprechen. Diese ist dann gegeben, wenn der Text glaubhaft machen kann, dass die vom Erzähler geschilderten Erfahrungen und Erlebnisse, sowie deren innerpsychische Verarbeitung „in der betreffenden Situation tatsächlich so empfunden wurden.“22 Diese Art der Authentizität ist allerdings, so auch Pandel, „kaum mit den üblichen historischen quellenbezogenen Mitteln nachweisbar.“23 Pandels Aussage ist zuzustimmen, man muss sie sogar erweitern: nicht nur Erlebnis-Authentizität, sondern schlicht jede Art von Authentizitätszuschreibung muss auf Grund der Vielfalt und der Komplexität des Begriffs mit neuen Mitteln für die Historiographie fruchtbar gemacht werden. Die Zeiten, in denen die Authentizitäts-Zuschreibung einer Quelle allein davon abhing, ob der Autor den Text zur genannten Zeit so verfasst hat, sind vorbei. Damit verliert man – für die Postmoderne typisch – ein Stück liebgewonnene und doch trügerische Gewissheit, jedoch gewinnt man einen adäquaten Zugang zu jeglichen historischen Quellen; vor allem auch zu solchen, die einer Authentizitätsprüfung im „klassischen“ Sinne nicht standhalten und die deshalb oftmals nicht mehr von der historische Forschung wahrgenommen werden.

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Ebd., 13. Ebd. Ebd., 14f. Ebd., 12f. Hans-Jürgen Pandel, Authentizität, in: Ulrich Mayer et al. (Hg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 2. überarb. und erw. Aufl., Schwalbach/Ts. 2009, Sp. 30–31, hier 31. Wie so oft in der Didaktik, arbeitet dieser Beitrag wissenschaftlich unterkomplex, dafür aber mit hohem Anwendungsbezug und guter Verständlichkeit. 23 Ebd.

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II. SUBJEKTIVE AUTHENTIZITÄT UND INNERE AUTHENTIZITÄT Der Begriff subjektive Authentizität bezeichnet das poetologische Programm der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf zwischen 1964 und 1975.24 Mit diesem Konzept versucht Wolf sich vom offiziellen Literaturverständnis des sozialistischen Realismus zu emanzipieren, indem sie weniger typenhaft schreibt, sondern das schreibende Subjekt in den Mittelpunkt der Dichtung stellt.25 Umgesetzt hat Wolf dieses Konzept vor allem in ihren Romanen Nachdenken über Christa T. (1964) und Kindheitsmuster (1976). Kindheitsmuster markiert zugleich das Scheitern ihrer Bemühungen, als sich herauskristallisiert, dass die Weiterführung dieser poetischen Konzeption zu einer Infragestellung der Machtverhältnisse in der DDR führen müsste.26 Inhaltlich ging es um eine rückhaltlose Selbstaufklärung des Autors durch das Schreiben. „Nicht aus einem vermeintlich objektiven Blickwinkel heraus soll erzählt werden, sondern die individuelle Wahrnehmung und Erfahrung der Wirklichkeit durch das Subjekt stehen im Vordergrund des Interesses.“27

In Kindheitsmuster werden vergangene Erlebnisse retrospektiv wiedererzählt und wiedererinnert. Dies soll zu einem authentischen Nacherleben von damals verpassten Emotionen führen. Ziel der Erzählerin ist „die Freisetzung unmittelbarer „Erfahrung“ im Akt des Schreibens.“28 Bevor wir dieses Konzept weiter spezifizieren, muss an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass subjektive Authentizität bei Christa Wolf ein Konzept für das Schreiben fiktionaler Texte darstellt. Man kann es also nicht ohne weiteres auf faktuale Texte (wie historische Quellen) anwenden.29

24 Grundlegend hierzu: Barbara Dröscher, Subjektive Authentizität. Zur Poetik Christa Wolfs zwischen 1965 und 1975, Würzburg 1993 und Nadine Jessica Schmidt, Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Exemplarische Studien zu Christa Wolf, Ruth Klüger, Binjamin Wilkomirski und Günter Grass, Göttingen 2014, 101–162; informativ auch Genia Schulz, Christa Wolf, in: Bernd Lutz (Hg.), Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. überarb. und erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 1994, 860–864. 25 Schmidt, Konstruktion literarischer Authentizität, 123–131. 26 Dröscher, Subjektive Authentizität, 10 und 175. 27 Schmidt, Konstruktion literarischer Authentizität, 104. 28 Ebd., 120. 29 Die literatur- und erzähltheoretische Debatte um Fiktionalität und Fakutalität kann hier nicht wiedergegeben werden. Stattdessen siehe nur Matias Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 82009; Christian Klein/Matias Martinez, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: dies. (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009, 1–13; und zu einer spezifisch geschichtswissenschaftlichen Betrachtungsweise von Erzählungen siehe Johannes Süßmann, Erzählung, in: Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft, 85–88.

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Allerdings kann man die Grundintention des Konzepts: vergangene Erlebnisse im Akt des Schreibens mit Authentizität auszustatten, auch auf faktuale Texte beziehen. Denn egal ob es sich um die Erzählinstanz eines fiktiven Textes oder ob es sich um die Erzählinstanz eines faktualen Textes mit realweltlichem Geltungsanspruch handelt (wie Erich Ebermayer in seinen Tagebüchern), das Ziel des Schreibprozesses ist dasselbe, es geht „um eine persönliche Betroffenheit, die eine Art „innere Authentizität“ des Subjekts markiert.“30 Mit dem Hinweis auf Innere Authentizität kann der Kreis dieser tour de force durch die verschiedenen Authentizitätsbegrifflichkeiten geschlossen werden, indem wir zur Geschichtswissenschaft zurückkehren. In einem Beitrag zur seinerzeit hitzig geführten Debatte um die Authentizität der Gespräche mit Hitler von Hermann Rauschning (1939) verweist Martin Broszat auf die innere Authentizität des Buches.31 Broszats Stellungnahme ist für uns deshalb von besonderem Interesse, da die Entstehungssituation von Rauschnings Buch ähnlich ist wie die von Erich Ebermayers Tagebüchern. In einem Brief an den Historiker Theodor Schieder vom 22.2.1971 beschreibt Rauschning die Genese seines Buches folgendermaßen: „Ich habe […] ein Gesamtbild aus Notizen, aus dem Gedächtnis und sogar Mitteilungen anderer über Hitler […] zusammengewoben.“32 Dieser Tatsache zum Trotz beharrt Broszat darauf, dass man Rauschnings Buch Quellenwert zuerkennt. Er untermauert dies, indem er auf den Unterschied zwischen äußerer Authentizität und innerer Authentizität einer Quelle hinweist.33 Broszat führt seine Erklärung an dieser Stelle nicht weiter aus. Wir können sie jedoch mit dem bisher Erarbeiteten weiter spezifizieren. Die äußere Authentizität einer historischen Quelle kann im Sinne von Weixler als eine Sonderform der Subjekt-Authentizität angesehen werden, als sogenannte Autor-Authentizität. Damit werden „sämtliche Authentizitätszuschreibungen bezeichnet […], die am Namen und der Autorität des Urhebers festgemacht werden.“34 Diese Art der Authentizität kann mit naturwissenschaftlichen Methoden editionsphilologisch nachgewiesen werden.35 Im historiographischen Bereich kann man zusätzlich untersuchen, ob der in der Quelle beschriebene Sachverhalt übereinstimmt mit der vergangenen Wirklichkeit.36 Dies betrifft dann den Bereich der Objekt-Authentizität.

30 Schmidt, Konstruktion literarischer Authentizität, 118. 31 Martin Broszat, Enthüllung? Die Rauschning-Kontroverse, FAZ, 20. September 1985, auch abgedruckt in: Hermann Graml/Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München ²1987, 249–251. 32 Zit. nach Broszat: Enthüllung?, 249. 33 Ebd., 251. 34 Weixler, Authentisches erzählen, 12. 35 Ebd., 13. 36 Hoffnungslos unterkomplex formuliert, besser: Ob der in der Quelle beschriebene Sachverhalt übereinstimmt mit einem Netzwerk aus anderen textuellen Beschreibungen der vergangenen Wirklichkeit. Des Leseflusses wegen wird diese komplexe Ausdrucksweise im Folgenden nur gedanklich zu Grunde gelegt.

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Entsprechend kann man einer Quelle diese Art von Authentizität absprechen, wenn deutliche Unstimmigkeiten in der Entstehung der Quelle nachgewiesen werden oder wenn es wahrscheinlich ist, dass der dargestellte Sachverhalt so nicht geschah. Insofern ist damit der althergebrachte Begriff der Authentizität einer historischen Quelle im Sinne der äußeren Quellenkritik abgedeckt. Die innere Authentizität verweist demgegenüber auf die subjektive Richtigkeit des Geschriebenen, unabhängig seiner äußeren Bedingungen. Hier geht es nicht so sehr darum, ob das Berichtete tatsächlich genauso wie im überlieferten Text in der vergangenen Wirklichkeit stattgefunden hat, sondern vielmehr darum, ob der Text als authentisch im Sinne des ihn schreibenden Individuums gesehen werden kann und ob das Geschilderte, auch wenn es womöglich genauso nicht real stattgefunden hat, nicht dennoch historisch stimmig ist und daher eine zutreffende Beschreibung der Umstände und Ereignisse liefert. Da hier also nicht der realweltliche Bezug im Vordergrund steht, haben wir es mit einer Form der Subjekt-Authentizität zu tun. Im Falle von Rauschnings Gespräche liefert uns die Beachtung der äußeren Objekt-Authentizität die Erkenntnis, dass die Quelle keineswegs als authentische Wiedergabe von Gesprächen zwischen dem Autor und Adolf Hitler gelten können, dass ihre Form also in hohem Maße als inauthentisch zu bezeichnen ist. Die innere subjektive Authentizität der Quelle besteht jedoch vor allem in Rauschnings „scharfe[r] Beobachtungsgabe und analytische[r] Kraft“37, aus der man zahlreiche gewichtige Erkenntnisse über den Nationalsozialismus in seiner Zeit gewinnen kann. Wir können abschließend die verschiedenen Begrifflichkeiten zusammenfassen, indem wir formulieren, dass es sich bei subjektiver Authentizität um eine Zwischenform der Subjekt- und Objektauthentizität Weixlers handelt, die sich auf der Ebene der Narration, also der Erzählung, realisiert. Genauer ist hier der Sonderfall der Individual-Authentizität, die durch die Übereinstimmung von Autor, Erzähler und Figur charakterisiert ist, gegeben. Zugleich bezieht sich subjektive Authentizität in faktualen Texten mit realweltlichem Geltungsanspruch auf den Bereich, den Weixler der Objekt-Authentizität zuspricht. Dadurch kann Quellentexten dieser Art innere Authentizität zugesprochen werden. Diese Art der quellenbasierten Authentizität ist zu unterscheiden von dem was Weixler als Autor-Authentizität bezeichnet und in der Geschichtswissenschaft als äußere Authentizität einer Quelle angesehen wird. Hier kann es durchaus vorkommen, dass eine Quelle die Überprüfung der äußeren Authentizität nicht übersteht, sie kann dann aber dennoch innere Authentizität aufweisen, die sich in der subjektiven Authentizität des Schrifttextes ausdrückt.

37 Broszat: Enthüllung? Die Rauschning-Kontroverse, 251.

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Authentizitätsbegriffe in der Geschichtswissenschaft. Eigene Darstellung.

III. ERICH EBERMAYER – BIOGRAPHISCHE SKIZZE38 Erich Richard Philip Ebermayer wurde am 14.09.1900 in Bamberg geboren. Er war der einzige Sohn von Ludwig Ebermayer und Angelika Ebermayer (geb. Bouhler). Bereits die Namen der Eltern lassen aufhorchen: Der Vater Ludwig war Oberreichsanwalt der Weimarer Republik und damit der höchste Ankläger dieses Staates39 und die Mutter war die Tante des späteren Reichsleiters Philip Bouhler, zu dem Erich in der Zeit des Nationalsozialismus guten Kontakt hielt. Erich Ebermayer besuchte die renommierte Thomanerschule in Leipzig, studierte nach dem Abitur 1918 Jura und promovierte 1923 mit einer Arbeit zum ita-

38 Biographische Arbeiten zu Erich Ebermayer sind ein Forschungsdesiderat. Siehe nur Dirk Heißerer, „Ein Toter siegt!“ Vorwort, in: Dirk Heißerer (Hg.), Erich Ebermayer: Eh‘ ichs vergesse. Erinnerungen, München 2005, 7–28, sowie die regionalgeschichtlichen Arbeiten von Bernhard Baron, Erich Ebermayer in Kaibitz. Von einem (fast) vergessenen Schriftsteller und Drehbuchautor, in: Oberpfälzer Heimat 58 (2014), 219–229 und der Beitrag von Baron auf dem Literaturportal Bayern zu Ebermayer, einsehbar unter https://www.literaturportal-bayern.de/autorenlexikon?task=lpbauthor.default&pnd=118528599 [letzter Abruf: 23.05.2017]. Daneben finden sich vereinzelt Lexikoneinträge zu Ebermayer. Etwa Gero v. Wilpert (Hg.), Lexikon der Weltliteratur, Bd. I., zweite, erweiterte Auflage. Stuttgart 1975, Sp. 438; Ernst Klee: Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Überarbeitete Fassung. Frankfurt a. M. 2009, Sp. 112. Klee lässt in Bezug auf Ebermayer allerdings wissenschaftliche Neutralität klar vermissen, etwa wenn er ihn auf Seite 636 als »schleimig« beleidigt. 39 Zu Ludwig Ebermayer siehe Andreas-Michael Staufer, Ludwig Ebermayer. Leben und Werk des höchsten Anklägers der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung seiner Tätigkeit im Medizin- und Strafrecht, Leipzig 2010.

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lienischen Strafrecht zum Dr. jr. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt begann Ebermayer literarische Werke zu verfassen. Sein literarisches Debüt war der Novellenband Doktor Angelo (1924). Thomas Mann, mit dem Erich, wie mit seinem Sohn Klaus, später freundschaftlichen Kontakt hielt und den er seit seiner Jugend als literarischen Meister verehrte40, beglückwünschte den jungen Autor mit anerkennenden Worten: Ich kann Ihnen sagen, daß ich die Novellen des Dr. Angelo mit Hochachtung vor Ihrer warmen, ernsten und bewegten Erzählkunst und aller menschlichen Teilnahme, gelesen habe. Lassen Sie sich aufrichtig beglückwünschen zu der schönen Publikation, die Ihrem Talent gewiß viele Freunde werben wird.41

Seit dieser Zeit war Erich Ebermayer ein fester Teil der Leipziger Kulturszene und wurde zunehmend deutschlandweit bekannt. In den folgenden Jahren bewies Ebermayer seine künstlerische Vielfalt: er schrieb Novellen, Romane, Theaterstücke, Hörspiele und versuchte sich zunächst erfolglos als Drehbuchautor.42 Inhaltlich konzentrieren sich Ebermayers frühe Werke zumeist auf Fragen der Jugend und sexuelle Randbereiche; Themen, die auch von einer jungen Generation von Schriftstellern in der Weimarer Republik, unter anderem auch durch Ebermayers Freund Klaus Mann, bearbeitet wurden.43 Hervorzuheben ist hier sein Roman Kampf um Odilienberg (1929) über die Freie Schulgemeinde Wickersdorf.44 Diese Inhalte machten ihn den Nationalsozialisten verhasst.45 Und so nimmt es nicht Wunder, dass auf deren Betreiben Ebermayer seinen Posten als Dramaturg am Leipziger Schauspielhaus nach nur einer Spielzeit im März 1934 räumen musste

40 Erich Ebermayer, Eh‘ ich‘s vergesse, 87f. 41 Brief Thomas Mann an Erich Ebermayer, 2.11.1924, zit. nach: Thomas Mann: Briefe III. 1924– 1932. Ausg. und hrsg. v. Thomas Sprecher, Hans R. Vaget und Cornelia Bernini, Frankfurt a. M. 2001 (Frankfurter Ausgabe 23.1), 94. 42 Einen groben Überblick über die Produktion von Ebermayer findet sich in Peer Baedeker/ Karl Lemke (Hg.), Erich Ebermayer, Buch der Freunde, München 1960, 59–70. 43 Gregor Streim, Einführung in die Literatur der Weimarer Republik, Darmstadt 2009, 76f. 44 Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunkle Seite der Reformpädagogik. Weinheim, Basel 2011, 296–304 analysiert die pädophilen Szenen des Buches und kommt zu dem klaren Urteil, das Buch „ist als Rechtfertigungsschrift des Eros in der Erziehung gedacht und so letztlich auch der pädophilen Wahrnehmung.“ (302). 45 Die SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps zeichnete genüßlich seinen literarischen Werdegang nach, nannte ihn einen „Asphalt-Literaten“, und bemerkte in seiner Novelle Das Tier werde „das Wühlen im Kranken, Verkommen und Schmutzigen […] zum Selbstzweck.“ Dr. P. [=Bernhard Payr], Ein sonderbarer Vertreter des deutschen Schrifttums, in: Das Schwarze Korps, 1.5.1935, zit. nach: Spruchkammerakt Ebermayer, Staatsarchiv Amberg, Spruchkammer Kemnath E30, Nr. 42,42a.

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– ganz zu seiner Zufriedenheit wie er im Tagebuch schreibt.46 Was Ebermayer freilich nicht daran hinderte, den Umstand seiner Entlassung nach 1945 in einer Aufzählung über sein Leid im Dritten Reich in seinem Sinne zu verwenden.47 In den folgenden Jahren versuchte Ebermayer in der Filmbranche Fuß zu fassen, was ihm 1935 auch gelang, als er, zusammen mit Robert Stemmle, das Drehbuch für den Erfolgsfilm Traumulus (1936) schrieb.48 Dies war sein Durchbruch im Filmgeschäft49, es folgten Drehbücher für weitere zwanzig realisierte Filme50, von denen acht ebenfalls mit Filmprädikaten ausgezeichnet wurden.51 Nach Ende des Dritten Reiches nahm Ebermayer seine Anwaltstätigkeit wieder auf, verteidigte unter anderem Emmy Göring, schrieb weitere Bücher und Drehbücher, unter anderem für Canaris (1955) und Die Mädels vom Immenhof (1955). Erich Ebermayer starb am 22.9.1970 in seiner Wahlheimat Terracina an einem Herzschlag. Seine Bücher sind weithin vergessen, sein Name wird in keiner aktuellen Literaturgeschichte erwähnt. Seine Filme sind nur noch Liebhabern bekannt. IV. GENESE VON EBERMAYERS TAGEBÜCHERN Im Frühjahr 1943 reflektiert Erich Ebermayer über die vergangenen zehn Jahre seines Lebens im Dritten Reich. Er will sich selbst „Klarheit“ verschaffen über seinen „Weg der letzten zehn Jahre“, wie er seinem guten Freund Gustav Wyneken schreibt.52 Zu diesem Zweck exzerpiert Ebermayer seine Korrespondenz der vergangenen Jahre und greift auf persönliche Tagebuchnotizen zurück. Diese Rohstoffe möchte er in Textform bringen und er entscheidet sich für die „Tagebuch-

46 Erich Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland… Persönliches und politisches Tagebuch von der Machtergreifung bis zum Dezember 1935, Hamburg/Wien 1959, 279. 47 Erich Ebermayer, Wer darf mitarbeiten?, S. 4, zit. nach: Nachlass Gustav Wyneken. Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, NL Wyneken 444. Dieser Umstand kann für die Authentizitätsprüfung der gedruckten Tagebücher positiv vermerkt werden. Hier scheint Ebermayer noch nicht an eine spätere Verwendung als Rechtfertigung gedacht zu haben, sonst hätte er auch im Tagebuch seine Entlassung als Dramaturg nicht als Befreiung von einer mehr und mehr verhassten Arbeit beschrieben. 48 Der Film wurde mit den höchsten Prädikaten der Filmwelt ausgezeichnet: »staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll« und erhielt den »Nationalpreis«. Zu Filmprädikaten im Dritten Reich siehe Arnold Bacmeister, Film-Prädikate, in: Der Deutsche Film 1942/43, zit. nach: Gerd Albrecht (Hg.), Der Film im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Karlsruhe 1979, 152– 154. 49 Dazu Erich Ebermayer, … und morgen die ganze Welt. Erinnerungen an Deutschlands dunkle Zeit, Bayreuth 1966, 39. 50 Hierzu siehe Baedeker/Lemke (Hg.), Buch der Freunde, 69f. 51 Nachzuprüfen durch die Liste der deutschen Spielfilme in Gerd Albrecht, Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reiches, Stuttgart 1969, 545–557. 52 E. Ebermayer an G. Wyneken, Kaibitz 11.4.1943, NL Wyneken 443.

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Form“, genauer eine „Mischung von Tagebuch und Dichtung.“ Seinen Freund möchte er bei diesem Projekt als Materiallieferanten einbeziehen: Könntest du, sei es aus dem Gedächtnis, sei es aus eigenen Notizen oder Nachsehen in einer gesammelten Zeitung […] mir ganz kurz in Stichworten […] aufnotieren, was jewils [sic] in einem Monat los war?53

Wann immer Ebermayer neben seinen Arbeiten für den Film Zeit fand, wollte er „jede freie Minute zu den Tagebuchnotizen verwenden.“54 In seinem Vorwort zum ersten Band beschreibt er den Entstehungszusammenhang der Tagebücher wie folgt: Die Notizen zu diesen Tagebüchern wurden jeweils am Tage und zu der Stunde, die angegeben sind, in fortlaufend numerierten [sic] Wachstuchheften niedergeschrieben. In den Wintern 1943 und 1944 erhielten sie ihre literarische Formung. 55

Während der zweite Teil mit der Chronologie in den Briefen an Gustav Wyneken übereinstimmt und hier auch deutlich die Formung der Notizen erwähnt wird, ist der erste Teil des Zitats fraglich. Von Wachstuchheften war gegenüber Wyneken keine Rede und die Behauptung, dass die Notizen tagtäglich entstanden sind, muss an Hand der Briefe bezweifelt werden. Ebermayer verwendet das Vorwort als paratextuelles Instrument der Leserlenkung56 und verbrieft mit seiner Erzählung der Wachstuchhefte die materielle AutorAuthentizität des Tagebuches. Darüber hinaus betont er mit der Beschreibung des Aufbewahrungsortes der Tagebücher: „[…] waren Urschrift und Maschinenmanuskripte unter den Dielen meines Arbeitszimmers versteckt“, die Gefährlichkeit seiner diaristischen Tätigkeit. Denn die Bücher „entgingen, fast rätselhafterweise, zwei Besuchen der Gestapo“, wie Ebermayer bemüht ist mitzuteilen.57 Aus den Selbstzeugnissen Ebermayers geht hervor, dass der Tagebuchtext Anteile enthält, die zeitnah entstanden sind, sowie Anteile von späteren, durch die weiteren Ereignisse beeinflussten Überlegungen, und dass diese Anteile nicht mehr sauber zu unterscheiden sind. In solch einem Fall muss der Historiker behutsam versuchen, zeitnahe und spätere Formulierungen zu sondern, will er nicht gefahrlaufen den Formungen des Diaristen zu erliegen. Des Weiteren ist zu überlegen,

53 E. Ebermayer an G. Wyneken, Kaibitz 5.3.1943, NL Wyneken 443. Wyneken hat sich nicht dafür bereit erklärt. Ebermayer fand Ersatz in Paul Weiglin. 54 E. Ebermayer an G. Wyneken, Kaibitz, 29.8.1944, NL Wyneken 443. 55 Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland…, o. S. (7). 56 Dazu siehe Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001. 57 Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland…, o. S. (7). Es ist mir bis jetzt nicht gelungen die Existenz dieser Wachstuchhefte zu verifizieren oder die Tagebuchnotizen Ebermayers zu sichten. Dass es Wachstuchhefte gegeben hat, muss bezweifelt werden; ob die Notizen ergiebig wären, ist zweifelhaft. Die den Nachlass von Erich Ebermayer verwaltende Institution (Monacensia München) hat mir gegenüber erklärt, es befänden sich keine tagebuchartigen Aufzeichnungen in ihrem Besitz. Ich hoffe bis zum Abschluss meines Dissertationsprojekts klare Auskunft zu Existenz und Verbleib möglicher Originalien geben zu können.

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inwiefern die Entstehung im Jahre 1943/44 die Verwendbarkeit der Aufzeichnungen beeinträchtigt oder nicht, d.h. welche Konsequenzen für die Authentizität der Tagebücher als historische Quelle entstehen. Im Optimalfall kann die Authentizität von publizierten Tagebucheinträgen im Vergleich verschiedener Tagebuchfassungen überprüft werden. Die gedruckte und im Verdacht der nachträglichen Überarbeitung stehende Fassung kann, wo vorhanden, mit den original handschriftlichen Aufzeichnungen verglichen werden, um so nachzuweisen, an welcher Stelle Änderungen, Streichungen, Auslassungen, etc. vorgenommen wurden.58 Wo auf solche Originalien nicht zurückgegriffen werden kann, bleibt der Forschung nur die Möglichkeit einer textimmanenten Analyse zur Aufdeckung späterer Hinzufügungen. Die Ergebnisse solcher Arbeitsmethoden mögen zwar nicht so handfest sein wie diejenigen des Versionenvergleichs, doch können sie durch eine inzisionistische Textbetrachtung mitunter gewichtige Ergebnisse zeitigen, die beim bloßen Stellenvergleich übersehen werden könnten. Wo der Vergleich mit Originalaufzeichnungen nicht möglich ist, muss der Historiker aus der Not eine Tugend machen und kann dadurch eventuell Erkenntnisse gewinnen, die vorher so nicht möglich gewesen wären. Dies kann allerdings nur dann geschehen, wenn das Hauptaugenmerk der Betrachtung des Textes auf den literarischen, fiktionalen und narrativen Gehalten liegt. V. TAGEBUCH UND AUTHENTIZITÄT Obschon seit Hayden White jeder Historiker weiß, dass auch Klio dichtet, so ist die Kenntnis literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe in der Geschichtswissenschaft keinesfalls weit verbreitet.59 In Bezug auf die Arbeit mit Tagebüchern ist es nötig, sich Gattungs- und Formmerkmale genauer anzusehen. Zunächst ist festzustellen, dass die literarische Gattung Tagebuch „eine der heterogensten und offensten Gattungen“ darstellt.60 Tagebuchtexte können entweder eine faktuale Erzählung sein oder sie sind fiktional, also eine Erzählung ohne realweltliche Geltung. Der Begriff der „Literarizität“ kann hier eingesetzt werden, um diese fiktiven Tagebuchtexte von faktualen,

58 So z. B. beim Tagebuch der Journalistin Ursula von Kardorff, die inkriminierende Passagen ihrer Originalaufzeichnungen vor der Veröffentlichung frisiert hat. Dazu Susanne zur Nieden, ‚Ach, ich möchte (…) eine tapfere deutsche Frau werden‘. Tagebücher als Quelle zur Erforschung des Nationalsozialismus, in: Berliner Geschichtswerkstatt. (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, 174–186, hier 178. 59 So auch Wolfram Pyta, Politikgeschichte und Literaturwissenschaft, in: IASL 36 (2011), 381– 400, hier 385. 60 Sibylle Schönborn, Art. Tagebuch, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 13: Subsistenzwirtschaft–Vasall, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 222–226, Zitat Sp. 222.

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künstlerisch und literarisch geformten Tagebuchtexten mit realweltlichem Geltungsanspruch zu unterscheiden. 61 Damit kann man prinzipiell drei verschiedene Erscheinungsformen des Tagebuchs aufzeigen. Da wäre erstens: das dem Alltagsverständnis am nächsten kommende Tagebuch als im alltäglichen Gebrauch hergestellter privater Text mit fortlaufender Datierung. Dieser Text kann zweitens: auch mit einer bewussten künstlerischen Intention verfertigt worden sein, besitzt aber immer noch den Bezug zur realen Alltagswelt und Beobachtungssituation des Diaristen. Hier spräche man von einem „literarischen Tagebuch“.62 Und drittens: gibt es das frei erfundene Tagebuch, das nicht die Beobachtungen und Gefühle des realen Autors wiedergibt, sondern die eines fiktiven Erzählers. Dies wäre dann ein „fingiertes Tagebuch“.63 Für die ersten beiden Fälle gilt – wie Jörg Sader formuliert hat – „Autoren-Ich und Tagebuch-Ich sind immer ein und dasselbe.“64 Die Identität zwischen Autor und Tagebuch-Ich wird auch in einem „literarischen Tagebuch“ wie dem von Erich Ebermayer postuliert, auch wenn es sich dabei um ein „literarisiertes und stilisiertes Ego-Dokument“ handelt.65 Das Tagebuch ist durchgehend an die Subjektivität des Diaristen gekoppelt. Daraus resultieren Konsequenzen für die Gestaltung der Inhalte. Im Vordergrund stehen die Erlebnisse und die Bewußtseinsoperationen eines Subjekts, die nicht in gleicher Weise nachweisbar sein müssen wie die Validität und Faktizität der Nachricht. 66

Die im Tagebuch beschriebenen Erlebnisse und Geschehnisse, sowie die Gedanken und Reflexionen zu ebendiesen, werden durch die Einheit von Autor und (Tagebuch)Erzähler verifiziert. Und weil es sich hierbei um dezidiert persönlich-subjektive Erfahrungen handelt, müssen sie nicht eins-zu-eins mit anderen faktualen Texten und Informationen übereinstimmen, um Gültigkeit zu beanspruchen. Und dies gilt selbst dann, wenn Retuschierungen und nachträgliche Überarbeitungen vorgenommen wurden oder von einem bewussten Strukturierungswillen des Autors ausgegangen werden muss.67

61 Siehe Lutz Hagestedt, Der richtige Ort für systematische Überlegungen. Philippe Lejeune und die Tagebuchforschung, in: Lutz Hagestedt (Hg.), Philippe Lejeune: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, München 2014, VII–XXXII, hier XVI. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Jörg Sader, „Im Bauche des Leviathan“. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers „Strahlungen“, Würzburg 1996, 28. 65 Hagestedt, Der richtige Ort für systematische Überlegungen, XVI. 66 Ebd. 67 Ebd.

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VI. AUTOR-AUTHENTIZITÄT DER TAGEBÜCHER ERICH EBERMAYERS Wenn Erich Ebermayer davon schreibt, dass er seinem Text die „Tagebuch-Form“ verleiht, so ist klar, dass er sich als Schriftsteller an der literarischen Gattung des Tagebuchs orientiert, dessen Regeln und Poetik kennt und seinen Text nach diesen entwirft. Die Tagebücher Erich Ebermayers sind also ein Text, der bewusst in die Form des Tagebuchs gebracht wurde (und zwar nachträglich) und der sich an den für Tagebücher gängigen Erwartungen orientiert. Die Erwartungen, die der Rezipient an ein Tagebuch stellt, basieren in aller Regel auf einem Verständnis von Tagebüchern im Sinne der unter Punkt V. beschriebenen ersten Erscheinungsform. Der Leser erwartet, wenn er einen Text sieht, der deutlich als Tagebuch gekennzeichnet ist68, einen faktualen Text, genauer: private Aufzeichnungen zu lesen, die an dem notierten Datum schriftlich fixiert wurden und die die Erlebnisse und Emotionen des Schreibenden zu dieser Stunde festhalten. Dieses „Alltagsverständnis“ des Tagebuchs bedient auch Erich Ebermayer. Einen wesentlichen Teil dieser Erwartungen kann er jedoch nicht erfüllen, wenn er die Einträge nachträglich (1943/44) literarisiert. Von einer strikt formalen Ebene aus betrachtet, muss man den Tagebüchern Erich Ebermayers jegliche äußere Authentizität absprechen, weil sie die Minimaldefinition für einen Tagebuchtext (auch einen literarischen) nicht erfüllen: sie sind nicht tagesaktuell geschrieben.69 Weshalb hat Ebermayer aber dennoch diese Form gewählt, um seine Gedanken und Erlebnisse zwischen 1933–39 zu Papier zu bringen? Im Brief an Gustav Wyneken vom 11.4.1943 (Anm. 52) heißt es, dass Ebermayer sich „Klarheit“ über seinen Lebensweg im Dritten Reich verschaffen möchte. Ihm scheint das Tagebuch diejenige Form zu sein, die für diese Reflexionen am geeignetsten ist. Man darf freilich nie vergessen, dass Erich Ebermayer ein versierter Schriftsteller war, der im Hinterkopf sicher auch an eine Publikation dachte, aber dennoch zeigt die Wahl der Tagebuchform auch, dass es für Ebermayer um eine persönliche, geistige Durchdringung der vergangenen Jahre geht. Wir können daher das, was Schmidt für die fiktionalen Werke Christa Wolfs geschrieben hat, auch auf das faktuale Tagebuch Erich Ebermayers beziehen: es geht um „die Freisetzung unmittelbarer „Erfahrung“ im Akt des Schreibens“ (Anm. 28). Für dieses Wiedererleben und Neudurchdenken bereits erlebter Erfahrungen eignet sich die Tagebuchform sehr gut, besser als bspw. die Memoiren, die durch ihre Retrospektivität eine Distanz zwischen dem Autor und den Geschehnissen aufbauen und so keine unmittelbare Erfahrung mehr erlauben. Des Weiteren garantieren faktuale Tagebuchtexte einen sehr geringen Grad an Mittelbarkeit, sie lassen den Leser quasi tagesaktuell an dem Ereignissen und den dabei empfunden Emotionen und Gedanken des Diaristen teilnehmen.

68 Sei es durch eine fortlaufende Datierung der Einträge oder durch paratextuelle Merkmale wie etwa der Untertitel zu Ebermayers erstem Band. 69 Michael Maurer, Poetik des Tagebuchs, in: Astrid Arndt et al. (Hg.), Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede, Göttingen 2012, 73–89, hier 76.

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Durch einen Brief, den Erich Ebermayer an Margarete Hauptmann März 1944 schrieb, können wir die zeitlichen Zusammenhänge dieses Wieder-Erlebens genau fixieren: Nach den Berichten über zwei vermeintliche Fliegerbomben in der Nähe seines Besitzes und der Klage über den schlechten Gesundheitszustand seines Freundes, endet Ebermayer den Brief mit der wehmütigen Frage: Wann sehen wir uns wieder? Ich habe schon große Sehnsucht nach ihnen beiden, zumal ich in meinem biographischen Buch gerade bei einem Rapallo-Aufenthalt Februar 1934 halte und so im Geiste viel mit ihnen marschiere… 70

Der zeitliche Abstand zwischen dem beschriebenen Erlebnis und der Niederschrift beträgt in diesem Fall also zehn Jahren. Die Genauigkeit der Beschreibung – im Tagebuch nimmt der Rapallo-Aufenthalt Ebermayers immerhin elf Seiten ein71 – kann auf Grund dieses langen Zeitraums nicht mehr als eine memorative Leistung verstanden werden. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass Ebermayer grobe Notizen oder Inhalte aus seiner Korrespondenz zu dieser Zeit als Vorlage verwendet hat, um sodann im Akt des Erschreibens der Vergangenheit diese vergangenen heiteren Tage in seiner düsteren Kriegsgegenwart wieder auferstehen zu lassen. Die Gattung des Tagebuchs kommt Ebermayer dabei insofern entgegen, als sie es erlaubt Unmittelbarkeit auszudrücken, und dies auch noch in der Retrospektive, so dass wir es mit dem paradoxen Fall einer retrospektiven Unmittelbarkeit zu tun haben. Weil Tagebücher durch ihre Form so etwas überhaupt erst ermöglichen, eignen sich solcher Art Texte ausgezeichnet, wenn man – wie Ebermayer – „Zeugnis ablegen will“ von seinem persönlichen Verhalten zu einer bestimmten Zeit. Des Weiteren garantieren diese Texte auch den „Zeugenwert“ des Diaristen. Denn das Tagebuch verspricht durch seine Form, dass der Schreiber das Geschriebene so erlebt hat. Die Form stattet den Inhalt sozusagen mit einem »Glaubwürdigkeitsbonus« aus und überzeugt somit den Leser. Und dies besonders dann, wenn das Tagebuch den Eindruck macht, es sei nicht nur aus politischen Gründen entstanden, sondern es sei ein gewöhnliches intime journal, in dem politische Ereignisse genauso ihren Platz finden, wie persönliche Erlebnisse des Autors.72 All diese Punkte haben ineinander gespielt, als Erich Ebermayer nach einer passenden literarischen Form suchte, um seinen Werdegang im Dritten Reich zu (re)konstruieren. Dadurch büßen die Tagebücher Erich Ebermayers faktisch ihre äußere Autor-Authentizität ein. Jede historische Darstellung, die sich auf diese Werke als Quelle beruft, muss sich hierüber im Klaren sein. Aus dem historiogra-

70 Erich Ebermayer an Margarete Hauptmann, Kaibitz 6.3.1944. zit. nach: Nachlass Gerhart Hauptmann, in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz., GH Br NL A: Ebermayer, Erich, 2, 123, Bl. 71 Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland…, 258–269. 72 Dazu Peter Hüttenberger, Tagebücher, in: Bernd-A. Rusinek/Volker Ackermann/Jörg Engelbrecht (Hg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn u. a. 1992, 27–43, hier 32.

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phischen Diskurs verbannen, müssen wir diese Texte trotzdem nicht, denn wir können nun, dank unseres methodischen Repertoires, die subjektive Authentizität der Quelle genauer erforschen. VII. SUBJEKTIVE AUTHENTIZITÄT DER TAGEBÜCHER ERICH EBERMAYERS Während man mit recht einfachen editionsphilologischen Methoden und Aussagen zur Textgenese die äußere Autor-Authentizität der Tagebücher Erich Ebermayers allgemein bestimmen kann, verhält sich dies anders in Bezug auf die subjektive Authentizität. Um den Gehalt der subjektiven Authentizität der Tagebücher Ebermayers feststellen zu können, muss man tatsächlich jeden einzelnen Eintrag mit erzähltheoretischen und literaturwissenschaftlichen Methoden kritisch prüfen. So kann ein Eintrag zweifelsfrei als völlig gekünstelt und fiktiv erkannt werden, ein anderer wiederum weist ein besonders hohes Maß an Authentizität auf. Es ist diese wilde Mischung von Authentizitätsgraden der verschiedenen Tagebuchpassagen, die einen adäquaten Umgang mit den Texten erschwert. Es ist hier nicht der Raum alle Merkmale aufzulisten, die man bei der Prüfung der subjektiven Authentizität beachten müsste. Zu den wesentlichen Punkten gehört aber einerseits die literarische Formung eines Eintrages und andererseits die Intention und Darstellung des Autors. Jedes Tagebuch, auch das private nicht zur Veröffentlichung entstandene, welches nicht von einem Schriftsteller geschrieben wurde, besitzt Merkmale literarischer Formung.73 Bei einem Schriftsteller, der seine Tagebücher noch dazu veröffentlichen möchte, sind diese Merkmale also nur deutlicher ausgeprägt. Er möchte mit technischen Mitteln einen interessanten Text verfertigen, der gerne gelesen wird. Dazu gehört etwa das Erzeugen von Spannung durch erzähltechnische Mittel oder die Beschreibungen von Unmittelbarkeit, kurz all die Möglichkeiten mit literarischen Darstellungen einen Text aufzuwerten. Es versteht sich natürlich von selbst, dass solche Passagen, auf Grund ihrer Formung nicht als authentisch im Sinne einer „wahren Wiedergabe“ der Ereignisse gelten können. Sie werden vielmehr dem Erleben hinzugefügt, um etwa dadurch die Bedeutsamkeit des Erlebten auszudrücken. Und gerade dadurch wiederum erzeugen diese literarischen Formungen ihrerseits subjektive Authentizität, dergestalt, dass sich in ihnen die vom Diaristen empfunden besondere Bedeutung der Ereignisse ausdrückt. Konkret: Wenn Erich Ebermayer den Geschehnissen des 30. Januar 1933 sechseinhalb Seiten widmet – vom morgendlichen Frühstück mit Gedanken zur Tagespolitik über das erschrockene Aufschlagen der Schlagzeile mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler

73 zur Nieden, Tagebücher als Quelle zur Erforschung des Nationalsozialismus, 175.

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bis zum abendlichen Gespräch mit Klaus Mann und seiner Familie zu den Geschehnissen des Tages74 – so kann man die dort dargestellten Gespräche und Situationen auf Grund ihrer deutlich erkennbaren Fiktionalisierung nicht als wahre Wiedergabe des Tagesablaufes an jenem Tag lesen. Aber man kann aus der Tatsache, dass Ebermayer sichtlich um eine extraordinäre Darstellung des Tages bemüht ist, die von Ebermayer empfundene Bedeutsamkeit dieser Geschehnisse erkennen. Die Intention des Autors, die Darstellungsabsicht, die er mit seinem Text verfolgt, zu analysieren, war und ist die Kür der literaturwissenschaftlichen Textarbeit. Bei publizierten Tagebüchern, vor allem aus der Zeit des Nationalsozialismus, muss man hier ganz besonders kritisch vorgehen. Solche Tagebücher müssen mit großer Vorsicht behandelt werden, will man nicht den literarischen Strategien des Schreibers auf den Leim gehen oder wichtige Entdeckungen übersehen. Freilich liefern auch private Tagebücher nicht immer authentische Beschreibungen, doch fehlt ihnen die bewusste Motivation von anderen gelesen zu werden und der bewusste Wille zur Darstellung. Daher muss man bei bewusst überlieferten Tagebüchern immer die Tendenz des Autors bedenken, dem Leser eine bestimmte Sicht, Deutung und Wertung von Geschehnissen und Positionen des Autors nahezubringen, wenn nicht gar aufzudrängen, oder umgekehrt den Blick des Lesers zu verstellen, um künftige Überlegungen zu beeinflussen.75

Im Falle Erich Ebermayers ist hier besonders sein Drang zur Selbstdarstellung und -stilisierung zu betonen. Ein Beispiel hierfür findet sich ebenfalls im Eintrag zum 30. Januar 1933: Wenn Ebermayer das Tischgespräch zwischen ihm, seinen Eltern und seinem Freund Klaus Mann über die Frage nach der Dauer der nationalsozialistischen Herrschaft mit folgenden Worten beschreibt: Es wird ganz still am Tisch. Wir vier, die beiden alten Weißhaarigen und wir Jungen, Klaus und ich, versinken in Schweigen. Und dann sage ich plötzlich etwas ganz Dummes; sage es, ohne zu überlegen: ‚Es dauert bis nach dem nächsten verlorenen Krieg!‘ Alle lachen76,

inszeniert er sich hier als närrischer Prophet, der doch am Ende schrecklich Recht behalten wird. Positive Selbstdarstellungen dieser Art finden sich massenweise in Ebermayers Tagebüchern. Sie sind zwar primär eher ein charakterliches denn ein historisches Problem, doch muss man sie immer kritisch auf die Frage der Verdrehung der Ereignisse im Sinne einer positiven Beschreibung des Diaristen untersuchen. Solche bewusst stilisierten Darstellungen verzerren die Authentizität der Darstellung.77

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Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland…, 9–15. Hüttenberger, Tagebücher, 32. Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland…, 14. Sie liefern jedoch gleichzeitig ein authentisches Beispiel für den selbstgefälligen Charakter Ebermayers.

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VIII. INNERE AUTHENTIZITÄT DER TAGEBÜCHER EBERMAYERS Aus dem soeben Erläuterten geht hervor, dass man beim Lesen der Tagebücher Ebermayers sorgfältig auf Strategien der Selbstbeschreibung achten muss, da diese auf Grund von mangelnder subjektiver Authentizität nicht zu historisch validen Aussagen herangezogen werden können. Nichtsdestotrotz beinhalten die Tagebücher genügend Passagen, in denen es Ebermayer nicht um irgendeine Art Selbstbeschreibung geht, sondern in denen er versucht, seinem Anspruch als Chronist der Zeit nachzukommen. Überall dort, wo Ebermayer von seiner Person abstrahierende Beobachtungen notiert, wird die Authentizität auch durch die nachträgliche Bearbeitung nicht sehr beeinträchtig. Das gilt zum Beispiel für Ebermayers »Anmerkungen zu Hitler«, die sich durch das gesamte Tagebuch ziehen, wie etwa dessen charismatische Anziehungskraft78, seine Rolle als Sinnstifter79, seine Alterslosigkeit80 oder auch sein bohèmehaftes Auftreten in Berliner Cafés.81 Für seine Monographie über Hitlers Herrschaftsstil hat Wolfram Pyta ebenfalls solche Aufzeichnungen Ebermayers verwendet, um die Wirkung von Hitlers Staatsreden zu exemplifizieren.82 Auf Grund dieser Verwendung von Ebermayers Tagebuch, die sich auf den Bereich der inneren Authentizität kapriziert, kann Pyta, der als erster eine Quellenkritik der Tagebücher Ebermayers erbracht hat, zu der Beurteilung kommen: Die noch vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes durchgeführte Bearbeitung der Tagebuchnotizen schmälert den Quellenwert des publizierten Tagebuchs nicht wirklich. 83

Für den Bereich der tagesaktuellen Beobachtungen kann auch trotz nachträglicher Bearbeitung ein hoher Grad an innerer Authentizität veranschlagt werden, weil die Literarisierung hier oftmals die Inhalte der Beobachtung nicht verändert. Ob Ebermayer ursprünglich nur die Notiz „Hitler wirkt alterslos“ anfertigte und diese erst zehn Jahre später zur zitierten Aussage (Anm. 80) umformte, ist unerheblich für die Geltung des Geschriebenen. Dies wäre sogar der Fall, wenn es keine vorher angefertigte Notiz gäbe, also die gesamte Beobachtung erst 1943/44 entstanden wäre. Denn auch dann zeigte sie noch die Wirkung des Hitler-Mythos im Volk, nachdem dieser als altersloser, übermenschlicher Führer erschien.84

78 Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland, 77. 79 Ebd., 362. 80 „Wieder einmal Führers Geburtstag! Wie oft wohl noch? Seltsam – man kann sich diesen Menschen nicht alt vorstellen.“ Ebermayer, …und morgen die ganze Welt, 166. 81 Ebd., 42. 82 Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015, 199f. 83 Ebd., 719, Anm. 80. 84 Dazu grundlegend Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung, München 2002. Wirkte diese Alterslosigkeit Hitlers in Friedenszeiten wie eine Art Apotheose, so konnte

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Neben Äußerungen zu Hitler beinhalten Ebermayers Tagebücher durchgehend Beobachtungen zum Alltag im Dritten Reich85; valide Überlegungen zur Herrschaftsstrategie der Nazis86, die viele spätere historische Analysen vorwegnehmen; Beschreibungen führender Nazigrößen, die Ebermayer teilweise persönlich kannte87; interessante Insider-Einblicke in die zerstrittene NS-Kulturpolitik88; ausführliche Reflexionen über den Filmbetrieb und speziell die UFA89; und vieles Weitere. Da Ebermayer im Dritten Reich ein dichtes Netz aus Kontakten zu verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen – Kulturschaffende, liberale Kreise, aber auch innere Herrschaftszirkel, wie etwa Bouhler und Goebbels – aufbauen und pflegen konnte und das, was er hier beobachtete und erfuhr, in den Tagebüchern verarbeitet hat, beinhalten diese teilweise historisch äußert wichtige Informationen und erhellen Vieles aus „Deutschland dunkelster Zeit“, wie Ebermayer seine Tagebücher ursprünglich einmal nennen wollte. All diesen Passagen kann, obschon die Form der Tagebücher nicht über äußere Autor-Authentizität verfügt, ein hohes Maß an Stimmigkeit, an innerer Authentizität zugesprochen werden, allerdings nur dann, wenn man die subjektive Authentizität der einzelnen Passagen kritisch evaluiert und Selbstdarstellungen Ebermayers, die die Inhalte verzerren könnten, gründlich sondiert. Die Mühe lohnt sich. Wer sich davon überzeugen möchte, greife zu den Tagebüchern. IX. STATT EINES SCHLUSSWORTES: SUBJEKTIVE AUTHENTIZITÄT ALS MODELL ZUR ANALYSE BEARBEITETER TAGEBÜCHER? Tagebücher sind für die Geschichtswissenschaft immer problematisch – das weiß man spätestens seit den Hitler-Tagebüchern. Dieser Problematik zum Trotz bieten sie so große Zugriffsmöglichkeiten wie keine andere Quellengattung. Damit steht die Historiographie im Spannungsfeld von Chancen und Gefahren von Tagebüchern als historischen Quellen. Entsprechend muss der Historiker darum bemüht sein, alle Gefahren so gut als möglich zu umschiffen. Dies kann er auf der Ebene der äußeren Authentizität, indem er den Entstehungszusammenhang und die Überlieferungssituation des Tagebuchtextes sorgfältig durchleuchtet, sprich: mittels editionsphilologischer Methoden. Für den Bereich der inneren Authentizität muss er

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Hitler seinen durch den Krieg stark beschleunigten Alterungsprozess, im Rekurs auf Friedrich den Großen, ebenfalls herrschaftsstrategisch ausnutzen, dazu Pyta: Hitler, S. 639–641. Etwa zur Lächerlichkeit des Hitler-Grußes: Ebermayer, Denn heute gehört uns Deutschland, 196; zur mit Traurigkeit wahrgenommen Tatsache, dass die Einstellung zur neuen Regierung sich auch stark auf den Bereich persönlicher Kontakte auswirkt: ebd., 75f., 87, 362; und viele weitere hunderte interessante Beobachtungen. Ebd., 71, 158, 188, 311, 649. Wobei man hierbei freilich wiederum genau auf Stilisierungen und Negativzeichnungen achten muss. Etwa im Gespräch zwischen Ebermayer und Hanns Johst. Ebd., 215ff. Ebd., 187, 303, 405. Ebd., passim.

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sich dann bei der Literaturwissenschaft bedienen, um nach literarischen Formungen, erzähltechnischen Mitteln und semantisch-narrativen Mustern zu suchen. Wenn die untersuchten Tagebücher keine ungedruckten, für den privaten Gebrauch hergestellten Tagebücher sind, sondern wenn sie von Anfang an mit einer bestimmten Intention – etwa Zeugenschaft zu leisten – verfasst wurden und entsprechend später veröffentlicht wurden, muss der Historiker nochmals besondere Achtsamkeit zeigen und den Text kritisch in Bezug auf Formen der Selbstdarstellungen und der Rezeptionssteuerung hin untersuchen. Denn diese beeinträchtigen die innere Authentizität des Geschilderten weit mehr als jede literarische Formung, die den Text etwa spannender machen soll. Diese Formen der Selbstbeschreibung sind das größte quellentechnische Problem beim Umgang mit publizierten Tagebüchern. Auch der Versionenvergleich mit dem Originaltext – sofern man über ihn verfügt – und dem gedruckten Text kann hier nur Orientierung geben, ist aber keinesfalls ausreichend. Denn diese Formen der Selbstbeschreibung können natürlich auch im Original bereits vorhanden sein, authentischer würde der Text dadurch trotzdem nicht. Die Tagebücher, die Erich Ebermayer von 1933 bis 1939 (bzw. 1943/44) verfasst hat und die er 1959 und 1966 unter den Titeln Denn heute gehört uns Deutschland… und …und morgen die ganze Welt veröffentlicht hat, eignen sich in besonders drastischer Weise dafür Chancen und Gefahren von publizierten Tagebüchern für den Historiker darzustellen. An diesem Beispiel sollte gezeigt werden, wie die Gefahren mit Hilfe von literaturwissenschaftlichen Denkfiguren und quellentheoretischen Überlegungen umschifft werden können, um somit einen optimalen Nutzen aus den Tagebüchern zu ziehen. Damit können wir Leopold von Rankes Diktum, zu berichten „wie es wirklich gewesen sei“, insofern besser erfüllen, als wir nun über die geeigneten Mittel verfügen, zwar nicht herauszufinden, wie es wirklich war – denn was war, ist weg, ist vergangen – aber zumindest die Authentizität der Beschreibungen des Vergangenen besser einzuschätzen. Dabei wurde gezeigt, für welche Bereiche historisch relevante Erkenntnisse an Hand dieser Tagebücher generiert werden können und für welche nicht. Mit dem hier erstmals für die Geschichtswissenschaft theoretisch ausgearbeiteten Begriff der subjektiven Authentizität, der eine Fundierung des Begriffes der inneren Authentizität zu leisten im Stande ist, kann die Geschichtswissenschaft differenzierter mit Quellen umgehen, um auch aus solchen Erzeugnissen, die auf den ersten Blick als inauthentisch abgestempelt werden würden, valide historische Aussagen produzieren zu können. Zu prüfen wäre nun, ob dieser Forschungsansatz verallgemeinerbar ist, insofern als er nicht nur auf den konkreten Fall Erich Ebermayer angewandt werden kann, sondern generalisierbar ist auf jedwedes publizierte Tagebuch. Auch und besonders dann, wenn sich keine Originaltexte zum Vergleich finden lassen. Hierbei müsste man freilich für jeden Autor und jedes Tagebuch eine gesonderte Authentizitätsprüfung durchführen, doch die oben geschilderten Werkzeuge und Begrifflichkeiten ermöglichen es, diese Arbeit mit einem sicheren Theoriegerüst auszuführen.

MITTELEUROPÄISCHES KRISENMANAGEMENT NACH DEM ERSTEN WELTKRIEG Wege Österreichs und Ungarns in eine Konsolidierung Ibolya Murber Die komplexe Krise der Habsburgermonarchie begann nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg und besonders nicht mit dessen verlustreichem Ausgang. Der Weltkrieg verstärke und spitzte bloß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu, welche mehrheitlich aus den Folgen des strukturellen Wandels von einem Agrarin einen Industriestaat herrührten und mit zusätzlichen multiethnischen Belastungen des Reiches einhergingen. Im Spätherbst 1918 wurde Österreich und Ungarn als Verlierer, die anderen Nachfolgestaaten, wie die Tschechoslowakei, Rumänien und die Südslawen als Sieger des Krieges angesehen. Diese Studie vergleicht die Kriegsfolgenbekämpfung der beiden Verlierersaaten sowie die wichtigsten innen- und außenpolitischen Faktoren ihren Krisenmanagements zwischen ihren Waffenstillständen und Friedensverträgen. Auf den ersten Blick scheinen in der Kriegsfolgenbekämpfung eher die Unterschiede zu dominieren, wie z. B. eine durchaus rasche Konsolidierung in Österreich und demgegenüber andauernde Umwälzungen, Regierungskrisen, Transitionen mit einer Räterepublik und sog. Konterrevolution in Ungarn. Bei näherer Untersuchung zeigen beide Drehbücher des Krisenmanagements jedoch zahlreiche ähnliche Elemente auf. Anderseits waren es bloß wenige, aber desto entscheidendere strukturelle Abweichungen, welche die unterschiedlichen internationalen Einwirkungen hervorriefen. Diese äußeren Impulse wirkten im Falle Österreichs eher stabilisierend, in Ungarn eher destabilisierend. Unabhängig von der Art und Weise ihrer Kriegsfolgenbekämpfung in den direkten Nachkriegsjahren zeigte ihre innenpolitische Entwicklung ab 1920 in dieselbe Richtung, nämlich zu einer von Rechtskonservativen getragenen politischen und ökonomischen Konsolidierung

ZAHLREICHE GEMEINSAMKEITEN VOM ANFANG BIS ZUM ENDE Wenn man die Gegebenheit der Staatswerdung und Konsolidierung Österreichs und Ungarns im Jahre 1918 und 1920 vergleicht, stellt sich heraus, dass mehr prozesshafte Gemeinsamkeiten1 vorhanden waren als Unterschiede. Am Kriegsende waren beide „Neustaaten“ vor allem Kriegsverlierer mit beträchtlichen Gebietsverlusten, fremde Armeen standen an der Peripherie der von ihnen beanspruchten Staatsgebiete und keiner von ihnen verfügte über ein intaktes, einsatzfähiges Militär gegen 1

Zu den prozesshaften und strukturellen Gegebenheiten Ulrich Schnecker, Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe, Konzepte und Analyserahmen, URL: http://www.sfbgovernance.de/teilprojekte/projekte_phase_1/projektbereich_c/c1/us_fragilestaatlichkeit.pdf (abgerufen am 19.10.2018), 98–121, hier 110.

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die fremden „Eindringlinge“. Das Ausscheiden aus der gemeinsamen Monarchie und der Neubeginn in beiden Staaten gingen ohne größeres Blutvergießen vor sich.2 Das Schicksal der überbelasteten, ausgebluteten Volkswirtschaften und die Bedrohung der kriegsmüden Bevölkerung mit ihrer erschütterten sozialen Kohäsion und einem belastenden Orientierungsproblem teilten sie gemeinsam. Dies alles äußerte sich nicht nur im hohen Mobilisierungsgrad der Bevölkerung, welcher sich in Streiks, Demonstrationen, gewalttätigen Ausschreitungen und Abspaltungstendenzen niederschlug, sondern auch in einer drohend anwachsenden Kluft zwischen (Haupt)Stadt und Land, was sich auch in der Dichotomie der sozialdemokratischen und der christlich-konservativen Einflüsse zeigte. Solange in den Hauptstädten die sozialdemokratischen Parteien das Sagen hatten, streckten die christlich-konservativen Parteien auf dem Land ihr Einflussgebiet aus. Diesen krisenhaften Herausforderungen stellten sich die neuen Regierungen unter einer sozialdemokratischen Beteiligung entgegen.3 Die Regierungen bestanden größten Teils aus „neuen“ Männern, die vor 1918 über keine Regierungsverantwortung verfügt hatten. In beiden Staaten existierten ab 1918 neben traditionellen Machtzentren neue, alternative und basisdemokratische Machtstrukturen, wie die Arbeiter- und Soldatenräte, die letztlich jedoch keinen allzu großen Einfluss auf die Neugestaltung ausübten. In Österreich dienten sie zur Zähmung der Masse, die vom „Fieberschub der Revolution“ heimgesucht war.4 Die neue politische Führung in Wien und Budapest verfolgte ein ähnliches Programm, welches ein demokratisches und sozialeres Staatswesen einzurichten versprach. Die gewählte Staatsform in beiden Jungstaaten war die Republik, die in Ungarn als „Volksrepublik“ bezeichnet wurde, um die verkündete Volkssouveränität zusätzlich zu betonen. Kaiser Karl verzichtete erst am 11. November 1918 in Österreich und zwei Tage später in Ungarn auf die Staatsgeschäfte,5 was die unblutige Ausrufung der neuen republikanischen Staatsform ermöglichte. Österreich verfügte seit Herbst 1919, Ungarn seit Sommer 1920 über einen Friedensvertrag,6 was

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Am 31.10.1918 wurde István Tisza, ehemaliger Ministerpräsident Ungarns (zwischen 1903 und 1905 sowie 1913 und 1917) ermordet. Tisza galt als Symbolfigur der ungarischen Kriegspolitik, wie auch Karl Stürgkh, der im Oktober 1916 ermordete österreichische Ministerpräsident für Österreich. Über die unterschiedlichen Machtpositionen der österreichischen und ungarischen Sozialdemokraten in: Ibolya Murber, Die ungarischen und österreichischen Sozialdemokraten und die russischen Revolutionen 1917, in: Rheticus-Gesellschaft (Hg.), Russische Revolutionen 1917. Presseanalysen aus Vorarlberg und internationale Aspekte, Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 73., Feldkirch 2017, 165–181. Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien-Köln-Weimar 2011, 145– 146. Manfried Rauchensteiner, Reichshaftung: Österreich, Ungarn und das Ende der Gemeinsamkeit, in: Csaba Szabó (Hg.), Österreich und Ungarn im 20. Jahrhundert, Wien 2014, 58–85, hier 60. In Österreich wird für den Vertrag in St. Germain der Begriff Staatsvertrag verwendet, um zu verdeutlichen, dass das neue Österreich kein Rechtsnachfolger der Habsburgermonarchie sei,

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die internationale de jure Anerkennung mit sich brachte. Beide Friedensverträge lösten jedoch einen großen Schock sowohl in der heimischen Bevölkerung als auch bei beiden politischen Eliten aus. Die Gebietsverluste sowie die Flüchtlinge und Optanten7 aus den abgetrennten Gebieten belasteten die weiterhin angeschlagenen Volkswirtschaften gleichermaßen auf Dauer. Die politische Macht verlagerte sich allmählich in beiden Staaten von „links nach rechts“. In Österreich kam die notgedrungene politische Zusammenarbeit der Sozialdemokraten und Christlichsozialen stark ins Schwanken und führte im Juni 1920 zur Kündigung ihrer Regierungskoalition. Nach schleppender Konsolidierung regierte 1920 in Ungarn eine rechte Koalition der Nationalkonservativen mit der Kleinen Landwirtepartei.8 Dieser Rechtsruck des politischen Lebens ging in beiden Staaten mit der Herausbildung und Verfestigung wirksamer und anhaltender Feindbilder in der Politik gegen die Linken sowie Juden einher. Der markanteste Unterschied zwischen 1918 und 1920 ergab sich jedoch daraus, dass die Konsolidierung in Österreich ohne direktes Eingreifen in die innenpolitischen Angelegenheiten durch die internationale Gemeinschaft von statten ging, in Ungarn war jedoch die unmittelbare Einwirkung der Siegermächte zur Beschleunigung der politischen Konsolidierung von Nöten. DIE BEDEUTUNG UNTERSCHIEDLICHER NATIONALSTAATLICHER KONZEPTE Die komplexe Krise der Habsburgermonarchie begann nicht erst mit dem Weltkrieg und besonders nicht mit dessen verlustreichem Ausgang. Der Weltkrieg verstärke und spitzte bloß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu,9 welche mehrheitlich aus den Folgen des strukturellen Wandels von einem Agrar- in einen Industriestaat10 herrührten und mit zusätzlichen multiethnischen Belastungen einhergingen. Die politischen Eliten

deswegen auch keinen Friedensvertrag unterschrieben hatte. In Ungarn war und ist der Friedensvertrag von Trianon die gängige Bezeichnung in der öffentlichen Diskussion. 7 Beide Friedensverträge (für Österreich Abschnitt VI. Artikel 80, für Ungarn Abschnitt VII. Artikel 63) ermöglichten die freie Wahl der Staatsbürgerschaft für die Bevölkerung abgetrennter Gebiete. 8 Aufgrund der Nationalratswahlen vom Januar 1920 erreichte die Kleinlandwirtepartei mehr als 50% der Sitze und bildete mit der nationalkonservativen Partei von István Bethlen eine Koalition, in der Letztere dominierte. 1922 erzwang Ministerpräsident Bethlen die Fusion beider Parteien und dadurch geriet die Bauernpartei allmählich in den Hintergrund und verlor ihr eigenes politisches Profil und ihre Wählerbasis. 9 Verena Moritz, 1917. Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution, Wien 2016, 38–39. 10 Gerhard Botz, Gewaltenkonjunkturen, Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Krisen. Formen politischer Gewalt und Gewaltstrategien in der Ersten Republik, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 339–362, hier 360.

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der Doppelmonarchie betrachteten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die nationalen Bestrebungen als Bedrohung für die traditionelle deutschsprachige und ungarische Dominanz und für die Einheit des Reiches. Die Vorstellungen darüber gingen jedoch bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in den beiden Reichshälften immer mehr auseinander. In Wien betrachtete man das Habsburgerreich als einen über den Nationen stehenden Obrigkeitsstaat. In Budapest sah man jedoch in der Doppelmonarchie eine Staatengemeinschaft zweier gleichgestellter und souveräner Staaten mit einigen gemeinsamen Angelegenheiten, wie Außenpolitik, Militär und deren Finanzierung. Beiden Auslegungen ging es gleichwohl um die Bewahrung der Dominanz ihres Bevölkerungsanteiles, bzw. ihrer politischen Eliten, auch wenn diese zwei Nationen aufgrund der Volkszählung von 1910 bloß eine relative Mehrheit11 in ihren Reichshälften besaßen. Ohne die Nationalitätenpolitik näher thematisieren zu wollen, kann man in Anbetracht der Einstellung zum allgemeinen Männerwahlrecht die unterschiedliche Auslegung Wiens und Budapests exemplarisch veranschaulichen: Die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechtes 1907 resultierte in der österreichischen Reichshälfte nicht aus einer demokratischen Überzeugung, sondern war von pragmatischer Natur. Den obersten Entscheidungsträgern schwebte dabei der eigne Machterhalt und die Vorbeugung des Reichszerfalls vor Augen.12 In Ungarn lehnte dagegen die liberal-konservative großgrundbesitzende Machtelite das allgemeine Wahlrecht gerade wegen jener Begründung ab, da solch ein breites Wahlrecht eine ungünstige Machtverschiebung zugunsten der Nationalitäten verursacht hätte. Diese Auffassung wurde im Jahre 1896 bei der Millenniumsfeier ausdrücklich zelebriert, sowie durch eine rechtmäßig verankerte und forcierte Assimilierungsbestrebung Budapests untermauert. Auf diesem Standpunkt beharrten die ungarischen Machtträger ohne Kursänderung bis zum Kriegsende. In Ungarn existierte nur eine einzige, auf der ungarischen „Suprematie“ basierende Staatsauffassung, welche die Dominanz der ungarischen politischen Nation13 über die anderen Nationalitäten und Ethnien innerhalb der ungarischen Krone langfristig zu sichern versuchte. Kein ernst zu nehmendes Gegenkonzept konnte sich bis 1918 dagegen durchsetzen. Somit stand der neuen Regierung im Spätherbst 1918 kein alternatives Staatskonzept mit Zugeständnissen an die Nationalitäten zur Verfügung. Mit beträchtlicher Modifizierung14 beanspruchte auch die neue Regierung das ganze Staatsgebiet des früheren ungarischen Königreichs und anerkannte

11 In der österreichischen Reichshälfte sprachen 36,8 % der Bevölkerung Deutsch als Umgangssprache. In der ungarischen Reichshälfte mit Kroatien gemeinsam sprachen 48,1 % der Bevölkerung Ungarisch als Muttersprache, ohne Kroatien mit 54,4 %. 12 Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2008, 13. 13 Zum ungarischen Staats- und Nationskonzept eine fundierte Zusammenfassung: Ildikó Szabó, Nemzetfogalom és nemzeti identitás a dualizmus korában és a Horthy-korszakban, in: Politikatudományi szemle 15 (2006) 1, 201–248. 14 Oszkár Jászi, für die Nationalitätenfrage zuständiger Minister, erarbeite ein schnell gescheitertes Konzept, welches für das ungarische Territorium eine Föderation nach Schweizer Modell

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die Gebietsforderungen und -abtretungen der Nachfolgerstaaten nicht. Die internationale Realität und der Kriegsverliererstatus begünstigten diesen ungarischen Standpunkt jedoch nicht mehr. Ungarn und Österreich waren Verliererstaaten und die Nachfolgerstaaten, die Tschechoslowakei, Rumänien und der südslawische Staat, waren von den Entente-Mächten als Sieger angesehen worden. Sie schufen mit ihren schnellen militärischen Gebietsbesetzungen unter stillschweigender Zustimmung der Sieger bereits vor den Friedensverträgen ein Fait accompli und stellten hinsichtlich neuer Staatsgrenzen die österreichische und ungarische Führung vor vollendete Tatsachen. Bei der Festsetzung der neuen Grenzen waren in den meisten Fällen keine demokratischen Prinzipien ausschlaggebend, sondern die pure militärische Macht.15 Die neue Staatsführung in Österreich konnte dagegen im Herbst 1918 auf alternative Nationalitätenkonzepte zurückgreifen. Ein Muster dafür lieferten die Sozialdemokraten: Otto Bauer hatte bereits 1907 das Nationalitätenproblem des Habsburgerreiches mit möglichen Lösungsansätzen einer „Kulturautonomie“ thematisiert.16 Das im Jänner 1918 beschlossene sozialdemokratische Nationalitätenprogramm17 beinhaltete bereits das Selbstbestimmungsrecht der Völker, sah aber noch den Erhalt eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes vor.18 Einen Gegenpol dazu bot das deutschnationale Programm des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Georg Ritter von Schönerer,19 worauf sich die Großdeutschen im Spätherbst berufen konnten. Beide Auslegungen erwarteten jedoch einen Bevölkerungs- und Gebietsverlust im Vergleich zum Gesamtgebiet der Habsburgermonarchie. Als drittes Konzept kristallisierte sich am Kriegsende der Anschlusswunsch Österreichs an Deutschland heraus, welcher Bestandteile der anderen beiden Vorstellungen beinhaltete.20 Weder die neue Führung in Wien noch jene in Budapest konnte ein ernsthaftes militärisches Gegengewicht aufweisen. Daher waren sie nicht in der Lage, ihre Territorien mit Waffengewalt zu verteidigen, und vertraten aus pragmatischen Gründen eine Politik, die auf ein militärisches Eingreifen gegen „Eindringliche“ verzichtete. Statt Waffen hegten sie Hoffnungen auf das Wohlwollen der Entente-Mächte und befolgten daher eine im zeitgenössischen Wortgebrauch „pazifistische Politik“. Im

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vorsah. Siehe dazu: László Szarka, Die Nationalitätenfrage im Auflösungsprozess des historischen Ungarn 1918–1920, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993,189–201. Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017, 563. Otto Bauer, Nationalitätenfrage und Sozialdemokratie, Wien 1907. Ein Nationalitätenprogramm der „Linken“, in: Der Kampf, 11 (1918), 269–247. Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien-Köln-Weimar 2011, 101. Kurt Bauer, Das deutschnationale Lager, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 261–280, hier 263– 264. Als Überblicksdarstellung dazu Richard Saage, Die deutsche Frage. Die Erste Republik im Spannungsfeld zwischen österreichischer und deutscher Identität, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 65–82.

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Großen und Ganzen anerkannten damit beide Verliererstaaten die Entstehung neuer Nationalstaaten auf dem Gebiet der gemeinsamen Monarchie. Was ihnen jedoch besonders schmerzte, waren die Abtretungen jener Gebiete, auf die sie selbst, aus welchem Grund auch immer, Anspruch erhoben hatten. Bei diesem Punkt ging aber die Politik Wiens und Budapests auseinander. Wien akzeptierte mithilfe alternativer Staatskonzepte die Gebietsverluste. Im Falle Kärntens gab es zwar militärische Schritte gegen die südslawische Besatzung, jedoch wurden diese nicht von Wien aus organisiert. Regionale „Selbstschutzverbände“ stoppten das weitere Vordringen südslawischer Truppen.21 Trotz Vorrückens fremder Armeen an der Peripherie beharrten die jeweiligen Regierungen in Budapest weiterhin auf dem alten Konzept „Großungarns“, ohne dieses Vorhaben jedoch militärisch durchsetzen zu können. Daher war ihr Scheitern bereits programmiert und führte letztlich zu ihrer Abdankung, ferner auch zur Ausrufung der Rätediktatur. Aus der Sicht der Siegerstaaten gefährdete dieses ungarische Großstaatskonzept die von ihnen installierte, neue internationale Ordnung der „kollektiven Sicherheit“ in Mitteleuropa, die mehr die Nachfolgerstaaten und kaum die Verliererstaaten begünstigte. Die unerwünschte Machtübernahme der Kommunisten im Frühjahr 1919 in Ungarn war ein weiterer Affront und führte zum bewussten Eingreifen der Siegermächte in den Staatswerdungsprozess Ungarns, was wiederum eine Eigendynamik erzeugte. Aus der gescheiterten militärischen Intervention im russischen Bürgerkrieg gegen die Sowjets eine Lehre ziehend, bevorzugten die Siegermächte, statt Truppen nach Ungarn zu schicken, den weiteren Vormarsch der tschechoslowakischen, rumänischen und südslawischen Truppen in das Landesinnere Ungarns.22 Diese Gefährdung weiterer ungarischer Territorien förderte wiederum, wenn auch nur vorübergehend, den nationalen Konsens im Lande. Die von Ungarns Kommunisten eingeleitete militärische Verteidigung scheiterte jedoch und führte zur rumänischen Besetzung Ostungarns und selbst der Hauptstadt mit Zustimmung der Pariser Entscheidungsträger. Auch nach dem Zusammenbruch der Rätediktatur konnte sich jedoch kein tragbares Gegenkonzept zu Großungarn durchsetzen, was wiederum zum stark ausgeprägten und konsensbildenden Revisionismus der Zwischenkriegszeit führte. Das neue Österreich verabschiedete sich weniger schmerzhaft, pragmatischer und konsensorientierter von seinem alten Imperium und arrangierte sich – freilich auch notgedrungen – schneller mit seiner Kleinstaatlichkeit als Ungarn. Daher stellte Österreich in den Augen der Sieger eine

21 Ute Weinmann, Die südslawische Frage und Jugoslawien, Grenzziehung im Süden Österreichs unter besonderer Berücksichtigung der Kärntenproblematik, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 119–138. 22 Hier muss man jedoch festhalten, dass man in Paris bereits am 18. März 1919, also drei Tage vor der Ausrufung der Räterepublik, die neuen Staatsgrenzen Ungarns festgelegt hatte. Allein der Verlauf der österreichisch-ungarischen Grenze blieb noch offen.

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kleinere bzw. keine Bedrohung für die neue Ordnung Mitteleuropas dar und bedurfte daher auch weniger eines Eingreifens zu seiner erfolgreichen politischen Konsolidierung. 23 UNTERSCHIEDE IN DER TRÄGERSCHAFT DES NEUBEGINNS Für eine politische Konsolidierung ist die staatliche Souveränität, die für die innere und äußere Sicherheit eines Staates Sorge trägt, entscheidend. Unter diesem Aspekt waren in Österreich und Ungarn wiederum zahlreiche Abläufe ähnlich, wie die fast reibungslose Übernahme des einstigen, jedoch funktionsfähigen Staatsapparats und die Bemühungen zum schnellen Ausbau eines staatlichen Gewaltmonopols und einer mit Durchsetzungsvermögen ausgestatteten Exekutive. Die alte Bürokratie sicherte den neuen republikanischen Machthabern in Wien und Budapest ihre Loyalität zu. Diese bemühten sich wiederum, den Verwaltungsapparat vor dem drohenden Loyalitätsverlust der Bevölkerung zu schützen. Alle europäischen Regierungen im Herbst 1918, unabhängig von Sieg oder Verlust, erklärten gleichermaßen die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Ordnung zu ihrer wichtigsten Aufgabe. Diese Aufgabe erwies sich bei den Verliererstaaten als besonders schwere Herausforderung. Keinem der neuen Machthaber in Mitteleuropa gelang es jedoch, die Unzufriedenheit der durch den Krieg mobilisierten Bevölkerung, ihr Drängen nach Veränderung und Umwälzung vollständig zu beruhigen. Unruhe und Gewalt griffen in den Städten und auf dem Land um sich. In den Großstädten gelang es der Exekutive, die Ordnung ziemlich rasch wieder herzustellen. In ganz Mittel- und Osteuropa wurde dieser Unzufriedenheit der Bevölkerung auf dem Land jedoch mit Gewalt begegnet. Nicht nur der russische Bürgerkrieg, sondern auch der Neubeginn Bulgariens und der Türkei war durch gewaltsame Ausschreitungen gekennzeichnet.24 Selbst die als am meisten demokratisch geltende Tschechoslowakei blieb von Gewaltexzessen nicht verschont. Trotzdem ging in dieser mitteleuropäischen Republik unter den Nachfolgestaaten die Konsolidierung am friedlichsten vor sich, was stark mit der sehr frühen internationalen Anerkennung des neuen Staates im Zusammenhang stand.25 Lang nach dem Kriegsende blieb jedoch auch in diesem Land die innere Ordnung durch Hungerkrawalle, Fabrikarbeiterstreiks sowie gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden gefährdet. Diese Unruhen waren weniger politischer Natur, sondern von existentiellen Unsicherheiten geleitet und suchten

23 Hanns Haas stellt fest, dass „das neue Österreich die wesentlichen Kriterien von stabiler Staatlichkeit“ erfüllte, in: Hanns Haas, Ein verfehlter Start? Die Anfänge Österreichs 1918 bis 1920, in: Zeitgeschichte 41 (2014) 6, 371–384, 379. 24 Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2016. 25 Peter Krüger, Die Friedensordnung von 1919 und die Entstehung neuer Staaten in Ostmitteleuropa, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993, 93–115, 110.

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bis Mitte der Zwanzigerjahre auch die tschechische Republik heim.26 In Wien und Budapest begann bereits während der Demobilisierung der k.u.k. Armee die durchaus zentral koordinierte Neuorganisierung der neuen Wehrkräfte in Form von Volks- bzw. und Bürgerwehren. Diese konnten die innere Ordnung vorerst in den Städten garantieren, ihre Herstellung auf dem Land dauerte jedoch länger. Ein markanter Unterschied im Zusammenhang mit staatlicher Souveränität in Österreich und Ungarn zeigte sich darin, wer als Träger und Akteur beim Ausbau der neuen Staatlichkeit mitwirkte.27 Hier sollen kurz die politische Zusammensetzung der Regierungen und Parlamente, deren Legitimierung durch rechtlich-demokratische Funktionen sowie deren Akzeptanz durch die Bevölkerung thematisiert werden.28 Der Leitgedanke des angekündigten demokratischen Neubeginns war in beiden Verliererstaaten das Gefühl der Angst, statt einer enthusiastischen Freude über die nationalstaatliche Souveränität. Die Machtträger in Wien fürchteten sich in erster Linie vor einem Chaos und einer Anarchie in ihrem angeblich lebensunfähigen Kleinstaat. Die ungarischen Akteure des Neubeginns bangten noch mehr vor kleinstaatlicher Existenz, welche ihnen mit dem Ende der ungarischen Dominanz im „1000jährigen Großungarn“ unter der „Stephanskrone“ zu drohen schien. Der unterschiedliche Umgang mit ihren Befürchtungen vor Kleinstaatlichkeit leitete die unterschiedlichen Staatswerdungsprozesse ein. Am 21. Oktober 1918 konstituierte sich in Wien die provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs aus den deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrates29 und diese beschlossen die Bildung eines eigenen österreichischen Staates – „Deutschösterreich“. Die am 30. Oktober gebildete Regierung unter der sozialdemokratischen Führung Karl Renners bestand aus Parlamentariern des alten Reichsrates. Diese personelle Kontinuität zwischen Altem und Neuem brachte erprobte politische Handlungskompetenzen und persönliche Netzwerke für die neue Regierung mit sich. Dank dem allgemeinen Männerwahlrecht vom Jahre 1907 waren diese Politiker, außer den Deutschnationalen,30 Vertreter von Massenparteien31 mit ihrer beträchtlichen Gefolgschaft. Symbolische Legitimierung spendete der neuen Regierung und provisorischen Nationalratsversammlung, dass sie bis 11. November gleichzeitig mit der alten kaiserlichen Regierung und dem Reichsrat in Wien durchaus friedlich tätig waren. Das ausgehandelte Manifest über Kaiser Karls

26 Pieter M. Judson, Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918, München 2017, 556– 557. 27 Über Minimalkriterien der Staatlichkeit in Österreich siehe Hanns Haas, Ein verfehlter Start? Die Anfänge Österreichs 1918 bis 1920, in: Zeitgeschichte 41 (2014) 6, 371–384. 28 Ein akteurszentierter Ansatz der Regierungsanalyse bleibt hier jedoch aus. 29 Die Legislaturperiode des Reichsrates von 1911 wurde 1917 durch ein kaiserlich sanktioniertes Gesetz bis zum 31. Dezember 1918 verlängert. 30 Die deutschnationale Partei ist als eine klassische Honoratiorenpartei einzuordnen, war aber aufgrund der Reichsratswahlen von 1911 die stimmenstärkste Partei des Reichsrates. 31 Zwei von den Staatssekretären, Ignaz Kaup, Staatssekretär für Volksgesundheit, und Johann Loewenfeld-Russ, Staatssekretär für Ernährung, waren vorher kaiserliche Beamte.

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Verzicht auf die Staatsgeschäfte vom 11. November bereicherte die neuen Machthaber mit einem weiteren Legitimitätsschub.32 Die konsensorientierte Staatsgründung spiegelte sich auch darin wider, dass die provisorische Nationalversammlung das Gesetz über die Staats- und Regierungsform am 12. November einstimmig verabschiedeten konnte, unabhängig davon, dass die Staatsgrenzen des neuen Staates und der postulierte Anschluss an Deutschland völlig problematisch waren. Ferner beteiligten sich alle Reichsratsparteien an der Ende Oktober 1918 gebildeten Großen Koalition der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Großdeutschen33 und erteilten damit ihre Zusage zum gemeinsamen Krisenmanagement. Die Stärke und Bedeutung der österreichischen Sozialdemokratie unter den Parteien zeigte sich darin, dass sie ihren Eintritt in die Regierung an Bedingungen, wie z. B. an einen Beteiligungsschlüssel knüpfen konnte. 34 Dieser momentanen Stärke der Sozialdemokratie waren sich auch die Koalitionspartner bewusst. Sie pflichteten aufgrund des Mangels an einem eigenen tragbaren Krisenprogramm dem von den „Austromarxisten“ eingeleiteten Krisenmanagement zu.35 Carlo Moos meint dazu, dass diese pragmatische Einstellung zu konsensorientierten Lösungen aus dem politischen Erbe der Habsburgermonarchie resultierte,36 aber zu solchen Konsensen – fügte er hinzu – brauchte man auf Koexistenz und Reform bedachte „imperiale Typen“,37 wie Karl Renner, Otto Bauer, Franz Dinghofer oder Heinrich Lammasch. Der breite politische Konsens und die sozialdemokratische Integrationskraft gegenüber den nicht zu unterschätzenden linksradikalen Bestrebungen im Frühjahr 1919 ermöglichten eine ziemlich geradlinige politische Konsolidierung für Deutschösterreich. Die verspürte Erleichterung über diese vorläufigen Erfolge verdeckte vorübergehend die bereits vorhandenen und durchaus abweichenden Zukunftsvisionen der rechten und linken Massenparteien.38 Was die Gewaltenteilung des neuen Österreich angeht, stellte Ernst Hanisch fest, dass sich eine „extreme Parlamentsherrschaft“ als Reaktion auf die schwache Stellung des Parlaments in der Monarchie herausbildete.39 Die nach dem allgemeinen Wahlrecht abgehaltenen Wahlen für die konstituierende Nationalversammlung

32 Auch wenn Ex-Kaiser Karl in seinem in Deutschösterreich unveröffentlichten „Feldkircher Manifest“ am 23. März seinen Verzicht auf die Teilnahme an den Staatsgeschäften wiederrief. Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie, Wien 2016, 192. 33 Nach den Nationalratswahlen im Februar 1919 konstituierte sich eine Koalition der Sozialdemokraten und Christlichsozialen, die bis Juni 1920 hielt. 34 Die dreiseitigen Bedingungen der Sozialdemokraten liegen dem Protokoll bei. ÖStA AdR NPA StRP Karton 1. Staatsratssitzung am 30. 10.1918. 35 Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien-Köln-Weimar 2011. 147. 36 Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie, Wien 2016, 77. 37 Ebd., 80. 38 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 266. 39 Ebd.

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am 16. Februar 1919 bestätigten nicht nur diese einstweilige konsensorientierte Politik und eine gewisse Loyalität der Bevölkerungsmehrheit zum Krisenmanagement, sondern entsprachen auch den demokratischen Erwartungen der Siegermächte. Trotzdem ließ eine Einladung zu den Friedensverhandlungen bis zum 2. Mai 1919 auf sich warten, was zum einen auch mit der Priorität der Verhandlungen über Deutschlands Zukunft zusammenhing. Zum anderen war für diesen durchaus späten Einladungstermin die vorerst erfolgreiche Selbstbehauptung der ungarischen Rätediktatur und die notwendige „Eindämmungspolitik“ der Entente ausschlaggebend. Das Krisenmanagement Österreichs zwischen 1918 und 1920 war von einer überwiegend partizipatorischen politischen Kultur gekennzeichnet. Das Kriegsende bracht eine hohe und durchaus politisch geleitete Mobilisierung der Bevölkerung mit sich. Die Autorität des Herrscherhauses sowie der Beamtenschaft und Armee gingen im Spätherbst auf die politischen Parteien über.40 Der breite Konsens dieser Massenparteien trug das Krisenmanagement, welches durch die Nationalratswahlen im Frühjahr 1919 aufgrund des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts seitens der Bevölkerung auch bejaht und akzeptiert wurde. Die „Flüchtigkeit“ und Grenzen dieser Volkssouveränität betont jedoch in der Gesetzgebung Alfred J. Noll, was für die Zwischenkriegszeit ausschlaggebende Folgen mit sich brachte.41 Im Falle Ungarns ging die Konstituierung der neuen Staatsmacht vorerst scheinbar in verfassungsmäßig geregelteren Bahnen als in Österreich vor sich. Im Unterschied zu Österreich mangelte es jedoch bis zum Schluss an einem breiten politischen Konsens, aber auch an der politischen Partizipation der Bevölkerung. Am 24. Oktober 1918 konstituierte sich ein ungarischer Nationalrat, welcher innerhalb einer Woche den Kern der neuen Regierung bildete. Dieser Nationalrat setzte sich aus einer parlamentarischen Oppositionspartei zusammen,42 deren Chef der liberal-demokratische Graf Mihály Károlyi war, ferner aus zwei außerparlamentarischen Oppositionsparteien, nämlich aus den Radikaldemokraten, der Partei der städtisch-kritischen Intelligenz, und aus den Sozialdemokraten. Aufgrund des Zensuswahlrechts entstanden in Ungarn keine Massenparteien, so konnten auch die Mitglieder des Nationalrates – außer den Sozialdemokraten – auf kein Parteinetzwerk zurückgreifen. Die vom Kaiser Karl43 ernannte Kriegsregierung dankte am 23. Oktober ab. Der Kaiser beabsichtigte jedoch das österreichische Drehbuch zu wiederholen, nämlich einen von parlamentarischer Mehrheit getragenen Übergang in Ungarn herbeizusteuern. Daher ernannte er gegen die allgemeinen Erwartungen der Bevölkerung nicht Mihály Károlyi zu Ministerpräsidenten.

40 Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2008, 57. 41 Alfred J. Noll, Zur Entwicklung der österreichischen Verfassung 1918 bis 1920, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008,363–380. hier 371. 42 In Ungarn tagte während des ganzen Krieges das ungarische Parlament. Es bestand jedoch aufgrund des untersagten allgemeinen Wahlrechts nur aus Honoratiorenparteien. 43 Am 30. 12. 1916 wurde Kaiser Karl I. als Karl IV. in Budapest zum ungarischen König gekrönt, für Ungarn verzichtete er am 13. 11. 1918 auf die Staatsgeschäfte.

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Károlyis Person verkörperte in den Augen breiter Bevölkerungsschichten aufgrund seines seit Monaten verkündeten demokratisch-sozialen Programms die Hoffnung eines Neuanfangs und einer besseren Zukunft. Unter dem Druck der Unruhen in Budapest ernannte schließlich Kaiser Karl am 31. Oktober 1918 Károlyi zum Ministerpräsidenten, ohne jedoch auf seine Regierungsbildung und sein Programm einen Einfluss zu nehmen. Obwohl Karl einen Tag später diese Regierung von ihrem Eid auf den Monarchen entband, lieferte die königliche Ernennung der Károlyi-Regierung eine verfassungskonforme, jedoch bloß symbolische Legitimierung. Károlyi war im Spätherbst 1918 auch in den Augen der gemäßigten Nationalkonservativen und Liberalkonservativen der alten Machtelite eine durchaus akzeptable Galionsfigur, welche für die Vertretung der ungarischen Interessen geeignet schien.44 Dennoch bestand in der neuen Regierung keine weitreichende personelle Kontinuität zwischen Altem und Neuen. Außer Ministerpräsident Graf Mihály Károlyi und Innenminister Graf Tivadar Batthyány waren keine Akteure der alten Machtelite in der neuen Regierung vertreten. Batthyány verließ zudem dieses Kabinett bereits im Dezember 1918, als die Politik Károlyis für ihn „zu links“ wurde. Die oft erdrückende zentrale und bestimmende Rolle des Ministerpräsidenten Károlyi versperrte die Möglichkeit zu einer Kurskorrektur und minimierte die politische Anpassungsfähigkeit an die immer drückender werdenden Gegebenheiten. Ungarns Neubeginn war daher kein parteipolitisches Übereinkommen, der politische Kristallisationspunkt war Károlyis Person. Er dominierte die Staatsgeschäfte nicht nur wegen seiner Positionshäufung,45 sondern viel mehr wegen der Schwäche der politischen Parteien. Es ging nicht darum, dass die Parteiführung der ungarischen Sozialdemokraten weniger „geschickt“ als jene der österreichischen Mitstreiter gewesen wäre oder es ihnen an politischem Talente gemangelt hätte. Die ungarischen Sozialdemokraten verfügten nämlich ähnlich wie ihre österreichischen Gesinnungsgenossen über das dichteste und flächendeckendste Parteinetz und über ein tragbares Zukunftsprogramm, was ihnen auch die Mitarbeit an einer Neugestaltung ermöglichte.46 Aber ihr Wirkungskreis war bescheidener als jener der österreichischen Parteigenossen. Die ungarischen Sozialdemokraten erreichten auch nur die wenigen städtischen Arbeiter, aber nicht die überwiegende Agrarbevölkerung.

44 Selbst Ex-Ministerpräsident István Tisza argumentierte am 22. 10. 1918 im Parlament damit, dass Károlyi das für Ungarn notwendige Beziehungskapital zum Westen, zu den EntenteMächten habe. In: Képviselöházi Napló, 1910. Band XLI. am 22. 10. 1918. Graf Pál Teleki und Graf István Bethlen, beide Ministerpräsidenten der Zwischenkriegszeit distanzierten sich vorerst von Károlyis Politik nicht. 45 Károlyi war ab 31. Oktober 1918 Regierungschef und Außenminister, ab 12. 12. 1918 übernahm er auch noch die Vertretung des Verteidigungsministeriums und zwischen 11. 1. 1919 und 21. 3. 1919 fungierte er als Staatspräsident Ungarns. Auch im Falle Karl Renners kam es vor, dass er neben der Kanzlerschaft auch noch weitere ministeriale Ressorts, wie das Innenministerium, das Amt für Inneres, Unterricht und Äußeres vertrat. 46 Das Regierungsprogramm im Spätherbst 1918 basierte zum größten Teil auf dem am 8. Oktober verkündeten Programm der Sozialdemokraten.

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Die Parteiführung verfügte aufgrund ihrer außerparlamentarischen Opposition über jene Kompetenzen und Erfahrungen des Politikmachens nicht, welche die österreichischen Gesinnungsgenossen im Herbst 1918 bereits besaßen. Die österreichische provisorische Legislative rekrutierte sich aus dem alten Reichsrat, verfügte über drei gleichwertige Präsidenten und wurde aufgrund der Neuwahlen im Februar 1919 konstituiert. Die demokratische Legitimation der ungarischen Legislative war dagegen weitaus weniger ausgeprägt. Aus dem am 24. Oktober einberufenen Nationalrat, einem exklusiven Machtzentrum ohne demokratische Legitimation mit seinemAnspruch auf Legislative und Exekutive ging am 31. Oktober die von König Karl IV. ernannte Károlyi-Regierung hervor. Dieses Kabinett im Auftrag des Nationalrates stattete sich im Volksgesetz vom 22. November 1918 neben der Exekutive auch mit legislativer Macht aus.47 Der sog. Nationalrat setzte sich, rechtlich nicht ganz geklärt, aus Vertretern der Verwaltung sowie von Parteien und unterschiedlichen politischen und administrativen Gremien zusammen. In Ungarn wie in Österreich verkündete man Partizipations- und Freiheitsrechte. In Ungarn verabschiedete man auch ein Gesetz über das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht. Aber die verfassungsgebenden Nationalratswahlen wurden in Ungarn bis April 1919 aufgeschoben. Laut offizieller Begründung wären Wahlen ohne Beteiligung der besetzten Gebiete einer de jure-Anerkennung der Gebietsverluste Großungarns gleichgekommen. Die Ausrufung der Räterepublik verhinderte schließlich die für April verkündeten Wahlen. Dies ermöglichte weder die demokratische Meinungsbildung der Bevölkerung über das Krisenmanagement noch die Konstituierung eines verfassungsgebenden Nationalrats.48 Die Phänomene in der Exekutive und Legislative des ungarischen Staatswerdungsprozesses spiegelten eine überwiegend paternalistische, auf Untertanen-Mentalität basierende politische Kultur wider. Die alte Machtelite untersagte ihre Partizipation und damit auch Verantwortungsteilung am Krisenmanagement. Vom verabschiedeten, jedoch bloß auf dem Papier existierenden demokratischen Wahlrecht wurde in der ersten Phase der Staatswerdung kein Gebrauch gemacht, somit konnte die Bevölkerung ihre Meinung zum Neubeginn nicht äußern. Das hieß freilich nicht, dass die ungarische Bevölkerung nicht ihre Missbilligung über die Zustände am Kriegsende in Form von Arbeiterstreiks und verschiedenen Unruhen zum Ausdruck gebracht hätte, im Gegenteil. In Budapest konnte man jedoch, wie in den anderen Hauptstädten der Nachfolgerstaaten, im Spätherbst 1918 die öffentliche Ordnung ziemlich schnell dank des effektiven Durchgreifens der Exekutive wieder

47 Az 1910. évi június hó 21-ére hirdetett országgyülés képviselöházának irományai, LXIV. Kötet. Budapest 1918, 412. 48 Die ersten Nationalratswahlen fanden im Januar 1920 in jenen Wahlbezirken statt, wo keine fremden Armeen stationiert waren. Aufgrund der Wahlen entstand eine rechtskonservative Parlamentsmehrheit und rechte Regierungskoalition unter Beteiligung einer christlichsozialen und einer Bauernpartei. Die Sozialdemokraten hielten sich von diesen Nationalratswahlen aus Protest gegen den „weißen Terror“ fern.

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herstellen. Die durch Kriegsmüdigkeit und Kriegsverlust ins Schwanken gekommene Loyalität zur Staatsmacht und die geschwächte Exekutive auf dem Land förderten den Ausbruch der aufgestauten sozioökonomischen Spannungen der Landbevölkerung, die jedoch selten politischen Charakter besaßen.49 In den 133 Tagen der Rätediktatur50 nahm die zentrale Lenkung und Untertanenkultur verständlicherweise eine weitaus bedeutendere Rolle ein, welche aber die Loyalität der Landbevölkerung zur Staatsmacht nicht steigerte, im Gegenteil. Und auch in der darauf folgenden Phase der sogenannten Konterrevolution, in der die bis dato inaktiven und zum Teil im Exil befindlichen nationalkonservativen Kräfte mit Unterstützung rechtsradikaler paramilitärischer Einheiten die politische Macht erzwangen, blieb die von der Entente-Mächten erhoffte, partizipierende, demokratische Kultur in Ungarn bescheiden. ABWEICHENDE INTERNATIONALE IMPULSE IM ZEICHEN „KOLLEKTIVER SICHERHEIT“51 Wie der Zerfall der Habsburgermonarchie, so fand auch die Entstehung der österreichischen und ungarischen Staatlichkeit am Ende des Ersten Weltkrieges in einem internationalen Kontext statt. Der Handlungsspielraum der Akteure des untergehenden Reiches und der im Entstehen begriffenen Neustaaten wurde durch die internationalen Konstellationen strukturiert, oft beengt sowie gelenkt. Hier sollen kurz die Unterschiede im außenpolitischen Handlungsspielraum Österreichs und Ungarns und einige internationalen Einwirkungen exemplarisch beleuchtet werden. Als der Erste Weltkrieg begann, rechneten weder die späteren Siegerstaaten,52 noch die politische Führung der Doppelmonarchie mit einer Auflösung des Reiches. Erst im letzten Kriegsjahr kristallisierte sich das neue Konzept einer mitteleuropäischen Ordnung ohne die Habsburger heraus.53 Mit dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg im Spätherbst 1917 verlor die Habsburgermonarchie ihre austarierende

49 Gábor Egry, Közvetlen demokrácia, nemzeti forradalom. Hatalomváltás, átmeneti és helyi nemzeti tanácsok Erdélyben, in: Múltunk. Politikatörténeti Folyóirat (2010) 3, 92–108, hier 95. 50 Die ungarische Räterepublik bestand zwischen 21. 3. 1919 und 1. 8. 1919. 51 Anselm Doering-Manteuffel, Kollektive Sicherheit, Demokratie und Entspannungspolitik. Der historische Ort des Völkerbunds in der Geschichte der Moderne, in: Michaela BachemRehm/Claudia Hiepel/Henning Türk (Hg.), Teilung überwinden. Europäische und internationale Geschichte im 19. Und 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilfried Loth, München 2014, 305–316. 52 Peter Krüger, Die Friedensordnung von 1919 und die Entstehung neuer Staaten in Ostmitteleuropa, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993, 93–115, hier 96. 53 Eine detaillierte und fundierte Darstellung über die Rolle der Habsburgermonarchie im Krieg siehe in: Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien-Köln-Weimar 2013.

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Funktion im europäischen Gleichgewicht. Dazu kam noch ihre immer stärker werdende Abhängigkeit vom Deutschen Reich, welche aus der inneren komplexen Krise und Unterlegenheit Wiens resultierte. Die Entente-Mächte bedienten sich auch der inneren Zersetzung des Gegners, was im Falle der Doppelmonarchie ab 1918 mit der Unterstützung nationaler Abspaltungsbemühungen erfolgte. Die Unterminierung des Habsburgerreiches eröffnete den Weg zu einer internationalen Neuordnung Mitteleuropas, wonach die Nationalstaaten das jahrhundertalte Landimperium mit seiner ethnischen Vielfalt in kleineren Staatseinheiten ablösen sollten. Aber darüber, wie dieses Mitteleuropa der Kleinstaaten aussehen solle, gab es 1918 unterschiedliche, miteinander konkurrierende Konzepte, eines des „Ostens“ und eines des „Westens“. Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündete Wladimir Iljitsch Lenin eine selbstgewählte, jedoch eher theoretisch gedachte, vor allem territoriale Souveränität. Woodrow Wilson, amerikanischer Präsident, verstand unter demselben Schlagwort die Selbstregierung eines demokratischen Regimes.54 Im letzten Kriegsjahr erreichten beide „ideologischen Offensiven“55 das krisenhafte Habsburgerreich, womit sie dessen Zerfallsprozess beschleunigten.56 Beide Auslegungen fanden im mitteleuropäischen politischen und öffentlichen Diskurs starken Wiederhall, jedoch in einer speziellen Mischung. Als Leitziel galt unangefochten die territoriale Unabhängigkeit und Souveränität für die Nationen. Im politischen Diskurs kristallisierte sich im Spätherbst 1918 eine zusätzliche Verkoppelung zwischen Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit und nach mehr Demokratie heraus.57 Dieser Wunsch nach mehr Demokratie wurde in erster Linie mit einem Anspruch auf soziale Gleichberechtigung und politische Partizipation verknüpft, was mit der Auffassung Wilsons im Einklang stand. Die „Demokratie“ war im Jahre 1918 in Mitteleuropa „plötzlich“ Mode geworden und galt als Gegenentwurf zum autoritären „verhassten Alten“, was mit der Habsburgermonarchie samt ihren Schwächen und mit dem Krieg samt seinen Leiden gleichgestellt werden konnte. „Der Demokratie schien die Zukunft zu gehören“.58 Dieser Demokratisierungsschub aus dem „Westen“ brachte jedoch kein Heil für die durch den Krieg ins Schwanken gebrachte Welt Mitteleuropas. Die neuen politischen Akteure erhofften sich durch die Verkündung einer demokratischen

54 Mehr zu den Jahren 1918–1923 in: Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010, 144–189. 55 Manfried Rauchensteiner, „Das neue Jahr machte bei uns einen traurigen Einzug“. Das Ende des Großen Krieges, in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 21–41, hier 38. 56 Über die Katalysatorrolle der russischen Revolutionen in Verena Moritz: 1917. Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution, Wien 2017, 48. 57 Peter Krüger, Die Friedensordnung von 1919 und die Entstehung neuer Staaten in Ostmitteleuropa, in: Hans Lemberg/Peter Heumos (Hg.), Das Jahr 1919 in der Tschechoslowakei und in Ostmitteleuropa, München 1993, 93–115, hier 101. 58 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, 267.

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Neuordnung mehr Sympathie seitens der Sieger und dadurch auch bessere Friedensbedingungen. Aber auf der anderen Seite mangelte es an einer bereits verwurzelten demokratisch-politischen Kultur. Hinter dem neuen politischen Losungswort stand außer in der Sozialdemokratie und bei mancher radikalen Intelligenz keine demokratische Tradition, geschweige eine Verankerung in breiten Schichten der Bevölkerung. Dies führte letztlich in Mitteleuropa überall zum frühzeitigen Scheitern dieses demokratischen Experiments – außer in der Tschechoslowakei. Dieser Demokratieexport am Kriegsende fand in einer wirtschaftlich sehr angeschlagenen Situation statt, daher vermochte er die sozioökonomischen Probleme, die sich durch den Übergang von der Agrargesellschaft in die Industriegesellschaft bereits vor dem Krieg aufgetan hatten, nicht zu überbrücken.59 In der Zwischenkriegszeit wuchs daher nicht die demokratische Selbstregierung, das Selbstbestimmungsrecht nach Wilsons Vorstellung, sondern ein autoritärer Nationalismus zum massenwirksamen, neuen ideologischen Leitbild für Mittel- und Osteuropa empor. Die nationalen Abspaltungsbemühungen waren am Kriegsende nicht zu übersehen. Die Monarchie bot das Bild eines sich durchsetzenden Widerstandes und einer um sich greifenden Desintegration. Erst in der Endphase des Auflösungsprozesses bot Kaiser Karl am 16. Oktober 1918 in seinem Manifest die offizielle Einwilligung zur nationalen Selbstorganisation in Form von Nationalräten an, jedoch innerhalb eines föderalen Rahmens.60 Damit legalisierte der Kaiser zusätzlich die bereits entstandenen Nationalräte in Zagreb und Krakau und gab die legitimierende Triebkraft zu ihrer Entstehung in Prag, Wien und Budapest.61 Der Kaiser stimmte Ende Oktober 1918 zu, dass die Befehlsmacht über das im Hinterland befindliche Militär und die Exekutive in die Hände des jeweiligen Nationalrats überging.62 Diese noch vom Kaiser gesteuerte Übertragung des staatlichen Gewaltmonopols war ein wichtiges Element bei der durchaus friedlichen Selbstauflösung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Bis Ende Oktober 1918 entstand so eine de facto Staatlichkeit in Österreich und Ungarn, obwohl außer der Staatsgewalt weder die Fragen des Staatsgebietes noch Staatsvolkes genau geklärt worden waren. Als primärer Auftrag jedes Staates gilt die Garantie der inneren und äußeren Ordnung, was wiederum eine Souveränität nach Innen und Außen voraussetzt. In der sich globalisierenden Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts agierten die neuen de facto Staaten in keinem luftleeren Raum, sie waren Bestandteile eines sich neu 59 Eine Kurzzusammenfassung über die ungelöste Probleme Ostmitteleuropas nach 1918: Peter Krüger, Ostmitteleuropa und das Staatensystem nach dem Ersten Weltkrieg: Im Spannungsfeld von Zentren, Peripherien, Grenzen und Regionen, in: Eduard Mühle (Hg.), Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquims zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg, Marburg, 2001, 53–68. 60 Helmut Rumpler, Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung des Habsburgerreiches, Wien 1966. 61 Das kaiserliche Manifest bezog sich bloß auf die österreichische Reichshälfte. Darüber, ob es auf die Selbstentscheidung des Kaisers oder auf die ausdrückliche Bitte der ungarischen Führung zurückzuführen sei, gehen die Meinungen und Literatur auseinander. 62 Népszava, 1.11.1918, 10.

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formenden internationalen Systems, welches das Ziel einer „globalen Ordnung“ und ein System der „kollektiven Sicherheit“ vor Augen hatte.63 Um für die Neustaaten als selbständiger Souverän international handeln zu können, war eine de jure Staatlichkeit von Nöten. Die internationale Anerkennung durch einen Friedensvertrag setzte jedoch nicht nur die Kriterien der de facto Staatlichkeit (Staatsgebiet, Staatsbevölkerung und Staatsgewalt)64 sondern auch eine demokratische Führung, eine von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannte und akzeptierte Regierung voraus,65 welche als Garant für innere Stabilität und internationale Ordnung betrachtet wurde Nach diesen Intentionen der demokratischen Siegerstaaten diente eine demokratische Legalisierung der neuen Staatsmacht zur Stabilisierung und zum Schutz des von ihnen errichteten neuen internationalen Staatensystems. Falls die neuen de facto Staaten die neuen Ordnungsvorstellungen der Siegerstaaten gefährdeten, agierten die Letzteren mit unterschiedlichen, aber meist bescheidenen Mitteln. Ihr Handeln bewirkte dennoch oft eine nicht immer kontrollierbare Eigendynamik. Die Methode, mit der die Entente-Mächte die im Entstehen begriffene Neuordnung Mitteleuropas zu beeinflussen versuchten, war eine Fortsetzung jener Politik, die gegenüber der Habsburgermonarchie bereits gehandhabt worden war. Sie bediente sich nämlich der vorhandenen national-ethnischen Ressentiments und Gegensätze der Region als „Bestrafung“ oder „Belohnung“ eines Staates. Ihr „imperialer Blick“ ermöglichte den Entscheidungsträgern in Paris, dass sie Territorien eines Staates, welcher in ihren Augen die neue und erwünschte Ordnung Mitteleuropas zu gefährden schien, mittels ethnisch-nationaler oder ökonomischer Argumente einem anderen bevorzugten Staat überließen. Österreich und Ungarn waren Verlierer des Krieges und wurden als Verantwortliche für den Krieg wahrgenommen, was einer außenpolitischen Isolierung gleichkam. Beide Staaten verfügten bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages über einen äußerst begrenzten Handlungsspielraum, was sich auch in der zwingenden Hinnahme der Gebietsbesetzungen durch Nachbarstaaten äußerte. Ihre außenpolitische Situation erschwerte zusätzlich, dass sie als Neustaaten über keine offizielle diplomatische Vertretung verfügten und vorerst auf die alten Botschaften der Habsburgermonarchie– hauptsächlich in neutralen Staaten – zurückgreifen mussten. Die Grundlinien der Außenpolitik Österreichs und Ungarns waren dieselben. Im Zentrum stand die sogenannte „pazifistische“ Politik, die auf der Hoffnung von US-Präsident Woodrow Wilson und auf seinem Programm basierte. Dieser „passive“ Ansatz entsprach pragmatischen Überlegungen: Militärisch konnten weder

63 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018. 64 Nach der Definition Georg Jellineks konstituiert sich ein Staat durch folgende drei Elemente: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. In: Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, 394–434. 65 Diese von den Siegermächten erwartete demokratische Legalisierung der neuen Staatsgewalt sollte mittels allgemeinen Wahlrechtes und abgehaltener parlamentarischer Wahlen bestätigt werden.

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Wien noch Budapest den Fremdbesatzungen entgegenwirken. Sie rechneten vorerst damit, dass diese Gebietsabtretungen provisorisch seien und der „gerechte“ Friedensvertrag wenigstens einen Teil davon annullieren werde. Daher war ein ehestmöglicher Friedensabschluss erwünscht. Im Vergleich zu Ungarn führte das neue Österreich eine Außenpolitik, die, von den Anschlussbestrebungen an Deutschland66 abgesehen, kaum das Eingreifen der Siegermächte hervorrief, was sicher auch ein Verdienst des diplomatischen Geschicks von Otto Bauer67 war. Bis zur Rätediktatur leitete Ministerpräsident Károlyi die ungarische Außenpolitik, welche dagegen zu immer mehr Einfluss auf die innenpolitischen Angelegenheiten Ungarns durch die Entente-Mächte führte. Dank Bauers taktisch-diplomatischen Fertigkeiten konnte Österreich die eigene problematische Lebensmittelversorgung instrumentalisieren und damit einen mäßigen, aber durchaus vorhandenen Einfluss auf die außenpolitischen Gegebenheiten üben. Bereits während des Krieges hingen die Kerngebiete des späteren Deutschösterreich von ungarischen und tschechischen Lebensmittel- und Kohlenlieferungen ab. Die Frage der Versorgungsengpässe rückte ins Zentrum des politischen Handelns. Diese Erfahrungen verstärkten um das Kriegsende den Glauben an die Lebensunfähigkeit Kleinösterreichs und an die Notwendigkeit eines Anschlusses an Deutschland. Der erwünschte Zusammenschluss der zwei deutschen Staaten wurde jedoch von den Siegern strikt untersagt. Aber dem Hungertod konnte man ein ganzes Land in Mitteleuropa nicht preisgeben. Selbst der im Bürgerkrieg befindlichen hungernden Bevölkerung in Russland wurde internationale Hilfe geleistet.68 Die österreichische Regierung richtete bereits im Spätherbst 1918 mehrere Appelle an die internationale Gemeinschaft, um ihre städtische Bevölkerung vor dem Hungertod zu retten. Es begannen Verhandlungen über mögliche Hilfe sowohl in der Schweiz als auch in Wien zwischen Vertretern Österreichs und der Siegermächte.69 Als deren Resultat rollte tatsächlich internationale Hilfe nach Österreich. NGO-s, das Rote Kreuz, die Quäker und die Schwedische Mission verteilten Hilfsgüter in Österreich. Herbert Hoover, der US-Nahrungsmittelbeauftragte für Europa, vermittelte für die Renner-Regierung einen Kredit von 48 Millionen Dollar für den sofortigen Ankauf von Lebensmitteln.70 Eine Destabilisierung der Staatlichkeit o-

66 Nach dem Urteil von Ernst Hanisch war die Anschlusspolitik der erste große Fehler Bauers als Spitzenpolitiker. Siehe: Ernst Hanisch, Im Zeichen von Otto Bauer. Deutschösterreichs Außenpolitik in den Jahren 1918 bis 1919. in: Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hg.), Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich. Band I, Wien 2008, 207–222, hier 218. 67 Carlo Moos, Habsburg post mortem. Betrachtungen zum Weiterleben der Habsburgermonarchie, Wien 2016. 44–45. 68 Siehe über die Nansen-Mission: Daniel R. Maul, Appell an das Gewissen Europas – Fridtjof Nansen und die russische Hungerhilfe 1921–23. URL: http://www.europa.clio-online.de/ essay/id/artikel-3604 (abgerufen am 19.10.2018). 69 Hans Loewenfeld-Russ, Im Kampf gegen den Hunger. Aus den Erinnerungen des Staatssekretärs für Volksernährung 1918–1920, Wien 1986, 231–282. 70 Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2008, 60.

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der ein Zerfall traditioneller sozialer Gefüge stand keineswegs im Interesse der internationalen Gemeinschaft. Noch ein zusätzliches „russisches Drehbuch“ der Eigendynamik wollte man unbedingt unterbinden. Diese internationale Hilfe konnte als Erfolg der neuen österreichischen Außenpolitik interpretiert werden, was die innere Legitimität des neuen Regimes stärkte. Ferner galten die Verhandlungen und die eintreffende Hilfe als eine de facto Anerkennung der Existenz des hilfsbedürftigen österreichischen Staates. Zusätzlich positiven Output der Verhandlungen brachten die persönlichen Kontakte und die Kommunikation mit den Vertretern der Entente-Mächte über die Probleme des Landes mit sich. Außenminister Bauer jonglierte geschickt mit der aus dem bedrohlichen Versorgungsengpass resultierenden österreichischen Abhängigkeit. Mit dem Argument, Österreich bedürfe die Hilfe der Entente, lehnte er ein bolschewistisches Experiment gegenüber Ungarn71 und der eigenen Bevölkerung ab. Die „Waffe“ der Versorgungsprobleme war vielseitig einzusetzen. Unter den österreichischen Argumenten für einen Anschluss Westungarns72 an Österreich spielte die Lebensmittelkapazität des beanspruchten Gebietes für die Versorgung Wiens ebenfalls eine Rolle. Eine andere, aber weitaus weniger erfolgreiche politische Karte war in der Hand Bauers die Frage des Anschlusses Österreichs an Deutschland. Im Frühjahr 1919 kam ein weiteres, jedoch unverhofftes Druckmittel ins Inventar der österreichischen politischen Handlungsargumente. Die Ausrufung der ungarischen Rätediktatur am 21. März 1919 setzte die Entscheidungsträger in Paris in Schrecken, auch wenn sie bereits über Kenntnisse der linksradikalen Aktivitäten in Budapest verfügten.73 Ihre Eindämmungspolitik gegen die Verbreitung des Kommunismus außerhalb Ungarns basierte auf der Isolierung Ungarns durch die Nachbarstaaten. Eine militärische Intervention in Ungarn und in Österreich durch Entente-Staaten lehnten die Entscheidungsträger aber ab, weil diese Handhabung bereits in Russland zum Desaster führte. Stattdessen ermutigten sie die Nachbarstaaten Ungarns zu weiteren militärischen Interventionen, wofür die Angreifer mit Gebietsabtrennungen von Großungarn, die bereits vor der Rätediktatur ausgehandelt worden waren, belohnt werden konnten. Tschechische, rumänische und südslawische Truppen nahmen dieses Angebot zur Vergrößerung eigener Staatsgebiete wahr und besetzten breite Landstreifen über die ausgehandelten Demarkationslinien vom Spätherbst 1918 hinaus. Diese Besetzungen waren für die ungarische Öffentlichkeit besonders schmerzhaft, weil diese Gebiete mehrheitlich von ungarischsprachiger Bevölkerung bewohnt waren.

71 ÖStA AdR NPA Nachlass Bauer, Karton 234. Umschlag IX. d, N. 393–408. Auf Ungarisch Miklós Színai, A Magyar Tanácsköztársaság és Ausztria kapcsolataihoz: Otto Bauer levele Kun Bélához, in: Századok 103 (1994) 2–3, 449–470. 72 Das heutige Bundesland Burgenland. 73 Oberst Sir Thomas Cunningham, Leiter der britischen Militärkommission in Wien, agierte stark gegen linksradikale Tendenzen in Österreich und befürchtete das Übergreifen des Bolschewismus aus Ungarn nach Wien, worüber er zahlreiche Berichte verfasste.

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Die Eindämmungspolitik der Siegermächte in Richtung Österreich basierte einerseits auf Zugeständnissen, wie der Behebung der Wirtschaftsblockade und der Einladung zu Friedensverhandlungen74 nach Paris, andererseits aber auch auf Drohungen mit Aussetzung alliierter Lebensmittellieferungen im Falle eines Räteexperiments. Auf diese Argumente bezog sich brillant Otto Bauer, als er die Bolschewisierung Österreichs der eigenen Bevölkerung und der ungarischen Aufforderung gegenüber ablehnte. Bauers diplomatisches Talent vermochte die Gefahr der Bolschewisierung Österreichs als Druckmittel gegenüber den Siegermächten einzusetzen, worauf die Sieger in Paris mit den oben erwähnten Zugeständnissen reagierten. Die ungarische Außenpolitik agierte unter ungünstigeren Sternen als die österreichische. Die fehlende internationale Anerkennung lastete mehr auf Ungarn, obwohl es dieselbe prowestliche, Entente-freundliche Politik wie Österreich vertrat. Als einziges außenpolitisches Ergebnis konnte die Károlyi-Regierung die Militärkonvention vom 7. November 1918 in Belgrad aufweisen. In diesem Waffenstillstandsvertrag wurden die südlichen und östlichen Demarkationslinien Ungarns durch Entente-Militärvertreter festgelegt und dies bedeutete daher eine de facto Anerkennung Ungarns. Diese worden jedoch durch weitere Gebietsbesetzungen der Nachbarstaaten, besonders nach der Ausrufung der Rätediktatur, missachtet. Ausbleibende außenpolitische Erfolge sowie die komplexe, innenpolitisch-ökonomische Krisensituation erschwerten die Konsolidierung der schwachen Kleinkoalitionsregierung Károlyis und begünstigten den Glauben an die Notwendigkeit radikaler Lösungsversuche. Besonders zielbewusst agierten die von Moskau entsandten und unterstützten ungarischen Kommunisten, um die überforderte Staatsmacht zu unterminieren. Die immer schwächer werdende ungarische Staatlichkeit mit schrumpfender Souveränität nach Innen und Außen weckte immer mehr Aufmerksamkeit und Sorge bei den Entscheidungsträgern in Paris. Die Errichtung der Rätediktatur in Ungarn entfaltete eine gegen Ungarn gerichtete internationale Eigendynamik unter der Leitung der Siegermächte. Die außenpolitische Ausgesetztheit der schwachen ungarischen Staatlichkeit und die mangelhafte Souveränität spiegelten sich auch darin, dass die bolschewistische Diktatur in Ungarn mittels außenpolitischer Unterstützung durch Sowjetrussland errichtet worden war. Aber auch für die Herbeiführung einer Konsolidierung nach der Rätediktatur Anfangs August 1919 bedurfte das Land des aktiven Eingreifens des Westens. Die Siegermächte bedienten sich gegenüber Ungarn nach der kommunistischen Diktatur einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche: Die Wirtschaftsblockade wurde zwar aufgelöst und Ungarn bekam eine Einladung zu

74 Die österreichischen Vertreter waren wie auch die deutschen und später die ungarischen Kollegen isoliert beherbergt und konnten an den Verhandlungen nicht aktiv teilnehmen. Sie erhielten die Bedingungen schriftlich, worauf sie auch schriftlich antworten mussten, es fanden nur Notenwechsel statt. Unter den Vertretern der Besiegten durfte allein der Vorsitzende der ungarischen Delegation, Graf Albert Aponyi, ein Plädoyer für die ungarischen Argumente halten, die wenig bis gar keinen Wiederhall für die Verbesserungen der ungarischen Friedensbedingungen fanden.

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Friedensverhandlungen, wo ihm aber sehr harte und schmerzhafte Friedensbedingungen vorgelegt und aufgezwungen wurden. Im Jahre 1920 konnte man in der internationalen Gemeinschaft einem hungernden Kleinstaat wie Österreich, der dem verhassten Kommunismus standgehalten hatte, mehr „Mitgefühl und Mitleid“ entgegenbringen als dem auf „Großungarn“ beharrenden, in Chaos und Kommunismus und hernach in Revisionismus versinkenden Kleinstaat Ungarn. Die neue Staatsgründung im Spätherbst 1918 fand in Österreich auf der Grundlage pragmatischen Zusammenwirkens und politischen Konsenses aller Parteien statt. Die ideologischen Brüche zwischen rechten und linken Massenparteien kamen erst nach dem anfänglich erfolgreichen Krisenmanagement ab 1920 zum Vorschein. Dieses verfestigte Lagerdenken bestimmte bis zum Bürgerkrieg im Februar 1934 das politische Handeln Österreichs. In Ungarn dagegen mangelte es an einem breiten politischen Konsens des Neubeginns im Spätherbst 1918, was letztlich zum starken Erodieren des Machtzentrums, zur kommunistischen Rätediktatur sowie zur sog. konterrevolutionären rechtskonservativen Restauration führte. Der mit Waffen ausgetragene Machtkampf des linken und rechten Machtkonzepts zwischen 1918 und 1920 ermöglichte dem siegreichen nationalkonservativen Machtzentrum die unangefochtene Selbstbehauptung bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Die von Nationalkonservativen herbeigeführte politische und ökonomische Konsolidierung der beginnenden 1920er Jahre war ein Resultat des direkten Eingreifens von Siegermächten und keine durch demokratische Wahlen oder im Bürgerkrieg errungene Machtposition.

TAGUNGSBERICHT „Bedingt einsatzbereit!“ Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Entwicklung, Erkenntnisse und Perspektiven

Noam Ittershagen Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Geschichte der Universität zu Köln im EU geförderten Programm für lebenslanges Lernen Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im Öffentlichen Leben e.V. Hamburg, 25.–27.10.2017 Perspektiven und Ausblicke europäischer militärischer Prävention und Intervention wurden vom 25.–27. Oktober 2017 in der Führungsakademie der Bundeswehr (Hamburg) von rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Teil durchaus kontrovers diskutiert. Die Tagung wurde von der Ranke-Gesellschaft, der Universität zu Köln, dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) und der Führungsakademie der Bundeswehr veranstaltet. Den Auftakt gab Jürgen Elvert (Köln) mit einem Beitrag über die Geschichte der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas. Er zeichnete die ersten Schritte der EU nach, die von Multipolarität zu einem Gemeinschaftsraum gingen. Allerdings galt es auch, um die Gemeinschaft zu leben, Kompetenzen abzutreten: 1952 unternahmen die EU-Gründungsstaaten einen ersten Anlauf hin zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Allerdings scheiterte dieser am 30.08.1954, da eine Ratifizierung nicht stattfand. Es folgten die Jahre des Kalten Krieges. Im Frühjahr 2014 zeigte sich, dass ein gemeinsamer Einsatz militärischer Mittel möglich ist: Die Krim-Krise zwang zu Handlungen. Die Abwehr äußerer Gefahren sollte Dreh- und Angelpunkt einer EVU sein. In Zeiten zunehmender internationaler Konflikte und erstarken nationaler Interessen schlagen Populisten vor, Grenzkontrollen wiedereinzurichten, das Asylrecht zu beschneiden und aus der NATO auszutreten. Die selbsternannten „Stimmen des Volkes“ richten sich gegen das politische Establishment, die Presse und die EU. Sie liefern einfache Rezepte für komplexe Herausforderungen. Allerdings zeigt sich: Das Errichten von Zäunen führt bloß zu anderen Routen von Flüchtenden und Schutzzölle erweisen sich mitnichten als Lösung ökonomischer Probleme. Die Maastrichter Verträge und auch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sollen besser gemacht werden.

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Anschließend skizzierte Jürgen zur Mühlen (Berlin) mögliche Wege in die Zukunft der GSVP: Die Armeen der Staaten in der EU verfügen über mehr als 1,5 Millionen Soldatinnen und Soldaten und die weltweit größte Rüstungsindustrie. Eine Bündelung der Ressourcen steigert die Effizienz und spart Kosten. Als sinnvolle Maßnahmen arbeitete zur Mühlen einen jährlichen Verteidigungsbericht (um Transparenz zu schaffen) und die qualifizierte Mehrheit bei Beschlüssen heraus. Auf struktureller Ebene müsse es weiterhin einen eigenen Rat der Verteidigungsminister, einen Verteidigungsausschuss (welcher nicht in souveräne Rechte eingreift), einen vielschichtigen Dialog und gebündelte Abwehr von Cyberbedrohungen geben. Mit diesen Maßnahmen könne eine europäische Verteidigungsunion geschaffen werden. Allerdings sollten die Wege optimistisch gegangen werden, um die Zukunft gut zu beschreiten. Es schloss sich eine Diskussion an, in welcher sich zwei Strömungen abzeichneten: Die einen favorisierten eine EVU, in welcher wenig Nationalstaaten beteiligt sind, um viele, schnelle Möglichkeiten auszuschöpfen, die anderen präferierten eine EVU, in welcher möglichst alle Nationalstaaten agieren, um keinen Staat auszugrenzen und die europäische Idee gemeinsam fortzuschreiben. Die erste Sektion der Konferenz, die im Zeichen von Anspruch und Wirklichkeit stand, beging Felix Kloke (Flensburg), in dem er die Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft von den Anfängen bis heute verfolgte: Die Krim-Krise beispielsweise schürte Ängste militärischer Intervention und machte deutlich, dass es klug ist, gemeinsame Lösungen vorzuhalten, bevor eine Intervention unvermeidbar wird. Weiterhin soll es keine europäische Armee, sondern eine Armee der Europäer geben. Hierdurch seien nationale Eingriffe weiterhin möglich. Den Anschluss an diesen Vortrag gestaltete Ralph Dietl (Belfast), der von der Transformation der NATO und der Wiedervereinigung der Europäischen Union berichtete. Er wies auf die Bedeutsamkeit der Global Zero Agenda, in welcher die Verbannung nuklearer Waffen niedergeschrieben ist, hin und zeigte die Feinheiten des Third Fact Space Denfence Shield, eines galaktischen Abwehrmechanismus, auf. In der auf die Vorträge folgenden Diskussion, welche von Nina Leonhard (Potsdam) geleitet wurde, wurden Parallelen zum Wiener Kongress und den Preußen, die bereits eine Art gemeinsamer europäischer Verteidigung anstrebten, gezogen. Ebenso wurde deutlich gemacht, dass die USA bei europäischer Verteidigungspolitik einen Ansprechpartner wünschen. Den Abendvortrag und damit den offiziellen Abschluss des ersten Veranstaltungstages hielt Marios Lyssiotis (Botschafter der Republik Zypern). Er lieferte eine Betrachtung der EU als Sicherheitsdienstleisterin im Mittelmeer. Zunächst stellte Lyssiotis die Bedeutung des Einflusses diplomatischer Klärung heraus und eröffnete, dass die EU sich durch Schutz ihre Bedeutung selbst gibt, indem sie sich als Sicherheitsdienstleisterin des Mittelmeers profiliert. So könne eine gemeinsame Kultur weiterhin aufleben, indem die EU und ihre Bürgerinnen geschützt werden und gemeinsame Sicherheit gewährleistet bleibt.

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Als Guidelines stellt der zypriotische Botschafter folgende Maßnahmen vor: 1. Antwort auf Konflikte; 2. Den Konfliktkreislauf vervollkommnen (von Frühwarnung bis zur Beendigung des Konflikts) und nicht zuletzt 3. Partnerschaften stärken. Lokale Akteure mit sanfter Macht und starken Handwerkszeugen können die EU in eine gemeinsame Zukunft führen. Zypern agiert als kleiner Staat mit vielen Grenzen als Beobachter der Außengrenzen. Dem Staat wird eine Brückenfunktion zuteil. Lyssiotis betonte, dass die ultimative Lösung stets politischer Natur zu sein hat und die EU sich in einer aktiveren Position engagieren sollte. Zu guter Letzt wurde der neue französisch-deutsche Führungsansatz, wie ihn Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede präsentierte, begrüßt. Die erste Sektion des zweiten Konferenztages stand im Zeichen des Spannungsfeldes Anspruch und Wirklichkeit. Stefan Fröhlich (Erlangen) und Michael Staak (Hamburg) ergänzten sich in ihren Vorträgen. Der Anspruch besteht zunächst einmal in gemeinsamer Verteidigungspolitik. Diese erscheint unter verschiedenen Labels (sei es gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) oder gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)). Weitere Ansprüche gestalten sich darin aus, dass ökonomisches Gewicht in politische Macht umzusetzen, autonome Verteidigungspolitik (in Abgrenzung zur NATO) zu betreiben, für Verteidigungsszenarien vorzuhalten, die strukturelle Macht auszubauen und als EU vollwertiger Akteur zu werden. Auf der anderen Seite steht die Wirklichkeit. Hier gebe es laut Experten ein Kohärenzproblem durch intrinsische Blockaden, die sich im Einstimmigkeitsprinzip manifestieren. Weiterhin sei europäische Verteidigungspolitik extrem reaktiv, die EU sei eine Zivilmacht, die militärische Einsätze hauptsächliche als ultima ratio begreift, wie es beispielsweise das Völkerrecht notwendig macht. Außerdem sei die geografische Reichweite eingeschränkt. Stefan Fröhlich arbeitete weiterhin die Verteidigungsstrategien anhand aktuellerer Konflikte heraus: In Anbetracht des Brexit, eines stark auftretenden Russlands, einem amerikanischen Präsidenten, der zuweilen aggressiv auftritt, und der Türkei, welche Reformen einleitet, die mindestens als kritisch zu betrachten sind, befindet die EU sich in einem komplexen Spannungsverhältnis. Im Rückblick auf den Jugoslawienkrieg war die NATO handlungsunfähig. Auch leiht sich die EU Assults bei der NATO, was im Hinblick auf das Vetorecht der USA problematisch werden kann. Ebenso war der Irak-Einsatz nur auf Berufung einer unabdingbaren humanitären Intervention möglich. Als Lösung schlug Fröhlich multinationale flexible Koalitionen und multinationale Bündnisse vor, die neorealistische Zivilmachtstrukturen und -konstruktionen abbilden. Wie am Tag zuvor bei Lyssiotis, wird die französisch-deutsche Zusammenarbeit hervorgehoben. Im weiteren Verlauf der Konferenz bot Jürgen Ehle (Brüssel) einen Überblick in die Zukunft der EU-NATO-Kooperation: Diese manifestiert sich in einer Joined Declaration, welche folgende sieben Punkte umfasst: Hybriden Bedrohungen entgegentreten, operationale Kooperation (welche Marineangelegenheiten inkludiert), Cybersicherheit und -abwehr, Abwehrtauglichkeit, Rüstungsindustrie und -forschung, gemeinsame Übungen, Aufbau von Kapazitäten in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit.

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Anschließend entwarf Jörg Hillmann (Hamburg) Bilder einer künftig erfolgreichen GSVP. Zur Innenansicht der Bundeswehr wurden aktuelle Herausforderungen herangezogen: Das Ansehen der GSVP ist bei deutschen Streitkräften gering. Ziel sollte sein, Strukturkenntnis zu schaffen und möglicherweise jeden Kommandanten in NATO-Verwendung zu bringen. Weiterhin gibt es innerhalb der Bundeswehr wenig Bereitschaft zu EU-Auseinandersetzung. Im Zentrum des Fokus‘ steht Afghanistan. Hierbei scheint zu gelten: Wer im Einsatz gekämpft hat, ist wichtig und wer bloß im Lager war, ist unwichtig. Viele Soldatinnen und Soldaten bedauern, dass es in der EU-Verwendung „langweilig“ sei, wohingegen sie in der NATO partizipieren können. Generell ist eine Stimmung wahrnehmbar, die sich gegen die EU richtet. Außerdem wird kritisiert, dass das Verteidigungsministerium hinter dem Außenministerium zurückfällt. Es herrscht keine gute Kommunikation über die Möglichkeiten und Begebenheiten in der EU. Nicht zuletzt wird bedauert, dass sich manche Dienstposten in der Auslandsverwendung allein gelassen fühlen. Um diese Hemmnisse zu überwinden, ist es notwendig die Kommunikation zu verbessern. Ferner sind bi- und multilaterale Bündnisse zu schaffen, in denen die einen wissen, was die anderen tun. Hierbei gilt es, eine klare Linie gegenüber den Bündnispartnern zu ziehen, um wechselseitige Verlässlichkeit zu gewährleisten. In einer guten GSVP stehen von allen alle Fähigkeiten (wie Panzer, Soldatinnen etc.) zur Verfügung. Auf Standardisierung statt Interoperationalisierung ist zu setzen und die Abrüstung sollte angesichts wachsender Bedrohungen kritisch betrachtet werden. Kleinere EU-Staaten dürfen nicht aus dem Blickfeld geraten. So entwickelt die Visegrád-Gruppe beispielsweise eigene Ideen. Die Voraussetzungen in der EU sollten wie folgt strukturiert sein: Basis allen Handelns ist gute Kommunikation. Auch ist die Bereitschaft, für die Vision einer EVU einzutreten, unverzichtbar: Hierzu müssen Staaten zunächst einmal wissen, was genau sie wollen. Mit der Joined Declaration wurde ein großer Schritt in die richtige Richtung gegangen. Weitere Schritte können sein, zunächst eine gemeinsame Marine und danach eine gemeinsame Luftwaffe zu stellen, um so in Gebieten, in denen Landesgrenzen und -kompetenzen schnell überwunden werden, einsatzbereit zu sein. Nach Hillmanns kritisch-konstruktiver Betrachtung erläuterte Johann Schmid (Berlin) EU-Kooperationen und die Weiterentwicklung der GSVP: Insgesamt pflegt die EU Beziehungen zu 140 Staaten und Organisationen. Strategische Partnerschaften sind neun zu nennen und hierbei ist die GSVP-Partnerschaft enorm relevant, denn sie ermöglicht militärisch-technologische Zusammenarbeit. Seit 2004, als der Zypernbeitritt erfolgte, treten Blockaden in diesem Sektor auf. Auch die Krim-Krise ist Teil des Konflikts. Hier leistete die EU diplomatische, politische, finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung. Des Weiteren wirkte diese als Katalysator für die Wiederbelebung der EU-NATO-Beziehungen. Es wurde ein Konzept für den Umgang mit hybriden Bedrohungen in Form von 22 Maßnahmen entwickelt. Das Zentrum gegen hybride Bedrohungen ist in Helsinki angesiedelt. Weiterhin umfassen die Maßnahmen operationale Zusammenarbeit bei Marine und Migration, Verteidigungsforschung und Rüstungsindustrie und gemeinsame Übungen. Als Ausblick bekundete Schmid die entschlossene, nachhaltige und dauerhafte

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Umsetzung und verwies auf 23 neue Vorschläge zur Zusammenarbeit. Sein Fazit war, dass die EU-NATO-Kooperation einsatzbereit ist. Sektion vier und fünf warfen Schlaglichter auf gewonnene Erkenntnisse. So schilderte Bastian Giegerich (London) die Zusammenhänge zwischen militärischer Fähigkeitsentwicklung der GSVP und Handlungsfähigkeit der EU. Weiterhin ging Constantinos Hadjisavvas (Brüssel) auf die militärische Komponente der GSVP ein und unterstrich durch seinen Erfahrungsbericht über Besuche in Konfliktregionen, in der gemeinsame europäische Missionen stattfinden, die Bedeutung der Zusammenarbeit. Gerade im Bereich des Infrastrukturaufbaus und der Stärkung ziviler Sicherheit tragen europäische Einsätze zur Stärkung der jeweiligen Länder bei. Lutz Feldt (Eurodefense, Hamburg) merkte hierzu an, ein Soldat sei da, um zu töten, nicht, um Infrastruktur aufzubauen. Zum Abschluss zog Tobias Pietz (Berlin) Schlüsse aus der zivilen Komponente der GSVP. Es gibt ein völlig neues Instrument im Krisenmanagement-Portfolio der EU: Die sogenannte „Stabilisierungsaktion“ in Mali, welche die erste Operationalisierung von Artikel 28 des Vertrags von Lissabon darstellt. Es ist noch offen, ob diese verschiedenen Instrumente und Aktivitäten komplementär oder – wie in der Globalen Strategie vorgesehen – integriert sein werden. Der letzte Konferenztag weitete den Blick in Richtung Außenperspektiven: Wie nehmen andere Staaten und Räume die GSVP der EU wahr? Stefan Brüne (Berlin) schilderte in seinem Vortag die Komplexität innerafrikanischer Beziehungen: In Afrika leiden die Menschen unter der politischen Lade. Eine Herausforderung, die sich auftut: Menschen wechseln die Lager rasch. So kommt es vor, dass ein Soldat, der für das äthiopische Militär gearbeitet hat, zum somalischen Militär wechselt, weil dort die Bezahlung lukrativer ist. Weiterhin stellt Brüne heraus, dass nur 5% der Masterabsolventinnen und -absolventen äthiopischer Universitäten Arbeit finden – somit sei Bildung keine Lösung. Im Anschluss an die Betrachtungen von Afrika ging Takumi Itabashi (Tokio/Köln) auf die Beziehungen zwischen der EU und Japan ein: Es treten Wechselwirkungen zwischen europäischem Wohlstand und Japans Sicherheit auf. Japan stellt die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. In der Analyse wird klar, dass die EU und Japan eine natürliche Partnerschaft verbindet: Beide sind globale Handelsmächte, die sich aber in relativem Rückgang befinden. Sie bezeichnen sich als „civilian powers“ und „aid superpowers“. Japan und die EU sehen sich als globale Partner, die dieselben Grundwerte teilen. Beide verwenden Aspekte eines „comprehensive approach“, der globalen Frieden und Stabilität als Ziel hat und zu guter Letzt teilen die EU und Japan gemeinsame Erfahrungen mit der Sicherheitszusammenarbeit vor Ort. Den Abschluss der außereuropäischen Perspektiven bildete Joachim Krause (Kiel) mit seinem Blick auf die USA: Zunächst fällt auf, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika wenig zu GSVP zu finden ist. Dies mag daran liegen, dass Europa wenig Kompetenz in Sachen Verteidigungspolitik zugeschrieben wird. Weiterhin wird die EU-Verteidigungspolitik als anachronistisch wahrgenommen (es ergeben sich Kooperationsschwierigkeiten bei Gesetzen und Regularien). Aus amerikanischer Sicht werden Großbritannien und Frankreich als nicht einsatzbereit

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für Außengrenzen wahrgenommen. Es zeigt sich auch Kritik an einer Trittbrettfahrer-Mentalität, da die Vorzüge eines amerikanischen Bündnispartners in der NATO genossen werden, aber nicht zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigungsausgaben fließt. So müssten letztlich militärische Probleme militärisch gelöst werden. Nicht zuletzt steht die Befürchtung: Je deutlicher eine EVU entsteht, desto mehr wird der Zerfall der Außengrenzen gefördert. Auch wirft Krause ein Licht auf den amtierenden US-Präsidenten. Noch werde Trump in einer Riege von Atlantikern, die sich nicht über einen Staat, sondern gemeinsame Werte wie freie Marktwirtschaft, Liberalismus und Demokratie identifizieren, eingehegt. Doch was wird geschehen, wenn diese im militärischen Bereich durch Nationalisten abgelöst werden? Die Konferenz konnte zeigen, wie komplex die Beziehungen und Aspekte gemeinsamer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik waren und sind. Jedoch wurde deutlich: Viele Staaten sind bestrebt, gemeinsam Verteidigung zu gestalten. Sei es, um Gefahren abzuwehren, sich als Gemeinschaftsraum zu begreifen oder Kosten zu senken. Durch die Unterzeichnung der PESCO-Vereinbarungen im November 2017 ist die Europäische Union einen großen Schritt in Richtung der Vision einer Vereinigung, die gemeinsam für humanitäre Sicherheit einsteht, gegangen. Einzelne Fragen bleiben jedoch ungeklärt und bedürfen weiterer Verhandlungen. Ob und wie eine umfassende Europäische Verteidigungsunion entstehen kann, wird die Zukunft mit ihren Herausforderungen und Chancen zeigen.

REZENSIONEN Maike Rauchstein: Fremde Vergangenheit. Zur Orientalistik des Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717–1791), 276 S., transcript: Bielefeld 2017, 49,99€. Rezensiert von Martin Schippan Neue Erkenntnisse über den Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis (1717– 1791), der zu den Impulsgebern der deutschen Orientwissenschaften im 18. Jahrhundert gehörte, scheint der Untertitel der Monographie Fremde Vergangenheit liefern zu wollen. Auf 260 Seiten setzt sich die Autorin Maike Rauchstein sowohl mit den Orient-Vorstellungen dieses Aufklärungstheologen auseinander, der an der Philosophischen Fakultät der Georgia Augusta u.a. die hebräische und arabische Sprache und Literatur zur Erläuterung und Kommentierung des Alten Testaments lehrte, als auch mit deren Widerhall. Mit ihrer Studie verfolgt die Autorin das Ziel, die sich ihrer Auffassung nach in der Forschung etablierte „Vorstellung der Fesselung der Frühorientalistik durch theologische Machenschaften“ (S. 12) zu widerlegen. Stattdessen will sie den „Fokus der Untersuchung […] auf den Wandel der Disziplin von einer exegetisch motivierten in eine betont nicht-theologische richten“ (S. 12). Offen lässt Maike Rauchstein in ihrer vergleichsweise kurz gefassten Einleitung, von welcher fachwissenschaftlichen Warte aus sie die Orientalistik bei Michaelis untersuchen möchte. Ihre ursprünglich an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock eingereichte Studie enthält sowohl wissenschafts- und kulturgeschichtliche Elemente als auch eine theologische Fragestellung. Mit sämtlichen geisteswissenschaftlichen Fachgebieten lässt sich Rauchsteins zentrale These, „dass die michaelische Orientalistik ebenso wie ihre Darstellung durch die Geschichtsschreibung die Fremdheit der eigenen Vergangenheit voraussetzt und dabei ein Bemühen um Abgrenzung oder Verstehen provoziert, in dem es nicht recht eigentlich um den Orient geht“ (S. 14), in Einklang bringen. Im Grunde genommen enthält diese Aussage zwei Leitfragen, die sich gesondert diskutieren lassen. Auf der einen Seite fragt die Autorin nach der historischen Konstitution von Michaelis‘ Konzept der Orientwissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Auf der anderen Seite diskutiert sie dessen „diskursive Verortung“ u.a. in der „postkolonialen“ Debatte die durch Edward Saids (1935–2003) Buch Orientalism ausgelöst wurde, mithilfe der von dem Berliner Kulturhistoriker Hartmut Böhme entwickelten Transformationstheorie, die dieser für den Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ entwickelte, versucht Rauchstein, das epistemische Feld der Orientwissenschaften abzustecken. Sollte sich dieses vom SFB 644 mit

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dem Neologismus „Allelopoiese“' apostrophierte Verfahren zur Analyse historischen Wandels der Antike-Vorstellungen eignen, so ließen sich die Grenzen seiner Anwendbarkeit bei rezeptionsgeschichtlichen und diskursanalytischen Ansätzen diskutieren. Immerhin handelt es sich bei Michaelis‘ Frühschriften um historische Zeugnisse, die sich nicht nur mit Bezug auf Abhandlungen Saids, sondern vor allem aus dem historischen Kontext der Aufklärungstheologie und dem der Geschichtsphilosophie interpretieren lassen. Die argumentative Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart äußert sich bereits in dem ersten Kapitel, in dem Rauchstein auf Michaelis‘ Selbst- und Fremdwahrnehmung eingeht. In der einleitenden Passage skizziert sie die biographischen Stationen des Göttinger Orientalisten, der bei dem Theologen Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) die ersten Impulse für das Studium der orientalischen Sprachen erhalten und während seiner Reise nach England zusätzliche Anregungen erfahren hatte. Bei seinen Zeitgenossen, vor allem bei seinen Schülern an der Georgia Augusta, wurde der Gelehrte Michaelis, so hebt es Rauchstein hervor, als „bedeutende Größe“ (S. 29) angesehen. Im 19. Jahrhundert flachte das Interesse an ihm ab. Ambivalent wurde seine Rolle als Wegbereiter der Orientwissenschaften einerseits und als Vertreter einer nicht-dogmatischen Bibelexegese andererseits wahrgenommen. Rauchsteins These zufolge, die für ihre weitere Argumentation von Relevanz wird, sei Johann David Michaelis im 20. Jahrhundert – etwa bei dem Religionswissenschaftler Rudolf Smend (1882–1975) – vorwiegend als Begründer der semitischen Sprachwissenschaft sowie als „'Orientalist am Rande der Theologie'“ (S. 37) gewürdigt worden. Die Zeugnisse über ihn seien, so lautet ihre zusammenfassende Behauptung, „homogener […] als unter dem Eindruck der Heterogenität zu vermuten ist“ (S. 43). Rauschstein zufolge habe Michaelis‘ Konflikt mit dem Leipziger Arabisten Johann Jacob Reiske (1716–1774), dem gegenüber er sich in der Universitätslehre hätte durchsetzen können, das einheitliche Bild von ihm in der Rezeptionsgeschichte geprägt. Im Sinne der Transformationstheorie unterscheidet Rauchstein im zweiten Kapitel jeweils zwischen einem „Aufnahmebereich“ und einem „Referenzbereich“ im 20. Jahrhundert. Betrachtungen dazu stellte sie ihrer „Kontextanalyse“ voran, der sie ein Großkapitel widmet. Inhaltlich hat diese Prämisse, auch wenn sie sich als folgerichtige Konsequenz von Rauchsteins Verständnis einer „Verschränkung von Wirklichkeit und ihrer Repräsentation“ (S. 13) erweist, zur Folge, dass sich die Autorin teilweise von der Ausgangsfrage nach der Orientalistik bei Michaelis entfernt und sich über längere Strecken bei den Debatten im 20. Jahrhundert aufhält. Rauchstein verweist außer auf Said und seine Orientalism-These dabei auf den deutschen Orientwissenschaftler Johann W. Fück (1894–1974), der als zeitweiliger Direktor der Hallenser Bibliothek der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft im Umfeld des Nationalsozialismus und später in der DDR tätig war. In ihren Augen habe Fück zu einem „einhellig vernichtenden Urteil über Johann David Michaelis und die deutsche Orientalistik der Aufklärungszeit“ (S. 48) beigetragen, indem er ihn als korrumpierten Vertreter der Theologischen Fakultät wahrgenommen hätte, seinen Widersacher Reiske zu einem „deutschen Märtyrer“ (S. 78) stilisierte, der die Ori-

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entalistik in ihrer Reinheit verkörpert habe. Spuren eines solchen „'Verunreinigungsdiskurs[es]'“ (S. 78) lassen sich, laut Rauchstein, bis in die Sekundärliteratur des 20. Jahrhunderts hinein nachweisen. Eine Ausnahme hingegen bilde die Studie Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-orientalischer Imagination im 19. Jahrhundert von Andrea Polaschegg (Berlin u. a. 2011), die sich gegen anachronistische Auffassungen in der Forschung und um eine wissenschaftshistorische Einordnung der Orientalistik Michaelis‘ bemüht habe. Nach diesem Streifzug durch die als „Aufnahmebereich“ bezeichnete Rezeptionsgeschichte wendet sich Rauchstein dem historischen Kontext zu, den sie als „Referenzbereich“ bezeichnet. In diesem universitätsgeschichtlichen Abriss widmet sie sich der Etablierung der Orientalistik an den deutschen Universitäten seit dem 16. Jahrhundert. Mit Recht hebt Rauchstein hervor, dass sich diese Disziplin im Heiligen Römisch Reich im Vergleich zu Frankreich, England oder den Niederlanden, die „staatspolitische Interessen im Orient verfolgten“ (S. 84), vergleichsweise spät entwickelt habe. Zur Kontextualisierung von Michaelis‘ Wirken skizziert sie die Einrichtung und Ausbildung von orientalistischen Ordinariaten in einem Querschnitt anhand der Universitäten Leipzig, Jena, Halle und schließlich Göttingen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert. An diesen Universitäten gehörte das Arabische zusammen mit dem Aramäischen und dem Hebräischen wesentlich zur exegetischen Ausbildung an der Theologischen Fakultät. Rauchstein hebt dabei die Bedeutung von Johann David Michaelis als Herausgeber einer Arabischen Grammatik sowie der Orientalischen und Exegetischen Bibliothek für die Lehre an der Georgia Augusta hervor – und dementiert damit, ohne es zu gewichten, die von ihr bekämpfte These Fücks, derzufolge der als Philosophie-Professor geschätzte Michaelis die Entwicklung einer unabhängigen Orientalistik verhindert habe. Interessant wäre für die „Kontextanalyse“ eine hier fehlende Darstellung der universitätsgeschichtlichen Vorzüge der Georgia Augusta, an der es eine weitgehende licentia academica gab, sowie der Auseinandersetzungen zwischen lutherischer Orthodoxie und Neologie gewesen, die ja auch zur Entwicklung einer philologischen Exegese innerhalb der Theologischen Fakultät beigetragen haben. Nach einer kurzen Lebensbeschreibung von Michaelis‘ Gegenspieler Johann Jacob Reiske geht die Autorin mit Akribie anhand von zahlreichen Quellen auf die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gelehrten ein, bei der es weniger um die Deutungshoheit über die Orientalistik ging, sondern vielmehr um den Vorwurf Reiskes, Michaelis habe seine wissenschaftliche Karriere sowie die Publikation seiner Übersetzungen verhindert, indem er Rezensionsexemplare unterschlagen und die Bestellung arabischer Druck-Typen aus Großbritannien verhindert hätte. Im Alten Reich, in dem es relativ wenig Spezialisten für die arabische Sprache gegeben habe, seien diese Lettern notwendig gewesen, um die Bücher überhaupt in Druck geben zu können. Unter Berufung auf den Lebensbericht von August Ludwig Schlözer (1735–1809), des Sohnes des berühmten Universalhistorikers, stellt Rauchstein diese Kontroverse als Ergebnis von Missverständnissen und auch von Erinnerungslücken Michaelis‘ und Reiskes heraus. Im Sinne des „Vetorechts der Quellen“ (Koselleck) dementiert die Autorin die u.a. von Fück vertretene Vorstellung, wonach die Orientalistik sich aufgrund der Vorrangstellung der Theologie

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nicht habe entfalten können. Die fehlenden Sachmittel einerseits, so lässt sich rückblickend urteilen, und Michaelis‘ Popularität unter den Studenten andererseits erwiesen sich als Hemmnisse für die Entwicklung von Reiskes säkularem Konzept der Orientwissenschaften, das der Bibelexegetik entgegengesetzt war. In ihrem Zwischenfazit fällt Rauchstein kein Sachurteil über die Bedeutung dieses Konflikts für die weitere Entwicklung der Orientalistik an der Georgia Augusta. Stattdessen spiegeln sich ihrer Einschätzung nach „die konkurrierenden Diskurse im Aufnahmebereich mit Ausnahme der Orientalism-These einen Konflikt fort, der im Referenzbereich angelegt ist“ (S. 140). Nach der umfangreichen „diskursiven Verortung“ konzentriert sich Rauchstein auf Michaelis‘ Schriften zur Orientalistik. Mit den Abhandlungen Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen (1757) sowie Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen (1758) wertet sie in dem Kapitel Ex oriente lux zwei historische Quellen aus, die nach bisherigem Forschungsstand wenig Resonanz erfahren haben. Anhand der Beurtheilungs-Schrift verdeutlicht Rauchstein, welche Bedeutung die sprachgeschichtlichen Studien für Michaelis eingenommen hätten. Mithilfe des Arabischen erhoffte der Göttinger Theologe, die Struktur der „ausgestorbenen“ hebräischen Sprache besser verstehen zu können. Dass sich Michaelis allgemein mit sprachphilosophischen Fragen auseinandergesetzt hatte, erläutert Rauchstein in dem Kapitel zur Beantwortungs-Schrift. Mit Recht verortet sie diese im Kontext der 1759 von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften initiierten sprachtheoretischen Preisaufgabe. Michaelis beklagt sich in dieser Abhandlung über den Überfluss von lateinischen Fachausdrücken und plädiert für die Einführung des Deutschen als Wissenschaftssprache. In diesen beiden Unterkapiteln liefert Rauchstein, ohne es hervorzuheben, die Belege für ein Ziel ihrer Arbeit, die von Fück aufgestellte „Verunglimpfungs-These“ zu dementieren. Mit seiner Methode, die Onto- und Phylogenese der Sprachgeschichte zu betrachten, bewegte sich Michaelis im naturgeschichtlichen Diskurs der Aufklärungszeit, die ihm die analoge Betrachtung der arabischen und der hebräischen Sprache erlaubte. Indirekt enthielt eine säkulare Untersuchung der Bibel zugleich eine Stoßrichtung gegen eine lutherische Dogmatik, die vom Primat des geschriebenen Worts ausging. Zur empirischen Fundierung seiner Exegese arabischer Schriften plante der Theologie eine Expedition in den Orient, die der dänische Außenminister Andreas Peter Graf von Bernstorff (1735–1797) unterstützte. Ein Motiv dieser Reise war, wie Rauchstein schildert, die „Textkritik der Bibel“ (S. 175). Von der Expedition erhoffte sich Michaelis sowohl Erkenntnisse über die 'semitischen' Sprachen als auch über die Naturgeschichte der Pflanzen, die in der Bibel erwähnt werden. Für die Expeditionsmitglieder verfasste er einen Fragenkatalog, in der er u.a. die SüßWasser-Beschaffenheit des Roten Meeres zum besseren Verständnis des Alten Testaments studieren wollte. Zudem interessierte sich Michaelis für die Auswirkungen der klimatischen Verhältnisse des Orients auf das Nahrungs- und Sexualverhalten der arabischen Einwohner, von dem er sich Rückschlüsse auf die Gebote des Pentateuchs erhoffte. Am Ende scheiterte jedoch die Expedition in den Nahen Osten an

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den Erkrankungen ihrer Teilnehmer. Mit Ausnahme des Mathematikers Carsten Niebuhr (1733–1815), der aufgrund fehlender Arabisch-Kenntnisse wenig zu den philologischen Forschungen beitragen konnte, kehrten die Teilnehmer nicht in ihre Heimat zurück. Unabhängig von dem unglücklichen Ausgang dieser Expedition erweisen sich der Fragenkatalog sowie die Instruktionen, wie sich die Reisenden im Orient zu verhalten hätten, als eine bedeutsame Quelle für das orientalistische Verständnis von Michaelis. Dabei erweist sich auch die These der Autorin als überzeugend, dass er mit der Expedition in den Orient einen „Zugang zur eigenen Vergangenheit“ (S. 209) erhoffte, indem er die arabische Bevölkerung als Spiegel der israelitischen ansah. In dem letzten Kapitel ihrer Arbeit Super Orientem Lux setzt sich Rauchstein mit den religiösen Konsequenzen Studien zur Orientalistik bei Michaelis auseinander. Quellentreu veranschaulicht sie anhand der Abhandlung über den Arabischen Geschmack (1777), wie Michaelis die Zeit vor der Niederschrift des Korans als Blütezeit des Geschmacks angesehen habe. Die arabische Bevölkerung beschrieb er hingegen „als über Erfahrung arm, gastfreundlich, ob einer ausgeprägten Rachgier aber als höchst gefährlich“ (S. 237). In einer Rezension zu einer Koran-Übersetzung bescheinigte Michaelis, dass der „Koran vor allem aus philosophischen Gründen eine ausführliche Betrachtung verdiene“ (S. 220). Immerhin gehöre der Islam zu den Naturreligionen und enthalte Gebote, die für die arabische Bevölkerung insgesamt nützlich seien. Jedoch dementiert Michaelis die Göttlichkeit des Propheten Mohammed, der auch dogmatische Interessen verfolgt habe. Sowohl den Koran als auch die Bibel prüfte er auf ihre Triftigkeit. Laut Rauchstein stellte Michaelis die Zugehörigkeit der einzelnen Bücher der Bibel zwar in Frage, wies der Heiligen Schrift als Ganzes jedoch das „Prädikat ‚göttlich‘“ (S. 232) zu. Nicht unbehelligt lässt sie dabei auch das „Juden“-Bild des Göttinger Theologen. Rauchsteins Auffassung nach zeigen sich Michaelis‘ antijüdische Stereotype in dessen Rezension zu Lessings Lustspiel Die Juden sowie an der zu der Abhandlung Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm (1751– 1820), in denen die antijüdischen Stereotype deutlich werde. Beide Unterkapitel sind – unter Verweis auf die Monographie: Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717–1791) von Anna Ruth-Löwenbrück – relativ kurz gehalten. Aber es wäre im Sinne ihrer Argumentation gewesen, wenn Rauchstein auf die orientalistischen Topoi vor allem in dessen Dohm-Rezension eingegangen wäre. Immerhin äußert Michaelis in ihr die Hoffnung, dass die Juden – die er als „südliches Volk“ bezeichnet – nach Palästina auswandern würden, und schwadroniert über den Wunsch, sie auf Zuckerplantagen in den Kolonien der Südseeinseln arbeiten zu lassen. Der Autorin sind diese Äußerungen auch bewusst, wenn sie die Argumente von Jonathan M. Hess, der in dem Göttinger Theologen einen Impulsgeber des modernen Antisemitismus zu erkennen meint, zu entkräften versucht. Immerhin hatte Michaelis die jüdische Bevölkerung, wie es Rauchstein auch zugibt, als „Staatsfeinde“ (S. 252) angesehen.

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Vordergründig plädierte Michaelis mit seiner Dohm-Rezension gegen die rechtliche Emanzipation der Juden im Staatswesen, was nicht nur eine religiöse, sondern vor allem eine politisch motivierte Forderung war. In ihrem Schlussurteil bekräftigt Rauchstein ihre zentrale These, dass Michaelis zu den umstrittenen Autoren seiner Zeit gehörte und dass die Orientalistik des 18. Jahrhunderts einer Transformation unterlegen gewesen sei. Mit Michaelis‘ sprachtheoretischen Abhandlungen liefert Rauchstein vor allem genügend Primärquellen, um spätere Legendenbildungen zu entkräften. Der Göttinger Theologe zeigte sich in ihnen als Vertreter der Aufklärungstheorie, der vom geschichtsphilosophischen Diskurs seiner Zeit beeinflusst worden war. Zusammenfassend betrachtet beruht der Wert von Rauchsteins Arbeit auf der Wiederentdeckung von bisher unzureichend beachteten Michaelis‘ Schriften, die akribisch ausgewertet werden. Mit ihrer Entscheidung jedoch, diese Abhandlungen mithilfe der Transformationstheorie zu untersuchen, wertet sie Debatten aus der Rezeptionsgeschichte auf. Jedoch stellt sich die Frage, welche Vorzüge dieses Verfahren gegenüber traditionellen diskurs- und rezeptionsgeschichtlichen Zugängen zur Orientalistik hat. Insgesamt liefert Rauchstein mit ihrer Arbeit wichtige Impulse, um der ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Göttinger Theologen weiter nachzugehen. Martin Schippan, Berlin

Kraus, Hans-Christof/Kroll, Frank-Lothar: Historiker und Archivar im Dienste Preußens. Festschrift für Jürgen Kloosterhuis, 656 S., Duncker & Humblot: Berlin 2015, 139,90€. Rezensiert von Ingo Löppenberg Einen Menschen zu ehren ist ein Privileg. Die Art und Weise in der diese Ehrung durchgeführt wird, ist bereits eine deutliche Aussage über die zu ehrende Person selbst. In der wissenschaftlichen Welt ist die dominierende Form neben einer Auszeichnung mit einem Preis die Veröffentlichung einer Festschrift, sei es zum Ausscheiden aus dem Dienst oder zu späteren, runden Geburtstagen, meist ab dem Sechzigsten. Das hier zu besprechende Werk ist genau solch eine Ehrung. Eine Festschrift sollte in seiner Gestaltung die Persönlichkeit des Forschers widerspiegeln. Sie sollte thematisch was ihre Beiträge betrifft das Œuvre der Person darstellen, historisieren und im günstigen Fall erweitern. Dabei ist letzteres nicht einfach, geraten doch Festschriften häufig zu Sammelbecken alter wissenschaftlicher Überbleibsel, welche sich noch in den Schubladen der Beiträger fanden oder es sind handwerklich schnell verfasste Aufsätze, die weder dem Autor noch dem Ehrenden angemessen sind. Im vorliegenden Falle gilt dies aber für keinen der insgesamt 28 Beiträge, von denen etliche von renommierten Fachleuten verfasst wurden. Jürgen Kloosterhuis feierte 2015 seinen 65. Geburtstag. Der gebürtige Coburger war seit 1996 Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, dem „Gedächtnis Preußens“ (S. IX), und damit Vorsteher eines „historischen Wissensspeicher[s]“ (S. XI), welchen Kloosterhuis modernisiert und in ein veritables Zentrum für Forschungsdienstleistungen umgewandelt hat. Seit 2017 ist er im Ruhestand. Die neuere Preußenforschung wäre ohne diese Aktivitäten undenkbar, wie das Geleitwort von Hermann Parzinger verdeutlicht. Frank-Lothar Kroll zeichnet zunächst den Lebensweg und das Lebenswerk des Jubilars eng geknüpft an seinen Veröffentlichungen nach. Schwerpunkte dessen waren die preußische Geschichte und hier die Person Wilhelms I., die Militärgeschichte, wo er die „Sozialmilitarisierungsthese“ von Otto Büsch nah an den Quellen widerlegte, die westfälische Landesgeschichte, die Studenten- und Korporationsgeschichte und das Archivwesen. Insgesamt 158 Schriften listet hierzu das von Mario H. Müller erstellte Verzeichnis auf. Kurzbiographie und Schriftenverzeichnis klammern den Band, sein Inhalt und sein Aufbau aber werden durch die Forschungsgebiete von Kloosterhuis bestimmt. Überhaupt bemühen sich die Autoren immer wieder, das Werk des Geehrten in ihren Artikeln widerzuspiegeln und auf ihn zu verweisen. Auch persönliche Anekdoten kommen vor und die Dankbarkeit der Autoren gegenüber Kloosterhuis schimmert immer wieder durch die Zeilen. Ergänzt wird dieses sympathische Bild durch das Foto ganz zu Beginn der Festschrift. Es zeigt nämlich nicht nur Jürgen Kloosterhuis, sondern auch seine Frau Elisabeth, die ebenfalls als Historikerin tätig ist. Dass hinter vielen wissenschaftlichen Lebensläufen auch eine unterstützende Familie steht und so das forschende Werk begleitet, ist hiermit bildlich zum Ausdruck gebracht worden.

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Den ersten Abschnitt machen verschiedene Aufsätze aus, welche unter der Rubrik „Brandenburg, Preußen und Deutschland“ zusammengefasst wurden. Hier finden sich nun einerseits lehrreiche Untersuchungen, die sich im Themenfeld Preußen als Kulturstaat verorten lassen. Wolfgang Neugebauer behandelt in „Historische Anmerkungen über das Fußnotenmachen“ eine wichtige Technik der historischen Forschung. Ohne Angabe der Quellen in Fußnoten ist die moderne Geschichtswissenschaft kaum denkbar. Gerade hier verweist schließlich häufig ein wissenschaftlicher Historiker in seinem Buch auf ein Archiv. Neugebauer erklärt nicht nur die Hintergründe dieser Praxis, sondern veröffentlicht mit dem Schriftstück „Archivzugang Leopold Rankes. Vereidigung“ einen Text, der auf die archivalische Zensurpraxis im preußischen Archivwesen verweist. Helmut Börsch-Supan widmet sich „Nichtdeutsche[n] Maler[n] in Berliner Ausstellungen und Privatsammlungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Er betont die Bedeutung der Ankäufe durch das Königshaus für den Kunstmarkt, welches sich aber auf einheimische Künstler konzentrierte. Bärbel Holtz gibt im Anschluss ein Lebensbild von Gustav Adolph Tzschoppe. Ihr Ziel ist, diesen „einstiegen prominenten Preußens […] in das historische Gedächtnis zurückzuholen“. (S. 118) Neben seiner unrühmlichen Rolle in der Demagogen-Verfolgung, betont sie seine Tätigkeit als Direktor des Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs, was ihn zu einem weit entfernten Vorgänger von Kloosterhuis macht. Samuel Wittwer schreibt über die orientalische Reise des Prinzen Albrecht von Preußen 1843. Er verfolgt hierbei nicht nur die Reise selbst, sondern auch die Spuren, die ein Kronleuchter als Gastgeschenk in den Akten des Staatsarchives hinterlassen hat. Hans-Christof Kraus skizziert eine Biographie des Königsberger Historikers Otto Krauske, welcher von 1859 bis 1930 lebte. Auffallend sind hier die persönlichen Zweifel, die Krauske immer wieder befielen: „Du verstehst den Ranke, den Gervinus und alle die Schmöker, die du um dich häufst, doch nicht! Du bist so dämlich!“ (S. 225) Werner Vogel informiert über die Entstehung und die Entwicklung der Stiftung Brandenburg von ihrer Gründung 1975 an bis ins Jahr 2015. Den Machtstaat Preußen thematisieren andererseits vier weitere Beiträge der ersten Sektion. Peter Baumgart beschreibt den Einfluss der Oranischen Erbschaft auf die Außenpolitik von Friedrich III./I. Mit der möglichen Oranischen Erbschaft und der Niederländischen Statthalterschaft wird eine Großmachtpolitik Preußens zu Beginn des 18. Jahrhunderts deutlich. Frank Göse erörtert die Städtepolitik von Friedrich Wilhelm I. Er zeigt auf, wie die in der politischen Zentrale getroffenen Entscheidungen zwar auf berichteten Missständen aus den Provinzen fußten, ihre Durchsetzung an den besonderen lokalen Gegebenheit aber oft scheiterten. Paul Widmer widmet sich der Neuenburger Affäre und der Rolle, die Bismarck in ihr spielte. Winfried Baumgart wiederum stellt in seinem Beitrag den Briefwechsel von Heinrich VII. Prinz Reuß vor, der „Elitediplomat“ (S. 183) unter Bismarck und Caprivi war. Es handelt sich hierbei um eine alternative Fassung seiner Einleitung für die von James Stone und ihm herausgegebene Korrespondenz des Botschafters. Den zweiten Abschnitt bilden drei Aufsätze unter der Überschrift „Westfalen und die preußischen Westprovinzen“. Hans-Joachim Behr untersucht anhand des Kontingents der Grafschaft Rietberg das kleinstaatliche Militärwesen in Westfalen.

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Als Bestandteil des Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises musste Rietberg dem Reichsheer ein Kontingent stellen. Behr skizziert den Umfang und die Einsätze des Kontingents von 1521 bis 1808. Leopold Schütte widmet sich den eher unbekannten Papieren aus dem umfangreichen Nachlass Emmanuel de Croÿ. Wilfried Reininghaus verdeutlicht mit dem Historischen Taschenbuch für Minden-Ravensberg 1767/68 die beginnende staatliche Statistik Preußens. Er verweist damit auf ein zuletzt stark angestiegenes Interesse an der frühen Statistik, der Gründung von Statistischen Büros und der frühen Nutzbarmachung und Erhebung von Daten. Der dritte Abschnitt unter der Überschrift „Militär und Politik“ wird begonnen von Hendrick Thoß und seiner spannenden Untersuchung über das Verhältnis von Militär und Sport. Thoß zeigt nicht nur auf, wie das deutsche Turnen sich in Preußen verbreitete, besonders in der Ausbildung im Militärdienst, sondern auch, dass es in Konkurrenz zur schwedischen Gymnastik stand. Bernhard R. Kroener widmet sich der französischen Militäraufklärung in Preußen 1763 bis 1792. Er verweist auf die Bedeutung des Reisens, des „Manövertourismus“ nach Preußen, hin und skizziert viele Forschungslücken für die Spionage- und Militärgeschichte. Manfred und Ursula Wolf wagen ein Experiment mit ihrem fiktiven Brief von Villeneuve an Napoleon. Kurt Düwell untersucht die Kritik von Edgar Stern-Rubarth an der deutschen Propaganda während des Ersten Weltkriegs, womit er an die Dissertation von Kloosterhuis über die deutsche auswärtige Kulturpolitik anknüpft. Der vierte Abschnitt „Studentengeschichte“ umfasst nur zwei Abhandlungen. Matthias Stickler behandelt das Studentische Verbindungswesen an der Universität Königsberg im 19. und 20. Jahrhundert. Ihm geht es besonders darum, dass die Archivalien der Universität Königsberg in Allenstein/Olsztyn für die Forschung erschlossen werden. Seinem Hinweis auf die Bedeutung der Studenten- und Burschenschaftsgeschichte für die moderne Universitätsgeschichte jenseits von Instituten und Professoren ist nur zu zustimmen. Harald Lönnecker wiederum beschreibt passend zum Jubilar die Verbindungen zwischen Studentenschaften und Archivaren. Anhand der Biographie von Paul Wentzcke verdeutlicht er das enge Beziehungs- und Forschungsnetzwerk zwischen Burschenschaften und Fachverbände von Archivaren, welches sich seit den 1920er Jahren herausbildete. Der letzte Abschnitt ist ganz dem Archivwesen und der Archivwissenschaft verpflichtet. Ludwig Biewer beschreibt den Fürsten Herzog Ernst Bogislaw von Croy als Heraldiker. Dem Herzog ging es dabei sowohl um die Erforschung der eigenen Dynastie als auch der Landschaft Pommern. Der von ihm der Universität gestiftete Croy-Teppich ist noch heute im Landesmuseum Vorpommern in Greifswald zu bewundern. Michael Hochedlinger berichtet über die „Aktenbeute“ durch das österreichische Militär, die es nach der verlorenen Schlacht in Landshut und Glatz 1760 gemacht hatte. Heute lagert die Kriegsbeute im Österreichischen Staatsarchiv Wien. Hochedlinger gibt nicht nur eine Entstehungsgeschichte dieses Konvoluts, sondern liefert auch eine interessante Benutzungsgeschichte des Bestandes. Hochedlinger listet 489 Kabinettsordres, Billets und anderes aus der Hand Friedrich II. auf. Klaus Neitmann beschreibt die Gründung der Historischen Kommission in der Mark Brandenburg. Viele Historische Kommissionen, wie die Historische Kommission für Westfalen, entstanden um 1900 aus historischen Vereinen heraus

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und gaben der Geschichtswissenschaft bedeutende Impulse in der Quellensammlung und Edition. Die Untersuchung von Martin Munke befasst sich mit den Bemühungen von Johannes Papritz um die Wiedereröffnung der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, welche sich im Zweiten Weltkrieg der „Ostforschung“ gewidmet hatte. Eine rührende Innenansicht des Geheimen Staatsarchiv von 1970 bis 1983 gibt der langjährige Mitarbeiter daselbst Eckhart Henning. Ulricke Höroldt beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen und kommunalen Interessen anhand der Archivberatungsstelle für die preußische Provinz Sachsen. Diese Beratungsstelle hatte die Aufgabe, sich um das nicht-staatliche Archivgut zu kümmern, eine für die historische Forschung immanent wichtigen Quellenart. Ganz der Archivwissenschaft hingegen widmet sich Angelika Menne-Haritz, die kenntnisreich über die Konzepte Provenienz und Emergenz bei Adolf Brenneke schreibt. Letztendlich zeigt sie auf, vor welchen Herausforderungen ein modernes Archiv im Angesicht der anschwellenden Datenflut steht. Der Band bietet eine Fülle von Anknüpfungspunkten. Für Forscher aus dem Bereich der Militär- und Sportgeschichte, für Laien und Kenner des preußischen Kulturstaats, für historisch Interessierte und forschende Archivare finden sich neue Ideen, Hinweise auf Quellen, nachzulesende Literatur und eine Fülle an Anregungen, die den Band zu einem würdigen Denkmal für den Geehrten werden lassen und zu einem Vorbild für vergleichbare Festschriften. Nur wenige andere Festschriften erreichen dieses hohe Maß an Qualität. Ingo Löppenberg, Osnabrück

Michael Gehler: Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, 1318 S., Ill. und Karten, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage, Lau Verlag: Reinbek 2018, 48,00€. Rezensiert von Thomas Jansen

Es ist ein mutiges Unterfangen: die Geschichte Europas von der Antike bis zur Gegenwart darzustellen und dabei die Ursprünge und die Charakteristika des EuropaGedankens aufzudecken und dann auch noch die Geschichte der europäischen Integration seit dem Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen und zu erklären. Das ist dem Autor gelungen. In seinem neuesten Buch „Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt“ gelingt Michael Gehler, der an der Universität Hildesheim Geschichte lehrt, aber noch sehr viel mehr. Denn in seinem voluminösen Werk vereint er auf originelle Weise im Grunde mehrere Bücher. Oder sagen wir besser: in mehreren Anläufen nähert er sich seinem großen Thema und behandelt dabei nahezu alle relevanten Fragen, die sich uns heute stellen, wenn wir wissen wollen, was Europa ausmacht und was es zusammen hält. In einem ersten Anlauf (S. 19–88) werden unter der Überschrift „Ursprünge und Charakteristika“ in mehr oder weniger kurzen Betrachtungen die einzelnen Elemente geistes-, ideen-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Art behandelt, die sich zu unserem Verständnis von Europa zusammenfügen. Im zweiten Anlauf (S. 90–204) folgen Darstellung und Erörterung der „historischen Europa-Ideen im Spannungsfeld von Anspruch, Vision und Wirklichkeit“. Auch hier wird der Bogen weit gespannt – vom Mittelalter bis zur Neuzeit, von Dante Alighieri bis Jean Monnet. Dabei geht es jedoch nicht nur um die Überlegungen und Pläne, einzelner hervorragender Denker und um den Einfluss, den ihre Anstöße ausgelöst haben, sondern auch um konkrete Verwirklichungen, um Initiativen und Bewegungen, die auf eine Einigung Europas oder die Zusammenfassung von Teilen des Kontinents abzielten oder beispielhaft eine solche Einigung und Integration vorwegnahmen. Die einzelnen Fälle werden jeweils in ihrem politischen oder historischen Kontext vorgestellt. Dabei kommt das Biografische, das dem Leser die Protagonisten und die Umstände ihrer Zeit nahebringt, nicht zu kurz. Auf diese Weise wird die ebenso dynamische wie komplexe Entwicklung des Kontinent und seiner Strukturen zum Vorschein gebracht. Der dritte Anlauf (S. 207–614), der den Hauptteil des Buches umfasst, führt schließlich zur Geschichte der Einigung und Integration in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zeichnet die Entwicklung seit den 40er Jahren des vorigen bis in die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts nach: „Der Weg vom Europa der Institutionen zur Vereinigung des Kontinents.“ Das war kein gerader Weg. Denn ein wesentlicher Teil dieser Einigung bestand in der Überwindung der Spaltungen, denen Europa unterlag: die Aufspaltung in traditionell verfeindete Nationalstaaten wie besonders die Spaltung in zwei antagonistische, unversöhnliche Gesellschafts- und Staatensysteme.

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Der Autor versteht es, die Ereignisse und die Entwicklung auf den verschiedenen Handlungsebenen mit all ihren Widersprüchen und Wendungen in ein bewegtes Narrativ zusammen zu fassen; er bereichert seine Darstellung mit der Wiedergabe der verschiedenen Deutungen und Wertungen bestimmter Weichenstellungen und Entscheidungen durch zeitgenössische Akteure und Beobachter. Dadurch entsteht eine facettenreiche Erzählung, die den Leser an den Kontroversen teilnehmen lässt. Dieser Ansatz spielt auch im vierten Anlauf unter dem Titel „Die EU im 21. Jahrhundert – Zukunftsperspektiven mit Blick auf eine europäische Identitätsfindung“ (S. 607–640) eine Rolle. Aber indem hier die Europäische Union und ihr politisches System als Ergebnis der vorhergehenden Entwicklung in den Fokus rücken, verändert sich die Betrachtungsweise und wird politologisch. Jetzt geht es nicht mehr in erster Linie um die Erzählung, sondern vielmehr um Erklärung. Um der großen Komplexität der Entwicklung und der großen Zahl an relevanten Tendenzen sowie der vielen Deutungen aus Wissenschaft und Publizistik einigermaßen gerecht zu werden, setzt sich der Autor in einem ausführlichen analytischen Exkurs mit Fragen der Begriffsbildung und der Deutung des Phänomens „Europäische Union“ auseinander. Im fünften Anlauf (S. 643–657) wird unter dem Titel „Triumph einer Trias: Ideen – Institutionen – Vereinigung“ der in den vorausgegangenen Anläufen durchmessene Weg bestätigt, der gewählte Ansatz bekräftigt und eine insgesamt positive Bilanz der Entwicklung der europäischen Einigung gezogen. Im sechsten Anlauf wird „Die Europäische Union in Zeichen einer mehrdimensionalen Komplexitätskrise der Gegenwart“ (S. 661–812) beschrieben und analysiert. Die Darstellung der einzelnen, ineinander verwobenen und sich gegenseitig verschärfenden, mehr oder weniger gleichzeitigen Krisen des Jahrzehnts zwischen 2007 und 2017, und der Bemühungen, mit ihnen fertig zu werden, schließt auch die im dritten Anlauf breit entfaltete Erzählung der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft/Union ab. Vor diesem Hintergrund erfolgen im siebten Anlauf die Interpretationen, Deutungen und Erklärungen der „Ideen – Institutionen – Europäisierung: Garantien für den EU-Zusammenhalt“ (S. 828–890). Das geschieht in einem Versuch des erschöpfenden Zugriffs auf die wissenschaftliche Literatur und die politische Publizistik. Dabei besteht allerdings die Gefahr, dass der Ehrgeiz, alles zu erklären, zu einer gewissen Verdunkelung des Wesentlichen führt. Gewiss treffen alle die vom Autor und den vielen zitierten Gewährsleuten benannten Gründe zu, die zugunsten einer wirtschaftlichen und politischen Integration Europas wirksam waren. Aber spielten nicht auch in entscheidender Weise die dem Integrationsprozess selbst innewohnende Dynamik eine Rolle, die im Sinne einer von Walter Hallstein so benannten „Sachlogik“ vorwärts drängte? Einmal in Gang gesetzt durch den politischen Mut und die Weitsicht von Robert Schuman, verlangte dieser Prozess, der genialen Konzeption von Jean Monnet folgend, immer wieder nach seiner Fortsetzung oder nach seiner Ausdehnung auf andere Bereiche; diese Erweiterung erfolgte nicht automatisch, sondern war nach Maßgabe des politischen Willens der am Prozess Beteiligten zu entscheiden und zu gestalten.

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Und was die Beteiligten betrifft, so wird dem Anteil der zivilgesellschaftlichen und demokratischen Kräfte in diesem Prozess offensichtlich allzu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Für das Gelingen des europäischen Einigungsprojekts war der Beitrag der transnationalen Europäischen Bewegung unverzichtbar; seit dem Haager Kongress von 1948 hat die Europäische Bewegung immer wieder wesentliche inhaltliche, auch vermittelnde Anstöße gegeben. Vor allem aber hat sie das Engagement der Zivilgesellschaft zugunsten einer systematischen, fortschreitenden Einigungspolitik länderübergreifend und nachhaltig gesichert. Nicht erst mit der sympathischen Initiative „Pulse of Europe“ hat es, wie der Autor suggeriert (S. 861), eine zivilgesellschaftliche Teilhabe am europäischen Einigungsprozess gegeben! Die wissenschaftliche und schriftstellerische Leistung, die hinter diesem gewichtigen Werk steht, ist beachtlich. Es entstand ein großes Lesebuch, das aber auch ein Handbuch und ein Lehrbuch ist: das auffächernde Inhaltsverzeichnis erlaubt dem Interessierten die seine spezifischen Fragen betreffenden Kapitel oder Unterkapitel aufzuschlagen; Abbildungen, Grafiken, Organigramme und Karikaturen vermitteln willkommenes Anschauungsmaterial. Ein Glossarium bietet präzise Erklärungen zu Begriffen und Institutionen. Kurzum: es handelt sich um ein mutiges und gelungenes Unterfangen! Thomas Jansen, Triest

AUTORENVERZEICHNIS John R. Davis ist Professor und Direktor des Programms „Heritage Management“ an den „Historic Royal Palaces“. Simon Groth ist Postdoc-Fellow am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wolf D. Gruner ist Professor emer. für Europäische und Neueste Geschichte und war Inhaber des Jean Monnet Lehrstuhls für Europäische Integrationsgeschichte und Europastudien an der Universität Rostock. Peter Henning ist Studienrat und Promovend an der Universität Stuttgart. Jan Kusber ist Professor für Osteuropäische Geschichte der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Ulrich Lappenküper ist Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg und Geschäftsführer sowie Vorstandsmitglied der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Jürgen Müller ist apl. Professor am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Wissenschaftlicher Angestellter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift. Ibolya Murber ist Zeithistorikerin und Universitäts-Dozentin am Historischen Institut der Lóránd-Eötvös-Universität Budapest. Michael Salewski (†) war Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, langjähriger Vorsitzender der Ranke-Gesellschaft und Herausgeber des Historisch-Politischen Buchs (HPB) sowie Mitbegründer und Herausgeber der Historischen Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft (HMRG). 2018 hätte Salewski seinen 80. Geburtstag gefeiert. Thomas Stamm-Kuhlmann ist Professor für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Matthias Stickler ist apl. Professor am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg und zudem Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Hochschulkunde ebendort.

Die „Historischen Mitteilungen“ warten in diesem Jahr mit zwei Schwerpunkten auf: Zum einen mit dem Themenbereich „Vom Deutschen Bund über den Norddeutschen Bund zum Neuen Deutschen Bund (1866–1870)“ unter der Federführung von Wolf D. Gruner, in dem eine Vielzahl an renommierten Autoren und aktuellen Perspektiven auf das Thema vereint werden. Zum anderen erscheint posthum – anlässlich seines 80. Geburtstags – Michael Salewskis Text „Veränderungen oder: Wie geht Geschichte?“ mit

einer Einführung und unter Federführung von Jan Kusber. Darüber hinaus umfasst der Aufsatzteil weitere Beiträge aus dem Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte, von Wilhelm von Giesebrechts „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ über das Modell der Subjektiven Authentizität für die Analyse von Tagebüchern bis hin zum mitteleuropäischen Krisenmanagement nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Tagungsbericht sowie Rezensionen komplettieren den Band.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12326-6

9 783515 123266