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German Pages [144] Year 2000
Richard van Dülmen HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE
Richard van Dülmen
HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE Entwicklung • Probleme • Aufgaben
$ 2000 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Dülmen, Richard van: Historische Anthropologie : Entwicklung, Probleme, Aufgaben / Richard van Dülmen. Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2000 ISBN 3-412-11799-4 © 2000 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, 50668 Köln Tel. (0221) 91 39 00, Fax (0221) 91 39 011 [email protected] Alle Rechte vorbehalten Umschlagabbildung: Caravaggio: Narziß. Nationalgalerie, Rom. Satz: Peter Kniesche, Tönisvorst Druck und Bindung: Druckhaus Kothen GmbH, Kothen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-11799-4
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
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ENTWICKLUNG
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1. Sozialgeschichte und historische Anthropologie
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2. Ethnologie, Volkskunde, Mentalitätsgeschichte
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3. Familienforschung, Alltagsgeschichte, Volkskultur-Studien 4. Institutionalisierung der historischen Anthropologie PROBLEME UND PERSPEKTIVEN
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1. Der Mensch als Akteur der Geschichte
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2. Kultur und Lebenspraxis
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3. Subjektive Erfahrung Subjektivität in der Geschichte
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4. Tradition - Moderne
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5. Mikrogeschichte
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6. Globaltheorien
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THEMEN
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1. Magie - Hexerei
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2. Protest - Gewalt
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3. Körper - Sexualität
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4. Religion - Frömmigkeit
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5. Haus und Familie
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6. Individualität - Individualisierung
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7. Schriftlichkeit - Lektüre - Medien
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8. Das Eigene und das Fremde. Der Umgang mit dem Fremden
85
9. Frauen - Männer - Geschlechtergeschichte
89
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V
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AUFGABEN 1. 2. 3. 4.
Mikrohistorie - Makrohistorie Relativismus - normatives Denken Sozialer Wandel Interkultureller Vergleich
95 98 101 104
SCHLUSS
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ANMERKUNGEN
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LITERATURVERZEICHNIS
129
ABBILDUNGSNACHWEIS
134
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EINLEITUNG
„Theorien sind gewöhnlich Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte" (J.W. von Goethe)
In einem ZEIT-Interview vom 3. Mai 1996 kündigte der frühere D F G Präsident W. Frühwald eine Modernisierung der Kulturwissenschaft auf der Grundlage einer historischen Anthropologie an und versprach ihre Förderung, da „sie die historischen Wissenschaften mit den ethnologischen und den linguistischen Wissenschaften" verbinde und damit neue wissenschaftliche Perspektiven eröffne. Daß es nicht nur bei diesen Worten blieb, zeigt die erstmalige Vergabe von sechs Meier-Leibnitz-Preisen für Historische Anthropologie durch den Bundesforschungsminister an junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. 1 Diese offizielle, ja amtliche Anerkennung der historischen Anthropologie als einer neu aufkommenden wissenschaftlichen Forschungsrichtung - deren Bedeutung sich jedoch keineswegs in universitären Institutionalisierungen widerspiegelt - erfolgte in einem intellektuellen Klima, das auf verschiedenen Ebenen einen grundlegenden Wandel offenbart: Einmal vollzog sich im öffentlichen Diskurs eine deutliche Fragmentierung unserer Geschichtsbilder sowohl durch eine aufkommende Vielzahl von neuen Themen, die vorher lange ignoriert worden waren und nun allenthalben aufgearbeitet werden, sowie durch eine Vielfalt von neuartigen Methoden, die ein Hauptzentrum bzw. einen Schwerpunkt der Geschichtsforschung nicht mehr erkennen lassen. Vielfältige Interessen und Methoden konkurrieren heute miteinander, so daß alte disziplinäre Grenzen wie klassische
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Hierarchien brüchig werden. Zum anderen vollzieht sich im Rahmen der Ausbreitung kulturwissenschaftlicher Problemstellungen in der Geschichtswissenschaft überhaupt eine Anthropologisierung, die unverkennbar die subjektive Seite der Erfahrung und Wahrnehmung in den Vordergrund rückt und sich entschieden auf das Handeln und Denken von konkreten Menschen konzentriert. Die Frage nach der Bedeutung von Ereignissen, Strukturen und Prozessen für den Einzelnen wird damit wichtiger als der Bezug zur Gesamtgesellschaft, was eine Zunahme interdisziplinärer Diskurse und Forschungen zur Folge hat. Sicherlich gab es immer schon Interdisziplinarität, neu ist jedoch, daß die Abschottung der einzelnen historischen Disziplinen abnahm und der Forschungszusammenhang disziplinär immer weniger festmachbar wird. Die Grenzen zwischen Sozialgeschichte und Ethnologie, Literaturwissenschaft oder Mediengeschichte verschwinden zugunsten problemorientierter Fragestellungen, die das transdisziplinäre Lernen intensivieren. Schließlich ist die fast sprunghafte Internationalisierung der Forschung auffallend. Länderübergreifende Forschungsprojekte hat es zwar seit langem gegeben, doch schul- und richtungsbildende Programme waren nach wie vor national geprägt. Mit der Zunahme von internationalen Tagungen und der Erleichterung internationaler Kontakte organisierte sich erstmals eine Forschungslandschaft über Grenzen hinweg. Dies Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wissenschaftstraditionen schärfte die Problemstellung. Auffallend ist auch, daß sich immer mehr „ausländische Forscher" mit Problemen nationaler und regionaler Geschichte anderer Länder beschäftigten und damit neue Maßstäbe setzten. 2 Alle diese Interessen und Aufbrüche bilden den Hintergrund der raschen Formierung einer historischen Anthropologie. Einerseits förderten sie die Etablierung dieser als eigenständig begriffenen Forschungsrichtung, andererseits erschwerte deren Definitionsprozeß zugleich eine Abgren-
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zung von anderen zeitgleichen Forschungsströmungen. Die historische Anthropologie blieb aber nicht nur auf die Geschichtswissenschaft beschränkt. Wenn hier ein Uberblick gewagt wird, dann will er zwar auf alle genannten Probleme eingehen, doch schwerpunktmäßig wird er sich auf den deutschsprachigen Raum konzentrieren. Die Verdichtung des Konzepts „Historische Anthropologie" ist bereits so stark, daß nicht alle Diskussionen berücksichtigt werden können, die Historiker weltweit beschäftigen. Zudem steht das deutschsprachige Forschungsfeld in so eindeutig internationalem Kontext, daß es die internationale Diskussion widerspiegelt. Zum anderen ist zwar der Blick auf die gesamte Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart gerichtet, doch in der konkreten Forschungspraxis ist derzeitig eine Konzentration auf die Frühe Neuzeit auffallend. Deswegen werden die Forschungen zu diesem Zeitraum in besonderer Weise berücksichtigt. Außerdem hat die deutschsprachige Forschung in diesem Bereich einen anerkannten internationalen Standard erreicht. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Breite der anthropologischen Forschung sich mehr in der großen Fülle von Aufsätzen als in Büchern manifestiert - was bei der bis dato kurzen Existenz der Forschungsrichtung kaum erstaunt. Der Essay scheint eine adäquatere Form der wissenschaftlichen Präsentation historisch-anthropologischer Forschungsinteressen zu gewährleisten als umfassende Monographien, die nach einer experimentellen Anfangsphase nun aber auch immer zahlreicher erscheinen.3 Wenn hier also eine auffallende Konzentration auf die deutschsprachige Forschung, auf die Epoche der Frühen Neuzeit sowie auf die vor allem in Aufsätzen oder Essays diskutierte neue Forschungsperspektive erfolgt, so ergibt sich dies aus der konkreten Forschungssituation sowie einer bewußten Begrenzung von Problem- und Fragestellungen. Auch der beschränkte Umfang dieses Uberblicks zwingt
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zur Konzentration, obwohl nach Möglichkeit alle wichtigen Diskussionen berührt werden sollen.4
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ENTWICKLUNG
Die Geburt der historischen Anthropologie ist zeitlich kaum genau festzumachen. Sie ist in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum in einen kulturellen wie intellektuellen Prozeß eingebunden, der sich von Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre vollzog. Er unterliegt eigenen Bedingungen, die sich von denen vor allem im westlichen Ausland wesentlich unterscheiden. 1. Sozialgeschichte und historische Anthropologie Zweifellos entwickelte sich die historische Anthropologie aus einem wissenschaftsinternen Diskussionszusammenhang der Sozialgeschichte im Allgemeinen und der Herausbildung der historischen Sozialwissenschaft im Besonderen; daneben sind andere externe politisch-zivilisatorische Motive von Bedeutung. Neue theoretische Denkmodelle entwickeln sich stets in komplexen kulturellen Situationen, in denen strikte wissenschaftliche Beweggründe nur eine Entstehungsursache bilden. Die Wissenschaftskultur, in der sich die ersten Konzepte einer historischen Anthropologie herausbildeten, war in diesen Jahren geprägt von zunehmender Skepsis gegenüber dem großen Optimismus der 70er Jahre, der vorgab, alle wichtigen gesellschaftlichen Probleme lösen zu können. Umweltkatastrophen wie atomare Aufrüstung ließen heftige Zweifel an dem unaufhaltsamen Prozeß der Moderne aufkommen, der nur Fortschritt versprach, ohne daß dieser genau bestimmbar gewesen wäre. Die Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre beginnende Zivilisationskritik ist ein weiterer Grund zur Herausbildung neuer historischer Sicht- und Arbeitsweisen; sie wurde rasch von einer Generation aufgegriffen, deren Berufschancen sich im Ver-
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Heinrich Kley, Im Kruppschen
Wasserwerk in Essen, um 1902
gleich zu früheren Zeiten erheblich verschlechtert hatten. Nicht zuletzt spielten dabei subjektive Erfahrungen und Interessen einer Generation bzw. einer Gruppe von Forschern eine Rolle. 1 Die die kulturwissenschaftliche Wende forcierenden Historikergruppen unterschieden sich in Ausbildung und Profil zwar nicht wesentlich von den Vertretern der historischen Sozialwissenschaft, insbesondere den Sozialhistorikern, die eine an Max Weber und Karl Marx geschulte theoriegeleitete Sozialgeschichte propagierten und damit einen unmittelbaren Beitrag zur politischen Kultur der gegenwärtigen Gesellschaft leisten wollten. Doch in zwei Punkten differenzierte sich jene ,neue' Gruppe von denen der ,klassischen' Sozialhistoriker: Einmal stand nicht die Erforschung der Moderne, der Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts im Vordergrund. Bei der Formulierung der historischen Anthropologie spielten vielmehr Frühneuzeitler eine besondere Rolle, die sich der vorindustriellen Gesellschaft zuwandten und dabei viel stärker als andere international und interdisziplinär ausgerichtet waren. Auf der Suche nach neuen Erklärungsmodellen öffneten sie sich rasch insbesondere ethnologischen For-
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schungsansätzen. Zum anderen sympathisierten sie mit den sozio-politischen Alternativbewegungen der 80er Jahre, die die uneingeschränkte Modernisierung nicht mehr zum Ziel politischen Handelns erklärten, sondern im Gegenteil das zerstörerische Potential der Moderne neu entdeckten und damit eine neue Sensibilität gegenüber Traditionen entwikkelten, die gerade der Erforschung der Frühen Neuzeit zugute kam. So heterogen auch diese Gruppen von Sozialhistorikern waren (und noch sind), sie öffneten sich allesamt in den 80er Jahren ethnologisch-alltagsgeschichtlichen Fragestellungen und problematisierten ihre (eigenen) kulturund modernisierungsgeschichtlichen Positionen.2 Die historische Anthropologie entwickelte sich aus der Sozialgeschichtsschreibung, sie verstand sich als eine Sozialgeschichte in Auseinandersetzung mit dem Konzept der historischen Sozialwissenschaft (= Gesellschaftsgeschichte) und mit ihrem umfassenden theoriegeleiteten Erklärungsanspruch. Diejenigen, die von der neuen Geschichtswissenschaft innovatorische, emanzipatorische und theoretisch begründete Antworten auf die Probleme der (vor allem auch deutschen) Moderne erhofften, begrüßten zunächst das neue Konzept der sich formierenden „Bielefelder" Schule, die in kurzer Zeit mit einer großen Reihe von „Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft" (ab 1972ff.) an die Öffentlichkeit trat. Noch wichtiger wurde die 1975 gegründete Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Sozialwissenschaft", weil sie eine intellektuelle Plattform für neue Diskussionen schuf, die auch internationale Anerkennung fanden. Wie in Deutschland leider fast immer, spielten dabei jedoch theoretische Programmerklärungen eine größere Rolle als paradigmatische Fallstudien. Hans Ulrich Wehler und Jürgen Kocka waren die federführenden Köpfe, kritische Marxlektüre und ein „neuer" Max Weber schufen neue Argumentationszusammenhänge - sie waren vorher kaum rezipiert worden - Gesellschaft und Ökonomie, Klas-
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sen und Konjunktur wurden zu zentralen Kategorien der Beschreibung und Analyse der modernen Geschichte, auf die sich jeder zu beziehen hatte, der Distanz üben wollte zu der traditionellen politik- und geistesgeschichtlichen Geschichtswissenschaft, die in den 70er Jahren in Deutschland noch vorherrschte. 3 Doch in dem Maße, wie das ,neue' Programm entfaltet wurde, zeigten sich sukzessive auch seine Grenzen für eine ,allgemeine' Geschichte. Einmal reduziert diese moderne Gesellschaftsgeschichte die Geschichte insgesamt auf eine Vorgeschichte der Gegenwart, d.h. auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Geschichte verschiedener Möglichkeiten gab es nicht mehr. Dann konzentrierte sie sich auf den Prozeß der Modernisierung sozioökonomischer Strukturen mit dem Fluchtpunkt der deutschen Katastrophe des Dritten Reichs. Die Sonderwegdiskussion hat letzte nationalstaatliche Kategorien eher wieder verstärkt als relativiert. Obwohl die neue Sozialgeschichte bewußt vom Interdependenzsystem von Gesellschaft, Ökonomie und Kultur im Sinne Webers ausging, wurde die (schwer zu vermittelnde) kulturelle Dimension in der Gesellschaftsgeschichte kaum aufgegriffen oder nur in ihrer institutionellen Verfaßtheit thematisiert. Die Frage nach der konkreten Lebenspraxis geriet damit außerhalb des neuen Horizonts, sie wurde - nicht anders als in der alten traditionellen Geschichtswissenschaft - bewußt marginalisiert. Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft war und blieb die Analyse von politischem Geschehen, nun jedoch konsequent in einem sozioökonomischen Kontext. Der postulierte umfassende Erklärungsanspruch konnte jedoch so nicht eingelöst werden. Während deshalb von der historischen Sozialwissenschaft kaum innovatorische Anstöße für eine neue Kulturgeschichte ausgehen konnten4, entwickelten sich erste kulturhistorische wie auch anthropologische Interessen im deutschen
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Raum in drei sozialhistorischen Forschungsfeldern, die ihrerseits eingebunden in einen westeuropäischen Dimensionszusammenhang zu intensiveren Auseinandersetzungen führten. Es handelt sich dabei um die Protestgeschichte, die Protoindustrialisierungsdebatte und die Arbeitergeschichte, auf deren Gebieten in den 70er und 80er Jahren bedeutende Untersuchungen entstanden. Die Protestgeschichte, die in Deutschland zumeist vom Bauernkrieg ausging, entwickelte sich von einer Geschichte politischer Proteste unterdrückter ,Sondergruppen' zu einer Geschichte bäuerlicher (und handwerklicher) Kulturen, die über eigenständige Gestaltungskräfte verfügten und in dem Maße zum Gegenstand historischer Forschung avancierten, als nicht mehr die sozialpolitischen Programme im Vordergrund der Analyse standen, sondern Praxis, Denken und Rituale der Protestierenden (Peter Blickle, Winfried Schulze etc.).5 Viele Historiker und Volkskundler begannen mit Forschungen zu bäuerlich-plebeischen Rebellionen, deren Fragestellungen nicht selten durch englische und französische Forschungserfahrungen (Emmanuel LeRoy Ladurie, Edward P. Thompson) angeregt worden waren. Nicht unähnlich verlief die Entwicklung bei der Forschergruppe, die sich mit dem protoindustriellen Gewerbe auf dem Lande beschäftigte. Ihre streng strukturgeschichtlichen, quantitativ verfahrenden Untersuchungen auf der Basis von Familienrekonstruktionen mündeten in eine qualifizierende Arbeit über die Lebensweisen unterbäuerlicher Schichten beim Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft (Hans Medick, Jürgen Schlumbohm). 6 Von besonderem Gewicht war schließlich die Arbeitergeschichte, die sich von einer politischen Arbeiterbewegungsgeschichte zu einer Geschichte der Arbeiterkultur fortentwickelte, und nun nicht mehr ausschließlich nach dem politischen und sozialen Programm ihrer Protagonisten bewertete. Lebensform, politisches Verhalten, Arbeitserfahrung und Sozialisation standen jetzt als
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Themen im Vordergrund (Klaus Tenfelde, Franz-Josef Brüggemeier etc.).7 In allen drei Forschungsbereichen begann man mit der Aufarbeitung sozioökonomischen Verhaltens und politischen Bewußtseins unterdrückter bzw. unterprivilegierter Sozialgruppen, wobei die strukturellen intersubjektiven Gegebenheiten im Zentrum der Forschung standen. Je mehr die meisten Forscher sich jedoch auf konkrete Fälle, Beispiele und Einzelhandlungen einließen und allgemeine Theorien an konkreten Fällen überprüften, desto häufiger traten kulturelle Dimensionen in den Vordergrund des Interesses. Ein zunehmend mikrohistorischer Blick half Handlungsräume von Menschen zu entschlüsseln, die nicht von vorgegebenen Strukturen determiniert waren. Einfache Bauern und Arbeiter gewannen nun auch ein eigenständiges Gesicht.8 Mit dem Ausbau der Sozialgeschichtsforschung seit Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre und der Schaffung eigener Lehrstühle weitete sich das Gesamtspektrum der historischen Forschung beträchtlich. Nacheinander wurden bisher kaum oder nicht behandelte Themen wie Familie, Frau in der Geschichte, Kindheit, Festkultur usw. aufgearbeitet. Sukzessive wurde vor allem das, was man früher als Privatleben ausgeklammert hatte, entschlüsselt und trat in Konkurrenz zur großen politischen Sozialgeschichte. Schließlich vollzog sich eine Konzentration auf kleine Untersuchungseinheiten, die für den globalen Uberblick nicht relevant waren. Es ging auch nicht mehr darum, eine übergreifende Entwicklungstheorie zu spezifizieren, sondern konkrete Lebenszusammenhänge zu rekonstruieren. Wenn dabei das alltägliche Verhalten, Denken und Handeln der Menschen in den Vordergrund rückte, folgte darauf zumeist die Frage nach der Bedeutung großer Ereignisse, Entwicklungen und Strukturprozesse für den einzelnen Menschen, für Gruppen und Klassen sowie die Frage nach den Lebensgestaltungs-
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möglichkeiten des Einzelnen. Sperrige Lebenswelten taten sich auf, die nicht mehr mit der gängigen Modernisierungstheorie beschreibbar waren. Zuletzt verloren soziologische Großtheorien für die Analyse der entstehenden Moderne in dem Maße an Attraktivität und Schlüssigkeit, wie die Forscher selbst nach Erklärungsmustern für vorindustrielle Welten suchten und sie in der Ethnologie zu finden hofften, die es ja traditionellerweise mit fremden Kulturen zu tun hatte. Als Vermittler fungierten nicht die Vertreter der deutschen Volkskunde und Völkerkunde, die in den 70er Jahren sichtlich nicht den Stand der internationalen Forschung repräsentierten, sondern englische und französische Sozialhistoriker, deren Arbeiten bereits auf eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Ethnologie verwiesen.
2. Ethnologie, Volkskunde, Mentalitätsgeschichte Je intensiver die Sozialhistoriker in ihren eigenen Forschungsfeldern an die Grenzen der sozialwissenschaftlichen Erklärungsmuster stießen und den Konsens mit der Modernisierungstheorie aufkündigten, desto stärker öffneten sie sich drei Forschungsrichtungen mit eigenen Wissenschaftstraditionen, die sich untereinander allerdings mehr über den Büchermarkt kennenlernten als durch direkte Forschungskontakte innerhalb der Universität oder durch Auslandsverbindungen. Die Verlage Suhrkamp (Frankfurt), Syndikat (Frankfurt), Wagenbach (Berlin) und Hanser (München) leisteten Pionierarbeit. Dabei konzentrierte man sich im deutschsprachigen Raum allerdings weniger auf die Fülle europäischer Materialien über fremde Welten als auf die theoretischen Konzepte der Ethnologie bzw. Sozialanthropologie, der empirischen Kulturwissenschaft bzw. der Volkskunde sowie der Mentalitätsgeschichte, zu denen man lange eine große innere Distanz gehalten hatte, selbst im Zusammenhang der Ausweitung der Struktur- und Sozialgeschich-
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Gustav Dorè, Illustration zu Jules Vernes, um 1875
te zur historischen Sozialwissenschaft. Der akademischtheoretische Zugang zu neuen Forschungsfeldern ist somit den deutschen Sozialhistorikern und Anthropologen eigen geblieben.' In Ländern mit langer kolonialer Tradition wie beispielsweise England und Frankreich kam eine Zusammenarbeit von Historikern und Ethnologen deutlich früher zustande. Dasselbe gilt auch für die US-amerikanische Forschung, wobei mittlerweile die Rezeption ethnologischer Literatur in Deutschland und in Italien jedoch nicht nachsteht. 10 Alle „Klassiker" wurden im Laufe der 70er und 80er Jahre übersetzt. Obwohl die meisten deutschen Historiker über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen, kam ein Text erst dann zur intensiven Diskussion, wenn er in einer Ubersetzung vorlag. Dennoch war der deutsche Markt internationaler ausgerichtet als beispielsweise der französische oder englische. Von der Vielzahl ethnologischer Autoren machte allerdings nur ein bestimmter Kreis „Karriere". Die durchaus anregende Lektüre von Claude Lévi-Strauss und Bronislaw Malinowski hinterließ bei Historikern kaum Spuren. U m s o stärker war der Einfluß von Marshall Sahlins (Kultur und praktische Vernunft, 1976; Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit, 1986), Peter Worsley (Die Posaune wird erschallen.,Cargo' Kulte in Melanesien, 1973), Marcel Mauss (Soziologie und Anthropo-
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logie, 1974), Edward E. Evans-Pritchard (Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, 1978), Mary Douglas (Ritual, Tabu und Körpersymbolik, 1974; Reinheit und Gefährdung, 1985) oder Victor Turner (Das Ritual, 1989). Doch im Zusammenhang der Programmbildung der historischen Anthropologie wie auch der neuen Kulturgeschichte erwiesen sich die vieldiskutierten Konzepte von Clifford Geertz (Dichte Beschreibung, 1973, 1983) und Pierre Bourdieu (Entwurf einer Theorie der Praxis, 1972,1976) als besonders fruchtbar. Durch ihre Rezeption vor allem in der jüngeren Generation wurde der historische Blick auf das Fremde in der außereuropäischen, erstmals aber auch in der eigenen Geschichte gelenkt, wodurch nach und nach zugleich der Ethnozentrismus der Historie selbst zur Debatte gestellt wurde, den die Vertreter der historischen Sozialwissenschaften bewußt ausgeklammert hatten. Die Berücksichtigung rituellen Handelns als Gegenstand empirisch-historischer Untersuchungen eröffnete darüber hinaus neue Einblicke in die Geschichte „eigener" und „fremder" Kulturen. Nicht zuletzt wurden die Grenzen sozialgeschichtlicher Analyse staatlichpolitischer Entwicklungen bewußt, weil die „traditionellen" Gesellschaften keine ausdifferenzierte Staatlichkeit kennen. Schließlich hinterließ die Beschäftigung mit der Ethnologie Spuren in der Theoriediskussion und -bildung der Geschichtswissenschaft, die nun dem Untersuchungsgegenstand selbst angemessen sein sollte. Mit der Entdeckung ,kleiner' Handlungseinheiten und,kleiner' Lebensräume wurde die Relevanz globaler Strukturanalysen eingeschränkt. Ebenso prägend war zweitens die Beschäftigung mit der empirischen Kulturwissenschaft und Volkskunde, die sich der Erforschung populärer Traditionen und Lebensweisen widmete." Die verstärkte Zuwendung zur Lebenswelt der ,kleinen Leute' und die intensive Untersuchung sozialer Bewegungen - hier gab es starke Berührungen mit den neuen sozialhistorischen Forschungen - erschütterten die Über-
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Zeugung von der gesellschaftlichen Elite als eigentlich treibender Kraft in der Geschichte. Fruchtbaren Boden fanden Raymond Williams „Innovationen" (1965ff., 1977) und E.P. Thompsons Studien zur „Plebeischen Kultur und moralischen Ökonomie" (1971ff., 1980), aber auch die weiterführenden Arbeiten von Rudolf Braun zum Problem von „Industrialisierung und Volksleben" (1960), Hermann Bausingers „Volkskultur in der technischen Welt" (1961) sowie Wolfgang Kaschubas „Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft" (1988). Der Erfahrungsgewinn aus den Auseinandersetzungen mit populären Traditionen und Bewegungen gründete einmal darin, den „gemeinen" Mann in seiner persönlichen Lebensgestaltung ernst zu nehmen und sein Handeln und Denken im historischen Prozeß zu würdigen. Ebenso bedeutsam wurde die Beschäftigung mit der traditionellen Lebenswelt, weil man sie nicht länger nur als dunkle Vorgeschichte einer aufgeklärten Moderne betrachtete. Traditionelles Handeln wurde so nicht selten als Resistenz gegen die Dynamik des Modernisierungsprozesses erkannt, von dem gerade die einfachen Leute nicht immer profitierten. Die vielfach feststellbare Eigensinnigkeit des einfachen Volkes gegenüber Obrigkeit und Kirche ließ sich damit nicht mehr als ewig konservatives und reaktionäres Moment abqualifizieren, sondern entpuppte sich im Rahmen einer ambivalenten Modernisierung als eigenständiger kultureller Beitrag.12 Bedeutend war schließlich drittens die Auseinandersetzung mit der Mentalitätsgeschichte, einem Geschichtskonzept, das mit entsprechenden Publikationen zwar weitgehend auf Frankreich begrenzt blieb, insgesamt aber in der ganzen Mittelalter- und Frühneuzeitforschung ungewöhnlich große Anerkennung fand. Der Beitrag zur Neueren Geschichte war und blieb allerdings gering. Ihre Wirkung ist eng verbunden mit der Annales-Schule (1929), deren Gründerväter Marc Bloch und Lucien Febvre waren. Mittlerwei-
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le hat sie sich so ausdifferenziert, daß es Probleme macht, in der dritten Generation überhaupt noch von einer einheitlichen Schule zu sprechen, unabhängig davon, daß hier schon immer unterschiedlichste Forschungskonzepte und -interessen vertreten waren.13 Sicherlich haben auch die „serielle" Geschichtswissenschaft und die „histoire totale" in Deutschland Wirkungen gezeitigt, aber ebenso wenig wie die Gründerväter gaben Fernand Braudel und seine Zivilisationsgeschichte (1985f.) den entscheidenden Anstoß für die kulturhistorische Wende, sondern vor allem Philippe Ariès Untersuchungen zur „Geschichte der Kindheit" (1960, 1975) und zur „Geschichte des Todes" (1978, 1980), Georges Dubys „Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus" (1978, 1981), Jacques Le Goffs „Die Geburt des Fegefeuers" (1981, 1984), Michel Vovelles „Analyse des Dechristianisierungsprozesses" (1973), E. LeRoy Laduries Werk über die „Bauern von Languedoc" (1969, 1983) und den „Karneval in Romans" (1979, 1982), Jean Delumeaus „Geschichte kollektiver Ängste in Europa" (1978, 1985) sowie Alain Corbins „Pesthauch und Blütendurft. Eine Geschichte des Geruchs" (1982, 1984). Das bedeutendste Unternehmen aber stellt die „Geschichte des privaten Lebens" (1989-93) in 5 Bänden, herausgegeben von Philippe Ariès und Georges Duby, dar. Die Mentalitätsforschung brachte vor allem die Frage nach kollektiven Lebensvorstellungen in die historische Diskussion ein, wenngleich sie dabei den individuellen Lebenslauf vernachlässigte. Weiterhin galt dabei ein besonderes Interesse den langen Wandlungsprozessen über alle großen Ereignisse hinweg. Das Theorem der „langen Dauer" schuf die Möglichkeit einer neuen Periodisierung der kulturellen Entwicklung über Jahrhunderte, barg aber auch die Gefahr, daß der handelnde Mensch im „Gefängnis" der „longue durée" verschwand. Ein wichtiges Ergebnis der seriellen Auswertung von alltagsgeschichtlichen Quellen war,
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daß die Französische Revolution nicht die zentrale Zäsur darstellte, als die sie lange ganz selbstverständlich betrachtet wurde. Die Säkularisierung der Gesellschaft war kein Produkt eines epochal-revolutionären Ereignisses, sondern das Resultat langwieriger Veränderungen der Vorstellungswelt. Nicht zuletzt konzentrierte sich diese Forschungsrichtung auf die Beschreibung generativen Verhaltens - vor allem in der vormodernen Gesellschaft woraus dann eine eigenständige Familienforschung erwuchs.14 Die Auseinandersetzung mit der Ethnologie und Sozialanthropologie, die Zusammenarbeit mit der empirischen Kulturwissenschaft sowie die Rezeption der Mentalitätsgeschichte bedeuteten für die traditionelle Geschichtswissenschaft, aber auch für die neue Sozialgeschichte im deutschsprachigen Raum seit dem Ende der 70er Jahre eine Herausforderung, die zu unterschiedlichen Antworten führte, von denen eine den Weg zu einem neuen Konzept von Kulturgeschichte in Form der historischen Anthropologie wies. Diese Begriffe wurden allerdings noch lange gemieden. Die neuen Forschungsinteressen artikulierten sich vor allem in der „Alltags- und Erfahrungsgeschichte", der „Geschlechtergeschichte" und insbesondere der „Volkskulturforschung". Auf den verschiedensten Feldern traten historisch-anthropologische Akzente und Perspektiven in den Vordergrund, ein Trend, der mit der verstärkten Auseinandersetzung mit den Werken von Norbert Elias über den „Prozeß der Zivilisation" (19692) und Michel Foucaults zu „Überwachen und Strafen" (1976) mit forciert wurde. 3. Familienforschung, Alltagsgeschichte, Volkskulturstudien Sozialanthropologische, volkskundliche und mentalitätshistorische Interessen fanden im deutschsprachigen Raum seit Ende der 70er Jahre einen ersten Niederschlag in verschiedenen
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Albrecht Dürer, Drei Bauern im Gespräch, 1497/1500
speziellen Forschungsrichtungen, in denen sich allenthalben eine „jüngere" Generation engagierte. Sie mündeten zwar nur begrenzt in das Konzept einer historischen Anthropologie, spielten aber eine besondere Rolle in der Ausformung einer neuen Kulturgeschichte, die sich erheblich von jeder früheren F o r m von Kulturgeschichte unterschied. D i e intensive Beschäftigung vor allem mit den Unterschichten umriß einen neuen Kulturbegriff, der sowohl mit dem bürgerlichen' Begriff der Kultur wie auch mit der Idee der kulturellen, von jeder Ö k o n o m i e freien Perspektive, nur mehr wenig gemein hatte. Hier ist zunächst die historische Demographie und die mit ihr eng verbundene historische Familienforschung zu nennen. Zwar haben beide Richtungen im deutschsprachigen Raum nicht die gleiche Bedeutung erlangt wie beispielsweise in Frankreich. 15 D o c h dank des starken Engagements von A r thur E. I m h o f und Michael Mitterauer ist dieses Defizit rasch aufgearbeitet worden. Beide Forscher gingen mit ihren „Schülern" bemerkenswerte und eigenständige Wege. Imhof begann mit einer klassischen demographischen Arbeit über
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Gießen, die rasch den Stellenwert einer Einführung in die historische Demographie in Deutschland erlangte, schrieb dann über die Probleme von Krankheit, Sterblichkeit und Tod. In dem Buch „Gewonnene Jahre" (1981) untersucht er den seit dem 17. Jahrhundert konstanten Anstieg des Lebensalters und seine Wirkung auf das Alltagsleben der Menschen, und in „Verlorene Welten" (1984) verfolgt er, wie die kleinen Leute bis an die Schwelle dieses Jahrhunderts mit Krankheit und Tod, Hunger und Verlust ihres Besitzes, mit Kriegen und anderen lebensbedrohlichen Alltagsproblemen fertiggeworden sind." Die Stärken seiner Forschungen liegen in der interdisziplinär vergleichenden Methode und der empirischen Arbeitsleistung. Konzeptuell ist sie allerdings schwer einzuordnen; er spricht zwar von einem Beitrag zur Alltagsgeschichte, das menschliche Subjekt kommt aber nur in seiner Allgemeinheit zur Geltung, die konkrete Lebenspraxis selbst wird nicht analysiert. Weit stärker als die Arbeiten Imhofs greifen die Ergebnisse Mitterauers in die intellektuelle Auseinandersetzung um die neue Geschichtswissenschaft ein. Vor allem sind hier seine „Geschichte unehelicher Geburten in Europa" (1983) und seine „Geschichte der Jugend" (1986) zu nennen. Einen besonderen Rang nahm seine und Josef Ehmers umfängliche Studie über „Formen ländlicher Familienwirtschaft" (1986) ein, in der erstmals die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen in einem begrenzten Lebensraum aufgegriffen wird. Die ältere Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Ökologie wird am Problem der Balance zwischen notwendigen Arbeitskräften und beschränkten Ressourcen, wie sie in den Familien hergestellt werden mußte, konkretisiert. Konzentrierte sich diese Studie noch auf den „objektiven" Strukturzusammenhang familiären Lebens, so wendet sich Mitterauer seither v.a. in seiner „Historischanthropologischen Familienforschung" (1990) sowie seiner Arbeit über „Familie und Arbeitsteilung" (1992) zugleich
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auch qualifizierenden Fragestellungen zu und versucht, auch die subjektiven Erfahrungen und Emotionen zur Sprache zu bringen. Durch veränderte Fragestellungen nach dem einzelnen Menschen in der Geschichte, seinen individuellen Wahrnehmungen, Handlungs- und Denkweisen übernimmt Mitterauer das Paradigma der Historischen Anthropologie und wird zu einem ihrer bedeutenden Vertreter. Wohl den stärksten intellektuellen Antrieb erhielt die Historische Anthropologie in Deutschland durch die sich fast gleichzeitig formierende „Alltagsgeschichte", die zugleich eine heftige und produktive Kontroverse in der deutschen Geschichtswissenschaft auslöste. Mit ihr wurde ein neues Programm verkündet, das in deutlichem Gegensatz zur Theorie der historischen Sozialwissenschaft steht, die ja im Wesentlichen auf die Erforschung der intersubjektiven, numerisch meßbaren sozioökonomischen Bedingungen und auf die Rekonstruktion wirtschaftlicher, sozialer und demographischer Prozesse konzentriert war. Die „Alltagsgeschichte" hat sich trotz der zugestandenen Unschärfe des Begriffs „Alltag" als eine neue Richtung durchgesetzt, so unterschiedliche Intentionen und Interessen auch mit ihr verbunden blieben.17 Im Zentrum der Alltagsgeschichte steht generell einmal die Konzentration auf das Alltagsleben einfacher Menschen, zum anderen aber auch das Interesse an der Subjektivität von Lebenserfahrungen; statt einer subjektlosen Gesellschaftsanalyse wird eine subjektorientierte Lebensweltanalyse angestrebt. Damit geht die neue Alltagsgeschichte über die bisherige Erforschung der materiellen Kultur, der Ernährung und des Konsums, der Kleidung und Wohnung, der Arbeitsverhältnisse usw. hinaus. Ziel ist letztlich eine Umkehrung der Erkenntnisinteressen: Anstatt Strukturen und „großer" Geschichte stehen nun Erfahrung und soziale Praxis des Menschen im Mittelpunkt einer zwar mit anderen Methoden arbeitenden, aber durchaus theoretisch begründeten Geschichtsbetrachtung. Alltagshistoriker
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wollen somit „Geschichte von unten" und „Geschichte von innen" sehen, beschreiben und analysieren. Aus der überaus großen Fülle alltagsgeschichtlicher Forschungen der letzten fünfzehn Jahre seien vier Unternehmen als paradigmatische Beispiele hervorgehoben; sie alle verweisen auf eine Zunahme historisch-anthropologischer Sichtweisen. Einmal wurden im Zusammenhang des Schülerwettbewerbs um den Preis des Bundespräsidenten zur Sozialgeschichte des Alltags drei Sammelbände zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter (1978), zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft (1979) und zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland (1980) herausgegeben. Weniger die Programmatik als die Fülle bisher kaum bearbeiteter Themen machten diese Projekte zu einer wichtigen Einführung in die Alltagsgeschichte. Das zweite Unternehmen wird von den Sozial- und Wirtschaftshistorikern Hans J. Teuteberg und Peter Borscheid in Münster getragen, die seit 1983 eine eigene Reihe unter dem Titel „Studien zur Geschichte des Alltags" herausgeben. Borscheid, der in dieser Reihe seine große „Geschichte des Alters" (1987) publizierte, plädierte 1983 für eine von der philosophischen Phänomenologie von Alfred Schütz und seiner Lebenswelt-Theorie beeinflußte Geschichte des Alltäglichen. Die Alltagsgeschichte thematisierte das Repetitive des menschlichen Handelns und Denkens, so wie es vor allem im Wohnen, Kleiden und Essen, im Privatleben und in der Berufsausbildung, in Vergnügen und Geselligkeit sowie in der Kultur im weiten Sinne zum Ausdruck kommt und dem menschlichen Leben und Handeln ein stabiles Fundament gibt. Die größten alltagsgeschichtlichen Projekte konzentrieren sich allerdings auf den Alltag des Dritten Reiches. Das bekannteste wurde vom Institut für Zeitgeschichte in München gefördert und widmete sich den verschiedenen Erscheinungsformen von „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945" (seit 1977ff.). Die Bedeutung des von
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Martin Broszat geleiteten Projektes gründet in der Neueinschätzung und Differenzierung der Formen politischen Widerstandes im Dritten Reich. Dabei wurden zwar auch allgemeine Probleme des täglichen Lebens und Verhaltens im Faschismus thematisiert, aber sie standen nicht im Zentrum des Interesses. Insofern bleibt der Beitrag des Projektes für die theoretische Mitbegründung einer Alltagsgeschichte als einer neuen Richtung der Sozialgeschichte mit einem anthropologischen Ansatz insgesamt recht blaß. Weiterführend und produktiver erscheint das Engagement von Detlev Peukert, der die Erfahrung der Münchner zwar nutzte, aber u.a. mit „Volksgenossen und Gemeinschaftsfreunde. Anpassung, Ausmerzung und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus" (1982) erstmals überhaupt Probleme des Alltags im Dritten Reich reflektierte. 1987 folgte seine nicht minder wichtige Studie „Jugend zwischen Krieg und Krise". Peukert plädierte darin eindeutig für eine theoriegeleitete Alltagsgeschichte, die aber ihre Ergänzung in einer gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangsanalyse finden müssen, wobei er auf das Theorieangebot von Jürgen Habermas verweist. In dessen „Theorie des kommunikativen Handelns" sieht er einen Ansatz, „zwischen der Mikro- und Markoebene von Geschichte, zwischen Erfahrungsbezügen und Systemanalysen, sowie zwischen einer anthropologischen und einer im strengeren Sinne sozialgeschichtlichen Fragestellung zu vermitteln".18 Das vierte, ambitionierteste Unternehmen jedoch regte Lutz Niethammer an, der sich bereits 1980 entschieden für eine Alltagsgeschichte ausgesprochen und sich mit den notwendigen Methoden der Oral History vertraut gemacht hatte. Er versuchte, über die Erinnerung von Zeitzeugen bzw. das kollektive Gedächtnis eine Verbindung von Alltags- und Erfahrungsgeschichte herzustellen, was ihm auch als Einzigen gelang. Seine großangelegte „Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960" (1983-1985)
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thematisiert auf der Basis einer detaillierten Analyse mündlicher Erinnerungen die Faschismus- und Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Drei Interessen kamen hier zusammen: einmal ging es um die Kontinuitätsproblematik, speziell um die Erforschung der Voraussetzungen im „Volk" für die Gründung einer Demokratie, dann um die Sozialdemokratisierung des Reviers und schließlich um die Erforschung der Volkserfahrungen im Sinne einer Rekonstruktion subjektiver Voraussetzungen des soziopolitischen Verhaltens. Die jüngste zusammenfassende Präzisierung der Interessen einer Alltagsgeschichte gegen ihre Kritiker stammt von Alf Lüdtke, dem Herausgeber des Bandes „Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen" (1989). Diesem voraus ging der grundlegende Beitrag über „Alltagswirklichkeit, Lebenspraxis und Bedürfnisartikulation" aus dem Jahre 1978. Lüdtke stellte die soziale Praxis der Menschen ins Zentrum der Alltagsgeschichte und erhob die „Aufhellung" der Vermittlung von Lebensweisen als Orientierungsmustern und „Alltagsleben als Formen täglichen Verhaltens und Erfahrens" zu ihrer Hauptaufgabe. Obwohl der Bezug zur Historischen Anthropologie nicht direkt hergestellt wird, impliziert auch dieses Verständnis von Alltagsgeschichte neue Zugänge zu einer anthropologisch orientierten Geschichtsschreibung. Den unmittelbarsten Bezug zur historischen Anthropologie schuf jedoch die historische Volkskulturforschung, die zwar auch mit der Alltagskulturgeschichte im Zusammenhang steht und mit ihr einen neuen Aufschwung erlebte, aber eine eigenständige Tradition kennt und ein Programm verfolgt, das eher ethnologischen Spuren nachgeht. Die Kultur der einfachen Leute war wie die Geschichte des Alltags kaum Gegenstand einer historischen Forschung gewesen, bis sie Ende der siebziger Jahre mit dem steigenden Interesse an der Lebenswelt und Alltagswirklichkeit der
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„Unterschichten" eine beträchtliche Konjunktur erlebte. Die historische Volkskulturforschung knüpfte einerseits an die reiche Tradition der historischen Volkskunde an, die von der Sozialgeschichte in Deutschland geradezu neu entdeckt wurde, sobald sie sich von der Soziologie und deren makrohistorischen Theorien ablöste. Die Volkskunde hatte sich in den siebziger Jahren von ihrer verfänglichen Tradition befreit, sich zum Teil in „europäische Ethnologie" oder „empirische Kulturwissenschaft" umbenannt und pragmatische Arbeit geleistet, an die unmittelbar angeknüpft werden konnte. Die historischen Detailstudien von Karl-S. Kramer über das „vormoderne" Volksleben (1961-1967) und von Hans Moser über „Volksbräuche im geschichtlichen Wandel" (1985) sowie die großen Untersuchungen von Rudolf Braun und Hermann Bausinger zur Volkskultur im Industriezeitalter wurden von Historikern neu gelesen. Andererseits wirkte die neue „Popular-Culture-Forschung" ausländischer Historiker nachhaltig auf die deutsche Entwicklung, insbesondere ist ihr das neue Interesse speziell an einer anthropologisch orientierten Geschichtsschreibung zu verdanken. Dabei fanden zwar die „Mittelalterliche Volkskultur" des Russen Aaron J. Gurjewitsch (1987), die „Europäische Volkskultur" des Engländers Peter Burke (1981) und die „Kultur des Volkes" des Franzosen Robert Muchembled (1982) breiteste Aufmerksamkeit, aber nachhaltiger wirkten die „Plebeische Kultur" des Engländers Edward P. Thompsons (1980), „Der Käse und die Würmer" (1979) des Italieners Carlo Ginzburg sowie vor allem die Arbeiten der Amerikanerin Natalie Z. Davis, deren „dichte" Beschreibung der städtischen Kultur des 16. Jahrhunderts in: „Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt" (1987) am stärksten zum Vorbild wurde." Während die Alltagsgeschichte sich vorwiegend mit dem 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, befaßt sich die Volkskulturforschung vorwiegend mit Problemen der Frühen
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Neuzeit. Das gilt auch für Deutschland. In dem 1982 von mir publizierten Sammelband über die „Kultur der einfachen Leute" wurden erstmals Probleme der Disziplinierung erläutert und Fragen nach dem Ehrenkodex bzw. der Bedeutung von Ritualen gestellt. Der zweite, zusammen mit Norbert Schindler herausgegebene Sammelband „Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags" (1983) thematisierte Probleme und Aufgabenstellung der historischen Volkskulturforschung unter dem Titel „Spuren in der Geschichte der anderen Zivilisation" (Schindler), womit auf die Eigenständigkeit der Volkskultur hingewiesen wurde. Der Band wollte zwei Interessen miteinander verbinden: „Einmal sollten an einzelnen, freilich aussagekräftigen Fällen Erkenntnisse und Erfahrungen über das Verhalten und die kulturellen Praktiken der abhängigen und unterdrückten Gruppen und Klassen gewonnen werden, nicht als Ausdrucksformen objektiver kultureller Traditionen, sondern als Momente ihres eigenen Lebenszusammenhangs. Zum anderen sollten Vorstellungen, Erfahrungen und Handlungen der Gruppen und Klassen nicht außerhalb objektiver Prozesse und struktureller Vorgegebenheiten, sondern als ihre spezifische Aneignung und Verarbeitung durch die betroffenen Gruppen thematisiert werden". 20 Regina Schuhes Studien über die Lebenswelt von Brandstiftern, Kindsmörderinnnen und Wilderern in der ländlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts (1989) sowie Norbert Schindlers „Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit" (1992) stehen paradigmatisch für diese neue Geschichte der Volkskultur. Eine kritische Bilanz legte schließlich Wolfgang Kaschuba in seiner „Volkskultur zwischen feudaler und bürgerlichen Gesellschaft" (1988) vor. Er fordert die Befreiung der traditionellen Volkskultur von ihrem statischen und einheitlichen Charakter und weist darauf hin, daß die historischen Lebenswelten und die soziale Praxis nur im Zu-
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sammenhang von Arbeit und Herrschaft, im Bereich von Geselligkeit und Öffentlichkeit und auf der Ebene von Wahrnehmung und Erfahrung entschlüsselbar sind. Die eigentlichen Felder der Volkskulturforschung sind für ihn die Analyse der Interaktions- und Gruppenstruktur, der Volkskultur als „Produzentenkultur" und der gemeinsamen Dispositionen und Mentalitäten. In lockerer Verbindung zur historischen Familienforschung und auch zur Alltagsgeschichte - zumindest, was das Geschichtsverständnis betrifft - entwickelte sich die historische Frauenforschung, die schon von ihrem Gegenstand her am raschesten zu historisch-anthropologischen Fragestellungen führte. Auch sie stand von Anfang an in skeptischer Distanz zur traditionellen Geschichtsschreibung, vor allem auch zur historischen Sozialwissenschaft, weil in deren Geschichtsbild Frauen nicht existent waren; hinzu kam das politische Engagement der neuen Frauenbewegung. Die historische Frauenforschung machte seit der Mitte der siebziger Jahre eine bemerkenswerte Entwicklung durch, wenn auch oft mehr programmatisch als in empirischer Arbeit. Zunächst galt es, die aus der offiziellen Geschichtsschreibung verdrängte Frau in ihren Handlungsräumen wiederzuentdecken, das heißt ernst zu nehmen, daß Frauen eine eigene, ja überhaupt eine Geschichte haben, die nicht in der Geschichte der Familie und der Patriarchate aufgeht. Vornehmlich wurde die Geschichte der Frauenbewegung, der Erwerbstätigkeit und des Haushalts aufgearbeitet. Annette Kuhn und Jörn Rüsen begannen 1979 mit der Reihe „Frau in der Geschichte" und publizierten Studien zu bisher kaum beachteten und erforschten Themenkomplexen. Wirksamer im Sinne der neuen Frauenforschung war der von Claudia Honegger und Bettina Heintz herausgegebene Band über die „Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen" (1981), in dem ausländische Historikerinnen erstmals auf die „eigene"
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Geschichte der Frau hinwiesen und damit Weichen für eine anthropologische Fragestellung stellten. Hier war es die Frage nach dem „Eigensinn", die zu Problemen des Alltags, der Selbstdarstellung und des Lebensraums der Frauen führte. Eine entscheidende Wende setzte dann seit Beginn der achtziger Jahre ein, als sich die Geschichte der Frauen zur Geschlechtergeschichte hin öffnete und man dem Begriff „Geschlecht" erstmals als historische Kategorie eine ebenso starke Berücksichtigung in der allgemeinen Geschichte einräumte wie den der „Klasse". Die entschiedensten Propagandistinnen einer neuen Frauen- und Geschlechtergeschichte waren Karin Hausen, die 1983 den Band „Frauen suchen ihre Geschichte" herausgab, der an einzelnen Fallbeispielen die neue Problemstellung zu verdeutlichen suchte, zum anderen Gisela Bock, die mit verschiedenen Beiträgen, vor allem mit ihrer Studie „Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte" (1988) eine aufschlußreiche Bilanz zog: „In der Geschlechtergeschichte geht es nicht bloß um ein bisher vernachlässigtes Objekt, einen Gegenstand, sondern um zwischenmenschliche Beziehungen, die in der herkömmlichen Geschichtsforschung nicht oder zu wenig behandelt worden sind, und zwar um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch um die Beziehung innerhalb der Geschlechter."21 Interessierte sich Bock vor allem für eine geschlechtsspezifische Geschichtsschreibung, in der die Erfahrungen der Frauen ebenso berücksichtigt werden wie die der Männer, so ging die Volkskundlerin Carola Lipp in ihrem nicht minder wegweisenden Beitrag „Überlegungen zur Methodendiskussion. Kulturanthropologische, sozialwissenschaftliche und historische Ansätze zur Erforschung der Geschlechterbeziehung" (1988) andere Wege, auch wenn beide im Grundinteresse übereinstimmen. Aufgabe sei es nicht mehr, den „objektiven" Stellenwert ,der Frau' festzuma-
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chen, sondern ,die Frauen' als Subjekte neu zu entdecken und zum Sprechen zu bringen. Der „Frauenforschung geht es um den alltäglichen Lebenszusammenhang und die spezifische Erfahrung von Frauen. Es geht um eine Sicht von innen, um die Rekonstruktion des Erlebens und den Sinnzusammenhang weiblichen Handelns. Frauen als Subjekt zu sehen, heißt, sie aktiv, die Kultur gestaltend, zu begreifen". 22 Die entscheidende Subjektorientierung teilt Lipp mit vielen Vertretern der Alltagsgeschichte und der Volkskulturforschung, weswegen sie zum einen die „dichte Beschreibung" als einen ersten Schritt zur Interpretation empfiehlt. Zum anderen weist sie darauf hin, daß die Geschichte der Frauen nur im Zusammenhang der historischen Geschlechterverhältnisse rekonstruierbar sei, wobei das Geschlecht für sie keine biologische Größe darstellt, sondern ein „kulturelles Konstrukt, dessen Konfiguration sich entsprechend den unterschiedlichen Produktions- und Lebensbedingungen verändert".23 Weil weibliche Erfahrungen, Handlungsweisen und -räume schichtenspezifisch erheblich variieren, gibt es „die Frau" ebensowenig als universales Subjekt wie es ein durch alle Zeiten und Räume hindurch gleichbleibendes universales Patriarchat gibt: „Der historische Wandel, dem auch die Geschlechterbeziehungen in verschiedenen Gesellschaftsgruppen unterworfen sind, geht durch die Ahistorizität eines universalen Patriarchatsbegriffs verloren". 24 Eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht auch in der Frauenforschung, die erst durch mühselige Kleinarbeit aufgehoben werden kann. Erste neue Einblicke in die weibliche Lebenswelt vermitteln die Publikationen von Sibylle Meyer, Eva Schulz und insbesondere Dorothee Wierling in ihrem: „Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende" (1987). Diese vier neuen Richtungen in der Sozialgeschichte entwickelten sich in Auseinandersetzung mit der „etablier-
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ten" Geschichtswissenschaft und haben eine Diskussion ausgelöst, die noch anhält und Grundfragen der Geschichtswissenschaft berührt. Sie verfolgen zwar alle unterschiedliche Fragestellungen, was nicht zuletzt durch die behandelten Gegenstände bedingt ist. Einig sind sie sich jedoch in ihrem Interesse an der Lebensweise einfacher Leute, die das Alltagsleben und die subjektive Erfahrungswelt einbezieht sowie einer dem Gegenstand entsprechenden methodischtheoretischen Erschließung ihres Materials, aus dem sich historisch-anthropologische Fragestellungen ergeben. 4. Institutionalisierung der historischen Anthropologie Mit der Verdichtung historisch-anthropologischer Forschungen in den verschiedensten Wissens- und Interessenfeldern hat sich auf dem Weg zur Institutionalisierung Wesentliches geändert. Nachdem bereits der Berliner Historikertag von 1984 unter das Motto „Anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft" gestellt wurde, bildete sich 1994 auf dem Leipziger Historikertag eine eigenständige Sektion über Historische Anthropologie.25 Eine besondere Würdigung erfuhr sie durch das Bundesbildungsministerium, das 1995 sechs junge Historiker und Historikerinnen den MeierLeibnitz-Preis für Historische Anthropologie verlieh.26 Wichtiger wurde die Gründung von mehr oder weniger regelmäßig tagenden Arbeitskreisen im ganzen deutschsprachigen Raum. Ein erster Kristallisationskern hat sich am Freiburger „Institut für Historische Anthropologie e.V." (1975) um den Althistoriker Jochen Martin gebildet.27 Seine thematisch orientierten Sammelbände richteten sich bisher auf zentrale Problemkomplexe: auf „Krankheit, Heilkunst, Heilung" (1978), auf „Entstehung und Wandel rechtlicher Produktionen" (1980), auf „Kindheit - Jugend - Familie -
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Gesellschaft" (1986/89) und auf den Krieg. Es besteht zugleich ein lockerer Zusammenhang mit dem „Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte". Grundlegend ist ein universal-historisch vergleichender Zugriff, den allerdings mehr die Ähnlichkeit von Phänomenen in den unterschiedlichen Gesellschaften interessiert als die kulturellen Unterschiede. Neuerdings wird an der Universität Freiburg auch erstmals ein neuer Studiengang in zwei Zweigen angeboten: „Biologie der Anthropologie" und „Kulturanthropologie/Historische Anthropologie", womit ein Magisterabschluß mit historischer Anthropologie als Schwerpunkt möglich wird. Entscheidender aber wurde für die allgemeine Formulierung historisch-anthropologischer Interessen im deutschen Sprachraum die Konzentration entsprechender Forschungen am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Aus einem von Alf Lüdtke und Hans Medick initiierten Arbeitskreis gingen stattliche Sammelbände hervor: „Klasse und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtswissenschaft" (1982), „Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung" (1984) und „Herrschaft als soziale Praxis. Sozialanthropologische und historische Studien" (1991). Die ausführlichen Einleitungen sind wichtig für das Selbstverständnis der neuen Forschungsrichtung. Ihre zum größten Teil brillanten Detailstudien stammen allerdings zumeist aus der Feder ausländischer Forscher. Von programmatischer Bedeutung wurde Hans Medicks 1984 in „Geschichte und Gesellschaft" publizierter Aufsatz: „Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte." Medick schließt sich in seinem Konzept an die Forschungen von Carlo Ginzburg und Natalie Z. Davis an und kommt unter Rezeption der Handlungstheorie von Pierre Bourdieu und des symbolischen Interaktionismus von Clifford Geertz zu einem an-
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thropologischen Kulturverständnis, das sich zum einen weder von Herrschaft und Wirtschaft noch von Alltag und Lebensweise abhebt. Zum anderen richtet sich nach ihm die anthropologisch orientierte Geschichtsanalyse vor allem auf das Begreifen und Entschlüsseln der komplexen Beziehungen zwischen determinierenden Strukturen und der Praxis der Subjekte, zwischen Lebensverhältnissen und der Erfahrung von Betroffenen und Handelnden. Dies kann schließlich nicht mehr mit abstrakten Modernisierungstheorien geleistet werden. Medick plädiert für die sozialanthropologische „teilnehmende Beobachtung"; von einer „historischen Anthropologie" spricht er hier allerdings nicht. Weitere Arbeitskreise haben sich vor allem in Saarbrükken28 und in Wien29, dann auch in Kiel30, in Potsdam und in Stuttgart gebildet. Eine andere Position vertritt jedoch das „Interdisziplinäre Zentrum für Historische Anthropologie" der FU Berlin um Christoph Wulf und Gunter Gebauer, das mittlerweile sowohl eine Zeitschrift „Paragrana", eine Schriftenreihe sowie ein umfängliches Handbuch: „Vom Menschen. Handbuch Historischer Anthropologie" (1998) herausgibt, aber mehr oder weniger der Tradition der philosophischen Anthropologie verpflichtet ist." Eine erste stärkere Bündelung der historisch-anthropologischen Forschungen erfolgte mit der Gründung der Zeitschrift „Historische Anthropologie. Kultur - Gesellschaft Alltag" (1993). Sie wurde von R. van Dülmen, A. Lüdtke, H. Medick und M. Mitterauer initiiert und vereint unterschiedliche Orientierungen, wie sie von den einzelnen Mitherausgebern vertreten werden. Sie favorisiert dementsprechend auch kein abgeschlossenes und disziplinär eindeutig zuzuordnendes Forschungsgebiet der Geschichtswissenschaft. Nach dem Editorial sollen: „Befindlichkeiten und Einstellungen, Interpretationen und Imaginationen, Verhaltens- und Handlungsweisen in ihren historisch-sozialen Zusammenhängen untersucht und -30-
dargestellt werden. Es geht darum, in den gesellschaftlichkulturellen Verhältnissen und alltäglichen Lebenswelten der Vergangenheit die Gleichzeitigkeit von ,Fremdem' und E i genem', von ,langer Dauer' und .rapidem Wandel' in ihren wechselseitigen Beziehungen zu erschließen. Die Analyse von Ritualen, Bräuchen, symbolischen Handlungen schließt die ,Innenseite' von Gesellschaften auf, die Bezugs- und Ausdrucksformen, in denen soziales Leben symbolisch formuliert, in verdichteter Form repräsentiert und konflikthaft ausgetragen wird. Zentral ist ein umfassender Kulturbegriff. ,Kultur' gilt nicht als Kennzeichen eines bestimmten Sektors, sondern als Medium historischer Lebenspraxis und Auseinandersetzung insgesamt." Mittlerweile kann die Zeitschrift auf sieben erfolgreiche und abwechslungsreiche Jahrgänge zurückblicken.
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PROBLEME UND PERSPEKTIVEN
1. D e r M e n s c h als A k t e u r der G e s c h i c h t e Die historische Anthropologie stellt den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der historischen Analyse. Ihr Konzept unterscheidet sich dabei wesentlich von der Konstruktion des Menschen in der Philosophischen Anthropologie, insofern sie nicht nach dem Wesen, dem Allgemeinen des Menschseins in der Geschichte fragt, sondern nach den vielseitigen kulturell-sozialen
Bedingtheiten im Wandel der Zeiten,
nach der Besonderheit und Eigensinnigkeit menschlichen Handelns, die ein geschlossenes und einheitliches Menschenbild ausschließen. 1 Es konstituiert sich erst im historischen Prozeß. Zwar hat der Historismus die Individualität des Menschen betont, doch machten ihm zufolge nur starke Männer die Geschichte, wohingegen das einfache Volk stumm blieb, gefangen in Natur und Gesellschaft. Im U n terschied hierzu hebt die historische Anthropologie die Teilhabe aller Menschen an der Geschichte hervor, nicht nur an ihrer eigenen; ihre soziale Praxis konstituiert - wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung - Geschichte, in die der Mensch seine Ideen, Interessen und Wünsche einbringt. Schließlich wendet sich die historische Anthropologie auch von der strukturgeschichtlichen Perspektive der Sozialgeschichte ab, die nur objektive Strukturen und Prozesse thematisierten, dem einzelnen Menschen keine „eigenwillige" Interpretation zubilligt, sondern ihm nur als Träger oder gar „Marionette" Realität beimißt. 2 In Auseinandersetzung und Uberwindung dieser drei die Geschichtswissenschaft bestimmenden Richtungen stellt die historische Anthropologie den Menschen in seiner Be-
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August Sander, Kohlenträger in Berlin, 1929
Sonderheit, in seiner Komplexität und Abhängigkeit von Natur, Gesellschaft und kultureller Tradition in den Mittelpunkt. Die Geschichte wird als von Menschen gemachtes Werk betrachtet, wie umgekehrt der Mensch als durch die Geschichte geprägtes Wesen definiert wird. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen", heißt es 1852 bereits bei Karl Marx. 3 Die historische Anthropologie unterstellt dem Menschen zwar keine völlige Autonomie im Handeln, als wäre er Herr der Dinge, sie sieht ihn aber auch nicht als den Dingen in der Welt völlig ausgelieferten Spielball der Ereignisse an. Dieses Zwischenfeld zu beschreiben, d.h. die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräume auszuloten, zählt zu einer Hauptaufgabe der historischen Anthropologie. Zum anderen erkennt sie die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit von Handlungen und Prozessen an, die in ihrer Komplexität nur im Kontext der Gesellschaft aufgeschlüsselt werden können und durch die verschiedensten Verhält-
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nisse bestimmt werden. Drittens berücksichtigt die historische Anthropologie nicht ausschließlich vernunftgemäßes Handeln, sondern gleicherweise Gefühle und Stimmungen, die nicht weniger rational verankert sind als die Vernunft selbst. Historische Anthropologie konzentriert sich somit nicht nur auf das politische oder ökonomische Handeln, sondern ebenso auf das Privatleben und trennt vor allem nicht politisches Handeln von kulturellem Leben. Schließlich und viertens erkennt sie den Menschen als wandelbares Wesen, das nie gleich bleibt und gleich reagiert, sondern sich höchst unterschiedlich zu bestimmten Situationen und Gegebenheiten stellt, die selten vorausbestimmt sind. Sein Handeln unterliegt keiner finalistischen Zielsetzung, so begrenzt der Handlungsspielraum auch sein mag, womit die letzte Entscheidungsgewalt darüber beim Menschen selbst liegt, ob er einen bestimmten Weg einschlagen will oder nicht. Bei jedem Zivilisierungs- und Modernisierungsprozeß ist nach seiner Geschlossenheit zu fragen, nach seinem historischen Subjekt und der Gleichzeitigkeit. Prozesse haben ein zwiespältiges Gesicht, jenachdem ob sie von oben oder unten gesehen werden, eine zentrale, eindeutige und ausschließliche Perspektive existiert nicht. Verschieden sind die Geschichten von Menschen, die sich weder hermeneutisch noch systematisch zusammenfügen lassen. Ihre Komplexität zu reduzieren, heißt oft, ihnen ihr spezifisches Gepräge, ihre Einmaligkeit und Individualität zu nehmen. Mit der historischen Anthropologie tritt der einzelne Mensch, das Einmalige und Besondere wieder in die allgemeine Geschichtsschreibung ein, was nicht heißt, daß damit soziale, politische, ökonomische und kulturelle Perspektiven aufgegeben würden. Im Gegenteil: sie erhalten vielmehr ein neues und anderes Gewicht. Sie werden in Bezug gesetzt zum Menschen, der sich in diesen vorgegebenen Strukturen entweder durch Unterwerfung und Aneignung oder durch eigene Interpretation und Aktion zu realisieren versucht. So -34-
wie die objektiven Strukturen und Prozesse erst durch das Verhalten und Handeln der Menschen bestimmt werden, wird der einzelne Mensch erst zu dem, was er ist, durch das, was er konkret aufnimmt und bewußt oder unbewußt gestaltet. Die dialektische Beziehung von objektiven Strukturen und subjektivem Handeln machen die Geschichte zur eigenen Geschichte, die unverwechselbar den einzelnen Menschen konstituiert. Das mittlerweile starke Interesse an Ego-Dokumenten ist von der Hoffnung getragen, die Geschichte der subjektiven Aneignung objektiver Gegebenheiten zu rekonstruieren. Diese Hoffnung trügt allerdings, wenn die vielfältigen Erfahrungen und Berichte nicht vor dem Hintergrund von Strukturen und Prozessen interpretiert werden. Eine Vielzahl von Geschichten der Bauern, Arbeiter und auch Bürger haben in letzter Zeit eine Vielschichtigkeit und Farbigkeit erbracht, die der Wirklichkeit wohl mehr entsprechen, als ältere Heldendarstellungen oder Strukturanalysen. Altere Forschungsergebnisse wurden dadurch jedoch nicht gänzlich aufgehoben, ihr Bedeutungsgehalt wird jedoch anders gewertet.4 In besonderem Maße unterscheidet die historische Anthropologie die Menschen nicht nur nach sozialen Gruppen, sondern nach dem Geschlecht. Wie früher Bauern oder Arbeiter nur als Elemente einer objektiven Struktur erschienen und maximal einen „Fall" ausmachten, besaßen auch die Frauen kein eigenes individuelles Gesicht. Geschichte wurde stets reduziert auf das, was Männer im Laufe der Zeit dachten, arbeiteten und organisierten. Die Tätigkeitsfelder und Gedankenwelten der Frauen existierten in dieser Betrachtungsweise kaum. Die mühsam rekonstruierte ,FrauenWelt' in Relation der der Männer zu bringen, gilt als eine Aufgabe der neuen Geschlechtergeschichte. Den einzelnen Menschen gleich welchen Geschlechts als Akteuren der Geschichte insgesamt einen Stellenwert ein-35 -
zuräumen, heißt nicht nur, ihre vielfältige Sicht der Dinge zu vermitteln, sondern überhaupt Geschichte als von Menschen - nicht von Strukturen und Prozessen - gestaltet zu erkennen und damit die objektiven Gegebenheiten aus der Sicht der Menschen und ihrer Werke zu bewerten. 2. Kultur u n d Lebenspraxis Von zentraler Bedeutung für die historische Anthropologie ist der Kulturbegriff. Er hat in der letzten Zeit eine ungewöhnliche Karriere erlebt und den Begriff der „Gesellschaft" nicht nur zum Vorteil bei der Formulierung neuer Forschungsinteressen fast verdrängt. Er thematisiert neue Problemfelder der Sozialgeschichte, zugleich impliziert er auch neue theoretische Aspekte. Umso notwendiger ist seine präzise Beschreibung, zumal er mit einem tiefen Wandel des historischen Selbtverständnisses in der Gegenwart verbunden ist.5 Einerseits geht es um eine Erweiterung des (alten) Kulturbegriffs, andererseits um seine Spezifizierung. Die historische Anthropologie kehrt sich in ihrem Kulturverständnis eindeutig vom „bürgerlichen" Kulturbegriff ab, der in den Schöpfungen von Musik, Kunst, Religion und Literatur einen Höhepunkt zivilisatorischer Leistungen sieht. Zumeist war dieser Begriff an eine elitäre Kultur - „Hochkultur" - gebunden. Zur Zeit verschwindet diese Einschätzung im wissenschaftlichen Gebrauch, wenngleich er im Alltäglichen (Medien) noch relevant bleibt. In seltsamer Umkehr hatte er auch das Kulturverständnis des orthodoxen Marxismus geprägt, bei dem die Kultur auf ein Überbauphänomen reduziert, letztlich keine Rolle für die gesellschaftlicher Entwicklung spielt. Eine dritte Richtung, die ihre Position vor allem in der klassischen Sozialgeschichte mit antimarxistischer Ausrichtung findet, definiert Kultur als einen gleichwertigen, aber autonomen Bereich neben Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Hier ist Kultur allerdings
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Pieter Aertsen, Händler auf dem Markt, vor 1575
keineswegs auf die kulturelle Objektivationen des Geistes beschränkt, sondern sie bezieht die Weltanschauung auch nicht-elitärer Gruppen mit ein sowie alle kulturellen Aktionen von religiösen Äußerungen bis zum Heiratsverhalten. Geisteswissenschaftliche
Konnotationen
sind
hier
zwar
erstmals aufgehoben: - nicht Ideen beherrschen die Werte, sondern Interessen - aber als abgehobene Dimension bleibt Kultur in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung unklar. Eine neue Konzeption von Kultur entwickelte sich durch die Beschäftigung mit der Kultur ,ungebildeter' Schichten einerseits und der außereuropäischen Ethnien andererseits, die über keine entwickelte Schriftlichkeit verfügen. Es ist das Verdienst der historischen Volkskunde, den kulturellen Äußerungen des einfachen Volkes eine Eigenständigkeit ein-
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geräumt zu haben. Mit der Ausweitung des Kulturbegriffs auf nonverbale Kommunikation, rituelles Verhalten, Symbolwelten und Lebensweisen wurde er unspezifischer, aber zugleich wirklichkeitsnäher. Die Aufgabe des einheitlichen Kulturbegriffs erweiterte die historische Kulturforschung beträchtlich, wogegen die zeitspezifische Gegenüberstellung von Volks- und Elitekultur wenig weiterhalf.6 Ein zweiter Schub erfolgte durch den Umbruch des Marxismus englischer und französischer Prägung, der in der Beschäftigung mit der vorindustriellen und Arbeiterwelt neue Parameter der Kulturforschung testete. Hier erfolgte erstmals wieder eine Einbindung in den sozioökonomischen Kontext. „Ohne Produktion keine Geschichte ... Aber wir müssen auch sagen: ,Ohne Kultur keine Produktion"' formulierte Edward P. Thompson diese gegenseitige Beziehung.7 Die dritte Perspektive brachte die Ethnologie, deren Konzentration auf das Alltagsverhalten einen Kulturbegriff favorisierte, der nicht nur mit dem Konzept der Elite- und Hochkultur radikal brach, sondern ebenso mit der Vorstellung einer in sich geschlossenen abgehobenen Welt von Werten und Haltungen. Dieses Kulturverständnis bindet Kultur vielmehr wieder in die sozialen Handlungsräume ein, in die politische, ökonomische und soziale Probleme gleichermaßen hineinwirken. Die wohl einflußreichste Begriffsdefinition stammt von Clifford Geertz, der 1973 schrieb: „Der Kulturbegriff, den ich verwende, bezeichnet ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln".8 Im anthropologischen Verständnis wird Kultur folglich 1. nicht mehr als eine von den materiellen, ökonomischen
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und sozialen Interessen abgehobene Sphäre begriffen, sondern als eine Gestaltungskraft des Lebens insgesamt. Sie umfaßt Lebensweisen, Wahrnehmungsmuster und Verständigungsformen der verschiedenen Gruppen, Stände, Geschlechter und Klassen. Damit geht sie auch 2. nicht von einem geschlossenen Begriff von Kultur aus, an dem alle Menschen gleicherweise partizipieren. Bürger und Bauern, Arbeiter und Adelige können nicht am selben Kulturbegriff gemessen werden, weil sie unterschiedlichen Lebensbedingungen unterworfen sind und verschiedene Interessen verfolgen. Die Pluralität der Lebensstile kennzeichnet dabei sowohl die alte wie auch die moderne Welt. Die Ausweitung des Kulturbegriffs erlaubt damit, die Lebensweise der Unterschichten wie außereuropäischer Völker in ihrer Eigenständigkeit und zugleich in ihrer Abhängigkeit zu erkennen. Schließlich bezieht der weite Kulturbegriff nicht nur den Wertekanon der „bürgerlichen" Welt, sondern auch die Tradition, Lebensweise, die Welt der Bedürfnisse und Interessen der einzelnen Individuen und sozialen Gruppen ein, die nicht auf ein Ziel hin interpretierbar sind. Die Heterogenität der Lebenspraktiken und unterschiedlichen Sinnkonstruktionen erlaubt es somit nicht mehr von einer Kultur, sondern nur von vielen Kulturen zu sprechen. Der Kulturwert bemißt sich auch nicht mehr nach einem hierarchisch-europäischen Muster (einer Elite), sondern nach dem Wert und der Bedeutung, den er für den Einzelnen wie für einzelne Gruppen besitzt. Der Verzicht auf absolute Maßstäbe schärft letztendlich den Blick für die Pluralität und Gleichrangigkeit von Kulturen.' 3. Subjektive Erfahrung - Subjektivität in der Geschichte Die anthropologisch orientierte Geschichtsschreibung thematisiert nicht nur objektive Lebenszusammenhänge wie
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die materiellen Sachgüter, die familiare Struktur, die Arbeitswelt und Bildungsinstitutionen, sondern richtet sich ebenso auf die soziale Praxis, auf die Wahrnehmungsweise, Gefühlswelt und Subjektivität der Menschen, die nicht ausschließlich nach rationalen Kriterien handeln. Darüber hinaus versucht sie beide Bereiche miteinander zu verbinden. Sie interessiert sich insgesamt dafür, wie die Menschen sich und ihre Umwelt, die Arbeit und die Obrigkeit wahrnehmen, Beziehungen zu ihnen gestalten, objektive Gegebenheiten formulieren und sich aneignen. Geschichtliche Strukturen und Prozesse sind nur geschichtsmächtig, wenn sie die Menschen betreffen, von ihnen mitgeprägt und interpretiert, vor allem aber angeeignet und mitgestaltet werden. Den Menschen also als Mitproduzenten von Strukturen zu verstehen, heißt, ihn als Gegenstand und „Träger" von Geschichte ernstzunehmen.10 Der Blick auf die Subjektivität relativiere, so wird immer wieder behauptet, objektive Zwänge. Sicherlich können objektive Strukturen und Prozesse ein bestimmtes Handeln und Verhalten der Menschen erzwingen. So gering der Handlungsspielraum oft auch ist, gibt es doch keine Ubermacht der objektiven Faktoren, keinen deterministischen Prozeß in der Geschichte, der jede Gestaltungsfreiheit aufhebt und den Menschen in seinem Denken und Handeln völlig unterwirft. Der Mensch ist mehr als nur ein Objekt der Geschichte, ein anonymes oder duldsames Opfer vorgegebener Prozesse der Disziplinierung oder Modernisie-
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rung, sondern bringt je nach Situation seine Befindlichkeiten ein, knüpft eigenständige Beziehungen und gestaltet sein Leben soweit wie möglich aktiv, ohne damit autonom zu sein; das gilt für die Elite wie für das einfache Volk. Dieser produktive Umgang des Menschen mit seiner sozialen, kulturellen und materiellen Umwelt ist in neuen Untersuchungen mehrfach unter Beweis gestellt worden. Die gängigen Fragen nach der Erfahrung und dem Eigensinn Einzelner impliziert dies ebenso wie die Suche nach der Bedeutung der Ereignisse, Strukturen und Prozesse für den Einzelnen. Obwohl die christlichen Kirchen ihren orthodoxen Glauben allen vorschrieben, entwickelte das „gläubige" Volk eigenständige religiöse Vorstellungen, die den offiziellen Lehren widersprachen, ohne daß es dies selbst so empfand." Wenngleich ein Bauer ,objektiv' ausgebeutet wurde, entstand daraus nicht automatisch ein Protest gegen die Obrigkeit; denn herrschaftliche und bäuerliche Interessen konnten miteinander konkurrieren, ergänzen sich aber auch.12 Obwohl Frauen weitgehend der Männerwelt unterworfen waren, konnten sie in der Arbeitswelt ihr Recht behaupten und eine Öffentlichkeit gestalten, die die Gesellschaft ebenso mitkonstituierte wie die der Männer.13 Zwar hat die Lesebefähigung und Buchproduktion konstant zugenommen, aber bis in die Industrialisierungszeit hinein ist eine ,Intellektualisierung' der Gesellschaft außerhalb der kleinen Aufklärerkreise kaum feststellbar.14 „Künstliches" Wissen produziert somit noch lange keinen Bildungs- oder gar Gesinnungswandel. Wenngleich schließlich die materiellen Lebensverhältnisse gerade für einfache Leute lange extrem beschränkt waren, entwickelten sich nicht minder Gefühle wie Liebe, Trauer und Haß, nur variierten diese beträchtlich je nach der Ausdrucksmöglichkeit einer Gruppe oder Gesellschaft. Die angeführten Beispiele verdeutlichen bereits, daß es ,die' objektive Sicht weder mit dem Blick auf gesellschaftliche Prozesse noch individuellen Aneignungen geben kann.
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Welche Aneignungen und Interpretationen geschichtsmächtig werden, hängt oft von den verschiedensten Faktoren ab. Dabei spielt die Subjektivität eine beträchtliche Rolle. Eine entsprechende oder adäquate Verhaltensanalyse ist erst aus dem Kontext möglich, wobei nicht auszuschließen ist, daß gleiches Verhalten aus unterschiedlichen Ursachen resultierte, daß nicht der soziale Konflikt, sondern das gemeinsame Uberleben wichtiger war und überhaupt Menschen in einer bestimmte Situation auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen kulturellen Tradition unterschiedlich handelten. Objektive Vorgegebenheiten und subjektives Verhalten decken sich zwar vergleichsweise selten. Aus ihrem spannungsreichen Verhältnis entwickelte sich aber die besondere Dynamik historischer Prozesse.15 Kultur ist demnach in keiner Hinsicht lediglich ein Reflex objektiv wirtschaftlicher Gegebenheiten. Bei aller Eingebundenheit in materielle Verhältnisse und Abhängigkeit von ökonomischen Interessen kommt der kulturellen Praxis stets eine gewisse Autonomie zu, die nur aus der subjektiven Erfahrung (im Umgang mit der kulturellen Tradition) erschlossen werden kann." Erst im Aneignungsprozeß objektiver Gegebenheiten, die Erfahrungen konstituieren, wird transparent und erkennbar, was das Handeln der Menschen zu jeder Zeit bestimmt hat und ausmacht. Die Annahme einer Gegebenheit, der Umgang mit ihr, schließt eine positive Umsetzung in etwas Neues ebensowenig aus wie die Verweigerung den Erhalt der Tradition sicherstellt. Es macht gerade das Eigensinnige der Geschichte aus, daß nichts vorausgesehen werden kann, denn Annahme und Verweigerung verhalten sich dialektisch zueinander. Sinnhaftes Handeln der Subjekte ist noch lange kein ,wahrhaftes' Handeln, kann aber Geschichte dennoch konstituieren.17 Es war gerade die Entdeckung der Subjektivität in der Geschichte, der Blick auf den Aneignungsprozeß objektiver Strukturen durch Subjekte, die die Grenzen der Aussage-42 -
kraft der traditionellen Politik- und Sozialgeschichte deutlich machten. Sie zeigten, daß es nicht ausreicht, objektive Mächte und Strukturen zu untersuchen, um das zu entschlüsseln, was Menschen mit ihrer Geschichte machen. Menschen verhalten sich nicht nach vorgegebenen sozialen Rollen, ohne gleichzeitig ihre gesamte Handlungsmöglichkeit vollends auszuschöpfen. Um die subjektiven Erfahrungen und den Eigensinn der Menschen zu eruieren, bedarf es freilich qualifizierter Quellen, die nicht für alle Zeit vorliegen. Aber was die Forschung erreichen kann, zeigt gerade die Frühe Neuzeit-Geschichte, die zwar mehr Quellen zur Verfügung hat als die des Mittelalters, aber immer noch weit weniger als die Neuere Geschichte. Wie dekonstruktivistisch die Berücksichtigung subjektiver Quellen für die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs wirkt, zeigen Arbeiten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts. 18 4. Tradition - M o d e r n e Die historische Anthropologie kennzeichnet ein besonderes Verhältnis zur Tradition wie zur Moderne. Sie ist sich dessen bewußt, daß wir auf diese Kategorien im alltäglichen wissenschaftlichen Umgang kaum verzichten können; aber sie müssen nicht nur jeweils für eine Epoche oder Gesellschaft neu bestimmt werden, sondern reichen letztlich auch nur beschränkt zur Qualifizierung aus. Denn es handelt sich um ,moderne* Konstruktionen, die oft mehr Aussagen über den Forscher bzw. die Forschung enthalten, als über die zu beschreibende Gesellschaft. Die lockere Verwendung der Begriffe „traditionale" und „moderne" Gesellschaften irritiert in außerordentlicher Weise, denn es bleibt offen, ob mit der Moderne fortschrittliche Techniken der Bewirtschaftung beschrieben werden oder ein politisches System, das unserer Vorstellung einer demokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung entspricht. Das Begriffspaar „tra-43 -
Palast der Republik und Berliner
Dom
ditionell/modern" ist vornehmlich aus dem Kontext westeuropäischen Geschichtsdenkens erwachsen." Vor allem kritisiert die historische Anthropologie ein Traditionsverständnis, das geprägt ist vom Mythos eines unaufhaltsamen Aufstiegs der Moderne, die schrittweise das Traditionelle hinter sich läßt. Dies setzt ein finalistisches Denken voraus, das den historischen Wandlungsprozeß generell als Prozeß von der Tradition zur Moderne begreift und in der Moderne den Inbegriff menschlicher Errungenschaften sieht. Die spezifische gesellschaftliche Entwicklung gründet jedoch auf dem Prinzip der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen". Die permanente Modernisierung der Lebensverhältnisse vollzog sich einmal in den verschiedenen sozialen Gruppen und Regionen Europas bzw. Westeuropas höchst disparat und unterschiedlich rasch. Das westeuropäische Zivilisationsmodell kann selbst in Europa nicht auf alle Klassen und Länder angewandt werden, vor allem wenn wir die Entwicklung des Adels in England und Deutschland oder
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der Arbeiter in Deutschland und Italien, insbesondere des Bürgertums in Frankreich und Deutschland miteinander vergleichen. Es ist dabei zu fragen, was die Regeln und was die Ausnahmen sind. Mitten in den hochentwickelten Regionen und Gesellschaften findet man nicht minder bedeutende Enklaven der „Rückständigkeit". Jede soziale Gruppe hat ihre eigene Geschichte und Erfahrung, die sie unterschiedlich stark in den kulturellen Gesamtzusammenhang einbringt und die nicht jeweils an dem gemessen werden können, was „moderne" Gruppen an Änderungen entwickeln. Die historische Anthropologie ist sich nicht nur des Fremden, des Anderen in der eigenen Geschichte bewußt, sondern auch der eurozentristischen Betrachtung der europäischen Geschichtsschreibung, die das westeuropäische Zivilisationsmodell als universelles Muster interpretiert, auf das hin sich andere Gesellschaften bewegen. Es ist ebenso problematisch, die südamerikanische oder asiatische Modernisierung an Kategorien Westeuropas zu messen wie zu übersehen, daß sich das europäische Muster unter dem Einfluß der Weltgesellschaft selbst grundlegend veränderte. Solange jedoch die außereuropäische Geschichtsschreibung nicht ernst genommen wird, wird sich an unseren Kategorien kaum etwas ändern.20 Schließlich verwirft die historische Anthropologie den wertenden Gegensatz von Tradition und Moderne, in dem sie die Tradition nicht für „minderwertig" und die aufgeklärte Moderne nicht für das Maß aller Dinge hält, unabhängig davon, daß eine saubere Trennung kaum möglich ist. Dies zeigt die Diskussion um die Reformation nicht weniger wie die Einschätzung der Bauernaufstände in der Frühen Neuzeit, die Beurteilung des Kaiserreichs wie vor allem die des Dritten Reichs, welche Elemente der jeweiligen Epoche traditionell und welche modern sind. Tradition hat in unserem Sinne nichts mit Restauration oder bürgerlichem Folklorismus gemein, sondern steckt einen Handlungsrah-45 -
men ab, der von den Betroffenen mit Leben und Sinn erfüllt wird, der aus der Vergangenheit stammt, aber sich durchaus dynamisch verhält und sich keineswegs der Moderne verschließt. Änderungen bzw. Modernisierungen vollziehen sich, das wissen wir heute mehr als früher, nur dort reibungslos, wo sich Gesellschaften und Gruppen nicht außerhalb der Tradition stellen, sondern mit ihr über ein Fundament verfügen, das Belastungen aushält. Revolutionen, die sich der Moderne verschrieben, haben selten eine unmittelbare Modernisierung gebracht, die die Opfer rechtfertigen würden. Gerade die Gegenwart zeigt, wie vital Traditionen sind, die nicht einmal durch die Anwendung jahrzehntelanger Repression unterdrückt werden konnten, und wie wenig Modernisierungen identitätsstiftend sind, wenn sie die Emotionen und Bedürfnisse der Gesellschaft nicht beachten. Gerade die Geschichte der Volksrepubliken und des Sozialismus verdeutlicht, in welch begrenztem Maße Traditionsbrüche „neue" soziale Kräfte freisetzen.21 Das Verhältnis von Tradition und Moderne wird, soweit diese Begriffe überhaupt noch unreflektiert verwendet werden dürfen, in der historischen Anthropologie neu bestimmt. Zum einen ändert sich mit der jeweiligen Moderne auch die Tradition. So wie Moderne in den verschiedenen Regionen und Gruppen unterschiedliches bedeuten kann, wird auch Tradition immer neu bestimmt. Die inhaltlichen Merkmale und Charakteristika ändern sich somit im sozialen Prozeß beträchtlich. Zum anderen ist natürlich die Geschichte der Modernisierung von Lebensverhältnissen zugleich eine Geschichte von Verlusten. Modernisierung bedeutet damit keinesfalls den unaufhaltsamen Prozeß einer Wertsteigerung, sondern führt zugleich zum Untergang von kulturellen Ordnungen, die disfunktional geworden sind. Unter der Perspektive, daß Menschen gar nicht umhin können, sich den jeweils gegenwärtigen Problemen zu stellen und neue Sinnzusammenhänge zu erarbeiten, die ihre Iden-
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tität sichern, sind Modernisierung und Traditionsbewußtsein relative Kategorien zur Beschreibung von sozialen Zus t ä n d i g k e i t e n und sozialen Prozessen. 22 5. M i k r o g e s c h i c h t e Mit besonderer Vorliebe orientiert sich die historischanthropologische Forschung an kleinen Räumen, kleinen sozialen Gruppen und überschaubaren Handlungseinheiten und interessiert sich weniger für makrohistorische Untersuchungen. Ihr Bekenntnis zur Mikrohistorie ist programmatisch und hat allenthalben vor allem für die deutsche Geschichtswissenschaft herausfordernd gewirkt und die historische Sozialwissenschaft verunsichert. 23 Diese propagierte zwar auch Falluntersuchungen, in denen es allerdings zumeist darum ging, gerade nicht das nichtfallspezifische Allgemeine herauszuarbeiten, sondern Bausteine, Korrekturen oder Spezifizierungen für einen großen Zusammenhang zu gewinnen. Die mittlerweile klassischen Arbeiten von C. Ginzburg", E. LeRoy Ladurie 25 , N . Z . Davis 26 und R. Darnton27, denen nun auch etliche deutsche Studien wie die von Rainer Beck 28 , Hans Medick 29 oder Paul Burgard 30 angefügt werden können, konzentrieren sich hingegen auf das „Kleine" aus anderen Gründen. Sie wollen nicht Details im Ganzen, sondern Details des Ganzen erfassen und an kleinen Räumen oder Einheiten - welche ja zumeist auch die Lebensräume von Menschen sind - , das Ineinandergreifen verschiedener und umfassender Wirklichkeitsbereiche, überhaupt Lebenszusammenhänge aufzeigen, die makroanalytisch überhaupt nicht faßbar sind. Nicht zuletzt werden dabei unser sektorales Denken hinterfragt und Verbindungen in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen der Wirklichkeit transparent gemacht. In seiner großen „Lokalgeschichte" über Laichingen schreibt Hans Medick 1996:
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Matthäus Merian, Dorf im 17.
Jahrhundert
„Der entscheidende Erkenntnisgewinn einer Lokalisierung und Kontextualisierung historischen Wissens durch mikrohistorische Verfahren besteht vielmehr darin, daß durch die möglichst vielseitige und genaue Durchleuchtung historischer Besonderheiten und Einzelheiten - vor allem auf der Ebene der Alltäglichkeit menschlichen Verhaltens Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten kultureller, sozialer, ökonomischer und politischer Momente in den Blick «31
geraten. Das schließt freilich den Blick aufs große Ganze nicht aus, setzt ihn im Gegenteil voraus, denn er ist verbunden mit Fragestellungen, die sich an das Ganze des Lebens richten. Daß die Konzentration auf das „Kleine" auch mit der Quellenproblematik verbunden ist, versteht sich dabei von selbst. Zum anderen können vor allem nur an einzelnen Beispielen, überschaubaren Räumen und transparenten Ereig-48-
nissen subjektive Befindlichkeiten, um die es ja stets in der historischen Anthropologie geht, detailliert entschlüsselt werden. Eine makrohistorische Perspektive muß selbst in der Familienforschung Einzelheiten vernachlässigen, die möglicherweise von besonderer Brisanz für das Thema sein können. Welche Rolle beispielsweise Gefühle und religiöse Praktiken im alltäglichen Leben der Menschen spielten, läßt sich nur an Überschaubarem sichtbar machen; wie die einzelnen Menschen zu großen Ereignissen und Wandlungsprozessen standen und sie interpretierten, kann nur aus Einzelzeugnissen rekonstruiert werden. Wie repräsentativ ihre Entdeckungen und Beobachtungen sind, ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang, unabhängig davon, daß bei der Untersuchung der Handlungsräume und subjektiven Interpretation nie Repräsentativität erreicht werden kann. Uber die Lebenspraxis gewonnene Durchschnittsbeobachtungen und -berechnungen sind demnach selten repräsentativ. Schließlich erlaubt nur die mikrohistorische Arbeitsweise, den Wandel der Beziehungen der Menschen untereinander, zur Umwelt, zur Tradition und zur Arbeit, die den sozialen Wandel in der Geschichte überhaupt begründen, näher zu durchleuchten. Wenngleich die Stärke der mikrohistorisch orientierten historischen Anthropologie in der Rekonstruktion von Lebenszusammenhängen und in deren Analyse liegt, so bleibt es doch auch ihre Aufgabe, sich verstärkt dem Problem des soziokulturellen Wandels und Transformationsprozesses zu widmen. Wodurch gesellschaftliche Konstellationen, die die Menschen selbst und unmittelbar betreffen, sich grundlegend verändern, ist nicht von vornherein ausgemacht. So bleibt schließlich die Frage: sind es die objektiven Gegebenheiten, die einen Wandel herbeiführen, oder die kulturellen Praktiken. Der mikrohistorische Blick bietet hier die Chance, genau die Schnittstelle aufzuzeigen, die eine Dynamisierung der Gesellschaft hervorbringt.
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Die Rehabilitierung des Menschen als Subjekt in der Geschichte ist eigentlich nur in einer Analyse kleiner Handlungsräume möglich, sie vermag die Perspektiven, das Eigenständige und Kreative des Menschen freizulegen. Welche Relevanz die Offenlegung und Erkenntnis hat, läßt sich allerdings nur durch die Ausweitung in den makrohistorischen Zusammenhang abschätzen. 6. Globaltheorien Das Bekenntnis der historischen Anthropologie zur Mikrohistorie, zum mikrohistorischen Arbeitsverfahren, korrespondiert mit einem weitgehenden Verzicht auf pauschale und globale Theorien, denen die Makrogeschichtsschreibung verpflichtet ist. Sicherlich sind die modernen Rationalisierungs-, Zivilisierungs- und Modernisierungstheorien, wie sie vor allem in den Werken von Karl Marx, Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault verdichtet vorliegen, hilfreich bei der Klärung des sozialen Wandels seit dem 16. Jahrhundert bzw. der Moderne.32 Die meisten Vertreter der historischen Anthropologie haben sie adaptiert, waren zeitweise in modifizierter Form sogar Verfechter des marxistischen oder Weberschen Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses und kennen die Zivilisationstheorien von Elias und Foucault. Das gilt u.a. auch für die ,Vorbilder' E.P. Thompson und R. Williams, für V. Turner und Cl. Geertz, für P. Bourdieu und M. Sahlins. Vor allem ihre deutschen Vertreter, die keine ethnologische Erfahrung und Ausbildung kennen, sind diesen Traditionen verpflichtet geblieben und beziehen ihre theoretischen Interessen aus diesen Schriften. Doch die nähere Untersuchung der historischen Praxis, die mittlerweile ein breites Feld umfaßt, hat gezeigt, daß es keine unilineare Entwicklung auf ein Ziel hin gibt, weder auf die bürgerlich-demokratische Gesellschaftsordnung noch auf den totalen Überwachungsstaat. Die Ge-
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schichte und vor allem die Menschen handeln nicht einer stringenten Theorie gemäß. Das Verhalten der Menschen und ihre Interpretation der Welt fügen sich keinen einheitlichen Auslegungsmustern, auch nicht mit der Entfaltung des Kapitalismus und des modernen Staates, sondern enthalten Widersprüche und Ambivalenzen, nicht nur im Hinblick auf die regionalen und sozialen Ausformungen der europäischen Gesellschaft, sondern auch auf der prozessual-strukturellen Ebene der „Modernisierung". Die Geschichte ist offen und nicht vorbestimmt durch das „Ideal" eines permanenten Fortschritts, der sich in der Geschichte vollzieht, oder eine Katastrophe, der der Mensch unausweichlich entgegengeht. Derartige Utopien präfigurieren oft große Theorien, wenn auch nicht überall in der genannten Geschlossenheit und Einheitlichkeit. Dementsprechend interessiert sich die historische Anthropologie auch weniger für die Untersuchung der gesellschaftlichen Funktion der zentralen sozialen, wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Institutionen Religion, Bildung, Familie, Arbeit etc. im Allgemeinen, sondern sie orientiert sich umgekehrt vorrangig an der Beschreibung und Analyse der Bedeutung dieser Institutionen und sozialen Bereiche für den Menschen unter besonderer Berücksichtigung der Subjektivität menschlicher Praktiken. Eine derartige Perspektive gibt mehr Aufschluß über die Weltanschauungen und Fragen der Lebensbewältigung als die „objektiven" Rahmenbedingungen als solche. Die Differenz zwischen der Eigenlogik von Institutionen und dem Sinn menschlichen Handelns ist beträchtlich. Damit wird in der anthropologischen Forschung nicht auf theoretische und hermeneutische Reflexionen verzichtet, im Gegenteil. Aber es geht nicht mehr um die „Anwendung" einer Theorie zur Erklärung empirischer Umstände, sondern um kritische Analyse und Auseinandersetzung mit einem sozialen Phänomen im Sinne der „dichten Beschreibung" und der „Perspektive der Eingeborenen". Dieses
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Karl Marx (1818-1883)
Verfahren ist nicht neuartig und keineswegs so auf Geertz' berühmten Aufsatz fixiert, wie es immer hervorgehoben wird, aber als Modell für einen neuen Umgang mit Theorien hilfreich. Es geht vor allem darum, sich ein Ereignis, eine Struktur oder einen Prozeß nicht quasi von außen und hegemonial anzueignen und fortzuschreiben, sondern sie vom Akteur oder den Akteuren her zu interpretieren und sich ihnen einerseits weitgehend anzunähern, andererseits dem modernen Leser den Sachverhalt verstehbar und über ihn die ,fremde' Gesellschaft begreifbar zu machen. Vom Forscher wird damit viel erwartet, er muß ein Instrumentarium entwickeln, das den Schlüssel einer fremden Kultur für die moderne Gesellschaft bietet. Die Kritik an Geertz' „Hahnenkampf" 33 und Darntons „Katzenmassaker" 34 macht dies offenkundig. Zwar wird es nie ein ausgewogenes Verhältnis von Theoriebewußtsein, Empirienähe und aktuellem Problembewußtsein geben, aber die ständige Auseinandersetzung und die stete Bereitschaft zu neuen Herausforderungen sind und bleiben ein konstitutives Merkmal historisch-anthropologischer Forschung, die gerade keine definitiven Ergebnisse zur Vervollständigung unseres Wissensstandes liefern will. Konsequenz einer Zurückhaltung gegenüber globaler Theoriebildung ist jedoch eine andere Präsentationsform von
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Max Weber (1864-1920)
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/ Wissenschaft als etwa die der Sozialgeschichte bzw. der historischen Sozialwissenschaft. Auch ihre F o r m vermittelt keineswegs nur einfache Fakten und Beschreibungen alltäglicher Handlungen, sondern interpretiert und analysiert sie. D o c h von grundsätzlicher Art ist ihr Bekenntnis zur Erzählung von Geschichte, die lange Jahre in der Geschichtswissenschaft verachtet und vernachlässigt wurde. 36 Es gehört zum Paradigma der Sozialgeschichte, insbesondere der historischen Sozialwissenschaft, nicht „sinnlich" zu sein. V o r allem möchte historische Anthropologie dabei die Kluft zwischen Erzählung und Analyse wie zwischen Einzelfall und Gesamtzusammenhang so lösen, daß der Leser sensibilisiert wird für die Probleme und ihre Interpretation in der Geschichte (die spektakulär und dramatisch im Sinne der großen Entwicklung der Menschheit sind) und lernt, strukturelle Zusammenhänge unter Berücksichtigung möglicher Handlungsräume zu erkennen. D i e großen Darstellungen und Untersuchungen von E. L e R o y Ladurie, C . Ginzburg oder E.P. Thompson zeigen nicht nur, wie die großen und kleinen Dinge zusammengehen, sondern daß sie im Spiegel von Geschichte Strukturen
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erkennbar machen, in denen der Mensch als Handelnder kenntlich bleibt. Wo immer das Handeln sichtbar wird, kann dies nicht ausschließlich durch Kategorisierung, sondern weit besser durch Beschreibung - in seiner Ambivalenz - deutbar werden. „Nicht das Entweder-Oder normativer Sätze, sondern Mehrdeutigkeiten und Mehrschichtigkeiten bestimmen die Praxis des Durchkommens. Insofern wird das Ausmaß, in dem die Beherrschten selbst ihr Beherrschtsein produzieren, zu einer besonders drängenden Frage", schreibt Alf Lüdtke 1994 in seinem bemerkenswerten Aufsatz: „Stofflichkeit, Mode-Lust und Reiz der Oberflächen in den Perspektiven von Alltagsgeschichte".37
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THEMEN
Die historische Anthropologie kennt keinen speziell von ihr erarbeiteten bzw. favorisierten Themenkanon, sie definiert sich vielmehr vorrangig durch ein methodisches Konzept, durch Fragestellungen nach dem Bedeutungsinhalt bestimmter Phänomene, Ereignisse, Strukturen und Prozesse. Dennoch existieren Schweipunktthemen, die sich im Laufe der Auseinandersetzung mit der Sozialgeschichte und der Ethnologie herausgebildet haben und denen sich die historisch-anthropologische Forschung in besonderer Weise zuwandte. Daß dabei Themen zur Frühen Neuzeit vorrangig behandelt werden, und zwar nicht nur in der deutschen, sondern auch in der angloamerikanischen und französischen Geschichtsschreibung, hat vor allem zwei Gründe. Einmal ist die Quellendichte so beschaffen, daß ein Forscher seinen Bestand ganz aufarbeiten kann, ohne die „Ubersicht" zu verlieren, was für die Neuere Geschichte mit ihrem großen Quellenbestand nicht immer möglich ist. Zum anderen erweist sich die Frühe Neuzeit als eine besonders aufschlußreiche Epoche, weil traditionelle und moderne Entwicklungen miteinander so verschränkt sind, daß Eindeutigkeit kaum erzielt werden kann. Nach einer langen Phase des Vortastens und des Experimentierens, die sich vor allem in einer Vielzahl von methodisch orientierten Aufsätzen niederschlug, begann eine Zeit, in der nun auch große Untersuchungen vorgelegt wurden, die die „Leistungsfähigkeit" der historischen Anthropologie unter Beweis stellen könnten.1 Aufgrund der unterschiedlichen Themen differieren die Ergebnisse und Methoden allerdings so, daß Verallgemeinerungen kaum möglich sind. Eine historische Anthropologie entstand als Fach oder „Disziplin" nicht durch eine Anhäufung neuer Forschungsergebnisse im Stil -55 -
der klassischen Sozialgeschichte. Gegen eine Kanonisierung anthropologischen Wissens sperrt sich sowieso ihr bereits angedeutetes Wissenschaftsverständnis. Das derzeitige Themenspektrum ist vielfältig; auf neun Themenfelder möchte ich mich hier konzentrieren, die sich im Laufe der Zeit als Forschungsschwerpunkte herausgebildet haben und an denen das, was historische Anthropologie leisten kann, sichtbar wird, so sehr die Diskussionen allesamt noch im Gange sind. 1. Magie - Hexerei Eines der ältesten Themen historisch-anthropologischer Forschung kreist um Magie und Hexerei, ein Thema, das allerdings auch die ältere Geschichtsschreibung lange beschäftigt hat. Ihre Geschichte ist höchst komplex und mit zentralen geschichtsmethodischen Problemen verknüpft. 2 Der Wandel der Perspektive korrespondiert mit einer breiten Aufarbeitung der Quellen, die ungewöhnlich gut überliefert sind und mittlerweile auch zur Interpretation von Problemen und Phänomenen herangezogen werden, die mit den Hexenprozessen selbst nicht mehr unmittelbar verbunden sind. Wenngleich mittlerweile kaum noch ein Uberblick über die Hexenliteratur gewonnen werden kann, sind wir von einer abschließenden Analyse und Bewertung noch weit entfernt. Vordringlichste Aufgabe war einmal, die zahlreichen regionalen Bestände aufzuarbeiten, die Details der Hexenprozesse zu rekonstruieren und die verschiedenen Formen der Hexenverfolgung und des Hexenglaubens kennenzulernen. Denn rasch kam man zur Erkenntnis, daß die frühere Hexenliteratur nur ein beschränktes und einseitiges Bild vermittelte, das der komplexen Wirklichkeit kaum gerecht wurde. So ist heute keiner mehr der Ansicht, daß die Hexenverfolgung ein ausschließliches Produkt kirchlicher oder staatlicher Aktivitäten im Zusammenhang absolutisti-56-
Hexengebräu",
1582
scher und konfessioneller Herrschaftsbildung war, also allein „von oben" ausgelöst wurde. D e r Initiative „von o b e n " korrespondiert eine beträchtliche Diskriminierung „von unten", durch das „einfache" Volk. 3 A u c h war es ein Fehlschluß, von einem einheitlichen Hexenglauben auszugehen, der sukzessive von der kirchlichen dämonologischen Interpretation überformt wur-de und nach und nach die der H e xerei verdächtigten Personen in den T o d führte, statt die realen Muster zu analysieren, die in den verschiedensten Regionen unterschiedlichste Wirkungen ausübten. zuletzt stellte man sich ein einheitliches
Nicht
inquisitorisches
Verfolgungsmuster vor, das nach und nach alle Frauen erfaßte und fast epidemisch über eine Million nicht nur diskriminierte, sondern liquidierte. Jeder neue Quellenfund diente zur Vervollständigung eines einheitlich strukturierten „Hexenwahns", der durch die katholische Kirche des Mittelalters erzeugt wurde und erst mit der Aufklärung zu
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Ende ging. Die Frage nach der Hexenjagd von oben mit verschiedenen Ausformungen und Varianten hat lange vergessen lassen, daß die Denunziation, Anklage und Verurteilung von konkreten Menschen aus bestimmten Interessen erfolgte. Wie der Richter nicht nur als Vollstrecker einer vorgefaßten Uberzeugung auftrat, kann auch der oder die Angeklagte nicht nur als Opfer betrachtet werden. 4 In dem Maße, wie die Hexenforschung vor allem in den letzten Jahren ihre Materialbasis beträchtlich erweitert hat und neue Fragestellungen entwickelt wurden, die die Handlungsräume aller Akteure eines Prozesses ausloteten, hat sich eine Perspektivenverschiebung ergeben, die eine neue Bewertung zuläßt, ohne daß diese Entwicklung bereits abgeschlossen ist. Der Hexenwahn und die Hexenverfolgung entziehen sich somit jeder einfachen Interpretation: Es gab im frühneuzeitlichen Europa unter vergleichbaren Bedingungen keine gleichmäßige, alle Länder und Regionen gleicherweise erfassende Hexenverfolgung. Es existierten Territorien, die keine oder keine nennenswerte Hexenverfolgung kannten, ebenso wenig wurden jedoch alle Landstriche oder Dörfer zur selben Zeit bedroht. Man muß also beträchtlich differenzieren und sich auf die regionalen Besonderheiten konzentrieren. Auch war die kirchliche Obrigkeit keineswegs einhellig für die Hexenverfolgung, es gab regelrechte Hexenjäger auf der Kanzel ebenso wie hartnäckige Gegner, die ihren Einfluß durchaus geltend zu machen verstanden. Dasselbe galt für das weltliche Gericht, in dessen Händen das Prozeßverfahren lag. Jedenfalls wurde nicht jeder, der der Hexerei bezichtigt war, auch strafrechtlich verfolgt bzw. mit dem Tode bedroht. Schließlich muß man bei den Opfern differenzieren. Sicherlich gab es Personen, die als vermeintliche Teilnehmer eines Hexensabbats verurteilt wurden, aber viele galten einfach in der Dorfgesellschaft als böse und liefen deshalb Gefahr, wegen ihres außergewöhnlichen Ver-
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haltens abgestraft zu werden. Insgesamt waren die Interessen der Kirche, der Obrigkeit oder des gemeinen Volkes höchst unterschiedlich. Die jeweilige Interessenkoalition ist nur im regionalen Kontext exakt eruierbar, denn nicht jede Verdächtigung führte zum Todesurteil. Immer dort, wo einfache Interpretationsmuster nicht greifen, beginnt ein historisch-anthropologischer Versuch. Er bringt oft keine eindeutigen Antworten, vermittelt aber Verständnis und Plausibilitäten, warum es so war, wie es war. Wenn man bedenkt, daß kaum ein Fall dem anderen gleicht, dann gibt es auch Grenzen der Erklärung. Besonders deutlich wird dies bei drei Problemstellungen, die die neuere Hexenforschung bewegen: Sicherlich sind Männer und Kinder der Hexerei verdächtigt und zum Tode verurteilt worden, vor allem aber waren es überall Frauen, die Opfer der Hexenverfolgung wurden. Dies aus dem kirchlichen Antifeminismus abzuleiten oder der beherrschenden Männerwelt anzulasten, ist zu kurz gegriffen. Wenn man bedenkt, welche Rolle Frauen in der vormodernen Gesellschaft einnahmen, dann erscheint ihre Verurteilung absurd. Es waren andere Gründe, die die Frauen besonders gefährdet erscheinen lassen, die allesamt mit ihrer Lebenswelt verknüpft sind. Frauen waren in besonderer Weise für das Überleben verantwortlich, das in einer Knappheitsgesellschaft stets ungesichert und von der Natur abhängig war. Natürlich mußte und konnte eine Denunziation nur erfolgen, wenn der verursachte Schaden durch Hexerei plausibel erklärbar war.5 Ein zweites Problemfeld schließt sich hier an, die Frage nach dem Verhältnis von Magie und Hexerei. Einerseits weiß man, daß der Glaube an schadenstiftende Hexen eng mit den magischen Vorstellungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft verknüpft war, die positive wie negative Kräfte kannten. Eine in Magie erfahrene Frau wurde aber nicht automatisch in Verbindung mit Hexerei gebracht. Anderer-
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seits zeigt sich der Vorwurf der Hexerei als ein ideales Verdächtigungsmittel, unliebsame Personen zu diskreditieren bzw. sogar abzustrafen, unabhängig davon, ob man vom Hexenglauben auch in seiner dämonologischen Ausformung überzeugt war. Die allgemeine Skepsis gegenüber dem Hexensabbat, so sehr er die Phantasie anregte, ist beachtlich. Viele Hexereivorwürfe wurden deswegen auch nicht weiter verfolgt, selbst wenn „Beweise" vorlagen.' Ein drittes Interesse konzentriert sich auf den Prozeß der Hexereiverdächtigung in der dörflichen bzw. städtischen Kommune gegenüber integrierten Frauen. Die Erforschung der Biographien dieser Frauen legt offen, daß es zumeist Frauen mit schlechtem Leumund waren, die verdächtigt wurden, von denen man in „schlechten" Zeiten Übles erwartete und sich somit durch ihre Opferung die Heilung der Gesellschaft versprach. Eine besondere Rolle spielten dabei die Zeugen (oder Ankläger), unter denen die Frauen den Männern zahlenmäßig nicht nachstanden. Berücksichtigt werden muß auch die Art und Weise der Bedrohung, der sich ein Dorf derzeit ausgesetzt sah. Bekannt ist, daß mit dem Anstieg der Hexenverfolgung eine Verselbständigung der Prozesse einsetzte, weswegen das Interesse vor allem den Anfängen gilt. Aus welchen Gründen heraus eine Frau oder ein Mann denunziert wurde, was man ihr oder ihm vorwarf, ist wichtig, um eine Problemgeschichte der dörflichen Gesellschaft zu rekonstruieren. Ökonomische, soziale wie auch politische Konflikte lassen sich dabei oft schwer unterscheiden. 7 Die Verfolgung wie die Prozesse konnten für die betroffene Region ganz verschiedene Bedeutung haben. Dies wird besonders deutlich, wenn wir auch die Hexenverfolgung in außereuropäischen Ländern heranziehen, wo es sie gleicherweise gab. Unabhängig davon, daß sich der hohe Anteil, den Deutschland bei den Hexenprozessen zu verzeichnen hat, nur schwer erklären läßt, muß doch auch problemati-
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siert werden, ob es sich hier und in anderen Ländern wirklich um ein vergleichbares Phänomen handelt; nur durch diesen Vergleich kann die europäische Hexenverfolgung besser verstanden werden. Entsprechend differenzierende Studien, die auch den sozialen Kontext beachten, gibt es aber bisher kaum.
2. Protest - Gewalt Einen breiten und wichtigen Raum nimmt in der Sozialgeschichte die Protest- und Gewaltforschung ein, ein innovatorisches Interesse, das sich bald und konsequent historischanthropologischen Frage- und Problemstellungen öffnete und ihnen eine besondere Prägung verlieh. Ausgangspunkt bildeten die Untersuchungen der frühneuzeitlichen Bauernrevolten vom Bauernkrieg bis zu den Hungerrevolten des frühen 19. Jahrhunderts. Standen zunächst Fragen nach den sozialpolitischen Zielen des gemeinen Mannes in der entstehenden modernen Gesellschaft sowie die sozioökonomische Ursache der Aufstandsbewegungen im Vordergrund der Forschung, spürte man dann erstmals eigenständige Traditionen der bäuerlichen Lebenswelt auf, die nicht durch den Territorial- bzw. absolutistischen Staat „gleichgeschaltet" worden waren, sondern einen eigenständigen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung geleistet hatten. Die Forschungen von P. Blickle, W. Schulze und anderen setzten deutliche und neue Akzente. 8 In dem Maße, wie das Interesse am Nachweis des politischen Ausdruckswillens und revolutionären Potentials nachließ, die „abstrakten" Programme mehr im Kontext sozialen Handelns gelesen wurden, erschlossen sich Handlungsräume des einfachen Volkes von besonderem Eigensinn, wodurch Wege zur Erschließung der „ganzen" Volkskultur eröffnet wurden. Bisher wenig beachtete Themen wurden aufgearbeitet und die Rolle vor allem sozialer und religiöser Tradition neu bewertet.
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H. U. Franck, Bauernrache an einem Marodeur, um 1643/56
Jedenfalls führte ein unmittelbarer Weg von diesen Untersuchungen der sozialpolitischen Konflikte zur Analyse der bäuerlichen bzw. populären Kultur, die nicht mehr vom alten Bild einer statisch-harmonischen Volkskultur geprägt war, sondern ihre Dynamik und Konflikthaftigkeit ins Auge faßte. Die Untersuchungen von Edward P. Thompson und Natalie Z. Davis entdeckten populäre Verhaltensweisen, die die Bauern und Handwerker nicht mehr nur als Opfer und als Untertanen einer Grundherrschaft auswiesen, sondern als eigenständige Kräfte im herrschaftlichen Prozeß und ökonomischen Wandel. Aus dieser Protest- und Konfliktforschung hat die Volkskulturforschung entscheidende Impulse erfahren. 9 Eng verbunden mit der Erforschung von Konflikten und Protesten in der Agrargesellschaft nicht nur der Frühen Neuzeit war die der gewalttätigen Auseinandersetzungen der Bauern und Handwerker, der Anwendung von physischer Gewalt bei der Durchsetzung sozialer Interessen. Das Phänomen exzessiver Gewalt untereinander und zwischen den Beherrschten und den Herrschern ist zwar in der Forschung stets beachtet worden: Wenn die Obrigkeit und die Herrschaften Gewalt gegen ihre Untertanen anwandten, galt dies aber lange als selbstverständlicher obrigkeitlicher Rechtsakt. Sobald jedoch der „gemeine Mann" sich gewalttätig gegen seine Obrigkeit zeigte, verstand man dies als Ausdruck ei-
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ner ungehorsamen, gottlosen und wilden Gesinnung, die nicht zu rechtfertigen war. Zwar ging man auf die unterschiedlichen Gründe ein, aber die Intensität und Form der Gewalt interessierte wenig. Heute hat sich die Akzentuierung grundlegend geändert, die Legitimierung von Gewalt wird immer noch untersucht, allerdings zusehends aus dem Handlungskontext der Unterdrückten. Formen der gewaltsame Auseinandersetzung selbst treten stärker in den Vordergrund der Forschung. In der „rohen" Gewalt des einfachen Volkes erkannte man ein durchaus konsequentes, jedenfalls nicht willkürliches Handeln, das von bestimmten Ritualen und Regeln kontrolliert wurde und der Wiederherstellung der Lebensumstände diente.' 0 Wie das einfache Volk sich gewaltsam gegen herrschaftliche
„Ubergriffe"
wehrte, darüber wissen wir im Detail noch wenig. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit ist sicherlich ein besonderes Kennzeichen dörflichen und auch städtischen Strebens nach „autonomem" Handeln auf der Basis einer weitreichenden Solidarität. Aber eine zweite Beobachtung schließt sich an. Konflikte und Probleme gab es aber auch in anderen Bereichen, die subjektiv für Bauern, Lohnarbeiter und Handwerker von größter Bedeutung waren. Gewaltsamkeit äußerte sich nämlich noch stärker in den Gemeinden selbst." In dem Maße, wie das politische Handeln nicht mehr im Vordergrund stand, weitete sich der Blick auf die volle Breite der Gewalt in der bäuerlichen Gesellschaft. Es ist das besondere Verdienst der Kriminalitätsgeschichte, daß sie eine Unmenge von Gewalttaten innerhalb eines Dorfes oder einer Stadt aufdeckten, die die Vorstellung einer friedlichen Gemeinde erschüttern konnte, welche, wie man annahm, durch die Herrschaft von Adel oder Kirche drangsaliert wurde. 11 Bekannt sind mittlerweile die vielen blutigen Raufhändel, die zahlreichen Streitigkeiten in den Hausgemeinschaften und der gewalttätige Umgang mit marginalisierten
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Gruppen. 13 Es gab also nicht nur Konflikte um Herrschaft und eigenes Recht, sondern ebenso um Eigentum, Nahrung und Ehre. Man kann durchaus von einer alltäglichen Gewaltbereitschaft sprechen, die in unseren Augen die Gesellschaft prägte. Durch die isolierten Untersuchungen der Herrschaftsverhältnisse, des dörflichen Zusammenlebens, der Eigentumsverhältnisse und der Auseinandersetzung mit Fremden wurden bestimmte Formen und Auseinandersetzungen kaum wahrgenommen, was sich in dem Maße änderte, als konsequent die ganze Breite der Konflikte analysiert wurde. Zwar wird eine allgemeine Agressionstheorie abgelehnt - die Menschen seien immer gewalttätig - , aber auch die These von der Abnahme von Gewalt durch die Festigung des absolutistisch-obrigkeitlichen Gewaltmonopols greift hier nur begrenzt. In der Tat kann man zwar von einer Verrechtlichung von Gewaltprotesten sprechen, denn die gewaltsamen Bauernrevolten nehmen im 17. und 18. Jahrhundert ebenso ab wie die Vielzahl von Raufhändeln. O b aber insgesamt im Sinne der Zivilisationstheorie von Norbert Elias von einem grundlegenden Wandel von einer rohen, gewalttätigen Gesellschaft des Mittelalters zu einem friedlichen gesellschaftlichen Zusammenleben der Moderne gesprochen werden kann, bleibt fraglich, so bestechend diese These auch ist.14 Denn es gab im Mittelalter ebenso friedliche Konfliktregelungen wie brutale Gewalt in der Moderne. Wo immer hier Widersprüche auftreten, sprechen wir problematischerweise - von einem Zivilisationsbruch. Während wir über die Gewalt in Protestbewegungen bisher gut informiert sind, kennen wir das Ausmaß alltäglicher Gewalt nur schemenhaft. Dasselbe gilt für einen dritten Komplex: für die Gewalt in Kriegen. Zwar wissen wir viel über die Kriege vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Zweiten Weltkrieg als politischen Machtkriegen, selbst über die Zahl der Toten und das Ausmaß der Zerstörung. Aber wir wissen wenig über die Me-
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chanisierung, die eine immer größere Zahl von tötenden Soldaten aktivierbar machten, die nicht nur den Gegner liquidierten, sondern ganze Zivilisationen auslöschten. 15 Sie sind nicht einfach mit dem Aufkommen des Nationalismus und der Verfügung über immer modernere Waffen erklärbar. Was Krieg, Tod und Gewalt für den Einzelnen bedeuteten, darauf konzentriert sich erst die neuere Forschung. Auch die Thesen von männlichen Gewaltritualen, von der Furcht vor Überfremdung und vom niedrigen Bildungsstand der Aggressoren sind hier wenig hilfreich, um die Eskalation der Gewalt in einem modernen Land nachvollziehbar zu machen. Die intensive Auswertung von Selbstzeugnissen im Zusammenhang einer Rekonstruktion von Wahrnehmung und Handlungsräumen der einzelnen Menschen und von Gruppen eröffnet neue Wege, den sogenannten „Zivilisationsbruch" aufzuschlüsseln. Erst eine Konzentration auf die „Innenseite" des Kriegs und die Durchführung von mikrohistorischen Studien erlauben neue Einsichten ins Töten und Sterben fürs Vaterland.
3. Körper - Sexualität Ein zentrales Thema historisch-anthropologischer Forschung ist die Geschichte des Körpers und der Sexualität, die in jüngster Zeit heftige Diskussionen in der Geschichtswissenschaft ausgelöst hat." Sicherlich gab es auch schon früher eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Körper. Erinnert sei hier an die Erforschung von Moden und Sitten, an die Medizingeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Hygiene, dann auch an die vielen Tanz-, Kleider- und Sportgeschichten. Aber hinter all diesen Interessen stand mehr das Forschungsinteresse an den Institutionen, Ideen und materiellen Sachgütern, die den Körper betreffen, als am Körper selbst. Dies korrespondiert mit der ,Körperferne' der alten Kulturgeschichte wie auch der mo-
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dernen Sozialgeschichte, die nur selten ,hautnahe' Probleme thematisierte, ja sie allzu oft ausblendete, weil Freude und Leid keine anerkannten Themen der Geschichtsforschung werden konnten. In den 30er Jahren, dann verstärkt aber seit den 70er Jahren öffnete sich mit den ersten Beschreibungen und Analysen der europäischen Zivilisation ein unmittelbarer Blick auf den konkreten historischen Körper. Körperliches Verhalten wurde nicht nur als Ausdruck einer bestimmten Zivilisation aufgeschlüsselt, sondern auch als durch eine bestimmte Zivilisation geprägt erkannt. Sicherlich spielten die neue, sich von puritanischen Leitbildern befreiende Einstellung zum Körper, die öffentliche Entdeckung und Aufwertung der Körperlichkeit seit Ende der 60er Jahre eine erhebliche Rolle bei dem sich konstant ausweitenden Interesse am menschlichen Körper, das insofern die Geschichtswissenschaft besonders tangierte, als es ihr mit dem Körper ihre materielle Basis wiedergab. Aber erst die Öffnung der historischen Forschung für Probleme der Unterdrückung und Überwachung in der modernen Gesellschaft entdeckte den Körper als neuen Forschungsgegenstand. Dabei wirkten verschiedene Sachinteressen zusammen. Norbert Elias 17 und Michel Foucaults Körper-Geschichten18 wurden, so kritisch man sie auch betrachtete, Leitbilder einer neuen historischen Bewertung der Moderne, soweit sie in der Unterdrückung und Sublimierung von Sinnlichkeit, Sexualität und Körperlichkeit einen Grundzug des Prozesses der Moderne erkannten. Durch sie erhielten alltägliche Phänomene wie das Essen und Wohnen, Strafen und Sexualität eine zivilisationsgeschichtliche Dimension, von der langfristig nicht nur die Alltagsgeschichte profitierte, sondern besonders auch die Frauengeschichte. Ebenso bedeutsam für die Entdeckung des menschlichen Körpers wurde die historische Demographie mit ihrer Konzentration auf den Wandel des generativen Verhaltens. Im
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Hendrick ter Brugghen, Lautenspieler und Mädchen mit Glas, um 1624/26
Unterschied zur Zivilisationsgeschichte war die historische Demographie der quantifizierenden Methode verpflichtet. Durch sie wurden nicht nur Haushalte und Familien Gegenstand der Geschichtswissenschaft, sondern vor allem Alter, Geschlecht, Geburt, Sexualität, Krankheit und Tod. Eine große Menge von Daten und Informationen stehen hier mittlerweile zur Verfügung." Wenngleich die Zivilisationsgeschichten von Elias und Foucault durch ihre finalistische Perspektive in ihrem Aussagewert heute als begrenzt betrachtet werden müssen, ebenso die historische Demographie in der Anhäufung von Einzeldaten steckenblieb, wurden durch diese Forschungsrichtungen dennoch entscheidende Weichen zur Neubewertung des menschlichen Körpers in der Geschichte gestellt. So spärlich die Quellen auch sind, und so schwierig es ist, Unzuchtsakten für die Bewertung alltäglicher Zustände heranzuziehen, so stieg doch das Interesse an einer Analyse körperlicher Tätigkeiten, am Wandel der Körperwahrnehmung sowie der körperlichen Ausdrucksformen konstant an. Die zahlreichen neuen Studien zur Geschichte der körperlichen Tätigkeiten wie Trinken, Gehen, Schlafen und -67-
Waschen20, zur Geschichte der Wahrnehmung des Körpers wie Schmerz, Angst und Hunger 21 , zur Geschichte körperlicher Ausdrucksformen wie Grüßen und Drohen, zur Geschichte der körperlichen Selbstdarstellung in Kleidung, Sprache oder Wohnung, zeigen die Bedeutung der Körpergeschichte.22 An hervorragender Stelle stehen Untersuchungen zur vorehelichen Sexualität von Stefan Breit (1991)23, zur Prostitution von Sabine Kienitz (1995)24 und Beate Schuster (1995)25, zur Ehescheidung von Rainer Beck (1992)26 und vor allem zu Schwangerschaft und Geburt von Eva Labouvie (1998)27. An die Stelle einer bisherigen ideen- und institutionsgeschichtlichen Sichtweise tritt zusehends eine historisch-anthropologische Interpretation des konkreten Körpers mit seinen Bedürfnissen und Zwängen, seiner Lust und seinen Leiden sowie ihrer Wahrnehmung im soziokulturellen Lebenskontext. 4. Religion - F r ö m m i g k e i t Religion und Frömmigkeit sind keine neuen Themen der Geschichtswissenschaft. Die klassische Kirchengeschichte hat sich schon seit längerem Problemen der Volksfrömmigkeit auch außerhalb kirchlicher Normen und der liturgischen Praxis gestellt. Wichtige Analysen verdanken wir der Religionssoziologie und -ethnologie vor allem im Zusammenhang einer Beschreibung von Ritualen und Symbolen und ihrer Funktion für die Gesellschaft der Moderne. Die Forschungen sind breit angelegt, und der Ubergang zu einer Anthropologie der Frömmigkeit ist offen. Gleichwohl sind religiöse Institutionen und religionsimmanente Prozesse stärker untersucht worden als die religiöse Praxis von konkreten Menschen unterschiedlicher sozialer Positionen und in unterschiedlichen sozialen Kontexten des Familien- und Dorflebens wie der Arbeitswelt und der kirchlichen Sozialisation.28 Auch die alten Grenzen zwischen sakralen und
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Pascal Dagnan-Bouvere, Das gesegnete Brot, 1885
weltlichen Räumen sind als
flexibel
aufgehoben worden
bzw. müssen stets neu bestimmt werden. Was im 16. Jahrhundert als sakral galt, unterscheidet sich wesentlich vom Phänomen des Sakralen im 19. Jahrhundert. Religion und Frömmigkeit sind nicht nur „Gegenstände" kirchlicher und weltlicher Institutionen, die deren öffentliche Funktion bestimmen, sondern vor allem Medien, in denen sich die M e n schen verständigen und mit deren Hilfe sie ihrem Leben einen Sinn geben und es zu gestalten versuchen. Es ist ein Unterschied, religiös-kirchliche Aktivitäten der offiziellen Kirchen zu beschreiben oder sie aus der Perspektive der an ihnen aktiv teilnehmenden Menschen zu analysieren, d.h. nach ihrer Bedeutung für die Menschen zu fragen. 29 Auch wenn
mit
der Moderne
die normative
Kraft
religiös-
kirchlicher Institutionen beträchtlich nachläßt, ist das gesellschaftliche Leben immer noch von religiösen Symbolen und Zeichen besetzt, deren Bedeutung im säkularen K o n text bisher kaum aufgeschlüsselt wurde.
Säkularisierung
heißt somit noch lange nicht religiöse Sinnentleerung des alltäglichen Lebens, wohl aber Wandel des bislang Sinnhaften.
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Die aktuellen Forschungsinteressen konzentrieren sich heute weniger auf die „Randbereiche" des Separatismus und der Magie, sondern eher auf die „gewöhnlichen" alltäglichen religiösen Vorstellungen und Praktiken, die jedoch weit schwieriger zu rekonstruieren sind, als alles, was der kirchlichen Kontrolle nicht entging und zum kirchlichtheologischen Selbstverständnis zählte. Die Archive sind voll von Akten über religiöse Dissidenten und abweichlerische Praktiken, doch selbstverständlich gibt es keine Aufzeichnung über die „normale" religiöse Praxis. Drei Komplexe stehen heute im Vordergrund historischanthropologischer Forschung: Einmal die Hl. Messe bzw. der Gottesdienst, die Taufe, das Gebet, die Beichte und der Kirchgang, also alltägliche Praktiken, die das religiöse Leben konstituierten. Uber die Liturgie der Messe und des Gottesdienstes und über die Lehrmeinungen des Abendmahls im Wandel der Zeiten wissen wir relativ viel, sowohl im katholischen wie im protestantischen Raum. O b allerdings die vielen Ordnungen, die erlassen wurden, stets die Wirklichkeit wiedergeben, darüber sind wir nur unzureichend informiert; ebensowenig ist die Bedeutung der Predigt und der Messe für die Gläubigen untersucht, ist offen, wer überhaupt am Kirchgang teilnahm oder was sich im Prozeß der Moderne im kirchlich-religiösen Leben änderte. Einerseits klagten die Pfarrer stets über mangelndes religiöses Leben, den zögerlichen Besuch des Gottesdienstes, andererseits konnten sie ihren vielen Seelsorgeverpflichtungen nicht gerecht werden.30 Als ein besonderes Zeichen religiösen Bewußtseins gilt traditionell das Gebet, viele Gebetbücher sind erhalten, viele Katechismusanweisungen überliefert. Wie und wann aber welches Gebet gesprochen wurde, wissen wir ebensowenig wie wir darüber unterrichtet sind, ob es überhaupt verstanden wurde. Mit einer Analyse der Gebete wie der vielen erhaltenen Lieder hat man allzu rasch auf populäre Frömmigkeitsinhalte schließen wollen.31 Eine weit-
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gehend religiöse Durchformung des Alltags und der regelmäßige Kirchgang sind sicherlich spätere Phänomene, wahrscheinlich erst Produkte der „Restauration" und der Volksmission im 19. Jahrhundert. Wenn die genannten religiösen Praktiken ein Zeichen religiösen Glaubens sind, dann war sicherlich das 16. Jahrhundert weniger „fromm", obwohl die Reformation alle Menschen tangierte und religiöse Themen gesellschaftliche Probleme aufgegriffen. Besonderes Interesse gilt auch der Beichte als Instrument der Verinnerlichung christlichen Glaubens wie als Mittel sozialmoralischer Kontrolle.32 Sicherlich wurde sie als solche von der Kirche gefördert. Wie die Beichte konkret ablaufen sollte und welchen Stellenwert ihr die Lehre der protestantischen wie katholischen Kirche zuwies, wissen wir zur Genüge. Was jedoch die Menschen beichteten, was sie von der Beichte erwarteten und vor allem, ob durch sie eine „Versittlichung" der Gesellschaft im Sinne der Sozialdisziplinierung erfolgte, darüber können wir bisher nur spekulieren. Daher wäre es wichtig zu wissen, wie weit die Kirchen die Herzen der Menschen erfaßten: davon hängt die These der Verchristlichung der Gesellschaft ab, die dann angeblich so stark von der Aufklärung säkularisiert wurde. Die Aneignung kirchlicher Angebote vollzog sich selten im Sinne der offiziellen „Theologie": Man ging auch aus „nicht religiösen" Gründen in die Kirche. Allein aus der Tatsache, daß alle getauft und christlich beerdigt wurden, in Notfällen beteten und in die Kirche gingen, läßt sich nicht messen, wie „christlich" die Gesellschaft sich verhielt. Das religiöse Leben nicht mehr am Stand der Zahl religiöser Publikationen und religiös konnotierter Testamente und der Zahl abgehaltener Gottesdienste zu messen, stellt sich als Aufgabe der historischen Anthropologie beim Thema Frömmigkeit in besonderem Maße. Einen zweiten Komplex der Forschung stellt die soziale und konfessionelle Differenzierung dar. Von einer gleich strukturierten Volksfrömmigkeit, die Herren und Knechte, -71 -
Katholiken wie Protestanten, Männer wie Frauen erfaßte, geht niemand mehr aus. Wir sind gewohnt, die religiöse Elitekultur von der Volksfrömmigkeit scharf zu trennen. Während die populäre Form sich als magisch geprägt zeigt, weist die Elitefrömmigkeit rationale Diskurse und vergeistigte Interpretationen auf. Sicherlich gibt es erhebliche Differenzen aufgrund der unterschiedlichen Lebenswelten. Die Bedrohung durch ein Unwetter traf den Bauern beispielsweise mehr als den Handwerker oder Kaufmann, in der Wallfahrtspraxis und im Heiligenkult unterschieden sie sich jedoch kaum. Lange betonte man den Unterschied zwischen katholisch und protestantisch geprägter Volksfrömmigkeit, die Ableitung der Praxis von der „Theologie" legte dies nahe. Aufgrund dieser Tatsache hätten die soziokulturellen Entwicklungen protestantischer und katholischer Regionen höchst unterschiedlich verlaufen müssen, was aber nur in Teilbereichen der Fall war. Nähere Untersuchungen machen einmal offenkundig, daß die Trennung der religiösen Kultur erst weit nach der Reformation stattfand bzw. sich herausbildete, zum anderen modernisierende Elemente ebenso im Katholizismus nachzuweisen sind wie im Protestantismus." Der Mythos von der protestantischen Ethik hat den Blick vereinfacht, heute beginnt man neben den Unterschieden aber auch wieder stärker Gemeinsamkeiten zu sehen. Bislang hatte man allgemein von „der" Volksfrömmigkeit gesprochen, ohne zu fragen, ob sie gleicherweise von Männern und Frauen getragen wurde. Noch besteht aber das Vorurteil, daß Frauen eher als kirchenfromm galten als die Männer. Beide Konfessionen waren in der Tat wesentlich von Männern, Pfarrern und Theologen, bestimmt, und die meisten dieser Männer waren der Uberzeugung, daß Frauen im kirchlich-religiösen Bereich zu schweigen hätten. Dennoch hatten die Frauen andere religiöse Leitbilder als die Männer. Zwar partizipierten beide gleicherweise an den religiösen Angeboten der Kirche, aber
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die Unterschiede sind doch bemerkenswert. Neuere Untersuchungen belegen eigenständige religiöse Formen im Umkreis der Geburt wie im Heiligenkult. 34 Es sind die besonderen Lebenslagen von Frauen, die eigene religiöse Bedürfnisse erzeugten. Die spezifische Frömmigkeit der einfachen Leute wie der Eliten kann also nur im jeweiligen sozialen Kontext erfaßt werden. Der dritte Themenkomplex kreist schließlich um die Frage der Säkularisierung, Entkirchlichung und des Fundamentalismus.35 Wegen der permanenten Zunahme „weltlicher" Begründungen von Lebenszusammenhängen nahm man einen konstanten Säkularisierungsprozeß an, der mit der Reformation einsetzte, durch die Aufklärung einen zweiten und durch die Industrialisierung einen dritten Schub erfuhr. Neuere Untersuchungen weisen aber einmal darauf hin, daß der allgemeine Prozeß sehr viel komplexer verlief als man annahm, daß durchaus Impulse durchaus von der Kirche selbst kamen und auch neue religiöse Bewegungen entstanden, die gesamtstaatlich erst relevant waren, als die Industrialisierung schon die Gesellschaft neu strukturierte. Zum anderen ist die „objektive" Ebene von der „subjektiven" in der Weise zu trennen, daß die Menschen die Säkularisierung unterschiedlich erfuhren. Ländliche Regionen differierten wesentlich von den neuen Industrieregionen und städtischen Ballungszentren, wobei letztere nicht per se ,unkirchlich' waren. Es entstand eine ausgeprägte religiöse Kultur der Arbeiter und Bürger, die zwischen ihrem Glaubensbewußtsein und der modernen Arbeitswelt keinen Widerspruch sahen. Lange hat man im Säkularisierungsprozeß wesentlich einen Prozeß der Entkirchlichung gesehen. Beide sind zwar miteinander verknüpft, aber letztlich voneinander unabhängig. Die Entkirchlichung der Gesellschaft war einerseits durchaus verbunden mit der politischen Entmachtung der Kirchen bzw. der Trennung von Staat und Kirche, aber doch -73 -
kein automatisches Ergebnis der Ausbildung des Nationalstaates und der Industrialisierung, wie gerade die Selbstzeugnisse unterer Schichten dokumentieren. Die Selbstwahrnehmung unterscheidet sich also oft von der offiziellen Doktrin. 3 ' Der Alltag gerade der aufstrebenden neuen sozialen Gruppen war von religiösen Ritualen bestimmt, ohne die auch der Wandel der Mentalitäten und Strukturen kaum verarbeitbar gewesen wäre. Die moderne Welt hat ebenso viele Wurzeln in der Religion wie in aufklärerischem Gedankengut. Der Fundamentalismus schließlich gilt als besonderes Produkt, ja Herausforderung der Modernisierung: Er wird zwar heute wesentlich mit dem gegenwärtigen Islam verbunden, er schlägt sich aber ebenso im konfessionellen Christentum nieder. Im Zusammenhang der Verunsicherung durch die staatliche, gesellschaftliche und kulturelle Moderne kam es gerade in „unterentwickelten" Regionen, Ländern und Gruppen zur Ausbildung einer resistenten traditionalen Kultur, die mit religiösen Leitbildern und einer radikalen Ausschließlichkeit zahlreiche Menschen in den Bann zieht. Zu bedenken gilt außerdem, daß auch die christliche Kulturentwicklung stets von fundamentalistischen Unterströmungen begleitet war, die intolerant gegenüber anderen Gruppen waren, die eine Gesellschaft „reinigen" wollten. Daß religiöse Toleranz als subjektive Lebensweise gerade das außer Kraft setzte, was die Religion als Weltinterpretation für sich beanspruchte, ist bekannt. Religiöse Praxis in einer als multikulturell begriffenen Gesellschaft ist und muß notwendig anders begründet sein als in einem christlichen Staat. Wenn jedoch religiöse Sinngehalte den Menschen unfähig machen, sich modernen Entwicklungen anzupassen und neue Lebensordnungen zu konstruieren, verliert „Religion" ihre sinnstiftende und die Gesellschaft stabilisierende Funktion.
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5. Haus und Familie Mit der neuen Sozialgeschichte hatte zwar auch die Geschichte des Haushalts und der Familie Aufmerksamkeit erlangt, nur blieb das Interesse in Deutschland merkwürdigerweise geringer als in Frankreich und England.37 Die Familiengeschichte lebte vom Aufschwung der historischen Demographie und Mentalitätsgeschichte, dementsprechend konzentrierte sich die Forschung auf das generative Verhalten in seinen Durchschnittswerten. Es wurden alle materiellen Daten aus Kirchenbüchern zu Geburt/Taufe, zu Hochzeit und Tod zusammengetragen, aus denen sich Population, Kindersterblichkeit, Heiratsalter und Lebenserwartung rekonstruieren ließen. Ein wichtiges Ergebnis war, daß jede Familienform von ökonomischen Strukturen abhängig war, d.h. auch Haushaltsgemeinschaften bildete und daß es keinen Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie gab, sondern verschiedene Formen nebeneinander bestanden, die Großfamilie per se also eine Fiktion des 19. Jahrhunderts war. Die Forschungen von A. Imhof, M. Mitterauer oder K. Hausen waren von grundlegender Bedeutung." Doch für die historische Anthropologie war nicht die Erforschung der Familienstrukturen und -formen selbst entscheidend, sondern die frühe Beschäftigung mit der Kindheit einerseits und den Frauen andererseits. Die Auseinandersetzung zwischen Philippe Aries und L. de Mause differenzierte die auf qualifizierenden Quellen gründende Einschätzung von Kindheit und Jugend im Haushaltsverband wie im gesellschaftlichen Leben." Weit dynamischer entfaltete sich die Beschäftigung mit der Frau, die stets mit der Geschichte des Haushalts verbunden wurde, nun aber als „Selbständige" auch in der Öffentlichkeit fungierte. In keinem Bereich war die Abhängigkeit von der Strukturgeschichte so deutlich und verhängnisvoll wie in der „alten" Frauengeschichte, in der die Rolle der Frau ein für allemal
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Johann Michael Voltz, Biedermeierküche, um 1823
festgeschrieben schien. In dem Maße, wie die Forschung sich aber auf das Familienleben einließ, nicht nur nach der Funktion der Familie für die Gesellschaft, sondern nach ihrer Bedeutung für den Einzelnen fragte, erschlossen sich neue Dimensionen. Durch die Einbeziehung des ganzen sozialen Kontextes relativierten sich ökonomische Determinanten, und durch Berücksichtigung emotionaler Befindlichkeiten gewann das ,Familienleben' eine Qualität, die über die einer Arbeitsgemeinschaft, in der es nur um „Reproduktion" geht, hinausreichte. Mit der Ausweitung der Fragestellung und der Erschließung neuer Quellen haben sich neue Problemstellungen ergeben. Die sich konstituierende Anthropologie der Familie kreist heute demnach um sechs zentrale Themenkomplexe: Einmal müssen wir ein Nebeneinander verschiedener Familienformen konstatieren; es gibt weder „die" Familie noch einen geradlinigen Wandel von der traditionellen zur modernen Familie.40 Unter den Bedingungen der Modernisierung der Lebensverhältnisse wurden zudem traditionelle -76-
Familienformen nicht unbedingt aufgelöst, sondern konnten gleicherweise gestärkt werden. Die bürgerliche Kleinfamilie ist ebensowenig eine Erfindung der Moderne wie der Singlehaushalt, der früher in anderer Form auch existierte. Weiterhin variiert der Wert von Eheschließung und Hochzeit. Die Kirchen versuchten zwar seit der Reformation, ihre Verchristlichung bzw. Verkirchlichung durchzusetzen, aber die Normen des Zusammenlebens wurden wesentlich durch Öffentlichkeit wie ökonomische und soziale Verhältnisse mitbestimmt. Die Ehegemeinschaft galt zwar offiziell als der Ort legalisierter Sexualität, geheiratet aber wurde vielfach erst mit der Geburt des ersten Kindes. Das volle Maß der „bürgerlichen" Regulierung traf weitgehend nur die bürgerlichen Familien im 19. Jahrhundert. Sicherlich hatte der Hausvater das Sagen in allen Familienverbänden, deswegen waren aber Kinder und Frauen keineswegs nur Arbeitskräfte, die der Gewalt des Herrn unterstanden, d.h. unfreie Geschöpfe schlechthin. Die Lebenswelt der Kinder wurde nicht allein von den Eltern bestimmt, sondern daneben je nach Zeit und Umständen auch von den Nachbarn, der Straße, der Verwandtschaft und der Schule. Dasselbe gilt auch für Frauen, deren Lebenswelt zwar maßgeblich von Männern strukturiert war, die aber sowohl im Haushalt wie in der ,Gemeinde* eigene Handlungsräume besaßen und diese selbst bestimmen konnten. Die patriarchalische Unterwerfung der Frau ist ein Konstrukt der bürgerlichen Welt. Die Analyse von Scheidungsakten zeigt zudem deutlich, daß den Frauen volle Rechte zuerkannt wurden, notfalls auch das Recht, den Haushalt des Mannes zu verlassen.41 Die herrschaftliche Ubermacht der Väter oder Eltern über ihre Kinder korrespondierte keineswegs per se einem ethisch-moralischen Gebot, ebensowenig erfolgte mit der Abnahme hausherrlicher Gewalt in der Moderne eine Schwächung der Eltern-Kind-Beziehung. Im Gegenteil, in dem
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Maße, wie traditionelle Institutionen an Bedeutung verloren, spielten die Eltern sogar oft eine größere Rolle. Familienstruktur und Arbeitsorganisation entsprechen sich somit nicht unbedingt. Bürgerliche Familienhäuser waren nicht immer kinderfreundlicher als Bauern- oder Arbeiterfamilien. Emotionale und moralische Kategorien lassen sich nicht an bestimmten Sozialformen festmachen, und so schufen bürgerliche Familienformen auch nicht die Voraussetzungen für eine ,ideale' Sozialisation. In keinem Forschungsbereich hat man sich so ausdrücklich von den großen Strukturuntersuchungen gelöst und sich kontextgebundenen Detailanalysen zugewandt wie in der Familienforschung.42 6. Individualität - Individualisierung Die Frage nach dem individuellen Handeln und Denken, dem Handlungsspielraum einzelner Menschen, überhaupt nach der Invididualität in den verschiedenen Zeiten und Gesellschaften ist bis vor kurzem erstaunlich wenig gestellt worden.43 Uber das Individuum im Allgemeinen hatten Philosophen und Schriftsteller stets nachgedacht; auch daß große Männer nicht nur ihr eigenes Leben bestimmten, sondern Geschichte machten und eine Biographie verdienten, schien selbstverständlich. Aber außerhalb der vor allem adligen und bürgerlichen Elite setzte man voraus, daß sich alle den ihnen zugeschriebenen gesellschaftlichen Rollen, die kaum Spielraum zuließen, gefügt hätten, wenn sie erfolgreich sein und ihre Lebenschancen nicht gefährden wollten. Soziale und ökonomische Zwänge hätten demnach Bauern, Handwerkern und vor allem Frauen keine Individualität gelassen. Deswegen galt das Forschungsinteresse auch vorwiegend der Rekonstruktion von Strukturen und Zwängen bzw. sozialen Normen, wie sie vor allem die Soziologie und Sozialgeschichte strukturgeschichtlicher oder marxistischer Provenienz voraussetzten.
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Frans von Mieris, Junge Dame vor dem Spiegel, um 1670
Mit der verstärkten Entdeckung der subjektiven Seite der Geschichte, vor allem der Auswertung von Ego-Dokumenten, verschoben sich die alten Interpretationsmuster beträchtlich.44 Historiker lernten das je spezifische Denken und Handeln einzelner Personen nicht nur aus den Oberschichten, sondern auch aus den unteren Schichten kennen und wagten sogar biographische Rekonstruktionen, die verblüffend genau Handlungsstrategien offenlegten, und dies nicht nur in heterodoxen Gruppen, für die man sich bereits früher intensiver interessiert hatte. Die Protest- und Kriminalitätsforschung hatte bereits manch alte statische Vorstellung beseitigt: Es gab nicht nur den willenlosen Untertan, den unterdrückten Arbeiter oder die gehorsame -79-
Frau. Nun galt es den „eigenen" Anteil am Handeln und Denken der Menschen zu eruieren und minutiös aufzuweisen, wie die Menschen ihre eigene Geschichte machten. Drei Komplexe stehen z.Zt. im Vordergrund der Forschung. Einmal problematisiert sie die allgemeingängige Interpretation, nach der erst das entstehende Bürgertum auf der Suche nach der eigenen Identität Individum und Individualität hervorgebracht habe. Sowenig das moderne Bürgertum ausschließlich „von innen" geleitet gehandelt und ein „autonomes" Individuum hervorgebracht hat, sowenig hat es vor der Moderne nur willenlose, allein von außen bestimmte Menschen gegeben, eine simple, aber folgenreiche Entdeckung. Außerdem verlief der Prozeß der Individualisierung keineswegs geradlinig und war kein ausschließliches Oberschichtenphänomen. 45 Zum anderen erweist es sich als problematisch, das Individuum überhaupt ausschließlich „von innen" her aus der persönlichen Verantwortung zu verstehen. Die Kategorien von „innen" und „außen" sind ebenso wie die von „traditionsgeleitet" und „freischöpferisch" bei näherer Analyse Konstruktionen, die es im historischen Prozeß nicht gibt. Keiner lebt außerhalb von Traditionen und sozialen Kontexten, die ihn verpflichten und einbinden, auch wenn sie sich beträchtlich ändern. Es ist deshalb nicht die Frage, wie stark jemand traditionsverbunden dachte oder handelte, sondern was er aus der traditionellen Vorgabe machte und wie er überhaupt mit seinem sozialen Umfeld umging. Neue Chancen der Gesellschaft wahrzunehmen, heißt jedenfalls nicht unbedingt, autonom zu handeln.46 Schließlich ist zu konstatieren, daß der individuelle Entfaltungsspielraum in der feudalen Welt sich objektiv und grundlegend von dem der bürgerlich-kapitalistischen unterscheidet. Wenn man den Handlungsfreiraum konzediert, ist damit noch nicht gesagt, daß alle Bürger ihn wahrnahmen und jeweils gleiche Chancen hatten. In einer Gesellschaft, in der es wie in der Vormoderne zunächst nur
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ums Überleben geht, entwickelt sich Individualität anders als in einer solchen, die keine existenzielle Not mehr kennt, auch wenn es subjektiv nicht so sein mag. Nicht zuletzt gilt es zu beachten, daß die vormoderne Gesellschaft die einzelnen Handlungen der Menschen nach dem Prinzip des allgemeinen Nutzens beurteilte. Aller „Eigennutz" galt als Sünde, wohingegen die moderne liberale Welt gerade den einzelnen Menschen zum Maß setzte und ihn zur Wahrnehmung seiner individuellen Interessen aufforderte.47 Die Entstehung von persönlicher Verantwortung, von Schuld und Gewissen, ist ein komplexer Prozeß, der die moderne Welt mit konstituierte, der allerdings nur dann soziale Relevanz erhielt, wenn die Menschen überhaupt eine Möglichkeit besaßen, sich nach diesen „Prinzipien" zu richten. Wer hatte überhaupt die Chance, ein „gutes Gewissen" zu bewahren? 7. Schriftlichkeit - Lektüre - M e d i e n Die Rolle von Schriftlichkeit und Lektüre in der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuschlüsseln, zählt erst in jüngster Zeit zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft.48 Gerade die europäischen Kulturen waren von Anfang an mit der Schrift verbunden, sie sicherte nicht nur ,ewige' Ansprüche und ,Wahrheiten', sondern garantierte ein kulturelles Gedächtnis, ohne das ihre immer komplexer werdenden Gesellschaften keine Dauer erfahren hätten. Seit den Anfängen wurden religiöse und philosophische Texte schriftlich niedergelegt und dadurch kommunizierbar, aber auch weltliche Verträge und Rechtssatzungen zählen zu den frühesten schriftlichen Zeugnissen. Das Schreiben war eine zentrale Tätigkeit besonderer Gruppen, von Theologen und Beamten, die es auch zumeist in Schulen erlernt hatten. Mit der gesellschaftlichen Verdichtung und wirtschaftlichen Expansion nahm die Schriftlichkeit bereits im späten Mittelal-
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Ludolf de Jongh, Die letzte Nachricht, 1657
ter auch außerhalb dieser Gruppen beträchtlich zu, ihren ersten Höhepunkt erreichte sie in der Renaissancezeit. Es war die Reformation, die den Alphabetisierungsprozeß beschleunigte und neben dem Lesen die Schreibkunst allenthalben förderte. Doch der eigentliche Durchbruch ereignete sich mit der Entwicklung einer aufklärerischen Gesellschaft und ihrer Vorstellung, daß zu jedem Menschsein die Schreibbefähigung gehöre und deshalb Staat und Kirche den Ausbau des Schulsystems für alle fördern müßten. Zwar blieben stets soziale Ungleichheiten, aber im Prinzip sollte jeder an dieser Kultur teilnehmen können, nicht mehr nur Theologen und Beamte, Bürger und Adlige. Wenn wir heute im Alphabetisierungsprozeß eine entscheidende Voraussetzung für die Modernisierung und Demokratisierung sehen, gilt dies für die europäische Gesellschaft der Moderne selbst nur begrenzt. Denn die entscheidenden Weichenstellungen waren bereits in der ,Vormoderne' gelegt worden. Der entscheidende Anstoß zur Alphabetisierung und Schriftbefähigung, der dann auch von Staat und Kirche unterstützt wurde, ging wesentlich vom sich zunehmend etablierenden Bürgertum seit dem 18. Jahrhundert aus, das gegenüber dem Adel und ,gemeinen Volk' gerade in der Schreib-
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befähigung und im Lesen ein Stück seiner neuen Identität fand und sie zum Maß der Zivilisation machte. Somit wurde aus einer Herrschaftstechnik ein Mittel der Zivilisierung prinzipiell aller Menschen. Sie ließ sich zwar für Beamte, Kaufleute, Pfarrer etc. zugleich praktisch gut anwenden, dennoch galt die Schreibkunst nun im Prinzip als ein „zweckfreier" humaner Wert. Der Alphabetisierungsprozeß vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert war dementsprechend nicht an unmittelbar praktische „Zwecke" gebunden, sondern entsprang dem Selbstfindungsprozeß des Bürgertums, welches das Schreiben und Lesen mit dem Wesen des Menschen verband - sosehr eine praktische Verwendung und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg damit gegeben war. Die moderne Schreibkultur des 18. Jahrhunderts war also kein Produkt der Modernisierung, sondern ein ihr vorausgehender Prozess.49 Entscheidend für die schriftorientierte Kultur war die Erfindung der Buchdruckkunst, die erstmals eine sich steigernde hohe Auflage und rasche Verbreitung der unterschiedlichsten Schriftzeugnisse über alle Grenzen hinweg sicherte. Die große Wirkung von Reformation und Aufklärung ist ohne die neue Rolle von Flugschriften und Büchern nicht zu verstehen. Die Buchproduktion aber erlaubte nicht nur eine Verbreitung von Ideen und Vorstellungen, sie half auch bei der Standardisierung und bei der Festschreibung von Einheit stiftenden Lehren. Der entstehende Buchmarkt ermöglichte eine reiche Meinungsvielfalt, konnte sie im gleichen Maße aber auch begrenzen. Das Buch förderte also nicht per se die Meinungsfreiheit und damit eine Liberalisierung der Gesellschaft.50 Zum anderen hat man lange allzu voreilig aus einer Bibliothek oder einer Bücherliste auf den Stand des Wissens und das ideologische Bekenntnis geschlossen. Der Bücherbestand repräsentierte nur den „offiziellen" Wert des Wissens, aber nicht dessen praktische Bedeutung. Was wirklich
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gelesen wurde, unterscheidet sich oft wesentlich von den offiziellen Listen. Bücher erwarb man nicht nur zur Lektüre, sondern auch aus Repräsentationsgründen. 51 Was dann wirklich gelesen wurde, beschränkt sich auf eine kleine Auswahl; ob diese im Zeitalter der Reformation nur theologischen Büchern galt, ist ebenso zu bezweifeln wie die Ansicht, daß im Aufklärungszeitalter nur ,Vernünftiges' gelesen wurde. Die Geschichte der Bücher und des Buchmarktes ist nicht identisch mit der Geschichte der Lektüre. Weiterhin kann man aus der Auflagenhöhe, sofern sie überhaupt registrierbar ist, kaum konkrete Leserzahlen ermitteln und damit auf die Wirkung von Ideen und Vorstellungen schließen. Denn jede einzelne Flugschrift, jedes Buch konnte mehrere oder gar viele Leser haben, da bis ins 18. Jahrhundert hinein wichtige Texte vorgelesen wurden, und dies nicht nur in bürgerlichen und adligen Kreisen. Gelesen wurde ja auch gerade für Analphabeten, damit gab es keine ,reine' unmittelbare Lektüre. In die vorgelesenen Geschichten und propagierten Ideen flössen subjektive Einstellungen der Vorleser mit ein, außerdem hing die Wirkung bestimmter Ideen von der Art und Weise des Vorlesens ab. Hier gab und gibt es große Spielräume. Eine klare Trennung von Schriftkultur und mündlicher Tradition wird somit kaum möglich sein.52 Schließlich gilt zwar allgemein die Überzeugung, daß Schriftlichkeit, Buchproduktion und Textverbreitung großen Einfluß auf die ,geistige' Kultur ausübten und diese Kultur änderten. Aber welche Gedanken die Menschen wirklich bewegten und woran sie sich orientierten, d.h. wie sie sich die tradierten, „schriftlichen" oder mündlichen Ideen aneigneten, muß eine offene Frage bleiben. Anthropologische Studien wiesen erstmals darauf hin, daß einmal der soziale Kontext des Hörens und Lesens in der Kirche, zu Hause, in der Schule oder im Freundeskreis entscheidend war für die Art und Weise der Rezeption der Texte.53 Nur so sind auch die vielen berühmten Mißverständnisse erklärbar. Zum anderen
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spielen die subjektiven Bedürfnisse der Lesenden eine entscheidende Rolle. Bedeutungsvoll war zumeist nur etwas, was für das praktische Leben relevant war. Es gibt dagegen „berühmte" Texte der Weltgeschichte, die kaum jemand las, und „unbedeutende", die gierig aufgenommen wurden. Wie tief die reformatorische oder die aufklärerische Botschaft den Menschen erfaßte, entscheidet aber über den aufklärerischen Charakter einer Epoche. Die Geschichte des Lesens und Hörens ist keine Geschichte der Rezeption von „klassischen" Texten, sondern der Aneignung verschriftlichter Gedanken. In ihrer unmittelbaren Wirkung wird zweifellos die Bedeutung des Buchs und der Lektüre für die Entstehung der modernen Kultur kritischer als bisher bewertet werden müssen. Die Rezeption und Lektüre (wie Aufnahme) war eingebunden in einen sozialen Kontext, der sich rasch änderte, so daß ein Text stets eine neue Bedeutung erlangen konnte. Andererseits wird man die scharfe Grenze zwischen dem lesenden Bürgertum und der analphabetischen Bevölkerung nicht aufrechterhalten können. Dies hängt nicht nur vom Maß der Verschulung ab, sondern auch davon, wie Schriftkultur die persönliche Identität prägte.54 Die modernen Medien wiederum normieren sicherlich die Gedankenwelt, ermöglichen aber zugleich eine Gedankenvielfalt, die es früher so nicht gab. Sicherlich wird das Wahrnehmungsverhalten der Menschen durch die neuen Medien grundlegend verändert, aber so wenig wie die Buchlektüre ein passiver Prozeß ist, beinhaltet die moderne Indienstnahme der Medien nur ein Mittel, sich anzupassen.55 8. Das Eigene und das Fremde. Umgang mit dem Fremden Zum Schlüsselverständnis einer Kultur zählt das jeweilige Verhältnis von Eigenem zum Fremden/Anderen. Lange hat
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man das Fremde und Andere ausschließlich auf außereuropäische Kulturen fixiert; in dem Maße, wie in Europa die unterschiedlichsten Kulturen ernst genommen werden und der Historiker nicht mehr nur das Allgemeine und Gleichbleibende in der eigenen Geschichte untersucht, d.h. alles als Vorgeschichte der Moderne begreift, beginnt eine Entdeckung des Fremden in der eigenen Geschichte. Beiden Blickrichtungen muß die historische Anthropologie jedoch gerecht werden.56 Der jeweilige Umgang mit dem Fremden/Anderen unterliegt einem beträchtlichen Wandel vom Mittelalter bis in die Gegenwart, und auch das, was jeweils als fremdartig begriffen und erfahren wird, blieb nicht konstant. Die Einschätzung z.B. von Juden und Zigeunern, Inbegriff von fremden sozialen Gruppen, schwankte beträchtlich.57 Jede Gesellschaft und Kultur konstruiert sich so ihr Bild des Fremden und Anderen, das gilt nicht nur für heute, sondern auch im gleichen Maße für frühere Epochen. Hier müssen wir vor allem zwischen der bürgerlich-demokratischen und der vormodernen feudalen Gesellschaft unterscheiden, die beide entgegen landläufiger Meinung keine einheitliche Kultur hervorbrachten, sosehr einheitsstiftende Wertvorstellungen dies favorisierten. Die vormoderne ständische Gesellschaft kennt kein gleiches Recht für alle, im Gegenteil, die sie konstituierenden Gruppen waren in Adel und Volk, nach Sprachen und Konfessionen getrennt. Das unehrliche Handwerk war den Patriziern ebenso fremd wie den Katholiken die neue protestantische Kultur, Slawen wie Welsche waren beispielsweise gleichermaßen aus dem Handwerk ausgeschlossen.58 Es ist schwierig, die frühneuzeitliche Gesellschaft in ihrer Komplexität genau zu beschreiben, denn einerseits lebten die verschiedensten sozialen Gruppen - zwar hierarchisiert - nebeneinander. Andererseits wurden von der gesellschaftlichen Norm abweichende Gruppen wie Fremde ausgegrenzt.
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Generell gilt, daß sich jede Hausgemeinschaft, jedes Dorf und jede Stadtgemeinde in der frühneuzeitlichen Gesellschaft gegen ungebetene Fremde und Auswärtige abschirmte und nur der Einheimische vollen Schutz genoß. 5 ' Zum anderen wurde im Zuge der Territorialisierung und Konfessionalisierung der Länder die Bewegungsfreiheit von fahrenden Gruppen und religiös Andersdenkenden, vor allem von Zigeunern, Täufern und Juden, eingeschränkt, wenngleich aufgrund der großen Mobilität, Bevölkerungsschwankungen und Nachfrage nach Untertanen die obrigkeitlichen, kirchlichen und gemeindlichen Regeln und Gebote selten konsequent eingehalten wurden. Insgesamt wechselten Zeiten der Toleranz mit Zeiten der Abwehr, die bis zur Verfolgung reichte. Das Fremde war demnach keine festgelegte Größe; die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem war je nach Zeit und Region unterschiedlich streng gezogen und kann deswegen nur aus den konkreten Verhältnissen erschlossen werden. Fremd konnten der Abdecker sein, die vermeintliche Hexe, der Jude oder der Zigeuner. In der vormodernen
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Gesellschaft war der Fremde, der durch seine Sitte und seinen Habitus aus dem Rahmen der Ständegesellschaft herausfiel, zugleich aber auch etwas Exotisches, das wiederum anziehend wirkte.60 Man muß unterscheiden zwischen den Fremden, denen man im Haus kein Gastrecht gewährte und denen, die man vom Aufenthalt in der Gemeinde ausschloß, aber auch den Fremden, die feindlich und räuberisch auftraten. Trotz der vielen Arbeiten über unehrliche Leute, über Zigeuner und Juden, um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen, gibt es kaum nähere Analysen über die konkrete Wahrnehmung des Fremden. So grotesk die „Fremdenfeindlichkeit" in der Frühen Neuzeit sein konnte, umso befremdlicher wird sie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die einmal eine sich steigernde Mobilität über die Landesgrenzen hinweg favorisierte und dabei alle Bürger unter ein gleiches Recht stellte, d.h. alle „Einwohner" in die Nationalgesellschaft integrieren wollte, zum anderen zwar religiöse Spannungen und Differenzierungen zu mindern suchte, dafür aber den Zwang zu einer einheitlichen Sprach- und Kulturgemeinschaft beträchtlich erhöhte. Dabei wurde weniger die Angst vor dem teuflischen Anderen geschürt, als die „Reinheit" einer Gesellschaft beschworen, in der Fremdes immer weniger Platz hatte.61 Sicherlich spielten auch ethnische und rassistische Elemente von früh an mit eine Rolle, aber sie waren für die Konstituierung einer geschlossenen Nationalgesellschaft mit einer national geprägten Kultur von keiner besonderen Bedeutung. Der Fremde war nun nicht mehr einfach der Auswärtige, der Andersgläubige, der „Unmensch", sondern einer, der sich den Maximen der entstehenden Nationalkultur entzog. Hatte man in der Vormoderne bei einer Herrschaftserweiterung von den neuen Untertanen keinen Verzicht auf ihre Tradition erwartet, sollte sich nun jeder in den neuen Staatsgrenzen als Deutscher, Franzose oder Italiener bekennen und sich entsprechend verhalten. Daß öko-
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nomische Ängste und Begehrlichkeiten immer eine Rolle spielten, ist eine Binsenweisheit, wie weit aber der kulturell Andere in besonderen Situationen verunsichernd wirkte, ist die eigentliche Frage. Sicherlich gibt es obrigkeitliche bzw. staatliche Vorgaben, die das Fremde, Andere definieren und es in Schranken weisen oder ausgrenzen wollen; aber was konkret fremd war und wie sich Fremdenfeindlichkeit zeigt, kann nur an konkreten Fällen untersucht werden. Jede soziale Gruppe kennt andere Hierarchien und Werte und fühlt sich dementsprechend unterschiedlich bedroht.62 9. Frauen - Männer - Geschlechtergeschichte Die Sozialgeschichte Weberscher, aber auch marxistischer Provenienz kannte als zentrale Kategorien mehr oder weniger nur Herrschaft, Klassen und Konjunkturen; daß das Geschlecht gleicherweise eine spezifische Rolle in der Geschichte spielte und Männer und Frauen unterschiedliche „Geschichten" hatten, ist erst eine „Erkenntnis" der Frauenforschung bzw. der feministischen Geschichtswissenschaft seit Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre. Der älteren Frauengeschichte ging es zunächst um den Nachweis der verschiedenen Formen der Unterdrückung von Frauen sowie um ihre späte Emanzipation seit dem 19. Jahrhundert." Die Geschlechterverhältnisse wurden dabei nicht aus den konkreten Gegebenheiten und Prozessen eruiert, sondern aus den gesellschaftlichen Normen, wie sie in Verfassung und Recht festgeschrieben wurden. Wegweisend wurde für die Forschung das Diktum der Anthropologen und Philosophen des 18. Jahrhunderts, nach dem den Männern die kulturelle Gestaltung der öffentlichen Welt oblag, während die Gestaltung des Privaten, des Familienlebens zur Natur der Frau gehörte.64 Je mehr aber eine zunehmende Zahl von Historikerinnen sich ihrer Geschichte im Detail annahm, vor
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Peter van der Borcht, Der faule Handwerker, vor 1608 allem innerhalb der sich etablierenden Familiengeschichte, der neueren Forschung über die Hexenverfolgung und schließlich der Körpergeschichte wissenschaftliches Neuland erschlossen und zahlreiche neue Quellen bekannt wurden, änderte sich die Frauengeschichte grundlegend. Es ist das Verdienst von Karin Hausen 65 , Gisela Bock 66 und Heide Wunder 67 , dann auch von Ute Frevert 68 , Eva Labouvie 60 und Renate Dürr 70 , die intellektuelle Voreingenommenheit und Einseitigkeit aufgedeckt und den Weg zu einer Geschlechtergeschichte gebahnt zu haben, wobei sie konsequent auch historisch-anthropologische Problemstellungen einbezogen. Auf kaum einem Forschungsfeld verzeichnet die historische Anthropologie heute mehr neue grundlegende Einsichten. Der Wandel der Frauengeschichte zur Geschlechtergeschichte hatte weitreichende Folgen: Sie befreite die Frauengeschichte einmal von der Vorstellung eines im Lauf der Geschichte einheitlich bleibenden ,Wesens' der Frau, und öffnete den Blick für je nach sozialer Situation und kulturellem Selbstverständnis höchst unterschiedlichen Frauenbilder. Weiblichkeit erschöpft sich auch nicht in einer ahistorischen Biologie, sondern muß als ein kulturelles Konstrukt
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verstanden werden. 72 Zum anderen läßt sich der weibliche Lebenszusammenhang nicht mehr mittels der Dichotomie öffentlich - privat, Kultur - Natur, Macht - Ohnmacht etc. beschreiben, weder in der feudalen noch in der bürgerlichen Gesellschaft. Neue Forschungen weisen nach, daß die Arbeitswelt von Männern und Frauen in der Vormoderne aufeinander bezogen war und daß es selbst im bürgerlichen Milieu keine strikte Zuweisung des Gefühls an die Frauen und der Vernunft an die Männer gab. Unsere Kategorien müssen für die Rekonstruktion von Weiblichkeit und ihrer Welt neu durchdacht und empirisch untermauert werden. 72 Weiterhin läßt sich die Geschichte der Frauen keineswegs mehr ausschließlich aus der Perspektive der Ohnmacht und Unterwerfung schreiben, vielmehr verweist ihre eigene Geschichte durchaus auf Räume und Möglichkeiten der sozialen und politischen Partizipation, die sich freilich nur aus den sozialen Kontexten erhellen lassen. Einheitliche Bewertungskriterien gibt es demnach kaum. Auch hatten die Frauen unterschiedliche Bilder von sich selbst. Desweiteren macht die Geschlechtergeschichte deutlich, daß die Geschichte der Frauen nicht ohne die der Männer geschrieben werden kann. Beide Geschlechter lebten aufeinander bezogen, sie waren weder nur Täter oder nur Opfer. Das Selbstwertgefühl bestimmte sich aus den Handlungsmöglichkeiten, die beträchtlich variieren konnten. Nachdem die Frauen lange als eigene Gruppe untersucht wurden, gilt es nun, Geschlechtergeschichte in die allgemeine Geschichte zu integrieren, d.h. die allgemeine Geschichte unter Berücksichtigung der neuen Ergebnisse der Geschlechtergeschichte umzuschreiben. Heide Wunder schrieb bereits 1992: „Es muß also das Vorhaben angegangen werden, die bisherige Geschichte der Menschheit auf eine neue Basis zu stellen und erkennbar zu machen, in welcher Weise die Geschichte der Frauen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen entscheidende Ein-
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sichten darüber vermitteln, wie Gesellschaften sich organisieren und Ressourcen für politisches Handeln bereitstellen"." Aus der Frauengeschichte hat sich konsequent eine Geschlechtergeschichte mit neuen Forschungsergebnissen entwickelt; in einem zweiten Schritt bildete sich eine Männergeschichte heraus, eine junge Forschungsrichtung, die ebenfalls aus den USA kräftige Impulse erfuhr, aber in Europa eigene Wege geht.74 Hatte man lange den Menschen mit dem Mann identifiziert - worauf die Frauengeschichte aufmerksam machte - , beginnt man ihn jetzt als solchen zu beschreiben. Den Mann als Mann in der Geschichte zu entdecken, bedeutete, seine Welt als „männlich" zu rekonstruieren sowie die verschiedenen Männlichkeitsbilder aufzuschlüsseln. Sowenig wie „die Frau" gab es „den Mann", der gleicherweise nicht über die Biologie definiert werden kann. Aber während über die Geschichte der Frau und über Weiblichkeit mittlerweile zahlreiche Studien vorliegen, sowohl über die Handwerkerin als auch die Magd, über weibliche Kriminalität und Sexualität wie über religiösen Glauben und Lebenslauf aus weiblicher Perspektive, steckt die Geschichte des Mannes noch in ihren Anfängen. Im Vordergrund der Forschung steht einmal die Analyse des Männlichkeitsbildes, zum anderen das Verhältnis des Mannes zu Gewalt und Macht, damit auch zur Gewalt über Frauen. Thomas Kühn75 und Martin Dinges76 warnen deshalb richtigerweise vor Kurzschlüssen. Wie bei der Frauengeschichte ergeben sich in der Männergeschichte Schwierigkeiten, drei Ebenen gleichzeitig zu bearbeiten: „1. die kulturellen Leitbilder, die Diskurse, 2. die soziale Praxis, die praktische Reproduktion des Geschlechtersystems, und 3. die subjektive Wahrnehmung, Erfahrung und Identität".77
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AUFGABEN
Obwohl die historisch-anthropologischen Forschungen in letzter Zeit beträchtliche Fortschritte machen und immer mehr Themenfelder erfassen, so daß selbst ehemalige Kritiker sich ihre Sichtweise und Erkenntnisse aneignen, ist der Forschungsbereich der historischen Anthropologie
noch
völlig offen, sind viele Probleme noch ungelöst. Dies hat nicht nur damit zu tun, daß sie kein spezifisches Forschungsobjekt kennt, das neu erarbeitet wird, sondern daß es um einen methodischen Zugang, um eine neue Sichtweise geht, die die Dialektik von objektiver Struktur und subjektiver Befindlichkeit aufspürt, d.h. der Frage nachgeht, wie Menschen ihr Leben organisieren und ihm einen Sinn geben. Die historisch-anthropologische
Hervorgehensweise
schließt andere methodische Zugänge nicht aus und bezieht deren Erkenntnisse mit ein. Aber dies hängt wesentlich davon ab, von welchem Interesse sie für die historische Aufarbeitung unserer Welt sind. Hier stehen die Analyse und Beschreibung der Lebenswelt und Praxis ,normaler' Menschen im Vordergrund. Ihre Forschungsresultate hängen jedoch nicht nur ab von der Frage- und Problemstellung, sondern wesentlich von den Quellen, die nicht in allen Regionen Europas und anderswo gleichmäßig vorhanden sind. Die Konjunktur bestimmter Themen hat nicht selten mit aussagekräftigen Quellen zu tun, die über den Alltag berichten. Auffallend ist jedoch, daß die historisch-anthropologische Forschung sich aktuellen Problemen zuwendet, die bisher nur unzureichend bearbeitet bzw. gelöst worden sind, aber von den Quellen her gut zu erschließen sind. Emmanuel Le R o y Ladurie hätte „Montaillou" (1980) kaum eine so umfängliche Untersuchung widmen und Carlo Ginzburg nicht eine
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dichte Studie über Minocchio (1979) schreiben können, wenn nicht umfängliche Prozeßakten vorliegen würden, die nicht nur über die jeweilige „Häresie" Aufschluß geben, sondern auch über das ,normale' Denken und Handeln einfacher Leute. Die vermeintliche ,Abseitigkeit' von Themen der historischen Anthropologie resultiert aus einer Fülle von besonderen Einzelfällen, die aktenkundig wurden, aber ebenso als Quellen des alltäglichen Lebens gelesen werden können. Brachte schon die Berücksichtigung von Kirchenmatrikeln und Nachlaßinventaren für die Alltagsgeschichte große Gewinne, so erschließen sich mit Aufarbeitung von Gerichtsakten und autobiographischem Material geradezu neue Welten, aus denen sich Empfindungen und das Handeln auch einfacher Leute rekonstruieren lassen. Der ungewöhnlich große Bestand von Gerichtsakten und -protokollen, der früher nur zur Untersuchung der Strafgerichtsbarkeit herangezogen wurde, schafft damit Möglichkeiten der Interpretation, die noch nicht ausgeschöpft sind. Wenngleich der Fortschritt der historischen Anthropologie abhängt vom langen Atem zahlreicher Einzelstudien zu den verschiedensten gesellschaftlichen Themen, die auch die Welt der Arbeit und Politik einschließen, stehen vier Problemkomplexe an, die einer stärkeren Reflexion bedürfen und deren Klärung für die Zukunft wichtig ist, wenn die neuen Einsichten und Erkenntnisse allgemeine Relevanz für die Geschichtswissenschaft zu erlangen beabsichtigen. Die historische Anthropologie lenkt den Blick nicht auf Lücken, die bisher unerforscht waren, sondern favorisiert eine Geschichtswissenschaft, die jenseits einlinearer Sichtweisen der Komplexität menschlichen Handelns gerecht werden und somit dem Menschen selbst näher kommen möchte als die vorrangig „objektiven" Strukturen verpflichtete Sozial- und Strukturgeschichte.
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1. Mikrohistorie - Makrohistorie Das Bekenntnis zur Mikrogeschichte ist ein wesentliches Merkmal der historischen Anthropologie; ihr sind neue Einsichten und Erkenntnisse zu verdanken, die auch in der Öffentlichkeit ein positives Echo fanden, zumal historische Untersuchungen zur historischen Lebenspraxis selten sind. Ihr Beitrag für einzelne Problemeinsichten wird mittlerweile anerkannt. Solange die Mikrohistorie Fallbeispiele vorstellte und allgemeine Uberzeugungen korrigierte, begrüßte die Sozialgeschichtsschreibung die vielfältigen Untersuchungen zu den verschiedensten Themen. Als sie jedoch immer deutlicher eine andere Sicht von Geschichte eröffnete, wurden jene Historiker verunsichert, deren Forschungsziel in der Verallgemeinerung von Einzelerkenntnissen und Einzelbeobachtungen lag. Sie forderten die Integrierung der Mikrogeschichte in eine Makro- bzw. Universalgeschichte. 1 Wie jedoch das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichte gestaltet werden sollte, darin scheiden sich die Geister; die Positionen korrespondieren mit den Stärken und Grenzen der mikrohistorischen Arbeit. Ihre Stärke liegt einmal in der erklärenden Rekonstruktion von Lebenszusammenhängen, die plausibel machen, warum ein Mensch so und nicht anders handelte, wie er sein Leben gestaltete, es ökonomisch absicherte und schließlich Traditionen aktivierte, ohne sich Neuem zu öffnen. Durch diese Sichtweise hat die Mikrohistorie alle einfachen Erklärungsmuster, sei es die patriarchalische Herrschaftsform in der Frühen Neuzeit wie die Disziplinierungs- und Modernisierungstheorie in ihrer Aussagekraft relativiert, die Komplexität jeder Erscheinung und jeder Entwicklung hervorgehoben und die vielfältigen Handlungsspielräume von Menschen herausgearbeitet, die nie eindeutig waren. Außerdem hat die Mikrohistorie das Einzelleben, das Schicksal des einzelnen Menschen gewürdigt und es nicht hinter Zahlen und Zeichen
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Holzschnitt, um 1530
verborgen, so daß auch einfache Menschen ihre Geschichte „zurückerhielten". Dieser neue differenzierende Blick, der keine vorschnellen Verallgemeinerungen zuläßt, stößt aber auch an G r e n zen, die selbst durch eine Vermehrung von mikrohistorischen Problemstudien nicht behoben werden können - unabhängig davon, daß es nicht darum geht, Bausteine für eine abgehobene allgemeine ,neue' Theorie zu liefern. G r o ß e Zusammenhänge und Entwicklungen lassen sich auf mikroskopischer Ebene kaum weiterführen. Ebenso wird immer noch die Frage nach der Repräsentativität gestellt, die umso berechtigter ist, weil nicht selten zufällige Quellenfunde Forschungsaktivitäten auslösen. Will man diesen Bedenken Rechnung tragen, muß man jeweils das Ganze in den E i n zeluntersuchungen im Auge behalten. V o r allem zeigen sich Probleme, den sozialen Wandel über einen kurzen, geschweige denn einen längeren Zeitraum aufzuzeigen, da sich die Auswirkung objektiver Veränderungen nur bedingt aus dem unmittelbaren Handeln der Menschen ableiten lassen. Eine globale Gesamtdarstellung eines Phänomens oder Problems ist ohnehin nicht Ziel der historischen Anthropologie; dennoch bleibt es auch ihre Aufgabe, ihre Erkenntnisse in einer nachvollziehbaren Geschichte fruchtbar werden zu lassen, in der der Mensch sich wiedererkennt.
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Ohnehin werden mikro- und makrohistorische Perspektiven aufeinander zugehen müssen, da eine Mikrogeschichte ohne Makroperspektive an Erkenntnisfähigkeit verliert wie umgekehrt die Makrogeschichte ihre Realitätsnähe und eine Breite an Erkenntnissen aufgibt, wenn sie die Ergebnisse der Mikrohistorie nicht berücksichtigt. Daß es eine objektive Geschichte gibt, die alle Perspektiven berücksichtigt, gehört in das Reich der Utopie. Jeder Historiker muß sich über das Ziel der eigenen Untersuchung Rechenschaft ablegen und sich des Konstruktionscharakters seiner Darstellungen bewußt werden. Denn je näher wir an ein ,Objekt' rücken, umso variabler werden auch Interpretationen, da sie von dem abhängen, was und wieviel der Einzelne an Erkenntnissen gewonnen hat. Geschichte zu schreiben, ist ein Prozeß, der stets das Kleine wie das Große in unterschiedlichen Zusammenhängen im Auge behalten muß und nur Annäherungen versprechen kann. Siegfried Kracauer, der sich als erster dieses Problems bewußt war, schrieb kurz vor seinem Tod 1966: „Die Grundbedeutung von Mikro-Untersuchungen liegt in der Tatsache, daß sie jeglichem Versuch, solche Fülle zu erlangen, unentbehrlich sind. Dies bedeutet nicht, daß die Integration der Mikro-Funde ... uns befähigte, das Ganze der Geschichte zu begreifen. Nicht alles an historischer Realität ist in mikroskopische Elemente zu zerlegen. Das Ganze der Geschichte umfaßt ebenso Ereignisse und Entwicklungen, die sich oberhalb der Mikro-Dimension abspielen. Aus diesem Grunde sind Geschichten auf höheren Ebenen von Allgemeinheit ebenso wesentlich wie Detailstudien. Aber sie leiden an Unvollständigkeit; und wenn der Historiker ihre Lücke nicht ,mit eigenem Verstand und Konjektur' ausfüllen will, muß er die Welt der kleinen Ereignisse ebenso erforschen. Makro-Geschichte kann nicht Geschichte im idealen Sinne werden, es sei denn, sie ziehe Mikro-Geschichte nach sich. ... Aus diesem Grund sind
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aufmerksame Historiker, die nach Geschichte in ihrer Fülle streben, für eine wechselseitige Durchdringung von Makround Mikro-Geschichte". 2 2. Relativismus - normatives D e n k e n Seit den Anfängen historisch-anthropologischer Forschung wird ihr der Vorwurf zuteil, daß sie das klassische Geschichtsbild nicht nur partielliere und ihre Einheitlichkeit auflöse, sondern jede Beliebigkeit der Aussagen fördere, vor allem die Werte relativiere und damit den Rückfall in historistische Tradition favorisiere; es ginge mehr ums Verstehen als ums Bewerten. Aus einem sozialwissenschaftlichen Verständnis heraus treffen diese Bewertungen partiell zu. Aber dennoch bleibt die Frage nach dem objektiven Wert der Relativierung von Lebensstilen und Weltanschauungen, da sich in der Tat für die Geschichtswissenschaft viele Maßstäbe verschoben haben.3 Die einheitstiftenden Bezugspunkte historischer Forschung sind nicht mehr länger das politische und staatliche Handeln, auch die ehemals große Bedeutung von Wirtschaft und Kultur im historischen Prozeß wird zunehmend relativiert. Die Themenausweitung in der historischen Anthropologie kennt mittlerweile keine Grenzen, insofern alle Gegenstände, Phänomene und Handlungen Rückschlüsse auf das Handeln und Denken von Menschen erlauben, sei es sowohl privater als auch öffentlicher Natur. Zugleich ist der Bezugspunkt der historischen Rekonstruktion nicht mehr die Moderne, auf die hin sich alles entwickelt; Fluchtpunkte bilden nicht mehr die Demokratie oder der Kapitalismus, die als Werte der Gegenwart zum Maßstab der Beurteilung geworden waren. Die Geschichte wird nicht mehr nur als ein schrittweiser Abbau der Defizite gegenüber der Moderne begriffen. Ebensowenig bemißt sich der ,Wert' einer Lebensgemeinschaft in historischer Perspektive danach, wie
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sie die Moderne gefördert hat. Schließlich will die historische Anthropologie eine Handlung nicht aus einer ideologischen Position heraus beschreiben, sondern aus dem sozialen Kontext verstehen und dabei besonders die subjektive Einstellung der Betroffenen berücksichtigen, d.h. es wird nicht nach der Bedeutung von Ereignissen oder Handlungen für die Gesellschaft, sondern für die einzelnen Menschen gefragt. O b Menschen aus den Zwängen des Lebens handelten oder zwischen verschiedenen Möglichkeiten frei wählen konnten, ist entscheidend für den Stellenwert bestimmter Handlungen. Wenn die Frage nach der Organisation des eigenen Lebens im Zusammenhang mit der ,objektiven' Gegenwart im
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Mittelpunkt der historisch-anthropologischen Forschung steht, bestimmt sich der Wert von Staat und Religion, Wirtschaft und Kultur auch nur an seiner Bedeutung für den Menschen. Aus diesem Blickwinkel heraus entsteht keine Automatik in der Durchsetzung absolutistischer Herrschaft, neuer religiöser Bekenntnisse oder kapitalistischer Marktmechanismen. Der Mensch ist nicht nur Opfer, sondern auch Akteur; er leidet unter historischen Gegebenheiten, kann aber auch von ihnen profitieren. Man muß stets differenzieren, gleiche Handlungsweisen gibt es kaum. „Objektive" Normen haben sich selten unmittelbar und ohne die Unterstützung durch Menschen durchgesetzt. Zudem ist das jeweilige Handeln von Menschen höchst widersprüchlich. Die historisch-anthropologische Problemstellung konzentriert sich demzufolge gerade auf die Brüche und Ungereimtheiten. 4 Nimmt man die persönliche Einstellung des Einzelnen, seine Handlungsspielräume und seine Verhaltensweisen nicht ernst, bleibt es bei den klassischen Pauschalurteilen, etwa der hohen Gewaltbereitschaft im Mittelalter, der zunehmenden obrigkeitlichen Unterordnung, der konstanten kapitalistischen oder bürokratischen Durchdringung der Gesellschaft. Es wäre zu einfach, eine Handlung ausschließlich aus ökonomischen Voraussetzungen abzuleiten oder aus sozialen Interessen; ohne deren Bedeutung zu unterschätzen, sind menschliche Handlungen und Motive insgesamt doch zu komplex, als daß eine Ursache alleine ausschlaggebend sein könnte. Dasselbe gilt für die allzu einfachen Unterscheidungen oben und unten, Herrschern und Beherrschten, von Männern und Frauen im Sinne getrennter Lebenswelten. Der Gesamtkontext, der jeweils variieren kann, bestimmt und regelt das Zusammenleben. Letztlich bleibt es aber der Forschung immer verwehrt, „authentisches" Leben zu erfassen. So dicht der Forscher oder die Forscherin an die Wirklichkeit herankommt, bleibt die heraufbeschworene Welt, die er bzw. sie rekonstruiert,
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eine Konstruktion, die nur annähernd der Realität entsprechen kann. Unter dieser Voraussetzung können auch Äußerungen und Beschreibungen, seien sie von Männern und Frauen, Beamten und einfachen Leuten, nur in sozialen Kontexten behutsam interpretiert werden. Dieses Verfahren der Kontextualisierung von Lebenswelten wie Selbstzeugnissen erlaubt aber zugleich, das Individuelle, den Spielraum des Einmaligen und die Grenzen von Normen abzutesten und dadurch selbst die ,großen' Handlungen und Strukturen komplexer darzustellen. Vorrangig lehnt die historisch-anthropologische Forschung es ab, vergangene Handlungen von heutigen Wertvorstellungen her zu beurteilen, denn sie will in erster Linie interpretierend verstehen. Das heißt gerade nicht, die rekonstruierten Handlungen und Denkformen moralisch zu akzeptieren und die heutige Einstellung zum Maß aller Dinge zu erheben. Andere Zeiten und andere Kulturen haben eigene Vorstellungen vom Leben und eigene Gesetze; dies zu akzeptieren wird besonders notwendig in einer Welt, die sich zusehends zur Pluralität der Lebensstile bekennt. Wenn man nicht von der Gegenwart her bewertet bzw. nicht nur ihre unmittelbare Vorgeschichte thematisiert, dann öffnet sich der Blick für verschiedene Optionen des Lebens, verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und für einen offenen Geschichtsverlauf. 5 Kein Prozeß und kein Ereignis der europäischen Geschichte war ein Produkt zwangsläufiger Entwicklungen. 3. Sozialer W a n d e l Die Stärke der historisch-anthropologischen Forschung liegt in der Analyse und Rekonstruktion von Lebenswelten und Lebenszusammenhängen. Probleme des Wandels sozio-kultureller Strukturen wurden dagegen bisher kaum thematisiert. Das gilt nicht nur unmittelbar für die Entwick-
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lung von Handlungs- und Vorstellungsstrukturen, sondern für die Analyse der Gründe und Ursachen des Wandels selbst. Unterscheiden müssen wir jedoch die Entwicklungen im Bereich gesellschaftlicher Institutionen vom Wandel in den Einstellungen und Empfinden sowie dem im Habitus der Menschen selbst; konstatiert wird insgesamt eine grundlegende soziale Veränderung im institutionellen und organisatorischen Bereich, beispielsweise der von der feudalen bzw. absolutistischen Gesellschaft zur kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft, von einer patriarchalischen zur bürokratischen Gesellschaft: jeweils neue Probleme und Konflikte drängen zum Wandel, wobei dieser jedoch je nach Situation unterschiedlich verlaufen kann. Die äußeren Fixpunkte sind relativ leicht zu verifizieren. Aber wie der Mensch im einzelnen mit diesen Änderungen umging, wissen wir kaum; vor allem ob und wie er in diesen Prozeß handelnd eingriff und dabei seine Identität wahrte oder verlor. Von der ,Verfassungs'geschichte zu einer historischen Anthropologie des werdenden Staats ist es demnach noch ein weiter Schritt. 6 Dasselbe gilt für den Bereich der Neuorientierung mentaler Einstellungen und ideologischer Uberzeugungen. Sicherlich reflektieren die Einstellungen allgemein die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände im Kontext tradierter Denkmuster. Wieweit die Einstellungen jedoch von der ganzen Gesellschaft mitgetragen wurden, ja wieweit sie ihre inhaltliche Bestimmung überhaupt behielten, ist noch ungeklärt. Eine Geistesgeschichte, die nur auf elitäre Ideen rekurriert, läßt gerade die wichtige Frage nach der Bedeutung für ,alle' Menschen unberücksichtigt. 7 Schließlich wird zusätzlich ein Wandel im Hinblick auf die Änderungen des Habitus der Menschen selbst thematisiert. Bleibt der Mensch im sozialen Wandel seiner Welt in seinen Grundbedürfnissen und Befindlichkeiten gleich, wieweit sind diese abhängig von den ,objektiven' Gegebenheiten, Strukturen und Traditionen, wieweit steuert der Habi-
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tus selbst den Prozeß? Gerade die Zivilisationstheorie von Elias fordert zu dieser Problemstellung heraus. 8 Lange nahm man z.B. an, daß Liebe und Friedfertigkeit Produkte der Neuzeit seien. Heute ist man aufgrund historischanthropologischer Forschungen wieder vorsichtiger geworden. Wie lernfähig ist der Mensch, Verhaltensweisen auszubilden, die mit den gesellschaftlichen Formationen kompatibel sind? Die These, daß der Mensch immer gleich bleibe, hilft ebenso wenig weiter wie die Uberzeugung, daß der Mensch sich stets grundlegend verändern könne, um sein Uberleben zu sichern. Die verbindliche Normenwelt, die eine Gesellschaft aufstellt, ist selten identisch mit der Verhaltensstruktur ihrer Mitglieder. Zweifellos favorisieren bestimmte Situationen und Strukturen bestimmte Verhaltensmuster, aber wie die Menschen in ihrer Grundbefindlichkeit den historischen Prozeß strukturierten, ist im Detail noch zu unerforscht, als daß auch nur Teilantworten möglich wären. Weit schwieriger noch als überhaupt eine Änderung zu konstatieren, ist die Ergründung ihrer Ursachen.' Zweifellos bedingen die Ressourcen, die Tradition, aber auch die Biologie jede Umgestaltung. Ebenso können Probleme und Konflikte Anlaß zu einem bestimmten Umbruch in der Gesellschaftsformation geben, ihre Wirkung hängt aber weitgehend davon ab, wie die Menschen auf sie reagieren, ob sie sie als Herausforderung annehmen. Eindeutiges Verhalten ist dabei kaum zu erwarten, materielle und kulturelle Gründe spielen gleicherweise eine Rolle. Es wäre eine besondere Aufgabe der historisch-anthropologischen Forschung, hier Erklärungsmodelle zu entwickeln, die empirisch abgesichert sind. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie Menschen
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auf einen Wandel reagieren, sondern wie sie ihn mitgestalten. Denn nicht eine bürokratische Elite oder abstrakte Strukturen initiieren Wandel, sondern Menschen mit ihren unterschiedlichen Interessen und Traditionen, die ihre Probleme lösen wollen oder müssen und dabei eine Entwicklung aktiv unterstützen oder passiv hinnehmen.
4. Interkultureller Vergleich Wie soziale Änderungen bisher wenig thematisiert wurden, fehlt es auch an großangelegten Vergleichen von Phänomenen, Strukturen und Prozessen, die über eine Region oder eine Kultur hinausgehen. 10 Dies wird zurecht beklagt, sosehr natürlich die Mikrohistorie mit Vergleichen operiert, um den Stellenwert des Einzelphänomens einschätzen zu können. Aber viele vorliegende Versuche im interkulturellen Vergleich kranken entweder an der Trivialität platter Aussagen oder an ihrer Pauschalität. Daß es bisher überhaupt nur wenige Vergleiche gibt, gründet sicherlich im Arbeitsaufwand, wenn ein Vergleich über einen Überblick hinausgehen soll und eigene Archivarbeiten notwendig sind. Doch wesentlicher ist die Unklarheit darüber, wie ein Vergleich überhaupt aussehen soll: was wird miteinander verglichen und welches Erkenntnisziel wird dabei angestrebt? Hier scheint eine zufriedenstellende Lösung nicht in Sicht, wenn an vergleichende Forschungsprojekte ein gleiches Fragenkonzept gerichtet wird." Die Unklarheit gründet aber auch in der begrifflichen Unschärfe der zu untersuchenden Gegenstände sowie in der Quellenüberlieferung, die nur prospektivische Blicke erlaubt. Relativ leicht sind noch ,äußere' Erscheinungsbilder und Strukturen miteinander vergleichbar. Dorfverfassungen, religiöse Systeme oder das Schulwesen können unkompliziert verglichen werden; aber umso schwieriger erweist es sich, wenn wir den Bedeutungsinhalt der zu untersuchenden so-
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Völkertafel aus der Steiermark Anfang 18. Jahrhundert
zialen Institution für den einzelnen Menschen berücksichtigen wollen. Hier sind kaum einheitliche Kriterien zu gewinnen, ohne daß wir vorweg eine Gesamtvorstellung von der Gesellschaft besitzen. D i e Frage nach Jugend, Hexerei, Geselligkeit, Heiratsverhalten oder T o d bedarf jeweils behutsamer integrativer Analysen, wenn man über allgemeine und oberflächliche Aussagen hinauskommen will. 12 Die Lösung dieser Probleme für einen interkulturellen Vergleich hängt entscheidend davon ab, was intendiert ist. Erstrebt man auf der vergleichenden Basis eine umfassende Geschichte z.B. der Jugend, so müssen Einzelbeobachtungen so verallgemeinert werden, daß spezifische Ausformungen einer Gesellschaft verlorengehen. Will man aber berücksichtigen, was Jugend in den verschiedenen Gesellschaften bedeutet und dabei unterschiedliche Bilder, Interpretationen, Umgangsformen eruierten, so müssen sie nebeneinander bestehen bleiben. Die Funktion des Vergleichs ist es dann, das je Spezifische zu verdeutlichen, die Unterschiede oder Vergleichbarkeiten herauszustellen. Damit Einzelphänomene vergleichbar werden, muß einmal eine Sprache entwickelt werden, die unterschiedlichen Kulturen gerecht wird, zum anderen aber müssen der soziale Kontext, die Kultur, die Tradition, die politisch-staatliche Organisation und die ökonomisch-materiellen Kapazitäten und Bedingungen im Umfeld dieser Einzelphänomene berücksichtigt
werden.
Schließlich
muß
Klarheit
darüber
bestehen, ob man durch den Vergleich die unterschiedlichen
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Bedeutungen eines Phänomens unter den je spezifischen Voraussetzungen zu ihrer Klärung selbst oder als Beispiel für gesellschaftlichen Umgang überhaupt herziehen will, um zu erfahren, welche Möglichkeiten es für die gesellschaftliche Organisierung des menschlichen Lebens gibt. Der große interkulturelle Vergleich steht noch aus, die ausgereiftesten Vergleiche liegen im Bereich der Familienstruktur, der politischen Kultur und der religiösen Systeme vor. Im Zusammenhang einer Untersuchung über „Die Entwicklung Europas - ein Sonderweg" forderte Michael Mitterauer 1999: „Eine genetisch-interpretative Beschäftigung mit Phänomenen des europäischen Sonderwegs führt letztlich in eine interkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft. Sie kann ja nicht auf eine simple Gegenüberstellung: hier Europa, dort der Rest der Welt, reduziert werden. Vielmehr muß sich eine solche interkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft neben dem europäischen Sonderweg auf die Vielfalt anderer Sonderwege einlassen. Davon sind wir heute weit entfernt. Es wird den Historikern aber nicht erspart bleiben, sich solchen neuen Aufgaben zu stellen. Unterschiede zwischen historisch gewachsenen Kulturräumen treten immer stärker ins Bewußtsein und schaffen Erklärungsbedarf. Die sich beschleunigenden Globalisierungsprozesse bedeuten für die Geschichtswissenschaft eine enorme Herausforderung." 13
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SCHLUSS
Die historische Anthropologie entwickelte sich aus einem interdisziplinären Diskurs Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre, als es darum ging, den einzelnen Menschen hinter den vielen Informationen der Institutions- und Strukturgeschichte wiederzuentdecken und das menschliche Denken und Handeln von - auch einfachen - Leuten zu verstehen. Eine klare Zielsetzung und Programmatik bildete sich aber erst im Laufe fortschreitender Forschungen heraus. Bemerkenswert ist von Anfang an die Konzentration auf die Geschichte der Frühen Neuzeit, die so nah und fern war, daß anthropologische Problemstellungen hier rasche Aufnahme fanden. Aber auch in den neuen Bewegungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Alltags- und Erfahrungsgeschichte sowie der neuen Kulturgeschichte folgte bald eine Diskussion über neue anthropologische Methoden. Zunächst begann man mit Aufsätzen zu theoretischen Fragestellungen, denen aber rasch empirische Analysen aus den verschiedensten Bereichen über die unterschiedlichsten Themen folgten, die eine sehr breite Resonanz fanden. Mittlerweile liegt auch eine stattliche Zahl von Monographien vor, die allesamt den interdisziplinären wie internationalen Diskurs so förderten, daß anthropologische Fragestellungen fast zur Selbstverständlichkeit wurden, während ihrer Institutionalisierung nicht in gleicher Weise entsprochen wurde. Trotz der Vielzahl von Themen, die aufgegriffen und bearbeitet wurden, ist das Feld der historischen Anthropologie noch so offen, daß eine kritische Bilanz vorerst kaum gezogen werden, geschweige eine stärkere Berücksichtigung in allgemeinen Darstellungen erfolgen kann. Beträchtliche Defizite sind im Bereich von Politik, Wirtschaft und Arbeit erkennbar, vor allem blieb die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bislang ausgespart.
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Aber trotz dieser Unausgewogenheit der Ergebnisse zeitigte die historisch-anthropologisch orientierte Geschichtsschreibung eine beträchtliche Wirkung sowohl auf die Geschichtswissenschaft wie vor allem auf die Wissenschaftskultur. Einmal wird entschiedener als früher nach der subjektiven Bedeutung politischer Ereignisse, ökonomischen Wandels oder kultureller Prozesse gefragt. Zweitens eröffnen sich neue Themenfelder, die die ganze Breite des menschlichen Lebens reflektieren, wobei der Bereich des Privaten nicht mehr ausgeklammert wird. Durch ihr methodisches Bewußtsein stärkt die historisch-anthropologische Arbeitsweise drittens eine Geschichtsschreibung, die es möglich macht, Geschichte in ihrer Komplexität nachzuvollziehen. Viertens werden alle Grenzen zwischen den Disziplinen, den Zeiten und Ländern durchlässig, so daß nun unabhängig von Perioden, Gesellschaften und Methoden allgemeine Probleme des Umgangs des Menschen mit sich und der Gesellschaft thematisiert werden. Schließlich vermittelt die Offenlegung des Handlungsraums von Individuum und Gruppe in der Geschichte die Einsicht, daß es keine zwanghaften Prozesse gibt, die ohne Beteiligung der Menschen denkbar sind. Eigene Kultur und Tradition werden somit kontexthaft erfaßt und Blicke für andere Welten geöffnet. Indem Werte und Perspektiven relativiert werden, gelingt eine auf den Menschen bezogene Geschichtsschreibung, die die Geschichte als einen offenen Prozeß und nicht sosehr durch Strukturprozesse determiniert begreift. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Mensch, der seine Geschichte produziert, seinen Handlungsspielraum stets behält. Mit den Interessen an der Organisation menschlichen Lebens und Uberlebens macht die historische Anthropologie die Brüchigkeit menschlichen Lebens erfahrbarer, kann aber zugleich den Willen stärken, eigene Wege zu gehen. „Mehr noch, das Studium der Vergangenheit schärft die moralische Sensibilität und stellt Mittel für ein kritisches
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Verständnis bereit. Ganz gleich, wie schlimm die Zeiten sein mögen, welch ungeheuerliche Grausamkeiten verübt werden, Opposition regt sich hier und da doch, es gibt Regungen der Freundlichkeit und Güte. Wie hart und beengt die Situation auch sein mag, man behilft sich, improvisiert, um sie doch zu überstehen. Ganz gleich, was geschieht, die Menschen werden weiter Geschichten darüber erzählen und sie der Zukunft hinterlassen. Wie bleiern und verzweiflungsvoll die Gegenwart auch aussehen mag, die Vergangenheit erinnert uns daran, daß ein Wandel kommen kann. Am Ende kann doch alles anders sein. Die Vergangenheit ist unendlich reizvoll und bisweilen sogar eine Quelle der Hoffnung" so Natalie Z. Davis in ihren „Lebensgängen" von 1998.
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ANMERKUNGEN
EINLEITUNG 1.
Auf Anregung des Wissenschaftsrates und der Westdeutschen Rektorenkonferenz wurde unter Leitung von W. Frühwald eine Denkschrift verfaßt, die unter dem Titel: „Geisteswissenschaften heute" (1991) erschien. Hier schrieb Hans Robert Jauß: „Es ist das Erkenntnisziel einer ,Anthropologisierung des Wissens', die sich in so verschiedenen Forschungsbereichen wie der Epistemologie, der Begriffs- und Mentalitätsgeschichte, der Psychologie oder der Biologie anzeigte, die Schranken zwischen Ethnologie und Geschichte abbaute und das Wissen von der Natur und von der Geschichte des Menschen auf neue Weise wieder zusammenführte. Das neue Interesse an einer historischen Anthropologie ist darauf gerichtet, die Befunde einer ahistorisch begründeten Disziplin wie der deskriptiven Ethnologie zu vergeschichtlichen, wie umgekehrt die anthropologische Dimension von Sprache, Historie und Ästhetik zu erschließen. Das Interesse solcher Forschung führt über das traditionelle und auch institutionell noch eurozentrische Wissenssystem hinaus, benötigt eine Hermeneutik interkultureller Kommunikation (,Hermeneutik der Fremdheit') und erfordert, regionalistische Schwerpunktforschung (wie Afrikanistik, Südamerikanistik u.a.m.) aus ihrer Isolation zurückzuholen, um ihre Befunde für eine allgemeine Theoriebildung fruchtbar zu machen. Die sich neu formierende historische Anthropologie erstreckt sich von den Ansätzen zu einer Archäologie der Formen und Gattungen mündlicher und verschriftlicher Kommunikation bis zu dem noch ganz offenen Problem der Veränderung von Kulturgewohnheiten, die der Siegeszug der Medientechnologien nach sich zieht." (70/71).
2.
Allgemein zum Strukturwandel in der Geschichtskultur der letzten 10 Jahre: vgl. u.a. F. Braudel u.a., Der Historiker als Menschenfresser. Uber den Beruf des Geschichtsschreibers (1990); Gg. G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert (1993); Chr. Conrad - M. Kessel (Hg.), Geschichte
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3. 4.
schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion (1994); W. Hardwig - H.U. Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute (1996); Th. Mergel - Th. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte (1997). Eine nähere Beschreibung und Analyse unserer gegenwärtigen Geschichtskultur existiert nicht. Wichtiger Uberblick: G. Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung (1996). Hier setzte ich Überlegungen fort, die ich erstmals in: Historische Anthropologie in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung (GWU 42) 1991 und in: Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit. Entwicklung - Probleme Aufgaben (GG 21) 1995 formuliert habe.
ENTWICKLUNG 1. 2. 3.
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6. 7.
Vgl. u.a. H. Heer - V. Ullrich (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung (1985). Vgl. u.a. A. Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen (1989). Vor allem: H.U. Wehler, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft (1973); Ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte I (1987); J. Kocka, Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung Probleme (1977, 19862); Ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze (1989); M. Heuling - P. Nolle (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte (1998). Etwas dürftig nun: H.U. Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte (1998). Vgl. u.a. P. Blickte (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich (1980); Ders., Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800 (1988); W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (1980); Ders. (Hg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit (1982). P. Kriedte, H. Medick, J. Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus (1977). Kl. Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert (1977); Ders., Proletarische Provinz.
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14.
Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900-1945 (1981); F. Brüggemeier, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau (1983). Vgl. u.a. W. Ruppert (Hg.), Die Arbeiter. Lebensformen, Alltag und Kultur (1986). Vgl. v.a. H. Medick, „Missionare im Ruderboot?" Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: G G 10 (1984) 295-319; Den., Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: J. Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (1992) 167-178. Vgl. R. Berdahl u.a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung (1982); H . Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte (1984); R. Habermas - N. Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Beiträge zur historischen Anthropologie (1992). Vgl. H . Bausinger, Volkskunde. Von der Altertumskunde zur Kulturanalyse (1976); H. Gerndt, Kultur als Forschungsfeld. Uber volkskundliches Denken und Arbeiten (1981). Vor allem dazu: N. Schindler, Spuren in der Geschichte der a n d e ren' Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: R. van Dülmen - N . Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert) (1984) 13-77. Grundlegend nun: W. Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie (1999). Zum Konzept der Mentalitätsgeschichte vgl. u.a. R. Reichardt, „Histoire des Mentalités", in: Intern. Archiv f. Sozialgesch. d.dt.Literatur 3 (1978) 130-166; V. Sellin, Mentalität und Mentalitätsgeschichte, in: H Z 241 (1985) 55-98; H. Schulze, Mentalitätsgeschichte - Chancen und Grenzen eines Paradigmas der französischen Geschichtswissenschaft, in: G W U 36 (1985) 247-70. Aufschlußreich ist nach wie vor die Kontroverse zwischen R. Darnton und R. Chartier. R. Damton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution (1989); R. Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung (1989); vgl. auch P. Bourdieu u.a., Dialog über die Kunstgeschichte, in:
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Freibeuter 26 (1985) 22-37; D. La Capra, Geschichte und Kritik (1985). Vgl. u.a. I.L. Flandrin, Familien. Soziologie. Ökonomie. Sexualität (1978); A. Burguiere u.a. (Hg.), Geschichte der Familie, 4 Bde. (1996/7; franz. 1986); M. Segalen, Die Familie. Geschichte. Soziologie. Anthropologie (1990). Vgl. auch A.E. Imhof, Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und von der Kunst des Lebens (1988). Allgemein zur Diskussion: A. Lüdtke, Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit. Entpolitisierung der Sozialgeschichte, in: R. Berdahl u.a. (Hg.), Klassen und Kultur 321-53; D. Peukert, Neuere Alltagsgeschichte und Historische Anthropologie, in: Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie 57-72; F. Brüggemeier - J. Kocka (Hg.), ,Geschichte von unten - Geschichte von innen'. Kontroversen um die Alltagsgeschichte (1985); P. Borscheid, Alltagsgeschichte. Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit, in: W. Schieder - V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland III (1987) 78-109; vor allem Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. D. Peukert, Neuere Alltagsgeschichte und Historische Anthropologie, in: Süßmuth (Hg.), Hist. Anthropologie 64. Gelesen wurden weiterhin auch: K. Thomas, Religion and the Décliné of Magic. Studies of Populär Beliefs in Sixteenth and Seventeenth Century England (1971); J.-Cl. Schmitt, Der heilige Windhund. Die Geschichte des unheiligen Kults (1981); N.Z. Davis, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers (1986); D. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit (1986); M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1987); A. Farge, Das brüchige Leben. Verführung und Aufruhr im Paris des 18. Jahrhunderts (1989); Damton, Katzenmassaker. van Dülmen-Schindler (Hg.), Volkskultur 10. G. Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: G G 14 (1988) 364-391. C. Lipp, Überlegungen zur Methodendiskussion. Kulturanthropologische, sozialwissenschaftliche und historische Ansätze zur Erforschung der Geschlechterbeziehung, in: Frauenalltag - Frauenforschung (1988) 2 9 ^ 5 , hier 30. Ebd. 36.
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24. Ebd. 35. 25. Es referierten R. van Dülmen, E. Saurer, N. Schindler, E. Dillmann und W. Kaschuba. 26. Ihn erhielten u.a. E. Labouvie, B. Schuster, G. Signori, D. Barkhop, S. Kienitz. 27. J. Martin, Das Institut für Historische Anthropologie, in: Saeculum 33 (1982) 375-380. 28. Um R. van Dülmen und E. Labouvie. 29. Um M. Mitterauer und E. Saurer. 30. Um O. Ulbricht. 31. G. Gebauer u.a., Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung (1989).
PROBLEME 1.
2.
Der Interpretation des Wesens der Menschen, des allgemein Menschlichen verpflichtet blieben nicht nur die älteren Vertreter der historischen Anthropologie wie Th. Nipperdey (Die anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (1976) 33-58); J. Martin (Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie, in: Freiburger Universitätsblätter 126 (1994) 35-46) und W. Lepenies (Probleme einer Historischen Anthropologie, in: R. Rürup (Hg.), Historische Sozialwissenschaft (1977) 126-159), sondern auch die Herausgeber der „Paragrana". Vgl. u.a. G. Gebauer u.a., Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung (1989) 7-11. Vgl. allgemein: P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1979); H. Siissmuth (Hg.), Historische Anthropologie. Der Mensch in der Geschichte (1984); Medick, „Missionare im Ruderboot"; A. Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien (1991) (bes. Einleitung); R. Habermas - N. Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Beiträge zur Historischen Anthropologie (1992) 56-82; U. Daniel, „Kultur" und „Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: GG 19 (1993) 69-99; R. Sieder, Sozialgeschichte
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5.
auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft? in: GG 20 (1994) 445-468; O. Ulbricht, Aus Marionetten werden Menschen. Die Rückkehr der unbekannten historischen Individuen in die Geschichte der Frühen Neuzeit, in: E. Chvojka, R. van Dülmen, V. Jung (Hg.), Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis (1997) 13-32. Karl Marx, Der 18te Brümaire des Louis Napoleon, in: K. Marx - M. Engels Werke Bd. 8 (1960) 115. Paradigmatisch u.a.: N.Z. Davis, Die wahrhaftige Geschichte der Wiederkehr des Martin Guerre (1989); R. Beck, Frauen in Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: R. van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung (1992); R. Habermas, Frauen und Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frankfurt der Frühen Neuzeit, in: R. van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition (1992); A. Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus (1993); J. Peters, Wegweiser zum Innenleben? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchungen populärer Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit, in: HA 1 (1993) 235-249; O. Ulbricht, Die Welt eines Bettlers um 1775. Johann Gottfried Kästner, in: HA 2 (1994) 371-398; S. Kienitz, Sexualität, Macht und Moral. Prostitution und Geschlechterbeziehungen am Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte (1995); L. Roper, Odipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit (1995); K. Schreiner - G. Schwerhoff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit (1995); N.Z. Davis, Drei Frauenleben (1996); H. Medick, Weben und Uberleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte (1996); A.-Ch. Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 (1996); P. Burgard, Tagebuch einer Revolte. Ein städtischer Aufstand während des Bauernkriegs von 1525 (1997); M. Dinges, „Historische Anthropologie" und „Gesellschaftsgeschichte". Mit dem Lebensstilkonzept zu einer „Alltagskulturgeschichte der frühen Neuzeit", in: Zs.f.hist. Forschung (1997) 179-214. Allgemein vgl. zum neuen Kulturverständnis: J.-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kul-
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turanthropologie (1978); M. Sahlins, Kultur und praktische Vernunft (1981); Berdahl u.a., Klassen und Kultur; E.P. Thompson, Volkskunde, Anthropologie und Sozialgeschichte, in: ders., Plebejische Kultur und moralische Ökonomie 290318; R. van Dülmen - N . Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert) (1984); R. Chartier, Kulturgeschichte zwischen Repräsentation und Praktiken, in: ders., Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung (1989) 7-20; E. Berg - M. Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation (1993); A. Assmann - D. Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument (1991); D. Bachmann - H . Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft (1996); P. Burke, Eleganz und Haltung (1997). Vgl. zum Problem Volkskultur: P. Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit (1981); R. Muchembled, Kultur des Volkes - Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung (1982); van Dülmen-Schindler (Hg.), Volkskultur, bes. Einleitung von Schindler; R. Chartier, Volkskultur und Gelehrtenkultur. Uberprüfung einer Zweiteilung und einer Periodisierung, in: H.U. Gumbrecht - K. Linke-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie (1985); Kaschuba, Volkskultur. Vgl. u.a. R. Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von ,Kultur' (1972); Williams, Innovationen; Thompson, Plebejische Kultur und moralische Ökonomie; Ders., Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung (1980). C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (1983) 46; vgl. auch M. Sahlins, Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawai (1986); R. Isaac, Geschichte und Anthropologie - oder: Macht und (Be-)Deutung, in: H A 2 (1994) 107-130. Hardtwig-Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute. Vgl. hierzu: Thompson, Plebejische Kultur; Bourdieu, Theorie der Praxis; H. Medick - D. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozial-anthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung (1984); Lüdtke (Hg.), All-
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tagsgeschichte; Ders., Eigen-Sinn; M. Rheinheimer (Hg.), Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit (1998). 11. Vgl. u.a. H. Hörger, Kirche, Dorfreligion und bäuerliche Gesellschaft. Strukturanalyse zur gesellschaftsgebundenen Religiosität ländlicher Unterschichten des 17. bis 19. Jahrhunderts (1978/83); C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 (1979); Ders., Die Benandanti. Feldkultur und Hexenwesen im 16. und 17.Jahrhundert (1980); F.M. Phayer, Religion und das gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit von 1750-1850 (1980); W. Schieder (Hg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (1986); R. van Dülmen (Hg.), Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.-20. Jahrhundert (1987); Ders., Religion und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit (1989); J.C1. Schmitt, Der heilige Windhund (1989); R. Habermas, Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der Frühen Neuzeit (1991); E. Labouvie, Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit (1991); Dies., Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraums (16.-19. Jahrhundert) (1992); N. Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens. Predigt und Publikum in der Frühen Neuzeit, in: HA 1 (1993) 359-93; J.-Cl. Schmitt, Heidenspaß und Höllenangst. Aberglauben im Mittelalter (1993); R. Walz, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf. Frühneuzeitliche Hexenverfolgung in der Gesellschaft Lippe (1993); R. Schlägel, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt. Köln - Aachen - Münster 1700-1840 (1995). 12. A. Suter, „Trouble" im Fürstentum Basel (1726-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand; D. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit (1986); P. Burgard, Tagebuch einer Revolte. Ein städtischer Aufstand während des Bauernkriegs 1525 (1998); P. Himl, Die „armen Leüth" und die Macht. Konformes und nonkonformes Verhalten der Angehörigen einer frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Gemeinde, Herrschaft und Kirche (Diss. masch. 1999) 13. C. Honegger - B. Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen (1981); N.Z.
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Davis, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit (1986); C. Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/9 (1989); H. Wunder, „Er ist die Sonn , sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit (1992); S. Kienitz, Sexualität, Macht und Moral (1995); E. Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt (1998). J. Goody, Literalität in traditionalen Gesellschaften (1981); R. Chartier, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit (1990); R. Chartier - G. Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm (1999). Vgl. v.a. Medick, Weben und Überleben in Laichingen. Zum Problem der ^Autonomie' der Kultur vgl. allgemein Geertz, Dichte Beschreibung; Williams, Innovationen; Thompson, Plebejische Kultur. A. Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis (1991), vgl. v.a. die vorzügliche Einleitung. Vgl. u.a. B. Ziemann, Die Eskalation des Tötens in zwei Weltkriegen, in: R. van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000 (1998) 411-429. Vgl. u.a. H.U. Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: Geschichtliche Grundbegriffe 4 (1978) 93-131; H. Herzog R. Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (1987); R. van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung (1992). Vgl. allgemein D. Ribeiro, Der zivilisatorische Prozeß (1971); G. Freyre, Herrenhaus und Sklavenhütte. Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft (1982); Ders., Das Land in der Stadt. Die Entwicklung der Urbanen Gesellschaft Brasiliens (1982). Vgl. u.a. K. Schlägel, Kommunalka - oder: Kommunismus als Lebensform. Zu einer historischen Topographie der Sowjetunion, in: HA 6 (1998) 329-346. Vgl. allgemein: Medick, Weben und Uberleben in Laichingen. Vgl. u.a. J. Kocka, Perspektiven für die Sozialgeschichte der neunziger Jahre, in: W. Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie (1994) 33-39; W. Schulze, Mikrohistorie - Makrohistorie. Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion, in: Chr. Meier - J. Rüsen (Hg.), Historische Methode (1988)319-341.
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24. Ginzburg, Käse und Würmer. 25. E. LeRoy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor (1980) 1294-1324; Ders., Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579-1580 (1982). 26. N.Z. Davis, Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich (1987); Dies., Drei Frauenleben (1996). 27. R. Damton, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution (1989). 28. R. Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne (1993). 29. Medick, Weben und Uberleben in Laichingen. 30. P. Burgard, Tagebuch einer Revolte. Ein städtischer Aufstand während des Bauernkriegs 1525 (1998). 31. Medick, Weben und Überleben in Laichingen 29. 32. Vgl. u.a. St. Bretter, Sozialdisziplinierung. Probleme und Problemverlagerungen eines Konzeptes bei Max Weber, Gerhard Oestreich und Michel Foucault, in: Ch. Sachße - Fl. Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung (1986); van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2. 33. Vgl. Th. Sokoll, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, in: Th. Mergel - Th. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft (1997), 233-271. 34. Vgl. R. Chartier, Text, Symbol und Frenchness: Der Historiker und die symbolische Anthropologie, in: Ders., Die unvollendete Vergangenheit (1989) 58-72; D. La Capra, Geschichte und Kritik (1987). 35. Vgl. u.a. L. Stone, The Revival of Narrative, in: Past and Present 85 (1979) 3-24, u.a. 36. Zu W. Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie (1994) 76. THEMEN 1.
Vgl. u.a. Burgard, Tagebuch einer Revolte; Habermas, Wallfahrt und Aufruhr; Kienitz, Sexualität, Macht und Moral; Labouvie, Andere Umstände; Roper, Ödipus und der Teufel; Sabean, Das zweischneidige Schwert; Schindler, Widerspenstige Leute; R. Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstif-
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3. 4. 5. 6. 7. 8.
9. 10. 11.
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12. Vgl. u.a. O. Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit (1995); R.P. Sieferle - H. Breuninger (Hg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte (1998); G. Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung (1999) bes. S. 112ff.; A. Blauen - G. Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (1999). 13. Vg. B. Müller-Wirthmann, Raufhändel. Gewalt und Ehre auf dem Dorf, in: R. van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute (1983) 79-111; Kl. Schreiner - G. Schwerhoff (Hg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (1995). 14. M. Dinges, Formenwandel der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias, in: SieferleBreuninger (Hg.), Kulturen der Gewalt 171-194. 15. Vgl. u.a. B. von Krusenstjern - H. Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe (1999); B. Ziemann, Die Eskalation des Tötens in zwei Weltkriegen; in: R. van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen (1998) 411-129. Allgemein vgl. R.W. Brednich - W. Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur (1994). 16. Vgl. u.a. Ph. Aries u.a., Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland (1992); A.E. Imhof, Geschichte der Sexualität - Sexualität in der Geschichte, in: Chr. Wulf (Hg.), Lust und Liebe. Wandlungen der Sexualität (1985) 181-215; R. van Dülmen (Hg.), Körper-Geschichten. Studien zur historischen Kulturforschung (1996); C. Bynum, Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, in: HA 4 (1996) 1-33; J. Tanner, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, in: HA 2 (1994) 489-502; Kl. Schreiner - N. Schnitzler (Hg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (1992); D. Erlach - M. Reisenleitner - K. Vocelka (Hg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der Frühen Neuzeit (1994). 17. N. Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. (19692). 18. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, 3 Bde. (1977-86); ders., Uberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1976).
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19. Vgl. v.a. die Arbeiten von A. Imhof. 20. Vgl. u.a. H. Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland (1993); G. Vigarello, Wasser und Seife, Puder und Parfüm. Geschichte der Körperhygiene seit dem Mittelalter (1988). 21. E. Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur (1992); J. Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., (1985); P. Camporesi, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vorindustriellen Europa (1990). 22. H. Medick; R. Jütte - N. Bulst (Hg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft (1993); D. Roche, La culture des apparences. Une histoire des vêtements (1989). 23. St. Breit, .Leichtfertigkeit' und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit (1991). 24. S. Kienitz, Sexualität, Macht und Moral. Prostitution und Geschlechterbeziehungen Anfang des 19. Jahrhunderts in Württemberg. Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte (1995). 25. B. Schuster, Die freien Frauen. Dirnen- und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert (1995). 26. R. Beck, Frauen in Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: R. van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition (1992) 137— 212.
27. E. Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt (1998). 28. Vgl. allgemein: R. van Dülmen, Religion und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit (1989); W. Schieder, Religion in der Sozialgeschichte, in: Ders. - W. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 3 (1987)9-31. 29. Vgl. u.a. F.M. Phayer, Religion und das gewöhnliche Volk in Bayern von 1750 bis 1850 (1970); M. Scharfe, Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus (1980); W.K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts (1982); W. Freitag, Volks- und Elitenfrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im
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42. Vgl. v.a. Schlumbohm, Lebensläufe; Medick, Weben und Uberleben. 43. van Dülmen, Die Entdeckung des Individuums; M. Sonntag, „Das Verborgene des Herzens". Zur Geschichte der Individualität (1999). 44. A. Hahn - V. Knapp (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis (1987); M. Frank - A. Haverkamp (Hg.), Individualität (1988); J. Peters, Wegweiser zum Innenleben? Möglichkeiten und Grenzen der Untersuchung populärer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit, in: H A 1 (1993) 235—49; W. Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (1996). 45. Vgl. die Bemerkungen von N.Z. Davis, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers (1986) (bes. Bindung und Freizeit); L. Roper, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit (1995) (bes. Einleitung). 46. A. Lüdtke, Eigen-Sinn (1993). 47. Vgl. u.a. U. Beck - E. Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung moderner Gesellschaften (1994). 48. Vgl. allgemein: R. Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland (1500-1800) (1974); J. Goody, Literalität in traditionalen Gesellschaften (1981); E. Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesens. Mentalitätswandel um 1800 (1987); R. Chartier, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit (1990); A. Assmann D. Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument (1991); R. Chartier - G. Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm (1999). 49. Medick, Weben und Überleben 447ff. 50. Bisher systematisch kaum untersucht, vgl. R. Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels (1991) 51. Vgl. u.a. R. Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910 (1970); H.E. Bödeker u.a. (Hg.), Le livre religieuse et ses pratiques. Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit (1991); Medick, Weben und Uberleben in Laichingen 447-560. 52. Chartier - Cavallo (Hg.), Die Welt des Lesens. 53. Ebd.
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54. Vgl. u.a. Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlung des Lebens. 55. Vgl. u.a. W. Müller-Funk - H.U. Reck (Hg.), Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien (1996). 56. E. Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (1983); I. Irsigler - A. Lassotta, Bettler und Gauner, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt (1984); W. Schulze (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (1988); B.U. Hergemöller (Hg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft (19942). 57. B. Martin - E. Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte (1981); J.S. Hohmann, Geschichte der Zigeunerverfolgung in Deutschland (1981); R. von Thadden - M. Magdeleine (Hg.), Die Hugenotten 1685-1985 (1985); B. Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit (1993); P. Martin, Schwarze, Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen (1993); Kl.J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland. Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart (1993). 58. R. van Dülmen, Der ehrlose Mensch. Unehrlichkeit und soziale Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit (1999). 59. Vgl. u.a. E. Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jh. (1983). 60. Exotische Welten - Europäische Phantasien, (Katalog) (1987). 61. Vgl. u.a. G.L. Mosse, Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (1978); H.W. Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie (1987); Kl. von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen (1994). 62. Th. Koebner - G. Pickerodt (Hg.), Die andere Welt (1987). 63. Vgl. u.a. Cl. Honegger - B. Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen (1981). 64. Habermas, Geschlechtergeschichte. 65. K. Hausen - H. Wunder (Hg.), Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte (1992). 66. G. Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: GG 14 (1988) 304-391. 67. H. Wunder - Chr. Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen am Beginn der Neuzeit (1991).
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68. U. Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann". Geschlechter-Differenzen in der Moderne (1995). 69. Labouvie, Andere Umstände. 70. R. Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch-Hall in der Frühen Neuzeit (1995). 71. H. Medick - A.-Ch. Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven (1998). 73. Wunder, „Er ist die Sonn , sie ist der Mond" 9. 74. Vgl. u.a. Medick-Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte 125ff., 171 ff. 75. Th. Kühne (Hg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne (1996). 76. M. Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (1998). 77. Kühne (Hg.), Männergeschichte 23. AUFGABEN 1. W. Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, MikroHistorie (1994); J. Schlumbohm (Hg.).Mikrogeschichte - Makrogeschichte - komplementär oder inkommensurabel? (1998). 2. S. Kracauer, Geschichte - Von den letzten Dingen (1971) 116-118; vgl. auch C. Ginzhurg, „Mikro-Historie". Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: HA 1 (1993) 169— 192. 3. Vgl. u.a. Chr. Conrad - M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion (1994); Th. Mergel - Th. Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte (1997). 4. Vgl. v.a. die Untersuchungen von A. Lüdtke u.a., Eigen-Sinn (1993). 5. H. Medick, „Missionare im Ruderboot?". Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in GG 10 (1984), 295-319. 6. Erste Beiträge dazu: A. Lüdtke (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis (1991); ders.: .Sicherheit' und ,Wohlfahrt'. Polizei, Gesellschaft und Herrschaft im 19. u. 20. Jh. (1992).
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7. Vgl. u.a. R. Chartier, Geistesgeschichte oder histoire des mentalités?, in: D. La Capra - St.L. Kaplan (Hg.), Geschichte denken. Neubestimmung und Perspektiven moderner europäischer Geistesgeschichte (1988) 11-45. 8. U.a. R. van Dülmen, Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisation. Die Zivilisationstheorie im Lichte der historischen Forschung, in: Ders., Gesellschaft der Frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß (1993) 361ff. 9. Untersuchungen zu Problemen von Ursachen fehlen z.B. völ10. Zum Problem der Interkulturalität vgl. A. Wierlacher, Interkulturalität. Zur Konzeptualisierung eines Leitbegriffs interkultureller Literaturwissenschaft, in: Interpretation 2000: Positionen und Kontroversen. Festschrift für H. Steinmetz (1999). 11. Beispiel: J. Martin - A. Nitschke (Hg.), Zur Sozialgeschichte der Kindheit (1986) 6; vgl. auch die anderen Bände des Instituts f. historische Anthropologie in Freiburg. 12. S. 60
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LÜDTKE, ALF (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt-New York 1989 DERS., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993 MAUSS, MARCEL, Soziologie und Anthropologie, 2 Bde., München 1974 MEDICK, HANS, „Missionare im Ruderboot"? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: G G 10(1984) 295-319 DERS., Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996 DERS., Historische Anthropologie, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik (19975) 213-217 DERS. - ANNE-CHARLOTT TREPP (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998 MERGEL, THOMAS - THOMAS WELSKOPP (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997 MITTERAUER, MICHAEL, Familie und Arbeitsteilung. Historisch vergleichende Studien, Wien-Köln-Weimar 1992 DERS., Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien 1990 RAULFF, ULRICH (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987 RHEINHEIMER, MARTIN (Hg.), Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit, Neumünster 1998 ROPER, LYNDAL, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt 1995 SAHLINS, MARSHALL, Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt 1981 SCHINDLER, NORBERT, Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1992 SCHLÖGEL, RUDOLF, Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt - Köln, Aachen, Münster - 1700-1840, München 1995 SCHLUMBOHM, JÜRGEN (Hg.), Mikrogeschichte. Makrogeschichte komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998 SCHNYDER-BURGHARTZ, ALBERT, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700 - Vorindustrielle ländliche
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der
Kulturanthropologie.
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Die Herausforderung
der
Kulturge-
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS
S. 6
Heinrich Kley, Im Kruppschen Walzwerk in Essen, aus: Chronik der Deutschen. Gütersloh/München, J1995, S. 718. S. 12 Gustave Dore, Illustration zu Jules Vernes, aus: R. Williams, Innovationen. Uber den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Frankfurt/M., 1977, Titelblatt. S. 17 Albrecht Dürer, Drei Bauern im Gespräch, aus: R. van Dülmen - N. Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert). Frankfurt/M., 1984, Titelbild. S. 33 August Sander, Kohlenträger in Berlin 1929, aus: R.M. Berdahl u.a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung. Frankfurt/M., 1982, Titelbild. S. 37 Pieter Aertsen, Händler auf dem Markt, aus: Chronik der Deutschen. Gütersloh/München, '1995, S. 331. S. 40 Frauen suchen ihre Geschichte. Plakat, Verlag C.H. Beck. S. 44 Palast der Republik und Berliner Dom, aus: P. Dubilski, Berlin, 21991, S. 118. S. 48 Matthäus Merian, Dorf im 17. Jahrhundert, aus: R. van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2, Dorf und Stadt 16.-18. Jahrhundert. München, 1992, S. 11. S. 52 Karl Marx, aus: W. Hug u.a., Geschichtliche Weltkunde, Bd. 2, Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Ende der 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M., 21977, S. 177. S. 53 Max Weber, aus: Brockhaus Enzyklopädie. Wiesbaden "1974, Bd. 20, S. 87. S. 57 „Hexengebräu", aus: Abraham Saur, Eine kurtze Treue Warnung. Frankfurt, 1582. S. 62 H. U. Franck, Bauernrache an einem Marodeur, aus: S. u. W. Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Köln, 1986, S. 34. S. 67 Hendrick ter Brugghen, Lautenspieler und Mädchen mit Glas, aus: Holländische Malerei in neuem Licht. Hendrick ter Brugghen und seine Zeitgenossen. Braunschweig, 1987, S. 121.
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S. 69
Pascal Dagnan-Bouveret, Das gesegnete Brot (1885), aus: R. Rosenblum, Die Gemäldesammlung des Musee d'Orsay. Köln, 1989, S, 135. S. 76 Johann Michael Voltz, Biedermeierküche, aus: A. Kuhn (Hg.), Die Chronik der Frauen. Dortmund, 1992, S. 329. S. 79 Frans von Mieris, Junge Dame vor dem Spiegel (um 1670), aus: Von Frans Hals bis Vermeer. Meisterwerke holländischer Genremalerei. Berlin, 1984, S. 239. S. 82 Ludolf de Jongh, Die letzte Nachricht (1657), aus: Von Frans Hals bis Vermeer. Meisterwerke holländischer Genremalerei. Berlin, 1984, S. 199. S. 87 Landfahrende des 16. Jahrhunderts, aus: A. Kuhn (Hg.), Die Chronik der Frauen. Dortmund, 1992, S. 223. S. 90 Peter van der Borcht, Der faule Handwerker, aus: Antwerp Drawings and Prints. 16,h-17,h centuries. Antwerpen 1976, Tafel 60. S. 96 Holzschnitt (um 1530), aus: W. Hug u. a., Geschichtliche Weltkunde, Bd. 2, Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Ende der 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M., 21977, S. 17. S. 99 Aus: B. Robertson, Intensivkurs Zeichnen. Garantiert Zeichnen lernen in 500 Übungen. Augsburg, 1990, S. 204205. S. 103 Aus: H . Ottomeyer (Hg.), Biedermeiers Glück und Ende ... die gestörte Idylle 1815-1848. München, 1987, S. 205. S. 105 Völkertafel aus der Steiermark Anfang 18. Jahrhundert (Ausschnitt), aus: Exotische Welten - Europäische Phantasien. Stuttgart, 1987, S. 124.
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i HISTORISCHE ANTHROPOLOGIE Kultur Gesellschaft -
-
Alltag
Herausgegeben u.a. von: Richard v a n Dülmen, Alf Lüdtke, Hans Medick, Michael Mitterauer.
jgMm Erscheinungsweise: dreimal Jährlich Einzelheft D M 38,-/sFr 3 5 , - / ö S 277,-. Jahrgang D M 8 8 . - / sFr 8 0 , - / ö S 6 4 2 , (für Studierende D M 6 8 , - / sFr 6 2 , - / ö S 496,-)
Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit historischer Praxis, in der die Menschen sich Welt aneignen, steht im Blickpunkt der Zeitschrift Historische Anthropologie. Befindlichkeiten und Einstellungen, Deutungen und Imaginationen, Verhaltensund Handlungsweisen sollen in ihren historisch-sozialen Bezügen untersucht und dargestellt werden. Es geht darum, in den gesellschaftlich-kulturellen Verhältnissen und alltäglichen Lebenswelten der Vergangenheit die Gleichzeitigkeiten von »Fremdem« und »Eigenem«, von »langer Dauer« und rapidem Wandel zu erschließen. Historische Anthropologie bildet ein Forum für die wissenschaftliche Diskussion aktueller Themen und neuer Zugangsweisen zur Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Die Zeitschrift hat ihren Schwerpunkt auf dem mitteleuropäischen Raum, gleichzeitig soll sie den historischen Blick auf außereuropäische Kulturen öffnen. Historische Anthropologie legt Wert auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und bringt Wissenschaft »ins Gespräch«: sie bietet Materialien und Diskussionsstoff fiir eine an historisch-kultureller Selbstverständlichkeit interessierte Gegenwart. Bitte fordern Sie unser Probeheft an!
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# Richard v a n D ü l m e n
Der ehrlose M e n s c h Unehrlichkeit und s o z i a l e A u s g r e n z u n g in d e r Frühen N e u z e i t
1999. 128 Seiten. Broschur. ISBN 3-412-12498-2
Warum war für Henker, unehrliche Handwerker, Diebe und Selbstmörder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft kaum Platz? Der Autor stellt diese Fragen aus einem historisch-anthropologischen Blickwinkel. Er entschlüsselt den Ehrenkodex der Ständegesellschaft und zeigt in essayistischer Form, welche konkreten Folgen der Ehrverlust für die Betroffenen hatte. •O
a Andrea van Dülmen
Das Irdische Paradies B ü r g e r l i c h e Gartenkultur der Goethezeit
1999. 328 Selten. 70, zum T«M farbige A b b i l d u n g e n . G e b u n d e n
mit Schutzumschlag. ISBN 3-412-12598-9
Dieses »Gartenbuch« läßt ein Stück bürgerlicher Alltagskultur zwischen Aufklärung und Biedermeier Wiederaufleben. Es schildert, wie bürgerliche Gärten zwischen 1770 und 1830 angelegt waren, welches reiche Leben sich dort abspielte und welche Werte sich in diesem »irdischen Paradies« des Bürgers widerspiegeln.
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bohlauWienaktuell Richard van Dülmen (Hg.) Erfindung des Menschen Schöpfungstraum und Körperbilder 1998. 682 S. u. 8 Falttafeln, 350 SW- u. 30 Farb-Abb. Geb. (1. unv. ND.) ISBN 3-205-98873-6 Der vorliegende Band dokumentiert die Transformationen und Reprisen im Denken über das Menschsein auf eine beeindruckende vielschichtige Weise. (Damals 1/99) Der dicke Band eröffnet nicht nur interessante Einzelperspektiven, sondern bietet insgesamt eine überzeugende, klar vermittelte Kulturgeschichte der Neuzeit. Früher gab es, vor allem in bürgerlichen Wohnungen, sogenannte Hausbücher. Zu Beginn unseres Jahrhunderts trugen sie Titel wie „Die christliche Familie" oder auch „Germania". Wenn es diese Gattung noch gäbe - dies könnte ein modernes Hausbuch werden, fundiert, reich illustriert und gut lesbar. (Hermann Bausinger, Professor, Tübingen) ... die Aufsätze sind durchweg von souverän dargebotener Informationsdichte und von hoher Qualität. Ausnahmslos haben sie sich der Disziplin des Gesamtthemas, der problemorientierten Darstellung der Körpervorstellungen in der Neuzeit unterstellt. So ist ein Buch wie aus einem Guß entstanden. (Gottfried Korff, Professor, Tübingen)
Erhard Chvojka/Richard van Dülmen/Vera Jung (Hg.) Neue Blicke Historische Anthropologie in der Praxis 1997. 336 S. 7 SW-Abb. Br. ISBN 3-205-98668-7
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Richard van Dülmen Gesellschaft der frühen Neuzeit: Kulturelles Handeln und sozialer Prozeß Beiträge zu einer historischen Kulturforschung 1993. 404 S. Br. ISBN 3-205-98003-4 Erhältlich in Ihrer Buchhandlung!