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German Pages 200 Year 2014
Historische Forschungen Band 101
Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Stefan Brakensiek Corinna von Bredow Birgit Näther
Duncker & Humblot · Berlin
Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit
Historische Forschungen Band 101
Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit
Herausgegeben von Stefan Brakensiek Corinna von Bredow Birgit Näther
Duncker & Humblot · Berlin
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Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-14150-0 (Print) ISBN 978-3-428-54150-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84150-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Herrschaftsvermittlung in der Frühen Neuzeit. Fallstudien zu Territorien des Alten Reichs und der Habsburgermonarchie im internationalen Vergleich (1650 – 1800)“, die am 20./21. Oktober 2012 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen stattgefunden hat. Wir danken Prof. Dr. Klaus Leggewie und seinem Team ganz herzlich für die Professionalität und die unprätentiöse Gastfreundschaft, mit der wir im KWI empfangen worden sind. Das Ziel dieser Konferenz bestand darin, die Ergebnisse der empirischen Arbeiten der Projektbearbeiterinnen zu Niederösterreich, Flandern, Bayern und Hessen-Kassel im Lichte der Ergebnisse anderer Forschungen vergleichend zu diskutieren. Darüber hinaus sollte überlegt werden, ob sich das dem Projekt zugrunde liegende Konzept der Herrschaftsvermittlung als tragfähig erwiesen hat, welche neuen empirischen Erkenntnisse auf seiner Basis gewonnen werden können und in welchen Hinsichten eine konzeptionelle Weiterentwicklung angebracht erscheint. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung sei für ihre großzügige Bereitschaft gedankt, sich mit ihrem fachlichen Wissen und mit Enthusiasmus dafür zur Verfügung gestellt zu haben. Essen, im November 2013
Stefan Brakensiek Corinna von Bredow Birgit Näther
Inhaltsverzeichnis Stefan Brakensiek Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . .
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Corinna von Bredow Die niederösterreichischen Kreisämter als Scharnier zwischen Landesregierung und Untertanen – Kommunikationsprozesse und Herrschaftspraxis . . . . . . . . . .
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Peter Collmer Dreieckskommunikation in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Vier Thesen und ein Quellenbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Simon Karstens Verteidiger des Glaubens und Verteidiger von Interessen. Herrschaftssicherung durch Kirchen- und Konfessionspolitik am Beispiel Karls VI. in den Südlichen Niederlanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hanna Sonkajärvi Supplikationen als Mittel zur Herrschaftsvermittlung in den Österreichischen Niederlanden im 18. Jahrhundert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bettina Severin-Barboutie Herrschaft durch Kommunikation im napoleonischen Empire. Eingabepraktiken im Großherzogtum Berg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nicolás Brochhagen Zur Akzeptanz fürstlicher Herrschaft vor Ort. Landesherrliche Visitation und diskursive Praxis lokaler Akteure (Hessen-Kassel, 17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . 107 Birgit Näther Produktion von Normativität in der Praxis: Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht . . . . . . . . . . . . 121 Klaus Margreiter Die gute Schreibart in Geschäften. Normen und Praxis der Verwaltungssprache ca. 1750 – 1840 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Birgit Emich Verwaltungskulturen im Kirchenstaat? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Stefan Haas Verwaltungsgeschichte nach Cultural und Communicative Turn. Perspektiven einer historischen Implementationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Barbara Stollberg-Rilinger Schlusskommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit Von Stefan Brakensiek, Essen Die Ausdifferenzierung von Verwaltungsbehörden aus der Hofhaltung der Fürsten markiere den Beginn moderner Staatlichkeit in Europa – so oder ähnlich formulieren es die älteren Handbücher zur Geschichte der Frühen Neuzeit und namentlich die Überblicke zur Verwaltungsgeschichte1. Die deutschsprachige Historiographie verband damit traditionell eine Geschichte des Fortschritts: In ihr erscheint der bürokratische Militär- und Machtstaat als ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum modernen Anstalts- und Verfassungsstaat. Von dieser ,staatsfrommen‘ Perspektive ist die Geschichtsschreibung vollkommen abgerückt. Selbst die Idee vom absoluten Fürstenstaat2 erscheint mittlerweile weitgehend dekonstruiert. An die Stelle eines Bildes unbeschränkter Fürstenmacht sind Vorstellungen getreten, denen zufolge begrenzt kooperationsbereite Untertanen und ständische Eliten die Machtvollkommenheit der Fürstenstaaten einhegten beziehungsweise deren Autorität für eigene Zwecke nutzten3. Auch die Bürokratie, die traditionell als ein Werkzeug in Händen der Fürsten und ihrer Minister gesehen wurde, hat im Zuge neuerer Forschung ihre funktionale Eindeutigkeit eingebüßt. Zwar dominiert weiterhin die auf Max Weber zurückgehende Vorstellung, dass Herrschaft im Alltag Verwaltung sei. Wenn sich die fürstlichen Herrschaftszentralen mit unübersehbaren Problemen konfrontiert sahen, wird dies jedoch meist mit der Unabgeschlossenheit des Staatsbildungsprozesses, mit den widerstreitenden Interessen von Amtsträgern und Adelseliten oder mit der Traditionsgebundenheit der Gesellschaften insgesamt erklärt. Es sei auch 1 Peter Moraw, Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter (ca. 1350 – 1500) in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh, Stuttgart 1983, 21 – 65, 35 – 49 (Königliche Verwaltung im Spätmittelalter), 54 – 58 (Reichsverwaltung); Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in: ebd., 66 – 143, 109 – 114 (Herausbildung landesherrlicher Räte). 2 Ein Indiz dafür ist beispielswiese die Umbenennung von Band 11 des Oldenbourg Grundriß der Geschichte. Die ersten drei Auflagen trugen den Titel Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, München 1989 – 1998. Die vierte Auflage firmiert unter Heinz Duchardt, Barock und Aufklärung, München 2007. 3 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2., durchg. Aufl., München 2000, 183 – 235.
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nicht in Abrede gestellt, dass Probleme bei der ,Umsetzung‘ von Gesetzen und fürstlichen Befehlen damit zu tun hatten, dass die ,ausführenden‘ Behörden, insbesondere die Behörden in der Provinz, zu schwach besetzt waren, mit unzureichend ausgebildetem Personal zurechtkommen mussten und in einem gesellschaftlichen Umfeld agierten, das ihnen entweder feindlich entgegentrat, oder sie so weitgehend in die vorherrschende Patronagelogik des Gebens und Nehmens einband, dass der Wille des Fürsten zu einem Faktor unter vielen reduziert wurde4. Zu fragen ist freilich, wie das Verhältnis zwischen fürstlicher Herrschaft und Administration beschaffen war, und ob Befehl und Gehorsam überhaupt den vorherrschenden Modus ihrer Kommunikation bildete. Hier setzen die Artikel dieses Bandes an, indem sie den Formen der Kommunikation nachgehen, die das Feld administrativen Handelns strukturierten. Es geht dabei um die Bedingungen der Möglichkeit herrschaftlichen Handelns qua Verwaltung. Damit schließt sich der Band den jüngeren Konzepten zur Erforschung der guten Policey an, die nicht länger von der Durchsetzung fürstlicher Initiativen, sondern von der Implementation von Ordnungsvorstellungen handeln5. Freilich spielen an dieser Stelle die Inhalte solcher Ordnungsentwürfe keine Rolle, hier geht es stattdessen um die Analyse der Kommunikationsprozesse selbst, um dadurch das Verhältnis von Herrschaft und Verwaltung genauer bestimmen zu können6. Einige Beiträge akzentuieren das kommunikative Handeln von Akteuren im Rahmen von Verfahren7, mithin in herrschaftlich geformten administrativen Settings. Damit gerät das Dreiecksverhältnis zwischen Fürstenherrschaft, Verwaltung und Untertanen in den Blick. Auf andere Weise gilt das auch für jene Artikel, die sich mit der Sprache 4 Die Forschung zur Stellung des Klientelismus innerhalb des europäischen Staatsbildungsprozesses ist nahezu unübersehbar. Für die deutschsprachige Forschung maßgeblich Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen – „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg, 14), München 1979. Europäische Überblicke bei Antoni Ma˛czak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der frühen Neuzeit, München 1988; Ronald G. Asch/A. M. Birke (Hrsg.), Princes, patronage, and the nobility. The court at the beginning of the modern age c.1450 – 1650, Oxford 1991; Charles Giry-Deloison/Roger Mettam (Hrsg.), Patronages et clientélismes 1550 – 1750 (France, Angleterre, Espagne, Italie), Lille 1995; Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt am Main u. a. 2011. 5 Michael Stolleis/Karl Härter/Lothar Schilling (Hrsg.), Policey im Europa der Frühen Neuzeit (Ius Commune, 83), Frankfurt am Main 1996; Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Ius Commune, 129), Frankfurt am Main 2000; Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt am Main 2000. 6 Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politischadministrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950, hrsg. von Stefan Haas/Mark Hengerer, Frankfurt am Main/New York 2008, 9 – 22. 7 Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer (Hrsg.), Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (Beiheft der ZHF, 44), Berlin 2010.
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der Verwaltung befassen8, die mithin das Medium dieser Kommunikation problematisieren. Schließlich fokussieren mehrere Beiträge den Organisationscharakter von Verwaltungen9, um der Frage nachzugehen, ob administratives Handeln – wie üblicherweise behauptet wird – auf herrschaftliche Initiativen zurückging, oder inwieweit bestimmte Handlungsweisen aus dem Prozess des Verwaltens auch ohne Zutun der fürstlichen Zentrale erwuchsen.
I. Konzepte Den Ausgangspunkt bilden die konzeptuellen Überlegungen, die dem Essener Projekt „Herrschaftsvermittlung in der Frühen Neuzeit“ zugrunde lagen. Danach bedarf jede Herrschaft der Vermittlung ihrer Ziele und Zwecke an die Betroffenen. Hierzu wurden in den Fürstenstaaten spezifische Verfahren entwickelt, die der Kommunikation zwischen herrschaftlicher Zentrale, Behörden und Untertanen eine Form gaben. Bei den im Projekt untersuchten Verfahren handelt es sich zum einen um Supplikationen, zum anderen um Visitationen und Berichte, die von Untertanen eingeholt oder behördlicherseits über sie verfasst wurden. Diese Verfahren machten einen wesentlichen Teil des zeitgenössischen Verwaltungshandelns10 aus. Wegen ihrer Eigenschaft, der Kommunikation zwischen Obrigkeiten und ,Administrierten‘ eine Form zu verleihen, bildeten Eingaben, Berichte und Visitationen prägende Elemente der politischen Kultur des Ancien Régime. Wir sind mit der Erwartung an die Projektarbeit herangegangen, dass die Untersuchung der entsprechenden Aktenüberlieferung zur Klärung einiger grundlegender Fragen beitragen kann, inwieweit nämlich solche Verfahren zur Funktionsfähigkeit der Fürstenstaaten beitrugen, ob Sie Chancen zur Teilhabe zumindest für Teile der Untertanenschaft eröffneten, inwiefern sie zur Legitimität des Fürstenregiments beitrugen, und ob man verfahrensbasierte Lernprozesse auf Seiten der Obrigkeiten und der Untertanen erkennen kann. Für Kommunikationsprozesse unter Ungleichen wird vielfach der Begriff Aushandeln von Herrschaft verwendet. Dabei handelt es sich um einen Terminus, der lediglich den universell gültigen Umstand benennt, dass jeder Herr der Kooperation 8 Lutz Raphael, Die Sprache der Verwaltung. Politische Kommunikation zwischen Dorf und Verwaltern, in: Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, hrsg. von Norbert Franz u. a., Mainz 1999, 183 – 206. Weitere Nachweise finden sich in den Beiträgen von Klaus Margreiter und Stefan Haas. 9 Es sei auf die Artikel von Birgit Näther, Stefan Haas und Birgit Emich verwiesen mit ausführlichen Nachweisen der organisationssoziologischen und neoinstitutionalistischen Literatur. 10 Das Projekt befasst sich weder mit der Heeres- und Finanzverwaltung, noch mit justizförmigen Verfahren. Es war den Beteiligten bewusst, dass fast nirgends in den frühneuzeitlichen Fürstenstaaten eine säuberliche Trennung zwischen allgemeiner Verwaltung, Kammerverwaltung und Justiz bestand. Die untersuchten Aktenbestände zeugen entsprechend von der juristischen Expertise der ausfertigenden Amtsträger, sie wurden jedoch nicht in gerichtlichen Verfahren verwendet. Insofern erscheint uns der anachronistische Begriff ,Verwaltungshandeln‘ verzeihlich.
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seiner Untergebenen bedarf. Diese Grunderkenntnis greift das Konzept Herrschaftsvermittlung zwar auf, bezieht jedoch die frühneuzeitlichen Amtsträger als Vermittler und die epochenspezifischen Institutionen der Vermittlung systematisch in die Analyse ein11. Mit empowering interactions hat André Holenstein12 einen weiteren zentralen Aspekt dieser verfahrensbasierten Kommunikation auf den Begriff gebracht: Indem sich Untertanen an eine Behörde oder direkt an den Fürsten wandten, schrieben sie ihnen Macht zu, die sie ohne dieses Ersuchen nicht gehabt hätten. Sie verhalfen dem Landesherren und seinen Behörden darüber selektiv zu Informationen, zugleich fragten sie autoritative Ressourcen ab, die ihren Forderungen gegenüber Dritten Geltung verschaffen sollten. Unseres Erachtens werden mit Herrschaftsvermittlung und empowering interactions zwei unterschiedliche Blickrichtungen auf das gleiche Phänomen eingenommen. Die Analyse von Berichtsverfahren, Supplikationen und Visitationen rückt die Schnittstellen von fürstlicher Herrschaftssphäre, obrigkeitlicher Verwaltung und Untertanenschaft ins Zentrum des Interesses. Im Fokus der gemeinsamen Arbeit stehen die kommunikativen Prozesse, die zwischen diesen verschiedenen Akteursgruppen abliefen. Wir haben auf der Grundlage von vier regionalen Fallstudien untersucht, inwieweit Verfahren, welche die Kommunikation zwischen Untertanen und Fürstenstaat rahmten und formten, den Landesherrschaften Zugang zu Informationen eröffneten, die zur Kontrolle und Disziplinierung der zuständigen Verwaltungen, aber auch der Grundherrschaften des Adels und der kirchlichen Institutionen genutzt werden konnten. Eine auffällige Gemeinsamkeit der untersuchten Verfahren besteht nämlich darin, dass sie verschiedene Formen der Dreiecks-Kommunikation generieren. Solche Triangulierung fügte partizipative Elemente in das Herrschaftssystem ein. Durch die Einbeziehung von Untertanen in die Herrschaftskommunikation konnte ein beachtliches Kontrollpotential der Fürsten gegenüber örtlichen und regionalen Obrigkeiten aufgebaut werden, dessen Realisierung allerdings mit einem enormen Aufwand verbunden war. Wir sind zunächst von der Hypothese ausgegangen, dass funktionierende Formen von Dreiecks-Kommunikation zwischen fürstlicher Zentrale, regionalen beziehungsweise lokalen Amtsträgern und Untertanen geeignet waren, die Legitimität eines Regiments insgesamt zu stärken13. Zunehmend stellte sich uns jedoch die 11 Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, hrsg. von Stefan Brakensiek/Heide Wunder, Köln/ Weimar/Wien 2005, 1 – 21. 12 André Holenstein, Introduction: Empowering Interactions. Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 – 1900, hrsg. von Wim Blockmans/André Holenstein/Jon Mathieu, Farnham 2009, 1 – 31. 13 Stefan Brakensiek, Legitimation durch Verfahren? Visitationen, Supplikationen, Berichte und Enquêten im frühmodernen Fürstenstaat, in: Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer, Herstellung und Darstellung von Entscheidungen, 363 – 377.
Einleitung
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Frage, ob diese Annahme grundsätzlich berechtigt ist, oder ob nicht das fürstliche Versprechen, Gehör zu gewähren, angesichts der Realitäten frühmoderner Staatlichkeit oftmals eher für Frustrationen bei den adressierten Untertanen sorgte und dadurch erhebliche Risiken barg. Legitimitätsgewinne auf der Grundlage von Herrschaftsvermittlung setzten jedenfalls Erreichbarkeit, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit und relative Verlässlichkeit der Gerichte und Behörden voraus. In diesen Hinsichten lassen sich in Europa große Unterschiede erkennen. Zahlreiche Fürsten des Alten Reichs haben im 17. und 18. Jahrhundert besonders ausgeprägt auf die ganze Breite der herrschaftsvermittelnden Kommunikationsformen gesetzt. Veranlasst wurden sie dazu durch mehrere Faktoren, die es ihnen geraten erscheinen ließ, ihre Legitimationsbasis möglichst zu verbreitern: ihre vielfach durch die anderen Reichsstände moderierte und kontrollierte Stellung innerhalb des Reichsverbandes, die konfessionelle Konkurrenz unter den Fürstenstaaten, die Tendenz zur Verrechtlichung von Konflikten, die von den Reichsgerichten und den landesherrlichen Gerichten gleichermaßen getragen wurde, schließlich auch die vergleichsweise bescheidene Dimension der meisten Territorien. Da geboten es die politische Klugheit, das Vorbild anderer Fürsten und die eigene dynastische Tradition, ein ,offenes Ohr‘ für den ,gemeinen Mann‘ zu haben und diese Bereitschaft auch ostentativ gegenüber der territorialen und der Öffentlichkeit des Reichs zu demonstrieren. Zu diesem Zweck wurden mit Supplikations- und Berichtswesen sowie mit Visitationen Kommunikationswege vorgehalten, auf denen sich die Untertanen immediat beim Fürsten beschweren konnten. Auf diesen ,hausväterlichen‘ Herrschaftsstil der Reichsfürsten ist die Bezeichnung akzeptanzorientierte Herrschaft14 gemünzt. Im Rahmen des Projekts sind insbesondere Corinna von Bredow und Hanna Sonkajärvi der Frage nachgegangen, ob es gerechtfertigt ist, das Konzept akzeptanzorientierter Herrschaft auch auf eine große zusammengesetzte Monarchie wie das Imperium der Habsburger zu übertragen. In regionalen Fallstudien wurden sowohl die normativen und organisatorischen Grundlagen der administrativen Verfahren als auch die Praxis des Verwaltungshandelns untersucht. Wir haben dabei zunächst eine Perspektive eingenommen, die in der Tradition der bürokratietheoretischen Annahmen von Max Weber steht, wonach Herrschaft im Alltag Verwaltung sei. Es ging um die Beantwortung der Frage, wie Herrschaft qua Verwaltung in der Praxis ausgeübt wurde. Die Rolle der lokalen und regionalen Behörden als Mittler zwischen Fürstenherrschaft und Untertanen bildeten dabei den gemeinsamen Fluchtpunkt. Erst im Verlauf der Projektarbeit hat sich eine weitere Perspektive ergeben: Aus diesem Blickwinkel werden die verwaltungsinternen Prozesse fokussiert, um der Frage nachzugehen, welche Schnittstellen sich zwischen Verwaltungshandeln und Landesherrschaft ergeben. Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Frage, inwieweit Bürokratien möglicherweise eigenständig han14 Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche (HZ Beihefte, 49), hrsg. von Helmut Neuhaus, München 2009, 395 – 406.
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delten: Sind womöglich administrative Binnenlogiken zu erkennen, die eigenen Zwecken folgen und es erlauben, von einer Verwaltungskultur zu sprechen, die sich klar von einer Implementationslogik fürstlicher Anordnungen abhebt? Wenn diese Annahme zutrifft, ist nicht allein die Schnittstelle zwischen Obrigkeiten – bestehend aus anordnender fürstlicher Zentrale und ausführender und dabei vermittelnd tätiger Verwaltung – und einzelnen Untertanen, situativen Zusammenschlüssen und Korporationen von Interesse. Vielmehr bewirkt dann auch das organisationelle Eigenleben von Administrationen historischen Wandel. II. Verfahren: Supplikationen, Visitationen, Berichte Als Gegenstände einer vergleichenden Untersuchung boten sich solche Verfahren an, die von den europäischen Fürstenstaaten weithin genutzt wurden, um Informationen zu beschaffen, die Loyalität von Amtsträgern zu überprüfen, Entscheidungen zu begründen sowie deren Erfolg zu kontrollieren. Dazu gehört das Eingabewesen (Bittschriften bzw. Supplikationen und Beschwerden bzw. Gravamina), das in der jüngeren Vergangenheit bereits intensiv analysiert worden ist15. Untersuchungen zum Berichtswesen und zu landesherrlichen Visitationen, die für den frühneuzeitlichen Staatswerdungsprozess besonders charakteristisch waren, liegen zwar für Teil15
Beat Kümin/Andreas Würgler, Petitions, Gravamina and the early modern state: local influence on central legislation in England and Germany (Hesse), in: Parliaments, Estates and Representation, hrsg. von International Commission for the History of Representative & Parliamentary Institutions, Aldershot 1997, 39 – 60; Rosi Fuhrmann/Beat Kümin/Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa, hrsg. von Peter Blickle, München 1998, 267 – 323. Vgl. außerdem Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, Berlin/Bologna 2001; Martin Paul Schennach, Supplikationen, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18. Jahrhundert) (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 44), hrsg. von Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer, Wien/ München 2004, 572 – 584; Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.) Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005. Forschungsüberblick bei: Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: C. Nubola/A. Würgler, Bittschriften und Gravamina, 17 – 52. Zu Gnadengesuchen: Nathalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988; Karl Härter, Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, hrsg. von Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Konflikte und Kultur, 1), 459 – 480; ders., Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz, in: C. Nubola/A. Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina, 243 – 274; Sabine Ullmann, Vm der Barmherzigkait Gottes willen: Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Rolf Kießling/Sabine Ullmann, Konstanz 2005, 161 – 184; Ulrike Ludwig, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548 – 1648 (Konflikte und Kultur, 16), Konstanz 2008.
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bereiche ebenfalls vor, allerdings ohne dass ihr Potential für die historische Forschung auch nur annähernd ausgeschöpft wäre. Supplikationen, die Untertanen unmittelbar unter Umgehung des gerichtlichen oder behördlichen Instanzenzuges an den Fürsten richten konnten, bildeten einen unverzichtbaren Bestandteil des fürstlichen Verwaltungssystems. Es gehörte zu den zeitgenössisch üblichen Rechten eines Untertanen, mittels einer schriftlichen Eingabe beim Landesherrn immediat Beschwerde gegen lokale Amtsträger einzulegen, in Strafsachen um Gnade zu bitten, allgemein Anregungen für policeyliche Verbesserungen vorzubringen oder ein Privileg zu erbitten. Überall in Europa fütterten die Supplikationen der Untertanen den Prozess aus allgemeiner Normgebung und individueller Privilegierung und Gnadengewährung. Die Zeitgenossen sahen in Privileg und Gnade nämlich nicht nur einen sinnfälligen Ausdruck fürstlicher Majestät, sondern auch systematisch anzuwendende Mittel, Normen in Anbetracht lokaler oder persönlicher Umstände zu modifizieren und zu flexibilisieren16. Renate Blickle argumentiert aufgrund ihrer Untersuchung von Supplikationen im Herzogtum Bayern sogar, dass die Herausbildung neuer administrativer Strukturen im 15. und 16. Jahrhundert aus der Nachfrage der Untertanen nach fürstlichen Entscheidungen resultierte17. Bislang ist eine weitere wesentliche Funktionen von Supplikationen erst in Ansätzen untersucht: Sie eröffneten den Untertanen einen legitimen Weg, um sich beim Fürsten über das Handeln lokaler Amtsträger zu beschweren, was die Zentralverwaltungen überhaupt erst in den Stand versetzte, ihre entlegeneren Provinzen zumindest ansatzweise zu kontrollieren. Bei den Visitationen handelte es sich um aufwändige Inspektionsverfahren, die von der mittelalterlichen römischen Kurie entwickelt worden waren, in der Frühen Neuzeit jedoch von kirchlichen18 und weltlichen Obrigkeiten gleichermaßen genutzt
16 André Holenstein, Die Umstände der Normen – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: K. Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, 1 – 46; André Holenstein, Kommunikatives Handeln im Umgang mit Policeyordnungen. Die Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ronald Asch/Dagmar Freist, Köln/ Weimar/Wien 2005, 191 – 208; André Holenstein, „Ad supplicandum verweisen“. Supplikationen, Dispensationen und die Policeygesetzgebung im Staat des Ancien Régime, in: C. Nubola/A. Würgler, Bittschriften und Gravamina, 167 – 210. 17 Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: P. Blickle, Gemeinde und Staat, 241 – 266. 18 Ernst Walter Zeeden/Hansgeorg Molitor (Hrsg.), Die Visitation im Dienste der kirchlichen Reform, Münster 1977; Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang (Hrsg.), Kirche und Visitation, Stuttgart 1984; Peter Thaddäus Lang, Die Bedeutung der Kirchenvisitation für die Geschichte der Frühen Neuzeit. Ein Forschungsbericht, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 3 (1984), 207 – 212; ders., Die Erforschung der frühneuzeitlichen Kirchenvisitationen. Neuere Veröffentlichungen in Deutschland, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), 185 – 193; ders., Visitationsprotokolle und andere Quellen zur
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wurden. Die spezifischen Funktionsweisen der Visitationen von Kirchengemeinden, die im 16. und 17. Jahrhundert in vielen Territorien im Zuge der Konfessionalisierung eingesetzt wurden, sind in Einzelstudien eingehend untersucht worden19. Wesentlich ungünstiger stellt sich dagegen der Forschungsstand zu den Visitationen dar, die auch oder vor allem weltliche Angelegenheiten betrafen20. Visitationen waren strafbewehrte Kontrollverfahren, die sich stets auf die Amtsträger, bisweilen auch auf die Untertanen erstreckten. Zumeist wurde Periodizität angestrebt: Jährliche, zum Teil sogar vierteljährliche Wiederholung galt als ideal, faktisch blieb man hinter diesem Anspruch meist weit zurück. Lediglich die regelmäßige Prüfung der Rechnungen von Kommunen, Steuereinnehmern und Korporationen gehörte zum üblichen Standard wohlverwalteter Territorien21. Frömmigkeitsgeschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, hrsg. von Michael Maurer, Stuttgart 2002, 302 – 324. 19 Helga Schnabel-Schüle, Kirchenleitung und Kirchenvisitation im deutschen Südwesten, in: Repertorien der Kirchenvisitationsakten aus dem 16. und 17. Jahrhundert in Archiven der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Baden-Würtemberg Teilband II, Tübingen 1987, 15 – 33; Frank Konersmann, Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat. Studien zu den herrschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken 1410 – 1793, Köln 1996; Werner Freitag, Pfarrer, Kirche und ländliche Gemeinschaft. Das Dekanat Vechta 1400 – 1803, Bielefeld 1998; Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster (1570 – 1800), Münster 2000; Frank Konersmann, Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur, 1), hrsg. von Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff, Konstanz 2000, 603 – 625; Rudolf Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation. Gemeindliche Öffentlichkeit und Visitation im 16. Jahrhundert, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, hrsg. von Werner Rösener, Göttingen 2000, 241 – 261. 20 Überblick bei Thomas Klingebiel, Ein Stand für sich? Lokale Amtsträger in der Frühen Neuzeit. Untersuchungen zur Staatsbildung und Gesellschaftsentwicklung im Hochstift Hildesheim und im älteren Fürstentum Wolfenbüttel, Hannover 2002, 99 – 140. Den engen Zusammenhang zwischen beiden Formen der Visitation betont Helga Schnabel-Schüle, Kirchenvisitation und Landesvisitation als Mittel der Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen, in: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Heinz Duchhardt/Gert Melville, Köln 1997, 173 – 186. Alexander Denzler hat in seiner bislang unveröffentlichten Dissertation die Visitation des Reichskammergerichts untersucht. Erste Ergebnisse finden sich in Alexander Denzler, Zwischen Arkanum und Öffentlichkeit: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776, in: Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, hrsg. von Anja Amend-Traut u. a., München 2012, 69 – 96. 21 Ernst Klein, Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500 – 1870), Wiesbaden 1974; Peter Claus Hartmann, L’Administration financiere en Europe au XVIIIe siècle. Quelques aspects comparatifs, in: Histoire Comparée de l’Administration (IVe-XVIIIe siècles), hrsg. von Werner Paravicini/Karl Ferdinand Werner, München 1980, 534 – 538; Hermann Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit, Berlin 1982; Gerhard Fouquet, Gemeindefinanzen und Fürstenstaat in der Frühen Neuzeit: Die Haushaltsrechnungen des kurpfälzischen Dorfes Dannstadt (1739 – 1797), in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 136 (1988), 247 – 291; Werner Buchholz, Öffentliche Finanzen
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Alltäglicher und verbreiteter als Visitationen waren Berichtsverfahren. Den meisten Entscheidungen eines Fürsten ging eine Kaskade von Aufforderungen voraus, zu dem fraglichen Sachverhalt erschöpfend Stellung zu nehmen, so dass zunächst die Zentralbehörden, in größeren Territorien dann die regionalen Zwischeninstanzen, anschließend die lokalen Amtsträger des Fürsten ihre ,unmaßgeblichen‘ Gutachten einbrachten22. Hierbei ließ man es häufig nicht bewenden, sondern zog die städtischen Magistrate und die Vorsteher der Landgemeinden, eventuell auch betroffene Korporationen und Gemeindedeputierte heran, deren Informationen zu weiteren Nachfragen der vorgesetzten Behörden Anlass gaben. Von der Visitation unterschied sich das Berichtsverfahren durch das Fehlen einer strafbewehrten Denunziationspflicht. Beim Berichtswesen überwog der Zweck, Informationen zu beschaffen, während die Visitation darüber hinaus eine offensichtlich disziplinierende Seite aufwies. Obwohl die Berichtsverfahren extrem zeitraubend und anfällig für Verzögerungstaktiken und Störmanöver waren, wurden sie unverdrossen beibehalten: Offenbar neigte man in vielen fürstlichen Verwaltungen zu der Ansicht, dass diese aufwändigen Verfahren sowohl zur Beschaffung von Informationen, als auch zur Implementierung von Anordnungen erforderlich waren. Das Projekt hat sich mit den Fragen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat. Landesherr und Landstände in Schwedisch-Pommern 1720 – 1806, Köln/Weimar/Wien 1992; Peter Rauscher, Verwaltungsgeschichte und Finanzgeschichte. Eine Skizze am Beispiel der kaiserlichen Herrschaft (1526 – 1740), in: Thomas Winkelbauer/Michael Hochedlinger (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, Wien 2010, S. 185 – 211. 22 Die historische Forschung hat sich zunächst vor allem mit der Geschichte der älteren, qualitativen und den jüngeren, quantifizierenden Statistik befasst. Vgl. dazu Mohammed Rassem/Justin Stagl, Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16.–18. Jahrhundert, Paderborn 1980; Justin Stagl, A History of Curiosity. The Theory of Travel 1550 – 1800, Chur 1995; Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert, hrsg. von Lars Behrisch, Frankfurt am Main 2006. Erst in den letzten zehn Jahren sind vermehrt Überlegungen angestellt worden, was einen Wissensbestand zu einer maßgeblichen Information qualifizierte und wie diese Informationen erhoben, verarbeitet und gespeichert wurden, wodurch sie für Regierungen, Verwaltungen, eventuell auch weitere Nutzer überhaupt erst relevant erschienen. Vgl. Arndt Brendecke/Markus Friedrich/ Susanne Friedrich, Information als Kategorie historischer Forschung. Heuristik, Etymologie und Abgrenzung vom Wissensbegriff, in: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, hrsg. von Arndt Brendecke/Markus Friedrich/Susanne Friedrich (Pluralisierung und Autorität, 16), Berlin 2008, 11 – 44; Justin Stagl, Thesen zur europäischen Fremd- und Selbsterkundung in der Frühen Neuzeit, in: ebd., 65 – 79; André Holenstein, Gute Policey und die Information des Staates im Ancien Regime, in: ebd., 201 – 213; Wolfgang E. J. Weber, „Das ärgste Hindernus einer Sache ist die Unwissenheit“. ,Wissen‘, ,Information‘ und Informationsbeschaffung in der Politikwissenschaft des 17. Jahrhunderts, in: ebd., 259 – 276; Susanne Friedrich, „Zu nothdürfftiger information“. Herrschaftlich veranlasste Landeserfassungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Alten Reich, in: ebd., 301 – 334; Arndt Brendecke, Das ,Buch der Beschreibungen‘. Über ein Gesetz zur Erfassung Spanisch-Amerikas von 1573, in: ebd., 335 – 358; Lars Behrisch, Zu viele Informationen! Die Aggregierung des Wissens in der Frühen Neuzeit, in: ebd., 455 – 473; Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540 – 1773, Frankfurt am Main 2011.
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befasst, inwieweit nicht nur die fürstliche Amtsträgerschaft, sondern auch Stände, Kommunen, Korporationen und einzelne Haushaltsvorstände in das Berichtswesen integriert wurden, weil man dadurch konkrete Hinweise erhält für die Bereitschaft von Obrigkeiten und privilegierten Teilen der Untertanenschaft, zu bestimmten Sachverhalten zu kooperieren. Die Forschung zur Implementation von Maßnahmen der guten Policey in den Reichsterritorien hat herauspräpariert, dass Gesetzgebungsverfahren häufig flankiert wurden von Befragungen von im weitesten Sinne Betroffenen, die ihre Sicht der Dinge in diese Prozesse einbrachten. Es sei betont, dass selbst wenn die von Untertanen artikulierten Haltungen und Interessen keine weitere Berücksichtigung fanden, der Fürst und seine Amtsträgerschaft durch die Abforderung eines ,unmaßgeblichen‘ Gutachtens hatten erkennen lassen, dass sie ihre Meinung wertschätzten. Darüber hinaus wurde auf diese Weise allgemein bekannt, welchen Sachverhalten die Obrigkeit aktuell besondere Aufmerksamkeit schenkte. Diese Kenntnis ließ sich von den involvierten Personen nutzen, um künftig auch völlig andere Sachverhalte so zu formulieren, dass sie mit der erkennbar gewordenen Agenda – in der Tat, oder auch nur scheinbar – harmonierten. III. Beiträge Herrschaftsvermittlung und Triangulierung Die beiden ersten Beiträge widmen sich den höchst unterschiedlichen Konstellationen in der Habsburgermonarchie und im Königreich Polen-Litauen im 18. Jahrhundert, was zu kontrastierenden Vergleichen einlädt. Corinna von Bredow widmet sich der Verwaltungspraxis der Kreisämter in Niederösterreich. Diese im Jahre 1753 eingerichteten Behörden auf kleinregionaler Ebene eröffneten den Einwohnern der Dörfer und Städte in den österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie erstmals die Möglichkeit, zur Landesregierung unmittelbar – unter Umgehung der Grundherrschaften – in Kontakt zu treten23. Dagegen analysiert Peter Collmer die di23 Kreisämter wurden von der Wiener Zentrale bereits kurz zuvor in den Ländern der böhmischen Krone eingerichtet. Vgl. Petr Mat’a, Verwaltungs- und behördengeschichtliche Forschungen zu den böhmischen Ländern in der Frühen Neuzeit. Kurzer Überblick über vier lange Forschungstraditionen, in: Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. von Thomas Winkelbauer/Michael Hochedlinger, Wien 2010, 421 – 477. In Ungarn dagegen verbot sich angesichts der politischen Verhältnisse ein solches Vorgehen zunächst; hier verblieb die regionale Rechtsprechung und Verwaltung in Händen von adligen Selbstverwaltungskörperschaften, den sogenannten Komitaten. Vgl. Péter Dominkovits, Das ungarische Komitat im 17. Jahrhundert. Verfechter der Ständerechte oder Ausführungsorgan zentraler Anordnungen?, in: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 24), hrsg. von Petr Mat’a/Thomas Winkelbauer, Stuttgart 2006, 401 – 442. Noch Joseph II. scheiterte in dem Jahrzehnt nach 1785 mit dem Versuch, die ungarischen Komitate durch königliche Verwaltungsbehörden, sogenannte Bezirke, zu ersetzen. Unmittelbar vor seinem Tod wurden die Bezirke wieder aufgelöst und die Komitate in ihre alten, weitreichenden Kompetenzen wieder
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versen Formen der Dreieckskommunikation in der polnisch-litauischen Adelsrepublik während der Herrschaft der beiden Könige aus dem Haus der sächsischen Wettiner zwischen 1697 und 1763. Systematisch unterscheidet er zwischen der Mehrheit der Landesteile, die für die Krone faktisch unkontrollierbar der Herrschaft einzelner Adelshäuser unterstanden, und den weniger umfangreichen Krongütern, auf denen die beiden Könige aus dem Haus der Wettiner hoffen durften, ihre an den Verhältnissen in Kursachsen orientierten Vorstellungen vom guten landesväterlichen Regiment zur Grundlage ihres Verwaltungshandelns zu machen. Da sich die administrative Praxis in Bezug auf die Häufigkeit der Kontakte und die Intensität der Verfahren massiv unterschieden, lassen sich Aussagen zum Stellenwert von Triangulierung treffen. Die beiden Beiträge bieten Antworten auf die Fragen, unter welchen Gegebenheiten von den kontrollierenden und partizipatorischen Möglichkeiten herrschaftsvermittelnder Verfahren Gebrauch gemacht wurde, und welche intendierten und unbeabsichtigten Folgen ihr Einsatz zeitigte. Sie legen nahe, dass sich im 18. Jahrhundert – ausgehend von ganz unterschiedlichen Niveaus – eine allgemeine Tendenz zur Intensivierung verfahrensgestützter Herrschaftskommunikation feststellen lässt. Das Essener Forscherteam hat die Unterschiede in Bezug auf Herrschaftsvermittlung zwischen den Ländern der Habsburgermonarchie24 einerseits und den Territorien des Alten Reichs andererseits genauer heraus präpariert. Die Projektarbeit hat die Annahme bestätigt, dass fundamentalere Unterschiede bestanden zwischen den Ländern des Hauses Habsburg und den Reichsterritorien als unter den Reichsterritorien. So hat sich beispielsweise die Konfessionsdifferenz zwischen Kurbayern und Hessen-Kassel als weniger ausschlaggebend herausgestellt als die Frage der Größenordnung der verschiedenen Territorialverbände. Offenbar waren Größe und Differenziertheit eines Herrschaftskomplexes prägend für die Gestaltung der Kommunikation zwischen Fürsten, Behörden, Adelseliten und Untertanen. Von Herrschaftsvermittlung und Triangulierung lässt sich für die ,composite monarchy‘ der Habsburger25 frühestens seit der Theresianischen Zeit sprechen. Deshalb haben eingesetzt. Vgl. István Szijártó, Komitatsadel und Landtag in Ungarn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Adel und Politik in der Habsburgmonarchie und der Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie, hrsg. von Tatjana Tönsmeyer/Lubos Velek, München 2011, 139 – 150; István Fazekas, Die Verwaltungsgeschichte des Königreichs Ungarn und seiner Nebenländer (1526 – 1848), in: T. Winkelbauer/M. Hochedlinger (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung, 479 – 502; András Vári/Judit Pál/Stefan Brakensiek, Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2014. 24 Vgl. dazu auch die Ergebnisse des Projekts „Lokale Herrschaft im internationalen Vergleich“ Stefan Brakensiek, Rekrutierung lokaler Herrschaftsvermittler unter wechselnden Vorzeichen: Die böhmische Herrschaft Neuhaus, das ungarische Komitat Szatmár und die Landgrafschaft Hessen-Kassel im Vergleich, in: S. Brakensiek/H. Wunder, Ergebene Diener ihrer Herren?, 97 – 122. 25 John H. Elliott, A Europe of composite monarchies, in: Past & Present 137 (1992), 48 – 71; Thomas Fröschl, „Confoederationes, Uniones, Ligae, Bünde“. Versuch einer Begriffser-
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wir uns von der Idee verabschiedet, das Konzept der akzeptanzorientierten Herrschaft auf zusammengesetzte Monarchien zu übertragen. Es sei jedoch noch einmal hervorgehoben, dass sich innerhalb Europas im Verlauf des 18. Jahrhunderts – also schon vor dem Zeitalter von Revolution und Reform – auch in den großen Flächenstaaten eine Tendenz zur Intensivierung verwaltender Tätigkeit durchsetzte, die an die Traditionen des wohlgeordneten Policeystaats gemahnt. Indirekte Herrschaft Zu klären bleibt, worin diese Tendenz gründete: Wie entstand die Überzeugung, bürokratische Modelle direkter Ressourcenextraktion und zentralstaatlicher Wohlfahrtsförderung seien den altbewährten Modellen von Herrschaft durch lokale oder regionale Eliten, die im Auftrag eines fernen Monarchen die Verwaltung vor Ort wahrnahmen, überlegen? Und wie veränderten sich dadurch die Konstellationen der beteiligten Akteure? Bettina Severin-Barboutie thematisiert in ihrem Beitrag diese Problematik von ihrem zeitlichen Ende her. Sie untersucht Supplikationen und Delegationen aus dem napoleonischen Empire, die der Herrschaftsvermittlung zwischen den Gemeinden im Großherzogtum Berg, dessen Zentralverwaltung in Düsseldorf und dem fernen Kaiser Gestalt verliehen. Die napoleonische Zeit gilt bekanntlich als die Epoche, in der eine nach einheitlichen Maßstäben handelnde ,rationale‘ Verwaltung ihre moderne Gestalt gewann26. Auffällig ist freilich die weiterhin hohe Bedeutung von Eingaben für die Gestaltung der Kommunikation zwischen dem Imperator, den Behörden in den einzelnen Staaten des Empire und den Untertanen. Um sein extrem ausgedehntes Herrschaftsgebiet im Blick zu behalten, verließ sich Bonaparte offenbar nicht allein auf seine moderne Administration, sondern zog durchaus auch traditionelle Inspektions- und Kontrollverfahren mit ins Kalkül. Viele Beobachtungen von Bettina Severin-Barboutie zum Großherzogtum Berg weisen Strukturähnlichkeiten nicht nur mit den Befunden von Simon Karstens und Hanna Sonkajärvi zu Flandern im 17. und 18. Jahrhundert auf, sondern sie reichen, zieht man die Arbeiten von Renate Blickle zum Herzogtum Bayern im 16. Jahrhundert heran, zeitlich zurück bis an den Beginn der Neuzeit27. klärung für Staatenverbindungen der frühen Neuzeit in Europa und Nordamerika, in: Föderationsmodelle und Unionsstrukturen. Über Staatenverbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. zum 18. Jahrhundert (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 21), hrsg. von Thomas Fröschl, München 1994, 21 – 44; Joachim Bahlcke, Die böhmische Krone zwischen staatsrechtlicher Integrität, monarchischer Union und ständischen Föderalismus, in: ebd., 83 – 103; Jozef A. Gierowski, Die Union zwischen Polen und Litauen im 16. Jahrhundert und die polnisch-sächsische Union des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ebd., 63 – 82. 26 Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft und Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, 12. 27 R. Blickle, Laufen gen Hof. Die spanische Krone hat besonders frühzeitig große Anstrengungen unternommen, Informationen über ihr ungeheures Kolonialreich zu sammeln. Über die Formen der Beschaffung, Archivierung und Aktualisierung dieser Daten und über die Aporien der damit zusammenhängenden Herrschaftspraxis informiert Arndt Brendecke, Im-
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Simon Karstens befasst sich mit der Wechselbeziehung von weltlichen Herrschaftsträgern und kirchlichen Institutionen in den Südlichen Niederlanden unter Karl VI., also fast ein Jahrhundert vor Napoleon. Er erörtert die Frage, inwiefern die Konfessionspolitik des Wiener Hofes und dessen Interaktion mit Angehörigen der katholischen Kirchenorganisation auf dem Gebiet des heutigen Belgiens und Luxemburgs zur Stabilisierung der habsburgischen Herrschaft beigetragen haben. Hierbei stellt sich die Frage, ob ausgeprägter Konfessionalismus kompensatorisch wirken konnte, wenn die Grundlagen fürstlicher Macht schon wegen der weiten Distanz zwischen Zentrale und Provinz eher schwach ausgebildet waren. Darüber hinaus wird erkennbar, in welchem Maße der ständige Rekurs der Behörden in Wien und der Statthalter in Brüssel auf die spanische Tradition des Hauses Habsburg ihre aktuellen Einflusschancen einhegte. Hanna Sonkajärvi befasst sich mit Supplikationen als Mittel zur Herrschaftsvermittlung und zur Kontrolle von lokalen Eliten im 18. Jahrhundert in Flandern. Ihre Befunde zu den Gesuchen um Dispens vom Verbot, sich von ,fremden‘ Truppen anwerben zu lassen, legen es nahe, dass es bei diesem Supplikations-Verfahren weniger darum ging, eine solche ,missbräuchliche‘ Verhaltensweise wirkungsvoll zu verhüten. Stattdessen verlieh eine solche im Voraus einzuholende Bitte der Habsburgischen Suprematie symbolisch Ausdruck. Und zugleich konnten die Angehörigen der regionalen Eliten auf ihre prinzipielle Loyalität hin überprüft werden. Ausgangspunkt der Ausführungen von Simon Karstens und Hanna Sonkajärvi ist der Umstand, dass die lokalen Verhältnisse in Flandern für die Wiener Zentralbehörden bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein terra incognita blieben, da die örtlichen Behörden den mittleren und höheren Instanzen zwar Bericht erstatteten, ohne dass jedoch ihre Angaben durch Inspektionsverfahren kontrolliert und verifiziert werden konnten. Supplikationen bildeten unter diesen Voraussetzungen das einfachste und wirkungsvollste Mittel indirekter Herrschaft. Das lange Überdauern von Formen der indirect rule in der zusammengesetzten Habsburgermonarchie kann als Hinweis auf deren Funktionalität, möglicherweise auch auf ihre Alternativlosigkeit interpretiert werden. Sprachen der Verwaltung In den Beiträgen von Nicolás Brochhagen und Klaus Margreiter geht es um die Sprachen der Verwaltung. Kommunikation innerhalb von Berichts- oder Visitationsverfahren oder in Supplikationen ging nicht regellos vonstatten, sondern gehorchte einerseits geltenden diskursiven Ordnungen, vermochte andererseits aber auch im Vollzug neue legitime Sprech- und Schreibweisen hervorzubringen. Im Umkehrschluss ist die Analyse der Verfahren also geeignet, epochenspezifische symbolische und sprachliche Formen zu erschließen, die den asymmetrischen Kommunikationsperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/ Weimar/Wien 2009.
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prozessen zugrunde lagen. Ausgehend vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeit richtet sich das Interesse dieser Beiträge somit auf die Hervorbringung symbolischer Ordnungen zur Organisation des Sozialen. Dies basiert auf der Überlegung, dass allgemein akzeptierte Werte, Einstellungen und Wahrnehmungsweisen konstitutiv für die Regulierung politischen Handelns und somit für die Etablierung, Stabilisierung und Verdichtung von Herrschaftsverhältnissen sind. Nicolás Brochhagen hat im Zuge seiner Untersuchung eines landesherrlichen Visitationsverfahrens in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 17. Jahrhundert herausgearbeitet, dass sich im Zusammenhang mit dieser von der landesherrlichen Zentrale eingesetzten politisch-administrativen Technik spezifische diskursive Felder beschreiben lassen. Seine Untersuchungen weisen darauf hin, dass die Akzeptanz der fürstlichen Landesherrschaft seitens lokaler Akteure von ausschlaggebender Bedeutung für deren Einbindung in das Verfahren war, welches konzeptionell auf deren aktive Kooperation angewiesen war. Die diskursive Verknüpfung von Gemeinwohl und Landesherrschaft ermöglichte das Funktionieren des Verfahrens, während der institutionalisierte Kommunikationsraum zugleich einen Rahmen darstellte, in welchem diskursive Praktiken herrschaftslegitimierend wirksam wurden. Somit erlaubte das Verfahren die Artikulation von Beschwerden und Interessenkonflikten bei gleichzeitiger Integration der Akteure in eine übergreifende und allseits akzeptierte Ordnung. Klaus Margreiter widmet sich dem auch heute aktuellen Problem, dass die Sprache der Verwaltung als solche zum Gegenstand eines kritischen Diskurses wird. Dabei ergeben sich zwar strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Debatte über den Kanzleistil in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der heutigen Diskussion über die Unverständlichkeit bürokratischer Ausdrucks- und Handlungsweisen. Gleichwohl war der sattelzeitliche Diskurs jedoch von anderen politischen und ästhetischen Erwartungen geprägt. Festzuhalten ist jedenfalls, dass diskursive Praktiken von Verwaltungen nicht per se legitimierende Wirkungen für einen politischen Status quo erzeugen, sondern ebenso gegenläufige Ordnungsvorstellungen, Subversion und Widerstand hervorbringen können. Im Fokus des Beitrags von Klaus Margreiter stehen diese Deutungskämpfe um eine autorisierte Version gesellschaftlicher Realität, die dann wiederum die Grundlage politischen Handelns darstellte. Verwaltungskultur Die Artikel von Birgit Näther, Stefan Haas und Birgit Emich verstehen sich auf unterschiedliche Art und Weise als konzeptionelle Beiträge zur Kulturgeschichte der frühmodernen Verwaltung. Birgit Näther nimmt die Untersuchung der landesherrlichen Visitationsverfahren in Bayern, die zwischen dem ausgehenden 16. und dem 18. Jahrhundert regelmäßig stattfanden, zum Anlass, um Überlegungen zu den Grundlagen des Verwaltungshandelns anzustellen. Sie gelangt im Zuge ihrer empirischen Arbeit zu der Einschätzung, dass die „Umritte“, wie die Visitationsverfahren in Bayern genannt wurden, trotz wenig detaillierter Anordnungen stattfinden konn-
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ten. Die ausführenden Rentämter standen demnach nicht so eindeutig unter der normsetzenden Gewalt des landesfürstlichen Regiments wie häufig angenommen wird, sondern konnten ein administratives Eigenleben entfalten, zumindest teilautonome Handlungsmöglichkeiten realisieren. Die analysierte Verwaltungspraxis weist in ihrer Ausgestaltung und Komplexität auf Binnenlogiken von Verwaltungen hin, die von einer eigenen Kultur dieser Institutionen zeugen, welche deren Verwaltungshandeln und die Handlungsstrukturen beeinflusste. Das korrespondiert mit den Überlegungen von Stefan Haas zur organisationstheoretischen Grundlegung einer historischen Implementationsforschung. Aus dieser Perspektive wächst der Verwaltungsgeschichte ganz neue Bedeutung zu: Sie ist nicht länger Magd der fürstlichen Herrschaft, sondern der Ort, an dem Politik praktisch und damit überhaupt erst real wird. Es kommt geradezu zu einer Umkehr der Bedeutungszuschreibungen: Was Fürsten und ihre Räte intendierten, indem sie eine Verordnung oder ein Gesetz erließen, ist von weitaus geringerem Belang als die Frage, wie die Verwaltungen vor Ort damit umgegangen sind, welche Bedeutung sie der Anordnung ,ablasen‘, welche Bedeutungsverschiebungen in der Kommunikation des herrschaftlichen Befehls gegenüber den Untertanen sich ergaben. Damit soll keine Autonomie der nachgeordneten Behörden oder die völlige Unkontrollierbarkeit der Lebenswelten durch fürstliches Handeln unterstellt werden. Abweichungen und Änderungen von Anordnungen im Zuge ihrer Implementierung werden jedoch zur erwartbaren Normalität, die Verwaltungsgeschichte wird dadurch dynamisiert. Der Artikel von Birgit Emich führt am Beispiel der Getreidepolitik des Kirchenstaates im 17. Jahrhundert vor Augen, dass im Verwaltungshandeln höchst verschiedene Logiken aufeinander treffen konnten. Sie macht deutlich, dass es zwischen ihnen Bedeutungsabstufungen gab, und dass die Kunst des Regierens in der päpstlichen Wahlmonarchie genau darin bestand, diese Rationalitäten selbst dann zumindest dem äußeren Anschein nach zu harmonisieren, wenn sie sich in ihrem Kern widersprachen. Es geht dabei um den Einfluss informeller Patronage-Logiken, die der politischen Programmatik – sichere Versorgung der Bevölkerung des Kirchenstaates mit bezahlbarem Getreide – entgegenstanden. Die Verwaltung und ihre Verfahren erweisen sich in diesem Licht als eine Art Plattform, auf der konkurrierende Rationalitäten zum Ausgleich gebracht werden. Schließlich bringt der Artikel prozesshaften historischen Wandel ins Spiel, Veränderungen, die zwar keineswegs aufgrund der überlegenen Weitsicht historischer Akteure erfolgten, sondern als Resultat nicht-intendierter Handlungen einzelner beziehungsweise kollektiver Akteure. Dieser Prozess wird jedoch sehr wohl mit dem Richtungskriterium „Bürokratisierung“ versehen und verweist damit, angesichts der zentralen Rolle Europas in der frühneuzeitlichen Politik, auf die welthistorische Bedeutung der Gegenstände dieses Bandes. Dieser Tenor wird von Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem abschließenden Kommentar aufgenommen und um wesentliche Aspekte ergänzt: die symbolischen Wirkungen bürokratischer Informationserhebung sowie die Potenz von administrativen
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Verfahren, Rationalitätsfiktionen zu erzeugen. Ihr Kommentar und der Beitrag von Birgit Emich eröffnen darüber hinaus eine gewinnversprechende Perspektive auf das Thema „Herrschaft und Verwaltung“: Künftig sollte das Augenmerk auf das Wechselspiel aus Formalisierungs- und Informalisierungsprozessen28 gelegt werden, um den Prozess historischen Wandels aus dem konflikthaften Zusammenwirken von formaler Normativität und informeller Soziabilität zu erschließen.
28 Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit, hrsg. von Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/ Christian Wieland, Heidelberg 2011, 81 – 95.
Die niederösterreichischen Kreisämter als Scharnier zwischen Landesregierung und Untertanen – Kommunikationsprozesse und Herrschaftspraxis Von Corinna von Bredow, Essen I. Einleitung Die Untersuchung von Kommunikationsprozessen und Herrschaftspraxis am Beispiel der niederösterreichischen Kreisämter ist aus mehreren Gründen vielversprechend. Zum einen stellt die quellenbasierte Erforschung landesfürstlicher Mittelund Unterbehörden der Habsburgermonarchie ein Desiderat der Forschung dar. Bisher haben sich lediglich einige wenige wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten mit Fragen der Behördengeschichte und der Funktionsweise der unteren Hierarchieebenen auseinandergesetzt1. Zum anderen bieten die reichhaltigen archivalischen Hinterlassenschaften der Kreisämter ein geeignetes Untersuchungsfeld, um die Verwaltungs- und Herrschaftspraxis dieser landesfürstlichen Unterbehörden zu beleuchten, deren zentrale Aufgabe in der Kommunikation mit den Untertanen bestand. Mit Herrschaftspraxis ist gemeint, dass die vorliegende Untersuchung auf das Handeln der verschiedenen Akteure und ihre Strategien abzielt, wobei verschiedene Formen von Dreieckskommunikation der Herrschaftsausübung eine besondere Dynamik verliehen haben. Herrschaftspraxis wird also nicht als dualistische Beziehung zwischen Obrigkeit und Untertanen aufgefasst, sondern als ein dynamischer Prozess unter der Beteiligung verschiedener Akteure und Vermittler2. 1 Zu nennen sind hier u. a. folgende Veröffentlichungen: Gernot Peter Obersteiner, Theresianische Verwaltungsreformen im Herzogtum Steiermark. Die Repräsentation und Kammer (1749 – 1763) als neue Landesbehörde des aufgeklärten Absolutismus (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark, 37), Graz 1993; ders., Kreisamt und Kreishauptmann in der Steiermark nach 1748. Einrichtung und Tätigkeit der neuen landesfürstlichen Unterbehörden Maria Theresias, in: Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-JahrJubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, hrsg. von Herwig Ebner/Horst Haselsteiner u. a., Graz 1990, 195 – 208; Gerhard Putschögl, Die landständische Behördenorganisation in Österreich ob der Enns vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (Forschungen zur Geschichte Oberösterreichs, 14), Linz 1978. Zur Geschichte Niederösterreichs unter Berücksichtigung der landesfürstlichen Unterbehörden: Helmut Feigl, Die niederöstereichische Grundherrschaft vom ausgehenden Mittelalter bis zu den theresianisch-josephinischen Reformen, Wien 1964. 2 Vgl. Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer
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Dabei werden Anregungen aus der Implementationsforschung zur ,guten Policey‘ sowie aus der historischen Kriminalitätsforschung aufgegriffen. Auf diesen besonders produktiven Forschungsfeldern wurde seit Beginn der 90er Jahre vermehrt von ,Aushandeln von Herrschaft‘ gesprochen, um Kommunikationsprozesses zwischen Ungleichen zu beschreiben3. In den letzten zehn Jahren sind verstärkt lokale Praktiken des Herrschens und Verwaltens, die beteiligten Akteure sowie deren Interaktionen in den Blick genommen worden. Für die politische Kultur in den Territorien des frühneuzeitlichen Alten Reiches wurde dafür das Modell der „akzeptanzorientierten Herrschaft“ in die Debatte eingebracht4. Davon ausgehend soll Herrschaft als ein Prozess verstanden werden, der immer auch auf die zumindest partielle Mitwirkung der Untertanen angewiesen war. Für die Implementation von Gesetzen und Dekreten auf lokaler Ebene waren die örtlichen Amtsträger von ausschlaggebender Bedeutung. Das Vorhandensein entsprechender Kommunikationskanäle war damit unabdingbar. Der Landesherr war nämlich auf die Kooperation der unteren behördlichen Hierarchieebenen und der Untertanen angewiesen, um Informationen über Landesressourcen, Einwohner und geographische Gegebenheiten zu erhalten, Missstände und ökonomische Probleme aufzudecken und Optimierungsoptionen zu entwickeln5. Aus diesen Gründen wurde im Jahre 1749 in Niederösterreich eine Regierung in publicis als politische Mittelbehörde geschaffen, die im folgenden Jahr die Bezeichnung Repräsentation und Kammer erhielt. Diese Behörde war zuständig für die Ausführung der landesfürstlichen Mandate, die Kontrolle der ReligionsangeBegriffsbildungen, in: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 2), hrsg. von Markus Meumann und Ralf Pröve, Münster 2004, 45 – 49. 3 So André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden-Durlach, 2 Bände, Epfendorf 2003; Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), 146 – 162; ders., Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt 2000; Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 647 – 663. Einen Überblick über kriminalitätshistorische Forschungen bietet Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen, 3), Tübingen 1999. Eingeführt wurde das Konzept „Aushandeln von Herrschaft“ bei Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis, in: Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 91), hrsg. von Alf Lüdtke, Göttingen 1991, 9 – 63. 4 Vgl. Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche (Beihefte der Historischen Zeitschrift, 49), hrsg. von Helmut Neuhaus, München 2009, 395 – 406. 5 Hierzu beispielsweise: Peter Becker/William Clark (Hrsg.), Little tools of knowledge. Historical essays on academic and beaurocratic practises, Ann Arbor 2001; Lars Behrisch, „Politische Zahlen“. Statistik und die Rationalisierung der Herrschaft im späten Ancien Régime, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), 551 – 557; Karin Gottschalk, Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert, in: Das Wissen des Staates, hrsg. von Peter Collin/Thomas Horstmann (Schriften zur Rechtspolitologie, 17), Baden-Baden 2004, 149 – 174.
Die niederösterreichischen Kreisämter
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legenheiten, das Unterrichtswesen, Sicherheit und Policey sowie ständische Belange. Darüber hinaus fielen militärische Angelegenheiten wie Vorspanndienste, Truppenverpflegung und die Rekrutierung in die Kompetenz der Regierung. Eine weitere wichtige Aufgabe bestand in der Kontrolle der Grundherrschaften und damit einhergehend der Schutz der Untertanen vor unrechtmäßig agierenden Herrschaftsbeamten6. Um diese vielfältigen Aufgaben erfüllen zu können, wurden im Jahre 1753 in Niederösterreich vier Kreisämter als nachgeordnete Behörden eingerichtet7, für jedes Landesviertel eines (Viertel ober dem Wienerwald, Viertel unter dem Wienerwald, Viertel ober dem Manhartsberg und Viertel unter dem Manhartsberg)8. Die Kreisämter befanden sich nicht wie die alten Viertelskommissariate in Abhängigkeit von den Ständen, sondern besorgten ständische Angelegenheiten nur noch nebenbei. Dagegen waren sie „entsprechend dem Planungsoptimismus des 18. Jahrhunderts“9 für nahezu alle Bereiche zuständig, die nicht den eng umrissenen Kompetenzen der parallel tätigen Finanz- und Justizstellen zugerechnet worden. Zwar entstammte der Kreishauptmann, welcher der neu geschaffenen Unterbehörde vorstand, dem Adel, er war jedoch ein rein landesfürstlicher Beamter und sollte unabhängig von ständischen Interessen agieren10. Die Kreisämter waren nicht wie andere Regierungsbehörden kollegial organisiert, vielmehr unterstand ihr kleiner Stab direkt dem Kreishauptmann, der alleinverantwortlich im Rahmen seiner Kompetenzen agierte. Im Folgenden werde ich die Funktionsweise und Verwaltungspraxis dieser neu eingerichteten Unterbehörde exemplarisch darstellen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie die Untertanen die neugeschaffene Möglichkeit, sich über das Kreisamt direkt an den Landesherrn zu wenden, nutzten, und auf welche Art die Grundherrschaften und die lokalen Amtsträger auf die veränderte Situation und Herrschaftspraxis reagierten. Dabei steht die These im Hintergrund, dass durch stetige Kommunikationsprozesse landesherrliche Herrschaft legitimiert und gestärkt werden konnte11.
6 Vgl. Christoph Link, Die Verwaltung in den einzelnen Territorien. § 1 Die Habsburgischen Erblande, die böhmischen Länder und Salzburg, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 1: Die Verwaltung vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hrsg. von Kurt Jeserich/Georg-Christoph von Unruh/Hans Pohl, Stuttgart 1983, 468 – 552, 522. 7 Per Hofresolution vom 22. März 1753, Codex Austriacus, 782 f. 8 Vgl. Karl Gutkas, Geschichte Niederösterreichs (Geschichte der österreichischen Bundesländer), München 1984, 173 ff. 9 Christoph Link, Verwaltung (Anm. 6), 522. 10 Vgl. ebd., 522. 11 Vgl. dazu auch Wim Blokmans/André Holenstein/Jon Mathieu (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of State in Europe 1300 – 1900, Farnham 2009; Birgit Emich, Frühneuzeitliche Staatsbildung und politische Kultur. Für die Veralltäglichung eines Konzeptes, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2005, 191 – 205.
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Meine Ausführungen konzentrieren sich auf die kommunikativen Austauschprozesse zwischen den beteiligten Akteuren – Untertanen, lokale Amtsträger, Kreisamt und Landesregierung – und ihre jeweiligen Handlungsstrategien. In diesem Beitrag lege ich den Schwerpunkt des Interesses auf die Perspektive der Untertanen, so dass andere Aspekte meiner Untersuchung wie die Beschaffung von Informationen über Personen und deren ökonomische Verhältnisse sowie die Rekrutierung nicht thematisiert werden. Es sei angemerkt, dass die Kreisämter auch bei der Vermessung des Landes, der Rekrutenstellung sowie der Unterbringung und Verpflegung der Truppen eine herausragende Rolle einnahmen12. Anhand der überlieferten Protokollbücher und Akten der niederösterreichischen Kreisämter kann der Verwaltungsalltag der Behörde seit Beginn ihrer Arbeit im Jahre 1753 gut nachvollzogen werden13. Insbesondere die Bücher, in denen Untertansangelegenheiten protokolliert wurden, sind für die hier diskutierte Fragestellung aufschlussreich; diese sind jedoch erst für die Zeit ab den 1780er Jahren überliefert14. Zudem sind die Aktenkonvolute, die Einzelfälle von Beginn bis zum Abschluss eines Verfahrens dokumentieren, eine aussagekräftige Grundlage für weitergehende Überlegungen15. Nachfolgend werde ich zunächst einige Verfahren vorstellen, die unter der Kategorie ,einfache Dreieckskommunikation‘ zusammengefasst werden können. Anschließend werden komplexere Kommunikationsprozesse mit einem erweiterten Akteurskreis im Fokus des Interesses stehen.
12 Indirekt thematisiert bei Michael Hochedlinger/Anton Tantner (Hrsg.), „Der größte Teil der Untertanen lebt elend und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habsburgermonarchie 1770 – 1771 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, 8), Innsbruck 2008. 13 Niederösterreichisches Landesarchiv St. Pölten (NÖLA), Kreisämter, Bücher. Für die vier niederösterreichischen Kreisämter sind umfangreiche Protokollbücher überliefert, die es ermöglichen, die Aufgabenbereiche und Funktionsweise der Ämter detailliert nachzuvollziehen. Allein für das Viertel unter dem Manhartsberg sind etwa 60 großformatige Bücher erhalten, wobei die Überlieferung im Entstehungsjahr der Kreisämter 1753 einsetzt und nahezu lückenlos bis ins 19. Jahrhundert hinein reicht. Die Überlieferung der anderen drei Kreisämter ist nicht vergleichbar dicht. 14 NÖLA, Kreisämter, Bücher, VOWW II/ 1 – 64. 15 NÖLA, Kreisämter, Einzelakten, Kartons 83 – 90. Die Überlieferung der Einzelfallakten erstreckt sich über die Jahre 1764, also elf Jahre nach Einrichtung der niederösterreichischen Kreisämter, bis 1799. Es sind 55 Fälle aktenkundig, deren Umfang zwischen etwa zehn und über 70 Seiten variiert. Die jeweiligen Akteure der einzelnen Fälle lassen sich in folgende Kategorien fassen: Herrschaften beziehungsweise Herrschaftsverwalter, Untertanen (einzeln und zusammengeschlossen) und Gemeinden, die Niederösterreichische Regierung, das Kreisamt, Lokalkommissionen und Amtleute. Inhaltlich erstrecken sich die Thematiken über Weidestreitigkeiten, Robotregulierungen, Wildschäden, Siedlungsgründungen, Beschwerden gegen Amtspersonen und Sicherheitssachen. Weitere Schwerpunkte bilden Infrastrukturmaßnahmen sowie Militärangelegenheiten.
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II. Einfache Dreieckskommunikation Im Zeitraum vom 5. Juni bis zum 30. Dezember des Jahres 1781 finden sich im „Protocollum in Unterthanssachen“ des Viertels ober dem Wienerwald16 35 Anfragen, Klagen und Beschwerden von einzelnen Untertanen oder von Zusammenschlüssen, die am Sitz des Kreisamts in St. Pölten eingingen. Dies bedeutet, dass im Durchschnitt monatlich fünf derartige Anfragen erfolgten. Dabei entfallen 24 Gesuche auf individuell agierende Untertanen und elf auf Zusammenschlüsse von Betroffenen. Aus den Einträgen im Protokollbuch geht nicht eindeutig hervor, ob diese Gesuche in Schriftform oder mündlich vorgetragen wurden. Jedoch weist die Tatsache, dass die entsprechenden Protokolleinträge nicht mit Faszikeln versehen sind, darauf hin, dass die Anliegen im Kreisamt mündlich referiert und durch den Kreisamtsschreiber verschriftlicht wurden. Die Bearbeitungszeit der Anfragen bewegt sich zwischen einigen Tagen und mehreren Monaten. Am 5. Juni 1781 reichte Matthias Kurzmann, Untertan der Herrschaft AltschlossPurgstall, beim zuständigen Kreisamt des Viertels ober dem Wienerwald eine Beschwerde ein. Der Herrschaftsverwalter habe ihm einen zu hoch angesetzten Kanzleilohn abgenommen. Das Kreisamt forderte daraufhin einen Bericht des betreffenden Amtmannes an, den dieser bis zum 25. Juni einreichen musste. Aufgrund dieses Berichtes wurde noch am selben Tag durch die landesfürstliche Unterbehörde entschieden, dass der Verwalter dem Kläger Kurzmann den Kanzleilohn in Höhe von 9 Talern und 2 Kreuzern zurückzahlen solle. Ob diese Rückzahlung tatsächlich erfolgte, geht aus den überlieferten Akten nicht hervor. Da Matthias Kurzmann jedoch späterhin nicht mehr als Kläger oder Rekurrent im Protokollbuch auftaucht, ist davon auszugehen, dass der Entscheidung des Kreisamtes gefolgt wurde. Vom Zeitpunkt der Einreichung dieser Beschwerde bis zum Beschluss des Kreisamtes vergingen keine drei Wochen. Der Eisen- und Provianthändler Joseph Huebegger dagegen erhielt den Beschluss über seine Beschwerde gegen den Markt Gersten wegen zu hohen Marktgeldes erst gute vier Monate nach Einreichung. Dem zuständigen Herrschaftsverwalter wurde verordnet, einen Bericht über die Angelegenheit zu verfassen, den dieser auch am 27. Juni 1781 erstattete. Weshalb das Kreisamt seinen Beschluss, der auf dem Bericht des Verwalters basierte, erst am 20. Oktober verkündete, ist nicht nachzuvollziehen. Dennoch dürfte der klagende Untertan mit dem Ausgang des Verfahrens zufrieden gewesen sein: der Rat des Marktes Gersten wurde dazu aufgefordert, Huebegger das „widerrechtlich abgenohmene Marktgeld“17 zu erstatten. Der Ausgang der Verfahren ist in weiteren sieben Fällen aufgrund der Aktenlage unklar, in sechzehn Fällen wurde zugunsten der klagenden Untertanen entschieden, während in vier Fällen ein Vergleich zwischen den streitenden Parteien erzielt wurde. Aus den Einträgen im Protokollbuch geht hervor, dass der Bericht ein bestimmendes Element in der Arbeit 16 17
NÖLA, VOWW II/ 1 – 64, fol. 1r-14r. Ebd., fol. 7r.
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des Kreisamtes darstellte. In allen Verfahren, die sich im „Protocollum in Unterthanssachen“ finden, wurden Berichte der betreffenden Grundherrschaften, Stifte und Amtleute eingefordert. Diese Berichte werden jedoch nicht näher vorgestellt; es wird lediglich erwähnt, dass sie verfasst werden sollten, und ihr Eingang beim Kreisamt verzeichnet. Forderte das Kreisamt einen Bericht an, so geschah dies unter Fristsetzung bei Androhung einer Geldstrafe im Falle von Versäumnissen. Diese Buße wurde innerhalb des hier relevanten Zeitraums in drei Verfahren tatsächlich fällig und eingefordert – über die tatsächliche Begleichung der Strafzahlung wird allerdings nicht berichtet. Ein Beispiel für diese Praxis liefert die Klage der beiden Weissenburgischen Untertanen Ignaz Pfifferlin und Johann Fuchsberger: Diese legten beim Kreisamt Beschwerde gegen ihre Herrschaft ein, da diese eine Anfrage nicht innerhalb der vorgesehenen Frist von vier Wochen bearbeitet hatte. Der Herrschaft Weissenburg wurde daraufhin unter Androhung einer Geldbuße per Dekret verordnet, innerhalb von 24 Stunden die Anfrage der Untertanen abzuhandeln. Neben der Verfahrensform des Berichtes kamen auch Lokalkommissionen zum Einsatz, um strittige Sachverhalte zu klären. Am 27. August 1781 legte das Gesinde zu Dietersdorf Beschwerde gegen die Herrschaft Zuchnau ein, „in puncto eingeklagten Robotth Beschwerden“. Unter „Sub Expedito“ notiert das Protokollbuch: „Worüber von der Herrschaft Zuchnau Bericht abgefordert, und über den vom selben unterm 6ten September erstatten Bericht eine Commission in loco Zuchnau auf den 10ten ejusdem angeordnet, und der Verlaß dahin geschöpfet worden, daß die sämmentlichen Unterthannen [sic!] zu Dietersdorf, da selbe auf der Fassion kein Joch Hausgründe besitzen, seyen der Herrschaft Zuchnau nicht mehr als 26 zu robotthen schuldig, und verbunden den 10ten September.“18 Keine vierzehn Tage dauerte das gesamte Verfahren, für dessen Klärung gar eine Untersuchungskommission in loco eingesetzt wurde. In anderen Fällen dauerte das Verfahren ungleich länger. Am 22. Februar 1781 beschwerte sich Michael Stichlmayer, Untertan des Stifts Klein Maria Zell in Ratgersdorf, beim Kreisamt über den Herrschaftsverwalter des Stifts. Stichlmayer wollte augenscheinlich seinen Hausgarten erweitern und fühlte sich durch seine Herrschaft dabei behindert. Das Kreisamt berichtet über die Vorgänge folgendermaßen: „Auch der vom hl. Pater Verwalter des Stifts Klein Maria Zell zu Jungerstorf abgefordert und unterm 10ten Marty erstatten Bericht wurde von dem Verwalter der Herrschaft Pottenbrunn Bericht abgefordert, und demselben die Ausgleichung dieser Strittsache aufgetragen, dann unter dem 31 Marty erstatten Bericht die Errichtung eines Vergleichs Instruments anbefohlen, der hl. Pater Verwalter zu Jungerstorf unterm 27ten July nebst eingebrachten Vergleichs Instruments in Sachen verfahenen, sohin dem Verwalter zu Pottenbrunn die Einlegung eines vähig errichteten Vergleichs Instruments anhero unterm 30ten August aufgetragen, und endlichen nach befahenen Einsendung dessen die Bestätigung hierauf ertheilet, und ist die ganze
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Ebd., fol. 6r.
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Strittsache beygeleget worden den 27ten August.“19 Auch in diesem Fall lässt sich der konkrete Ausgang des Verfahrens nicht feststellen. Der Eintrag im Protokollbuch weist jedoch darauf hin, dass es zu einer Regelung des Problems kam, die laut dem Akteneintrag wohl einem Vergleich ähnelte. Doch zwischen Eingang des Gesuchs von Michael Stichlmayer beim zuständigen Kreisamt und der Beilegung der „Strittsache“ vergingen mehr als sechs Monate. Über die Gründe für dieses zähe Verfahren kann nur spekuliert werden; ein wichtiger Punkt scheint mir jedoch darin zu liegen, dass an dem Fall des zu erweiternden Hausgartens zwei unterschiedliche Herrschaften beteiligt waren: Zum Einen tritt der Herrschaftsverwalter des Stifts Klein Maria Zell als Akteur auf, zum Anderen jedoch auch der Verwalter der Herrschaft Pottenbrunn. Von beiden Amtleuten werden Berichte sowie die Erarbeitung eines „Vergleichs Instruments“, also eines Kompromisses zur Beilegung der Streitsache, erwartet und schließlich auch geliefert. Bei den kurz skizzierten Verfahren handelt es sich jeweils um eine einfache Dreieckskommunikation zwischen Untertanen, Kreisamt und den zuständigen Herrschaftsverwaltern, die den örtlichen Rahmen nicht verließ. Die Regierung tritt hier nur indirekt als übergeordnete normsetzende Behörde auf. Die Kommunikation findet in einem fest umrissenen Machtgefüge statt und geht nicht über diese Ebene hinaus. Die Beispiele verdeutlichen, dass die Untertanen die Möglichkeit zur Nutzung des Kreisamtes als eines verlängerten Arms des Landesherrn durchaus wahrnahmen. Die Beschwerden und Klagen hatten zumeist gute Erfolgsaussichten und wiesen oft eine geringe Bearbeitungszeit auf. Entschied das Kreisamt zu Gunsten der Supplikanten, wurde diese Entscheidung auch gegen massive Widerstände von Grundherren und Herrschaftsverwaltern durchgesetzt – teilweise unter Hinzuziehung der übergeordneten Behörde. Herrschaftlichen Amtsträgern, die ihren Pflichten nicht oder nicht ausreichend nachkamen, wurden Geldstrafen angedroht, die auch vollzogen wurden. Das Kreisamt baute also gegenüber den Amtsträgern der adligen und klösterlichen Herrschaften und der städtischen Magistrate ein beachtliches Drohpotential auf und ermöglichte eine gewisse Kontrolle der Grundherrschaften durch den Landesherrn. Neben diesen weniger komplexen Verfahren, die einem fest institutionalisierten Kommunikationsweg folgten, kam es auch zu komplexeren Kommunikationssituationen. Indem sich entweder das Kreisamt selbst ratsuchend an die übergeordnete Landesregierung wandte, oder aber Untertanen sowie Herrschaftsverwalter bei der Regierung ihrerseits Beschwerde einlegten, gestalteten sich die folgenden Verfahren vielschichtiger. Um dies zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden zunächst zwei Fälle darstellen, in denen die niederösterreichische Regierung in den Kommunikationsprozess mit einbezogen wurde. Danach werde ich erörtern, auf welche Weise sich die Kommunikationssituation darstellte, wenn es zu Beschwerden von Untertanen oder Amtleuten über das Kreisamt kam.
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Ebd., fol. 5v.
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III. Komplexe Kommunikationsprozesse Die Untertanin Katharina Haubner, ansässig in der Marktgemeinde Groß Schweinbarth, wandte sich im Jahr 1775 mit einer Beschwerde direkt an die Niederösterreichische Regierung20. Als Waise war in ihrer Jugend ihr Vermögen durch ihre Herrschaft verwaltet worden, und nun monierte sie die Rechnungslegung des Herrschaftsverwalters bezüglich ihrer Waisencassa, da ihr der Verwalter ein Sechstel des Einkommenswertes als sogenannte Remuneration abgezogen hatte. Eine Beschwerde bei ihrem Grundherrn war erfolglos verlaufen. Im Folgenden verwies die Niederösterreichische Regierung die Supplikantin an das Kreisamt des Viertels unter dem Manhartsberg in Korneuburg. Der Kreishauptmann forderte einen Bericht des Herrschaftsverwalters zum Sachverhalt an. Im März 1775 erging der Ratschlag des Kreisamtes an die Herrschaft Groß Schweinbarth, der Katharina Haubner in vollem Umfang Recht gab und die Rückzahlung der von ihr geforderten Summe anwies. Als Begründung für den Entschluss benannte das Kreisamt unter anderem die Fürsorgepflicht der Herrschaft für Waisen und formulierte, dass die Waisenfürsorge „obrigkeitliche pflicht propter bonum Publici und allgemeine Schuldigkeit sey, welche unentgeltlich administriret werden muss.“21 Doch hiermit war der Fall nicht abgeschlossen: Der Schlossherr in Groß Schweinbarth, Rudolf Graf von AbensbergTraun, meldete wenig später Rekurs bei der Niederösterreichischen Regierung an, den er mit seinen eigenen Edikten sowie dem Gewohnheitshandeln begründete. Als Reaktion der Niederösterreichischen Regierung auf das Rekursschreiben des Reichsgrafen ist zunächst nur eine kurze Notiz zu finden, in der lapidar durch einen Rat vermerkt ist, dass das betreffende Schreiben an den Kreishauptmann des Viertels unter dem Manhartsberg weiterzuleiten sei. Dieser hatte sich jedoch schon vor Eingang der Rekursforderung durch den Grafen bei der Regierung an die übergeordnete Instanz gewandt, um sich gegenüber dem Grafen abzusichern. Der Rekurs des Grundherrn wurde abgelehnt, und die Entscheidung zugunsten der Klägerin bestätigt. Die negative Antwort auf die Forderung des Grafen wurde diesem durch das Kreisamt mitgeteilt; die Niederösterreichische Regierung hielt es offenkundig nicht für notwendig, Rudolf Graf von Abensberg-Traun, immerhin Reichsgraf, direkt zu antworten, sondern kanalisierte die Antwort über die zuständige Unterbehörde. Damit bestärkte die Landesstelle das Kreisamt in seiner Autorität, verdeutlichte dies auch gegenüber dem Grafen und steigerte so die Legitimität des Amtes. Ein knappes Jahr später ging erneut ein Schreiben der Niederösterreichischen Regierung beim Kreisamt ein. Der gesamte Fall sei der Obersten Justizstelle zur Revision vorgelegt worden. Diese habe befunden, dass Katharina Haubner Recht zu geben sei und der von ihr geforderte Betrag an sie ausgezahlt werden solle. Zudem untersagt das Dekret Rudolf Graf von Abensberg-Traun grundsätzlich, seine Beamten weiterhin ein Sechstel des Einkommens aus den Waisenkassen abziehen zu lassen. Zusätzlich wurde darauf verwiesen, dass diese Praxis der Remunera20 21
NÖLA, Kreisämter, Einzelakten, Karton 83. Ebd.
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tion allgemein zu missbilligen sei. Dieser Fall verdeutlicht einmal mehr, dass Normen und Gesetze nicht ausschließlich durch Herrschaftseliten verfasst und erlassen wurden, sondern auch in zirkulären Kommunikationsprozessen und durchaus auf Anregung von Untertanen entstanden. Wie schon am Fall der Katharina Haubner dargelegt, wurde von Seiten der Untertanen nicht immer der vorgesehene Weg über das zuständige Kreisamt gewählt. Stattdessen wandten sich einzelne auch direkt an die Niederösterreichische Regierung. Dass dies der Selbst- und Fremdlegitimation des Kreisamtes im Wege stehen konnte und daher zügig und konsequent auf eine solche Situation reagiert wurde, zeigt folgendes Beispiel22. In der Mitte des Jahres 1792 erging an die Niederösterreichische Regierung ein Beschwerdebrief des Müllermeisters der Herrschaft Sierndorf, in dem er sich über den Umgang der örtlichen Behörden mit seinem wegen Wilderei festgenommenen Müllerjungen beschwerte. Der besagte Brief des Müllers ist nicht überliefert, sehr wohl jedoch die Schriftstücke, die aus seinem folgenreichen Schreiben hervorgingen. Am 3. September desselben Jahres versandte das Kreisamt des Viertels unter dem Manhartsberg einen umfangreichen Bericht an die niederösterreichische Regierung, in dem es zu den Beschwerden des Müllers gegenüber dem Kreisamt und der Herrschaft Sierndorf ausführlich Stellung nahm. Im Juli 1792 wurde der Müllerjunge Joseph Plötzl von drei Jägerjungen im Wald herum streifend aufgegriffen. Die drei jungen Männer nahmen ohne augenscheinliche Indizien an, dass es sich bei dem Müllerjungen um einen Wilddieb handelte. Sie verfolgten Plötzl, schlugen ihn nieder, fesselten ihn und brachten ihn zum Verwalter ihrer Herrschaft Sierndorf. Der Herrschaftsverwalter behielt den verletzten Jungen noch einige Stunden widerrechtlich in Gewahrsam, bevor er ihn an das zuständige Kreisamt in Korneuburg übergab. Auch hier verblieb der Müllerjunge laut Akten einige Zeit ohne ärztliche Behandlung. Erst als sein Müllermeister hinzukam, rief der Kreishauptmann einen Wundarzt zu Hilfe, der laut seines überlieferten Gutachtens schwerwiegende Verletzungen an Plötzl zu versorgen hatte. Die weiteren Vorgänge bleiben zunächst im Dunkeln: nachzuvollziehen ist, dass der Müllerjunge mehrfach, wie rechtlich vorgesehen, befragt wurde. Dann weist das umfangreiche Aktenkonvolut eine Lücke auf, die erst wieder mit der Antwort des Kreisamtes auf die Beschwerden des Müllermeisters geschlossen wird. Zwischen der Festnahme Plötzls und der Stellungnahme des Kreisamtes vergingen knapp fünf Wochen. In der Zwischenzeit wurden auch die drei Jägerjungen durch den Marktrichter befragt. Das Verfahren wegen Wilderei gegen den Müllerjungen Joseph Plötzl wurde aufgrund fehlender Beweise eingestellt, dem Müllermeister wegen des Arbeitsausfalls seines Jungen aufgrund der schwerwiegenden Verletzungen und der Haftzeit offensichtlich sogar eine Entschädigungszahlung zugesprochen, so zumindest die Berichte des Kreisamtes. Was weiterhin mit den drei Jägerjungen geschah, lässt sich aus den Akten nicht ersehen. Anhand dieses Falles wird deutlich, dass die Unterbehörde nicht nur als Mittler zwischen Landesregierung und Ämtern sowie Untertanen diente, sondern 22
NÖLA, Kreisämter, Einzelakten, Karton 87.
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selbst auch zum Gegenstand von Beschwerden und Auseinandersetzungen werden konnte. Dem Kreisamt des Viertels unter dem Manhartsberg gelang es zwar, aus diesem wenig ehrenvollen Verfahren augenscheinlich unbeschadet und ohne Legitimationsverlust hervorzugehen. Dies ist in diesem speziellen Fall jedoch wohl vor allem dem harten Durchgreifen der Niederösterreichischen Regierung zu verdanken, die schnell und mit Nachdruck auf die schriftliche Beschwerde des Müllermeisters reagierte. Auch dies fällt auf: Der Müllermeister beschwerte sich direkt bei der Landesbehörde, und dies, obwohl die Kreisämter doch dafür geschaffen worden waren, den Untertanen den Kontakt zu den Obrigkeiten zu erleichtern und die Schriftflut an die Regierung zu drosseln und zu filtern. Der Müllermeister jedoch machte seinem Unmut direkt bei der übergeordneten Behörde Luft. Aufschlussreich ist dabei die Stellungnahme des Kreisamtes der Niederösterreichischen Regierung gegenüber, welche mit Unterwerfungsfloskeln durchsetzt ist. Der Rechtfertigungsdruck, unter dem das Kreisamt gegenüber ihrer übergeordneten Behörde stand, wird aus den umfangreichen, detailliert schildernden und rechtfertigenden Schriftstücken mehr als deutlich. Auch die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den althergebrachten Obrigkeiten, den Grundherrschaften, und der nun nicht mehr gar so neuen Unterbehörde können anhand des Falles Plötzl nachvollzogen werden: Augenscheinlich übergab der Herrschaftsverwalter in Sierndorf den Gefangenen an das zuständige Kreisamt nur ungern, fiel der Umgang mit Inhaftierten doch traditionell in seine eigene Kompetenz. Wie hier gezeigt, fungierte das Kreisamt jedoch nicht nur als Scharnier zwischen Untertanen und Regierung, sondern konnte durchaus auch selbst zum Konfliktfall werden. Auch die Beschwerde des Postmeisters Eberl im Markt Stockerau ist hier von Interesse23. Dessen Postkutscher war im September 1798 durch einen Kreiskommissär in Gewahrsam genommen worden, nachdem er auf der Straße durch rücksichtsloses Fahren aufgefallen war. Das Kreisamt übergab den Kutscher dem Marktrichter in Stockerau. Im Folgenden wandte sich der Postmeister Eberl mit einer Beschwerde an die Niederösterreichische Regierung, indem er die Festnahme seines Kutschers monierte und forderte, dass das Kreisamt ihm die Kosten erstattete, die ihm durch den Ausfall des Postkutschers entstanden seien. Die Regierung reagierte zügig und forderte sogleich einen Bericht des Kreisamtes sowie des Marktrichters an. In seinem Schreiben stellte der Richter fest, dass er den Postkutscher zwar in Gewahrsam genommen hätte, ihn aber gesetzeskonform bereits nach 24 Stunden ohne weitere Beschwerungen entlassen hätte. Das Kreisamt wiederum rechtfertigte sich mit dem gefährdenden Verhalten des Postkutschers, nannte zudem noch mehrere Zeugen des Vorfalls, und fügte eine Kopie des Verhörprotokolls an. Zudem hätte sich der Delinquent vor Überstellung an das Marktgericht nur drei Stunden in der Obhut des Amtes befunden. Das gesamte Verfahren zog sich noch bis zum Juni 1799 hin, dauerte also gute neun Monate. Am Ende jedoch stellte die Regierung fest, dass sowohl
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NÖLA, Kreisämter, Einzelakten, Kartons 83 – 90.
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das Kreisamt als auch das Marktgericht angemessen gehandelt hätten und wies die finanziellen Forderungen des Postmeisters Eberl ab. IV. Zusammenfassende Bemerkungen So unterschiedlich sich die überlieferten triangulären und komplexeren Verfahren auch gestalteten, lassen sich die Verwaltungspraxis und die Kommunikationsprozesse doch systematisieren. Das bestimmende Element im Verwaltungshandeln der Kreisämter bildete der Bericht. Zu jedem Sachverhalt wurden Berichte der jeweiligen Beteiligten angefordert und ausgewertet. Daneben wurde auf Expertenberichte und die Aussagen von Augenzeugen zurückgegriffen. In einigen Fällen wurden zudem Lokalkommissionen eingesetzt, die allerdings zumeist nur aus einem Kommissär bestanden, der aus dem Regierungsrat rekrutiert wurde. Diese verfassten knappe Berichte einschließlich einer Stellungnahme für das Kollegium, denen man in allen ausgewerteten Fällen auch folgte. Aus den vorgestellten Verfahren können mehrere Einsichten gewonnen werden. Erstens konnte gezeigt werden, dass der vorgesehene Weg der Beschwerdeführung über das Kreisamt von den Akteuren nicht immer eingehalten wurde. Obwohl diese Unterbehörde unter anderem errichtet wurde, um die Flut der Eingaben an die Landesregierung zu drosseln und zu kanalisieren, wurde auch bei Nichteinhaltung des Dienstweges ein Verfahren in Gang gebracht – im Falle der Katharina Haubner z. B. durch Weiterleitung ihrer Beschwerde bei der Regierung an das zuständige Kreisamt. Diese Unterbehörde blieb auch bei solchen Abweichungen von den institutionalisierten Kommunikationswegen handlungsfähig, wobei sich im Wortsinn nur die Fälle in den Akten niederschlugen, in denen die Behörde auch tatsächlich handelte. Zweitens wurde dargelegt, dass die Regierung als übergeordnete Behörde das Kreisamt in seinen Kompetenzen sowohl stärken als auch einschränken konnte. Die Kontrolle des Kreisamtes durch die nächst höhere Verwaltungsinstanz gestaltete sich äußerst intensiv. Dafür spricht auch die Pflicht zu regelmäßiger Berichterstattung des Kreisamtes an die Regierung, die man normativen Quellen entnehmen kann24. Wie sich die Berichtspraxis darstellte, kann aufgrund der schwierigen Überlieferungslage kaum nachvollzogen werden25. Drittens wurde gezeigt, dass das Kreisamt selbst zum Konfliktfall werden konnte. Neben dem hier vorgestellten Verfahren des Postmeisters Eberl sind weitere Beschwerdefälle überliefert. Aus allen ausgewerteten Verfahren gehen die Kreisämter allerdings augenscheinlich ohne größeren Ansehensverlust hervor, was zum einem dem schnellen Handeln und den Entscheidungen der Regierung zuzuschreiben ist, zum anderen offenkundig der Einbettung der Behörde in 24
Amtsunterricht über die Manipulation der Kreisämter, 1786, NÖLA, Niederösterreichische Regierung vor 1740, Instruktionen. 25 Eine Gegenüberlieferung der Regierung existiert nur bruchstückhaft, da die entsprechenden Akten beim Brand des Justizpalastes 1927 stark beschädigt wurden (z. B. Staatsarchiv Wien, III.A.4. Landesregierungen [k.k. Gubernien und Regierungen, deren Instruktionen, Manipulation, Wirkungskreis und Personale; Für Niederösterreich, Karton 373 – 382]).
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einen festgefügten hierarchischen Rahmen. Es bleibt viertens festzuhalten, dass die Kreisämter von Beginn ihrer Einrichtung an durch verschiedene Akteure überaus häufig genutzt wurden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Perspektive der Untertanen, ihre Nutzungs- und Partizipationsmöglichkeiten. Meine weiteren Untersuchungen der Kommunikationsprozesse zwischen Untertanen, Amtleuten, Unterbehörden und Landesregierung haben verdeutlicht, dass die Einrichtung der Kreisämter dem habsburgischen Landesherrn einen direkteren Zugriff auf die Untertanen und deren Ressourcen gestattete. Zudem eröffneten die Kreisämter dem Landesherrn Einsicht in die Verhältnisse der einzelnen Grundherrschaften, die zuvor seiner Kontrolle weitgehend entzogen waren. Durch kommunikative Austauschprozesse mit Untertanen konnten neue Informationen gesammelt und ausgewertet werden26. Es konnte gezeigt werden, dass durch die Präsenz des Kreisamtes vor Ort und aufgrund der stetigen Kommunikationsprozesse mit betroffenen Untertanen ein Drohpotential gegenüber den lokalen Amtsträgern der Grundherrschaften aufgebaut und erhalten werden konnte. Letztlich ermöglichte die junge landesfürstliche Behörde den Untertanen in begrenztem Maße die Sicherung ihrer Rechte gegenüber Grundherren und deren Amtsträgern – auch gegen deren Widerstand. Den Untertanen eröffnete sich ein verhältnismäßig leichter Zugang zur landesherrlichen Macht. Ihre Klagen hatten meist gute Erfolgsaussichten bei kurzer Bearbeitungszeit. Beschwerden konnten direkt mündlich beim Kreisamt vorgetragen werden, so dass der Umweg über einen professionellen Schreiber und die damit verbundenen Kosten entfielen. Am Fall der Katharina Haubner konnte gezeigt werden, dass durch die dargestellten Kommunikationswege gar eine Form praktischer politischer Partizipation entstehen konnte, die so normativ gar nicht vorgesehen war. Es sollte plausibel geworden sein, dass die vorgestellte Herrschaftspraxis dazu beigetragen haben dürfte, die Legitimation der habsburgischen Herrschaft vor Ort zu stärken.
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Vgl. Karin Gottschalk, Wissen (Anm. 5).
Dreieckskommunikation in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Vier Thesen und ein Quellenbeispiel Von Peter Collmer, Zürich Das Modell fürstenstaatlicher Herrschaftsbildung besitzt für das frühneuzeitliche Polen-Litauen nur eine beschränkte Aussagekraft. Grund dafür ist in erster Linie die souveräne Stellung des polnischen Adels, der sich schon früh jedem Ansatz eines fürstlichen absolutum dominium widersetzt und stattdessen eine adlige Republik errichtet hatte. Seit dem Aussterben der Jagiellonendynastie und der Einführung der freien Königswahl in den 1570er Jahren befand sich der polnische Monarch in einem schriftlich geregelten Abhängigkeitsverhältnis zum adlig beherrschten Reichstag (sejm). Dieser beschnitt die formalen Rechte jedes neu gewählten Königs zusätzlich und zwang den Herrscher sukzessive in die Rolle eines Dieners adliger Interessen1. Wenn also der Aufstieg zentraler Fürstenmacht in Europa verschiedentlich lokale Autonomien in den Modus einer ,beauftragten Selbstverwaltung‘ verwies, so müsste man in Polen-Litauen wohl von einer beauftragten Monarchie sprechen2. Bis ins 18. Jahrhundert gelang es der Szlachta, dem Adel, praktisch alle wichtigen Positionen und Rechte in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu monopolisieren; rund 90 Prozent des polnisch-litauischen Territoriums befanden sich faktisch in ad-
1 Einen guten deutsch- bzw. englischsprachigen Überblick über das politische System der Rzeczpospolita und seinen Wandel in der frühen Neuzeit bieten unter anderem Jörg K. Hoensch, Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 9), Köln 1973, besonders 308 – 403 sowie Jerzy Lukowski, Liberty’s Folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the eighteenth century, 1697 – 1795, London/New York 1991, besonders 86 – 118. Zu den unumschränkten (,absoluten‘) Befugnissen, über die auch der polnische König im Rahmen seiner begrenzten Aufgaben und Vorrechte verfügte, vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, zweite, durchgesehene Aufl., München 2000, 48. 2 Zum idealtypischen, am Beispiel der frühneuzeitlichen deutschen Stadt entwickelten Begriff ,beauftragte Selbstverwaltung‘ vgl. Luise Wiese-Schorn, Von der autonomen zur beauftragten Selbstverwaltung. Die Integration der deutschen Stadt in den Territorialstaat am Beispiel der Verwaltungsgeschichte von Osnabrück und Göttingen in der frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mitteilungen 82 (1976), 29 – 59; ferner Stefan Brakensiek, Zeremonien und Verfahren. Zur politischen Kultur im frühneuzeitlichen Europa, in: Unikate 34 (2009), 71 – 83, 80.
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Peter Collmer
liger Hand3. Bei all dem kreiste die politische Kultur der Adelsrepublik um die stilisierte Vorstellung vom biederen Edelmann, der seine ,goldene Freiheit‘ geniesst, sein Landgut ohne äussere Einmischung verwaltet und seine gleichberechtigte Teilhabe an der res publica auf den periodischen Landtagen (sejmiki) realisiert4. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zur Frage anstellen, inwiefern Theorien der Herrschaftsvermittlung im Fürstenstaat und namentlich die Vorstellung kommunikativer Triangulierung dazu geeignet sind, auch das herrschaftliche Gefüge Polen-Litauens besser verständlich zu machen. Unter Triangulierung verstehe ich, in Anlehnung an die Arbeiten von Stefan Brakensiek5, ein Verfahren zur Festigung von Herrschaft: Durch die Erweiterung einer kommunikativen Punkt-Punkt-Verbindung um eine dritte ,Ecke‘ wird eine rudimentäre Öffentlichkeit geschaffen, welche die Interaktionspartner unter Beobachtung stellt und lineare Kommunikationsketten aufbricht. Im Kontext fürstenstaatlicher Herrschaftsvermittlung ist vor allem die Frage nach dem direkten Draht zwischen ganz oben und ganz unten von Interesse – nach einem kommunikativen Bypass, der den Herrschaftsunterworfenen eine Perspektive der Partizipation eröffnet und es gleichzeitig erlaubt, intermediäre Gewalten zu kontrollieren sowie das herrschaftliche Zentrum mit mutmasslich unverfälschten Informationen über die lokalen Zustände zu versorgen. Um die Bedeutung solcher Mechanismen für Polen-Litauen zu erfassen, werde ich den Begriff der Triangulierung recht breit auslegen und auch die Kommunikationskanäle juristischer Verfahren berücksichtigen. Zeitlich fokussiere ich vor allem auf das 18. Jahrhundert, wobei Rückblenden immer wieder unumgänglich sind – zumal die Frage der Herrschaftskommunikation den Blick unweigerlich auch auf die Geschichte des politischen Systems lenkt. I. Herrschaftliche Dreieckskommunikation im frühneuzeitlichen Polen-Litauen: Vier Thesen These 1: Das Nebeneinander distinkter Herrschaftsräume bestimmte bis zu den Teilungen die machtpolitische Topografie Polen-Litauens.
3 Diese Schätzung schließt adlige Pachtstellen auf Kronland, den Besitz der höheren (adligen) Geistlichkeit sowie unrechtmäßig angeeignete Gebiete mit ein, vgl. J. Lukowski, Liberty’s Folly (Anm. 1), 11 – 12. Allgemein zu den Rechten und Pflichten des Adels vgl. J. K. Hoensch, Sozialverfassung (Anm. 1), 50 – 65. 4 Vgl. dazu (mit weiterführenden Literaturangaben) Peter Collmer, Soziale Schichtung und Tendenzen des sozialen Wandels in Polen-Litauen am Ende des Ancien Régime, in: Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden, hrsg. v. Michael G. Müller, Stuttgart (im Druck). 5 S. Brakensiek, Zeremonien und Verfahren (Anm. 2), 81. Zur Bedeutung und Ausgestaltung herrschaftlicher Dreieckskommunikation unter den Bedingungen kolonialer Distanzherrschaft vgl. Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln 2009, 177 – 187.
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Der analytische Staatsbegriff, der mit Blick auf den Modellfall ,moderner‘ Staatsbildung in Frankreich oder Preussen entwickelt wurde und der bis heute die Rede vom Fürstenstaat prägt, lässt sich nicht ohne Weiteres auf das polnisch-litauische Herrschaftsgefüge übertragen. Er eignet sich dazu, nach Ansätzen zentraler Herrschaftsverdichtung, rationaler Herrschaftsintensivierung oder machtpolitischer Vereinheitlichung zu fragen; seine unreflektierte Anwendung auf andere Kontexte führt aber zu teleologischen Verzerrungen und mündet fast zwangsläufig in eine wenig produktive Defizitperspektive6. Bis zum Untergang der Adelsrepublik in den polnischen Teilungen stellte das Nebeneinander distinkter Kommunikations- und Herrschaftsräume mit unterschiedlichen Binnenlogiken und regulierten Schnittstellen ein Wesensmerkmal des polnisch-litauischen Reichsverbandes dar7. Gemeint ist dabei nicht nur der Dualismus von Kronpolen und litauischem Grossfürstentum. Gemeint ist auch das Gegenüber von res publica und res privata: Der überwölbenden herrschaftlichen Struktur, die durch das Amt des Monarchen und die Institutionen adliger Selbstorganisation getragen wurde, die den Adel beider Reichsteile kommunikativ vernetzte und die man auch insofern als ,staatliche‘ Sphäre bezeichnen kann, als sie der Ermittlung und Durchsetzung eines gemeinsamen (adligen) Willens diente – dieser Struktur standen bis zum Schluss autonome Herrschaftsräume gegenüber, die auf dem privaten Eigentum und dem persönlichen Machtanspruch adliger oder kirchlicher Grundherren basierten8. Ein Staatsbegriff, der die zunehmende Ubiquität einer zentral ge6 Zur Geschichte des deutschen Staatsbegriffs und zu seiner im 19. Jahrhundert verwurzelten, immer wieder reflektierten (und auch für die Beschreibung des Alten Reiches problematischen) teleologischen Grundstruktur vgl. bereits Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965 (Darmstadt 1981), besonders 111 – 120; Artikel ,Staat und Souveränität‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 6, Stuttgart 1990, 1 – 154, hier besonders 1 – 7; ferner Markus Meumann/Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen, in: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses, hrsg. v. Markus Meumann/Ralf Pröve (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 2), Münster 2004, 11 – 49, 11 – 23. Speziell zum Begriff des ,modernen‘ Staates vgl. Otto Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. v. Gerhard Oestreich mit einer Einleitung von Fritz Hartung, 2., erweiterte Aufl., Göttingen 1962, 470 – 496; Wolfgang Reinhard, Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich, in: Zeitschrift für Historische Forschung 29/3 (2002), 339 – 357, 346 – 347. 7 Zur Sinnhaftigkeit des Reichsbegriffs für Polen-Litauen vgl. etwa Hans-Jürgen Bömelburg, Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte in Mitteleuropa – Historiographische Konzepte gegenüber Altem Reich und Polen-Litauen sowie komparatistische Perspektiven, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 53/3 (2004), 318 – 350, 349 – 350. 8 Zur Hervorbringung eines gemeinsamen Willens und Handelns als Kernbedeutung des Staatsbegriffs vgl. O. Hintze, Wesen und Wandlung des modernen Staats (Anm. 6), 471. HansJürgen Bömelburg erkennt in Polen-Litauen eine „Sphäre übergeordneter ,Gesamtstaatlichkeit‘“, zu der vor allem das monarchische Amt und die Außenpolitik zählten; dazu sowie zur
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steuerten Ordnung suggeriert und die Grenzen zwischen verschiedenen Herrschaftsräumen verwischt, wäre zur Beschreibung des polnisch-litauischen Gemeinwesens als Ganzes also nicht geeignet9. Das schliesst nicht aus, dass sich einzelne Teile des multizentralen Herrschaftsverbandes in einer Weise entwickelten, die an den Idealtypus moderner Staatsbildung erinnert. Manche Magnaten regierten ihre ausgedehnten Latifundien wie kleine Königreiche, mit eigenen Armeen, eigenen Beamten und mit einem geradezu absolutistischen Gestus, den sie seitens der zentralen Monarchie niemals akzeptiert hätten. Diese magnatischen Herrschaften erfüllten – im modernen Sinne – quasi-staatliche Funktionen, sie kompensierten in mancherlei Hinsicht die administrative Schwäche des Zentrums und trugen zur Verdichtung obrigkeitlicher Strukturen in der Provinz bei10. Legitimation und Stossrichtung der Herrschaftsbildung differierten dabei aber diametral von der Sphäre der Republik: Während dort die Spielregeln des Zusammenlebens öffentlich diskutiert und in der Form von Gesetzen festgeschrieben wurden, war die innere Ordnung auf adligen Gütern weitgehend Sache des jeweiligen Herrn. Erst die Verfassung von 1791 brachte eine gewisse Verrechtlichung auch der lokalen ländlichen Herrschaftsbeziehungen11.
Bedeutung transpersonaler, neben der Monarchie sich entwickelnder Institutionen der Republik für die „Staatsqualität“ Polen-Litauens vgl. H.-J. Bömelburg, Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte in Mitteleuropa (Anm. 7), 348 – 349. In polnischen Gesetzestexten ist das sprachliche Gegensatzpaar publicus – privatus schon im späten Mittelalter geläufig, vgl. etwa Volumina Legum, Bd. 1, Nachdruck Petersburg 1859, Ziffer 86. Zur spätestens seit dem 17. Jahrhundert in Europa anzutreffenden Vorstellung einer geschützten privaten Sphäre, die sich dem Zugriff der wachsenden Staatsgewalt entzieht und vom begrenzten öffentlichen Raum (staatlicher) Herrschaft unterscheiden lässt, vgl. W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (Anm. 1), 118. 9 Im politischen Selbstverständnis der Adelsrepublik spielte der polnische Begriff pan´stwo (Staat) noch eine eher untergeordnete Rolle; er zielte zunächst auf patrimoniale Herrschaft in einem bestimmten Territorium. Wichtiger waren Begriffe wie Korona (Krone) als Name des mittelalterlichen, von der Person des Monarchen bereits unterscheidbaren polnischen Gemeinwesens, ojczyzna (Vaterland) als Projektionsfläche einer herkunftsfokussierten Identitätsbildung, Rzeczpospolita (Republik) als Bezeichnung für den spezifischen, adlig dominierten Herrschaftsverband Polen-Litauens – oder auch einfach Polska (Polen) als unpräziser Totalbegriff. Vgl. dazu Ewa Bem-Wis´niewska, Funkcjonowanie nazwy Polska w je˛zyku czasów nowoz˙ytnych (1530 – 1795) [Das Funktionieren der Bezeichnung Polska/Polen in der Sprache der Neuzeit (1530 – 1795)] (Res Humanae, Studia, 6), Warszawa 1998, 142 – 171. 10 Hans-Jürgen Bömelburg, Die Magnaten. Avantgarde der Ständeverfassung oder oligarchische Clique?, in: Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert, hrsg. v. Joachim Bahlcke/Hans-Jürgen Bömelburg/Norbert Kersken (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa), Leipzig 1996, 119 – 133, 127. 11 Artikel 4 der Verfassung von 1791 stellte die Bauern „unter die Obhut des Rechtes und der Landesregierung“. Polnische Verfassung vom 3. Mai 1791, übersetzt von Gotthold Rhode, in: Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791. Beiträge zum 3. deutsch-polnischen Historikerkolloquium im Rahmen des Kooperationsvertrages zwischen der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´ und der Christian-Albrechts-Universität
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These 2: Innerhalb der einzelnen Herrschaftsräume des polnisch-litauischen Reichsgebildes gab es zahlreiche Ansätze einer institutionalisierten Dreieckskommunikation. Zwischen ihnen existierten aber kommunikative Barrieren, die triangulatorisch kaum zu durchbrechen waren. In der Sphäre der Republik waren Adel, Monarch und öffentliche Institutionen gewissermassen von vornherein triangulatorisch aufeinander bezogen: Der Zugang zu den Landtagen und zum Reichstag begründete eine politische Partizipation des Adels, in deren Rahmen den Einrichtungen ständischer Selbstorganisation obrigkeitliche Macht zugeschrieben und verschiedene ,dritte Ecken‘ diszipliniert wurden – so die Beamten der Republik und, an deren Spitze, der König selbst. Letzterer war nicht nur auf die Bewilligung von Steuermitteln durch die (ausschließlich adligen) Stände angewiesen; nach dem 1505 festgelegten Grundsatz nihil novi bedurfte jede bedeutende gesetzliche Neuerung der Zustimmung der Adelsvertreter12. Der Monarch krönte aber auch seinerseits zahlreiche kommunikative Dreiecke. Von besonderem Interesse sind für uns dabei die Ansätze autonomer herrschaftsvermittelnder Verfahren, wie sie etwa die Beziehung zwischen dem König und den Untertanen der Domäne regulierten13. Das königliche Assessorialgericht, das sich im 16. Jahrhundert aus dem Hofgericht herausgebildet hatte, bis 1764 unter der Leitung der Grosskanzler stand und im Namen des Königs die ökonomischen und finanziellen Interessen der Krone verteidigte, nahm als Appellationsinstanz Klagen aus den königlichen Städten entgegen14. Mit dem Referendargericht entstand darüber hinaus eine spezielle Anlaufstelle für Domänenbauern, die sich an den König wenden und rechtlich gegen Missbräuche ihrer adligen Herren vorgehen wollten15. Assessorialzu Kiel unter Mitarbeit von Eckhard Hübner, hrsg. v. Rudolf Jaworski (Kieler Werkstücke, Reihe F, 2), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1993, 129 – 143, 131 – 132. 12 De non faciendis constitutionibus sine consensu Consiliariorum et Nuntiorum Terrestrium. Volumina Legum, Bd. 1, Nachdruck Petersburg 1859, Ziffer 299 – 300 (1505). 13 Außer Betracht fallen hier die konspirativen Kontakte zu Vertrauensleuten, mit denen gerade auch die ausländischen Wahlkönige ihre Position in Polen-Litauen zu kontrollieren und zu festigen versuchten. Zu Begriff und Bedeutung der Verfahrensautonomie vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: Vormoderne politische Verfahren, hrsg. v. ders. (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 25), Berlin 2001, 9 – 24, 15 – 19. 14 1764 wurde das Assessorialgericht in ein kollegiales, in der Regel mit Stimmenmehrheiten operierendes Gericht umgewandelt. Vgl. zu dieser Institution Maria Woz´niakowa, Sa˛d Asesorski Koronny (1537 – 1795). Jego organizacja funkcjonowanie i rola w dziejach prawa chełmin´skiego i magdeburskiego w Polsce [Das Kronassessorialgericht (1537 – 1795). Seine Organisation, Funktionsweise und Rolle in der Geschichte des Kulmer und des Magdeburger Rechts in Polen], Warszawa 1990. 15 In Litauen lag diese Funktion beim Assessorialgericht, vgl. J. Lukowski, Liberty’s Folly (Anm. 1), 104. Zum Referendargericht als dem einzigen „staatlichen“ Gericht der Rzeczpospolita, das sich um die Belange der Bauern kümmerte, vgl. Wste˛p [Einleitung], in: Ksie˛gi Referendarii Koronnej z czasów saskich. Sumariusz [Die Bücher des Referendargerichts der Krone aus der sächsischen Zeit. Verzeichnis], Bd. 1 (1698 – 1732), hrsg. v. Maria Woz´niakowa, Warszawa 1969, 3 – 35, 3. Zu Reform und Tätigkeit des Referendargerichts seit den 1760er Jahren vgl. Alicja Falniowska-Gradowska, Ostatnie lata działalnos´ci sa˛du referendar-
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wie Referendargericht stützten sich in ihren investigativen und exekutiven Funktionen auf die Entsendung bevollmächtigter Kommissionen. Aus herrschaftlicher Perspektive bestand das Ziel dieser Institutionen vor allem darin, der ruinösen Ausbeutung der Domäne durch temporäre Nutzniesser Grenzen zu setzen. Allerdings gelang es adligen Inhabern von Krongütern immer wieder, sich mit Hilfe ihrer ständischen Privilegien und persönlichen Netzwerke über die Absichten klagender Untertanen zu informieren, Aufmüpfige einzuschüchtern und die Autonomie der königlichen Gerichtsbarkeit zu ihren Gunsten auszuhebeln; dies umso mehr, als es ja adlige Standesgenossen waren, die stellvertretend für den Monarchen Recht sprachen16. Im Bereich der königlichen Tafelgüter kümmerte sich im 18. Jahrhundert neben den genannten Gerichten auch eine spezielle Schatzkommission um die Anliegen der Untertanen – dazu unten mehr (These 4). Auch auf den großen Gutskomplexen des Adels und der Geistlichkeit lassen sich triangulatorische Konstellationen beobachten. Vom gängigen Medium der Bittschrift einmal abgesehen17, ist dabei wiederum die Frage von Belang, inwiefern die lokale Herrschaft den Bauern wenigstens gutsintern einen gewissen rechtlichen Schutz gegen Misshandlungen gewährte. Gut dokumentiert ist das diesbezügliche Verfahren für die Besitzungen von Anna Jabłonowska in Kock und Siemiatycze: Die aufgeklärte Fürstin, die in den 1780er Jahren für die Verwaltung ihrer nördlich von Lublin gelegenen Güter ein achtbändiges, an zeitgenössische Policeyordnungen erinnerndes Regelwerk publizierte, stellte sich ihren Untertanen als oberste Appellationsbehörde zur Verfügung – wenn auch mit der ausdrücklichen Warnung, dass jene, die erfolglos gegen die Urteile der unteren Instanzen appellierten, streng bestraft würden. Auf Inspektionsreisen und anhand eines strikt reglementierten, von ihr persönlich kontrollierten Berichtswesens informierte sich Anna Jabłonowska regelmäßig über den Zustand ihrer Güter18.
skiego koronnego (1768 – 1793) [Die letzten Jahre der Tätigkeit des Referendargerichts der Krone (1768 – 1793)], Wrocław 1971. 16 Vgl. Wste˛p, in: Ksie˛gi Referendarii Koronnej z czasów saskich (Anm. 15), 14. Für die Vermutung, zwischen dem 17. Jahrhundert und der Reform von 1764 hätten langwierige Verfahren und hohe Kosten bäuerliche Appellationen beim Referendar- oder Assessorialgericht weitgehend verhindert, vgl. J. K. Hoensch, Sozialverfassung (Anm. 1), 159. 17 In publizierter Form sind etwa bäuerliche Bittschriften aus den Gütern des Erzbistums Gnesen zugänglich: Supliki chłopskie XVIII wieku z Archiwum Prymasa Michała Poniatowskiego [Bäuerliche Bittschriften des 18. Jahrhunderts aus dem Archiv des Primas Michał Poniatowski], hrsg. v. Janina Leskiewicz/Jerzy Michalski (Materiały do dziejów wsi polskiej, Seria I), Warszawa 1954. 18 Janina Bergerówna, Ksie˛z˙na Pani na Kocku i Siemiatyczach (Działalnos´c´ gospodarcza i społeczna Anny z Sapiehów Jabłonowskiej) [Die ökonomische und soziale Tätigkeit der Anna Jabłonowska, geb. Sapieha] (Archiwum Towarzystwa Naukowego we Lwowie, II/XVIII/1), Lwów 1936 (zu den erwähnten Appellationsmöglichkeiten: 174 und 240 – 241). Das Regelwerk der Fürstin war zunächst in ihrer Privatdruckerei und kurz darauf in Warschau gedruckt worden: [Anna Jabłonowska], Ustawy powszechne dla dobr moich rza˛dzców [Allgemeine Regeln für die Verwalter meiner Güter], 8 Bände, Warszawa 1786 – 87.
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Mit anderen Worten: Im begrenzten Rahmen partikulärer Herrschaftsräume gab es in Polen-Litauen verschiedene Ausprägungen herrschaftsvermittelnder Dreieckskommunikation. Gleichzeitig ist aber nicht zu erkennen, dass triangulatorische Verfahren das herrschaftliche Gesamtgefüge systematisch verzahnt oder gar im Sinne eines einheitlichen Staates integriert hätten. Die Schnittstelle zwischen der Sphäre der Republik und dem persönlichen Machtbereich adliger oder kirchlicher Gutsherren bildete eine kommunikative Barriere, die triangulatorisch kaum zu durchstoßen war. Für den herrschaftlichen Zugriff auf die Wirtschaft und Verwaltung eines Adelsgutes führte kein Weg am jeweiligen Gutsbesitzer vorbei: Der Monarch hatte im 15. Jahrhundert dem Adel nicht nur zugesichert, dass ohne rechtsgültiges Gerichtsurteil kein Edelmann verhaftet und kein adliger Grundbesitz eingezogen werden dürfe; den königlichen Funktionären wurde es in der Folge auch gesetzlich untersagt, ohne die Erlaubnis des jeweiligen Hausherrn in einen adligen Wohnsitz einzudringen19. Dazu passt, dass die königlichen Gerichte seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keine Adelsbauern mehr anhörten, die rechtlich gegen ihre Herren vorgehen wollten; dieser Kanal stand fortan nur noch den Kronbauern offen20. Mindestens bis 1791 war der adlige (beziehungsweise kirchliche) Gutsherr für seine Untertanen nun die Obrigkeit letzter Instanz – eine Instanz, die sich allenfalls durch Traditionen, Sitten und wirtschaftliche Interessen mäßigen ließ, die formell aber durch keine höhere Gewalt diszipliniert wurde. These 3: Im Kommunikationsraum der Rzeczpospolita entwickelten sich herrschaftsrelevante kommunikative Bypässe weniger entlang einer hierarchischen Vertikale als auf der horizontalen Ebene konkurrierender Instanzen. Die adlige Freiheitsideologie und die Vorstellung einer rechtlichen Gleichstellung aller Edelleute liefen in Polen-Litauen der Etablierung einer effizienten zentralen Obrigkeit zuwider. Stattdessen bildeten sich Mechanismen des Interessenausgleichs und eine blühende adlige Streitkultur heraus – eine Lust an der gleichberechtigten Auseinandersetzung, die sich einerseits in den Debatten der Reichs- und Landtage und andererseits in einer Flut von Gerichtsprozessen niederschlug. Das Justizwesen war fein differenziert; die Gerichte des Adels, der Kirche, des Hofes und der Städte (um nur die wichtigsten zu nennen) fügten sich zu einem komplexen System der Rechtsprechung zusammen. In der Praxis überkreuzten sich die Jurisdiktionen allerdings in vielfältiger Weise; die rechtlichen Grundlagen der Verfahren waren oftmals unpräzis formuliert, und bei Überlastung oder sonstigem Unvermögen einer zustän19
Zur souveränen, königsähnlichen Position eines polnischen Adligen auf seinem Gut vgl. Stanisław Salmonowicz, Le pouvoir absolu du noble polonais dans son manoir, in: Noblesse française et noblesse polonaise. Mémoire, identité, culture. XVIe-XXe siècles, hrsg. v. Jarosław Dumanowski/Michel Figeac, Pessac 2006, 153 – 160. 20 Zum Entscheid König Zygmunts I. (1506 – 1548), sich nicht auf die Konflikte zwischen den Adelsbauern und ihren Herren einzulassen, und zum damit verbundenen vollständigen Übergang der Gerichtsbarkeit über die Untertanen der Adelsgüter an die jeweiligen Gutsherren vgl. A. Falniowska-Gradowska, Ostatnie lata działalnos´ci sa˛du referendarskiego koronnego (Anm. 15), 7.
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digen Behörde kam es immer wieder zu situativen Kompetenzverlagerungen. In diesem juristischen Geflecht schien für einen Adligen nie etwas endgültig entschieden zu sein: Urteile konnten durch das Verdikt eines anderen Gerichts umgestossen oder ausgesetzt werden, fast jeder Bescheid ließ sich an eine andere Instanz oder an die nächste Session desselben Gerichts weiterziehen, und außerdem konnten Entscheidungen durch freundschaftliche Appelle, politischen Druck oder Bestechungsgelder beeinflusst werden. Auch der König versuchte immer wieder, die Arbeit der Adelsgerichte in bestimmte Bahnen zu lenken21. Bei all dem verklammerten die horizontalen Bypässe adliger Streitkultur das polnisch-litauische Reichsgefüge in einer Art, die sich von der vertikalen Dynamik fürstenstaatlicher Herrschaftsbildung unterschied: Verbindend wirkte hier weniger die Durchsetzung von Machtansprüchen als ihr geregeltes Verhandeln und Bestreiten. Die notorische Konkurrenz der Institutionen und die Variabilität der Verfahren eröffneten den individuellen Akteuren einen Handlungsraum, der den Verheissungen der goldenen Freiheit zu entsprechen schien. In der politischen Realität wurde die verklärte Horizontale adliger Gleichberechtigung freilich zunehmend vertikal deformiert – nicht so sehr durch den Druck eines starken Staates, sondern durch faktische Ungleichheiten innerhalb des Adels selbst. Unüberbrückbare soziale und ökonomische Unterschiede trennten in der Endphase der Adelsrepublik die dünne magnatische Elite von der Szlachta, und der pauperisierte Massenadel sah sich immer öfter gezwungen, durch Veräusserung seiner politischen Rechte die Protektion eines reichen Herrn zu erkaufen. Der Aufstieg einer ,Magnatenoligarchie‘ seit der Mitte des 17. Jahrhunderts sowie die politische Instrumentalisierung des Kleinadels im Rahmen steiler klientelistischer Abhängigkeiten markierten für viele Zeitgenossen und Historiker denn auch den Niedergang der alten Rzeczpospolita22. These 4: Eine mit dem Fürstenstaat vergleichbare Dreieckskommunikation ist in Polen-Litauen am ehesten im Bereich der königlichen Tafel zu beobachten. An der Schnittstelle zwischen res publica und adliger Hausmacht bildete die Domäne einen eigenen Herrschaftsraum. Sie umfasste jene Besitzungen der Monarchie, die im Laufe der Zeit nicht in adlige oder kirchliche Hände gefallen waren, sondern seit dem 14. Jahrhundert zunehmend als ein unantastbares, dem ganzen Gemeinwesen gehörendes Gut wahrgenommen wurden. Da es später zu den Aufgaben des Königs gehörte, einen grossen Teil der królewszczyzny (übersetzt meist als ,Krongüter‘, ,Königsgüter‘ oder auch ,Staatsgüter‘) verdienten Adligen zur lebenslangen Nutzung zuzuteilen, war auch die dortige Bevölkerung faktisch der unmittelbaren Verfügungsgewalt adliger Herren ausgeliefert. Im Unterschied zu den adligen Erbgütern, 21
Überblicksartig zum Justizwesen: J. Lukowski, Liberty’s Folly (Anm. 1), 101 – 105. Zur Überzeugung der Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, geordnete Verhältnisse könnten nur wiederhergestellt werden, wenn die unselige Symbiose zwischen Magnaten und landlosem Kleinadel zerschlagen und Letzterem die politischen Rechte entzogen würden, vgl. etwa Jerzy Jedlicki, Klejnot i bariery społeczne. Przeobraz˙enia szlachectwa polskiego w schyłkowym okresie feudalizmu [Kleinod und gesellschaftliche Barrieren. Wandlungen des polnischen Adels in der Endphase des Feudalismus], Warszawa 1968, 147. 22
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wir haben es gesehen, verfügten die Untertanen der Domäne aber immerhin über die formelle Möglichkeit, kommunikativ an ihrem lokalen Herrn ,vorbeizutriangulieren‘ und sich mit Klagen direkt an den König und seine Gerichte zu wenden. Außerdem unterlagen die Domänengüter sporadischen Lustrationen und Inventarisierungen durch Kommissionen des Reichstags23. Ein kleiner Teil der Domäne war zur Finanzierung des Hofes bestimmt und blieb der autonomen Verwaltung und Bewirtschaftung durch den Monarchen vorbehalten. Die 1589/90 gesetzlich konstituierte königliche Tafel (mensa Regia) bestand aus rund einem Dutzend Gutsbetrieben, ,Ökonomien‘ genannt, die sich über das ganze Territorium der Republik verteilten; dazu kam eine Reihe von Abgaben und Zöllen. Innerhalb der Domäne (und erst recht innerhalb der Adelsrepublik) bildete die mensa Regia in mehrfacher Hinsicht einen Sonderbereich: Sie war eine Nische intakter obrigkeitlicher Herrschaft, in welcher der König weitgehend ohne die Einmischung der Stände schalten und walten konnte; sie war eine Überlappungszone unterschiedlicher politischer und administrativer Kulturen, wo sich lokale Herrschaftspraktiken mit den Mentalitäten und Ordnungsvorstellungen auswärtiger Wahlkönige verbanden; und sie war in diesem Zusammenhang im 18. Jahrhundert ein Experimentierfeld der Bürokratie, auf dem die Könige sächsischer Herkunft kameralistisch inspirierte Reformen realisierten, wie dies im politisierten Herrschaftsraum der Republik sonst nicht denkbar gewesen wäre24. Nirgendwo in der Sphäre staatlicher Macht konnte sich der strukturbildende Mechanismus vertikaler herrschaftlicher Dreieckskommunikation so gut entfalten wie auf den königlichen Tafelgütern, nirgendwo wurde er direkter gefördert. Wie in der übrigen Domäne stand den Untertanen der mensa Regia der Weg vor die königlichen Gerichte prinzipiell offen. Darüber hinaus fungierte die königliche Schatzkommission, welche die Tafelgüter unter den sächsischen Königen zentral verwaltete, als Anlaufstelle für Klagen aus der Bevölkerung. In einem gewissen Sinne markierte die Einrichtung dieser – gemeinhin als kamera bekannten – Schatzkommission den Übergang von einer justizförmigen zu einer verwaltungsförmigen Herrschaft: Die Kommission hatte zunächst ,königliches Schatzgericht‘ (sa˛d skarbowy królewski) geheissen und blieb der Gerichtsbarkeit der Ökonomieverwaltungen auch weiterhin übergeordnet; gleichzeitig bildete sie das Herzstück eines neuartigen adminis23
In der Praxis wurden die Domänengüter Kronpolens nicht mit der ursprünglich geplanten Regelmäßigkeit lustriert, jene in Litauen bis 1765 gar nicht. Zur Geschichte der królewszczyzny vgl. die Arbeiten von Anna Sucheni-Grabowska, etwa den Artikel ,królewszczyzny‘, in: Encyklopedia Historii Gospodarczej Polski do 1945 roku [Enzyklopädie der Wirtschaftsgeschichte Polens bis 1945], hrsg. v. Antoni Ma˛czak, Warszawa 1981, Bd. 1, 389 – 391; ferner Łucyan Jasin´ski, Beiträge zur Finanzgeschichte Polens im XVIII. Jahrhundert, Posen 1909, 65 – 77. 24 Peter Collmer, Königlicher Wille und administrative Praxis. Zur sächsischen Herrschaft in Polen-Litauen im 18. Jahrhundert, in: Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950, hrsg. v. Stefan Haas/Mark Hengerer, Frankfurt am Main 2008, 105 – 117.
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trativen Instanzenzuges25. August III. rief 1736 die Städte, Dörfer und Einwohner der Ökonomien offiziell dazu auf, Missstände furchtlos zu melden und die Schatzkommission über „Usurpationen“ und andere Schädigungen des königlichen Schatzes treu und dienstwillig zu informieren26. Bisweilen stifteten königliche Kommissare, wenn sie den Anteil des Monarchen am Ertrag der Tafelgüter gefährdet sahen, die Untertanen auch regelrecht dazu an, sich beim Hof über ihre lokalen Herren zu beschweren27. Zum Schutz bäuerlicher Interessen, besonders vor den Adelsgerichten, engagierte die Schatzkommission in den einzelnen Ökonomien spezielle Advokaten28. Die Bewohner der Tafel selbst verliehen ihren Anliegen immer wieder Nachdruck, indem sie ihre beschränkten Handlungsmöglichkeiten kombinierten, sich also beispielsweise mit Bittschriften an den König beziehungsweise an die königliche kamera wandten und gleichzeitig den Rechtsweg vor das Referendargericht beschritten29. Selbst für die Untertanen der mensa Regia blieb die Verteidigung eigener Rechte aber ein dornenvolles Unternehmen: Primäre Anlaufstelle für alle Anliegen war auch hier die örtliche Administration – und diese wusste weiteres Aufbegehren oft genug mit schlagkräftigen Argumenten zu verhindern30.
25 Zur königlichen Schatzkommission (deren institutionelle Vorläufer ins 17. Jahrhundert zurückreichen) vgl. Edward Stan´czak, Kamera saska za czasów Augusta III [Die sächsische Kammer unter August III.], Warszawa 1973. Zur Justiz- bzw. Verwaltungsförmigkeit von Herrschaft vgl. etwa W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (Anm. 1), 153 – 154. 26 August III.: Uniwersał [Bekanntmachung], 9.7. 1736. Archiwum Główne Akt Dawnych (AGAD; Hauptarchiv der alten Akten, Warschau), Archiwum Kameralne, II/177. Bereits August II. hatte ähnliche Rundschreiben veranlasst, vgl. Protokoll der königlichen Schatzkommission, 13.6. 1729 (Entwurf). AGAD, Archiwum Kameralne, I/6. 27 Ein Beispiel für die Indienstnahme bäuerlichen Aufbegehrens durch die königliche Verwaltung (Ökonomie von Mohylew) findet sich in E. Stan´czak, Kamera (Anm. 25), 186. 28 Zum lokalen Gerichtswesen in den Ökonomien und zur Rolle der königlichen Schatzkommission in diesem Bereich vgl. E. Stan´czak, Kamera (Anm. 25), 193 – 198. 29 Dabei konnten sich die Klagen auch gegen andere Untertanen richten – wie im Fall jener bäuerlichen Gemeinde in der Ökonomie von Sambor, die in den 1740er Jahren wegen mutmaßlich unrechtmäßiger Steuerverweigerung einiger schmarotzender Dorfbewohner nicht nur bei der Warschauer Schatzkommission vorstellig wurde, sondern – trotz günstigem Bescheid derselben – auch vor das Referendargericht zog und die Angeschuldigten sogar tätlich angriff, vgl. E. Stan´czak, Kamera (Anm. 25), 190 – 191. 30 Bauern der Ökonomie von Sambor, die sich mit Bittschriften an die Ökonomieverwaltung gewendet hatten, klagten, Vizeadministrator Dwernicki habe sie derart verprügeln lassen, dass einer von ihnen gestorben sei, vgl. E. Stan´czak, Kamera (Anm. 25), 200. Zu Dwernicki vgl. auch das nachfolgende Quellenbeispiel.
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II. „Warschau wird ihm nicht helfen.“ Ein Quellenbeispiel zur herrschaftlichen Kommunikation auf den königlichen Tafelgütern Die folgenden Ereignisse sind in einem Bericht festgehalten, den die königliche Schatzkommission am 30. Dezember 1741 an August III. sandte31. Schauplatz des Geschehens war die in Ruthenien, südwestlich von Lemberg gelegene Ökonomie von Sambor. Es handelte sich dabei um eines der grössten und sozioökonomisch heterogensten Tafelgüter des Königs: Neben den Vorwerken und bäuerlichen Wirtschaften wurden hier grosse Salzsiedereien betrieben, außerdem umfasste die Ökonomie drei Städte – darunter Neu-Sambor (Nowy Sambor), das im Jahr 1390 das Magdeburger Stadtrecht erhalten hatte und über ein urbanes Gepräge mit Zünften und eigenem Stadtregiment verfügte32. Zur fraglichen Zeit war die Ökonomie an einen adligen Herrn namens Franciszek Borze˛cki verpachtet. Dieser kümmerte sich aber nicht persönlich um die Verwaltung des Tafelgutes, sondern delegierte diese Aufgabe an seinen Standesgenossen Dwernicki, der als Vizeadministrator auf dem Schloss von Sambor residierte. Gemäß Bericht begann alles damit, dass sich die Zünfte von (Neu-)Sambor im Januar 1741 bei der königlichen Schatzkommission über das Gebaren lokaler Steuereintreiber und einzelner Mitglieder des städtischen Magistrats beklagten; diesen Leuten möge man doch bitte befehlen, über die Gelder Rechenschaft abzulegen, die durch ihre Hände geflossen waren. Die Schatzkommission stimmte zu und ordnete an, der Magistrat habe wie verlangt – und wie es den Gesetzen entspreche – vor der Ökonomieverwaltung über die Erhebung und Verwendung der Steuern seit 1734 zu berichten. An den Administrator der Ökonomie ging der Auftrag, allfällige Betrogene entschädigen zu lassen, über den entstandenen Schaden nach Warschau zu berichten und den städtischen Magistrat bei mangelnder Kooperation vor dem königlichen Assessorialgericht zu belangen. 31 Königliche Schatzkommission: Bericht an den König (französisch), Warschau, 30.12. 1741. Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Dresden (HStAD), 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 3522/12. Dem Bericht sind zwei Dokumente beigelegt: A. Traduction De la relation, de ce qui a donné lieu à faire distribuer par le Sieur Krzyzanowski, Juge Criminel de la Ville de Sambor, au Nom de l’Administration de cette Economie, aux habitans Economiques, de diverses Conditions et Metiers, de l’argent, pour en fournir des Toiles en Pieces, nommées Pułsetki; Laquelle relation contient ce qui a eté verifié par recherche qui en a eté faite à Sambor au Mois de Novembre de l’Année 1741 sowie B. Traduction De l’Inquisition, faite par la deposition de Temoins, pour avoir Information des raisons, pour lesquelles Le Vice-Administrateur de l’Economie de Sambor, Dwernicki, a fait maltraitter et battre à plusieures reprises Theodor, Sambor, 3.11. 1741. Der Sachverhalt ist im Folgenden leicht vereinfacht wiedergegeben; ausgeblendet wird der Streit der verschiedenen Parteien über die Rechte der Juden und Jesuiten. 32 Zur Geschichte der zweimal (an verschiedenen Orten) gegründeten Stadt Sambor und zur Verleihung des Magdeburger Rechts an Nowy Sambor vgl. Słownik geograficzny Królestwa Polskiego i innych krajów słowian´skich [Geografisches Wörterbuch des Königreichs Polen und anderer slawischer Länder], Bd. 10, hrsg. v. Bronisław Chlebowski/Władysław Walewski, Warszawa 1889, 235 – 241.
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Es geschah wie befohlen: Die Angeschuldigten rechtfertigten sich vor Vizeadministrator Dwernicki, worauf dieser im März 1741 ein Dekret zur Bereinigung der strittigen Finanzfragen erließ. Doch damit nicht genug: Dwernicki nutzte die Gelegenheit, um auch gleich noch eine ganze Reihe von Mitgliedern des Magistrats abzusetzen, namentlich vier Brüder aus der Familie Sakielarowicz, denen er für sechs Jahre die Rückkehr ins Amt untersagte. Dies wiederum stellte eine Kompetenzüberschreitung durch die Ökonomieverwaltung dar, die von der Warschauer Schatzkommission nicht gebilligt wurde. Auch sonst fiel Dwernicki unangenehm auf: Einer königlichen Untersuchungskommission, die aus anderen Gründen in Sambor weilte, kamen Klagen gegen den Vizeadministrator zu Ohren – unter anderem jene, dass er die Weber zwinge, exklusiv und zu einem reduzierten Preis für ihn zu produzieren33. Diesen Vorwurf erhob besonders lautstark der abgesetzte Theodor Sakielarowicz. Als Dwernicki davon erfuhr, fühlte er sich ungebührlich angeschwärzt und in seiner Ehre verletzt; er ließ den Ex-Magistraten von Soldaten fassen, ins Schloss von Sambor zerren und bis zur Bewusstlosigkeit verprügeln. Nicht besser erging es Bruder Konstantin Sakielarowicz: Diesen ließ der Vizeadministrator gemäß Bericht ebenfalls schlagen „jusqu’à ce que le Sang ruisseloit, et que la Chair quittoit les Os“ und lieferte ihn anschließend einem adligen Gläubiger aus, als Pfand für die Schulden der Stadt. Den städtischen Magistrat besetzte Dwernicki eigenmächtig mit neuen, ihm ergebenen Mitgliedern. Die Schatzkommission war empört. Sie taxierte die Affäre als einen Vorfall, der nicht nur die Privilegien einer königlichen Stadt, sondern die Autorität des Königs selbst verletzte. Am Ende ihres Berichtes schlug die kamera dem Hof vor, gegen den anmassenden Vizeadministrator vorzugehen – entweder, indem man ihn ohne lange zu fackeln nach Warschau hole und hier aburteilen lasse; oder durch Vermittlung des zuständigen Pächters Borze˛cki und des Adelstribunals in Lublin. Der König entschied sich für die zweite, rechtskonforme Lösung34. Soweit das Quellenbeispiel. Es fördert verschiedene Ansätze einer disziplinierenden und informierenden Dreieckskommunikation zu Tage: In der ersten Phase des Konflikts nützten Einwohner der Stadt Sambor erfolgreich jenen direkten Draht zur zentralen Tafelverwaltung, den August III. ihnen ans Herz gelegt hatte. Sie beklagten sich über Missbräuche im Steuerwesen und erwirkten eine Disziplinierung der Stadtoberen. In der zweiten Phase lagen sich die städtische Selbstverwaltung und die Administration der Ökonomie in den Haaren – massgeblich deshalb, weil sich Vizeadministrator Dwernicki über die verbrieften Rechte der Stadt hinwegsetz33 Nicht nur den Webern, so der spätere Untersuchungsbericht, sondern auch anderen Untertanen sei Geld aufgezwungen worden, aus dem die Administration dann auf Kosten der „pauvres Sujets Economiques“ einen Profit von 55 Prozent heraushole: „Usure notable, defendüe par les Loix Divines et humaines.“ Vgl. Beilage A. Traduction De la relation […] (Anm. 31). 34 Resolutions du Roy Sur les Points et demandes de la Commission du Trésor […], Beilage zu: August III. an die königliche Schatzkommission (beglaubigter Entwurf), 18.4. 1742. HStAD, 10026 Geheimes Kabinett, Loc. 3522/12.
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te. Auch jetzt erweiterte der Einbezug der königlichen Schatzkommission den Streit zu einer herrschaftlichen Dreieckskommunikation. Die disziplinierenden Effekte der Triangulierung wurden aber durch massive Interferenzen zwischen formalen Verfahrensregeln und realen Machtverhältnissen gestört: Vizeadministrator Dwernicki dachte gar nicht daran, den Part des folgsamen Funktionärs zu spielen. Er agierte als das, was er seinem Selbstverständnis nach eben war: als freier Adliger, dem niemand etwas zu befehlen hatte. Den abgesetzten Magistraten Theodor Sakielarowicz sprach er verächtlich als „Herr Bauer“ an, und auf die lästige direkte Kommunikation zwischen Stadtbewohnern und königlicher Kommission reagierte er mit roher Gewalt. Als der zusammengeschlagene Theodor Sakielarowicz trotzig verkündete, er werde den König informieren (zuvor hatte er bereits Gott angerufen), ließ ihn der Schlossherr gleich noch einmal verprügeln. Schließlich die dritte Phase, die offene Auseinandersetzung zwischen dem Vizeadministrator und der königlichen Schatzkommission. In dieser Situation würde man vielleicht eine einfache Befehl-Gehorsam-Relation erwarten. Zu beobachten ist aber wiederum eine Dreieckskonstellation, indem der absehbare Einbezug der adligen Gerichtsbarkeit das Verhalten des Königs von vornherein mäßigte. Nicht nur die betroffenen Edelleute selbst attestierten dem in Lublin tagenden kleinpolnischen Adelstribunal Zuständigkeit; im Wissen um die realen Machtverhältnisse tat es auch der Hof. Damit wurde aber die hierarchische Vertikale königlicher Herrschaft letztlich auch auf dem Gebiet der mensa Regia, diesem Kernbereich königlicher Machtentfaltung, in die Horizontale der adligen Streitkultur gezwungen. Die Zeitgenossen waren sich der beschränkten Wirkung kommunikativer Bypässe durchaus bewusst. Bürgermeister Malinowski meinte mit Blick auf den geschundenen Theodor Sakielarowicz nüchtern: „[…] il presente des memoires, et veut penetrer trop avant dans les affaires, Mais ces Memoires ne le meneront à rien de bon. Ni Varsovie, ni la Chambre du Tresor ne l’aidera, ni ne lui servira de rien.“35 III. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Bedeutung herrschaftlicher Dreieckskommunikation ist in der zerklüfteten machtpolitischen Topografie Polen-Litauens differenziert zu beurteilen. Betrachtet man den Herrschaftsverband als Ganzes, so wird rasch deutlich, dass die Souveränität der adligen Gutsherren dem strukturierenden Potential triangulatorischer Beziehungen enge Grenzen setzte; namentlich der direkte Kontakt zwischen gesamtstaatlichen Instanzen und dem nichtadligen Gross-
35 Vgl. Zeugenaussage des Webers Gaczkowski in der Beilage B. Traduction De l’Inquisition […] (Anm. 31). Malinowski war zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse im Amt, wird in den zitierten Quellen dann aber bereits als ehemaliger Bürgermeister aufgeführt.
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teil der Bevölkerung war fast vollständig unterbunden36. Mehr Effekt zeitigten kommunikative Dreiecke innerhalb bestimmter Teilbereiche des herrschaftlichen Gefüges, so auf magnatischen Gutskomplexen oder auf dem Gebiet der königlichen Tafel. Der allgegenwärtige Vorrang adliger Interessen und persönlicher Machtansprüche – dies hat unser Quellenbeispiel verdeutlicht – widersetzte sich aber auch hier der disziplinierenden Wirkung autonomer herrschaftlicher Verfahren. Öffnet man den Blick ein wenig, so verbindet sich das Obige mit zwei anderen Forschungsdebatten: mit den allgemeinen Diskussionen darüber, in welche Richtung der Prozess frühneuzeitlicher Staatsbildung in Europa verlief; und mit dem neu erwachten Interesse am Vergleich zwischen Altem Reich und polnisch-litauischer Adelsrepublik. Was den ersten Punkt betrifft, so stehen der traditionellen Vorstellung von Herrschaft als einem zentral gesteuerten, von oben nach unten gerichteten Vorgang heute bekanntlich differenzierende Erkenntnisinteressen gegenüber: Was genau geschieht bei der Implementierung von Herrschaft? Inwiefern ist jeder Herrscher darauf angewiesen, dass ihm ,von unten‘, im Rahmen von kontinuierlichen Aushandlungsprozessen beziehungsweise von empowering interactions (André Holenstein), Macht zugeschrieben wird37 ? Die Zergliederung des herrschaftlichen Kommunikationsraums, wie sie am Beispiel triangulatorischer Verfahren konkret fassbar geworden ist, lässt für Polen-Litauen auch hier pauschale Aussagen als wenig sinnvoll erscheinen. Es ist insbesondere zu unterscheiden zwischen der Ebene der Rzeczpospolita, deren Handlungsfähigkeit, einschließlich der Befugnisse der Monarchie, spätestens seit dem 17. Jahrhundert fast vollständig auf adligem empowerment basierte; und dem weitläufigen Bereich persönlicher, auf privaten Rechtstiteln gründender Herrschaft, wo der Gutsadel selbst als Obrigkeit agierte und die reichsten Adelsfamilien ihre regionale Machtfülle nicht selten dazu nutzten, top down quasi-staatliche Ordnungen zu entwerfen. Der Anteil des ,Oben‘ und des ,Unten‘ an der Ausgestaltung von Herrschaft war in beiden Fällen offensichtlich ganz verschieden. In einer strukturgeschichtlichen und funktionalen Sichtweise – damit sind wir beim zweiten Punkt – scheint die Ebene regionaler magnatischer Herrschaft in vielem den deutschen Territorien und den aus ihnen entstandenen Fürstenstaaten zu entsprechen38. Während allerdings im Alten Reich die Territorien als Wiege einer mo36 Zum „Mediatverhältnis“, das zunächst auch anderswo in Europa zwischen entstehender Staatsgewalt und nichtadligen Untertanen bestand, vgl. W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (Anm. 1), 212. 37 André Holenstein, Introduction. Empowering Interactions: Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 – 1900, hrsg. v. Wim Blockmans/André Holenstein/Jon Mathieu, Farnham/Burlington 2009, 1 – 31. 38 Zu den Perspektiven eines polnisch-deutschen Reichsvergleichs vgl. etwa H.-J. Bömelburg, Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte in Mitteleuropa (Anm. 7). 2010 fand in Berlin eine Konferenz zum Thema ,Politische Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit. Vergleiche und Transfers‘ statt (Berlin, Zentrum für historische Forschung der Pol-
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dernen, von der Reichsebene zunehmend unabhängigen Staatsbildung gelten, blieb im polnisch-litauischen Fall die Gesamtrepublik stets ein maßgeblicher Rahmen herrschaftlicher Integration und (adliger) politischer Identität39. Der gut ausgebaute Schutz der persönlichen Machtsphäre vor dem herrschaftlich-kommunikativen Zugriff des Staates steigerte dabei zweifellos die Attraktivität eines politischen Systems, das auch sonst ganz auf die Bedürfnisse des besitzenden Adels zugeschnitten war.
nischen Akademie der Wissenschaften, 12.–14.11. 2010). Vgl. ferner Das Reich und Polen. Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im hohen und späten Mittelalter, hrsg. v. Thomas Wünsch (Vorträge und Forschungen, 59), Ostfildern 2003. 39 Zur Ausbildung des modernen Staates in den deutschen Territorien (und nicht im Reich) vgl. O. Brunner, Land und Herrschaft (Anm. 6), 113; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (Anm. 1), 56. Zur Tatsache, dass die Verfestigung der „magnatischen Struktur“ in PolenLitauen nicht zu einer Machtkonzentration führte, die mit der Territorialisierung im Alten Reich vergleichbar gewesen wäre, vgl. H.-J. Bömelburg, Die Magnaten (Anm. 10), 128.
Verteidiger des Glaubens und Verteidiger von Interessen. Herrschaftssicherung durch Kirchen- und Konfessionspolitik am Beispiel Karls VI. in den Südlichen Niederlanden Von Simon Karstens, Trier I. Zeit, Raum und Kontext In den Jahren 1713 und 1714 beendeten die europäischen Großmächte durch die Friedensverträge zu Utrecht, Rastatt und Baden den Spanischen Erbfolgekrieg. Auch wenn die beiden Anwärter auf das Erbe des Weltreiches – Philipp von Anjou und Karl von Habsburg – dabei bis zuletzt keine Einigung erzielen konnten, so nötigten ihre Verbündeten ihnen dennoch auf, sich mit einer Teilung des umkämpften Erbes abzufinden. Im Zuge dieser Vereinbarungen erhielt Karl von Habsburg, inzwischen zum sechsten Kaiser dieses Namens gekrönt, die Herrschaft über die südlichen, ehemals spanischen Niederlande1. Es handelte sich hierbei um einen relativ lose gefassten Herrschaftsverband im Gebiet des heutigen Belgiens und Luxemburgs, dessen starke Stände in den einzelnen Provinzen weitreichende Privilegien bewahren konnten. Ihre bisherige Zugehörigkeit zur spanischen Monarchie hatte zur Folge, dass eine Tradition zur Herrschaft aus der Distanz bestand, die durch Statthalter von fürstlichem Geblüt in Brüssel ausgeübt wurde. Diese Amtsträger verfügten dort, in der ersten Stadt der Provinz Brabant, über einen Hofstaat und einige gemeinsame Verwaltungsorgane für alle Provinzen, wie eine Rechenkammer und Ratsgremien2. 1 Zur Entwicklung der Südlichen Niederlande nach den Friedensschlüssen siehe die für Fragen der Verwaltung und Wirtschaft umfassende Studie: Klaas Van Gelder, Tien jaar trial and error. De opbouw van het oostenrijks bewind in de zuidelijke nederlanden (1716 – 1725), Univ. Diss. Gent 2011. Für den Übergang von spanischer zu österreichischer Herrschaft speziell 67 – 106. Eine Drucklegung der Studie in englischer Sprache wird vorbereitet. Vgl. auch die kurzen Übersichten von: Hervé Hasquin, Le temps des assainissements (1715 – 1740), in: La Belgique autrichienne, 1713 – 1794. Les Pays-Bas méridionaux sous les Habsbourg d’Autriche, hrsg. v. Hervé Hasquin, Brüssel 1987, 71 – 94; Catherine Denys/Isabelle Paresys, Les anciens Pays-Bas à l’époque moderne (1404 – 1815), Paris 2007, 141 – 206; Claude Bruneel, De spaanse en Oosterijkse Nederlanden (1585 – 1780), in: Geschiedenis van de Nederlanden, hrsg. v. C. H. Johan/E. Blom Lamberts, Rijswijk 1993, 181 – 206. 2 Zur Struktur und Entwicklung der Verwaltung in den Provinzen siehe Micheline Soenen, Institutions centrales des Pays-Bas sous l’Ancien Régime (Archives générales du royaume et Archives de l’état dans les provinces Guides, 15), Brüssel 1994; Erik Aerts/Michel Baelde/ Herman Coppens/Claude de Moreau Gerbehaye, Les institutions du gouvernement central des
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Neben diesen Institutionen banden auch ein gemeinsames Hochgericht in Mecheln und das dortige Erzbistum einige, aber nicht alle der südniederländischen Gebiete aneinander. Des Weiteren behinderten eigene Ständeversammlungen, Hochgerichte und Sonderrechte, ständisch kontrollierte Verwaltungsstrukturen in den einzelnen Provinzen und kirchliche Zugehörigkeiten, die weltlichen Grenzen widersprachen, schon seit langem Bemühungen um eine Zentralisierung. Für Karl VI., der seine Herrschaft als direkte Fortsetzung der spanisch-habsburgischen Traditionslinie verstand, stellte sich die Lage in seinen neuen Provinzen um 1714 in mehrfacher Hinsicht ungünstig dar3. Seine Verbündeten – die Generalstaaten und England – hielten bereits seit 1706 einen großen Teil der Provinzen vorgeblich zur Wahrung seiner Interessen und in seinem Namen besetzt und verweigerten auch nach dem Friedensschluss den Abzug. Trotz Drängen des Kaisers und seiner Unterhändler und trotz Bitten der Untertanen um Abzug der Alliierten und Übernahme der Macht durch den legitimen Souverän erklärten beide Seemächte die Unterzeichnung eines sogenannten Barrierevertrages zur unverzichtbaren Bedingung4. Erst nach erfolgter Ratifikation übergaben sie im Jahr 1716 offiziell die Herrschaft an Karl VI. und seinen Statthalter Prinz Eugen von Savoyen. Die Amtsträger des neuen Herrschers, unter ihnen auch einige, die bereits dem letzten spanischen Habsburger Karl II. gedient hatten, sahen sich nun bei der Aufgabe, die neue Herrschaft vor Ort zu etablieren, vor erhebliche Hindernisse gestellt5: Zum einen war die finanzielle Basis der Provinzen dauerhaft geschwächt. Dies betraf sowohl die Einkünfte des Souveräns, als auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Untertanen6. Die Schelde blieb für den Handel gesperrt, während zugleich dauerhafte Zolltarife den Handel der Alliierten Karls begünstigten und den seiner eigenen Untertanen benachteiligten. Hinzu kam die langwierige Verpflichtung, Entschädigungszahlungen für Kriegskosten zu leisten und zukünftige gemeinsame Militäraufwendungen zu bestreiten. Angesichts der schwachen Einnahmen blieb im folgenden Jahrzehnt das Begleichen der notwendigen Auslagen, allein für den Erhalt der eigenen Streitkräfte und die Besoldung der Beamten in Wien und Brüssel, ein Gegenstand steter Sorge und umfangreicher Reformversuche. Zum anderen musste Karl VI. seinen Verbündeten ein permanentes Garnisonsrecht in acht Festungsstädten zusichern. Dort stationierten die Generalstaaten zwei Pays-Bas habsbourgeois (1482 – 1795) (Studia/Archives générales du Royaume et Archives de l’État dans les Provinces, 56), Brüssel 1994. 3 Zum Leitbild der spanisch-habsburgischen Tradition siehe Simon Karstens, Die spanische Illusion. Tradition als Argument der Herrschaftslegitimation Karls VI. in den Südlichen Niederlanden 1716 – 1725, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23/2 (2012), 161 – 189. 4 Siehe zu den Barriereverhandlungen, den Vertragsbestimmungen und späteren Revisionsverhandlungen mit ausführlichen Belegen: K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 107 – 147. 5 Der Barrierevertrag ist publiziert bei: Österreichische Staatsverträge. England 1526 – 1748, hrsg. v. Alfred Francis Pribram, Innsbruck 1907, 298 – 325. 6 K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 263 – 309.
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Fünftel der von den Alliierten gemeinsam aufzustellenden 35.000 Soldaten, die eine permanente Verteidigungslinie gegen zukünftige französische Expansionsversuche bilden sollten7. Somit bezogen ab 1716 fremdkonfessionelle Truppen, die einem anderen Souverän gegenüber loyal waren, dauerhaft Stellung in Karls Herrschaftsgebiet. Lag hierin bereits per se eine potentielle Herausforderung für seinen Anspruch auf alleinige Souveränität, so kam erschwerend hinzu, dass fortan auch Soldatenfamilien und protestantische Militärgeistliche mit dem Recht auf freie Religionsausübung in den Festungsstädten lebten. Da deren Gemeinden sich seit Jahrhunderten nicht zuletzt durch Exklusion von Anhängern protestantischer Bewegungen selbst als katholische Gemeinschaften definiert hatten, lag hierin erhebliches Konfliktpotential. Drittens – und dies galt unabhängig vom Barrierevertrag – war Karl VI. bei der Verwaltung und Sicherung seiner Herrschaft in diesen abgelegenen und dezentral organisierten Provinzen auf die Kooperation der Stände angewiesen und musste ihnen dafür – gewissermaßen als Bedingung für ihre Anerkennung seiner Inauguration – die Bewahrung aller Privilegien und Freiheiten zusichern, die in ihren Ländern in spanischer Zeit bestanden hatten8. Die aus einem Bewusstsein um ihre eigene Bedeutung erwachsene Selbstsicherheit der Stände zeigte sich nicht nur in klaren Forderungen, die sie in einigen Provinzen für die Durchführung der feierlichen Inauguration erhoben, sondern auch bei Unruhen gegen die Beibehaltung von Reformen aus der kurzen französischen Herrschaftszeit und im Umgang führender Adeliger mit dem bevollmächtigten Minister, Marquis de Prié9. Letzterer hatte angesichts der permanenten Abwesenheit des militärisch in Ungarn gebundenen Statthalters Prinz Eugen von Savoyen die Aufgabe, die Administration in Brüssel zu leiten. Dort stand er in ständigem Kontakt zu den regionalen Eliten, die sich gegenüber dem ehemaligen ita-
7 Zur Einrichtung der Barrieregarnisonen und ihrer Problematik siehe: Roderick Geikie/ Isabel A. Montgomery, The Dutch Barrier 1705 – 1719, Cambridge 1930, 334 – 368. Catherine Denys, Les relations entre Pays-Bas du Nord et Pays-Bas du Sud autour du problème de la Barrière au XVIIIe siècle, une proposition de révision historiographique, in: Revue du Nord 87/359 (2005), 115 – 137. 8 So bspw. die in Schriftform fixierte „Blyde Inkomst“ oder „Joyeuse Entrée“ von Brabant, siehe exemplarisch: Piet Lenders, Vienne et Bruxelles: une tutelle qui n’exclut pas une large autonomie, in: La Belgique autrichienne 1713 – 1794. Les Pays-Bas méridionaux sous les Habsbourg d’Autriche, hrsg. v. Hervé Hasquin, Brüssel 1987, 37 – 70, 38 f. 9 Diese Konflikte sind hier nur kurz aufgezählt, vgl. ausführlich: Klaas Van Gelder, L’empereur Charles VI et „l’heritage anjouin“ dans les Pays-Bas méridionaux (1716 – 1725), in: Revue d’Histoire Moderne & Contemporaine 58/1 (2011), 53 – 79; Klaas Van Gelder, The investiture of Emperor Charles VI. in Brabant and Flanders. A test case for the authority of the new Austrian government, in: European review of history: Revue européenne d’histoire 18/4 (2011), 443 – 463; Karin Van Honacker, Lokaal verzet en oproer in de 17de en 18de eeuw. Collectieve acties tegen het centraal gezag in Brussel, Antwerpen en Leuven (Anciens pays et assemblées d’Etats, 98), Kortrijk-Heule 1994, 123 – 131.
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lienischen Diplomaten, je nach Blickwinkel, erhebliche Frei- oder Frechheiten herausnahmen10. Der Landesherr, seine mehrheitlich spanischen Beamten in Wien und auch seine Generäle und Amtsträger vor Ort, die an der Verwaltung der Niederlande beteiligt waren, setzten gegenüber den Untertanen in dieser Situation auf eine konsequente Darstellung des Kaisers als Bewahrer spanisch-habsburgischer Tradition, um seinem Anspruch auf Herrschaft Legitimität zu verleihen und so eine allgemein akzeptierte Handlungsgrundlage zu haben11. Die Übergabe der Souveränität an ihn wurde als Rückkehr zum Zustand vor 1700 und als Wiederkehr einer guten alten Ordnung nach einer Zeit der Okkupationen und fremdländischen Einflussnahme dargestellt12. Quellen bestätigen, dass ein erheblicher Teil der lokalen Eliten diese Traditionsbindung und den daraus abgeleiteten Herrschaftsanspruch nach der langen Kriegs- und Okkupationszeit bereitwillig akzeptierte. Sie griffen dies nach 1716 als Argument auf, um bei Konflikten den Kaiser auf die Traditionsbindung zu verpflichten, die er selbst zuvor geknüpft hatte und konnten dadurch administrative, legislative und personelle Kontinuitäten zur spanischen Herrschaftszeit rechtfertigen. In seiner Analyse dieser Zusammenhänge schlussfolgerte der belgische Historiker Klaas Van Gelder pointiert, dass Karl VI. und seine Amtsträger angesichts der Lage gezwungen waren, durch ein vorsichtiges Abtasten in Form eines ,Trial and Error‘, seinen Anspruch auf Souveränität langsam in eine stabile politische Ordnung umzusetzen13. Allerdings beruht seine Analyse explizit nicht auf Untersuchungen zum Themenfeld der Kirchen- und Konfessionspolitik, wie sie hier ergänzend vorgelegt werden. Die Frage, inwiefern Konfessionspolitik und die Interaktion mit Akteuren des Handlungs- und Kommunikationsnetzwerks ,Kirche‘ zur Legitimation und Stabilisierung der Herrschaft Karls VI. beitrugen, geht von der Prämisse aus, dass Herrschaftswechsel eine Situation des potentiellen Umbruchs bestehender Kommunikationsstrukturen und der daraus erwachsenen Herrschaftsbeziehungen waren14. Die 10 Zu den Konflikten um Minister de Prié siehe K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 207 – 212 u. 259 f. Hier wird auch die Historiographie kritisch analysiert und die Entstehung einer „zwarte legende“ über den Minister beschrieben. 11 Mit weiteren Belegen S. Karstens, Illusion (Anm. 3). Vgl. die Anmerkungen von K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 310 – 319. 12 Eine Ausnahme hiervon war die Inaugurationszeremonie in Brabant, die von vorhergehenden Unruhen geprägt war. Die Vertreter Karls VI. setzten hier auf eine Inszenierung herrschaftlicher Macht, während die Stände konträr dazu die lange, konstruktive Partnerschaft mit dem Haus Habsburg betonten, siehe Luc Duerloo, Discourse of Conquest, Discourse of Contract. Competing Visions on the Nature of Habsburg Rule in the Netherlands, in: Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie, hrsg. v. Gerhard Ammerer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 49), Wien 2007, 463 – 478 und K. Van Gelder, Investiture (Anm. 9). 13 K. Van Gelder, Trial (Anm. 1). 14 Vgl. Helga Schnabel-Schüle, Herrschaftswechsel. Zum Potential einer Forschungskategorie, in: Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herr-
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Interaktion mit einer neuen Autorität und einem neuen politischen Zentrum, das sich unter Umständen in Konkurrenz zu anderen europäischen Mächten etablieren musste, bot einen Handlungsraum für unterschiedliche regionale Akteursnetzwerke. In der von ihnen als Umbruchssituation wahrgenommenen Lage strebten sie ebenso wie der neue Herrscher nach der Bewahrung traditioneller oder der Eröffnung neuer Einflussmöglichkeiten auf bestimmte Politikfelder, wie die hier betrachtete Kirchen- und Konfessionspolitik. Aus der Summe ihrer Interaktionen entstand – so ist zumindest bei diesem Herrschaftswechsel zu zeigen – eine gemeinsame politische Ordnung, deren Ausgestaltung im Detail trotz der hierarchischen Struktur der Kommunikation keiner der beteiligten Akteure planen oder kontrollieren konnte. II. Kirche als Medium der Herrschaftsrepräsentation Kirchlichen Institutionen und den in ihnen eingebundenen Akteuren kam im beschriebenen Ereigniszusammenhang eine zentrale Bedeutung als Kommunikationsnetzwerk zu. Sie vermittelten den neuen Untertanen Karls VI. dessen Anspruch auf Souveränität und verliehen ihm zugleich Legitimität. Da Herrschaftsrepräsentation und ihre Techniken ein bekanntes Phänomen sind, sei an dieser Stelle nur in Schlagworten darauf verwiesen, dass durch Dankgottesdienste in Form des Te Deums, Glockengeläut bei Familienereignissen oder bei militärischen Erfolgen, Predigten, Fürbitten und ähnlichen Handlungen im Kontext kirchlicher Zeremonien, der neue Herrscher nicht nur im alltäglichen Leben seiner Untertanen präsent gemacht, sondern auch als zentraler Teil der Gesellschaftsordnung in einen sakralen Kontext eingebettet wurde15. Im hier untersuchten Zusammenhang lässt sich allerdings eine Besonderheit im Gebrauch dieser Form der Kommunikation und des herrschaftlichen Umgangs mit den kirchlichen Akteuren ausmachen, die dabei als Multiplikatoren auftraten. Hierfür ist ein kurzer Blick zurück in den Zeitraum 1706 bis 1716 notwendig, in dem England und die Generalstaaten als Okkupationsmächte im Namen Karls VI. den Großteil seiner Provinzen verwalteten16. In dieser Situation waren die protestantischen Amtsträger der beiden Seemächte bestrebt, das Potential der Kirche als Kommunikationsnetzwerk zu nutzen. Um dieses Vorgehen zu koordinieren, nutzten sie einen schaftswechseln in Europa, hrsg. v. Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich (Inklusion – Exklusion, 1), Frankfurt am Main 2006, 5 – 20 u. Simon Karstens/Helga Schnabel-Schüle, Herrschaftswechsel in vergleichender Perspektive 1700 – 1830 [Monographie in Vorbereitung]. 15 Siehe zur Übersicht: Sébastien Dubois, L’invention de la Belgique. Genèse d’un ÉtatNation 1648 – 1830, Brüssel 2005, 274 – 290. Vgl. zum konkreten Beispiel K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 319 – 323. 16 Vgl. Augustus J. Veenendaal, Het Engels-Nederlands condominium in de zuidelijke Nederlanden tijdens de Spaanse successieroorlog 1706 – 1716, Utrecht 1945 und Geikie/ Montgommery, Barrrier (Anm. 7). Durch eine vergleichende Perspektive sehr aufschlussreich: Hubert Van Houtte, Les occupations étrangères en Belgique sous l’ancien Régime, (Recueil de Travaux publiés par la Faculté de philosophie et lettres, 62), Gant/Paris 1930.
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von ihnen in Brüssel eingesetzten Staatsrat, in dem einheimische Adelige den Amtsträgern einer von den Alliierten gebildeten anglo-batavischen Konferenz zuarbeiteten17. Gegenüber ihrem Staatsrat, wie auch den Untertanen allgemein beriefen sich die Alliierten in allem politischen Handeln darauf, Vertreter der Interessen Karls VI. zu sein, wodurch die Anerkennung von dessen Legitimität zwangsläufig auch zur Gefolgschaft ihnen gegenüber verpflichte. Tatsächlich funktionierte die Kooperation in den ersten Jahren weitgehend problemlos, wenn sich auch in der politischen Praxis nach 1706 durchaus Spannungen zeigten. Sie wurden vor allem dann greifbar, wenn die Seemächte nach Auffassung der Untertanen Politik in eigener Sache betrieben. Kritik entzündete sich beispielsweise an der Einsetzung von Beauftragten, die Subsidien eintrieben, an Versuchen zum Eingriff in die Ordnung regulärer Abgaben und an der Konfessionspolitik der Konferenz, die gegenüber protestantischen Untergrundgemeinden und Missachtungen der katholischen Kirche durch protestantische Truppen angeblich nur geringes Engagement zeigte. Hinzu kam eine – eigentlich jedem Souverän zustehende – Politik der Einflussnahme auf die Vergabe von geistlichen Pfründen, die angesichts der postulierten Vorläufigkeit der alliierten Kontrolle und des konfessionellen Gegensatzes ebenfalls umstritten war18. In dieser Situation der Jahre 1706 bis 1713 erfüllte die Vermittlung des Herrschaftsanspruchs Karls VI. durch kirchliche Institutionen für die alliierte Besatzungsmacht nicht nur den Zweck, dessen bourbonischen Konkurrenten und damit den eigenen Gegner zu diskreditieren, sondern bot auch eine Rechtfertigung ihrer im Laufe der Jahre zunehmend kritisierten Anwesenheit. Die Anweisungen des Staatsrates der alliierten Konferenz an die Bischöfe, Äbte und Vikare der Provinzen zeigen dabei, dass die Repräsentation des Herrschers zentrale Bedeutung besaß19. Es erging die Anordnung, Glocken für Geburtstage Karls VI. zu läuten und im Falle kaiserlichen Nachwuchses bereits vor der Geburt umfangreiche Vorbereitungen zu treffen, die dann je nach Geschlecht des Kindes in Feiern mit größerem oder geringerem Aufwand Gestalt annahmen. Man ließ Gebete für die kaiserlichen, wie auch die eigenen Truppen sprechen und hielt Dankgottesdienste für Siege beider Armeen, bei denen immer explizit ein feierlicher Te Deum Lobgesang angestimmt werden musste20. Der Staatsrat ordnete zur Zeit der Konferenzherrschaft weiterhin an, dass die Kollekte, die bei Gottesdiensten zu Ehren des Herrschers, sei17
Die Akten des Staatsrates dieser Konferenz bilden einen eigenen Bestand in den Archives générales du Royaume/Algemeen Rijksarchief Brüssel (AGR) in Brüssel: Conseil d’État de Regence (CER). 18 H. Van Houtte, Occupations (Anm. 16), 325 f. 19 AGR Brüssel, Bestand CER (Anm. 17), Karton 261 Cérémonies Publiques, unf. 20 Zur zentralen Bedeutung von Dankgottesdiensten mit einem „Te deum“: vgl. Sebastian Küster, Te deum for victory. Communicating victories through sermons, illuminations and gun salute, in: Atlantic communications. The media in American and German history from the seventeenth to the twentieth century, hrsg. v. Norbert Finzsch und Ursula Lehmkuhl, Oxford 2004, 65 – 86 und Sabine Zak, Das Tedeum als Huldigungsgesang, in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), 1 – 32.
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ner Familie und seiner Taten gesammelt wurde, auch dem Herrscher zu Gute kommen sollte21. Auch die allgemeine Funktion der Kirche als Medium zur Nachrichtenübermittlung wurde nutzbar gemacht, als beispielsweise der Staatsrat der Konferenz im Jahr 1711 anordnete, dass die erfolgte Kaiserwahl Karls VI. von allen Kanzeln der Provinzen den Untertanen bekannt zu machen sei22. Dies bedeutete eine klare Stärkung der Position des Habsburgers und auch seiner Verbündeten im Erbfolgekrieg, waren die umstrittenen Niederlande doch Teil des alten Reiches. Bei der praktischen Umsetzung zeigte sich allerdings, dass Teile des Klerus den Anweisungen der Okkupationsmacht kritisch gegenüberstanden und in einem Fall auch offen den Gehorsam verweigerten23. Anweisungen wurden tendenziell dann verzögert oder unvollständig befolgt, wenn sie nicht durch den aus katholischen Einheimischen gebildeten Staatsrat und im Namen Karls VI. ergingen und klar und ausschließlich auf seine Person und seine Funktion als Souverän bezogen waren. Gebete oder eine Kollekte für die Waffen der Alliierten ohne Bezug auf den Herrscher waren entsprechend nicht immer ohne Widerspruch durchzusetzen. Inwiefern bei der Haltung des Klerus eine Loyalität zur Herrscherdynastie oder ein konfessionspolitisches Misstrauen gegenüber den Seemächten aufgrund deren nachlässiger Haltung gegenüber protestantischen Untergrundgemeinden oder bei Verletzungen von Kirchenprivilegien eine Rolle spielten, kann allerdings anhand der Quellen nicht differenziert werden. Für den Umgang des Klerus mit den Seemächten war sicherlich von Bedeutung, dass die Okkupationsmächte eine für die Geistlichkeit zentrale gesellschaftliche Funktion des Herrschers nicht erfüllen konnten. Karl VI. war für sie, wie im folgenden Kapitel zu zeigen ist, nicht einfach nur ein weltlicher Herrscher, sondern auch Verteidiger der Kirche und des Glaubens, der dazu beitragen sollte, das Seelenheil seiner Untertanen zu sichern. Die Loyalitätsgemeinschaft, die von den Seemächten vorübergehend geführt werden konnte, war zugleich eine spirituelle Heilsgemeinschaft, aus der die Okkupationsmächte permanent exkludiert blieben. Wenn man diese eher abstrakten Überlegungen auf die konkret artikulierten Interessen des Klerus bezieht, so verschärft sich diese Differenz noch, denn die Alliierten des Kaisers erschienen aufgrund ihrer konfessionellen Orientierung selbst als eine Gefahr, vor welcher der Herrscher die katholische Glaubensgemeinschaft schützen sollte. Zum Verständnis des tatsächlichen Herrschaftsbeginns Karls VI. im Jahr 1716 ist somit festzuhalten, dass die Seemächte dadurch, dass sie sich immer nur als seine Vertreter darstellten und selbst zugleich in kirchenpolitischen Konflikten mit den Un21 AGR, CER (Anm. 17), Karton 261 Cérémonies Publiques. Rundschreiben des Staatsrates an die Bischöfe und Vikare der Niederlande vom 9. November 1711. Quellen zur tatsächlichen Verwendung des gesammelten Geldes liegen allerdings in diesem Bestand nicht vor. 22 AGR, CER (Anm. 17), Karton 261 Cérémonies Publiques. Am 19. November 1711 Weisung des Staatsrates an den Generalvikar von Brüssel. 23 AGR, CER (Anm. 17), Karton 261 Cérémonies Publiques. Am 12. Mai 1710 Eingabe eines ,Doyen‘ des Kollegiums von Courtrai/Kortrijk an den Staatsrat.
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tertanen standen, die Legitimität ihrer eigenen Präsenz untergruben. Ein Netzwerk lokal und regional einflussreicher Untertanen schrieb ihnen dauerhaft zu, konfessionell fremd zu sein – eine Differenz, die in kleinen, lokalen Konflikten Gestalt annahm. Von Seiten der Seemächte wurde diese niemals überwundene Distanz hingenommen, da sie bereits seit 1709 Verträge über die Bedingungen für einen Abzug geschlossen hatten und keine dauerhafte Okkupation oder Annexion planten. Die Spannungen um ihre Anwesenheit nahmen aber im Laufe der Zeit zu, wie Eingaben belegen, die Karl VI. aus den südlichen Niederlanden erreichten. Schon ab 1711 und vermehrt 1713 nach Ende der Kampfhandlungen wurde er um einen baldigen Beginn seiner eigenen Herrschaft und um den Abzug der Seemächte gebeten24. In diesem Jahr verweigerte sogar der Staatsrat der Konferenz seine offizielle Subordination unter ein neues, restriktives Reglement25. Insgesamt bedeutete dies für Karl VI., dass er bereits vor Beginn seiner Herrschaft, während die reale politische Macht noch bei den Seemächten lag, den Untertanen mit Hilfe kirchlicher Akteure, die als Multiplikatoren wirkten, als Souverän bekannt gemacht und zu einem alltäglichen Bestandteil kirchlicher Handlungen geworden war. Seine Verbündeten profitierten offenbar kaum davon, da weit über das Feld der Konfessionspolitik hinausreichende Spannungen zwischen ihnen und den Untertanen ein generell positives Licht auf eine baldige Besitznahme durch Karl VI. warfen. Diese für den neuen Herrscher doppelt günstige Wirkung seiner Repräsentation durch das Medium Kirche in der Okkupationszeit zwischen 1706 und 1716 führt meiner Ansicht nach schließlich dazu, dass die von Van Gelder aufgestellte These, dass Karl VI. seine Reputation ab 1716 völlig neu aufbauen musste, zumindest vor diesem Hintergrund in Frage zu stellen ist26. III. Widersprüchliche Erwartungen an einen Verteidiger der Glaubensgemeinschaft Betrachtet man die Funktion und die Rolle, die kirchliche Akteure Karl VI. als Herrscher zuschrieben und die er auch selbst gegenüber seinen Untertanen proklamierte, so spielte darin die Verteidigung der Kirche und der katholischen Heilsgemeinschaft eine zentrale Rolle27. Für den Habsburger erwuchs sie aus der politischen 24
Vgl. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 120 – 125. Weitere Beiträge des Autors sind in Vorbereitung. 25 Zum Konflikt im Zeitraum vom 9. Januar bis zum 26. März 1713 siehe: Louis Prosper Gachard, Documents inédits concernant les troubles de la Belgique sous la règne de l’empereur Charles VI. Brüssel 1838 – 1839, 309 – 353, vgl. kurz: J. Levèvre, De zuidelijke Nederlanden 1700 – 1748. In: Op gescheiden Wegen 1648 – 1748. (Algemene Geschiedenis der Nederlanden, 7), hrsg. v. J. A. Houtte/J. F. Niermeyer/J. Pressler, Utrecht u. a. 1954, 162 – 194, hier 172 – 174. 26 K. Van Gelder, Investiture (Anm. 9), 445 f. 27 Vgl. Simon Karstens: Herrschaftswechsel und Exklusionspolitik in den südlichen Niederlanden. Der Beginn der Herrschaft Karls VI. (1714 – 1725), in: Time in the age of enlight-
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Leitlinie, sich als Bewahrer der spanisch-habsburgischen Tradition und deren personifizierte Kontinuität zu sehen und darzustellen. Angehörige des niederländischen Klerus griffen diese Selbstbindung des Herrschers auf, aktualisierten aber zugleich auch die daraus folgenden Verpflichtungen ihres Souveräns und bezogen sie auf ein in Berichten gezeichnetes aktuelles Bedrohungsszenario. Bereits während des Erbfolgekrieges, zur Zeit der Verwaltung durch die Seemächte, hatten sich Geistliche an Karl VI. gewandt und sich von ihm Schutz vor einem angeblich starken Einfluss des Protestantismus und vor der Gefahr einer Ausbreitung nicht-katholischer Konfessionen erbeten28. Hintergrund hierfür war die Kirchen- und Konfessionspolitik der Okkupationsmächte, die zwar nur in wenigen Fällen aktiv zugunsten der winzigen protestantischen Minderheit in den Provinzen handelten, zum einen aber generell keine Repressalien gegen diese Gruppe unterstützten; zum anderen nach Auffassung des Klerus Missachtungen katholischer Gotteshäuser durch protestantische Truppen und mangelnden Respekt für Insignien und Glaubenshandlungen in der Öffentlichkeit nicht ausreichend sanktionierten. Karl VI. sah sich daher einer Erwartungshaltung einer einflussreichen Gruppe seiner Untertanen gegenüber, die von ihm explizit Schutz und Vertretung ihrer Interessen erhofften. In den Jahren 1714 bis 1716, als sich die baldige Übernahme der Souveränität abzeichnete, signalisierte der Herrscher dementsprechend, dass er bereit war, die Erwartungen seiner Untertanen zu erfüllen. In den Patenten und öffentlichen Instruktionen für seinen Minister und seinen Statthalter wurde, eng nach spanischem Vorbild, deren Pflicht herausgestellt, den Herrscher als Beschützer von Glaubensgemeinschaft und Kirche zu unterstützen29. Die Instruktionen nennen neben den Pro-
enment, hrsg. v. Wolfgang Schmale (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 27 [2012]), 161 – 195, hier 187 – 189. 28 Vgl. exemplarisch die Berichte Humberts de Precipiano, Erzbischof von Mecheln, vom 02. und 27. März 1709, in: AGR, CER (Anm. 17), Karton 351, Généralités 1706 – 1716, in denen er beklagt, dass protestantische Truppen die Durchführung ihrer Gottesdienste in katholischen Kirchen erzwingen würden. Ähnliche Eingaben Geistlicher aus Flandern und Namur sind in einem eigenen Aktenkarton überliefert: Archives générales du Royaume/ Algemeen Rijksarchief Brüssel (AGR), Département de Pays-Bas de la Chancellerie de Cour et d’État (DPB), Karton, 667. Hinzu kommen Berichte von weltlichen Amtsträgern, wie dem Grafen von Valsassina, Gouverneur von Limburg, an Marquis de Rialp vom 9. März 1715 über die Einrichtung protestantischer Bethäusern, in: AGR, DPB, Karton 75, Fol. 132r.–133r. Weitere Belege bietet Eugene Hubert, Notes et documents sur l’histoire religieuse des PaysBas autrichiens au XVIIIe siècle. Une Enquête sur l’état religieux de la Partie Flamande des Pays-Bas en 1723, Brüssel 1924, die nationalhistorische Interpretation der geschilderten Ereignisse und gesammelten Berichte in der Darstellung ist allerdings in Zweifel zu ziehen. Vgl. Franz Van Kalken, La fin du Régime Espagnol aux Pays-Bas. Etude d’histoire politique, économique et sociale, Brüssel 1907, 225 – 230 u. Robert Collinet, Histoire du Protestantisme en Belgique aux XVIIme et XVIIIme Siècles (Histoire du protestantisme en Belgique et au Congo belge, 2), Brüssel 1959, 27 – 41. 29 Instruktionen und Patente Karls (III.) VI. und Maria Theresias für die Statthalter, Interimsstatthalter, bevollmächtigten Minister und Obersthofmeister der Österreichischen Niederlande (1703 – 1744), hrsg. v. Elisabeth Kovács/Franz Pichorner, Wien 1993, Instruktion für
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testanten aber auch noch eine zweite Gruppe, die ebenfalls schon in früheren Eingaben von Klerikern als Feindbild präsentiert wurde: die Jansenisten. Gegenüber Andersgläubigen und Abweichlern drohte Karl VI. eine Politik der Exklusion an, die ihnen nur die Wahl zwischen der Aufgabe ihrer als deviant gewerteten Glaubensrichtung oder Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft ließ30. Doch wie gestaltete sich die praktische Umsetzung der herrschaftlichen Ankündigungen in den Jahren nach 1716? Im Falle der Protestanten ist zu beachten, dass weniger die verschwindend geringe protestantische Minderheit in den Provinzen selbst, als vielmehr die dauerhafte Präsenz von protestantischen Garnisonstruppen einen Stein des Anstoßes darstellte. Wie bereits angedeutet hielten nicht nur die Soldaten, sondern auch ihre Familien und protestantische Geistliche Einzug in die Festungsstädte der Barriere und nahmen dort ein vertraglich gesichertes Recht auf freie Ausübung ihres Glaubens in Anspruch. Dieser Situation standen viele Geistliche, aber auch weltliche lokale Obrigkeiten nach der Erfahrung konfessioneller Gegensätze in der Okkupationszeit kritisch gegenüber. Die Antwort der Geistlichkeit und der Magistrate in den betroffenen Städten war eine strenge Exklusionspolitik31. Eigene städtische Vereinbarungen mit den Garnisonstruppen sollten sicherstellen, dass ihr Gottesdienst Einheimischen verschlossen blieb, dass keine protestantischen Schriften eingesehen werden konnten, dass keine gemischtkonfessionellen Ehen geschlossen wurden und dass die protestantischen Geistlichen nicht ins Umland reisten oder ihren Unterricht für einheimische Kinder öffneten. Das Idealbild des Klerus, wie auch der Magistrate war eine von der katholischen Umwelt isolierte protestantische Militärgemeinschaft in den Garnisonsorten. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass diese Trennung allerdings in der Praxis nicht in dieser Schärfe durchgesetzt werden konnte32. Vermutlich spielte sich vielmehr ein lokaler Modus vivendi ein, der außerhalb des engeren religiösen Bereichs vielfältige Interaktionen erlaubte. Diese Entwicklung bedeutete allerdings nicht, dass Konflikte ausblieben, die dann in der älteren belgischen Historiographie Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu nationalhistorisch motivierter Kritik an der Präsenz der Holländischen Truppen führte33. Deren Interpretationen stützten sich auf einige Berichte Prinz Eugen von Savoyen, 79 – 101, Instruktion für den Bevollmächtigten Minister de Prié, 114 – 127. 30 Zur Exklusionspolitik Karls VI. und ihrer Bedeutung für die Etablierung seiner Herrschaft vgl. S. Karstens, Herrschaftswechsel (Anm. 27). mit weiteren Beispielen und Belegen. 31 Vgl. R. Collinet, Histoire, (Anm. 28), 27 – 41; Monique Engels, De Godsdienstpolitiek van Maria-Elisabeth, Gouvernante der Zuidelijke Nederlanden 1725 – 1741, Diss. Katholieke Universiteit, Leuven 1976, 19 – 31; E. Hubert, Notes (Anm. 28), 9 – 123. 32 C. Denys, Relations (Anm. 7) 115 – 137. Diese Arbeit steht in expliziter Abgrenzung zur auf Konflikt und Fremdheitserfahrungen fixierten Interpretation von: Eugene Hubert, Les Garnisons de la Barriére dans les Pays-Bas autrichiens (1715 – 1782). Etude d’histoire politique et diplomatique, Brüssel 1902. 33 Bspw. E. Hubert, Garnisons (Anm. 32).
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über Verstöße gegen die Vereinbarungen, die von Seiten der lokalen Obrigkeiten und des katholischen Klerus angemahnt und dem Statthalter und Herrscher vorgelegt wurden34. So gingen beispielsweise Berichte über einen protestantischen Präzeptor, der Kinder aus der Stadt zum Unterricht aufnahm, oder einen Geistlichen, der das Umland seines Garnisonsstandortes bereiste und dort predigte, bei den Behörden ein. Zum Verständnis des Herrschaftsbeginns Karls VI. ist hierbei zu beachten, dass Statthalter und Landesherr in solchen Situationen Ansprechpartner für die Untertanen waren, die selbst nicht mit vergleichbarer Autorität mit den Garnisonskommandanten, beziehungsweise deren Vorgesetzten in Den Haag verhandeln konnten. In einem anderen Spannungsfall, der aus dem Umgang mit dem Protestantismus resultierte, zeigte sich deutlich, wie eine empfundene Bedrohung dazu beitrug, dass der Klerus Karl VI. als neuen Herrscher akzeptierte. Durch Grenzverschiebungen im Zuge des Barrierevertrages standen an der Grenze zwischen nördlichen und südlichen Niederlanden nach 1716 katholische Gemeinden, die zu Bistümern im Süden gehörten, unter der Herrschaft der Generalstaaten35. Zwar sprach der Barrierevertrag den dortigen Katholiken das Recht zur freien Ausübung ihres Glaubens zu, doch aus Sicht des Klerus blieben erhebliche Bedenken. So beklagte man, die neue Obrigkeit in Venloo habe auf einen Angriff auf eine katholische Prozession lediglich mit der Empfehlung reagiert, beim nächsten Mal sollte man besser die religiösen Gegenstände bedecken, um Spannungen zu vermeiden36. Neben konkreten Fällen brachten auch allgemeine Befürchtungen über die möglichen Auswirkungen der neuen Grenzziehung auf die kirchliche Gerichtsbarkeit und den organisatorischen Zusammenhalt der Kirche, Angehörige des Klerus dazu, sich an Karl VI. zu wenden37. Der Herrscher und sein Statthalter waren in diesem Fall einmal mehr Ansprechpartner, die als Interessenvertreter nach Außen agieren sollten. Nimmt man die Jansenisten, die zweite in den Patenten und Instruktionen als Bedrohung der Heilsgemeinschaft angesprochene Gruppe, in den Blick, so ist zunächst zu bedenken, dass es sich bei den Anhängern dieser vom Papst bekämpften innerkatholischen Reformbewegung des 17. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden um 1715 um keine eindeutig definierte und abgegrenzte Gemeinschaft handelte, die eine 34
Siehe bspw. eine Eingabe des Wiener Nuntius vom 7. November 1718 an den Hohen Rat der Niederlande in Wien, in: AGR, DPB (Anm. 28), Karton 156, Fol. 8r. und eine Eingabe des Rates des Hennegau, vom 23. Dezember 1718 an den Staatsrat in Brüssel, in: Ebd. Fol. 10r.; Vgl. Geikie/Montgommery, Barrier (Anm. 7), 367; R. Collinet, Histoire (Anm. 28), 27 – 41. 35 Dies resultierte aus § 17 und 18 des Barrierevertrages, siehe Pribram: Staatsverträge (Anm. 5), 306 – 311. 36 Geikie/Montgommery (Anm. 7), 367. 37 Vgl. einen Brief des Thomas d’Alsace, Erzbischof von Mecheln, vom 31. Mai 1720 an den päpstlichen Sekretär Kardinal Paulucci, in: Louis Jadin, Le cardinal Thomas-Phillipe d’Alsace archevêque de Malines et le Saint-Siège correspondance tirée des Archives du Vatican 1703 – 1759, Brüssel/Rom 1953, hier 277 und eine Eingabe der Ständeversammlung von Flandern, in der die Folgen der Grenzverschiebung für die Kirchenorganisation als „cruelle catastrophe“ bezeichnet werden, AGR, DPB, (Anm. 28), Karton 667, Mappe „Flanders – Clergé general“ ohne Datum.
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klare theologische Linie verfolgte38. Auch wenn einzelne Akteure verbotene Schriften des Gründers der Bewegung Cornelius Jansen oder seiner Nachfolger besaßen und verbreiteten oder wie der derzeit führende Jansenist Pasquier Quesnel selbst als Autoren hervortraten und damit klar identifiziert werden konnten, so scheint es eher, als ob diese Bezeichnung trotz aller theologischer Hintergründe als ein ,Label‘ benutzt werden konnte39. Hiermit ließen sich diejenigen stigmatisieren, die gegen eine enge Unterordnung unter die katholische Kirchenhierarchie, gegen päpstliche Deutungshoheit und für mehr Freiheit des einzelnen Geistlichen und der Gemeinden eintraten. So verschwamm die Grenze zwischen Konflikten innerhalb der katholischen Kirche und einer Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Der ursprünglich in Frankreich ausgebrochene Konflikt um die Jansenisten und um den angemessenen Umgang mit ihnen gehörte gewissermaßen zum Erbe Karls VI., da er bereits zu spanischer Zeit auch in den südlichen Niederlanden geführt und durch mehrere päpstliche Bullen vorangetrieben worden war40. Dieser Linie folgend wandte sich nach seinem Herrschaftsbeginn eine Gruppe von Klerikern an ihn und bat mit Nachdruck, er möge seine Funktion als Verteidiger der Glaubensgemeinschaft im Hinblick auf die Jansenisten erfüllen. Besonders der Erzbischof von Mecheln, Thomas Phillipe d’Alsace und der päpstliche Internuntius Vincenzo Santini taten sich dabei hervor41. Der Erzbischof hatte in diesem Zusammenhang bereits eine Vorreiterrolle eingenommen, als er seine Untergebenen und die Gläubigen in seiner Diözese unter Drohungen zu einem Eid auf die 1713 erlassene, neueste antijansenistische Bulle Unigenitus dei filius verpflichtete42. Eine Weigerung konnte 38 Vgl. zur Einführung William Doyle, Jansenism. Catholic resistance to authority from the Reformation to the French Revolution, Basingstoke 2000. Zu den Südlichen Niederlanden am Beginn des 18. Jahrhunderts siehe: Jan Roegiers, Kerk en Staat in de Oostenrijkse Nederlanden, in: Algemene geschiedenis der Nederlanden, Bd. 9: Nieuwe tijd. Politieke- en religiegeschiedenis 18de eeuw; socioculturele geschiedenis 1500 – 1800; overzeeze geschiedenis 17de en 18de eeuw, hrsg. v. D. P. Blok/Walter Prevenier, Haarlem 1980, 361 – 375, zur Verwendung des Jansenismus als undifferenzierter Vorwurf, ebd. 361; Vgl. L. Willaert, Le Placet Royal dans les Anciens Pays-Bas (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de Namur, 20), Brüssel 1955, 1103 – 1110; Lucien Ceyssens, La publication de la bulle Unigenitus en Belgique, in: Revue Belge de Philologie et d’histoire 62 (1984); Lucien Ceyssens, Autour de la bulle Unigenitus. Le Cardinal d’Alsace (1679 – 1759), in: Revue Belge de Philologie et d’ Histoire LXVI (1988), 792 – 828. 39 Vgl J. Roegiers, Kerk (Anm. 38), 361. Zum Wirken Quesnels mit Verweisen auf den Jansenismus dieser Zeit siehe: W. Doyle, Jansenism (Anm. 38) 35 – 55 u. Jacques Thielens, Le Placet royal et la Bulle Unigenitus. Un aspect des rapports entre l’Eglise et l’État dans les Pays-Bas au début du 18e siècle, Heule 1975, 35 – 51. 40 So Cum Occasione von 1705 und Unigenitus dei Filius von 1713. 41 Siehe L. Ceyssens, Unigenitus, (Anm. 38), 792 – 828; J. Thielens, Placet, (Anm. 39), 51 – 89. Für Belege zum Briefwechsel Santinis und zur Kooperation mit d’Alsace, siehe: Jacques Thielens, La correspondance de Vincenzo Santini Internonce aux Pays-Bas (1713 – 1721), (Analecta Vaticano-Belgica 2. Serie: Nonciature de Flandre, 12), Rom 1969, das Register weist mehr als 120 Briefe zum Thema auf. 42 Zur Verbreitung der Bulle in den Südlichen Niederlanden siehe L. Ceyssens, Publication (Anm. 38), 721 – 742; L. Ceyssens, Unigenitus (Anm. 38), 792 – 828; Michel Nuttinck, La vie
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eine Entlassung und den Ausschluss von den Sakramenten nach sich ziehen, was besonders im Falle der Sterbesakramente schon bald in die Kritik geriet. Dennoch bot sich d’Alsace auf diese Weise eine Gelegenheit, um seine eigene Stellung innerhalb der Kirchenhierarchie zu festigen und zugleich Jansenisten leichter zu identifizieren. Die antijansenistische Politik des Erzbischofs von Mecheln fand dabei Unterstützung anderer Geistlicher, wie der Trierer Erzbischöfe Karl Joseph von Lothringen und ab 1715 Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg. Letzterer verfolgte in den südlichen Provinzen der Habsburgischen Niederlande, die zu seiner Erzdiözese gehörten, eine ähnliche Politik wie Philippe d’Alsace. Er drängte die Mönche des als Zentrum des Jansenismus bezeichneten Klosters Orval zur Anerkennung der Bulle und betrieb durch seine Weihbischöfe eine klar antijansenistische Politik in den südlichen Niederlanden43. In dieser angespannten Situation setzten sich einige weltliche Provinzräte gegen die Politik des Erzbischofs von Mecheln ein und bezeichneten die Verbreitung und Bekanntmachung der päpstlichen Bulle als illegal, da dem Dokument das herrschaftliche Placet fehle44. Auch von Angehörigen des Klerus gab es Widerspruch gegen die Verpflichtung zum Eid auf die Bulle. So wandten sich ein von erzbischöflichen Sanktionen betroffener Geistlicher und Lehrer der Universität von Löwen an den Statthalter Prinz Eugen und baten um Beistand45. Dies zeigt, dass beide Seiten in diesem Konflikt Karl VI., beziehungsweise seinen Statthalter als zentrale Instanz anerkannten, die über die Rechtmäßigkeit der Jansenistenverfolgung zu entscheiden hatte. Der Statthalter verhielt sich zunächst vorsichtig und mahnte beide Seiten zur Mäßigung46. Er betonte trotz der harschen Anweisungen in seiner öffentlichen Instruktion, dass durch Milde und Erziehung die Einheit der Kirche in den Provinzen besser zu bewahren sei als durch Zwang und Strafe. Außerdem dürfe die weltliche Gewalt sich nicht für innerkirchliche Machtkämpfe instrumentalisieren lassen. et l’œuvre de Zeger-Bernard van Espen. Un canoniste janséniste, gallican et régalien à l’université de Louvain (1648 – 1728), Löwen 1969, 423 – 497. 43 AGR, DPB, (Anm. 28) Karton 807 unf. Eingabe des Erzbischofs von Trier vom 30. Juli 1720 und Bericht über die Beratung im Höchsten Rat der Niederlande vom 10. September 1720. Vgl. zur Jansenistenverfolgung im Erzbistum Trier: Leo Just, Das Erzbistum Trier und die Luxemburger Kirchenpolitik von Phillip II. bis Joseph II. (Die Reichskirche. Vom Trienter Konzil bis zur Auflösung des Reiches, 1), Leipzig 1931, 103 – 117; Wolfgang Seibrich, Die Weihbischöfe des Bistums Trier (Veröffentlichungen des Bistumsarchiv Trier, 31), Trier 1998, 123 – 125 u. 129 – 132; Wolfgang Seibrich, Der Kampf gegen den Jansenismus, in: Geschichte des Bistums Trier, Bd. 3: Kirchenreform und Konfessionsstaat 1501 – 1801, hrsg. v. Bernhard Scheider (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier, 37), 750 – 766. Siehe einen Brief des Thomas d’Alsace vom 6. März 1723 an Kardinal Giorgio Spinola über ein gemeinsames Vorgehen mit dem Erzbischof von Trier gegen den Jansenismus, in: L. Jadin, Cardinal (Anm. 37), 386 f. 44 L. Ceyssens, Publication (Anm. 38), 721 – 742 u. L. Willaert, Placet (Anm. 38), 1103 – 1110. 45 Max Braubach, Prinz Eugen und der Jansenismus, in: Diplomatie und geistiges Leben im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Max Braubach, Bonn 1969, 530 – 545. 46 Ebd.
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Die Entscheidung in diesem Konflikt fiel erst im April 1723 in Wien47. Erzbischof d‘Alsace, der auf der Rückreise von seiner Kardinalserhebung in Rom war, erwirkte hier die Erlaubnis Karls VI. zur Publikation der antijansenistischen Bulle Unigenitus. Allerdings berücksichtigte der Herrscher auch die Bedenken gegen die bischöfliche Politik und verbot, Untertanen zu einem Eid auf die Bulle zu verpflichten und bei Missachtung zu bestrafen. Die kirchliche und weltliche Obrigkeit sollten nur gegen diejenigen vorgehen, die sich öffentlich und „avec scandal“ gegen die Bulle und für den Jansenismus engagierten48. Durch diesen Kompromiss ruhte der konfessionsinterne Konflikt vorerst, bis er unter der Verwaltung der Statthalterin Maria-Elisabeth, die ihr Amt von 1724 bis 1741 bekleidete, neue Dynamik gewann. IV. Kirchliche Privilegien und herrschaftliche Rechte im Konflikt: Der Fall des Pain d’Abbaye Bei Beginn seiner Herrschaft hatte Karl VI. nach spanisch-habsburgischem Vorbild und in Achtung der Zusagen seiner Verbündeten während des Erbfolgekrieges den kirchlichen Institutionen und Amtsträgern, all ihre hergebrachten Privilegien und Rechte garantiert. Damit bestätigte er zugleich für sich selbst erhebliche Einflussmöglichkeiten, die ihm als Souverän der Provinzen auf diesem Gebiet traditionell zukamen: Zum einen konnte er bei der Besetzung ranghoher Kirchenämter eine Auswahl aus drei Kandidaten treffen; zum anderen waren, wie angedeutet, kirchliche Publikationen und Bekanntmachungen an sein Placet gebunden, so dass er regelmäßig in die kirchliche Administration involviert war. Die Bewahrung alter Privilegien und Rechte der Kirche erwies sich allerdings in den Jahren nach 1716 sowohl unter kirchlichen Akteuren, wie auch bei ihrer Interaktion mit anderen Untertanen als umstritten49. Dies betraf in besonderem Maße Fragen des Protokolls, genauer die Visualisierung des Kapitals der Ehre bei Zeremonien, aber ebenso Besitzansprüche oder strittige Rechtsfragen bezüglich des Handels oder des Asyls. In all diesen Fällen wandten sich die betreffenden Akteure an Karl VI., legten ihre Ansichten über die notwendige Interpretation oder die Gültigkeit alter Rechtstitel dar und baten um eine Entscheidung. Die administrative Organisation, die vom neuen politischen Zentrum Wien aus organisiert wurde und innerhalb derer über diese Konflikte entschieden wurde, war in den Jahren nach dem Herrschaftswechsel allerdings selbst Gegenstand von Reformen: zum einen richtete der Kaiser in Wien im Jahr 1717 eine eigene Verwaltungsbehörde für die neuerworbenen Niederlande ein, die aus dem früheren ,Spani47
L. Ceyssens, Unigenitus, (Anm. 38) 827 f. J. Thielens, Placet (Anm. 39), S. 82. 49 Diese Konflikte sind bisher im Vergleich zur politischen Geschichte weitgehend unerforscht. Akten hierzu sind im AGR Brüssel in den Beständen Conseil d’État (CE) und Département de Pays-Bas dans la Chancellerie de Cour et d’État à Vienne (DPB) überliefert und in eigenen Kartons zu Fragen der Kirchenpolitik gesammelt. 48
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schen Rat‘, dem alle ehemals spanischen Gebiete unterstanden, ausgegliedert wurde50. Der neue ,Höchste Rat der Niederlande‘, in dem noch immer mehrere Exilspanier tätig waren, beriet den Landesherren bei seinen Entscheidungen. In Brüssel wiederum richtete Minister de Prié im Jahr 1718 einen neuen Staatsrat ein, der die Kommunikation mit den Untertanen vor Ort koordinierte und das notwendige Expertenwissen über die Provinzen in die Verwaltungsstruktur einbrachte51. Innerhalb dieser neuen Verwaltungsordnung wurde jedoch nicht nur über die angesprochenen kirchen- und konfessionspolitischen Konflikte zwischen Untertanen Karls VI. verhandelt, sondern vielmehr noch über Gegensätze zwischen herrschaftlichen Rechten und kirchlichen Privilegien. Zum Verständnis der Bedeutung der Kirchenpolitik für die Etablierung der neuen Herrschaft verspricht gerade letzteres Phänomen neue Einsichten, war der Herrscher hierbei doch sowohl mit genuin eigenen Interessen, wie auch in seiner Rolle als Bewahrer der traditionellen Ordnung und als Verteidiger der kirchlichen Rechte involviert. Eine Einsicht in die Überlieferungen des Staatsrates in Brüssel zeigt, dass besonders ein herrschaftliches Recht in den ersten Jahren nach dem Herrschaftswechsel eine umfangreiche Interaktion zwischen Souverän, Verwaltung, Klerus und anderen Untertanen provozierte52. Es handelte sich dabei um das Recht, kirchliche Einrichtungen zur Zahlung einer jährlichen Laienpfründe an eine Person nach Wahl des Herrschers zu verpflichten. In den Provinzen bezeichnete man dies als Pain d’Abbaye. Hierbei bestehen offenbar Parallelen zu dem von der rechtswissenschaftlichen Literatur des 18. Jahrhunderts mehrfach thematisierten kaiserlichen Recht zur Vergabe sogenannter Panis-Briefe53. Diese waren ein zu Beginn des achtzehnten Jahr50 Zur Organisation der Wiener Behörden zur Verwaltung der Südlichen Niederlande siehe grundlegend: Renate Zedinger, Die Verwaltung der Österreichischen Niederlande in Wien (1714 – 1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie, Wien 2000. Der neue Höchste Rat der Niederlande umfasste auch zwei Räte aus den Provinzen, die übrigen waren Spanier, die Karl VI. im Erbfolgekrieg unterstützt und dadurch Beziehungen und Besitz in ihrer Heimat verloren hatten, vgl. K. Van Gelder, Trial, (Anm. 1), 186 – 192. 51 Zur Organisation des neuen Staatsrates in Brüssel: K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 197 – 202 und die Artikel in den Überblickswerken in Anm. 2. 52 Die folgenden Ausführungen basieren auf der Überlieferung des Staatsrates für die Jahre 1716 – 1720. Akten über das Pain d’Abbaye liegen zwar noch bis 1744 vor, nehmen aber nach 1721 an Zahl ab. Das Jahr 1720 kann allgemein als ein erster Einschnitt in der Genese der neuen Herrschaft Karls VI. beurteilt werden, da nach Abschluss der Inaugurationen und Huldigungszeremonien und Ende der Unruhen eine erste, besonders von Aushandlungsprozessen geprägte Phase zu einem Ende kam, siehe K. Van Gelder, Trial (Anm. 1), 391. 53 Vgl. zur Übersicht Werner Gross, Die Panisbriefe des deutschen Kaisers an das Kloster Ochsenhausen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte XVI (1957), 365 – 381; Hans Jörg Hirschmann, Vom Kaiserlichen Recht der Panis-Briefe, Univ. Diss. Marburg 1973, 22 – 95. u. Günther Dickel: Das kaiserliche Reservatrecht der Panisbriefe auf Laienherrenpfründen: eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichte des Alten Reichs und zur kirchlichen Rechtsgeschichte nach Wiener Akten, Aalen 1985, zgl. Heidelberg, Univ. Habil. 1965, 15 – 162. Für eine Übersicht über ältere Lexika und Druckschriften mit Definitionen vgl. H. J.
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hunderts kaum noch ausgeübtes kaiserliches Recht, einige, meist reichsunmittelbare Klöster zu Sachleistungen zur Versorgung einer Person oder einer jährlichen Zahlung in unterschiedlicher Höhe zu verpflichten. Der Nutznießer musste dafür explizit nicht in die geistliche Gemeinschaft eintreten. Im Blick der historischen Forschung stand – noch vor den Ursprüngen dieses Rechts und seinem Gebrauch durch die Habsburger des 16. Jahrhunderts – primär eine Initiative Josephs II., der Ende des 18. Jahrhunderts vergeblich eine Reaktivierung dieses Anspruches versuchte, um so geistliche Einrichtungen außerhalb seiner eigenen Territorien besteuern zu können54. Speziell die daraus hervorgegangene rechtswissenschaftliche Debatte hat in den letzten Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit der (rechts)historischen Forschung auf sich gezogen. Eine mögliche Inanspruchnahme dieses Rechts durch Landesherren im Zuge des Ausbaus ihrer Territorialherrschaft oder auch die Existenz und Anwendung ähnlicher Rechte auf territorialer Ebene kann hingegen als vergleichsweise unerforscht gelten. In den südlichen Niederlanden erstellte zunächst der Staatsrat in Brüssel in seiner Eigenschaft als Expertengremium für die Rechtstradition der Provinzen Listen über die zur Zahlung eines Pain d’Abbaye verpflichteten Einrichtungen55: Insgesamt waren demnach 184 Einrichtungen, davon 81 Männer- und 103 Frauengemeinschaften betroffen. Sie wurden als Hôpital, Abbaye, Cloître, Convent oder Prioré bezeichnet. Ihre hohe Zahl spricht gegen die von Alphonse Sprunck vermutete Bindung dieses Rechts an die Wahl eines neuen Abtes, denn zum einen waren alle Einrichtungen gleichzeitig zur Zahlung verpflichtet und zum anderen wurde ihre Pflicht explizit mit der vollzogenen Übernahme der Souveränität durch Karl VI. begründet56. Es scheint Hirschmann, Recht (Anm. 52), 22 – 95. Es bestehen hierbei zwar Parallelen zum ,Recht der Ersten Bitte‘ dem Ius primariarum precum, allerdings war es zumindest in den Südlichen Niederlanden nicht an das Freiwerden einer bereits vorhandenen Pfründe gebunden und blieb eine weltliche Pension, deren Empfänger nicht in den Konvent eintreten musste und keinen geistlichen Regeln unterworfen war. Vgl. W. Gross, Panisbriefe (Anm. 52) 365 f.; G. Dickel, Reservatrecht (Anm. 52), 16 f. 54 Die derzeit ausführlichste Untersuchung ist G. Dickel, Reservatrecht (Anm. 53). Der Autor bietet detaillierte Übersichten und Auflistungen zum Gebrauch der Panisbriefe und schlägt eine Unterteilung in unterschiedliche Formen des Panisbriefes vor, wobei eine modernere Variante, wie sie im 18. Jahrhundert diskutiert wird, nicht aus einer mittelalterlichen Frühform hervorgegangen sei, sondern auf die Herrschaft Karls V. zurückgehe. Allerdings behandelt Dickel die Panisbriefe allein als ein kaiserliches Recht und vermerkt nur am Rande einen zweimaligen Gebrauch durch die Habsburger in ihrer Rolle als Landesherren, 46 f. Ein Forschungsbericht zum Stand der sechziger Jahre findet sich ebd. 18 – 24. Neuere Untersuchungen fokussieren den Versuch einer Wiedereinführung der Panisbriefe durch Joseph II.: Christoph Gnant, Die Panisbriefe Kaiser Joseph II. (Historia Profana et ecclesiastica, 6), Münster 2011. 55 AGR, CE (Anm. 49), Karton 918, Mappe 111. 56 Siehe: Alphonse Sprunck, Prinz Eugen als Generalstatthalter der österreichischen Niederlande, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 15 (1962), 114 – 180, hier 134 f. Gegen die Abhängigkeit von einer neuen Abtwahl spricht auch, dass bei den späteren Prüfungen um Befreiungen von dieser Pflicht kein Hinweis auf eine vorherige Wahl gegeben
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daher eher, dass der Herrscher unabhängig von der Wahl eines Abtes oder von der Vakanz einer Pfründe das Recht beanspruchte, während seiner Herrschaft einmal pro geistlicher Einrichtung eine Pension zu vergeben57. Da ein Anspruch aber noch keine Ausübung dieses Rechtes bedeutet, ist ein Blick auf die Bestrebungen Karls VI. und seines Verwaltungsapparates, diesen Ambitionen Geltung zu verschaffen, unumgänglich. Hierbei deuten drei Aspekte darauf hin, im Pain d’Abbaye ein wichtiges Element zur Stabilisierung der neuen Herrschaft zu sehen: Erstens konnte Karl VI. die Empfänger der Laienpfründe frei wählen. Das bedeutet, er verfügte über ein Belohnungsinstrument, das seine Untertanen auch gezielt nachfragten, wie Bittschriften belegen, die beim Staatsrat in Brüssel und auch beim Statthalter eingingen58. In ihnen wird – auch wenn meist der Staatsrat der eigentliche Empfänger ist – der Souverän als Beschützer angesprochen, der speziell gegenüber Witwen und Waisen von Offizieren oder gegenüber verdienten Veteranen gnädig sein sollte. Im Jahr 1720 erstellte der Staatsrat Listen der bisher vergebenen Pfründe und wies 114 Empfänger aus, die insgesamt 137 Pensionen im Umfang von jeweils exakt 150fl. erhielten59. Diese Summe ist ungewöhnlich, da bei den im Laufe des 18. Jahrhunderts geführten Debatten über die (Wieder)Anwendung dieses Rechtes durch den Kaiser im Heiligen Römischen Reich die Höhe der Pensionen zwischen 30 und 100fl. schwankte und scheinbar auf Reichsebene kein Konsens darüber bestand60. Im Vergleich war die Forderung Karls VI. an seine niederländischen Kirchengemeinschaften demnach hoch, wurde aber trotzdem nie in ihrem Umfang, sondern nur in ihrer Gültigkeit für den Einzellfall in Frage gestellt. Die Begünstigten – 51 Männer und 63 Frauen – erhielten überwiegend ein einzelnes Abteibrot, in einigen Fällen aber auch zwei und vereinzelt sogar drei. Auffällig ist, dass die Namen von Personen mit doppelter und dreifacher Pfründe in den Listen mehrheitlich in spanischer Form notiert und mit dem Zusatz Don oder Doña versehen sind. Dies legt den Schluss nahe, dass Karl das Pain d’Abbaye auch nutzen konnte, um verdiente Gefolgsleute und deren Familien zu unterstützen, die im Erbfolgekrieg
wird. Möglich ist allerdings, dass die Wahl eines Abtes oder einer Äbtissin in einigen Fällen für Versuche genutzt wurde, ein zusätzliches Pain d’Abbaye zu fordern. 57 G. Dickel, Reservatrecht (Anm. 53), 16 f. 58 Siehe exemplarisch AGR, CE, (Anm. 49) Karton 918, Mappe 108 (Eine Generalstochter) u. Mappe 110 (Ein Veteran in Diensten der spanischen Armee), beide aus dem Jahr 1717. Weitere Anträge befinden sich im Bestand ,Departement de Pays-Bas‘ im AGR Brüssel, wo auf sie im Briefwechsel des Statthalters, seines Ministers und der Wiener Behörden verwiesen wird. 59 AGR, CE, (Anm. 49), Karton 921 enthält sowohl eine Liste der Empfänger als auch eine Liste der Empfängerinnen eines Pain d’Abbaye von 1715 – 1720. Das Geschlecht der Pfründner richtet sich dabei nach dem Geschlecht der zahlungspflichtigen Ordensgemeinschaft, vermutlich eine Tradition, die aus einer früheren Möglichkeit zur Versorgung in Form von Kost und Logis hervorging. 60 H. G. Hirschmann (Anm. 52), 97 – 103; W. Gross (Anm. 52), 376 u. G. Dickel, Reservatrecht (Anm. 52), 86 – 119.
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auf seiner Seite gestanden hatten61. Mehrheitlich handelte es sich bei den Empfängern jedoch offenbar um Personen aus den Provinzen selbst. Die Namen und Titel der Begünstigten deuten insgesamt eine gewisse soziale Varianz an, da zu ihnen eine dreifach versorgte Marie-Anna von Braunschweig-Lüneburg ebenso gehörte, wie eine einfach versorgte Anna Moscherock aus Wieselsheim. Zweitens konnte der Kaiser geistlichen Einrichtungen das Privileg einer Befreiung vom Pain d’Abbaye erteilen oder über die Gültigkeit älterer Freistellungen entscheiden. Dies führte zu zahlreichen Anträgen an den Staatsrat in Brüssel, der als zentrale Prüf- und Kontrollinstanz für die Gültigkeit des Anliegens der betroffenen Klöster agierte62. Die Entscheidung hierüber lag allerdings beim Landesherren, der von seinem Statthalter und dem Höchsten Rat der Niederlande in Wien auf Basis der Brüsseler Vorarbeiten beraten wurde63. Bei einem genauen Blick auf die eingereichten Anträge zeigen sich zunächst erhebliche Unterschiede in deren Umfang. Einige waren sehr knapp gefasst und mit dem Verweis auf eine alte urkundliche Freistellung begründet, von der oft eine Abschrift beigefügt war. Andere wiederum umfassten ganze Dokumentenmappen. Dies war vor allem der Fall, wenn die Gemeinschaften entweder aufgrund eigener Armut und hoher Verpflichtungen für die umliegenden Gemeinden angeblich nicht im Stande waren, die Zahlung aufzubringen oder wenn sie zwar keine offizielle Befreiung durch einen früheren Herrscher erhalten hatten, sich aber auf ein Erlöschen dieses Rechtes aufgrund mangelnden Gebrauchs in den letzten Jahrhunderten beriefen. Derartigen Anträgen konnten mehrere Begleitschreiben beigefügt sein. Einige betroffene Einrichtungen mobilisierten ein Netzwerk von Fürsprechern, das Magistrate, Schöffen, Vögte, adelige Ständemitglieder, Äbte, Bischöfe und andere Kleriker in benachbarten und übergeordneten Klöstern umfassen konnte. Sie alle sprachen sich dann dafür aus, im jeweiligen Einzelfall die Zahlungspflicht auszusetzen. Nur in 61 Hierin liegt einer von mehreren Unterschieden zwischen dem Gebrauch der Panisbriefe durch den Landesherrn der niederländischen Provinzen und durch den Kaiser auf Ebene des Heiligen Römischen Reiches. In letzterem Fall waren alte Hofbeamte, deren Lebensabend gesichert werden sollte, die häufigsten Empfänger. Die Ausweitung dieses Kreises auf junge Beamte und Beamtenkinder durch Joseph II. stieß in den 1780er Jahren auf Kritik. Außerdem war entgegen der Anwendung in den Niederlanden eine Zuweisung von Männern an Frauenklöster auf Reichsebene möglich, während eine Kumulation von Pensionen hingegen auf Reichsebene ungewöhnlich blieb, G. Dickel, Reservatrecht (Anm. 52), 86 – 119. 62 Daher ist auch die Überlieferung in den Wiener Behörden weitaus weniger umfangreich, als in den Akten des Staatsrates in Brüssel. So findet sich für den Zeitraum bis 1740 aus dem Höchsten Rat der Niederlande AGR, DPB, (Anm. 28), nur Karton 802, (abweichend von den falschen Angaben im Findbuch T 129), aus dem Brüsseler Staatsrat für denselben Zeitraum hingegen, AGR, CE (Anm. 49), Kartons 918 – 924. 63 In einem Bericht vom 1. September 1720 wies Prinz Eugen den Kaiser darauf hin, dass viele Abteien versuchen würden, sich durch den Verweis auf alte Rechte oder große Armut von der Pflicht zur Zahlung einer Pension befreien zu lassen. Es sei allerdings das Recht des Monarchen, diese Abgabe zu erheben und über Ausnahmen zu entscheiden. AGR DPB (Anm. 28), Kart. 802 Pain d’Abbaye, unf.
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einem Fall – dem des Ordens der Kartäuser – gelang Ende 1718 eine pauschale Freistellung aller Klöster von dem Pain d’Abbaye, wobei der Staatsrat selbst für diesen Orden als Fürsprecher aktiv wurde64. In diesem Verfahren bestätigte der Staatsrat nach Prüfung älterer Dokumente die faktische Freistellung durch Verzicht der früheren Herrscher bis hin zu Karl II., dessen Vorbild maßgeblich sei, und versicherte, dass die Befreiung somit durch Tradition begründet wäre. Darüber hinaus merkte der Staatsrat in diesem Kontext an, dass der eigentliche Zweck der Abgabe in der Versorgung einheimischer Witwen und Waisen und dem Wohl der Provinzen läge – was durchaus als Kritik an der Vergabepraxis des Kaisers gesehen werden kann, die auch die Belohnung von Gefolgsleuten umfasste. Einen Kontrast zu den Anträgen und den Unterstützungsschreiben bieten die den jeweiligen Akten beigefügten Beschwerden der Pfründner über ausstehende Zahlungen und Berichte darüber, wie sie mit rechtlichem Beistand versuchten, ihre Forderungen durchzusetzen. Um eine gerechte Entscheidung zwischen den widerstreitenden Interessen zu ermöglichen, folgten jeweils Untersuchungen und Stellungnahmen des Staatsrates und der Provinzialbehörden65. Sie prüften, ob die Abschriften alter Privilegien bestätigt werden konnten oder wann tatsächlich zuletzt eine Pfründe gefordert worden war. Hierbei ist zu beachten, dass alle Beteiligten an diesen Verfahren das Recht Karls VI. auf die Vergabe der Pfründe prinzipiell anerkannten und nur in ihrem jeweiligen Einzelfall in Frage stellten. Wie bei der Legitimation seiner eigenen Herrschaft allgemein, so galt auch hier die Berufung auf Tradition und damit auf älteres, überliefertes Recht als zentrales Argument. Damit bestätigten sich Herrscher wie Untertanen gegenseitig, dass die Fortführung der spanisch-habsburgischen Herrschaftstradition durch Karl VI. die Grundlage ihrer gemeinsamen politischen Ordnung war. Darüber hinaus war das Verfahren aber auch für das Engagement von Fürsprechern offen, deren Einsatz dem Anliegen betroffener Einrichtungen Gewicht verlieh. In der Anerkennung derartiger traditionell akzeptierter, aber nicht institutionell verankerter Patronagemechanismen lag eine weitere Form der Traditionsbindung, die vermutlich stabilisierend auf das Herrschaftssystem wirkte. Als dritte Beobachtung ist festzuhalten, dass die Verfahren um die Zahlung oder Befreiung vom Pain d’Abbaye eine erhebliche Menge an Verwaltungsvorgängen generierten, die im gerade zu dieser Zeit neu organisierten Geschäftsgang der Verwaltung der Niederlande verortet waren. Sowohl der Staatsrat in Brüssel und der bevollmächtigte Minister, als auch der Höchste Rat der Niederlande in Wien, der Statthalter und der Kaiser waren darin involviert. Somit trugen die Verhandlungen um dieses Recht zur Entstehung einer Verwaltungsroutine bei und verankerten die Interaktion 64
AGR, CE (Anm. 49), 918, Mappe 115 u. 117 vom September bis Dezember 1718. Siehe die Zusammenfassung aller Nachforschungen des Staatsrates bis 1720, in: AGR, CE (Anm. 49), 921, Mappe 7. Vergleichsmaßstab für die neuen Anträge sind Listen der Vorgängerbehörden aus den Jahren 1600, 1622, 1623, 1629, 1665, 1704, 1705. Vgl. einen ausführlichen Bericht des Staatsrates hierzu vom 25. Juli 1720 in: AGR DPB (Anm. 28), Kart 802, unf. 65
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mit den Behörden Karls VI. und die Ordnung ihrer Zuständigkeiten in den Provinzen zusätzlich. Auch wenn dies selbstverständlich zugleich in anderen politischen Kontexten geschah und das Pain d’Abbaye nur ein Teilphänomen darstellte, so kam ihm doch eine zweifellos besondere Bedeutung zu: zum einen nötigte es eine Vielzahl kirchlicher Einrichtungen und oft auch die Empfänger der Pensionen dazu, aus eigener Initiative über Jahre hinweg in Interaktion mit der neuen Verwaltung zu treten; zum anderen bezogen die Betroffenen aus eigenem Interesse und eigener Initiative weite Teile der lokalen und regionalen Eliten in diesen Prozess ein. Alphonse Sprunck verweist in seiner Darstellung zur Statthalterschaft Prinz Eugens auf einen Reformversuch, mit dem der verdiente General im Jahr 1721 auf die vielen Beschwerden über das Pain d’Abbaye reagierte66. Am 1. September schlug er den Wiener Behörden vor, zukünftig alle Klöster zu verpflichten, eine jährliche Pension in Höhe von 150fl. auszuzahlen. Als Entgegenkommen sollte den Betroffenen das Recht gewährt werden, den Empfänger der Pension selbst zu wählen. Diese Initiative blieb aber – zumindest zu dieser Zeit – erfolglos. V. Fazit Die Kirchen- und Konfessionspolitik Karls VI. stellte einen wichtigen Beitrag zur Etablierung und vorläufigen Stabilisierung seiner Herrschaft in den südlichen Niederlanden dar. Dies kann allerdings weniger als das intendierte Ziel herrschaftlicher Handlungen und Resultat dezidierter Planung, sondern viel eher als Ergebnis der Summe situationsbezogener Verwaltungsvorgänge in der Situation eines Herrschaftswechsels gesehen werden, in der viele Akteure Versuche zur Wahrung ihrer unterschiedlichen Interessen unternahmen67. Dies nahm bereits während der anglo-batavischen Verwaltungszeit seinen Anfang, als kirchliche Institutionen Karls Anspruch auf Herrschaft gegenüber den Untertanen kommunizierten und so zugleich legitimierten. An dieser Stelle wirkte die Kirche als ein Kommunikationsnetzwerk, dessen Akteure zwar im Interesse des noch nicht inaugurierten Souveräns oder der anglo-batavischen Konferenz handelten, sich aber stets an eigenen Erwartungen und Interessen orientierten. Dies fand Ausdruck in der von ihnen Karl VI. zugeschriebenen Rolle des Beschützers der Glaubensgemeinschaft und der kirchlichen Institutionen. Hierbei spielte zunächst die Tradition der spanisch-habsburgischen Herrschaft eine zentrale Rolle, deren Bewahrung die Basis der Kommunikation über die Gestaltung einer gemeinsamen politischen Ordnung zwischen Karl VI. und seinen Untertanen bildete. Daneben schrieben die kirchenpolitischen Akteure ihrem neuen Herrscher allerdings durchaus einen politi66
A. Sprunck, Prinz (Anm. 56), 135. Diese Beobachtung bestätigt somit für das untersuchte Politikfeld Beobachtungen, die Klaas Van Gelder in einem breiteren Kontext machte. 67
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schen Spielraum bezüglich der Deutung und Aktualisierung der Traditionen zu, den sie zur Wahrung unterschiedlicher Interessen zu nutzen versuchten. So zeigte sich im Umgang mit Protestanten und Jansenisten ebenso wie bei den Verhandlungen um das Pain d’Abbaye, dass – auch wenn der Herrscher sich die höchste Autorität und das Recht zur Entscheidung über diese Fragen vorbehielt – die genaue Ausgestaltung der Kirchen- und Konfessionspolitik keineswegs allein obrigkeitlich gesteuert war. Vielmehr bekleiden Karl VI. und seine Administration zwar eine Schlüsselposition in einem kirchenpolitischen Kommunikationsraum, mussten aber aufgrund der eingangs skizzierten politischen Lage immer wieder mit kontextabhängig unterschiedlichen Akteursgruppen interagieren, die, wie beispielsweise der Erzbischof von Mecheln und seine Verbündeten, erheblichen Einfluss in den Provinzen besaßen. Ähnliches war – wenn auch fragmentarischer – bei den Unterstützernetzwerken für eine Befreiung vom Pain d’Abbaye zu beobachten oder wenn der Souverän als Interessenvertreter seiner Untertanen gegenüber auswärtigen Akteuren angesprochen wurde. Die Tatsache, dass die Ausgestaltung der Kirchen- und Konfessionspolitik Karls VI. an die Interaktion mit lokalen Akteursgruppen gebunden blieb, hatte zur Folge, dass seine Rolle als Herrscher durchaus ambivalente Interpretationen provozierte. Er und sein Statthalter wurden im Jansenistenkonflikt sowohl von Verfolgern als auch Verfolgten angesprochen und waren im Falle der Pain d’Abbaye ebenfalls Ansprechpartner beider Seiten, der Belasteten und der Begünstigten. Diese Offenheit bot zumindest für die ersten Jahre der neuen Herrschaft hohes Inklusionspotential – wobei sicherlich zu untersuchen wäre, welche Auswirkungen die unvermeidbare Enttäuschung von Erwartungen auf die spätere Haltung der Untertanen gegenüber ihrem Souverän hatte. Dessen ungeachtet war für eine dauerhafte Etablierung der Herrschaft Karls VI. wichtig, dass die Untertanen ihm das Recht zusprachen, bei Konflikten in einem kirchenpolitischen Kontext über die Gültigkeit unterschiedlicher Interpretationen der traditionellen Ordnung zu entscheiden. Dies ist umso bemerkenswerter, da die Stände ihm in anderen Zusammenhängen das Recht hierzu absprachen und selbst als Bewahrer der traditionellen Ordnung auftraten68. Insofern scheint es, dass dem Herrscher diese wichtige Einflussmöglichkeit vornehmlich dann zugeschrieben wurde, wenn er als (Schieds)Richter in einem Konflikt zwischen seinen Untertanen oder als ihr Beschützer gegenüber Dritten handelte und nicht, wenn er ihnen als Vertreter eigener Interessen erschien. Zum Verständnis des Herrschaftswechsels von 1714 beziehungsweise 1716, wie auch für Herrschaftswechsel im Allgemeinen, ist speziell der Blick auf die Vergabe von Pains d’Abbaye aufschlussreich. Dies ist ein Beispiel dafür, dass ein eher diskursives Verfahren, das auf Praktiken der Aushandlung anstelle eines Durchsetzens herr68 Siehe hierzu die Konflikte um die Inauguration in Brüssel, vgl. K. Van Gelder, Trial (Anm. 1) 236 – 263 und die Verhandlungen um die Inauguration des Herrschers K. Van Gelder, Investiture (Anm. 9).
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schaftlicher Autorität hinauslief, erheblich dazu beitragen konnte, dass Untertanen eine Herrschaft und die von ihr geschaffenen Institutionen als legitim akzeptierten und von sich aus mit ihr kommunizierten69. Dadurch, dass Karl VI. und seine Amtsträger in diesem Fall flexibel handelten und Einzelfällen einen Spielraum ließen, in dem über die Anwendung traditioneller Rechte verhandelt werden konnte, verdeutlichten sie – ohne die Position des Monarchen als Entscheidungsträger aus der Hand zu geben – gegenüber den als Multiplikatoren wichtigen kirchlichen Einrichtungen zwei Grundsätze: erstens, dass seine Herrschaft rechts- und traditionsgebunden war und zweitens, dass sie dennoch im Einzelfall verhandlungsfähig blieb. Vermutlich war es gerade diese Mischung, die aus Sicht der Untertanen ein akzeptables Fundament für eine zukünftige politische Ordnung darstellte.
69 Diese Schlussfolgerung zog anhand anderer Beispiele bereits Birgit Emich, Frühneuzeitliche Staatsbildung und politische Kultur. Für die Veralltäglichung eines Konzeptes, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2005, 191 – 205, 198.
Supplikationen als Mittel zur Herrschaftsvermittlung in den Österreichischen Niederlanden im 18. Jahrhundert? Von Hanna Sonkajärvi, Rio de Janeiro Im Juli 1763 empfing der österreichische Statthalter in Brüssel, Karl Alexander Prinz von Lothringen, eine Supplikation von Nicolas Biourge, dem Steuereinnehmer des Kapitels Nivelles in Brabant. Der Supplikant wandte sich an den Statthalter mit der Bitte, seinem noch nicht 18-jährigen Sohn Timothé eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, damit dieser ungestraft in spanischen Diensten bleiben dürfe. Dieses Dispensgesuch war notwendig, weil der Magistrat von Nivelles gegen den Sohn wegen Eintritts, und gegen den Vater wegen Beihilfe zum Eintritt in fremde Dienste Ermittlungen aufgenommen hatte1. Laut Nicolas Biourge hatte sein Sohn wiederholt den Wunsch geäußert, in den Solddienst einzutreten und damit gedroht, sich in preußische Dienste begeben zu wollen. Daraufhin hatte sich der Bittsteller beim Oberstleutnant des südniederländischen Regiments Arberg vergebens nach einem Söldnerposten für seinen Sohn er1
Archives Générales du Royaume, Brüssel (im Folgenden AGR), Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 967/B, Supplikation von Nicolas Biourge, „receveur du chapitre de Nivelles“, s. d. [1763]. Dieser Bestand: Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 967/A-B, Service militaire à l’étranger (1739 – 1787; 1794), ca. 900 Blatt, unnummeriert, besteht aus Supplikationen der Untertanen, die den Eintritt in fremde Dienste betreffen. Er umfasst die Jahre von 1739 bis 1794, wobei die große Mehrheit aus den 1760er bis 1780er Jahren stammt. Der Umfang der einzelnen Dossiers ist sehr unterschiedlich: In Bezug auf einige Supplikationen befindet sich im Bestand nur noch eine kurze Notiz über die vom Statthalter getroffene Entscheidung. In den meisten Fällen findet sich ein Auszug aus dem Protokoll des Conseil Privé, der aus einer Zusammenfassung und einer Erwägung der verschiedenen Argumente sowie aus einer Empfehlung an den Statthalter und ggf. der Entscheidung des Statthalters besteht. Teilweise sind noch die Gutachten des Conseiller Fiscal der jeweiligen Provinz erhalten. Diese Gutachten wurden in Bezug auf jeden einzelnen Bittsteller vom Conseil Privé eingeholt. In den wenigsten Fällen ist die originale Bittschrift noch erhalten. In einigen Dossiers befinden sich auch noch andere Nachweise, z. B. des Magistrats oder der Geistlichen über das Benehmen und die finanziellen Verhältnisse des Antragstellers, Nachweise des Adelsstandes usw. Flankiert werden konnten die Bittschriften von zusätzlichen Berichten, die das Conseil Privé von den jeweiligen lokalen Obrigkeiten und Justizinstanzen einfordern konnte, z. B. in Bezug auf die Verfolgungs- und Strafpraxis. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in diesem Bestand erhaltenen Dokumente die komplette Anzahl der im 18. Jahrhundert von der Krone empfangenen Dispensgesuche enthalten. Folglich lässt sich aus der für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wachsenden Anzahl von Dokumenten nicht direkt auf eine verschärfte Kontrolle oder gar Effizienz der Verwaltung schließen.
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kundigt. Timothé Biourge hatte sich anschließend von einem aus Lille stammenden Leibgardisten des spanischen Königs in den spanischen Dienst werben lassen. Der Bittsteller begründete das Dispensgesuch damit, dass der Sohn stets wanderlustig gewesen sei. Nicolas Biourge betonte, dass er das aus dem Jahr 1738 datierende Verbot des fremden Dienstes nicht gekannt habe. Außerdem habe sich seither die politische Situation verändert, da eine Allianz zwischen dem Haus Österreich und den Bourbonen zustande gekommen sei. Das Verbot sei nicht erneuert worden, und mehrere Ortsansässige seien nach Spanien gegangen, ohne dafür bestraft worden zu sein2. Dieses Dispensgesuch gab den Anlass für einen der drei südniederländischen Kollateralen Räte, das Brüsseler Conseil Privé, sich nach der Durchsetzung der angeordneten Maßnahmen auf lokaler Ebene zu erkundigen3. So wurde dem Magistrat und dem Bürgermeister von Nivelles aufgetragen zu klären, durch wen und wie der Sohn von Nicolas Biourge rekrutiert worden war. Darüber hinaus hatten sie Rechenschaft darüber abzulegen, ob die Verordnung des 31. Juli 1738 in der Stadt veröffentlicht und ob diese Veröffentlichung wiederholt worden war. Der Bürgermeister bekräftigte dies und versuchte gleichzeitig seine Verantwortung mit der Bemerkung herunterzuspielen, fremde Werber hätten drei Tage lang in der Stadt verweilt, als er selbst von Krankheit betroffen war4. Zahlreiche Einwohner der Stadt wurden vom städtischen Rat als Zeugen zur Anwerbung vernommen und die Berichte nach Brüssel verschickt. Am Ende wurde das Bittgesuch vom Conseil Privé untersucht und dem Statthalter die Ablehnung empfohlen, was dann auch erfolgte. Der Eintritt in die fremden Dienste sollte – laut Gesetz – durch Todesstrafe, mindestens aber durch Konfiszierung des Vermögens, sowie den Verlust der Erbrechte bestraft werden. In der Praxis waren Strafen gegen Söldner, die ohne Erlaubnis in fremde Dienste eingetreten waren, jedoch schwierig durchzusetzen. Wer wenig oder nichts besaß, hatte im Hinblick auf die Konfiszierung des Vermögens kaum etwas zu befürchten. Deshalb dienten Untertanen des Kaisers weiterhin ohne Erlaubnis des Herrschers sowohl bei den holländischen als auch den spanischen und fran-
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AGR, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 967/B, Supplikation von Nicolas Biourge, „receveur du chapitre de Nivelles“, s. d. [1763]. 3 Zu den Brüsseler und Wiener Behörden, siehe Paul Alexandre, Histoire du Conseil Privé dans les anciens Pays-Bas, Brüssel 1894/1895; Bruxellois à Vienne, viennois à Bruxelles (Études sur le XVIIIe siècle, 18), hrsg. v. Bruno Bernard, Brüssel 2004; Bruno Bernard, Patrice-François de Neny (1716 – 1784). Portrait d’un homme d’Etat (Études sur le XVIIIe siècle, 21) Brüssel 1993; Kim Bethume, Les hauts fonctionnaires autrichiens à Bruxelles au XVIIIe siècle. Leur rôle au sein du gouvernement des Pays-Bas et leur intégration à la population (Études sur le XVIIIe siècle, 32), Brüssel 2004; Renate Zedinger, Die Verwaltung der österreichischen Niederlande in Wien (1714 – 1795). Studien zu den Zentralisierungstendenzen des Wiener Hofes im Staatswerdungsprozeß der Habsburgermonarchie (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, 7), Wien/Köln/Weimar 2000. 4 AGR, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 967/B, Auszug aus dem Protokoll des Conseil Privé, 31. April 1763.
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zösischen Truppen5. In der Provinz Hennegau konnten diese Vergehen erst gar nicht geahndet werden, weil die dortige Rechtsprechung den Prozess in Abwesenheit des Angeklagten nicht erlaubte. Dies führte zur Intervention des Conseil Privé und der Kaiserin Maria-Theresia, die der Meinung war, dass die Ahndung solcher Vergehen von zentralem Interesse für die Krone sei. Der oberste Gerichtshof der Provinz, das Conseil du Hainaut, antwortete dagegen kühn nach Wien, man könne zwar die Gesetze ändern, doch sei ein solcher Versuch nicht zu empfehlen, da jede Änderung die Zustimmung der Provinzialstände verlange und deshalb kaum zu erwarten sei6. I. Herrschaftsvermittlung und Kontrolle von lokalen Eliten Dennoch kam den aus instrumenteller Sicht offenbar weitgehend folgenlosen normativen Vorgaben zum Dispensgesuch in der Praxis eine wichtige herrschaftsvermittelnde7 Funktion zu. Auf diese Funktion hat André Holenstein in seinen Arbeiten in Bezug auf die Handhabung von Policeyverordnungen hingewiesen8. Holenstein spricht, in Anlehnung an den Rechtshistoriker Klaus Becker, von der „frühneuzeitlichen Gesetzgebungstechnik des Verbots oder Gebots mit Erlaubnisvorbehalt“9, bei der vorbehaltliche Normvorgaben als Mittel des Regierens zu verstehen seien. Der gesetzliche Zwang, mit einer Supplikation um die Erteilung einer Ausnahmeerlaubnis zu bitten, ermöglichte es Untertanen, unter Umgehung lokaler, dörflicher und städtischer Verwaltungen direkt mit dem Herrscher zu kommunizieren. Im Gegenzug
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Zum Militär in den Österreichischen Niederlanden, siehe Catherine Denys, Les relations entre Pays-Bas du Nord et Pays-Bas du Sud autour du problème de la Barrière au XVIIIe siècle, une proposition de révision historiographique, in: Revue du Nord 87 (2005), 115 – 137; Joseph Ruwet, Soldats des régiments nationaux au XVIIIème siècle, notes et documents, Brüssel 1962; Hanna Sonkajärvi, Aperçu sur l’économie de la désertion dans les Pays-Bas autrichiens au XVIIIème siècle, in: Histoire, économie & société 30 (2011), 49 – 57; Guy Thewes, Stände, Staat und Militär. Versorgung und Finanzierung der Armee in den Österreichischen Niederlanden 1715 – 1795 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, 14), Köln/Wien/Weimar 2012. 6 AGR, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 649/A, n814, Dossier mit Memoranden und Korrespondenzen bezüglich der Rechtsprechung im Hennegau, 1777 – 1778. 7 Siehe Stefan Brakensiek, Herschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, hrsg. v. Stefan Brakensiek/Heide Wunder, Köln/ Weimar/Wien 2005, 1 – 21. 8 André Holenstein, ,Ad supplicandum verweisen‘. Supplikationen, Dispensationen und die Policeygesetzgebung im Staat des Ancien Régime, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 19), hrsg. v. Cecilia Nubola/Andreas Würgler, Berlin 2005, 170 – 171. 9 Klaus Becker, Die behördliche Erlaubnis des absolutistischen Fürstenstaates, jur. Diss. Marburg, 1970, 121 – 122, 9.
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verschaffte sich die Zentralgewalt dadurch die Möglichkeit, sich über die lokalen Belange zu informieren und sich gegebenenfalls auch einzumischen10. Dass es der Krone eher um den eigenen Legitimationsanspruch und die Kommunikation mit den Untertanen als um die faktische Durchsetzung der Normen ging, zeigt auch der Briefwechsel zwischen dem Kommandanten der spanischen Guardias valonas11, de Hauregard, und dem bevollmächtigten Minister der Österreichischen Niederlande Cobenzl aus dem Jahr 1769. De Hauregard beschwerte sich darüber, dass der oberste Richter der Grafschaft Namur von den Offizieren in spanischen Diensten den Nachweis eines erfolgreichen Dispensgesuchs verlangte. Einige hätten nicht um Erlaubnis gebeten, anderen sei bisher nur eine mündliche Erlaubnis vom bevollmächtigten Minister der Österreichischen Niederlande, dem Grafen Harrach, erteilt worden. Aus der Antwort von Cobenzl ist herauszulesen, dass es sich aus seiner Sicht bei der Verpflichtung um eine Formalität handelte: Die Erlaubnis werde an diejenigen Einwohner der Grafschaft Namur erteilt, die sich „seit einiger Zeit“ in spanischen Diensten befanden, wobei grundsätzlich notwendig sei, um Erlaubnis zu bitten12. Während die Dispenspflicht aus Sicht der Krone zur Kontrolle der lokalen Institutionen und Legitimation des eigenen Machtanspruchs diente, waren damit aus der Perspektive der Bevölkerung Inklusions- und Exklusionseffekte13 verbunden, denn hinter der Frage des Dispenserhalts stand ganz konkret die Frage nach Zugang zur 10
Derek Beales betont die Bedeutung von Bittschriften als Kontrollmittel des Herrschers gegenüber seiner eigenen Zentralverwaltung. Zur Überwachung der Bürokratie habe Joseph II. bewusst auf Bittschriften in Verbindung mit Konduitelisten rekurriert: Derek Beales, Joseph II, Petitions and the Public Sphere, in: Cultures of Power in Europe during the Long Eightteenth Century, hrsg. v. Hamish M. Scott/Brendan Simms, Cambridge 2010, 249 – 268. Beales verschweigt jedoch, wie diese Kontrolle konkret umgesetzt wurde. 11 Die Mitglieder der Guardias valonas leisteten Solddienst für den spanischen König indem sie in einem direkten, individuellen Vertragsverhältnis zum spanischen König standen. Es gab daher keinerlei Kapitulationsvertrag diplomatischer oder privater Natur zwischen dem König und einem Herrschaftsverband oder Soldunternehmer: Thomas Glesener, Idéal et pratique du service étranger en France et en Espagne à la fin de l’Ancien Régime, in: Mélanges de l’École française de Rome: Italie et mediterranée 118 (2006), 289 – 301, 295. Siehe auch ders., ¿Nación Flamenca o elite de poder? Los militares „flamencos“ en la España de los Borbones, in: La Monarquía de las Naciones. Patria, nación y naturaleza en la Monarquía de España, hrsg. v. Antonio Álvarez-Ossorio Alvariño/Bernardo José García García, Madrid 2004, 701 – 719. 12 AGR, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 967/B, Hauregard an Cobenzl, s.d.; Cobenzl an Hauregard, 21. Januar 1769. 13 Die Begriffe Inklusion und Exklusion werden hier nicht im differenzierungstheoretischen Sinne verwendet. Übernommen aus der zeitgenössischen französischsprachigen Debatte, beziehen sie sich hier auf soziale Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen. Im Gegensatz zum Begriff der Integration weisen sie auf die Dynamik solcher Prozesse hin. In der Systemtheorie beziehen sich die Begriffe Inklusion und Exklusion auf die Funktionssystemebene, siehe Niklas Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: Nationales Bewußtsein und kollektive Identität (Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, 2), hrsg. v. Hermut Berding, Frankfurt 1996, 15 – 45.
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Arbeit und zu weiteren (auch zivilen) Ämtern, die über eine Militärkarriere erlangt werden konnten14. Bei einer genaueren Betrachtung des Brüsseler Bestands fällt jedoch auf, dass sich hier die Adeligen und die Justiz- und Verwaltungseliten numerisch überrepräsentiert finden. Damit wird deutlich, dass es sich bei der Verpflichtung zum Dispensgesuch um ein Kontrollmittel der Krone im Hinblick auf die lokalen Eliten in den Österreichischen Niederlanden handelt. Durch die Dispenspflicht konnte sich die Krone ein mehr oder weniger genaues Bild über die Loyalität der einzelnen Familien gegenüber der Habsburgermonarchie verschaffen und zudem feststellen, welche Angehörige des Adels- und der Justiz- und Verwaltungseliten in die ausländischen Dienste getreten waren. Der Eintritt in fremde Dienste implizierte nämlich in der Regel schon existierende oder künftige Familien- und Beziehungsnetzwerke in den jeweiligen Ländern und konnte auch dauerhafte Auswanderung nach sich ziehen15. II. Supplikationen als Mittel der Herrschaftslegitimation Schaut man sich eine weitere Art von Bittschriften an, nämlich solche zur Naturalisierung oder Einbürgerung in einer Provinz16, scheinen diese auf den ersten Blick den Eindruck zu bekräftigen, hier habe direkte Kommunikation zwischen Untertanen und Fürst, beziehungsweise dem Statthalter als seinem Stellvertreter stattgefunden. Auch sieht es so aus, als habe diese kommunikative Situation der Brüsseler Zentrale Gelegenheit geboten, sich über die lokalen Verhältnisse zu informieren, denn die Supplikationen werden von Stellungnahmen begleitet, die das Brüsseler Conseil Privé von lokalen Instanzen wie provinziellen Ständeversammlungen, Gerichten und Behörden verlangte. 14 Der Eintritt in kaiserliche Dienste stellte für zahlreiche Familien ein Problem dar: Die Offiziersstellen waren knapp und kosteten mehr Geld als die äquivalenten Stellen in den spanischen Diensten. Darüber hinaus genossen Offiziersposten im habsburgischen Militär kein besonders hohes Ansehen beim Adel. Vor allem fehlten vielen Familien in den südlichen Niederlanden aber die richtigen Beziehungen, um Aufnahme in die habsburgischen Dienste zu finden. Die Aufstiegsmöglichkeiten in spanischen Diensten waren deutlich besser und der Einstieg finanziell günstiger als derjenige in die habsburgische Armee. Adelige aus den Österreichischen Niederlanden dienten sowohl in den königlichen Guardias valonas als auch in drei flämischen Linienregimentern, die nach dem Spanischen Erbfolgekrieg nach Spanien gezogen waren, sowie bei anderen spanischen Einheiten. Der Dienst bei den Guardias valonas war jedoch besonders lukrativ, da hier ein schneller Aufstieg möglich war und die Ränge den höheren Rängen in Linienregimentern entsprachen. Dies schlug sich nicht nur in Prestige und Einkommen nieder, sondern ermöglichte das Erreichen von attraktiven Positionen außerhalb der Regimenter. Arnout Mertens/Hanna Sonkajärvi, Das Verbot der fremden Dienste in den Österreichischen Niederlanden: Mittel zur Herrschaftsvermittlung und zur Kontrolle von lokalen Eliten, in: Journal of Modern European History 10 (2012), 412 – 425, hier 419 – 421. 15 Dazu genauer A. Mertens/H. Sonkajärvi, Verbot der fremden Dienste (Anm. 14). Die ,Transnationalität‘ des südniederländischen Adels schlug sich – neben Karrieren im Militär, Kirche und Verwaltung im Dienst verschiedener Herrscher – insbesondere in grenzübergreifendem Landbesitz und im Heiratsverhalten nieder. 16 Im Folgenden wird der Begriff Naturalisierung benutzt, um eine Verwechslung mit städtischer Einbürgerung zu vermeiden.
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Jedoch handelt es sich bei eingehender Untersuchung um Vorgänge, die weniger im Zusammenhang mit der Kommunikation über herrschaftliche Zwecke und Mittel – und damit Herrschaftsvermittlung – zu sehen sind, sondern aufgrund der großen Handlungsautonomie der südniederländischen Provinzen und Städte eher mit „performativen Kommunikationsakten“17 zu tun haben, die darauf zielten, die Entscheidungen als die Entscheidungen der politischen Zentralmacht darzustellen, wenngleich über sie auf Provinzebene beschieden wurde. So hatten die 17 Provinzen der Spanischen Niederlande – und später die zehn Provinzen18 der Österreichischen Niederlande – weitgehende Privilegien und verfügten jeweils über eigene Ständeund Räteversammlungen. Die Erhaltung der Privilegien wurde vom Kaiser, wie zuvor von den Königen von Kastilien (bzw. ihren Vertretern in Flandern) bei der Thronbesteigung durch einen Eid zugesichert19. Die Städte und Provinzen leiteten bis ins 18. Jahrhundert aus dem zusammengesetzten Charakter der Monarchie den Anspruch ab, als Körperschaften eigenen Rechts in das Reich der Habsburger eingebunden zu sein20. Da sich die Städte und Provinzen weitgehend selbständig verwalteten, lässt sich hier von funktionierenden Formen von Dreiecks-Kommunikation 17
Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), 489 – 527, 495, definiert performative Kommunikationsakte als „Handlungen, die selbst bewirken, was sie sprachlich bezeichnen oder szenisch darstellen“. 18 Die Herzogtümer Brabant, Limburg, Luxemburg und Geldern, die Grafschaften Flandern, Namur und Hennegau, sowie die Herrlichkeiten Mecheln, Tournai und das Land von Tournais (Tournaisis). Einen allgemeinen Überblick bietet das Werk von Catherine Denys/ Isabelle Paresys, Les anciens Pays-Bas à l’époque moderne (1404 – 1815): Belgique, France du Nord, Pays-Bas, Paris 2007. 19 Klaas van Gelder, L’empereur Charles VI et ,l’héritage anjouin‘ dans les Pays-Bas autrichiens en 1725 d’après un mémoire élaboré sous la direction du Comte de Daun, in: Revue d’Histoire Moderne et Contemporaine 58 (2011), 53 – 79; ders., The Investiture of Emperor Charles VI in Brabant and Flanders: A Test Case of the New Austrian Government, in: European Review of History – Revue européenne d’histoire 18 (2011), 443 – 463; Simon Karstens, Die spanische Illusion – Tradition als Argument der Herrschaftslegitimation Karls VI. in den südlichen Niederlanden, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (2012), 161 – 189 ; ders., Von der Akzeptanz zur Proklamation. Die Einführung der Pragmatischen Sanktion in den Österreichischen Niederlanden 1720 – 1725, in: ZHF 40 (2013), 1 – 34. Zu Gent siehe Anna-Laure van Bruaene, Spectacle and Spin for a Spurned Prince. Civic Strategies in the Entry Ceremonies of the Duke of Anjou in Antwerp, Bruges and Ghent (1582), in: Journal of Early Modern History 11 (2007), 263 – 284; Peter Arnade, Realms of Ritual. Burgundian Ceremony and Civic Life in Late Medieval Ghent, Ithaca/London 1996; Elodie Lecuppre-Desjardin, La ville des cérémonies. Essai sur la communication politique dans les anciens Pays-Bas bourguignons, Turnhout 2004. 20 John H. Elliott hat mit dem Begriff der „zusammengesetzten Monarchie“ („composite monarchy“) den Umstand hervorgehoben, dass die meisten Monarchien der Frühen Neuzeit zunächst auf dem gleichberechtigten Zusammenschluss verschiedener Länder beruhten; John H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, in: Past and Present 137 (1992), 48 – 71. Vgl. Polycentric Monarchies: How Did Early Modern Spain and Portugal Achieve and Maintain A Global Hegemony?, hrsg. v. Pedro Cardim/Tamar Herzog/José Javier Ruiz Ibáñez et al., Eastbourne, 2012.
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(Triangulierung) und Herrschaftsvermittlung21 zwischen der fürstlichen Zentrale, den regionalen beziehungsweise lokalen Amtsträgern und den einzelnen Untertanen nicht sprechen. Dies kann frühestens für die Theresianische Zeit angenommen werden22, und erst seit 1787 wurden im Zuge der Josephinischen Verwaltungsreformen systematisch Anstrengungen unternommen, die Autonomie der südniederländischen Städte und Provinzen zu brechen23. Die Analyse der auf Naturalisierung zielenden Supplikationen ermöglicht es dennoch, nach der Rolle von Vermittlern zwischen Bittstellern und Zentralverwaltung und innerhalb des österreichischen Verwaltungssystems in den südlichen Niederlanden zu fragen. Darüber hinaus lässt sich selbstreferentielles Verhalten von Verwaltungen feststellen. Hierbei entwickelten sich Verwaltungstechniken, die an der Wirksamkeit dieser Art von Bittschriften als Mittel der Herrschaftsvermittlung Zweifel aufkommen lassen. Vielmehr deutet die Art und Weise, wie zwischen verschiedenen Instanzen kommuniziert wurde und Kommunikationsprozesse nach außen dargestellt wurden darauf hin, dass Supplikationsverfahren für Herrschaftsanspruch und Selbstlegitimation der Habsburgermonarchie von grundlegender Bedeutung waren24. In der Forschung zu Bittschriften ist insbesondere deren ,demokratischer‘ Charakter betont worden. So habe theoretisch jeder Untertan und Repräsentant von Körperschaften direkt und unter Umgehung des behördlichen oder gerichtlichen Instanzenzugs beim Fürsten vorstellig werden können25. Die Brüsseler Bestände, die den Ein21
S. Brakensiek, Herrschaftsvermittlung (Anm. 7), 1 – 21. Bereits unter Karl VI. bestanden Zentralisierungsbestrebungen, welche jedoch bald aufgegeben wurden angesichts der Abhängigkeit des Kaisers von den Ständen, siehe: K. van Gelder, L’empereur Charles VI (Anm. 19); ders./Sandra Hertel, Die Mission des Grafen von Daun in Brüssel 1725. Ein Wendepunkt in der Regierung der Österreichischen Niederlande?, in: ZHF 38 (2011), 405 – 439; S. Karstens, Akzeptanz (Anm. 19); ders., Spanische Illusion (Anm.19). Zur Zentralisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, siehe Herman Coppens, De financiën van de centrale regering van de Zuidelijke Nederlanden aan het einde van het Spaanse en onder Oostenrijks Bewind (ca. 1680 – 1788), Brüssel 1992; Piet Lenders, De Junta der besturen en beden (1764 – 1787) en haar werking in de Oostenrijkse Nederlanden, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 92 (1977), 17 – 36; Leo Van Buyten, Het XVIIIde-eeuws Leuvens stedelijk financiewezen, Leuven 1988. 23 Siehe dazu Peter Becker, Kaiser Josephs Schreibmaschine. Ansätze zur Rationalisierung der Verwaltung im aufgeklärten Absolutismus, in: Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 12 (2001), 223 – 254; Luc Dhodt, Staatsveiligheidsmodel en bureaucratisering onder Maria-Teresia en Josef II (1740 – 90), in: Tijdschrift voor geschiedenis 90 (1977), 423 – 438; Hervé Hasquin, Joseph II: catholique anticlérical et réformateur impatient: 1741 – 1790, Brüssel 2007; Walter W. Davis, Joseph II: An Imperial Reformer for the Austrian Netherlands, Den Haag 1974. 24 So signalisierten Maria Theresia, Joseph II. und Leopold II. bei Ihren Amtseintritten explizit ihre Offentheit gegenüber Bittschriften aus den Österreichischen Niederlanden: Griet Vermeesch, Professional Lobbying in Eighteenth-Century Brussels: The Role of Agents in Petitioning the Central Government Institutions in the Habsburg Netherlands, in: Journal of Early Modern History 16 (2012), 95 – 119, 101. 25 Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz 22
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tritt in die fremden Dienste und Naturalisierungen betreffen, werden jedoch eindeutig von Supplikationen aus dem Adel und von städtischen sowie justiziellen Eliten dominiert. Dies ist aufgrund der eingangs geschilderten normativen Vorgaben leicht zu erklären: In der Regel bemühten sich nur Söldner, die Eigentum zu verlieren hatten, um eine Erlaubnis des Fürsten. Untertanen mit geringen Einkünften und Vermögenswerten meldeten sich dagegen oft erst, wenn sie festgenommen und der Desertion angeklagt worden waren. Naturalisierungen wiederum waren in den meisten Provinzen nur nötig, wenn ein Herrschafts- oder Provinzfremder ein weltliches oder kirchliches Amt bekleiden wollte. Denn die Provinzen Brabant und Limburg gewährten Untertanen anderer südniederländischen Provinzen keinen Zugang zu Ämtern, und diese anderen südniederländischen Provinzen wiederum schlossen Brabanter und Limburger aus26. Ein Recht auf die Konfiszierung des Vermögens von fremden Untertanen, also Untertanen, die nicht dem Kaiser unterstanden, bestand nur in der Provinz Hennegau und einigen Teilen Brabants und Flanderns. Daher ließen sich in diesen Provinzen nicht nur Amtsanwärter, sondern auch vermögende Personen naturalisieren27. Über den Eintritt in die fremden Dienste entschieden der Statthalter und die Kollateralen Räte (das Conseil d’État, das Conseil Privé und das Conseil des Finances in Brüssel) als Repräsentanten des Kaisers, während bei Naturalisierungen diese beiden Instanzen zusammen mit den einzelnen Provinzen entschieden – oder gar, wie im Fall der Provinzen Brabant und Limburg, nur der Rat von Brabant als Oberstes Gericht in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 19), hrsg. v. Cecilia Nubola/Andreas Würgler, Berlin 2005, 17 – 52. 26 In Brabant und in Limburg garantierte seit 1356 die ständische Verfassung, Blijde inkomst / Joyeuse entrée, den Bestand von besonders weitgehenden Privilegien und traditionellen Institutionen. Diese Charta bestand aus einer gegenseitigen Verpflichtung des Fürsten und der Stände. Sollte der Fürst den Versuch machen, die Privilegien der Städte und des Landes – entgegen dem von ihm beim Einzug geleisteten Eid – aufzuheben, so wären die Stände ihrer Pflicht gegen den Fürsten entbunden. 27 John Gilissen, Le statut des étrangers en Belgique du XIIIe au XXe siècle, in: Recueils de la Société Jean Bodin, Bd. 10: L’Étranger, Brüssel 1958, 231 – 331. Die Frage der Naturalisierungen im Verhältnis zu lokalen Zugehörigkeiten (zu einer Stadt oder einer Provinz) ist für die südlichen Niederlanden kaum untersucht worden. Neben dem Aufsatz von Gilissen dazu auch: Bruno Bernard, Les XVIIe XVIIIe siècles: Une hospitalité patrimonieuse, in: Histoire des étrangers et de l’immigration en Belgique de la préhistoire à nos jours, hrsg. v. Anne Morelli, Brüssel, 1992, 75 – 90, der jedoch vor allem von „Ausländern“ aus heutiger Sicht spricht. Differenzierter sind dagegen die Untersuchungen zum frühneuzeitlichen Frankreich, und zu Savoyen und Spanien, siehe: Simona Cerutti, Étrangers. Étude d’une condition d’incertitude dans une société d’Ancien Régime, Montrouge 2012; Tamar Herzog, Defining Nations. Immigrants and Citizens in Early Modern Spain and Spanish America, New Haven/ London 2003; Volker Manz, Fremde und Gemeinwohl. Integration und Ausgrenzung in Spanien im Übergang vom Ancien Régime zum frühen Nationalstaat (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 191), Stuttgart 2006; Peter Sahlins, Unnaturally French: Foreign citizens in the Old Regime and after, New York 2004; Hanna Sonkajärvi, Qu’est-ce qu’un étranger? Frontières et identifications à Strasbourg (1681 – 1789), Strasbourg 2008.
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der Provinz und in bestimmten Fällen die Stände von Brabant28. Hier zeigt sich also deutlich der zusammengesetzte Charakter der Habsburgermonarchie: Repräsentiert durch das Conseil Privé, einen der drei Kollateralen Räte, und den Statthalter im Entscheidungsprozess, war die Krone im Alltagsgeschäft nur koordinierend involviert oder bestätigte die auf der Provinzebene verfassten Empfehlungen – beziehungsweise im Fall Brabants die Beschlüsse des Rats und der Stände von Brabant29. Damit erreichten die Supplikationen zwar die Kollateralen Räte und den Statthalter, führten jedoch nur ganz selten zur Disziplinierung der lokalen Amtsträger und Stäbe durch die Brüsseler Zentralbehörden – die Supplikanten nämlich hielten sich zurück mit ihrer Kritik an lokalen Verhältnissen, wohl wissend, dass es die lokalen Behörden waren, die ihre Zustimmung zur Bittschrift gaben. Bei der Koordinierung und Ratifizierung durch Brüsseler Behörden handelt es sich jedoch durchaus um mehr als eine Kontrolltätigkeit: So liefen Naturalisierungsverfahren einerseits, was die Argumentationsform der Supplikationen sowie die Auskünfte oder Beschlüsse der Provinzialinstanzen betrifft, nach einem fest etablierten Muster ab. Andererseits unterstrich die Tatsache, dass die Suppliken an die Brüsseler Behörden zu richten waren und Entscheidungen von diesen schriftlich verkündet wurden, den Herrschaftsanspruch der Habsburgermonarchie in den südlichen Niederlanden. Dem „performativen Kommunikationsakt“30 und der „Darstellung der Herstellung von Entscheidungen“31 kam damit durchaus eine herrschaftslegitimie28 Laut J. Gilissen, Statut (Anm. 27), 253 – 254, kann für das 16.–18. Jahrhundert zwischen drei verschiedenen Typen von ,Brabantisierung‘ unterschieden werden. Zunächst gab es die vom Rat von Brabant genehmigten Einbürgerungsbriefe (lettres de naturalisation). Diese wurden Nicht-Brabantern gegen Leistung des Treueids gegenüber dem Fürsten genehmigt und ausgehändigt. Die Empfänger wurden rechtlich den Brabantern und den Untertanen der Österreichischen Niederlande gleichgestellt, mit der Ausnahme, dass sie in der Provinz keine öffentlichen Ämter bekleiden durften. Daher stellte der Rat von Brabant, in Übereinstimmung mit den Ständen von Brabant, zugleich Einbürgerungsbriefe für die Provinz Brabant (lettres de brabantisation) aus für Fremde, die öffentliche Ämter in der Provinz ausüben wollten. Diese wurden selten genehmigt und konnten insbesondere von außerhalb der Provinz geborenen Söhnen von Brabantern erfolgreich erworben werden. Ferner gab es für den kirchlichen Bereich die Naturalisierungs- oder Ermächtigungsbriefe (lettres de naturalité oder lettres de habilité), die fremden Geistlichen vom Rat von Brabant genehmigt werden konnten, wenn diese kirchliche Pfründe, Stifte oder kirchliche Ämter in der Provinz besetzen wollten. 29 Die Wiener Behörden blieben hier außen vor, d. h. der höchste Rat der Niederlande – genannt auch Flandrischer Rat – und ab 1757 Niederländisches Department der Hof- und Staatskanzlei, sowie die bis 1735 existierende universalgeheime Staatssekretariat der Spanischen Provinzen. 30 B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation (Anm. 17), 495. 31 Andreas Kalipke, Verfahren, Macht, Entscheidung. Die Behandlung konfessioneller Streitigkeiten durch das Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert aus verfahrensgeschichtlicher Perspektive, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (ZHF, Beiheft 44), hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger/ André Krischer, Berlin 2010, 475 – 518, 512. Siehe auch Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27 (2000), 389 – 405; Michael Braddick, Administrative performance: The representation of political authority in Early Modern England, in: Nego-
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rende Funktion zu. Das „symbolisch-expressive Handeln“32 diente der Zentralverwaltung zur Inszenierung der „eigenen Entscheidungskompetenz“, und zur „Darstellung einer Hierarchie“33 zwischen den Verwaltungsebenen, die in der Realität nicht so pyramidal aufgebaut waren, wie es die Außendarstellung der drei Kollateralen Räte zu verstehen gab. III. Agenten als Vermittler zwischen den Bittstellern und den Amtsträgern Diese Beobachtungen lassen sich ergänzen durch die Angaben, die Griet Vermeesch in Bezug auf die Rolle von professionellen Agenten bei der Erstellung und Begleitung von Bittschriften in den Österreichischen Niederlande im 18. Jahrhundert macht34. Vermeesch zufolge beinhalten alleine die Register des Conseil des Finances für das Jahr 1739 ca. 5.000 Petitionen, wobei doppelte Benennungen vorkommen können35. Seit dem 17. Jahrhundert ernannte der Conseil Privé Hofagenten, deren Aufgabe es war, die Supplikationen zu verfassen, zu unterschreiben und bei der Administration zu vertreten. Die Anzahl dieser Agenten, die aus dem Bürgertum stammten und selten über juristische Ausbildung verfügten, betrug im 18. Jahrhundert zunächst 16 und nach 1758 zwölf Personen. Trotz wiederholter Verordnungen legten Untertanen jedoch weiterhin Supplikationen ohne die Unterschrift eines Agenten vor36. Die Agenten waren zwar gesetzlich verpflichtet, die Interessen von armen Leuten ohne Gebühr zu vertreten, doch inwieweit diese Vorschrift in der Praxis umgesetzt wurde, ist bisher nicht untersucht worden. Laut Vermeesch waren die Dienste der Agenten teuer. Für die bloße Empfehlung einer Bittschrift forderten sie bis zu fünf Gulden. Für diese Summe musste ein Maurergeselle mehr als eine Woche und ein Maurermeister vier Tage arbeiten. Dazu kamen auch noch die Kosten für das Verfassen der Supplikationen, die Begleitung des Verfahrens durch den Agenten mittels häufiger Besuche bei den Mitgliedern und Sekretariaten der Kollateralen Räte (Conseil d’État, Conseil Privé und Conseil des Finances), die Stempelsteuern und
tiating Power in Early Modern Society. Order, Hierarchy and Subordination in Britain and Ireland, hrsg. v. Michael Braddick/John Walter, Cambridge 2001, 166 – 187. 32 B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation (Anm. 17), 498, die feststellt: „Der Sinn der symbolisch-expressiven Handlung hingegen liegt schon in dem Vollzug der Handlung selbst. Symbolisch-expressives Handeln weist zeichenhaft über sich selbst hinaus und evoziert eine Vorstellung; es wird verständlich erst vor dem Hintergrund eines kollektiven Bedeutungssystems“. 33 B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation (Anm. 17), 498. 34 G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 95 – 119. 35 Das Conseil Privé alleine publizierte in der 1750er Jahren jährlich sechs- bis siebentausend Kopien von gestempeltem Papier, das u. a. für Petitionen benutzt werden konnte; G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 97. 36 G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 103.
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die Beträge, die infolge der weiteren administrativen Betreuung des Verfahrens durch den Agenten entstanden37. Wenn eine Supplikation verfasst wurde, gelangte sie mithilfe der Agenten innerhalb weniger Tage an einen der Kollateralen Räte oder den Statthalter. Damit gestaltete sich der Zugang zur Verwaltung in Brüssel besonders einfach im Vergleich zu anderen Herrschaftsgebieten38. Um Kosten und Ressourcen zu sparen, überließ es die Zentralverwaltung oft dem Agenten, die Supplikation an die lokalen Instanzen weiterzuleiten und deren Stellungnahmen einzuholen. Diese Praxis wurde erst 1785 vom Conseil Privé verboten39. Damit können die Agenten ebenfalls als Vermittler von Herrschaft aufgefasst werden: Sie funktionierten als ,räumliche Überbrücker‘ und ,kulturelle Übersetzer‘ im Kommunikationsprozess zwischen den Bittstellern und den Amtsträgern40. Die Rolle von Agenten wirft die Frage auf, inwieweit sich die Supplikationen überhaupt als Stimmen der Bittsteller lesen und verstehen lassen. Gewiss ist von verschiedenen Historikern bereits auf die besondere Sprache und die sich wiederholenden Formeln in solchen Schriften hingewiesen worden. Supplikationen können als Quellen gelesen werden, die es ermöglichen, strategisches Handeln zu erfassen, und die die Art und Weise zu spiegeln, in der die Zeitgenossen ihre Umwelt deuteten. Um die Sprache nicht überzubewerten, haben Historiker wie Simona Cerutti dafür plädiert, sie nicht losgelöst vom weiteren sozialen Kontext der Akteure zu studieren. So ließe sich zum Beispiel die stete Betonung des Arm-Seins in den Supplikationen nur verstehen, wenn dies in den sozialen Kontext des Bittstellers gesetzt werde. Hierbei handle es sich laut Cerutti um viel mehr als einen ständig wiederholten Topos und ausschließlich strategischen Begriff 41. Zu wenig wurde bisher in der Forschung systematisch analysiert, welchen Einfluss die Agenten und Verwaltungsbeamten auf die Supplikationen nahmen. Andererseits fehlen Untersuchungen über die Art und Weise, wie die Schriftform der Supplikationen und der Umgang mit ihnen sich auf die Verwaltungspraxis auswirkten42.
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G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 107, 117. G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 106. 39 G. Vermeesch, Professional Lobbying (Anm. 24), 108 – 110. 40 S. Brakensiek, Herrschaftsvermittlung (Anm. 7), 4. 41 S. Cerutti, Étrangers (Anm. 27), 207 – 214. Vgl. Laurence Fontaine, Märkte als Chance für die Armen in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59 (2011), 37 – 53, hier 37 – 38, die darauf hinweist, dass derjenige als arm galt, der nichts als seine Arbeitskraft besaß und damit stets dem Risiko ausgesetzt war, sich beim kleinsten Unfall nicht eigenständig ernähren zu können. 42 Will man das Ganze zuspitzen, dann wären weder Bittsteller noch Verwaltungsbeamte zentrale Akteure der Geschichte von Supplikationen, sondern die Bittschriften könnten, im Sinne Brunos, als Akteure oder „Aktanten“ aufgefasst werden, siehe ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hrsg. v. Andréa Bellinger/David J. Krieger, Bielefeld 2006. 38
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IV. Die Struktur und Gestaltung der Bittschriften Der Ablauf der Bescheidung von Bitten um Naturalisation in den südlichen Niederlanden stellte sich so dar, wie es das folgende Beispiel aus dem Jahr 1618 zeigt. Die Antwort des Conseil Privé wurde auf Basis der Argumentation der Bittschriften angefertigt. Dabei wurden deren Argumente nicht nur einfach wörtlich übernommen, sondern die für die Entscheidung nicht benötigten Anteile wurden direkt in der Supplikation gestrichen43. Die Verwaltung unternahm Ergänzungen direkt in die Bittschrift. Diese bestanden aus Grußformeln44 und ergänzenden Wörtern oder verbindenden Sätzen, welche die gestrichenen Passagen zusammenführten. Diese Technik stellte die Regel dar und scheint von der spanischen bis zur österreichischen Periode überdauert zu haben. Kopien der Entscheide in Reinschrift sind nur äußerst selten zu finden45. In manchen Fällen wurde nur die Kopfzeile von der Verwaltung geändert und die gesamte Supplikation als Entscheid übernommen46. Interessant ist, dass das Conseil Privé die Argumentation der Bittsteller als Referenz für die Formulierung ihrer Entscheidung verwendete, und damit eben nicht die der zentralen Behörden der jeweiligen Provinzen47, welche alle eine Stellungnahme abgaben. Diese kursorischen Befunde lassen eine systematische Analyse der Schriftpraxis dieser Quellen sehr lohnend erscheinen: Wie wirkte sich das Verfahren auf die Praktiken des Verwaltungshandelns aus? Welche Gestaltungsspielräume blieben der Verwaltung auf welcher Ebene? Welche Argumente wurden besonders häufig vom Conseil Privé übernommen und welche sich wiederholenden Formulierungsmuster etablierten sich auf Seiten der Bittsteller? Ist eine Entwicklung im Argumentations- und Schreibstil vom 1600 bis 1800 nachweisbar – und damit für den Übergang von spanischer zu österreichischer Herrschaft? Und wenn die Supplikationen derart in einem Baukastensystem aufgebaut wurden, stellt sich nicht nur die Frage nach der Rolle der Agenten und Verwaltungsbe43 AGR, T 101, Conseil Privé, période espanole, 1414, s. f., Supplikation von Guillaume de la Vigne, „gentilhomme francois“, 1618. 44 Z.B. in einer Bittschrift von Guillaume de la Vigne, dem „gentilhomme francois“, aus dem Jahr 1618, die Grußformel „Albert et Isabel etc. a tous ceux qui nos partes ces verront salut, scavoir faisons, recu avons avoir l‘humble supp[licatio]n et req[ue]te du […]“. Im oberen linken Rand des Dokuments, datiert auf dem 20. Januar 1618, befindet sich der Vermerk des Conseil Privé über den Ausgang des Verfahrens, AGR, T 101, Conseil Privé, période espanole, 1414, s. f. 45 „Lettre de naturalité“ für François Marie de Champelais, „sous-diacre de Tournay“, 17. Juni 1739. An dem Reinschrift sieht man, wie die Entscheidung wortwörtlich die nichtüberstrichenen Passagen aus dem beiliegendem Original übernimmt, AGR, T 460, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 136 A, s. f. 46 AGR, T 460, Conseil Privé, „cartons“ de la période autrichienne, 136 A, s. f. 47 Wie z. B. der „conseiller fiscal ou procureur general de Tournay“ und die „prêvot et jurés der Stadt Tournay“ für die Provinz Tournay und Tournaisis; die „conseillers fiscaux“ des Rats von Flandern für Flandern; der „Procureur général de Namur“ für die Provinz Namur.
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amten im Umgang mit diesen Schriften, sondern auch nach den Argumentationen von Supplikanten, die nicht von Agenten unterstützt wurden. Brachten diese vielleicht andere Argumente hervor? Wie wurde dann seitens der Verwaltung auf diese reagiert? Bei den Supplikationen zum Eintritt in fremde Dienste lässt sich feststellen, dass fast alle Bittsteller mit Armut oder standesgemäßem Einkommen, sowie mit Dienst für den Kaiser durch andere Familienmitglieder argumentieren. Jedoch bleibt bei beiden Arten der hier betrachteten Suppliken unklar, wie viele von Agenten formuliert wurden. Wie bereits erwähnt, stammen die hier untersuchten Supplikationen vorwiegend aus den gehobenen Schichten. Ganz anders könnte dies beispielsweise bei den Gnadengesuchen der Fall sein, die ebenfalls zu Tausenden in den Brüsseler Archiven vorhanden sind. Auch hier fand eine Zentralisierung des Genehmigungsprozesses sehr spät statt, denn erst ab 1764 wurde das Begnadigungsrecht allein vom Kaiser ausgeu¨ bt, in der Provinz Geldern sogar erst ab 177448. V. Schluss Versteht man unter Herrschaftsvermittlung die „Kommunizierung herrschaftlicher Zwecke und Mittel“49, so lässt sich ganz gewiss nicht argumentieren, dass in den Österreichischen Niederlanden keine Herrschaftsvermittlung stattgefunden habe. Das Eintrittsverbot in fremde Dienste und die damit erzwungene Dispenspflicht, sowie die Naturalisierungspflicht beim Amtseintritt in einer anderen Provinz dienten dazu, den Herrschaftsanspruch der Habsburgermonarchie in den südlichen Niederlanden zu bekräftigen. Sie beseitigten jedoch nicht die weitgehende Autonomie der Provinzen und können damit nur als ein bedingt geeignetes Instrument der Kontrolle von lokalen Verwaltungen und deren Amtsträgern betrachtet werden. Die Dispenspflicht in den Österreichischen Niederlanden kann nur als Instrument einer sehr basalen Herrschaftsvermittlung gesehen werden, da es nicht um die Herstellung
48 Zentralisierungstendenzen zeigten sich vor allem im Bezug auf das Begnadigungsrecht, das urspru¨ nglich von den Provinzialgerichten ausgeu¨ bt wurde und sukzessive zum kaiserlichen Monopol wurde. Es war das Conseil Privé in Bru¨ ssel, das zunehmend diese Fälle behandelte. Gnade konnte entweder mittels Remissionsbrief (lettre de remission) vor dem Prozessbeginn gewährt werden, oder dies geschah nach der Verurteilung durch Gnadenbrief (lettre de grâce). Der Herrscher riss hier die alleinige Zuständigkeit nach und nach an sich, so dass ab 1764 das Begnadigungsrecht allein vom Kaiser ausgeu¨ bt wurde, siehe: Marie-Sylvie Dupont-Bouchat, La révolution pénale de la fin du XVIIIème siècle et ses prolongements en Belgique au XIXème siècle, in: La Peine / Punishment, Bd. 3: Europe depuis le XVIIIe siècle / Europe since the 18th Century (Recueils de la Société Jean Bodin pour l’Histoire Comparative des Institutions, 57), Brüssel 1989, 95 – 132. Eine Ausnahme gab es zu diesem Zeitpunkt noch, denn dem Conseil von Geldern wurde erst 1774 verordnet, von Begnadigungen abzusehen: AGR, T 460 (Conseil Privé), carton 538 A, s. f., Dossier „F35015“, Auszug aus dem Protokoll des Conseil Privé, 22 Mai 1776. 49 S. Brakensiek, Herrschaftsvermittlung (Anm. 7), 7.
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von Dreieckskommunikation ging, sondern eher um die Demonstration von Herrschaft durch Verwaltungshandeln. Dennoch war es für die Zentralgewalt wichtig, allgemeine Normen zu formulieren, mittels derer regiert werden konnte – gerade weil es sich um eine „zusammengesetzte Monarchie“50 handelte, innerhalb derer die Städte und Provinzen bis ins 18. Jahrhundert den Anspruch aufrechterhielten, als Körperschaften eigenen Rechts in die Monarchie eingebunden zu sein. Das Verbot des fremden Dienstes stellte eine solche allgemeine – jedoch in der Praxis flexibel gehandhabte – Norm dar. Die Naturalisierungspraxis dagegen orientierte sich an den bereits aus der spanischen Zeit stammenden Privilegien und Rechten einzelner Provinzen und trug damit zu einer Perpetuierung und Stabilisierung der Verhältnisse zwischen Brüssel und den lokalen Behörden bei. Nur in Einzelfällen veranlassten beide Arten von Supplikationen die Brüsseler und Wiener Behörden dazu, auf der lokalen Ebene zu intervenieren und Amtsträgern zu befehlen, Bericht über ihr Vorgehen oder über die in einer bestimmten Gegend herrschenden Zustände zu leisten. Die von Stefan Brakensiek für Hessen nachgewiesene Disziplinierungsfunktion der Supplikationen, die sich nicht nur auf die fürstliche Dienerschaft, sondern gerade auch auf lokalen Amtsträger erstreckt, lässt sich folglich nicht systematisch auf die Österreichischen Niederlanden übertragen51. Damit sind wir weit entfernt von dem von Renate Blickle in Bezug auf Oberbayern für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts festgestellten Zusammenhang zwischen der Zentralisierung der Verwaltung und der mittels Supplikationen ausgeübten Verwaltungsnachfrage von Untertanen52. In den Österreichischen Niederlanden erreichte der einzelne Bittsteller mit seiner Supplikation zur Naturalisierung kaum den Fürsten oder den Statthalter unter Umgehung lokaler Instanzen. Auch wenn er seine Supplikation direkt in Brüssel einreichte, wurde diese an die Provinzbehörden geleitet, welche wiederum weitestgehend autonom über die Entscheidung verfügten. In seltensten Fällen scheint dabei die Entscheidung des Statthalters von den Empfehlungen der lokalen Behörden abgewichen zu sein. Gleichzeitig aber, und das bedarf weiterer Klärung, orientierte sich die Antwort des Brüsseler Conseil Privé vorwiegend an den Formulierungen der Bittschrift selbst. Entsprach diese Praxis womöglich dem Selbstbild und vor allem der Selbstdarstellungsabsicht des Conseil Privé, der sich nach außen als Entscheidungsinstanz darstellte, obwohl der Stellungnahme – oder, wie im Fall des Rats und der 50
J. H. Elliott, Composite Monarchies (Anm. 20). Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750 – 1830) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, 12), Göttingen 1999, 176 – 191. 52 Blickle spricht von „Einrichtung einer Regierung oder eines ständigen Ratskollegiums als Behörde [als; Anm. H.S.] eine Reaktion auf das ,Laufen gen Hof‘ der Untertanen“: Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa (HZ, Beihefte N.F., 25), hrsg. v. Peter Blickle, München 1998, 241 – 266, 263. 51
Supplikationen als Mittel zur Herrschaftsvermittlung?
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Stände von Brabant, der Entscheidung der regionalen und lokalen Behörden – entscheidendes Gewicht zukam? Dieser „performative[…] Kommunikationsakt“53 der „Darstellung der Herstellung von Entscheidungen“54 wurde durch die Schriftpraxis der Supplikationen ermöglicht. Damit stellt sich letztlich die Frage nach der primären Funktion dieser Art von Bittschriften: Dienten sie zur Herrschaftsvermittlung oder sind sie nicht im speziellen Fall der Österreichischen Niederlande eher als Mittel zur Konsolidierung von Verwaltungshierarchien und Verwaltungsverfahren zu verstehen? Dies würde aber bedeuten, dass nicht die mit dem Supplikationsverfahren verbundenen sozialen Praktiken Akzeptanz der Herrschaft55 erzeugten, sondern vielmehr die symbolischen Funktionen der Suppliken, die Demonstration von Herrschaft erlaubten.
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B. Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation (Anm. 17), 495. A. Kalipke, Verfahren, Macht, Entscheidung (Anm. 31), 475 – 518, 512. 55 Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Köln 2005, 49 – 67; ders., Akzeptanzorientierte Herrschaft – Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche (ZHF, Beiheft, 49), hrsg. v. Helmut Neuhaus, München 2009, 395 – 406. 54
Herrschaft durch Kommunikation im napoleonischen Empire. Eingabepraktiken im Großherzogtum Berg Von Bettina Severin-Barboutie, München Als Napoleon im November 1799 Erster Konsul der französischen Republik wurde, hatte sich das revolutionäre Frankreich bereits weit über seine ursprünglichen Grenzen ausgedehnt. Auf dem linken Rheinufer waren Teile des Alten Reiches der noch jungen Republik inkorporiert worden. In den Niederlanden, der Eidgenossenschaft und auf der Apenninhalbinsel bestanden Schwesterrepubliken. Nach dem Staatsstreich von 1799 setzte Napoleon die expansionistische Außenpolitik des revolutionären Frankreich fort, zunächst in seiner Funktion als Erster Konsul, später als Kaiser. In Übersee war er damit so wenig erfolgreich wie 1798 in Ägypten. Hier konnte er den kolonialen Besitz Frankreichs nicht vergrößern. Saint-Domingue, eine der wirtschaftlich ertragreichsten Zuckerkolonien Frankreichs in der Karibik, auf die der Funke der Revolution 1791 übergesprungen war, ging nach blutigen Kämpfen und hohen menschlichen Verlusten 1804 sogar verloren, nachdem ein Jahr zuvor bereits Louisiana an die Vereinigten Staaten verkauft worden war1. Wesentlich erfolgreicher verlief dagegen Napoleons Expansionspolitik auf dem europäischen Kontinent. Der in revolutionärer Zeit erreichte Einflussbereich Frankreichs wurde innerhalb weniger Jahre in einem solchen Maß ausgedehnt, dass zeitweise große Teile Europas entweder direkt von Frankreich regiert wurden oder unter dessen Hegemonie standen. Frederick Cooper schätzt, dass bis zu 40 % der Bevölkerung Europas in von Frankreich eroberten Gebieten lebten2. Das napoleonische Kaiserreich wird deshalb auch mitunter als ein Kontinentalimperium gedeutet3. Die historische Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel mit Fragen der Herrschaftsausübung im Premier Empire, wie das multiethnisch, multikonfessionell und multilingual geprägte napoleonische Kaiserreich in Frankreich bis heute genannt wird, auseinandergesetzt. Im Fokus stand dabei lange Zeit der ordnende Charakter der Herrschaft, der aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert und modernisierungstheoretisch vermessen wurde. In den folgenden Ausführungen soll 1 Dazu jüngst Thierry Lentz, Napoléon diplomate, Paris 2012, 238 – 260; ferner Frederick Cooper, Imperien der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom alten Rom und China bis heute, Frankfurt am Main 2012, 290 – 292, 299. 2 Ebd., 293. 3 Jürgen Osterhammel, Imperien, in: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, hrsg. von Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz, Göttingen 2005, 56 – 67, 57.
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dagegen gezeigt werden, dass im napoleonischen Kaiserreich Herrschaft nicht allein durch Ordnung, sondern ebenfalls durch Kommunikation erfolgte. Beispielhaft geschieht dies anhand des Großherzogtums Berg, das mir aus eigenen Forschungen am besten bekannt ist. In einem ersten Schritt werden Rahmungen und Möglichkeiten der Kommunikation im Großherzogtum Berg kursorisch beschrieben. Auf dieser Folie wird sodann ein Medium in den Blick genommen, das für die Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen im Großherzogtum Berg von zentraler Bedeutung war, für die napoleonische Zeit bislang aber nur sporadisch untersucht worden ist. Gemeint sind Eingaben an die Obrigkeit. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung liegt dabei auf den Kommunikationsprozessen, in die Eingaben eingebettet waren bzw. die von ihnen ausgelöst wurden. Das heuristische Potenzial von Bittschriften wird also keineswegs ausgeschöpft. Um die Repräsentativität der Eingabepraxis im Großherzogtum Berg beurteilen zu können, wird diese, soweit möglich, vergleichbaren Praktiken in Westphalen gegenübergestellt, die jüngst von Claudie Paye untersucht wurden4, bevor im dritten und letzten Abschnitt die im Eingabewesen des Großherzogtums erkennbaren Kommunikationszusammenhänge mit knappen Worten resümiert werden. I. Wege und Formen der Kommunikation Das Großherzogtum Berg gehörte zu jenen Staaten des napoleonischen Kaiserreichs, die von Bonaparte auf dem Boden eroberter Gebiete neu zusammengefügt und an Mitglieder aus dem Haus Bonaparte als Monarchen übertragen wurden. Berg besaß dabei drei Besonderheiten. Erstens hatte es wie das Königreich Westphalen eine Sonderfunktion im Rheinbund zu erfüllen. Es sollte Aushängeschild Frankreichs im Rheinbund sein und die deutschen Landesfürsten dazu anregen, es der französischen Herrschaft in Düsseldorf gleichzutun. Zweitens besaß Berg nur vorübergehend einen eigenen Souverän, denn im Sommer 1808 trat Napoleon selbst die Herrschaft in Düsseldorf an, zunächst als Regent und anschließend als Großherzog. Kaiser und Großherzog waren demnach die meiste Zeit ein und dieselbe Person. Drittens war die Regierung des Großherzogtums von 1806 bis 1813 gespalten. Drei Ministerien hatten ihren Sitz in der Hauptstadt Düsseldorf, das Ministerstaatssekretariat befand sich dagegen stets in Paris. Nachdem Napoleon im Sommer 1808 seinen Schwager Joachim Murat auf dem Thron abgelöst hatte, hielt sich auch der Monarch offiziell in der Hauptstadt des Empire auf. Das hatte zur Folge, dass Berg im Unterschied zu den anderen Rheinbundstaaten keinen Gesandten in der französischen Hauptstadt besaß. Stattdessen wurden seine Geschäfte direkt zwischen Düsseldorf und Paris abgewickelt und damit quasi wie innere Angelegenheiten des Kaiserreichs behandelt. 4 Claudie Paye, „Der französischen Sprache mächtig“. Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807 – 1813 (Pariser Historische Studien, 100), München 2013, 228 – 268.
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Die Kommunikation zwischen beiden Hauptstädten wurde durch den Ministerstaatssekretär in Paris sichergestellt. Er stand mit der Ministerialbürokratie in Düsseldorf in regelmäßigem Kontakt. Sämtliche Korrespondenz zwischen Paris und Düsseldorf erfolgte ebenfalls über ihn. Zu seinem Portefeuille gehörte ferner, das Wissen des Kaisers über die Verhältnisse im Großherzogtum regelmäßig zu aktualisieren. Dadurch kontrollierte und steuerte er nicht nur den Informationsfluss zwischen Großherzogtum und Kaiser, sondern fungierte gewissermaßen auch als Vorgesetzter der Düsseldorfer Ressortleiter5. Wie die Kommunikation zwischen Düsseldorf und Paris war auch die Kommunikation im Großherzogtum stark formalisiert. Das galt für die Binnenkommunikation in der Verwaltung ebenso wie für die Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen. Gerade an der formalisierten Kommunikation mit den Untertanen hatte der französische Monarch dabei hohes Interesse, ja, bei der Herrschaftsausübung war er bis zu einem gewissen Grad sogar unmittelbar darauf angewiesen. Erstens war es notwendig, die Untertanen über politische Entscheidungen auf dem Laufenden zu halten und zu disziplinieren, egal ob es sich um Gesetzesänderungen, Truppenaushebungen oder Steuereinziehungen handelte. Zweitens bot die Bevölkerung Zugang zu partikularem Wissen, das anderweitig nicht unbedingt zugänglich war, für die französische Herrschaft aber eine wichtige Ressource darstellte und zudem Informationen aus anderen Kommunikationskanälen entweder ergänzte oder verifizierbar machte6. Drittens erfüllte die Kommunikation mit den Untertanen eine Ventilfunktion, indem sie diesen Gelegenheit bot, ihren Anliegen und Interessen anders Gehör zu verschaffen als durch Widerstand oder Gewalt7. Viertens schließlich hatte die Kommunikation herrschaftslegitimierende und damit zugleich herrschaftsstabilisierende Funktion. Denn indem die Untertanen auf formalisierten Wegen mit der Herrschaft kommunizierten, erkannten sie diese und die von ihr bereitgestellten Artikulationswege implizit letztlich an8. Formalisierte Kommunikation mit den Untertanen verlief in fest abgesteckten Bahnen. Die Kommunikation von oben nach unten erfolgte schriftlich über Zeitun-
5
Dazu ausführlich Bettina Severin-Barboutie, Französische Herrschaftspolitik und Modernisierung. Verwaltungs- und Verfassungsreformen im Großherzogtum Berg (Pariser Historische Studien, 85), München 2008, 111 – 123 (URL: http://www.perspectivia.net/content/ publikationen/phs/severin-barboutie_herrschaftspolitik). 6 Dies., Staatswissen im Wandel. Neue Perspektiven auf die Reformen im Großherzogtum Berg, discussions 7 (2012), Absätze 28 – 34, URL: http://www.perspectivia.net/content/publika tionen/discussions/7 – 2012/severin-barboutie_staatswissen . 7 Klaus Tenfelde/Helmuth Trischler (Hrsg.), Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergarbeitern, München 1986, 14; Leex Heerma van Voss, Introduction, in: Petitions in Social History (international review of social history, supplement 9), hrsg. von ders., Cambridge 2001, 1 – 10, 4. 8 Andreas Würgler, Kontinuität und Diskontinuität zwischen Ancien Régime und Helvetischer Republik am Beispiel der Bittschriften, in: Umbruch und Beständigkeit. Kontinuitäten in der Helvetischen Revolution von 1798, hrsg. von Daniel Schläppi, Basel 2009, 49 – 64, 51.
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gen, Intelligenzblätter und vergleichbare andere Medien9. Wichtige Nachrichten wurden parallel dazu mündlich durch kommunale Amtsleiter und über die Kanzel transportiert. Dies war insofern von Bedeutung, als ein Großteil der Bevölkerung nicht lesekundig war. Lokalverwaltung und Kirche übernahmen daher eine wichtige Scharnierfunktion in der Vermittlung von Herrschaft. Die Untertanen wiederum hatten drei Möglichkeiten, mit der Herrschaft in Kontakt zu treten. Seit der Reform der Verwaltung im Oktober 1807 bzw. im Dezember 1808 konnten sie ein Amt in einem der beratenden Verwaltungsräte bekleiden und in diesem Rahmen zumindest mittelbar mit der Obrigkeit kommunizieren. Die Mitgliedschaft in den Ratskollegien war allerdings von vornherein nur einer kleinen Schicht der Bevölkerung vorbehalten. Demgegenüber stand es allen Untertanen unabhängig von Geschlecht, Alter, Konfession, Beruf und sozialem Stand frei, der Herrschaft auf dem Eingabeweg oder im Rahmen einer Deputation Wünsche oder Bitten zu kommunizieren. Das 1812 eingerichtete Kollegium war gesetzlich sogar dazu verpflichtet, dem Kaiser regelmäßig „seine Bemerkungen und Wünsche durch eine Deputation von fünf Mitgliedern vorzutragen“10. Für keine der beiden Artikulationsformen gab es Druck- oder weiterführende Rechtsmittel. Ob sie zum Erfolg führten, hing somit weitgehend von den Oberbehörden und in letzter Instanz vom Landesherrn selbst ab11. Gesuche unterlagen zusätzlich strengen bürokratischen Regeln. Sie mussten auf Stempelpapier verfasst werden, an die unterste Ebene der Verwaltung gerichtet und von dort an die höheren Behörden weitergeleitet werden. Nur Beschwerden, die sich gegen die höheren Verwaltungsorgane richteten, durften direkt an die Oberbehörden gesandt werden. Mit der untersten Verwaltungsebene waren zunächst die hergebrachten Gemeinden, später die neu eingerichteten Munizipalitäten gemeint. Von dort sollten die Bittschriften über die Unterpräfekten und Präfekten an die Minister gelangen. Das Eingabewesen war also aufs Engste an die dreigliedrige, zentralistisch organisierte Verwaltungsordnung Frankreichs gekoppelt, ja, Gesuche an die Herrschaft sollten über die und im Rahmen der Verwaltung abgewickelt werden. Ordnung und Kommunikation waren also an dieser Stelle miteinander verschränkt12. Abgesehen davon hatten Untertanen die Möglichkeit, bei Anlässen, die von der Regierung geschaffen wurden, mit der Herrschaft persönlich und unmittelbar in Kontakt zu treten. Gelegenheit zur Kommunikation konnten offiziell inszenierte Feiern wie das Napoleon-Fest13, aber auch die turnusmäßig stattfindenden Visitationen der Präfekten in ihren Verwaltungsbezirken bieten, die der Gesetzgeber zwar nicht vor9
Zum Beispiel durch die Großherzoglich-Bergischen Wöchentlichen Nachrichten, Düsseldorf 1806 – 1813. 10 Gesetz-Bulletin des Großherzogthums Berg, 2. Abtheilung, Düsseldorf 1810 – 1813, Nr. 36. 11 B. Severin-Barboutie (Anm. 5), 278, 286. 12 Ebd., 215. 13 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 9689.
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geschrieben, die aber der Düsseldorfer Innenminister Graf Johann Franz Josef von Nesselrode-Reichenstein in Analogie zum französischen Modell Ende September 1809 angeordnet hatte, um mit Hilfe von Staatsdienern und Untertanen standardisiertes Wissen über die einzelnen Departements, in die das Großherzogtum seit 1809 gegliedert war, zu generieren14. Im ersten Fall handelte es sich vor allem um symbolische und mündliche Kommunikation; im zweiten Fall waren symbolische, mündliche und schriftliche Kommunikation miteinander verquickt. Denn nach Abschluss der Reise mussten die Präfekten die im Gespräch mit den Administrierten ihres Verwaltungsbezirks zusammengetragenen Informationen und eingereichten Gesuche anhand vorgegebener Denkkategorien in Form eines Berichtes schriftlich zusammenfassen und an den Innenminister weiterleiten. Die Staatsspitze beließ es im Übrigen nicht bei der formalisierten Kommunikation mit den Untertanen, sondern beschritt parallel dazu informelle Wege der Kommunikation mit diesen. Wiederholt entsandte die Pariser Regierung beispielsweise französische Spione an den Niederrhein, um an kommunikativen Knotenpunkten wie Wirtshäusern und Poststationen Zugang zu halböffentlicher, privater oder geheimer, in jedem Fall aber multipolarer bzw. deregulierter Kommunikation zwischen Untertanen zu erhalten15 und auf diese Weise Aufschluss über die Gesinnung der Bevölkerung und Anzeichen von Opposition zu gewinnen, also unerwünschte Haltungen und Handlungen aufzuspüren. Daher durchstreiften Spione besonders dann das Großherzogtum, wenn die napoleonische Herrschaft in Europa für „negative Schlagzeilen“ in der Bevölkerung des Großherzogtums sorgte oder sich offener Widerstand manifestierte. In Berg selbst war man sich der Präsenz solcher Kundschafter aus Frankreich bewusst. Noch wenige Monate, bevor die napoleonische Herrschaft zusammenbrach, warnte der Düsseldorfer Innenminister den Präfekten des Ruhrdepartements, sie seien alle, auch der französische Finanzminister Beugnot, „mit französischen Policey Spionen umgeben“16. Die Düsseldorfer Regierungsbeamten förderten dagegen informelle Kommunikation zwischen der regionalen Staatsbürokratie und lokalen Honoratioren. Innenminister Nesselrode hielt die Leiter der Regionalverwaltungen dazu an, bei der Suche nach Kandidaten für Kommunalämter mit den lokalen Eliten zu kooperieren, um den Vorsprung an Wissen und Kontakten, den diese durch ihre Ortsansässigkeit und soziale Einbindung gegenüber der höheren Verwaltung besaßen, für das schwierige Rekrutierungsgeschäft und damit letztlich für die Konsolidierung der französischen Herrschaft auf kommunaler Ebene zu nutzen. Das gab einem Teil der Einwohner Gelegenheit, ihre Ortskunde zumindest mittelbar einzubringen. Es entstanden 14
B. Severin-Barboutie, Staatswissen (Anm. 6), 30. Es wäre interessant, hierüber mehr zu erfahren, zumal mit der Untersuchung von Claudie Paye, Gerüchte im Fokus der Polizeibeamten und als Quelle der Information für die Westphalen (1807 – 1813), URL: http://halshs.archives-ouvertes.fr/docs/00/79/53/33/PDF/Paye_Ge ruechte.pdf , ein Vergleich mit dem Königreich Westphalen möglich wäre. 16 Landesarchiv NRW, Abt.Westfalen, Nachlass Giesbert von Romberg A, Nr. 8, Schreiben vom 3. September 1813. 15
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Nischen der inoffiziellen Partizipation, wobei zu untersuchen bleibt, inwiefern diese informelle Einbindung tatsächlich stabilisierende Wirkung für die französische Herrschaft hatte. Zu den Personen, die auf diese Weise an Entscheidungsprozessen teilnahmen, zählten neben ehemaligen Gemeindedienern vor allem Geistliche, Grundbesitzer und Kaufleute17. II. Eingaben als Kommunikationsmedien zwischen Herrschaft und Untertanen Für die Bevölkerung des Großherzogtums Berg waren Eingaben ein wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Medium, um mit der Obrigkeit in Kontakt zu treten. Die Fülle an Eingaben, die in den Aktenbeständen des Großherzogtums überliefert sind, lässt daran keinen Zweifel18. Dass Untertanen von der Möglichkeit, eine Bitte einzureichen, in hohem Maße Gebrauch machten, hatte sicherlich viel damit zu tun, dass diese Artikulationsform in vorfranzösischer Zeit fest zu den Handlungsmustern der Untertanen gehört hatte, so dass bei der Abfassung und Weiterleitung von Gesuchen Erfahrungen und lokale Ressourcen mobilisiert werden konnten. Es ist aber wohl auch damit zu erklären, dass die Bittschrift für die meisten Untertanen das einzige legitime Mittel war, mit der Obrigkeit in einen Dialog zu treten. Zwar gab es, wie gesagt, noch die Möglichkeit, Deputierte zu entsenden, und sowohl die in den Verwaltungsbehörden arbeitenden als auch die institutionell nicht vertretenen Bevölkerungskreise nahmen diese Form der Kommunikation für sich in Anspruch; mitunter kombinierten sie sogar beides. Im Gegensatz zur schriftlichen Eingabe benutzten die Untertanen die Entsendung von Abordnungen jedoch nur als Ultima ratio. Abgeordnete verschickten sie erst, nachdem sie auf dem Eingabeweg nichts erreicht hatten. Deputationen kamen in französischer Zeit deshalb auch weitaus seltener vor als Gesuche. Der Grund für den unterschiedlich häufigen Gebrauch von Eingaben und Delegationen ist im besonderen Charakter der Deputation zu suchen. Anders als die Eingabe stellte die Abordnung schon per definitionem eine kollektive Angelegenheit dar. Ihre Mitglieder agierten im Auftrag einer Gruppe, deren Angehörige ihre Einzelwünsche zu einem gemeinsamen Willen zusammenfassen mussten. Deputationen verlangten von den Beteiligten deshalb ein hohes Maß an Zusammenhalt und Konsensbereitschaft. Hinzu kam, dass sich Abordnungen in der Regel immer noch direkt und ausschließlich an die Regierung wandten, während schriftliche Eingaben an die unteren Verwaltungsbehörden zu adressieren waren. Abordnungen erforderten somit wesentlich mehr Aufwand als Gesuche: Reise und Aufenthalt der Deputierten in Düsseldorf oder Paris mussten organisatorisch vorbereitet, vor allem aber finanziert werden19.
17
Vgl. B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 151 – 159. Ebd., 278. 19 Ebd., 278 f. 18
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Während Eingaben kontinuierlich und in hoher Zahl den Behörden entweder ohne konkreten Anlass oder bei einer Rundreise übergeben wurden, fällt es schwer, ihren Umfang zu quantifizieren, denn Gesuche wurden im Großherzogtum Berg weder zentral registriert noch an einem Ort gesammelt, sondern dort archiviert, wo man sie prüfte oder bearbeitete. Aktenbestände, in denen die Eingaben des Großherzogtums Berg gesammelt zugänglich wären, existieren deshalb nicht. Gesuche sind vielmehr im Archivgut weit verstreut. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass nicht alle Eingaben überliefert wurden, ohne dass die Verluste beziffert werden könnten. Um zumindest annähernd gesicherte Aussagen über die Anzahl der tradierten Eingaben machen zu können, müssten sämtliche Aktenbestände systematisch durchgesehen und eine serielle Auswertung der darin aufgespürten Funde vorgenommen werden, wobei das Problem möglicher Verluste dadurch keineswegs behoben wäre. Eingaben waren nicht nur eine viel genutzte Artikulationsform; sie gingen aus allen Schichten der Bevölkerung hervor. Oft waren es Einzelpersonen, die sich mit persönlichen Bitten an die Obrigkeit wandten. Mitunter setzten sich aber auch mehrere Personen bei der Regierung gemeinschaftlich für eine Sache ein. Dabei handelte es sich in der Regel um Mitglieder der neuen Verwaltungsräte, tradierte Verbände oder um Bündnisse, die aus einem gemeinsamen Interesse heraus kurzfristig geschlossen wurden20. Nach der Reformierung des Düsseldorfer Magistrats im Herbst 1806 etwa solidarisierten sich die Schöffen der Hauptstadt und richteten eine gemeinsame Eingabe an Innenminister Nesselrode, um für den Verlust ihrer Magistratsstellen entschädigt zu werden21. Im Dezember 1810 baten 468 Weber des Siegdepartements den Innenminister in einem kollektiven Gesuch um wirtschaftliche Erleichterungen22. Bei vielen Bitten handelte es sich um Einzelanliegen mit dem Wunsch nach Ausnahmeregelungen. Gesuche mit einer auf das gesamte Großherzogtum gerichteten Zielsetzung, waren eher selten. Hierin bestand ein wesentlicher Unterschied zu den in französischer Zeit organisierten Deputationen. Deren Mitglieder verstanden sich als Repräsentanten bzw. Sachwalter der gesamten Bevölkerung. In dieser Funktion brachten sie ihre Unzufriedenheit mit bestehenden Gesetzen zum Ausdruck und klagten neues Recht ein oder stellten eminent politische Forderungen. Ansprüche auf die rechtliche Verankerung von Partizipationsrechten erhoben sie allerdings ebenso wenig wie Bittsteller23. Inhaltlich war das Spektrum der Eingaben breit gefächert. Es reichte von der Bitte um Einstellung bis zur Verwaltungsbeschwerde. Bisweilen gingen Gesuche mit ge20
Ebd., 276. Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4427, Vorstellung der Schöffen des Düsseldorfer Haupt- und Kriminalgerichts über den Verlust ihrer Nebenstellung und Erweiterung ihres Geschäftskreises vom 29. Dezember 1806. 22 Archives nationales, 29 AP 54, undatierte Eingabe der Weber der Siegener und Netphener Kantone an den Innenminister (Dezember 1810). 23 B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 279. 21
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gensätzlichen Forderungen ein. Gutes Beispiel dafür sind die Eingaben, die Bauern und Grundherren in Reaktion auf die Agrarreformen an die Regierung richteten24. Obwohl sich die eingereichten Gesuche inhaltlich kaum auf einen Nenner bringen lassen, besaßen sie zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: Einerseits waren sie wie in vorfranzösischer Zeit stets in Bitten gekleidet, egal, worum es im Einzelnen ging. Damit enthielten alle einen Erwartungshorizont und vergegenwärtigten Zukunft, wie es Reinhart Koselleck formulierte25. Andererseits entsprangen ihre Inhalte und Ziele meist der historischen Gegenwart, sei es im Rahmen von Ämterbesetzungen, bei normativen Konflikten oder in wirtschaftlichen Notlagen. Eingaben spiegelten deshalb immer auch den Herrschaftskontext – in Berg selbst, aber ebenso im napoleonischen Empire insgesamt. Insofern bieten Eingaben Möglichkeiten, Vorgänge auf der Makro- und Mesoebene mikrohistorisch rückzukoppeln. Eingaben waren in der Regel nicht zweisprachig, sondern wurden meist entweder auf Deutsch oder auf Französisch verfasst und verwaltungsintern notfalls in die eine oder andere Sprache übersetzt. Nicht zu übersehen ist aber, dass man sich an die unteren Behörden häufig in deutscher Sprache wandte, während Gesuche an die Regierung meist auf Französisch formuliert wurden, das im Großherzogtum Berg zwar nicht Verkehrssprache, wohl aber die Sprache von Landesherrschaft und Regierungsbehörden war. Eine feste Regel lässt sich aus dieser Beobachtung jedoch nicht ableiten. Eine wachsende Neigung zum Französischen, wie es sie offenbar in Westphalen gab, ist auch nicht feststellbar26. Anders als offiziell vorgesehen, wurden Eingaben häufig nicht auf der untersten Ebene der Verwaltung eingereicht, sondern direkt bei den Oberbehörden, entweder bei der zuständigen Präfektur oder in einem der Düsseldorfer Ministerien. Dies galt sowohl für Gesuche von Untertanen als auch für solche von öffentlichen Amtsträgern. Nur wenige Untertanen wählten den Immediatweg zum Landesherrn27. Das hatte zur Folge, dass die Eingabepraxis in französischer Zeit weitgehend von der Person des Monarchen gelöst war. Die Umgehung des regulären Geschäftsganges war keineswegs ein Zufall. Hinter diesem Vorgehen verbarg sich vielmehr zielorientiertes Handeln. Tatsächlich sollte die unmittelbare Hinwendung zur Regierung die Gewährung der Bitte herbeiführen. Der devote Duktus vieler Gesuche konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Insofern 24
Vgl. u. a. folgende Eingaben: Archives nationales, 29 AP 53, Petition der Münsteraner Grundbesitzer an den Ministerstaatssekretär vom Mai 1809 (mit einem Memoire über die Natur der Leibeigenschaft in ihrer Gegend); Eingabe der ehemaligen Leibeigenen der vormaligen Grafschaft Tecklenburg an Finanzminister Beugnot vom 23. November 1810; undatierte Eingabe des Bauern Crane aus der Munizipalität Lütgendortmund (November 1810); siehe ferner Archives nationales, AF IV 1837, Protokoll der Staatsratssitzung vom 3. Februar 1812. 25 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, 349 – 359. 26 C. Paye, Kommunikation (Anm. 4), 228, 267 f. 27 B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 216, 286.
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korrelierte diese Praxis auch mit anderen Strategien der Interessendurchsetzung, etwa mit der Strategie einiger Bittsteller, ihre Anliegen durch Fürsprecher mit sozialem Nimbus legitimieren zu lassen oder Synergieeffekte durch den parallelen Einsatz von Deputationen und Gesuchen zu erzielen. Die Verletzung des Instanzenzuges bei der Einreichung von Gesuchen war im Übrigen kein Spezifikum des Großherzogtums Berg, wohl aber die Entkoppelung der Kommunikation vom Monarchen. Im Königreich Westphalen beispielsweise, das zeit seines Bestehens ein und denselben Monarchen besaß, der zudem in der Landeshauptstadt residierte, fuhren Bittsteller damit fort, Gesuche an den Landesherrn zu richten oder in Kassel sogar persönlich vorstellig zu werden28. Die Entpersonalisierung der Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen im Großherzogtum Berg war deshalb vermutlich nicht das Ergebnis geglückter Kommunikation der Herrschaft mit ihren Untertanen, sondern Lernprozessen und Anpassungsleistungen der bergischen Bevölkerung an die spezifischen Herrschaftsverhältnisse des Großherzogtums geschuldet. Es ist anzunehmen, dass viele Bittsteller weder des Schreibens noch der französischen Sprache mächtig waren und deshalb bei der Verschriftlichung ihres Anliegens, wie in anderen Territorien29, fremde Hilfe in Anspruch nehmen mussten. Zwar verfassten vermutlich einzelne Bittsteller ihre Gesuche selbst. Jedenfalls bemängelten Verwaltungsdiener wiederholt Schrift und Stil von Eingaben30. Doch ist davon auszugehen, dass es in den Kommunen Anlaufstellen bzw. Personen gab, die den Untertanen schreibend und beratend zur Seite standen, dass also Eingaben in einem größeren kommunikativen Zusammenhang entstanden. Nicht immer ging die Unterstützung Dritter dabei so weit wie im Falle des Präfekturrats, Advokaten und Zeitungsherausgebers Arnold Mallinckrodt, der den Bauern des Emsund Ruhrdepartements im Konflikt mit ihren Grundherren über die Ablösung von Diensten und Abgaben umfangreiche und vielfältige Schützenhilfe leistete31. Gleichwohl gab es aller Wahrscheinlichkeit nach fachmännische Hilfe, auf welche die Untertanen bei Bedarf, möglicherweise auch gegen Bezahlung rekurrierten. Gesuche waren demnach stets Ergebnisse von Aushandlungen, Vereinbarungen und Hilfeoder Geldleistungen, mit anderen Worten: eines informellen Kommunikationsprozesses, der durch unterschiedliche Akteure, Konstellationen, Medien und Kanäle ge-
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C. Paye, Kommunikation (Anm. 4), 244, 248 f. Ebd.; A. Würgler (Anm. 8), 53. 30 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 339, Schreiben des Präfekten Schmitz vom 6. Dezember 1809. 31 Als Staatsdiener bot er ihnen politisches Know-how, als Advokat stellte er ihnen ein Beratungsbüro zur Verfügung, als Journalist verfasste er die Schrift „Die Belehrung des Bauernstandes“ und als Zeitungsherausgeber sorgte er dafür, dass das bäuerliche Anliegen in Berg an die Öffentlichkeit gelangte. Am 30. Dezember 1810 ließ er die von ihm verfasste Schrift im Westfälischen Anzeiger abdrucken. Vgl. B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 280 f. 29
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prägt war. Dadurch waren Eingaben auch keineswegs spontan vorgebrachte Anliegen, sondern sorgfältig vorbereitete Projekte32. Mit der offiziellen Übergabe der Gesuche an die Obrigkeit begann aus kommunikationshistorischer Sicht etwas Neues. Während die Gesuche in der Entstehungsphase aus Kommunikationsprozessen hervorgegangen waren, setzten sie nun ihrerseits Kommunikation in Gang. Sie waren also nicht mehr das Produkt von Kommunikation, sondern deren Auslöser. Mindestens drei unterschiedliche Kommunikationsstränge lassen sich dabei unterscheiden. Erstens initiierten Gesuche ein behördeninternes Begutachtungs-, Prüfungs- und Entscheidungsverfahren, das mit intensiver Binnenkommunikation in horizontaler und vertikaler Richtung einherging. Denn Regierung und Verwaltung nahmen die Eingaben der Untertanen durchaus ernst und investierten viel Zeit und Aufwand, um über die Bitten zu entscheiden33. Dabei wurde genauestens darauf geachtet, ob die Gesuche an der richtigen Stelle eingereicht worden waren. Eingaben, die trotz wiederholter Drohungen an den unteren Instanzen vorbeigeführt worden waren, gingen in der Regel zunächst zur Begutachtung an diejenigen Unterbehörden zurück, an die sie vorschriftsmäßig hätten gerichtet werden müssen, ehe darüber eine definitive Entscheidung gefällt wurde. Das hatte zur Folge, dass ihre Bearbeitung wesentlich mehr Zeit in Anspruch nahm, als es der Fall gewesen wäre, wenn sich die Verwalteten direkt an die zuständigen Unterbehörden gewandt hätten. Nur in wenigen Fällen wurden die Eingaben direkt im Ministerium begutachtet34. Ein Blick auf die Entscheidungspraxis zeigt, dass sich für die Untertanen daraus kein verlässliches Erfolgskonzept ableiten ließ. Beispielsweise konnte sich die Missachtung des Instanzenzugs nachträglich als richtig oder als falsch erwiesen. Auch die Kombination von Eingaben und Deputation führte nicht zwangsläufig zum Ziel. Gewiss war allein, dass Bittsteller grundsätzlich vom Entgegenkommen der Regierung und deren Handlungsprämissen abhängig waren. Herrschaft wurde also nicht zur Verhandlungssache35. Nichtsdestotrotz machten Untertanen die Erfahrung, dass es grundsätzlich möglich, war, auf dem Eingabeweg zu reüssieren. Fälle, in denen die Regierung Wünsche von Petenten erfüllte oder zumindest Kompromissbereitschaft zeigte, sind jedenfalls nicht selten. Das wohl spektakulärste Beispiel für eine gelungene Kommunikation waren die Bemühungen der Bauern des Ruhrund Emsdepartements, die Leibeigenschaftsfrage zu ihren Gunsten regeln zu lassen. Giesbert Alef, ein aus den Reihen der Bauern gewählter Vertreter, schmuggelte sich im Frühjahr 1811 als Reitbursche nach Paris und reichte dort mehrere Bittschriften in der Sache ein. Alefs Vorstellung veranlasste Napoleon dazu, zwei Mitglieder der Pa-
32 Spontaner Natur waren dagegen die 1813 anonym verfassten, nicht an die Obrigkeit, sondern an ehemalige Arbeitgeber gerichteten, sehr fehlerhaften Brandbriefe. Ebd., 354. 33 Ebd., 280. 34 Ebd., 217 f., 280. 35 Ebd., 286 f.
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riser Regierung damit zu beauftragen, die Bitte der Bauern zu prüfen36. Ergebnis dessen war eine Kompromisslösung, die einen Ausgleich zwischen grundherrlichen und bäuerlichen Interessen schaffen sollte und den kommunikativen Prozess des Bittens nachträglich zu einer „politischen Handlung[…]“ machte, um eine Formulierung von Andreas Würgler aufzugreifen37. Für Alef persönlich hatte das Unternehmen indes ein Nachspiel. Da die Unterbehörden in ihm sowohl den Spiritus rector der Angelegenheit als auch einen potentiellen Aufrührer sahen, stellten sie ihn unter Überwachung und untersagten ihm, seinen Wohnort ohne die Aufsicht des Maires zu verlassen38. Wenn in Eingaben Bitten formuliert wurden, welche die Ausübung der französischen Herrschaft in Gefahr zu bringen drohten, konnten diese, zweitens, Verhandlungen zwischen Regierung und Untertanen auslösen. Ganz besonders galt dies bei Entlassungsgesuchen lokaler Amtsträger. So wies der Düsseldorfer Innenminister den Elberfelder Provinzialrat beispielsweise an, die Entlassungsgründe des Barmer Direktors Karl Bredt, die er für unwichtig hielt, nicht anzuerkennen und Bredt mit allem Nachdruck von der Annahme des Amts zu überzeugen. Falls Bredt weiterhin die Übernahme des Direktorenamts verweigerte, sollte der Provinzialrat die Angelegenheit in einem persönlichen Gespräch mit Bredt zu regeln versuchen39. Es sei zwar nach wie vor nicht die Absicht der Regierung, teilte der Innenminister dem Leiter des Duisburger Bezirks im Frühjahr 1808 mit, „jemanden zur Annahme dergleichen Municipal-Stellen mit Zwangsmitteln anzuhalten“, doch sollten die Bezirksleiter alles tun, um die Personen zum Bleiben zu bewegen40. Noch deutlicher wurde Nesselrode gegenüber zwei Kollegen des Duisburger Bezirksleiters. Diese sollten „nur da wo dringende Gründe vorhanden sind, dergleichen Gesuche unterstützen, damit nicht durch das Beyspiel auch die anderen veranlaßt werden, sich der öffentlichen Aemter zu entziehen“41. Drittens schließlich initiierten jene Gesuche, bei denen der Instanzenzug verletzt worden war, den Erlass von Verwaltungsinstruktionen und -verfügungen, die das Einreichen von Gesuchen in die Bahnen des dreigliedrigen Verwaltungszugs lenken 36
Alef. 37
Archives nationales 29 AP 53, Randnotiz vom 9. Juli 1811 auf der Bittschrift des Bauern
A. Würgler (Anm. 8), 51. B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 285, 287 f. 39 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4449, Schreiben des Innenministers an den Bezirksleiter vom 24. Januar 1808, HStAD, GB, Nr. 4449. Ähnlich rigoros ging die Regierung auch in Elberfeld, Lennep, Borbeck und Altenessen vor. Vgl. Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4454, 4460, 4470, 4471. 40 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4476, Schreiben des Innenministers an Bezirksleiter Kanitz vom April 1808. 41 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4472, Schreiben des Innenministers an Julius Heinrich von Buggenhagen vom 22. Oktober 1808; Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 4479, Schreiben des Innenministers an den Baron von Sonsfeld vom 28. Oktober 1808. 38
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sollte. Über die gedruckten Präfekturblätter der Departements wurden diese den Kommunalleitern mitgeteilt und von dort in den Gemeinden bekanntgemacht. Ende 1809 bzw. Anfang 1810 erinnerten die Präfekten des Rhein- und des Siegdepartements die Bewohner ihrer Departements daran, dass diese nur bei einer Beschwerde gegen die Verwaltung dazu berechtigt seien, sich direkt an die Oberbehörde zu wenden. Ansonsten müssten sie ihre Gesuche den Intermediärbehörden zusenden42. Es sei eine feststehende und allgemein gültige Verfahrensregel, mahnte der Präfekt des Rheindepartements die Maires seines Bezirks an anderer Stelle, „daß keine Stufe der administrativen Hierarchie überschritten werden“ dürfe43. Die Verfügungen zeigten allerdings keineswegs die gewünschte disziplinierende Wirkung. Trotz wiederholter Mahnungen fuhren die Einwohner damit fort, ihre Eingaben an den unteren Instanzen vorbeizuführen. Die Regierung verschärfte daraufhin ihren Ton gegenüber den Administrierten und drohte damit, Gesuche nicht mehr zu berücksichtigen, falls diese nicht in der vorgeschriebenen Weise eingereicht wurden. Gleichwohl war sie sich darüber im Klaren, dass die Missachtung des Instanzenzuges nicht mit Unkenntnis zusammenhing, sondern darauf zurückzuführen war, dass sich Bittsteller dadurch bessere Erfolgsaussichten erhofften. Deshalb ließ sie die Bevölkerung zugleich über Aufgaben und Machtfülle der Präfekten unterrichten. Es sei angebracht, erklärte Finanzminister Jean-Claude Beugnot gegenüber dem Präfekten des Rheindepartements im September 1810, die Einwohner darüber aufzuklären, „que la magistrature dont vous êtes investi embrasse toutes les branches de l’autorité publique, et que parmi les affaires qui sont du ressort de l’administration il n’en est point sur les quelles vous ne puissiez prononcer“44. Selbst in den Fällen, die außerhalb der Macht der Präfekten stünden, müssten die Gesuche von den Präfekten untersucht und, mit Bemerkungen versehen, an die Oberbehörden geschickt werden45. Die Androhung von Sanktionen führte allerdings ebenso wenig zum gewünschten Erfolg. Die Untertanen ließen sich nicht von der Überzeugung abbringen, dass der direkte Weg nach Düsseldorf erfolgversprechender sei als der vorgeschriebene Gang über die unterste Verwaltungsbehörde. Die Kommunikation über Gesuche blieb daher ungeordnet. Noch im Jahre 1812 beklagte der Präfekt des Rheindepartements, die Einwohner seines Verwaltungsbezirks würden die Intermediärbehörden missachten und
42 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 339, Verfügung des Präfekten des Siegdepartements vom 6. Dezember 1809; Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 9881, Schreiben des Präfekten des Rheindepartements an die Unterpräfekten vom 31. Januar 1810. 43 Präfektur-Akten des Rheindepartements, 1810, 29 f, Zitat 30, Circular-Schreiben des Präfekten des Rheindepartements an die Herrn Mairen wegen Erstattung der Berichte vom 16. Januar 1810. 44 Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, GB, Nr. 9881, Schreiben des Finanzministers an den Präfekten des Rheindepartements vom 19. September 1810. Der Mittelbeamte war hingegen der Ansicht, die Präfekten besäßen keineswegs die Gewalt über die gesamte Verwaltung, denn im Großherzogtum bestünden Zentralbehörden, die ihre eigenen Beamten hätten. Ibid., Schreiben des Präfekten an den Innenminister vom September 1810. 45 Ebd.
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sich mit ihren Anliegen direkt an die Ministerien wenden46. Dass diese noch aus vorfranzösischer Zeit eingeübte Praxis den devoten Charakter der Gesuche in gewisser Weise konterkarierte, war dabei ein Nebeneffekt, den die Staatsbürokratie entweder übersah oder geflissentlich ignorierte. III. Schlussbetrachtungen Im Großherzogtum Berg waren Gesuche, das haben die Ausführungen gezeigt, ein wichtiges Medium für die Untertanen, der Herrschaft Bitten und Wünsche zu kommunizieren. Dabei handelte es sich keineswegs um ein Spezifikum des bergischen Modellstaates. Die von Claudie Paye vorgelegte Studie über das Königreich Westphalen macht vielmehr deutlich47, dass Gesuche auch an anderen Orten des Premier Empire weit verbreitet waren. Ebenso wenig war das hohe Aufkommen von Gesuchen ein Kennzeichen der napoleonischen Zeit. Historische Studien über die Bedeutung von Bittschriften in anderen Räumen und Zeiten dokumentieren vielmehr, dass diese als ein transkulturelles und transepochales Kommunikationsmedium gleichermaßen begriffen werden müssen48. Wiewohl es sich um ein weit verbreitetes, in der Petition bis heute nachwirkendes Medium handelt, waren Bittschriften an die französische Herrschaft in Berg und an das imperiale Gefüge in Europa zugleich geknüpft. Das galt zumal für ihre Adressaten, Inhalte und Ziele, aber auch, wenngleich mit gewissen Einschränkungen, für ihre Form und Sprache. Eingaben waren demnach Medien, in denen lokale Erfahrungen und Ressourcen, staatliche und imperiale Rahmungen und damit verbundene individuelle oder kollektive Bedürfnisse eine Symbiose eingingen. In den Eingaben des Großherzogtums läuft deshalb nicht allein die Geschichte von Lokalität, Staat und Imperium zusammen. In ihnen spiegeln sich ebenfalls die Bereitschaft und Fähigkeit zur Anpassung an politischen Wandel.
46 Präfektur-Akten des Rheindepartements, 1812, 214 f, Schreiben des Präfekten an die Unterpräfekten und Maires des Rheindepartements vom 6. Juni 1812. Siehe ferner B. SeverinBarboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 217 – 219. 47 C. Paye, Kommunikationsgeschichte (Anm. 4), passim. 48 Aus der Forschungsliteratur siehe für die Frühe Neuzeit: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 19), Berlin 2001; Renate Blickle, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft, hrsg. von Werner Rösener, Göttingen 2000, 263 – 317. Zum 19. und 20. Jahrhundert: K. Tenfelde/H. Trischler, Stufen (Anm. 7); Sylvelyn Hähner-Rombach, Gesundheit und Krankheit im Spiegel von Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg 1946 – 1980 (Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 40), Stuttgart 2011; Rupert Schick, Petitionen. Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht. Geschichte. Rechtliche Grundlagen. Der Petitionsausschuß. Der Petent. Heidelberg 1996. Einblicke in unterschiedliche Epochen und Räume bietet der Sammelband: Petitions in Social History (Anm. 7).
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Aus kommunikationshistorischer Perspektive zerfällt die Geschichte der Eingabepraxis in zwei zeitlich aufeinanderfolgende Etappen: erstens in den Abschnitt der Entstehung, der mit der offiziellen Übergabe einer Bittschrift endete, und zweitens in die Wirkungsphase, die sich zeitlich weniger eindeutig eingrenzen lässt, weil sie nicht zwangsläufig mit der Gewährung einer Bitte oder deren Ablehnung enden musste. Beide Phasen waren durch vielfältige und intensive kommunikative Austauschbeziehungen geprägt. Gemeinsam war beiden auch, dass sie von Aushandlungsprozessen begleitet wurden: im ersten Fall zwischen Akteuren, die sich auf ein gemeinsames Ziel verständigen mussten, Hilfe in Anspruch nahmen oder leisteten, Konflikte austrugen, im zweiten Fall zwischen Staatsbeamten, aber auch zwischen Herrschaft und Untertanen. Im Vorfeld wie auch im Nachhinein ergaben sich dabei immer wieder Situationen von Dreieckskommunikation. Den Gemeinsamkeiten gegenüber steht eine Reihe von Unterschieden. Erstens waren Gesuche im Entstehungsprozess Produkte, in der Wirkungsphase hingegen Katalysatoren von Kommunikation. Zweitens entstanden Gesuche durch Kommunikation im lokalen (Erfahrungs-)Raum49, während ihre Wirkungsgeschichte in regionalen, gesamtstaatlichen und imperialen Kommunikationskontexten und damit auf und in Wechselwirkung zwischen mehreren Ebenen zu verorten ist. Damit unterschieden sich drittens auch die Akteure und Kommunikationsformen grundlegend. In der Entstehungsphase lag der Schwerpunkt auf der mündlichen, informellen Kommunikation zwischen privaten Akteuren, zu denen auch, aber eben nicht nur oder nicht primär Staatsdiener als Handelnde zählen konnten50, auf die der Staat wenig Zugriffsmöglichkeiten hatte. Die Wirkungsgeschichte war dagegen durch formalisierte, schriftliche Kommunikation zwischen öffentlichen Amtsträgern geprägt, die den lokalen Raum weit überspannte. Deswegen lässt sich das Nachwirken von Bittschriften auch wesentlich besser erforschen als ihre auf mündliche Kommunikation gestützte Entstehungsgeschichte. Diese ist häufig nur dort greifbar, wo die Entstehung einer Eingabe durch die Verwaltung a posteriori rekonstruiert wurde. Durch die unterschiedlichen Reaktionen der Regierung auf Eingaben konnte die administrative Binnenkommunikation direkt oder indirekt auf den lokalen Raum zurückwirken. Bittsteller wurden in der zweiten Phase deshalb auch nicht obsolet, sondern im Gegenteil mit neuen Rollen in die Kommunikation zurückgeholt, sei es als Adressaten disziplinarischer Verfügungen oder Verhandlungspartner. Daraus ergaben sich Interdependenzen, die das in der Natur der Eingabe liegende Abhängigkeitsverhältnis wenn nicht aufhoben, so doch zumindest um eine Beziehung erweiterten, in der Bittsteller nicht mehr einseitig vom Willen der Regierung abhingen, sondern die Regierung umgekehrt auch auf das Entgegenkommen der Untertanen angewiesen war. Diese im Erwartungshorizont der Urheber nicht absehbaren und vermutlich auch nicht geplanten Wirkungen machen deutlich, dass sich die Erforschung von Bittschriften als Kommunikationsmedien nicht in einer Geschichte von Erfolg 49 50
R. Koselleck, Zukunft (Anm. 25), 349 – 359. B. Severin-Barboutie, Herrschaftspolitik (Anm. 5), 285.
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oder Scheitern erschöpfen kann, sondern die Komplexität der kommunikativen Beziehungen berücksichtigen muss und auch vor transkulturellen und diachronen Vergleichen nicht Halt machen darf.
Zur Akzeptanz fürstlicher Herrschaft vor Ort. Landesherrliche Visitation und diskursive Praxis lokaler Akteure (Hessen-Kassel, 17. Jahrhundert) Von Nicolás Brochhagen, Hamburg I. Einleitende Überlegungen Entscheidend für das Verständnis der Funktionsweise und Transformation frühneuzeitlicher Herrschaft ist die Berücksichtigung von Kommunikations- und Aushandlungsprozessen, die vor Ort ihre Umsetzung gewährleisteten und legitimierten, sie aber auch unterminieren und in Frage stellen konnten. Dieser in historiographischen Studien der letzten Jahren des Öfteren betonten Einsicht wurde unter anderem durch den Fokus auf lokale Herrschafts- und Verwaltungspraktiken, Verfahren und Akteure der Herrschaftsvermittlung sowie machtbildende Interaktionen im Rahmen spezifischer sozialer Kontexte als Forschungsgegenstände Rechnung getragen1. Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang ,akzeptanzorientierte Herrschaft‘ als prägend für die politische Kultur in den frühneuzeitlichen Reichsterritorien postuliert2. In diesem Beitrag wird beabsichtigt, sich der sozialen Sinnproduktion zu widmen, die auf lokaler Ebene eine solche Akzeptanz zum Ausdruck brachte. Es soll mit anderen Worten der Versuch unternommen werden, sich der Vermittlung von Herrschaft im Zusammenhang mit der diskursiven Konstruktion soziokultureller Wirklichkeiten anzunähern3. Demnach sollen kollektive Einstellungen, Zuschreibungen und Wahrnehmungsweisen beleuchtet werden, die Herrschaftsvermittlungsprozes1
Verwiesen sei auf folgende Sammelbände: Markus Meumann/Ralf Pröve (Hrsg.), Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 2), Münster 2004; Stefan Brakensiek/Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln/Weimar/Wien 2005; Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 2005; Wim Blockmans/André Holenstein/Jon Mathieu (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 – 1900, Farnham 2009. 2 Vgl. Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche hrsg. v. Helmut Neuhaus (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge, 49), München 2009, 395 – 406. 3 Siehe Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1639), Frankfurt am Main 2003, 10 – 60; Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse (Historische Einführungen, 4), Frankfurt am Main/New York 2008.
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sen im lokalen Kontext zugrunde lagen. Ausgangspunkt folgender Ausführungen ist entsprechend die Annahme, dass die spezifische Ausprägung lokaler Herrschaftsvermittlung maßgeblich von impliziten Wissensordnungen – als zeit- und ortsspezifische Repräsentations- und Klassifikationssysteme – bestimmt wurde, die in Form von diskursiven Praktiken produziert und aktualisiert wurden4. Als ein möglicher Zugang zu dieser Problemstellung, wird hier ein landesherrliches Visitationsverfahren in den Blick genommen. Visitationen konnten als epochenspezifische Herrschaftspraxis und politisch-administrative Technik der Landesherrschaft5 eine institutionalisierte Kommunikationsform zwischen Herrschaftsträgern und der Bevölkerung eines Territoriums darstellen und spielten dementsprechend in Bezug auf Prozesse der Herrschaftsvermittlung oft eine besondere Rolle6. Als „aktenproduzierendes Instrument“7 gingen Visitationsverfahren mit der Niederschrift 4
Siehe Andreas Reckwitz, Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus, in: Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, hrsg. v. Monika Wohlrab-Sahr, Wiesbaden 2010, 179 – 205; Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms (Interdisziplinäre Diskursforschung), 3. Aufl., Wiesbaden 2011, 179 – 277. 5 Hier sei nicht weiter auf die begriffliche Problematik eingegangen, die der quellennahe deskriptive Terminus „Visitation“ birgt, weil dies für die verfolgte Problemstellung letztlich kaum von Relevanz ist. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass Ausführungsinstanz, Durchführungsmodalität und Gegenstandsbereich von als Visitation bezeichneten Inspektionsprozeduren von Territorium zu Territorium und im zeitlichen Wandel stark voneinander abweichen konnten. Breiter angelegte komparative Untersuchungen frühneuzeitlicher Visitationsverfahren, die diesen Umstand klären, stehen derzeit aber noch aus. Vgl. Birgit Näther, Kurbayerische Visitationen im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Inszenierung von Herrschaftsrechten zwischen Aktendeckeln, in: Inszenierung des Rechts. Law on Stage hrsg. v. Viktoria Draganova/Stefan Kroll/Helmut Landerer/Ulrike Meyer (Jahrbuch Junge Rechtsgeschichte, 6), München 2011, 229 – 242, hier 231 f. Einblicke in unterschiedliche frühneuzeitliche Varianten von Visitationen bietet der Bericht zum Workshop „Weltliche Visitationen im 17. und 18 Jahrhundert“, der im Jahr 2009 am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen stattgefunden hat, unter http://www.uni-due.de/geschichte/herrschaftsvermittlung/work shop09.shtml (zuletzt gesehen am 11.2. 2013). 6 Vgl. S. Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft (Anm. 2), 401 f. In Bezug auf Kirchenvisitationen unter kommunikativen Aspekten siehe auch: Helga Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen als Mittel der Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen, in: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit hrsg. v. Heinz Duchhardt/Gert Melville (Norm und Struktur, 7), Köln/Weimar/Wien 1997, 173 – 186; Rudolf Schlögl, Bedingungen dörflicher Kommunikation. Gemeindliche Öffentlichkeit und Visitation im 16. Jahrhundert, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne hrsg. v. Werner Rösener (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 156), Göttingen 2000, 241 – 261; Frank Konersman, Kirchenvisitation als landesherrliches Kontrollmittel und als Regulativ dörflicher Kommunikation. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im 16. und 17. Jahrhundert, in: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne hrsg. v. Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, 1), Konstanz 2000, 603 – 625. 7 Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2001, 181.
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und Systematisierung von in der Regel beträchtlichen Mengen an Verwaltungsschriftgut einher. Diese Quellenkorpora wurden – je nach Ausrichtung und Durchführungsmodalität der Visitationen – unter mehr oder weniger direkter und breit angelegter Einbeziehung von Akteuren erstellt, die in den visitierten Orten ansässig waren. Im hier herangezogenen Fall landesherrlicher Visitationspraxis in der Landgrafschaft Hessen-Kassel im 17. Jahrhundert kam den von lokalen Akteuren verfassten Schriften ein zentraler Stellenwert im Verfahrensablauf zu8. Die Visitationsakten der hessen-kasselschen „allgemeinen Landvisitation“ der 1660er Jahre bieten sich so für eine nähere Untersuchung der sprachlich-schriftlichen Formen an, die der Kommunikation zwischen Untertanen und landesherrlicher Zentrale zugrunde lagen. Diese Quellen können dementsprechend als empirischer Ansatzpunkt dienen, die diskursiven Praktiken lokaler Akteure im Zusammenhang mit Prozessen der Herrschaftsvermittlung zu analysieren. Die Untersuchung der Visitationsquellen, so die Annahme, kann Hinweise hinsichtlich der vor Ort wirksamen kollektiven Vorstellungen und Zuschreibungen liefern, die den Wissens- und Erfahrungshorizonten der im herrschaftlichen Verfahren interagierenden Akteure zugrunde lagen und die durch dieses kommunikative Ereignis wiederum hervorgebracht, stabilisiert oder transformiert wurden. Diese Überlegungen sollen im Folgenden auf der Grundlage einer von mir durchgeführten Fallstudie zur Herrschaftsvermittlung durch Visitationsverfahren in Hessen-Kassel entfaltet werden9. Zu erwähnen ist, dass die Untersuchung auf der Visitationsakte eines einzigen Verwaltungsbezirks beruht (Visitation von Stadt und Amt Grebenstein im Jahr 1668)10. Entsprechend der mit Blick auf die Problemstellung recht schmalen Quellengrundlage sei also hervorgehoben, dass dieser Beitrag keine ,fertigen‘ historiographischen Erkenntnisse im Sinne einer historischen Diskursanalyse darbietet, sondern vielmehr beabsichtigt, hinsichtlich der diskursiven Konstruktion landesherrlicher Herrschaft beziehungsweise ihrer Akzeptanz auf lokaler Ebene mögliche Ansatzpunkte und Fragestellungen zu benennen und anhand empirischen Materials beispielhaft zu verdeutlichen11. Es soll skizzenhaft aufgezeigt werden, inwiefern durch das Einbeziehen einer diskursiven Ebene in die Analyse von 8
Dies war nicht in allen Reichsterritorien der Fall: Im Rahmen des DFG-Projektes „Herrschaftsvermittlung in der Frühen Neuzeit (1650 – 1800). Fallstudien zu Territorien des Alten Reichs und der Habsburgermonarchie im internationalen Vergleich“ wurden beispielsweise erhebliche Unterschiede zwischen der Visitationspraxis im Kurfürstentum Bayern und der Landgrafschaft Hessen-Kassel festgestellt, insbesondere in Bezug darauf, welche Akteure aktiv in das Verfahren einbezogen wurden. 9 Nicolás Brochhagen, Die landesherrliche Visitation in Grebenstein 1668. Eine Fallstudie zur Herrschaftsvermittlung durch Visitationsverfahren in der Landgrafschaft Hessen-Kassel (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, 165), Darmstadt/Marburg 2012. 10 Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 17 I (Alte Kassler Räte), Nr. 786 (Landesvisitation in Stadt und Amt Grebenstein sowie in Immenhausen 1668). 11 Eine empirisch gesättigte und methodisch saubere Diskursanalyse bedürfte eines erheblich erweiterten Textkorpus als Grundlage für zahlreiche, diachronisch angelegte Aussageanalysen. Vgl. A. Landwehr, Diskursanalyse (Anm. 3), 127.
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Prozessen der Herrschaftsvermittlung – hier konkret eines Visitationsverfahrens – weiterreichende Erkenntnisse erlangt werden können. In Bezug auf die Visitation Grebensteins soll mithin der Frage nachgegangen werden, wie sich die diskursiven Praktiken lokaler Akteure im Rahmen der landesherrlichen Visitation als kommunikatives Ereignis gestalteten und welche diskursiven Effekte dadurch möglicherweise erzielt wurden. II. Visitation als landgräfliches Verfahren der Herrschaftsvermittlung: die „Landvisitation“ 1666 – 166812 In der Landgrafschaft Hessen-Kassel wurden von der landesherrlichen Zentrale örtliche Visitationsverfahren ab der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchgeführt. Auf der Grundlage einer im Jahr 1577/78 erlassenen Visitationsordnung fanden diese Verfahren im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert mehr oder weniger regelmäßig statt. Während des 30-jährigen Krieges wurde diese landesherrliche Visitationspraxis jedoch nicht fortgeführt. Den administrativen Archivbeständen zufolge kam ein solches Verfahren erst wieder im Jahr 1666 unter der Bezeichnung „allgemeine Landvisitation“ zur Anwendung. Diese Visitation aller lokalen Verwaltungsbezirke dauerte bis in das Jahr 1668 und blieb in dieser Form wohl ein einmaliger Vorgang; sie wurde von einer Ad-Hoc Kommission aus Mitgliedern der landesherrlichen Zentralverwaltung durchgeführt, die von der damaligen Regentin Hedwig-Sophie zu diesem Zweck eingesetzt wurde. Die „Landvisitation“ der 1660er Jahre konnte bestimmte politisch-administrative Funktionen für die Landgrafschaft erfüllen: Sie ermöglichte zum einen den Zugang zu Informationen über lokale Verhältnisse, insbesondere über ökonomisch-fiskalische Aspekte, aber auch über örtliche Konfliktlagen und Machtkonstellationen. Zum anderen diente sie der Kontrolle und Disziplinierung von Amtsträgern des lokalen landesherrlichen Verwaltungsapparats. Die konkrete Durchführungsweise der Visitation deutet darauf hin, dass hier Letzteres im Vordergrund stand13. Das Verfahren war also in erster Linie darauf ausgerichtet, das Verhalten lokaler Amtsträger sowie entsprechende gerichtliche und administrative Abläufe vor Ort zu regulieren (auch in Bezug auf die lokale Kirchenverwaltung), dagegen erfolgte eine systematische Informationsbeschaffung nur in beschränktem Maße. Zur Durchführung der „Landvisitation“ wurde seitens der Landesherrschaft die Kooperation der jeweiligen örtlichen Bevölkerung eingefordert. Das Verfahren ermöglichte es somit insbesondere Einzelpersonen und Korporationen, unter Umge12
In diesem Abschnitt werden im wesentlichen Ergebnisse der oben genannten Fallstudie zusammengefasst wiedergegeben, für eine ausführlichere Darstellung und die entsprechenden Quellen- und Literaturhinweise siehe also: N. Brochhagen: Grebenstein (Anm. 9). 13 Die Amtsführung landesherrlichen Personals ist beispielsweise ein zentraler Gegenstand der Visitationsfragen. Vgl. die transkribierten Fragenkataloge in: N. Brochhagen, Grebenstein (Anm. 9), 107 – 112.
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hung lokaler Herrschaftsträger (darunter sowohl landgräfliche Amtsträger als auch kommunale und adelige Obrigkeiten) an die landgräfliche Zentrale zu treten. Die Visitation war demnach darauf angelegt, mehrere Ebenen hierarchischer Kommunikation verfahrensmäßig miteinander zu verknüpfen: einerseits die zwischen der dynastisch-administrativen Spitze der Landgrafschaft und den lokalen Herrschaftsträgern, andererseits die zwischen Landgrafschaft und städtischen wie ländlichen Untertanen ohne Herrschaftsrechte oder politisch-administrative Funktionen14. In die „Landvisitation“ wurden dementsprechend verschiedenste lokale Akteure aktiv eingebunden, wie landesherrliche Amtsträger und Domänenpersonal, landsässiger Adel, städtische Magistrate, Gemeindeversammlungen, Dorfvorsteher, Zünfte, Kleriker und ,einfache‘ Untertanen. Durch das Visitationsverfahren wurde so ein kommunikatives Ereignis geschaffen, in dessen Rahmen diskursive Praktiken aus unterschiedlichen Sprecherpositionen heraus vollzogen wurden. Hierbei ist zu betonen, dass die Visitation als Handlungsfeld stark herrschaftsförmig strukturiert war – personell und institutionell war sie in den landgräflichen Herrschaftsapparat eingebunden. Die Initiative zu ihrer Durchführung, ihre inhaltliche Ausrichtung sowie die Bewertung und Nutzung der Ergebnisse lagen bei der landesherrlichen Zentrale. Es muss also davon ausgegangen werden, dass im Rahmen einer solchen landesherrlich vermittelten Öffentlichkeitsform diskursive Praktiken mehr oder weniger stark durch das Verfahren normiert waren. Anhand des Beispiels der Visitation in Stadt und Amt Grebenstein im Jahr 1668 – als Teil der von Hedwig-Sophie durchgeführten „Landvisitation“ – sollen nun Ansätze zur Analyse der hier festzustellenden diskursiven Praktiken unterbreitet werden. III. Diskursive Praktiken lokaler Akteure: Grebenstein 1668 1. Die Visitation als kommunikatives Ereignis In Grebenstein, wie in den anderen visitierten Verwaltungsbezirken, umfasste die Visitation unterschiedliche mediale Dimensionen. Auf performativer Ebene war die Versammlung auf einem zentralen Platz der Stadt Grebenstein ein konstituierender Bestandteil der Umsetzung des Verfahrens vor Ort. Anwesend bei dieser am Auftritt der Visitationskommissare ausgerichteten Kommunikationssituation waren städtische und ländliche Untertanen, landesherrliche Amtsträger und kommunale Obrigkeiten. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass die Visitation mittels einer Huldigung des Landgrafen eingeleitet wurde, an der die dort Versammelten teilnahmen. Der feierliche Akt, bei welchem rituelle und zeremonielle Elemente maßgeblich waren, wurde durch die Übergabe von handschriftlich fixierten Fragelisten an lokale Akteure abgeschlossen. Auf sprachlicher Ebene spielte die mündliche Verkündung 14 Vgl. zur Bedeutung solcher Dreieckskommunikation für frühneuzeitliche Prozesse der Herrschaftsverdichtung: Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Herrschaftsvermittlung, hrsg. v. ders./H. Wunder (Anm. 1), 1 – 21, 10 – 14.
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der Visitation durch die Kommissare eine Rolle, vor allem, indem sie zur allgemeinen Teilnahme am Verfahren durch Beantwortung der Fragelisten aufforderten. Hieran schloss die schriftliche Ebene der Visitation an: Zahlreiche lokale Akteure erstellten in den folgenden Wochen unterschiedlich geartete handschriftliche Texte, die sie in die Residenzstadt Kassel bei der landesherrlichen Zentrale einsendeten15. Es wird mithin deutlich, dass die hier untersuchte schriftliche Überlieferung der Visitationsakte nur einen Teil der Visitation als kommunikatives Ereignis abbildet, während die Frage nach einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses dieser medialen Ebenen offen bleiben muss16. Gleichwohl stellen die Texte lokaler Akteure, wie bereits angedeutet, den Hauptbestandteil der diesem Verwaltungsbezirk zugeordneten Visitationsakte dar: Zumindest auf schriftlicher Ebene kommen hier also nicht primär die Visitationskommissare zu Wort (etwa mit Berichten und Protokollen), sondern die örtlich ansässigen Menschen17. An der schriftlichen Kommunikation beteiligten sich landesherrliche Amtsträger und Bedienstete (Schultheiß, Rentmeister, Landknecht, Förster, Präzeptor, Domänenpersonal), kommunale Obrigkeiten (Bürgermeister und städtischer Rat, Dorfvorsteher), Klerus (Metropolitan, Pfarrer), landsässiger Adel, dörfliche wie städtische Körperschaften (Dorfgemeinden, Bürgerschaft, Zünfte) und Einzelpersonen. Das Spektrum der Texte reicht von Berichten, die (selektiv) die Fragelisten beantworten, bis hin zu Bittschriften beziehungsweise ausdrücklichen Beschwerdeschriften, deren konkreter Inhalt unabhängig von den übergebenen Visitationsfragen entfaltet wird. Der Umgang mit dem landesherrlichen Verfahren konnte also vielgestaltig ausfallen, zielte jedoch überwiegend darauf ab, Sachverhalte im Zusammenhang mit örtlichen Konfliktkonstellationen zu problematisieren18. Das erklärte Ziel der Texte war entweder zu berichten, (klagend) zu antworten oder sich zu beschweren19, wobei die inhaltliche Ausrichtung nicht unbedingt mit diesen Absichtserklärungen im Einklang stehen musste. Neben der Amtsführung lokaler Herrschaftsträ15
Vgl. N. Brochhagen, Grebenstein (Anm. 9), 36 – 39. So konnte auf der Basis der herangezogenen Archivalien beispielsweise nicht ermittelt werden, wie sich der Ablauf der öffentlichen Versammlung samt Huldigung im Einzelnen gestaltete oder welche mündlichen Reflexions- und Beratschlagungsprozesse unter lokalen Akteuren der Verschriftlichung voran gingen. Darüber hinaus stellen sich in Bezug auf die Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Ritual-Oralität-Schriftlichkeit sowie auf die Spezifität der einzelnen Bedeutungsträger auch quellen-methodische Probleme, die hier nicht geklärt werden können. Eine tiefer gehende Untersuchung dieser Aspekte wäre jedoch von Relevanz hinsichtlich der theoretischen Prämisse, dass diskursive Praktiken nicht nur sprachlich-textuell sondern auch visuell oder performativ strukturiert sein können. 17 Die Visitationskommissare steuern der Akte nur eine tabellarische Auswertung der Schriften lokaler Akteure bei. Vgl. hierzu N. Brochhagen, Grebenstein (Anm. 9), 81 – 88. 18 Vgl. Ebd., 77 – 81. 19 Zum Beispiel in der Schrift der Leineweberzunft: „Antwort […] dero linneweber zunftt zu Grebenstein bey jungst gehaltener landtvisitation ubergebene fragen.“ In der Schrift der ländlichen Gemeinde Hohenkirchen: „Bericht auff die landtvisitations artikel auch waß undt uber weßen sie sich beschweren.“ Bzgl. der Quellennachweise siehe hier und im Folgenden Anm. 10. 16
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ger und hiermit verwoben, zielen die Texte auf unterschiedlich gelagerte Problemkomplexe, zum Beispiel hinsichtlich der Nutzung landwirtschaftlicher Flächen, der Leistung von Diensten und Abgaben oder dem Verkauf alkoholischer Getränke. Alle Schriften richten sich – dem Verfahren gemäß – mehr oder weniger explizit an die landgräfliche Zentrale als Adressaten. Hierbei wird primär auf die „fürstlich hessische Landvisitation“ selbst Bezug genommen, insbesondere auf die vorliegenden Fragelisten beziehungsweise auf die landesherrlichen „wohlverordneten herren commissarien“20. Um eine analytische Bestimmung der unterschiedlichen Sprecherpositionen, die im kommunikativen Kontext der Visitation auf schriftlicher Ebene eingenommen wurden respektive zulässig waren, vornehmen zu können, wäre eine umfassendere Diskursanalyse von Nöten. Hier sei lediglich anhand eines Beispiels auf die Bedeutung solcher Positionierungen, als „[…] mit Rollensets verknüpfte, institutionell-diskursive Orte für legitime Aussagenproduktion innerhalb eines Diskurses […]“21 hingewiesen. So können in der Visitationsakte zwei formal und inhaltlich voneinander abweichende Schriftstücke gefunden werden, die jedoch beide im Namen der „gemeinen Bürgerschaft“ der Stadt Grebenstein eingereicht wurden. Unabhängig davon, wer im jeweiligen Fall die Verfasser waren – eines davon scheint von einem situativen Zusammenschluss unzufriedener Bürger zu stammen –, deutet dies darauf hin, dass innerhalb eines solchen Verfahrens der Herrschaftsvermittlung bestimmte institutionell konfigurierte Sprecherpositionen besonders relevant und möglicherweise umkämpft waren. 2. Texte der Untertanen Um ein genaueres Bild der diskursiven Praktiken hinsichtlich der Kommunikation zwischen ,einfachen‘ Untertanen und Landesherrschaft zu zeichnen, soll näher auf diejenigen Texte eingegangen werden, die von individuellen Akteuren ohne offizielle Funktion im lokalen politisch-administrativen Institutionengeflecht erstellt wurden. Konkret handelt es sich hier um vier Beschwerde- beziehungsweise Bittschriften von jeweils zwei ländlichen und städtischen, männlichen Einwohnern, die die Visitation dazu nutzten, sich mit ihren persönlichen Konflikt- und Problemlagen an die Spitze des landgräflichen Herrschaftsapparats zu wenden. Diesen Texten ist eine narrative Form gemeinsam: Sie alle schildern Ereignisse im chronologischen Ablauf, wobei die fokussierten Gegenstandsbereiche heterogen sind. Die artikulierten Themen beziehen sich auf den Verkauf einer Landfläche und hieraus resultierenden monetären Schulden22, auf die ungerechtfertigte Besteue-
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So beispielsweise im Schriftstück des adeligen Ludwig von Schachten: „Unterthänige beantwortung dero von fürstlich hessischen […] lantvisitation wohlverortneter herren commissarien eingeschickte fragstücke.“ 21 R. Keller, Diskursanalyse (Anm. 4), 235; siehe auch 253 – 255. 22 Schriftstück von Johannes Lahr, Einwohner der Stadt Grebenstein.
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rung von Ackerland23, auf den Verlust des Viehbestands aufgrund einer Tierseuche24 und auf einen Verleumdungsfall mit strafrechtlichen Konsequenzen25. Hinsichtlich aller dargestellten Problematiken spielt in verschiedener Weise das Verhalten lokaler Herrschaftsträger eine hervorgehobene und dabei negativ bewertete Rolle. Die expliziten Beschuldigungen und mitschwingenden Unterstellungen reichen von unterlassenem Beistand bis hin zum aktiven Amtsmissbrauch. Im Einzelnen wird dem Grebensteiner Bürgermeister Parteilichkeit aufgrund familiärer Bindungen vorgeworfen26; landesherrliche Amtsträger sollen für eine irrtümliche Strafvollstreckung27 sowie für die übermäßige Anforderung von Diensten und unrechtmäßiger Brautätigkeit28 verantwortlich sein. Der kommunalen Obrigkeit einer Dorfgemeinde wird andererseits unterstellt, keine Verantwortung für die Erkrankung des Viehs zu übernehmen, die sie selbst verursacht hätte29. Gemeinsamer Bezugspunkt der verschiedenen Argumentationen ist die Gefährdung der eigenen materiellen Existenzgrundlage. Die zentralen Deutungsmuster der Texte orientieren sich entsprechend an den Figuren des „armen Untertanen“ beziehungsweise „armen Mannes“ und des „Schadens“ oder der „Gefährdung“ der „Nahrung“. Die Betonung der eigenen ungünstigen ökonomischen Lage fungiert als argumentativer Ansatzpunkt, mittels dem die angeführten Zusammenhänge problematisiert oder gar skandalisiert werden können. Das ,Fehl‘-Verhalten lokaler Herrschaftsträger wird dementsprechend primär hierauf bezogen – ein Verständnis von Amtsmissbrauch als Nutzung der Machtposition entgegen dem Allgemeininteresse wird dagegen in diesen Texten nicht explizit zur Sprache gebracht30. Darüber hinaus lassen sich Differenzierungen der jeweiligen Argumentationsstränge feststellen. So wird in einem Fall der Begriff „Schaden“ inhaltlich aufgefächert: Während dieser in anderen Texten lokaler Akteure entweder vage bleibt oder ausschließlich 23
Schriftstück von Merten Schindewolf, Einwohner der Stadt Grebenstein. Schriftstück von George Leimbach, Einwohner des Amtsdorfes Holzhausen. 25 Schriftstück von Peter Hemelmann, Einwohner des Amtsdorfes Udenhausen. 26 So M. Schindewolf: „[…] so will doch solches nicht geschehen, in ahnsehung der herr burgermeister Eckmann dieses Weynandten sein ahnverwanter ist.“ 27 So P. Hemelmann: „Daruffen bemalter metziger bey den herren beamten geklaget, welche mich dan aus des greben scheüer in Udenhausen durch den landknecht […] abholen undt nach Grebenstein bringen, und in thurm setzen laßen […]. Es hat sich aber nachmahls begeben, das ob besagtes metzgers mutter in deme den recht schuldigen theter uffenbahr worden, mich loos erkannte undt das sie mihr anfänglich jahr unrecht gethan, bekennet undt berewet.“ 28 So die recht unsystematisch vorgetragenen Vorwürfe des J. Lahr. 29 So G. Leimbach: „Wem aber diesem großem schaden, durch diesen von der gemeinde meyersweiße angenommenen inficirt gewesenen ochsen, erleyden […], so ich alleine zu ertragen mich nicht schuldig achte in maßen dem auch deswegen, wie wohl bis dahero vergebens, bey der gemeinde hulffe gesucht […]“. 30 Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, wird demgegenüber in den Texten von Herrschaftsträgern und kommunalen Körperschaften dem Gemeinwohl explizit eine bedeutende Stellung eingeräumt. 24
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auf ökonomische Sachverhalte bezogen wird, findet sich hier seine dreifache Bestimmung als Schaden der „Nahrung“, der „Gesundheit“ und des sozialen Ansehens31. Neben den persönlichen Nachteilen auf wirtschaftlich-materieller Ebene wurden also auch physische und symbolische Beeinträchtigungen argumentativ angeführt. Eine weitere Argumentationsfigur besteht darin, darauf hinzuweisen, dass aufgrund der eigenen prekären Lage der Verlust bestimmter landesherrlicher Steuereinnahmen drohe, wodurch eine Kopplung von partikularen Untertaneninteressen und den finanziellen Interessen der Landgrafschaft vorgenommen wird32. Auffallend ist, dass argumentativ kaum auf rechtliche Diskursstränge zurückgegriffen wird. Es lässt sich beispielsweise weder ein Bezug auf gewohnheitsrechtliche Vorstellungen, noch auf landesherrliche Gesetzestexte oder dergleichen feststellen33. In diesen Texten erscheint so das vereinzelt angeführte Wort „Unrecht“ als persönliche Zumutung. Mit Blick auf die Selbstdarstellung der Textverfasser kann festgestellt werden, dass der Verweis auf die eigene Rolle als wirtschaftlich tätiger Haushaltsvorstand von Bedeutung ist34. In diesem Zusammenhang wird auch angeführt, dass man Vater von etlichen Kindern sei35. Ein weiterer, vereinzelter Aspekt der Selbstdarstellung ist die Betonung von eigenen positiven Eigenschaften, wonach öffentlich bekannt wäre, dass man „gut“ und „ehrlich“ sei36. Diese Formen der Selbstdarstellung sind für die Bestärkung der argumentativen Standpunkte von Bedeutung, ihnen kann aber darüber hinaus auch eine wichtige Rolle bei der diskursiven Konstitution von Subjektivierungsweisen, die innerhalb dieses Kommunikationskontextes wirksam wurden, zugeschrieben werden.
31 So P. Hemelmann: „[…] so habe doch beides, den schaden meiner gesuntheit undt des abgegangenen treschlohns […] davon gehabt, sonderlich aber in großen schimpf gesetzet worden […]“; „[…] das mein unbefugter verkläger […] fur den schimpf, gesuntheits und nahrungs schaden, mihr gehörigen abtrag thun müße.“ 32 So bspw. bei M. Schindewolf die kontinuierlichen Verweise auf die von ihm geschuldeten Abgaben. 33 Solche Bezüge finden sich jedoch in den Texten von Herrschaftsträgern und kommunalen Körperschaften: So spielt bspw. hier die Kategorie „Herkommen“ hinsichtlich gewohnheitsrechtlicher Vorstellungen eine Rolle. Der Verweis auf bestimmte Reichs- und Landtagsabschiede, Landesvisitationsbescheide, landesherrliche Reskripte oder Ordnungen erfolgt eher als Ergänzung der Argumentationen und nicht als deren zentraler Ansatzpunkt. 34 So verweist J. Lahr auf seine Tätigkeit als Schumacher und darauf, dass er einzig sein „brodt mit ehren gerne suchen“ möchte. M. Schindewolf betont, dass er eigentlich nur seiner Tätigkeit als Zimmermann nachgehen möchte. Ein ähnlicher Tenor auch bei P. Hemelmann, der aufgrund der falschen Anschuldigungen seine Arbeit als Drescher nicht ausführen konnte. 35 M. Schindewolf erwähnt wiederholt, dass er Frau und Kinder habe, die zudem noch erkrankt seien, was eine zusätzliche Belastung der prekären ökonomischen Lage impliziert: „[…] dass meine haußfraw mit 6 kindern kranckgelegen undt die haubtschwachheidt gehabt […]“. 36 Diese Elemente finden sich explizit vor allem in der Schrift von J. Lahr, z. B.: „[…] wie meine obrickeit bezeugen muss, und meine gantze nahperschaft, daß ich mein ganzes leben lang keinem trugt, bin gut gewesen […] nuhr ehrlich und redelich.“
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Als gemeinsamer inhaltlicher Kern einer solchen Subjektkonstitution kann die grundsätzliche ,Hilfsbedürftigkeit‘ der Untertanen gelten: die geschilderten Problematiken liegen letztlich außerhalb der eigenen Einflusssphäre – zugleich leisten lokale Autoritäten keine Unterstützung oder sind Teil des Problems37. So ist das gemeinsame Motiv der Texte, aufgrund einer prekären (materiellen) Lage auf Hilfe angewiesen zu sein. Zugleich ist dies der zentrale Anknüpfungspunkt in Bezug auf die Repräsentation landgräflicher Herrschaftspraxis. In erster Linie geht es den ,hilfsbedürftigen‘ Untertanen nämlich um konkrete Handlungsaufforderungen an die zentralbehördlichen Instanzen der Landgrafschaft, die im lokalen Kontext regulierend aktiv werden sollen38. Die „großgünstigen und hochgebietenden Herren“ der landesherrlichen Zentrale sollen demnach die „klagend“ vorgetragenen, sehr spezifischen Problemkonstellationen beherzigen und durch einen „gnädigen“ Eingriff in die lokalen Verhältnisse beheben, was durch entsprechende landgräfliche Befehle oder Verordnungen erwirkt werden soll. Mittels dieser von formalisierten Phrasen der Unterordnung geprägten Texte konstituiert sich somit ein bittendes und flehendes Subjekt, dass seinem lokalen Umfeld und dem landesherrlichen Wohlwollen gleichermaßen ausgeliefert ist. Das hier nachgezeichnete Selbstbild vom Untertanen verweist demnach auf ein männliches und ökonomisch aktives Subjekt, dass als hilfsbedürftiges und weitgehend passives Opfer bestimmter Umstände moralisch an die Fürsorge der Landgrafschaft appelliert. Dieses Bild ist jedoch in (mindestens) zweierlei Hinsicht einzuschränken: Zum einen bezüglich des dürftigen Textkorpus – eine breiter angelegte Auswertung von Visitationsakten würde sicherlich differenziertere Aufschlüsse über Subjektivierungsprozesse im Zusammenhang mit der Vermittlung von Herrschaft liefern. Zum anderen muss bedacht werden, dass diese diskursiven Praktiken im kommunikativen Kontext eines herrschaftsförmigen Verfahrens stattfanden, wie bereits hervorgehoben wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass in divergen37 So z. B. M. Schindewolf: „[…] ich nuhn zwahr solches mich bey den sämpltlichen herren beschwehret […], habe ich doch keine hulfe erlangen können […]“. Siehe auch das Zitat von G. Leimbach in Anm. 29. 38 Diese enge Verbindung zwischen der Darstellung der eigenen Hilfsbedürftigkeit und der Forderung nach bestimmten landesherrlicher Maßnahmen – im Zusammenhang mit mehreren der obig ausgeführten diskursiven Elemente – wird in der abschließenden Passage der Beschwerde des M. Schindewolfs beispielhaft deutlich gemacht: „[…] mein underthanige hochfleißige bitte, sie wollen diese hierin ahngefuhrte motive meines jämmerlichen zustandts gnädig undt großgünstig beherzigen, undt ihren ernsten befehl zu ertheilen, daß mihr die 412 acker landt, sambt dem wiesenblätzlein wieder abgenommen werden mochten, oder aber wiedriegen falß ich solches noch länger behalten soll, mihr noch mehr länderey […] darbey gethan werden möchte, damit ich den schwehren zinß desto besser in den stipendiatencasten, bezahlen kann. undt dass mein kauffer mich wegen deß haußes, richtig undt ohne lengeren ufhalt bezahlen musse, mit schärfe ahngehalten werde, damit ich obige summ dero – 21 reichstaler 13 albus 5 heller bezahle; nuhr auch die contribution undt andere gelder, so darnach erhoben werden, alßo moderiren, dass ich es ertragen möege, damit ich nicht gahr mit den armen meinigen wie es das ahnsehen schon hatt, ahn den bettelstaab gewiesen undt davon gehen muß.“
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ten lokalen Kommunikationsräumen, unter anderen medialen Bedingungen (bspw. ein Gespräch im Wirtshaus) auch andersartige Subjektivierungsweisen wirksam wurden, welche sich möglicherweise im Spannungsverhältnis zu der in der Visitation artikulierten Art der Selbstdarstellung befanden. Dass die Subjektvorstellung eines ,hilfsbedürftigen‘ Untertans im kommunikativen Kontext der Visitation aufscheint, mag mit den relativ engen Grenzen für eine zulässige Aussagenproduktion zusammenhängen, die durch das Verfahren gesetzt wurden. Aber auch unter taktischen Gesichtspunkten scheint der Rückgriff auf topische Vorstellungen wie z. B. die des „armen Mannes“ sinnvoll, wenn es darum gehen soll, der Landesherrschaft den Handlungsbedarf plausibel zu machen. Es kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass dem unbedingt die bewusste Planung der Akteure zugrunde lag, sich so zu inszenieren – angesichts der hier verfolgten Problemstellung ist die Motivation der einzelnen Textverfasser auch eher nebensächlich. Entscheidend ist, dass die diskursiven Praktiken von Untertanen in dieser Kommunikationssituation auf eine spezifische Aneignung und Reproduktion zeitgenössischer Diskursformationen verweisen, die eine solche Subjektvorstellung hervorbrachten. 3. Zur diskursiven Konstruktion landesherrlicher Herrschaft Unter zusätzlicher Bezugnahme auf die Texte von Herrschaftsträgern und Korporationen wird nun auf das im Rahmen der Visitation Grebensteins artikulierte Bild der Landgrafschaft und ihrer Beziehung zu lokalen Akteuren einzugehen sein. Nicht nur die ,einfachen‘ Untertanen richten sich an die landesherrliche Zentrale als primäre Lösungsinstanz für die in den Texten entfalteten Problemkomplexe. Im Allgemeinen zielen die formulierten „Bitten“, „Begehren“ oder „Nachsuche“ darauf, dass seitens der Landgrafschaft „Ordnungen gemacht“, „Befehle erteilt“ oder bestimmte Sachverhalte „verordnet“ und „verfügt werden mögen“. Hierbei wird der gewünschte landesherrliche Eingriff in lokale Verhältnisse auch bildlich als tätige Hand dargestellt, wonach die „Hand geboten“ oder die „Hand angelegt“, beziehungsweise etwas „zur Hand genommen“ werden soll. Neben dieser Körpermetapher wird auf landesherrliche Zentralinstanzen auch mittels der räumlichen Metapher „hohe Obrigkeit“– in Abgrenzung zu den lokalen Herrschaftsträgern – Bezug genommen. Dabei werden sowohl von Untertanen als auch von kommunalen Obrigkeiten, landesherrlichen Amtsträgern und Adel, also von allen an der schriftlichen Kommunikation beteiligten lokalen Akteuren, durchgängig Formeln sprachlicher Unterordnung eingesetzt. Die Handlungsaufforderungen an die Landgrafschaft werden so als „untertänige Bitten“ artikuliert, die „gnädigst“ oder „großgünstig“ behandelt werden sollen. Die „Beschwerung der armen Untertanen“ stellt auch über die im vorigen Abschnitt behandelten Texte einzelner Untertanen hinaus ein zentrales diskursives Element im kommunikativen Kontext der Visitation dar. Der Landgrafschaft wird in erster Linie die Aufgabe zugeschrieben, das Wohlergehen der Einwohner ihres Territoriums sicherzustellen, insbesondere bezüglich ihrer ökonomisch-materiellen Exis-
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tenzgrundlage. Hierzu gehöre auch, regulierend in örtliche Konfliktlagen einzugreifen, vor allem mit Blick auf das Handeln lokaler Herrschaftsträger. Ein zentraler Bezugspunkt stellt dabei der „gemeine Nutzen“, also eine am Allgemeininteresse orientierte Kategorie dar, daneben aber auch die Begriffe „Ordnung“, „fürstliche Wohlfahrt“, „Herkommen“ und „Gleichheit“. Für die zum Ausdruck kommende Beziehung zwischen lokalen Akteuren und Landgrafschaft war somit die Konzeption von Bedeutung, dass landesherrliche Gewalt für das Gemeinwohl tätig sei, bis hin zur Sorge um den einzelnen Untertanen. Die Annahme einer Gemeinwohlorientierung von Herrschaft stellt im Prinzip eine „traditionelle europäische Legitimationsfigur“39 dar, deren Aufscheinen in diesem Kontext wenig überraschend sein mag. Interessant wäre in diesem Zusammenhang ein Vergleich der spezifischen lokalen Varianten dieser Vorstellung im Rahmen von Herrschaftskommunikation. In Anbetracht dessen, dass in den Texten einzelner Untertanen kein Bezug zum „gemeinen Nutzen“ hergestellt wird, kann postuliert werden, dass die diskursive Konstruktion einer ,fürsorglichen‘ Herrschaft innerhalb der hier untersuchten Visitation zwar den Aspekt des Allgemeininteresses beinhaltete, das personalisierte Verantwortungs- beziehungsweise Unterordnungsverhältnis hierbei jedoch grundlegend war40. Elaboriertere respektive differenziertere Vorstellungen von sozialer Ordnung oder der Herleitung von Herrschaftslegitimation werden hingegen nicht zum Ausdruck gebracht – was in einer solchen Textgattung wohl auch nicht zu erwarten wäre41. So bleiben etwa in dieser Hinsicht explizite Bezüge auf religiöse Diskursstränge komplett aus, wenngleich sich durchaus inhaltliche Verbindungen zwischen dem hier artikulierten Herrscherbild und der zeitgenössischen theologisch-juristischen Konzeption einer „politica christiana“ herstellen ließen42. Die personalisierte ,Fürsorglichkeit‘ der Landgrafschaft wird also ohne Rückgriff auf weiterreichende religiös-konfessionelle oder rechtliche Deutungsmuster in dieser Kommunikationssituation als selbstverständlich vorausgesetzt. Landesherrliche Herrschaft vor Ort be39
Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., durchg. Aufl., München 2002, 21. 40 Ein solches personalisiertes Verständnis der Landesherrschaft, die Sorge um das physische und materielle Wohlergehen ihrer Untertanen trägt, kann auch auf der Basis von zeitgenössischen Selbstzeugnissen nachgezeichnet werden. Vgl. Benigna von Krusenstjern, Das Schiff, der Steuermann und die Kriegsfluten. Staatserfahrung im Dreißigjährigen Krieg, in: „Erfahrung” als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte hrsg. v. Paul Münch (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge, 31), München 2001, 425 – 432, hier 430. 41 Zur zeitgenössischen politischen Theorie siehe Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 170), Frankfurt am Main 2004. 42 Siehe Luise Schorn-Schütte, Obrigkeitskritik und Widerstandsrecht. Die politica christiana als Legimitätsgrundlage, in: Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Herrschaft, hrsg. v. L. Schorn-Schütte (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge, 39), München 2004, 195 – 232.
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darf hier mithin keiner Erklärung oder Diskussion, sie wird als richtig, notwendig oder unvermeidbar akzeptiert. IV. Fazit Auf der Basis des erörterten Beispiels der landesherrlichen Visitation Grebensteins im Jahr 1668 seien abschließend mit Blick auf die diskursive Dimension von Herrschaftsvermittlung einige thesenartige Schlussfolgerungen angeführt. Die diskursive Praxis lokaler Akteure war fundamental für die effektive Umsetzung dieser spezifischen landesherrlichen Herrschaftspraxis und politisch-administrativen Technik: Die örtliche Visitation funktionierte nur mittels der aktiven Kooperation dort ansässiger Menschen, da sie hauptsächlich darauf angelegt war, schriftliche Berichte und Beschwerden seitens lokaler Akteure zu erhalten. Hierfür bedurfte es einer vorgelagerten Akzeptanz, einer Art Vertrauensvorschusses gegenüber den landgräflichen Zentralinstanzen – dies umso mehr, als dass in diesem Fall keine Hinweise für konkrete Sanktionen bei einer Nicht-Teilnahme am Verfahren vorliegen. Die diskursive Praxis lokaler Akteure ermöglichte somit das Funktionieren des Visitationsverfahrens, gleichzeitig stellte das dadurch hergestellte kommunikative Ereignis den Kontext dar, in welchem diese spezifischen Vorstellungen von Herrschaft aktualisiert und so legitimierend wirksam werden konnten. Die Teilnahme lokaler Akteure am herrschaftsförmigen Forum implizierte überdies die Übertragung der eigenen Interessen und Bedürfnisse in hegemoniale Kommunikationsformen und Institutionen. Die Visitationspraxis erlaubte somit eine Artikulation von Beschwerden und Interessenkonflikten bei gleichzeitiger Integration der Akteure in eine allseits akzeptierte Ordnung, die hierarchisch an der Landesherrschaft ausgerichtet war43. Die beispielhaft aufgezeigten Deutungsmuster und Selbstpositionierungen weisen darauf hin, dass hierbei die diskursive Konstruktion einer ,fürsorglichen‘ Landesherrschaft zentral war. Komplementär hierzu konstituierte sich der mit der Landesherrschaft kommunizierende Untertan als hilfsbedürftiges und ihr persönlich untergeordnetes Subjekt. In diesem Sinne greifen die Huldigung und der Schriftverkehr anlässlich der Visitation als Bedeutungsträger ineinander und verstärken ihre diskursive Wirkung auf lokaler Ebene gegenseitig: Der rituellen folgte eine sprachlich-textuelle Subordination, wobei beide Momente gleichzeitig auf die personalisierte Verantwortungshaltung verweisen, die der Landesherrschaft zugeschrieben wurde. Die hier in Ansätzen aufgezeigte – intermedial arrangierte – diskursive Konstruktion der Landgrafschaft und ihres Verhältnisses zu lokalen Akteuren erscheint somit als ein in das Verfahren eingelagertes Element. Die landesherrliche Visitation kann in diesem Sinne als Ensemble von praktischen Maßnahmen (etwa Örtlichkeiten berei43 Vgl. in diesem Zusammenhang Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Staatsbildung hrsg. v. R. G. Asch/D. Freist (Anm. 1), 49 – 67, hier 59 f.; Dagmar Freist, Einleitung: Staatsbildung, lokale Herrschaftsprozesse und kultureller Wandel in der Frühen Neuzeit, in: Staatsbildung hrsg. v. R. G. Asch/D. Freist (Anm. 1), 1 – 47, hier 16.
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sen, Fragelisten aushändigen, Akten anlegen) und spezifischen Wissensordnungen (aktualisiert nicht zuletzt in Form von Huldigung und Sprachgebrauch) beschrieben werden, das als Instrument der Herrschaftsvermittlung auf verschiedenen Ebenen wirksam werden konnte: durch Beschaffung von örtlichen Informationen, Kontrolle und Disziplinierung der lokalen landesherrlichen Amtsträger sowie der diskursiven Verankerung einer grundlegenden Akzeptanz fürstlicher Herrschaft vor Ort. Dem herangezogenen Fall der Visitation Grebensteins wohnt hierbei eine gewisse Einseitigkeit inne, da das landgräfliche Herrschaftsverhältnis scheinbar ungebrochen bestätigt wird. Deswegen sei noch betont, dass keineswegs einer ,absolutistischen‘ Lesart dieses Fallbeispiels das Wort geredet werden soll – wie eingangs erläutert, sollten hier keine verallgemeinerbare Aussagen getroffen, sondern Annäherungen formuliert werden. Offen bleibt überdies, ob sich in den übrigen Visitationsakten der landgräflichen „allgemeinen Landvisitation“ beispielsweise verstärkt Hinweise auf Deutungskonflikte oder subversive Aneignungen hegemonialer Vorstellungen durch lokale Akteure ermitteln lassen. Ebenso bleibt ungeklärt, ob die landesherrlichen Zentralinstanzen es dabei beließen, lokale „Beschwerungen“ festzustellen – und so lediglich den Anschein weckten, die Landesherrschaft kümmere sich um das Wohlergehen der Untertanen –, oder ob die von lokalen Akteuren problematisierten Sachverhalte effektiv aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen getroffen wurden, das Verfahren somit ferner politische Partizipationsmöglichkeiten und ermächtigende Handlungsspielräume für die Untertanen eröffnete44.
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Für Hessen-Kassel weisen in diese Richtung z. B. Befunde hinsichtlich kommunaler Bittschriften: Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650 – 1800, in: Gemeinde und Staat im Alten Europa hrsg. v. Peter Blickle (Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge, 25), München 1998, 149 – 207.
Produktion von Normativität in der Praxis: Das landesherrliche Visitationsverfahren im frühneuzeitlichen Bayern aus kulturhistorischer Sicht Von Birgit Näther, Essen Mit einem Beitrag1 zur Verwaltungsgeschichte Bayerns aus kulturhistorischer Perspektive begibt man sich auf ein schwieriges Feld: Zwar wird beklagt, dass sich „[d]ie deutsche Verwaltungsgeschichtsschreibung […] in einem unbefriedigenden Zustand“ befinde, da sie sich nicht zuletzt aufgrund von „Methodenproblemen […] nur mit Teilbereichen der Verwaltung befa[sse]“2. Gleichzeitig aber halten sich gegen methodisch ambitioniertere Forschungsansätze hartnäckig Vorurteile, wonach diese vor allem Oberflächenphänomene fokussieren und methodisch mitunter fragwürdig vorgehen3. Zwar ist es richtig, dass beide Problematiken – Blindflecke der Forschung und Misstrauen gegen methodische Neuerungen – einander bedingen. Und dennoch weist die Gegenüberstellung von ,alter‘ und ,neuer‘ Verwaltungsgeschichte nicht auf das eigentliche Dilemma des Forschungszweigs hin. Dies nämlich 1 Der Beitrag profitierte bei seiner Entstehung von intensiven Diskussionen mit den Kollegen Jonas Hübner (Universität Duisburg-Essen) und Thorsten Keiser (MPI für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main), denen für ihre Anregungen und ihr Interesse herzlich gedankt sei. 2 Bernd Wunder, Verwaltung als Grottenolm? Ein Zwischenruf zur kulturhistorischen Verwaltungsgeschichtsschreibung, in: Räte und Beamte in der Frühen Neuzeit. Lehren und Schriften = Conseillers et agents du pouvoir aux temps modernes = Councillors and officials in the early modern period, hrsg. von Erk Volkmar Heyen/Wolfgang Weber, Baden-Baden 2007, 333 – 344, 333. Dieser Beitrag ist zugleich eine Rezension zu Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt am Main/ New York 2005. Vgl. auch die weiteren Rezensionen zur Habilitationsschrift von Haas: Paul Nolte, in: ZSE 1 (2006), 166 – 167; Thomas Stamm-Kuhlmann, HZ 285 (2007), 759 – 761; Patrick Wagner, sehepunkte 6 (2006), http://www.sehepunkte.de/2006/06/7921.html, Zugriff am 15.09. 2011. 3 Vgl. die Kritik an kulturhistorischer Forschung von Thomas Nicklas, Macht – Politik – Diskurs: Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: AKG 86 (2004), 1 – 25, insbesondere 3 – 5, 19 – 21, welche Barbara Stollberg-Rilinger aufgrund der „ungewöhnlich überzogene[n] polemische[n] Verzerrung“ als „diskreditiert“ bezeichnet, in: Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 35), hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2005, 9 – 24, 15, Fußnote 14. Sachdienlicher sind die kritischen Überlegungen von Andreas Rödder, Klios neue Kleider: Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in: HZ 283 (2006), 657 – 688.
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besteht in der Neigung, fast ausnahmslos alle verwaltungshistorischen Untersuchungen auf die Grundlage Weberscher Theoreme zu stellen, die in der Regel nicht nur assoziativ kondensiert, sondern vor allem keiner kritischen Analyse unterworfen werden. Mit der ständig wiederholten Annahme, wonach „Herrschaft […] im Alltag: Verwaltung“4 sei, definiert die verwaltungshistorische Forschung paradoxerweise ihren eigenen Forschungsgegenstand als Subphänomen von Herrschaft, ohne beide Themen und ihre genauen Zusammenhänge eigens zu reflektieren5. Dabei erweist sich die Vorstellung einer Kongruenz von Herrschaft und Verwaltung als überaus weitreichend, da sie die Vorannahmen zu administrativen Praktiken entscheidend prägt – und damit das gesamte analytische Design von Studien. Ergebnis ist eine zuweilen hierarchisch-lineare und die Komplexität von administrativen Handlungen banalisierende Vorstellung vom Verwalten. Das genaue Verhältnis, die Schnittstellen und alltäglichen Prozesse des Abgleichs zwischen vormoderner Herrschaft und Verwaltung wurden dagegen in der Geschichtswissenschaft bisher kaum zum Gegenstand der Forschung gemacht. Dies überrascht umso mehr, als schon lange Hinweise auf die Problematik dieser Annahmen vorliegen. So formulierte der Verwaltungsrechtler Otto Mayer bereits im Jahr 1924 eine Überlegung, die in der historischen Forschung geringen Widerhall fand: Er prägte vor dem Hintergrund der Umwälzungen nach dem Ersten Weltkrieg den prägnanten wie umstrittenen Satz, wonach Verfassungsrecht vergehe, während Verwaltungsrecht bestehe6. Und auch wenn vormoderne Administration als Verwaltung ohne Verfassung im Sinne eines Staatsgrundgesetzes bezeichnet werden muss, so ist doch bemerkenswert, dass Mayer administrativem Handeln einen so starken Grad an langlebiger Eigengesetzlichkeit zuschreibt, dass es nicht unmittelbar an Herrschaft gebunden sei. Zwar steht völlig außer Zweifel, dass Herrschaft im Alltag von den Beherrschten vor allem im Rahmen von Verwaltungstätigkeiten erfahrbar wird7 und dass ein Mindestmaß an herrschaftlicher Durchdringung nur erreicht wer4
In: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1972, 126. Vgl. dazu die aktuelle Diskussion des Themas aus der umgekehrten Perspektive, z. B. bei Nils Minkmar, Blindflug, Selbstlob, Wortbruch, Lüge. Es ist noch viel schlimmer, als man denkt: Die Erinnerungen des französischen Ministers Bruno Le Maire bieten erschütternde Beobachtungen zur europäischen Spitzenpolitik, in: FAZ 47 (24.02. 2013), 27: „Jedem […] wird einleuchten, dass wir […] den Regierungen zu viel zutrauen und leichtfertigerweise die Gewissheit pflegen, Spitzenpolitiker hätten mehr Kompetenz, Informationen, Erfahrung und Durchblick als wir.“ 6 Vgl. Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht. Bd. 1, München/Leipzig 1924, Vorwort (vi). 7 Vgl. dazu die Hinweise von Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, hrsg. von Stefan Brakensiek/ Heide Wunder, Köln 2005, 1 – 22; sowie Stefan Brakensiek, Lokale Amtsträger in deutschen Territorien der Frühen Neuzeit. Institutionelle Grundlagen, akzeptanzorientierte Herrschaftspraxis und obrigkeitliche Identität, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Köln 2005, 49 – 67. 5
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den kann, wenn Verwaltungen Herrschaftsaufgaben übernehmen. Und dennoch scheint es plausibel, dass Verwaltungen Aufgaben ausführen, die in keinem kongruenten, und vielleicht sogar in gar keinem Verhältnis zu Herrschaftsaufgaben stehen. Für diese Annahme spricht nicht zuletzt, dass sie im Alltag längst zum Topos geworden ist: Wie selbstverständlich wird Verwaltungen „Eigengesetzlichkeit“8 unterstellt, die administrative Handlungen prägt und diese von außen undurchdringlich erscheinen lässt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Schilderungen von Marc Bloch, wonach bei der französischen allgemeinen Mobilmachung während des Zweiten Weltkriegs laut Telegramm „Maßnahme 81“ angewendet werden sollte, die dann laut Handbuch „Maßnahme 49“ in Kraft treten ließ, „mit Ausnahme der durch Anwendung von Maßnahme 93 bereits in Kraft getretenen Verordnungen […], wobei freilich noch die beiden ersten Artikel von Maßnahme 57 mit zu berücksichtigen waren“9. Dieser Ausschnitt erzielt seine Wirkung auch ohne Kontextualisierung, da seine Ironie über Länder- und Kulturgrenzen hinweg auf Basis ähnlicher Zuschreibungen gedeutet werden kann: Eine Behörde als dem Alltag entrücktes Gebilde mit statischen Handlungen, und ebenso intransparenten wie lebensfremden Abläufen. Um Verwaltungshandeln zu analysieren, so die hier vertretene Auffassung, sollten Verwaltungen als Organisationen ernst genommen werden, deren Komplexität sich viel stärker aus ihren Praktiken ableitet als aus ihrem institutionellen Aufbau. Für den vorliegenden Beitrag wurde mithin eine dezidiert inneradministrative Perspektive gewählt. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Frage, was Verwaltungen eigentlich genau tun, wenn sie handeln, und wie diese Handlungen im Kontext hierarchischer Organisation ausgeführt werden. Im ersten Teil des Beitrags werden die methodischen Überlegungen näher erläutert. Dieser Teil versteht sich als Plädoyer dafür, vormoderne Verwaltungen als organisationelle Gebilde analytisch ernst nehmen und ihre Praktiken sowie handlungsleitenden administrativen Eigenlogiken nicht vorschnell als Subphänomene von Herrschaft zu definieren. Im zweiten Teil des Beitrags steht die Analyse eines spezifischen Verwaltungsverfahrens im Vordergrund, der landesherrlichen Visitation in Bayern. Das Verfahren wurde zwischen etwa 1570 und 1770 regelmäßig durchgeführt, wobei hier nur die Phase seiner Einrichtung und Etablierung näher betrachtet wird10. Anhand eines de8
In: Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1983, 207. Luhmann geht in Bezug auf Verwaltungen davon aus, dass Eigengesetzlichkeit deren Handlungen bestimmt, die von Behördennutzern nicht einsehbar ist. 9 In: Marc Bloch, Die seltsame Niederlage. Frankreich 1940: der Historiker als Zeuge, Frankfurt am Main 1995, 108 (Originalausgabe: L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940, Paris 1946). 10 Bei allen vor 1579 ausgeführten Verfahren handelt es sich nicht um landesherrliche Visitationen, die ausweislich der Quellen erst 1579 als eigenständiges Verfahren einsetzten. Da bisher aber eine systematische wissenschaftliche Bearbeitung des landesherrlichen Visitationsverfahrens in der bayerischen Landesgeschichte fehlt, wird in der landesgeschichtli-
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taillierten Abgleichs von administrativem Handeln im Zusammenhang von Normen und Verfahren kann abschließend das Potential der methodischen Überlegungen aufgezeigt werden. I. Herrschaft und Verwaltung, Verwaltung und Kultur Um Missverständnissen vorzubeugen: Im vorliegenden Beitrag werden Verwaltungen nicht als autarke Gebilde verstanden – sie sind also, wie Bernd Wunder formuliert, keine „neu entdeckte[n] Grottenolm[e]“11. Es handelt sich aber um Organisationen mit komplexen, handlungsleitenden Strukturen, die mehr sind als ein „Reflex von außerhalb des administrativen Systems liegenden Faktoren“12. Die Implementationsforschung hat, allen voran durch die Arbeiten von Achim Landwehr, den Grundstein für diese Perspektivänderung gelegt, indem sie gezeigt hat, dass Normen nicht durch „automatengleich funktionierende“13 Verwaltungen ,umgesetzt‘ werden. Statt vom linearen Bild der Wirksamkeit von Normen auszugehen, stehen deren „Wirkungen“14 im Mittelpunkt implementationstheoretisch orientierter Arbeiten. Bei der Auswertung der dicht überlieferten Quellenbestände zum landesherrlichen Visitationsverfahren in Bayern allerdings wird noch etwas anderes deutlich: Administratives Handeln umfasst auch Sequenzen, die sich nicht durch landesherrliche Anweisungen erklären lassen: Verwaltungshandeln erscheint hier als ein zuweilen assoziativer Prozess, der ohne normative Vorgaben stattfindet – oder trotz ihnen. Auch sind administrative Handlungsmuster nicht immer so hierarchisch geprägt, wie es die institutionelle Organisation von Behörden – und deren Überbetonung in vielen Forschungsarbeiten – vermuten lassen. Zudem beziehen sich diese Bechen Literatur die mittelbehördliche Visitation durchgängig mit dem zeitgenössischen Begriff als „Umritt“ bezeichnet, teilweise parallel zu „Visitation“ und „Inspektion“. Dies ist insofern irreführend, als der Begriff des Umritts an die Technik – das Umherreiten – angelehnt ist und daher zeitgenössisch für verschiedene mittelbehördliche Verwaltungsverfahren benutzt wird, unter anderem für den so genannten Viztumswändelumritt, also der Einziehung von Gebühren bei lokalen Gerichten. Aufgrund der mangelnden Unterscheidung von Quellen- und Analysebegriff ist in Arbeiten zur bayerischen Landesgeschichte bisher noch keine Abgrenzung der mittelbehördlichen Verfahren erfolgt. Dies bedingt auch die gemeinsame Abhandlung von nicht zueinander gehörigen Verfahren in einigen Arbeiten, so beispielsweise in der einzigen Dissertation zum Thema von Hans Hornung, Beiträge zur inneren Geschichte Bayerns vom 16.–18. Jahrhundert aus den Umrittsprotokollen des Rentmeisters des Rentamts Burghausen, München 1915, und hiervon ausgehend auch in aktuelleren Beiträgen zum Thema. 11 In: B. Wunder, Grottenolm (Anm. 2), 344. 12 In: S. Haas (Anm. 2), 39. 13 In: Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einführung. Kultur und Kommunikation in politisch-administrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950, hrsg. von Stefan Haas/Mark Hengerer, Frankfurt am Main 2008, 9 – 22, 10. Haas und Hengerer beschreiben dies als „kafkaesk konnotierte Vorstellung“ (10). 14 In: Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Frankfurt am Main 2000, 5.
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obachtungen keineswegs nur auf Fälle von Devianz, sondern sie sind ein alltägliches und offenbar antizipiertes Element administrativen Handelns. Diskrepanzen zwischen normativen Vorgaben und Handlungspraxis sind dabei nach der hier vertretenen Auffassung also nicht als „Dilemma der Verwaltung“15 zu verstehen, sondern sind ein prägendes Grundelement von Administrationen und, mehr noch, Bestandteil ihrer Funktionalität: Administrative Arbeit ist nicht nur geprägt durch das Koordinieren und Interpretieren, sondern auch durch das selbständige Entdecken und Entwerfen von Aufgaben und Tätigkeiten16. Die Frage ist also nicht nur, mit welchen Interpretations- und Entscheidungsprozessen eine Anweisung konfrontiert wird, sondern auch welche Prozesse ablaufen, wenn keine oder unzureichende Anweisungen vorliegen: Über welche nicht definierten Handlungsmöglichkeiten verfügen Verwaltungsinstitutionen? Welche Formen von „Eigengesetzlichkeit”17 lassen sich bei der Beschäftigung mit Verwaltungsprozessen beobachten? Diese dezidiert inneradministrative Perspektive ermöglicht nicht nur eine Untersuchung der expliziten Zielformulierungen und strategischen Erwägungen von Verwaltungen, sondern gibt auch den Blick frei auf nicht intendierte Handlungsdynamiken im administrativen Alltagsbetrieb: Es geht um die Frage, wie sich bestimmte Handlungssequenzen zu Routinen verstetigen, welche Entwicklung diese Routinen nehmen, und welche Macht diese Routinen über Durchführung und Deutung von Verfahren sowie über die beteiligten Akteure erhalten. Die Untersuchung dieser komplexen Struktur aus Zielen, Strategien und Dynamiken lässt tiefere Rückschlüsse auf die Praktiken von Verwaltungen, ihre Entwicklung und die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren zu. Zudem gibt sie Einblicke in die Kultur von Verwaltungen, wie im Folgenden erläutert wird. Voraussetzung einer solchen Analyse ist eine Quellenbasis, die eine serielle Auswertung administrativer Handlungen zulässt. An dieser Stelle schließt sich eine methodische Frage an, die in der verwaltungshistorischen Forschung bisher nicht ausreichend konzeptuell bearbeitet worden ist: Unter welchen Voraussetzungen können administrative Praktiken analytisch mit der Kultur ihres Systems verbunden werden? Bereits 2002 wies Stefan Haas in seiner Habilitationsschrift darauf hin, dass in der US-amerikanischen Organisationsforschung seit den 1970er Jahren systemische Funktionsweisen unter Zuhilfenahme kulturtheoretischer Modelle analysiert werden. Der geringe Widerhall der systemtheoretischen Überlegungen von Haas in der Verwaltungsgeschichte ist wohl zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass dieses Konzept in der Geschichtswissenschaft weitgehend abgelehnt wird18. 15
In: S. Haas (Anm. 2), 39. Vgl. Karl E. Weick, Sensemaking in organizations, Thousand Oaks/London/New Delhi 1995, 8: „[…] [A]uthoring as well as interpretation, creation as well as discovery.“ 17 In: N. Luhmann (Anm. 8), 207. 18 Vgl. auch die detaillierte Auseinandersetzung mit der Arbeit in der Rezension von B. Wunder, Grottenolm (Anm. 2). Die theoretische Konzeption wird auch in anderen Rezensio16
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Da Luhmanns theoretischer „Duktus […] oft so ausgesprochen abstrakt und hermetisch ist, dass die Anschlüsse an die konkreten Problemlagen an der Front des empirischen Arbeitens kaum sichtbar werden“19, gibt es offenbar Zweifel an der Verwendbarkeit systemtheoretischer und oft auch generell von theoretischen Annahmen. Möglicherweise hat zu der geringen Rezeption der Arbeit von Haas auch beigetragen, dass sie keine ,Anleitung‘ enthält, wie die kulturtheoretischen Überlegungen ,operationalisiert‘ werden können. Dies freilich setzt die Fehlannahme voraus, es ginge „darum […], eine Theorie auf empirische Sachverhalte ,anzuwenden‘“, obwohl eigentlich doch eher „an den Fragen und Begriffen, die die Theorie anbietet, die Wahrnehmung der empirischen Sachverhalte [ge]schärf[t] und so diffuse historische Phänomene strukturell genauer beschreibbar“20 gemacht werden können. Um dies zu erreichen, muss ein Weg aufgezeigt wird, wie administrative Einzelphänomene und Annahmen zur institutionellen Kultur methodisch verknüpft werden können. Nicht ausreichend ist die Anwendung von ,Panoramatechniken‘, aufgrund derer kaum zusammenhängende administrative Einzelphänomene als spezifisch definiert und addiert werden, um schließlich von der Summe als Verwaltungskultur zu sprechen. Untersuchungen von Praktiken und organisationeller Kultur sind auf unterschiedlichen analytischen Ebenen angesiedelt, denen im Forschungsdesign Rechnung getragen werden muss. Vor allem die Modelle des Organisationspsychologen Edgar Schein sollten zukünftig für die Erforschung administrativer Kulturgeschichte fruchtbar gemacht werden: Übertragen auf Verwaltungen ist deren institutionenspezifische Kultur demnach erstens Ausdruck des personellen und institutionellen Aufbaus, zweitens Ausdruck der administrativen Ziele, wie sie in Verfahren oder Verhaltenscodices hervortreten, sowie drittens Ausdruck von Handlungsgrammatiken, die Schein als „Ergebnis eines gemeinsamen Lernprozesses“21 und Stützen des alltäglichen Verhaltens22 definiert. Gemäß dieser Überlegung können sich Einzelakteure aufgrund von Konstitutionsregeln, also auch aufgrund von implizitem Regelwissen, nen eher verhalten aufgenommen, so beispielsweise bei T. Stamm-Kuhlmann (Anm. 2), 759 – 761, der zu dem Schluss kommt, in der Arbeit habe „[e]in beträchtlicher theoretischer Aufwand […] zu bescheidenen Ergebnissen“ (760) geführt. 19 In: Frank Becker, Einleitung: Geschichte und Systemtheorie – ein Annäherungsversuch, in: Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, hrsg. von Frank Becker, Frankfurt am Main/New York 2004, 7 – 28, 7 in Bezug auf Luhmanns Systemtheorie. 20 In: Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (ZHF, Beiheft 44), hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger/André Krischer, Berlin 2010, 9 – 31, 29. Ähnliche Überlegungen auch bei M. Pohlig/J. Hacke, Einleitung (Anm. 19), 14: „Theorie kann dem Historiker […] auf verschiedene Weise seinen Gegenstandsbereich strukturieren helfen und Abstraktionsmöglichkeiten erschließen, um seine Forschungen zu kontextualisieren, zu deuten, vergleichbar zu machen und zu kommunizieren.“ 21 In: Edgar H. Schein, Organisationskultur. The Ed Schein Corporate Culture Survival Guide, Bergisch Gladbach 2010, 35; Hervorhebung im Original. 22 Vgl. E. H. Schein, Organisationskultur (Anm. 21), 39.
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nicht systematisch den Handlungsgrammatiken ihrer Institution entziehen. Jede Handlung ist letztlich Ausdruck eines Spektrums von Verhaltensmöglichkeiten in administrativen Organisationen23. Die hier folgende Untersuchung geht dabei von kollektivem Handeln aus, das zwar nicht immer zweifelsfrei Einzelakteuren, sehr wohl aber Akteursgruppen zugeschrieben werden kann. Systemtheoretische Konzepte werden ebenso wenig zugrunde gelegt, wie administrative Institutionen als Akteure aufgefasst werden. Klassisch sozialhistorische Fragen nach Lern- oder Sozialisationsprozessen finden demgegenüber unter umgekehrten Vorzeichen Berücksichtigung: Da nach dem hier vertretenen Ansatz die langfristige Entwicklung von Praktiken herausgearbeitet wird, werden sozialhistorische Prozesse deduktiv in den Blick genommen. Gleichzeitig hat diese methodische Ausrichtung den entscheidenden Vorteil, auch solche Entwicklungen in den analytischen Blick zu bekommen, die sich einer expliziten Steuerung durch das Verwaltungspersonal entziehen. Kollektive Handlungen, die nicht oder nicht ausschließlich als Lern- oder Sozialisationsprozesse zu verstehen sind, sondern im administrativen Alltag assoziativ, ritualisiert, nicht intendiert, nebensächlich vollzogen werden – und gerade deswegen „gleichsam unintendiert und hinter de[m] Rücken“24 der Akteure langfristige Wirkung auf die Arbeit von Verwaltungen ausüben. Diese Handlungsdynamiken sind zwar akteursgebunden und werden von Akteuren ,transportiert‘, können aber nicht oder nur sehr eingeschränkt durch Einzelakteure beeinflusst werden. Durch dieses Konzept werden also Akteurs- und Organisationsebene miteinander verknüpft. Und worin liegt nun genau der Erkenntnismehrwert einer solchen Betrachtungsweise? Es besteht darin, administrative Praktiken gleichzeitig als Ergebnis und Ausdruck einer institutionenspezifischen Kultur deuten zu lernen – und andersherum, eine institutionenspezifische Kultur gleichzeitig als Ergebnis und Ausdruck von Praktiken. Werden Herkunft, Ausdruck und Durchführung administrativer Handlungen auf Basis der drei Elemente Organisation, Ziele und Handlungsgrammatiken untersucht, lassen sich Hinweise auf wirkmächtige Strukturen gewinnen, auf die man durch die alleinige Untersuchung institutioneller Settings oder genuin sozialhistorischer Fragen nicht aufmerksam würde. Das Ergebnis ist ein vertieftes Verständnis von Funktionsweisen administrativer Institutionen, aber auch der Einbettung von Akteuren in diese Settings.
23 Für diese Überlegung ist Stefan Haas zu danken, der sich am Beginn der Dissertationsphase zu einer ausführlichen Diskussion über das Projekt bereit erklärte. 24 In: B. Stollberg-Rilinger, Einleitung (Anm. 20), 29.
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II. Dialoge zwischen Norm und Praxis im landesherrlichen Visitationsverfahren Im Folgenden wird kurz in die Quellengrundlage der Untersuchung und das landesherrliche Visitationsverfahren eingeführt, bevor empirische Befunde anhand des erläuterten Konzepts ausgewertet werden. Die landesherrliche Visitation ist, anders als die Kirchenvisitation, wissenschaftlich bisher nicht systematisch untersucht worden. Grund für diese Forschungslücke ist ein doppelter Fehlschluss: Aufgrund des Absolutismusparadigmas wurde mittelund lokalbehördlichen Verwaltungsverfahren wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und aufgrund des Mangels an Untersuchungen wurden sie für marginal in Frequenz und Bedeutung gehalten. So erklärte Helga Schnabel-Schüle in einem der wenigen Beiträge zum Thema, landesherrliche Visitationen seien derart „sporadisch durchgeführt“25 worden, dass sich das Stichwort, „[b]ezeichnenderweise“26 nicht im Standardwerk „Deutsche Verwaltungsgeschichte“ finde. Dem können Quellenbefunde zum bayerischen Territorium entgegen gehalten werden, die im Rahmen der diesem Beitrag zugrundeliegenden Dissertation erhoben wurden: Für die Zeit zwischen 1579 und 1765 konnten über 50 Visitationsakten mit bis zu 2.000 Doppelseiten nachgewiesen werden, obwohl das für diesen Beitrag zugrundeliegende Promotionsprojekt nur auf drei der vier bayerischen Mittelbehörden Bezug nimmt27. Zudem haben sich, teilweise in mehrfacher Ausführung, fünf verschiedene Visitationsinstruktionen erhalten, sowie einige verfahrensbezogene Itinerare und Briefe. Die Bestände wurden trotz ihrer exzeptionellen Qualität bisher nicht systematisch erschlossen. Da es sich bei Visitationsakten um Verfahrensdokumentationen handelt, die für ein administratives Publikum angefertigt wurden und nach behördlichen Zwecken gekürzte und gefilterte Informationen zum Vorgehen vor Ort enthalten, ergibt sich der spezifische Quellenwert dieses Materials vor allem aus seiner Aussagekraft zum internen Vollzug des Verfahrens. Hinweise zur konkreten Durchführung der Inspektionen vor Ort sind derart selten, dass über die amtsexterne Seite der landesherrlichen Visitation nur Vermutungen angestellt werden können. 25 In: Helga Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen und Landesvisitationen als Mittel der Kommunikation zwischen Herrschaft und Untertanen, in: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit (Norm und Struktur, 7), hrsg. von Heinz Duchhardt, Köln 1997, 173 – 186, 179. 26 In: H. Schnabel-Schüle, Kirchenvisitationen (Anm. 25), 179, Fußnote 19. 27 Zwar wurden im Zuge der Arbeit am Dissertationsprojekt die verfahrensbezogenen Quellenbestände aller vier altbayerischen Mittelbehörden komplett gesichtet, aber nur das oberbayerische Rentamt Burghausen, sowie die niederbayerischen Mittelbehörden, das Rentamt Landshut und das Rentkastenamt Straubing, für einen Vergleich herangezogen. Grund hierfür ist, dass die Mittelbehörde München räumlich und personell in die Oberbehörden integriert war und Wechselwirkungen zwischen den administrativen Tätigkeiten von Ober- und Mittelbehörden zu erwarten sind. Das oberpfälzische Rentamt Amberg wurde aufgrund der erst 1628 erfolgten Integration in die Behördenlandschaft des Territoriums nicht für die Untersuchung herangezogen.
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Nach der auf Basis des Materials vorgenommenen Rekonstruktion lief das landesherrliche Visitationsverfahren in Bayern folgendermaßen ab: Die Verfahren wurden durch Instruktionen des Hofes angeordnet und von Mittelbehörden, den so genannten Rentämtern, durchgeführt. Landesherrliche Visitationen umfassten die Kontrolle lokaler Ämter und Amtleute, Kirchen, Schulen und Spitäler und des Gemeinwesens im policeylichen Sinn. Zudem wurde amtliches Schriftgut einer Revision unterzogen, darunter Rechnungen, Amts-, Brief-, Gerichts- und Ratsprotokolle. Nach dem Abschluss der Bereisung erfolgte die amtsinterne Verfahrensseite: Anhand der Notizen überführten die Mittelbehörden alle Ergebnisse des Verfahrens in fortlaufend nummerierte und durch Rubriken strukturierte Akten. Anschließend wurde, der Instruktion von 1669 nach zu urteilen, „hiervon ein exemplar zu unnser Hofcammer förderlich ein[ge]schik[t]“, sowie „was die Iustiti-Policei – und dergleichen noch betrifft, bei dem Iustiti Rath hinderbr[acht]“28. Weitere Oberbehörden, beispielsweise der Geistliche Rat, konnten in die Akten Einsicht nehmen. Zudem ist anhand vereinzelter Deckelbeschriftungen mit dem Hinweis „der Churfrt: Renntstuben gehörig“29 belegbar, dass mindestens zeitweilig ein drittes Aktenexemplar parallel zu den Versandexemplaren in der Mittelbehörde archiviert wurde. Im weiteren Verlauf der internen Prüfung bündelte die Hofkammer Anweisungen und Anmerkungen am Seitenrand der Akten und sandte sie an die Rentstube zurück. Ob dies auch von weiteren Hofbehörden so praktiziert wurde, kann trotz eines Händevergleichs nicht mit Sicherheit behauptet werden. Berücksichtigt werden muss zudem, dass die hier beschriebene amtsinterne Praxis der Verschriftlichung, Archivierung und Kommentierung das Verfahren um 1670 beschreibt und damit seiner Genese sicher nicht gänzlich gerecht wird: Die landesherrliche Visitation ist über den Zeitraum von 200 Jahren sehr wahrscheinlich auch amtsorganisatorisch kein statisches Verfahren gewesen. Das komplette Verfahren sollte den ersten Instruktionen zufolge jeweils einmal jährlich erfolgen30. Aufgrund der systematischen Analyse der Quellenbestände kann belegt werden, dass Visitationen zwar nicht jährlich, aber doch alle sechs bis neun Jahre stattfanden. Materialverluste sind wahrscheinlich, allerdings nicht in größerem Umfang31. 28 In: Staatsarchiv Landshut, Rentkastenamt Straubing, A1194, 51 rechts. Ob dies für alle Verfahren zwischen 1570 und 1770 gilt, kann nicht verifiziert werden. 29 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P14, Deckel. Hier eine Akte aus den Jahren 1667 bis 1673 in zeitlich direktem Zusammenhang mit der zitierten Instruktion. 30 Vgl. die Instruktion von 1574, nach welcher die Rentmeister „[j]edes Jhars ain mal das vmbreiten zuuerrichten schuldig“ seien, in: Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169, 2 rechts. 31 Zwar sind Aktenverluste wahrscheinlich, wie Itinerare aus dem Rentkastenamt Straubing vermuten lassen, so dass die tatsächliche Verfahrensfrequenz höher gewesen sein dürfte. Eine Dezimierung des Materials um neun Zehntel wird durch die Quellenfunde allerdings nicht gestützt; vgl. die entsprechenden Überlegungen bei Gerhard Schwertl, Die niederbayerischen Rentmeister-Umrittsprotokolle im Staatsarchiv Landshut, in: Bewahren und Umgestalten. Aus der Arbeit der Staatlichen Archive Bayerns. Walter Jaroschka zum 60. Geburts-
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Am Beispiel der Einrichtung des Verfahrens werden im Folgenden die Handlungsgrammatiken der beteiligten Verwaltungsinstitutionen rekonstruiert. Durch den Abgleich von Instruktionen und Verfahrensakten32 aus den ersten 35 Jahren nach der Einrichtung der landesherrlichen Visitation wird eine komplexe Dialogstruktur zwischen Ober- und Mittelbehörden sichtbar. Dabei werden aus Gründen der Bündigkeit die normativen Bezugsquellen nicht vollständig vorgestellt, sondern nur die Visitationsinstruktionen aus den Jahren 1574 und 1613 in den Blick genommen. Gegenstand des Abgleichs ist die Entwicklung von Dokumentationsformen und Visitationsthemen. Zunächst zur Dokumentation des landesherrlichen Verfahrens: Direkt ab dem Beginn des Verfahrens im Jahr 157933 legten die Mittelbehörden nach jeder erfolgten Visitationsreise eine buchförmig gebundene Akte an. Auf eine Präambel folgt jeweils der erste von zwei Aktenteilen. In diesem summarischen Teil führten die Mittelbehörden unabhängig von den Ergebnissen auf, welche Arbeiten sie bei der Bereisung vorgenommen hatten. In Landshut wählte man seit Beginn der Aufzeichnungen für die Untergliederung des summarischen Teils eine Anordnung nach Amtsgruppen: Gleichbleibende Gliederungsüberschriften sind die Rubriken „Pfleger Richter vnd Grichtschreiber“34, „Casstner[…]“35, „[d]ie Ambtleuth Anlannget“36, „[i]n gemain Zuerfarn“37, sowie die geistlichen Sachen38. Als zweiter und letzter Aktenteil folgt ein deskriptiver Abschnitt mit den Ergebnisprotokollen der Visitationsreise. Interessant ist nun, dass die früh ausdifferenzierten Dokumentationsformen nicht anhand der Vorgaben aus der Instruktionen zu erklären sind, denn in keiner der beiden ersten Instruktionen wird die Dokumentation als eigener Verfahrensschritt abgehandelt. So widmet sich die Instruktion von 1574 den dokumentarischen Anforderungen nur sehr vage: Der Rentmeister sei verpflichtet, „was er also erfahren würde, vnns dasselb Mündlich oder schrifftlich zuewissen“39 zu machen. Dem entspricht, dass sich die Mittelbehörde in Landshut bemüßigt sah, die Oberbehörden über den Sinn ihrer selbst entworfenen Aktengliederung in summarischen und deskriptitag, hrsg. von Hermann Rumschöttel, München 1992, 186 – 197, 189 – 190. Die angegebenen Bestände der Alten Amtsregistratur I 62 sind im Staatsarchiv Landshut nicht mehr auffindbar. 32 Unter Normen werden hier amtsinterne Anordnungen verstanden. 33 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1. 34 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1, 1 rechts. 35 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1, 4 links. 36 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1, 5 links. 37 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P2, 5 links. 38 In: Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169, 6 links – 8 links. Kirchliche und geistliche Fragen spielen 1574 nur als Ergänzung zu vorangegangenen Hinweisen eine Rolle und erhalten erst in der nachfolgenden Instruktion aus dem Jahr 1613 eine eigene Rubrik. 39 In: Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169, 3, 4.
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ven Teil überhaupt erst einmal aufzuklären: Um dem Vorwurf der Untätigkeit vorzubeugen, gibt das Rentamt an, in einigen Unterbezirken zwar auf die Protokolle, nicht aber auf die Visitation selbst verzichtet zu haben. Dort sei aber nun einmal „nichts […] über die Im Anfanng [d. h. im summarischen Teil; Anm. B. N.] beschribne Puncten, Nottwenndig zubeuelchen gewesst“40. Die Entwicklung der Dokumentationsformen ist somit als Ergebnis eigenständigen administrativen Handelns zu verstehen: Die Mittelbehörden kombinierten bereits eingeübte Dokumentationstechniken anderer Verwaltungsverfahren mit neuen Überlegungen. So wurde die Gestaltung der Protokolle an die Dokumentation der so genannten Viztumswändelumritte angelehnt, die der Einziehung von Gerichtsgeldern dienten41. Komplett neu ergänzt wurde hingegen der summarische Teil. Mit diesem bezeugten die Mittelbehörden nicht nur, dass sie die landesherrlichen Anforderungen an die Einführung des neuen Visitationsverfahrens zur Kenntnis genommen hatten, sondern erzeugten Praxisnähe: Der summarische Teil der Akten entlastete den deskriptiven Teil, in dem die Ergebnisse detailliert protokolliert wurden. Ähnlich wie 1574 ist auch in der Instruktion von 1613 die Dokumentation des Verfahrens kein explizites Thema. Hieraus aber zu schließen, dass die Dokumentation für die Oberbehörden nicht erwähnenswert gewesen sei, geht fehl. Denn erweitert man die Analyse über instrumentelle Aspekte hinaus, so wird deutlich, dass die von den Mittelbehörden verwendeten Dokumentationsformen prägenden Einfluss auf die oberbehördliche Arbeit ausgeübt haben: Die Hofkammer übernahm für ihre Instruktion die Gliederung der Visitationsakten. So wurde im Jahr 1613 auch die Instruktion in einer an die Akten angelehnten Form zweigeteilt. Im ersten Teil wurden dementsprechend allgemeine Hinweise zum Verfahren formuliert, während im zweiten Teil speziellere Anweisungen gegeben wurden. Als Untergliederung dienten dabei die oben zitierten Überschriften der Visitationsakten: So ordnet auch die Instruktion die Themen vor allem nach Amtsgruppen, die in derselben Reihenfolge genannt werden wie in den Akten42. Dieser Befund gewinnt dabei seine Bedeutung nicht aus der Beobachtung, dass Zuständigkeiten delegiert wurden, sondern aus dem empirischen Nachweis, dass zwischen Norm und Praxis ein Dialogverhältnis besteht: Hierarchisch übergeordnete Verwaltungsebenen nahmen Praktiken zum 40 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1, 13 rechts. „Zubeuelchen“ ist am treffendsten mit „anzubefehlen“ zu übertragen. In den hier verwendeten Akten findet sich das Wort als Verb und Substantiv und changiert – rechtshistorisch-semantisch nicht uninteressant – je nach Bezug zwischen der Bedeutung von „befehlen“ und „anvertrauen“. Insofern bleibt Walter Ziegler, Altbayern von 1550 – 1651. Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abteilung I: Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Band 3, Teil 2, München 1992, 810, Fußnote 26 mit seiner Übertragung des Wortes als „anvertrauen“ hinter dem Bedeutungsspektrum des Wortes etwas zurück. 41 Vgl. die im Staatsarchiv München teilweise unter die Visitationsakten gemischten Viztumswändelbücher, so z. B. Staatsarchiv München, Rentmeister Literalia, 77/347 (S-Film 152). Bis 1609 sind durchgängig entsprechende Viztumswändelbücher nachweisbar. 42 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Regierung Straubing, A 3966, 33 rechts, 38 links, 40 links.
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Vorbild des eigenen Arbeitens, die vorher von hierarchisch untergeordneten Ebenen eingeführt worden waren. Ähnliche Prozesse sind auch im Bereich der thematischen Ausrichtung des Verfahrens zu beobachten, wobei die folgende Darstellung nur einen der drei in Frage kommenden Bereiche exemplarisch fokussiert43. Während in der Instruktion von 1574 vor allem die Kontrolle policeylicher44 und juristischer45 Angelegenheiten, sowie die Überprüfung von lokalen Amtsträgern46 vorgeschrieben werden, ergänzten die Mittelbehörden die Inspektionsreisen um ein in der Instruktion nicht thematisiertes Element. So erscheinen in der Instruktion die Untertanen trotz der Darlegung von allgemeinen policeylichen Ordnungsvorstellungen nur als Objekt von Überprüfung, während sie bereits in der ersten Visitationsakte als vom Verfahren adressierte Subjekte erwähnt werden, deren Schutz durch die Visitation überwacht und gewährleistet werden soll. Das Rentamt Landshut hebt beispielsweise wiederholt hervor, man habe den lokalen Amtleuten die außervorschriftsmäßige Belastung von Untertanen untersagt. Den Richtern etwa wird befohlen, „[d]ie Vnnderthonen mit Vnnd in den Verhörn nit wider die gebür Aufzeziehen“47. Und mehr noch: Alle zuvor auch von der Instruktion vorgeschriebenen Gegenstände der Inspektionsreise werden von den Mittelbehörden auf dieses Thema rückbezogen. Die Ergänzung ist insofern nicht überraschend, als es sich beim Schutz von Untertanen um ein Thema handelte, das direkt dem lokalen Administrationsalltag entsprang: Klagen von Untertanen über Unterschlagungen fanden sicher nicht selten den Weg zu den Mittelbehörden, die als zweite gerichtliche Instanz fungierten. Entsprechend kann der Schutz von Untertanen als Maßnahme zur Entlastung des mittelbehördlichen Amtsalltags gedient haben. Der Schutz von Untertanen war in politischen Schriften über die rechte christliche Herrschaft natürlich topisch. Bei der Lektüre der Visitationsakten allerdings wird deutlich, dass die Mittelbehörden eine Konkretisierung des Themas vornahmen, indem sie den Untertanenschutz überhaupt erst als Thema des Verfahrens definierten, und bei der Durchführung diesen in actu zum festen Bestandteil der Visitation machten. Die Oberbehörden erkannten diese Themenerweiterung dann insofern an, als sie für die zweite Instruktion von 1613 teilweise wortwörtlich die entsprechenden Passagen aus den Akten übernahmen48. Dabei beschränkt sich die Instruktion aber nicht 43
Bei den anderen beiden Themenbereichen handelt es sich um kirchliche und geistliche Fragen sowie die Inspektion von landesherrlichen Städten. Die gesamte Abhandlung erfolgt in der Dissertationsschrift, die diesem Beitrag zugrunde liegt. 44 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169; z. B. 4 rechts, 6 links, 7 links, 8 links, 10 links. 45 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169; z. B. 5 links. 46 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Lehenprobstamt Landshut, A1169; z. B. 6 links, 7 rechts, 9 links, 10 rechts. 47 In: Staatsarchiv Landshut, Rentamt Landshut, P1, 2 rechts. 48 Vgl. Staatsarchiv Landshut, Regierung Straubing, A3966, 13 links und rechts, 14 links, 23 rechts.
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auf Einzelübernahmen, sondern entwickelt für das Thema eine eigene Rubrik: Offenbar angeregt durch die Berichte der Mittelbehörden wird der Armut von Untertanen nun ein langer Absatz gewidmet, in dem zahlreiche, teilweise praxisfern wirkende Vorschläge gemacht werden – darunter derjenige, wonach sich ausgerechnet die Metzger zur Verbesserung des Nahrungsstandes der Untertanen ab sofort durch gerechtes Auswiegen verantwortlicher zeigen sollten49. Hier wird deutlich, dass die Oberbehörden die inhaltliche Ausgestaltung ihrer Normvorgaben auch daran orientierten, was ihnen zuvor von den Mittelbehörden als Ergänzung des Themenspektrums des Verfahrens präsentiert wurde. III. Ergebnisse der Studie Im Folgenden werden die Ergebnisse der hier komprimiert vorgestellten Analyse des landesherrlichen Visitationsverfahrens zusammengefasst. Die Ausgangsfrage der Untersuchung lautete, welche Erkenntnisse über die Handlungsmöglichkeiten von Verwaltungsbehörden gewonnen werden können durch eine diachron angelegte Auswertung administrativer Verhaltensweisen. Als erstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Einführung des neuen Verfahrens der gängigen Vorstellung von Anordnung und Ausführung in hierarchischen Systemen entspricht. So geht dem ersten von Mittelbehörden ausgeführten landesherrlichen Visitationsverfahren im Jahr 1579 eine oberbehördliche Visitationsinstruktion voraus. Die Initiative zur Einführung des landesherrlichen Visitationsverfahrens liegt also bei der hierarchisch übergeordneten Verwaltungsebene. Zweitens lässt sich feststellen, dass es dem hierarchischen Duktus von Verwaltungen offensichtlich nicht zuwiderläuft, wenn untergeordnete Behörden Verfahren in der Praxis selbständig ergänzen, also ohne gesonderte Anordnung tätig werden. Dies geschieht offensichtlich vor allem dann, wenn Instruktionen keine konkreten Regelungen enthalten, wo diese zur praktischen Durchführung von Verfahren den Mittelbehörden notwendig erscheinen. Da Differenzen zwischen Anordnungen und Verfahrenspraxis zur administrativen Alltagsrealität gehören, werden Ergänzungen oder Erweiterungen von Verfahren durch die Beteiligten nicht problematisiert, solange der hierarchische Grundkonsens unwidersprochen bleibt. Es wird drittens deutlich, dass die Ergänzungen von Verfahren im Rahmen ihrer praktischen Durchführung von unterschiedlicher Art und Eingriffstiefe sind. So wird die inhaltliche Gestaltung offensichtlich grundsätzlich als Feld übergeordneter Behörden gewertet, so dass sich die Möglichkeit einer selbständigen Erweiterung des Themenspektrums für untergeordnete Behörden nur dort eröffnet, wo dies nach Maßgabe der Verfahrenspraxis als notwendig galt. Es handelt sich hierbei in aller Regel um Bereiche, die einen engen inhaltlichen Bezug zum administrativen Alltag von Mittelbehörden erkennen lassen. Anders verhält sich dies bei den Doku49
Vgl. Staatsarchiv Landshut, Regierung Straubing, A3966, 20 rechts.
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mentationsmethoden. Diese werden an der Schwelle zum 17. Jahrhundert offenbar als genuines Aufgabenfeld der durchführenden untergeordneten Behörden gewertet und gehören damit vollständig in deren Verantwortungsbereich. Die Verfahrensakten werden dann von den Mittelbehörden auf der Basis einer Art Setzkastensystem entworfen, bei dem bereits eingeübte und durch die Oberbehörden akzeptierte administrative Dokumentationspraktiken als Basis verwendet und hinsichtlich der hinzukommenden Anforderungen neu kombiniert sowie weiterentwickelt werden. Die Untersuchung zeigt, dass administratives Handeln von hierarchischen Beziehungen abhängig ist. Selbständiges Handeln untergeordneter Behörden wird dort akzeptiert, wo es diesem Grundkonsens erstens nicht zuwiderläuft, zweitens ohnehin als deren genuines Aufgabengebiet erscheint, oder drittens im Rahmen der praktischen Realisierung von Verfahren hilfreich oder notwendig ist. Entsprechend selbstverständlich verwenden übergeordnete Behörden die Praxisberichte für ihre eigene weitere Arbeit mit Bezug zum Verfahren. Dieser Verfahrenspragmatismus ist, ähnlich wie es Hierarchien sind, Teil des administrativen Grundkonsenses. Er führt zu dem, was hier mit Normativität des Praktischen bezeichnet werden soll50. IV. Konzeptionelle Ergebnisse und Ausblick: Verwaltung – kein Grottenolm, aber ein Glasperlenspiel? Welche Charakteristika können der Kultur des hier analysierten Verwaltungssystems im Dreieck zwischen Settings, Zielen und Handlungsgrammatiken zugeschrieben werden? Es handelt es sich einerseits um eine Kultur, die von Hierarchien geprägt ist, welche aber andererseits durch praxisbezogene Interventionen durchbrochen werden können. Hierarchische Strukturen finden sich somit ergänzt von dem, was hier Praktiken der eingeschränkten Selbstbeauftragung genannt werden soll. Diese Praktiken sind daran gebunden, dass der administrative Grundkonsens hierarchischer Organisation respektiert und nur aus arbeitspragmatischen Gründen aufgebrochen wird. Sie wirken dort, wo es aus praktischen Gründen nicht allein um die Interpretation von Anordnungen gehen kann, sondern wo Aufgaben und Tätigkeiten selbständig entworfen werden. Dies ist auch der Grund, warum Praktiken der eingeschränkten Selbstbeauftragung in ihrer alltäglichen Ausführung meist nicht diskutiert werden und oftmals sogar unbemerkt bleiben: Sie sind nicht subversiv und stellen somit keine Bedrohung von Hierarchien dar – sondern verstärken sie durch Zuarbeit. Außerdem ist administrative Kultur von komplexen Handlungsgrammatiken geprägt: Eingeschränkte Selbstbeauftragung und Verfahrenspragmatismus sind Resultat und Bestandteil gemeinsamer praktischer Erfahrungen. Es wird deutlich, dass offenbar keine explizite Auseinandersetzung darüber stattfindet, welcher genaue Rah50 Angelehnt an die auch außerhalb der Staatsrechtslehre vielzitierte Formel der „normativen Kraft des Faktischen“ von Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (durchgesehen und ergänzt von Walter Jellinek), Berlin 1914, 338.
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men bei Verfahrensergänzungen vorgegeben ist. Es scheint vielmehr ein impliziter Konsens darüber zu bestehen, in welchem Rahmen an welcher Stelle des administrativen Alltags selbständig gehandelt werden kann. Diese langfristig prägenden überpersonellen Verfahrensstrukturen treten noch deutlicher hervor, wenn die Entwicklung des gesamten Verfahrens in Bayern bis zu seinem Ende um 1770 betrachtet wird. Dies geschieht in der Dissertationsschrift, auf deren Grundlage dieser Beitrag verfasst wurde. Zum Schluss soll noch einmal die Ausgangsannahme des Beitrags fokussiert werden. Die Analyse administrativer Prozesse, so die hier vertretene Überzeugung, sollte im Zuge einer dezidiert inneradministrativen Perspektive geleistet werden. Dennoch muss dem Eindruck widersprochen werden, dass bei einer solchen Arbeit Verwaltungen zu einem perpetuum mobile geraten, das jenseits von Macht- und Herrschaftsprozessen steht. Vielmehr ist die Beherrschung von Menschen und die Organisation von Zusammenleben das übergeordnete Ziel, welches die Etablierung administrativer Praktiken überhaupt erst initiiert. Trotzdem lassen sich administrative Prozesse nur auf einer Grundlage geeigneter Konzepte analysieren, die vor allem dazu taugen sollten, kontingente Emergenzen des administrativen Alltagsgeschäfts freizulegen statt es auf ,Herrschaftsoutput‘ zu reduzieren. Auch wenn dies im vorliegenden Beitrag kein Untersuchungsgegenstand war: Neben der Verwaltungsgeschichte wird vor allem die Analyse vormoderner Herrschaft davon profitieren, denn die Bedeutung administrativen Handelns für die im foucaultschen Sinn verstandene Herrschaftsausübung kann auf diese Weise empirisch gesättigt in den Blick genommen werden.
Die gute Schreibart in Geschäften. Normen und Praxis der Verwaltungssprache ca. 1750 – 1840* Von Klaus Margreiter, Speyer I. Einleitung Etwa zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entlud sich erstmals der Unmut über den Stil der Verwaltungssprache, und die publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Problem sollte bis in die Gegenwart nicht mehr abreißen. Es ist unbekannt, wer diese Welle ausgelöst und ob es dafür einen konkreten Anlass gegeben hat. Aber sicher war es kein Zufall, dass sie mit dem Beginn der fundamentalsten Reform zusammenfiel, der die öffentliche Verwaltung in den Staaten des Alten Reichs jemals unterzogen wurde. An seinem Beginn, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, hatte sich in der politischen Führung der Habsburgermonarchie gerade die Einsicht durchgesetzt, dass ihr Bestand ohne eine deutliche Verbesserung der Leistungsfähigkeit ihrer staatlichen Organe nicht sicherzustellen war. Damit wurde allenthalben – nicht nur in Staaten, die mit Preußen konkurrieren mussten – eine Serie von Evaluationen, Reorganisationen, Ersetzungen und Neugründungen von Herrschaftsinstitutionen in Gang gesetzt, die nicht nur deren Leistung verbesserten, sondern auch ihren Zuständigkeitsumfang ausdehnten und dadurch den Staat in seiner modernen Form erst hervorbrachten. Gegen Ende des Untersuchungszeitraums, um 1840, zeichnete sich bereits die erste schwere Krise der bürokratischen Herrschaft modernen Typs ab. Die deutschsprachigen Kanzleien hatten in der frühen Neuzeit einen ausgeprägten Jargon entwickelt, der sich als außerordentlich beständig erwies und der den Sprachduktus des 16. und 17. Jahrhunderts kaum verändert in das 18. Jahrhundert tradiert hatte. In dieser Hinsicht zeigte sich das Verwaltungspersonal als so unflexibel, dass die Kritik am Kanzleistil bis in den Vormärz anhielt, während sich die Verwaltungen und die natürliche Sprache im selben Zeitraum stark geändert hatten. In einem System, das die Verwaltungsgeschichtsforschung und in jüngerer Zeit die Kulturgeschichte der Verwaltung als ein ausgesprochen dynamisches beschrieben haben, bildeten die Gesetze des stylus curiae ein stabiles Element. Freilich kann man nicht davon ausgehen, dass sich die Verwaltungssprache mit der Verwaltung notwendig ändern müsse. Eindeutige Evidenzen für eine solche Gesetzmäßigkeit liegen nicht * Die Forschungen zu diesem Thema wurden am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt.
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vor. Dennoch wiesen Sprachkritiker wie Verwaltungsexperten auf die Inkongruenz hin, die zwischen einer modernisierten Verwaltung und einer unmodernen Sprache bestehe. Die Verwaltung und ihre Sprache stehen zueinander in einem spezifischen Wechselwirkungsverhältnis. Einerseits unterliegt die Verwaltungssprache mächtigen Organisationszwängen: Sie ist das wichtigste Werkzeug der Verwaltung und muss in diesem Sinn funktionieren. Ihre Aussagen müssen verfahrensfest sein, also so formuliert werden, dass sie rechtlich möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Das gilt für die Verständigung innerhalb und zwischen Behörden ebenso wie für die Kommunikation mit der Außenwelt. Wie jede Fachsprache integriert sie zugleich die Mitglieder einer Sprechergruppe, in diesem Fall die Mitarbeiter von Behörden. Andererseits beeinflusst die Sprache nicht nur die Praxis der Verwaltung, sondern auch die Regeln des allgemeinen Sprachgebrauchs. Um mit Behörden erfolgreich kommunizieren zu können, muss man in der Lage sein, sich bis zu einem gewissen Grad ihrem Sprachgebrauch anzupassen, was nicht immer gelingt1. Die Quellen zeigen, dass beide Komponenten dieser Beziehung sowohl von Kritikern der Verwaltungssprache, als auch von ihren scheinbaren Antagonisten, den Instruktoren für den Kanzleistil, erkannt und benannt wurden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trafen in Deutschland (im Heiligen Römischen Reich) zwei historisch bedeutende Entwicklungen aufeinander, die die Verwaltungssprache zu einem Thema der öffentlichen Diskussion werden ließen. Zunächst war die Frage, wie besonders die großen Flächenstaaten effizient und nach modernen, d. h. im Sinn der Aufklärung vernünftigen, Grundsätzen zu verwalten seien, permanent Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Zur selben Zeit widmeten sich die Wissenschaft und der aufklärerische Diskurs ebenso intensiv der Sprache, wobei sich engagierte Aufklärer auch auf diesem Feld nicht auf Beschreibung und Analyse beschränkten, sondern daraus präskriptive (normative) Aussagen über eine sowohl ästhetischen als auch praktischen Ansprüchen genügende Sprache ableiteten. Adelung und Gottsched waren die wichtigsten Exponenten einer Phase der deutschen Sprachgeschichte, für die das Anliegen einer Normierung der Hochsprache kennzeichnend war2. Als Teil des aufklärerischen Diskurses war für diese Diskussion typisch, dass sie öffentlich und mit starker Partizipation geführt wurde3.
1 Ulrich Knoop, Kritik der Institutionensprache am Beispiel der Verwaltungssprache, in: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft), Berlin/New York 1998, 866 – 874, 867 f.; Lutz Raphael, Die Sprache der Verwaltung. Politische Kommunikation zwischen Dorf und Verwaltern, in: Landgemeinden im Übergang zum modernen Staat. Vergleichende Mikrostudien im linksrheinischen Raum, hrsg. v. Norbert Franz u. a., Mainz 1999, 183 – 206, 189 – 191; Jochen Rehbein, Die Verwendung von Institutionensprache in Ämtern und Behörden, in: Fachsprachen, 660 – 675, 662. 2 Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band II. 17. und 18. Jahrhundert, Berlin/New York 1994, 171 – 177.
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In der Auseinandersetzung mit der Verwaltungssprache konvergierten somit zwei wichtige Debatten der Zeit, und sie wurde dementsprechend ausführlich erörtert. Die äußeren Formen dieser Erörterungen waren wiederum typisch für die Koinzidenz zweier Diskurse in einem Thema: Einmal wurde die Verwaltungssprache von einem allgemein an Sprache und Literatur interessierten Publikum thematisiert. Auf diese Weise musste aber die Verwaltung selbst zum Gegenstand dieses Diskurses werden, denn die Sprache der Administration ließ sich nur sinnvoll erörtern, wenn die spezifischen Anforderungen berücksichtigt wurden, die die Administration an ihre Sprache stellte. Kritisierte man den administrativen Sprachgebrauch, so wurden damit implizit auch einzelne Praktiken der Verwaltung kritisiert. Dieser Diskurs endete in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts. Nach den Napoleonischen Kriegen wurde weiterhin Verwaltungssprachkritik geübt, wenn auch daraus keine öffentliche Debatte mehr entstand und die Anzahl der Publikationen zu diesem Thema zurückging. Diese Untersuchung beschreibt die Beziehung zwischen der Verwaltung und den Verwalteten anhand von Aussagen, die über die Sprache der Verwaltung gemacht wurden. Solche Aussagen legten entweder positiv fest, wie die Verwaltungssprache sein sollte, oder gaben Urteile über sie ab. Als empirische Basis dienen präskriptive Aussagen über die Verwaltungssprache, die Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln sowie Hand- und Lehrbüchern zur Verwaltungspraxis oder speziell zum Kanzleioder Geschäftsstil entnommen wurden. Neben Normen und Kritik enthalten Lehrund Handbücher wertvolle Informationen über die Kommunikations- und Interaktionspraxis der Verwaltung, also den guten Ton im Amt, indem sie praktisch fundierte Empfehlungen zu den in bestimmten Situationen jeweils anzuwendenden Sprachstilen gaben. Diese Ratschläge geben wiederum Erfahrungen mit Standardsituationen im Verwaltungsalltag, ihre Bewertung und bewährte Reaktionsmuster wieder. Je weiter die Kompetenzen der Verwaltung ausgedehnt wurden, umso wichtiger wurden solche Informationen für die Verwalteten. Ferner wird versucht, die Normen des 18. und 19. Jahrhunderts miteinander zu vergleichen, um festzustellen, ob sich die politischen Veränderungen und der Wandel der Verwaltungen nach den Koalitionskriegen in den Sprachnormen nachweisen lassen, etwa in Form eines neuen Verständnisses der Rolle und der Aufgaben des Staats und seiner Organe oder neuer ästhetischer Werte. Allerdings lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen, ob Veränderungen in der Bewertung der Sprache auf Veränderungen der Sprache selbst oder der Kriterien zurückgehen, nach denen sie beurteilt wurde. Da bei Vergleichen mit mehreren Variablen die Ursachen für die ermittelten Unterschiede nicht eindeutig bestimmt werden können, müssen die für die Beurteilung relevanten Faktoren indirekt aus dem Kontext der Argumentation erschlossen werden. 3 Ulrich Ricken, Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution (Sprache und Gesellschaft, 21), Berlin 1990, 242.
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II. Die Eigenschaften der guten Schreibart Spätestens seit Friedrich Carl von Moser 1749 seinen Versuch einer Staatsgrammatik veröffentlicht hatte, war die deutsche Verwaltungssprache ein Thema des aufgeklärten und wissenschaftlichen Diskurses4. Zahlreiche Autoren, unter ihnen prominente Vertreter der aufgeklärten Publizistik wie Christoph Adelung, Friedrich August Bürger, Leopold von Goeckingk, Christoph Gottsched, Heinrich Gottlob von Justi und Joseph von Sonnenfels machten ihrem Ärger über eine Sprache Luft, die sämtliche gesellschaftlichen Entwicklungen und die aktuelle Modernisierung der Ausdrucksweise zu ignorieren schien. Dem Kanzleistil wurden vor allem sprachliche Inkohärenz (Buntscheckigkeit), Weitschweifigkeit und ein ausgeprägter Hang zur Servilität (Kriecherei) vorgeworfen. Die Autoren der Aufklärungszeit beschrieben den Kanzleistil häufig als verworren, während ihn die Autoren des Vormärz meistens als verwickelt bezeichneten. Schleppend, schwerfällig, undeutlich und unverständlich waren weitere wiederholt gebrauchte Kennzeichnungen. Nur wer gegen diese Sprache „abgehärtet“ sei, stellte Daniel Franz Rumpf aus Berlin 1822 fest, sei in der Lage, Verwaltungstexten die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verlangten5. Den Beamten wurde nicht nur vorgehalten, Männer ohne Geist und Geschmack zu sein. Ihnen wurde darüber hinaus Obskurantismus und die Weigerung unterstellt, sich den Untertanen in einer Sprache mitzuteilen, die deren staatsbürgerlichem Selbstverständnis entsprach. Überdeutlich waren die Hinweise darauf, dass die Verwaltungssprache als Zeremonialsprache nicht mehr funktionierte, dass das Publikum sich vom manierierten Raunen einer juristischen Geheimwissenschaft nicht mehr beeindrucken ließ. Die aufgeklärten Autoren gingen von einer Haltung der kritischen und manchmal skeptischen Distanz gegenüber den Riten des Ancien régime aus, die unter Gebildeten zweifellos verbreitet war und ihre Verachtung für die sprachlichen Erscheinungsformen des absolutistischen Fürstenstaats erklärt. Sie geben aber eher den Prozess der Integration eines Milieus durch Identifikation mit gemeinsamen ästhetischen Werten wieder, als eine repräsentative Einschätzung der Wirkung des Sprachzeremoniells auf die Untertanen. Die meisten Autoren bestimmten den Geschäftsstil freilich nicht nur negativ, nicht einmal jene, deren eigentliches Anliegen es war, seine negativen Eigenschaften zu geißeln. Sofern die verlangten Eigenschaften explizit aufgelistet wurden, umfassten 4
Peter Becker, „…wie wenig die Reform den alten Sauerteig ausgefegt hat“. Zur Reform der Verwaltungssprache im späten 18. Jahrhundert aus vergleichender Perspektive, in: Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive, hrsg. v. Hans Erich Bödeker/Martin Gierl (Veröffentlichungen des Max Plank Instituts für Geschichte, 224), Göttingen 2007, 69 – 97; Martin J. Heller, Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe, 97), Frankfurt am Main/Bern 1992; Klaus Margreiter, Das Kanzleizeremoniell und der gute Geschmack. Verwaltungssprachkritik 1749 – 1839, in: HZ, erscheint 2013. 5 Johann Daniel Friedrich Rumpf, Der Geschäftsstyl in Amts- und Privatvorträgen, gegründet auf die Kunst richtig zu denken und sich deutlich, bestimmt und schön auszudrücken; mit belehrenden Beispielen zum Selbstunterricht, Reutlingen 1822, 177 f.
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die Anforderungskataloge zwischen drei (z. B. Justi) und zwölf Merkmale (z. B. Riedel und Seng), die sich in den wichtigsten Punkten deckten. Für diese Untersuchung wurde aus einer unsystematischen Sammlung von 735 Textpassagen von 38 Autoren, in denen präskriptive Aussagen über die Verwaltungssprache gemacht wurden, auf die Häufigkeit bestimmter geforderter Eigenschaften geschlossen. Von den analysierten Texten stammten 517 aus dem 18. Jahrhundert (1741 – 1800), 218 aus dem 19. Jahrhundert (1801 – 1839). Diese Auswertung brachte ein eindeutiges Ergebnis: Die mit Abstand am häufigsten geforderten Eigenschaften waren Deutlichkeit (104 Nennungen), Kürze (87 Nennungen), Schönheit (72 Nennungen) und Verständlichkeit (66 Nennungen)6. Eine getrennte Auswertung für das 18. bzw. das 19. Jahrhundert ergab jeweils dasselbe Resultat in derselben Reihung. 1. Kürze Angesichts der von sämtlichen Autoren konstatierten Weitschweifigkeit der Verwaltungssprache im 18. Jahrhundert läge die Vermutung nahe, die Forderung nach Kürze könnte lediglich eine Reaktion auf diese Praxis gewesen sein. Allerdings wurde sie nicht erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und im Zusammenhang mit der Welle der Verwaltungssprachkritik erhoben, sondern bereits im 1673 erstmals erschienenen ältesten deutschen Verwaltungslehrbuch Teutscher Secretariat-Kunst von Kaspar Stieler7. Umso erstaunlicher ist, wie lange und wie konsequent diese Maxime ignoriert wurde. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass sie mit zwei anderen Werten des Kanzleistils kollidierte, nämlich der Deutlichkeit und den Anforderungen des Kanzleizeremoniells. Diese verlangte maximale Präzision, die oft nur durch größere Ausführlichkeit erreicht werden kann, jene opferte eine lapidare zu Gunsten einer feierlicheren Ausdrucksweise. Zudem wurde ,Kürze‘ von den meisten Autoren durch die Abwesenheit von Überflüssigem recht dehnbar bestimmt8. 6 Weitere ausgewertete Eigenschaften waren: allgemeinverständlich (39), logisch (38), natürlich (36), lebhaft (32), rein (28), schicklich (28), richtig (27), höflich (21), klar (20), einfach (19), ernst (15) und gründlich (7). 7 Kaspar von Stieler/Joachim Friedrich Feller, Teutscher Secretariat-Kunst, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1726, 68 f. 8 Johann Alphons De Lugo, Sistematisches Handbuch für Jedermann, der Geschäftsaufsätze zu entwerfen hat. Bd. 1 für Privatpersonen, 3. Aufl., Wien 1784, 13. Adolf Nitsch, Praktische Anweisung zum deutschen Geschäfts- und Curialstile überhaupt, und in Anwendung auf das Forstgeschäftswesen insbesondere, Dresden/Leipzig 1827, 11; Georg Rechberger, Anleitung zum geistlichen Geschäftsstyl in den österreichischen Staaten mit vielen Beispielen. Vorzüglich für Seelsorger (Ein Anhang zum Handbuche des österreichischen Kirchenrechts), Linz 1807, 17; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 131; Georg Scheidlein, Erklärungen über den Geschäftsstyl in den österreichischen Erblanden, Wien 1794, 61; Fidel Seng, Geistlicher Geschäfts-Styl für beide christliche Confessionen im Großherzogthum Baden, oder der Geistliche in seinen schriftlichen Geschäften, als Beamter des bürgerlichen Standes … nebst einem Anhang von Formularien, Freiburg 1839, 3; Joseph von Sonnenfels, Über den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende österreichische Kanzleybeamten, 2. Aufl., Wien 1785, 58.
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Wieviel Präzision und Zeremoniell jeweils nötig waren, blieb der Auslegung der Beamten überlassen. Manche Autoren wie der Erlanger Kameralist Heinrich Bensen und der Wiener Jurist Georg Scheidlein schienen erkannt zu haben, dass Ausführlichkeit und Decorum einen Grenznutzen haben. Sie wiesen darauf hin, dass Kürze die Voraussetzung für die Präzision sei und dass kurze Texte dem Anliegen in der Praxis förderlicher seien als besonders detaillierte und umständliche9. Zeremoniell bedeutete in der deutschen Verwaltungssprache vor allem die akkurate Anwendung der Kurialien. Darunter verstand man sämtliche Formen und Formeln der Respektsäußerung, namentlich die mehr oder weniger langen Anredeund Grußformeln, die jedes Kanzleischreiben einzuleiten und abzuschließen hatten. Zwei Beispiele aus Christian Lünigs und Wilhelm August Wirths 1737 erschienenen Staatstitularbuch können nur eine Ahnung davon vermitteln, wie umfangreich und diffizil dieser Gegenstand war. Der Magistrat der Residenzstadt des Erzbischofs von Salzburg, war wie folgt zu adressieren: „Denen Hoch=Edlen, Gestrengen, Vesten, Fürsichtigen und Hochweisen Herren Stadt=Syndico, Bürgermeistern und Rath zu Salzburg etc.“10
Die Stadt Kassel, ebenfalls Residenz eines Reichsfürsten, hatte Anspruch auf folgende Titulatur: „Denen Hoch= und Wohl=Edlen, Vesten und Hochgelahrten, auch Wohl=Ehrenvesten, Großachtbaren, Fürsichtigen, Hoch= und Wohlweisen Herren Bürgermeistern und Rath der Fürstlichen Heßischen Residentz und Festung Cassel etc.“11
Jeder der im Staatstitularbuch angeführten 141 verschiedenen Städtetitel war, ebenso wie hunderte weitere Titelvarianten von Fürsten und Standespersonen, verbindlich vorgeschrieben und, wie jedes andere Privileg, einklagbar. Für den Wiener Staatsrechtslehrer Christian August Beck war es ausschließlich ihr zeremonieller Charakter, der die Verwaltungssprache von anderen Sprachen unterschied12. Vor allem war es Moser, der die symbolischen Praktiken der Verwaltung in den Schriften Gedancken von dem Canzley-Decoro (1752) und dem Versuch einer Staats-Grammatik (1749) sammelte, ausführlich beschrieb und systematisierte. Mosers Staatsgrammatik ist eine detaillierte Untersuchung der Verwendung bestimmter Wörter und Wendungen in der Verwaltung, der Staatsrechtspraxis und der Politik. Decorum ist ein Fachbegriff der Rhetorik, der das Angemessene, Geziemende und
9 Heinrich Bensen, Versuch einer systematischen Entwickelung der Lehre von den Staatsgeschäfften und zwar in Hinsicht ihrer formalen Bestimmung für angehende Staatsbeamten, Erlangen 1802, 59; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 65. 10 Johann Christian Lünig/Wilhelm Ludwig Wirth, Neueröffnetes europäisches Staats-Titular-Buch […], Leipzig 1737, 508. 11 Ebd., 491. 12 Christian August Beck, Versuch einer Staatspraxis, oder Canzeleyübung, aus der Politik, dem Staats= und Völkerrechte, Wien 1754, 4. Vgl. auch Heller, Reform (Anm. 4), 162 f.
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Schickliche einer Rede bezeichnet13. Das Kanzleidecorum umfasste die gesamte zeremonielle Praxis von Behörden, also neben der Sprache auch den Zustand der Räumlichkeiten, die Sitzordnung, die Kleidung, diverse zeremonielle Handlungen (etwa die Verlesung von Anordnungen des Souveräns im Stehen) u.v.m.14 Die Benennung den Kanzleizeremoniells mit den Begriffen ,Decorum‘ und ,Grammatik‘ wies auf seinen sprachlichen Charakter hin. Scheidlein, seit 1779 Professor der Rechtswissenschaft in Wien, meinte: „Die Verhältnisse, in denen Privatleute mit Stellen, und diese untereinander stehen, haben die Wissenschaft der Curtesien nothwendig gemacht.“ Seine Benennung der Kurialien als Wissenschaft ist ein deutlicher Hinweis auf den Umfang der Materie. Für Johann N. Bischoff aus Helmstedt waren sie beschwerlich, und Adolf Nitsch (der eigentlich als Forstwirt Bedeutung erlangte) vermutete noch in der 1828 erschienenen Praktischen Anweisung zum deutschen Geschäfts- oder Curialstile, dass die Beherrschung der Kurialien selbst noch nach ihrer offiziellen Abschaffung in Preußen ein gründliches Studium erfordern würde15. Die unverhohlenste Kritik übte Goeckingk 1776 in seinem Aufsatz Über den Kanzleistil: „Das Komplimentieren in Berichten ist eben so eckelhaft als überflüssig. z. B., als gehet unser submissestes, jedoch ganz unvorschreibliches Gutachten dahin:‘ Oder: – ,Gestalten Ew. königl. Majestät wir dannenhero hiermit allerunterthänigst, jedoch ohne alle ungeziemende Maaßgebung, anlangen.‘ Wozu diese Albernheiten? Es versteht sich von selbst, daß der Diener dem Herrn weder vorschreiben, noch sich ungeziemend gegen ihn ausdrücken darf.“16
Kaum weniger unmissverständlich äußerte sich Rumpf mehr als 45 Jahre später über den preußischen Geschäftsstil: „[…] die Submission, die Devotion und Allerunterthänigkeit versteht sich ja von selbst, wozu nützt denn das Ausklingeln derselben in leeren Worten! […] Müssen nicht dem Staats-
13 Ian Rutherford, Decorum, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gerd Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, 423; Roland Kanz, Decorum, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Band 2, Stuttgart 2005, 873. 14 Moser begründete seine Wortwahl mit der weiten Verbreitung und der allgemeinen Gebräuchlichkeit des Begriffs ,Kanzleidecorum‘. Vgl. Friedrich Carl von Moser, Gedanken Von dem Cancley=Decoro, in: Kleine Schriften. Zur Erläuterung des Staats= und Völcker= Rechts, wie auch des Hof= und Canzley=Ceremoniels, Bd. 1, Frankfurt am Main 1751, 474 – 542, 478. Der Begriff ,Kanzleidecorum‘ wird freilich in keiner anderen Quelle gebraucht. 15 Johann Nicolaus Bischoff, Handbuch der teutschen Cantzley=Praxis für angehende Staatsbeamte und Geschäftsmänner, 1. Theil, von den allgemeinen Eigenschaften des Canzley=Styls, Helmstedt 1793, 326, 372; Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 28. Ähnlich Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 69. 16 Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, Ueber den Kanzleistil, in: Deutsches Museum 1 (1776), 207 – 245, 212. Derselbe Aufsatz erschien 1781 bei Trattnern in Wien unter der Autorschaft von Johann N. Lengenfelder als Raubdruck.
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oberhaupte oder seinen Repräsentanten, […], solche ewige Wiederholungen, zum Ekel werden, wenn nicht schon früh ihr Geschmackssinn verdorben und abgestumpft ist.“17
1794 stellte Scheidlein fest, niemand würde mehr bestreiten, „[d]aß diese Formeln [die Kurialien] der Würde des Aufsatzes nichts beylegen,“ womit er sowohl ihren kognitiven, wie ihren zeremoniellen Wert in Frage stellte18. In Rumpfs lebhafter Darstellung des Problems äußerte sich diese Auffassung u. a. in Form des ironischen Tons, in dem er in die Varianten der zeremoniellen Anrede einführte: „Gegen Könige und Fürsten ersterben wir in der tiefsten Ehrfurcht, Unterthänigkeit, Unterwürfigkeit; gegen Andere verharren wir in tiefer Ehrerbietung mit unbeschränkter Verehrung, mit unbegrenzter, ungemessener, ausgezeichneter, vollkommenster, schuldiger Hochachtung, mit besonderer Achtung, mit Ergebenheit; oder wir haben die Ehre, mit der größten, aufrichtigsten, ungeheucheltsten, reinsten, unveränderlichsten, unwandelbarsten Hochachtung, Achtung zu verharren; oder es ist die Versicherung der reinsten Hochachtung, in welchen wir uns unterzeichnen etc. Dem Einen haben wir die Ehre, dem Andern das Vergnügen etwas zu berichten; wir unterfangen, unterstehen uns, wagen es, erlauben uns, nehmen uns die Freiheit etc. etwas zu thun; wir erfüllen den Befehl, den Auftrag, den Wunsch etc. eines Andern. […]“19
Der Autor beschrieb hier die preußische Praxis auch nach der offiziellen Abschaffung der Kurialien, die 1810 auf Initiative Hardenbergs unter heftigem Protest des Staatsrats erfolgt war. Für Friedrich Wilhelm III. waren sie „der Stil des gemeinen Lebens längst verflossener Zeiten“, für die königlichen Räte dagegen „geradezu das, was dem Soldaten die Fahnen sind“, „das Wahrzeichen der monarchischen Regierungsweise“ gewesen, und offenkundig verstanden sie deren Abschaffung nicht als Verbot20. Noch 17 Jahre danach stellte Nitsch jede behördliche Textsorte in der 17 Johann Daniel Friedrich Rumpf, Der Preußische Staatssekretär. Ein Handbuch zur Kenntnis des Geschäftskreises der obern Staatsbehörden, verbunden mit einer praktischen Anleitung zum schriftlichen Gedankenvortrage überhaupt, so wie zum Geschäfts- und Briefstil und andern Aufsätzen des gemeinen Lebens insbesondere, nebst dem Unterricht über die Titulaturen und einem Verzeichnisse der Ritter der Preußischen Adler-Orden, 2. Aufl., Berlin 1811, 150. 18 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 72. 19 Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 351 f. Vgl. auch Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 52 f. 20 Martin Haß, Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 20 (1910), 201 – 255, 229; Hans Hattenhauer, Zur Geschichte der deutschen Rechts- und Gesetzessprache (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, 5/2), Göttingen 1987, 68; Heller, Reform (Anm. 4), 222, 341, 357. Vgl. ferner Lorenz Beck, Geschäftsverteilung, Bearbeitungsgänge und Aktenstilformen in der Kurmärkischen und in der Neumärkischen Kriegs- und Domänenkammer vor der Reform (1786 – 1806/08), in: Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft, hrsg. v. Friedrich Beck/Klaus Nietmann, Weimar 1997, 201 – 255, 427. Die Reaktionen auf den Vorschlag zur Reduktion des Königstitels in Preußen hatten auch eine formale Ursache: Das Recht, den Königstitel zu gebrauchen, kennzeichnete in der preußischen Verwaltung höherrangige Institutionen. Vgl. Eberhard Julius Wilhelm Ernst von Massow, Anleitung zum praktischen Dienst in der Königl. Preußischen Regierungen, Landes- und Unterjustizcollegien, Consistorien, Vormundschaftscollegien und Justizcommissarien, für Referendarien und Justizbeamte entworfen, Berlin/Stettin 1792, 76.
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alten und in der neue Form vor, und auch der Wiener Jurist Alphons De Lugo konnte 1784 noch nicht an das endgültige Ende des in der Habsburgermonarchie zwei Jahre zuvor abgeschafften Kurialstils glauben. Die Skepsis mancher Verwaltungsexperten gegenüber einer Reform des Geschäftsstils war berechtigt, denn sie mussten erkennen, dass die Umstellung der Verwaltungssprache in einem System stark verrechtlichter Beziehungen in jedem Fall mit Problemen und Risiken verbunden gewesen wäre. Abgesehen von einem enormen Arbeitsaufwand konnte man weder von der allgemeinen Durchsetzung, noch von der erfolgreichen Anwendung neuer Sprachnormen ausgehen. Natürlich ist in diesem Kontext besonders interessant, dass die Form der Höflichkeit, wie sie in den Kurialien zum Ausdruck kam, in der Wahrnehmung der Autoren nicht mehr das war, was sie sein sollte, sondern nur noch ein Ärgernis. Franz X. Riedel erklärte in seinem 1775 erstmals erschienen Handbuch Der wienerische Sekretär die Mode, auch Geschäftsbriefe in französischer Sprache einzuleiten, die Schreiber würden auf das Französische ausweichen, weil es eine Ausdrucksweise erlaube, deren Kürze in der deutschen Sprache unstatthaft sei21. Offene Kritiker des Kanzleistils, wie Adelung und Goeckingk, und die generell vorsichtiger argumentierenden Lehrbuchautoren waren sich jedenfalls ausnahmslos darüber einig, dass die Kurialien nicht mehr zeitgemäß waren und lehnten sie als überflüssige Formalität und Behinderung der eigentlichen Verwaltungsaufgaben ab. Christian Konrad Wilhelm Dohm, Kameralist und Mitherausgeber des Deutschen Museums, ging in einem Aufsatz aus dem Jahr 1779 noch darüber hinaus, indem er die Wendungen des Kurialstils für gänzlich sinnlos erklärte, weil sie längst ihre ursprüngliche Bedeutung und ihren Zweck verloren hätten22. Für die Verwaltungssprachkritiker stand aber der ästhetische Aspekt im Vordergrund. Als Komplementäreigenschaft zur Weitschweifigkeit, als deren Verkörperung die Kurialien behandelt wurden, lobte man an der Kürze, was man als Errungenschaft der modernen Zeit sehen wollte. Sie steht sowohl mit dem Schönheitsideal einer schlichten Natürlichkeit in Zusammenhang, als auch mit Rationalität im Sinn rationeller Effizienz. So beschrieb Scheidlein die Notwendigkeit einer deutlichen Sprache und mit ihr den Aspekt der Effizienz als ein Erfordernis des Zivilisationsprozesses: „[…] bey uns aber wird durch das nähere Zusammenrücken der menschlichen Gesellschaft, und durch die mehr in einander geschlungenen Verhältnisse des bürgerlichen Lebens das Sprechen und Schreiben häufiger und nothwendiger, die Gegenstände von denen man Der daraus entstehende Konflikt kann auch als Implementierungsproblem des Institutionenprinzips erklärt werden. 21 Franz Xaver Samuel Riedel, Der wienerische Sekretär auf alltägliche Fälle für das gemeine Leben. Zum Gebrauch für jeden, der im Briefschreiben und in schriftlich-rechtlichen Aufsätzen wie auch in Stempel-Sachen Unterricht oder Auskunft verlangt, 11. Aufl., Wien 1812, 138. 22 [Christian Konrad Wilhelm Dohm], Berichtigung einer Berichtigung einer Stelle in den Götting. gelehrt. Anzeigen, in: Deutsches Museum, März (1779), 262 – 264, 262.
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spricht oder schreibet, werden verwickelter und abstracter, und so wird auch das Bedürfnis dringender, leicht und ohne Mühe verstanden zu werden.“23
Wie sich Natürlichkeit und Rationalität gegenseitig ergänzten, drückte Rumpf aus, wenn er konstatierte: „So wendet der Mann von Geist und Geschmack den Weg, den die Natur bei allen ihren Werken einschlägt; stets gebraucht sie den kürzesten Weg, und wendet zur Erreichung ihrer Zwecke die wenigsten Mittel an.“24 Je kürzer sich ein Schreiber ausdrücke, umso mehr Geschmack bewies er auch für Scheidlein, umso mehr Größe für Beck25. Moser beschuldigte der Eitelkeit, die sich nicht kurz zu fassen vermochten26. Demgegenüber blieb Sonnenfels pragmatisch. Für ihn war jeder Satz zu lang, der mehrmals gelesen werden musste, um verstanden zu werden. Im Übrigen wies er darauf hin, der Kaiser habe den erbländischen Untertanen Kürze befohlen und dafür auch Richtlinien erlassen und Beispiele gegeben; Diese Anordnung machte Erörterungen zu Geschmacksfragen gegenstandslos27. In der Praxis war die Frage der Abkürzung der Kurialien mehr als nur ein stilistisches Problem. Sie war ein Balanceakt, bei dem sich Beamte wie Supplikanten in dem Dilemma befanden, einerseits „gegen den Höherstehenden, […], nur die Sprache der Hochachtung führen“28 zu dürfen, und dabei andererseits eine Sprache anwenden zu müssen, die sowohl stilistisch, als auch politisch überholt war und sie zugleich degradierte. Nitsch wies auf die Bedeutung des angemessenen Gebrauchs der Kurialien hin: „Wer Titulaturwörter des Inhalts wegen steigert, der kriecht; wer sie des Inhaltes wegen verringert, der ist grob: beide aber zeigen, daß es ihnen an Erziehung und Lebensart oder wohl gar an Redlichkeit fehlt.“29 Der Göttinger Jurist Justus Claproth leitete 1769 die Verfasser von Suppliken dazu an, stets „die demüthigsten Ausdrücke“ zu gebrauchen und alles anzuführen, „was nur auf einige Art den Oberen schmeicheln kann.“30 Georg Rechberger bestätigte diese Regel in der 1807 erschienenen Anleitung zum geistlichen Geschäftsstil in den österreichischen Staaten mit der Beobachtung, dass „leichter die Eitelkeit der Menschen durch den Mangel, als ihre Bescheidenheit durch das Uebermaß beleidiget
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Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 43. Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 194. 25 Beck, Staatspraxis (Anm. 12), 219; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 58. 26 Moser, Cancley=Decorum (Anm. 14), 521. 27 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), V, 95, 102. 28 Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 129. 29 Ebd., 107. 30 Justus Claproth, Grundsätze: 1) von Verfertigung und Abnahme der Rechnungen, 2) von Rescripten und Berichten, 3) von Memoralien und Resolutionen, 4) von Einrichtung und Erhaltung derer Gerichte und anderer Registraturen, 2. Aufl., Göttingen 1769, 101. Aus der dritten Auflage von 1783 wurde diese Anweisung entfernt. 24
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wird“.31 Diese und ähnlich Aussagen wiesen die Leser darauf hin, dass aus der korrekten Anwendung des Kanzleizeremoniells auf die Persönlichkeit des Verfassers geschlossen und als Beurteilungskriterium für sein Anliegen behandelt wurde32. Sie zeigen auch, dass Lehr- und Handbücher an ein breiteres Publikum gerichtet waren, für das Informationen über den kompetenten Umgang mit Behörden mit fortschreitender Bürokratisierung an Bedeutung zunahmen. Als diese Ratgeber erschienen, waren die Verwaltungsreformen des beginnenden 19. Jahrhunderts noch in einem frühen Implementationsstadium, das Rechtsstaatlichkeitsprinzip in der Verwaltung erst im Praxistest und die Ermessensspielräume einzelner Amtsträger daher weiterhin außerordentlich groß. Auch in der Reformperiode blieben traditionelle Routinen lange primäre Handlungsmaximen33. Die anhaltende Geltung des Zeremoniells in der Praxis und die Ehrsensibilität von Beamten und Standespersonen setzten der Reduktion der Kurialien und damit der Verkürzung der Texte Grenzen. Kein Staat und keine Verwaltung konnten bislang gänzlich auf Zeremoniell verzichten. Um das sprachliche Kanzleizeremoniell wieder glaubwürdig zu machen, musste es von allzu anachronistischen Elementen befreit werden. So wurde die Verwaltungssprache seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennbar schlanker. Außerdem wurde versucht, seine Formen partiell umzudeuten. Rumpf interpretierte die Kurialien als Ausdrücke, die die Verhältnisse beschrieben, in denen Staatsbürger zueinander bzw. zum Staatsoberhaupt stünden und deren Würde unterstrichen34. Auch Sonnenfels‘ Auffassung, der Majestätsplural drücke aus, dass der Kaiser nicht für seine Person, sondern die Nation, also ein Kollektiv, spräche, kann in diesem Sinn verstanden werden35. Zwar überschnitten sich die neuen Formen noch vielfach mit denen des 18. Jahrhunderts, waren aber deutlich reduziert und an das postrevolutionäre politische Selbstverständnis und ihr Formgefühl angepasst worden. Nur drei Autoren widmeten sich dem bekannten Sachverhalt, dass Advokaten nach der Länge ihrer Schriftsätze honoriert wurden. Kurze Verwaltungstexte waren für Moser nicht zuletzt ein „Trost für die Armen“36. Scheidlein hielt diese Praxis für ein erbländisches Spezifikum und daher für geeignet, die besondere Weitschweifigkeit der österreichischen Juristensprache zu erklären, und Boeschen be31 Rechberger, Anleitung (Anm. 8), 19. Rechbergers Feststellung wurde 1839 wörtlich übernommen in: Seng, Geschäfts-Styl (Anm. 8), 62. 32 Margreiter, Kanzleizeremoniell (Anm. 4), Abschnitt II.4 Kurialien. Vgl. Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 550; Raphael, Sprache (Anm. 1), 198 f. 33 Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens (Historische Studien, 14), Frankfurt am Main/New York 1994, 45 f., 73 f., 78 f., 439; Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt am Main u. a. 2005, besonders 243; Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, 81. Raphael, Sprache (Anm. 1), 198. 34 Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 146; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 196. 35 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 78. Dagegen die traditionelle Auffassung bei Friedrich Carl von Moser, Versuch einer Staats-Grammatic, Frankfurt am Main 1749, 197. 36 Moser, Cancley=Decorum (Anm. 14), 522.
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klagte, die Texte der Juristen unterschieden sich von den Predigten der Landgeistlichen nur dadurch, dass Letztere für ihren Sermon nicht extra bezahlt zu werden brauchten37. 2. Deutlichkeit Die Forderung nach Deutlichkeit in der Verwaltungssprache ist so selbstverständlich, dass sie der Erwähnung nicht wert gewesen wäre, wenn es dafür keine Anlässe gegeben hätte. Nitsch berichtete von einer Erfahrung, die Lesern alter Verwaltungstexte wohl vertraut ist: „Desgleichen schlecht verfasste Schriften nöthigen dann noch überdies zum zwei-, drei- und mehrmaligen Durchlesen, da das Verstehen aufs erste oder zweite Mal oft schlechterdings unmöglich ist.“38 Adelung, Carl Franz Boeschen, De Lugo und Sonnenfels, ja sogar Leonhard Staudner, der Retter des Kanzleistils, bestätigten diese Beobachtung39. Neben der unleugbaren Undeutlichkeit konnte zusätzlich auf die klassische Rhetorik als Autorität verwiesen werden. Perspicuitas verlangt nicht nur die rein kognitive Verständlichkeit eines Texts, sondern darüber hinaus seine mühelose Fassbarkeit40. Sie ist das Hauptmerkmal der so genannten niederen Schreibart, die in den Handbüchern, im Gegensatz zur poetischeren ersten und der expressiveren zweiten Schreibart, als Stil der Verwaltungssprache ausdrücklich empfohlen wurde. Dementsprechend definierte Scheidlein: „Deutlich, [ist], was leicht gedeutet, verstanden werden kann.“41 Deutlichkeit brauchte in diesem Kontext weder ausführlich begrifflich bestimmt, noch gerechtfertigt zu werden. Sie war notwendig, um Missverständnissen und Dunkelheit vorzubeugen42. Anders als Kürze und Schönheit wurde sie nicht aus Geschmacksgründen verlangt, wenn man davon absieht, dass auch eine undeutliche und verschwommene Ausdrucksweise das Formgefühl verletzen kann43. Während die meisten Autoren Deutlichkeit alleine als eine Funktion der Sprachkompetenz betrachteten, differenzierte Sonnenfels zwischen einer Deutlichkeit der Sprache und einer Deutlichkeit des Stoffs44. Er wies darauf hin, dass Argumentation und ihre 37
Carl Franz Boeschen, Ueber die juristische Schreibart, Halle 1777, 13; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 31. 38 Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 24. 39 Johann Christoph Adelung, Ueber den Kanzleistil, in: Magazin für die deutsche Sprache, Bd. 2, Leipzig 1783/84, 127 – 142, 140 f.; Boeschen, Schreibart (Anm. 37), 6; Johann Alphons De Lugo, Sistematisches Handbuch für Jedermann, der Geschäftsaufsätze zu entwerfen hat. Bd. 2 für Amtspersonen, 3. Aufl., Wien 1785, 4, 7; Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 44; Johann Leonhard Staudner, Rettung des Kanzleystils wider die Anfaelle der Verehrer des guten Geschmacks, Nürnberg 1764, 194. 40 Bernhard Asmuth, Perspicuitas, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. v. Gerd Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, 423 – 452; Heller, Reform (Anm. 4), 161 f. 41 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 37. Ähnlich: Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 205 f.; Boeschen, Schreibart (Anm. 37), 4; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 130. 42 Adelung, Kanzleistil (Anm. 39), 129. 43 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 26. 44 Ebd., 26 – 31.
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sprachliche Repräsentation zwei getrennte Vorgänge seien. Der Stoff, d. h. der zu beschreibende Gedanke, müsse eine konsistente Argumentstruktur aufweisen, um deutlich sein zu können, während die Deutlichkeit der Sprache eben nur von der kompetenten Handhabung ihrer Regeln abhinge45. Im 19. Jahrhundert schlossen sich die Autoren durchwegs dieser Sichtweise an, was sich in einer Aufwertung der Logik ausdrückte46. Boeschen und Scheidlein hoben hervor, eine deutliche Sprache würde den Behörden die Arbeit erleichtern, indem sie Missverständnisse und dadurch Streit vermeide47. Deutlichkeit war natürlich primär ein Gebot einer effektiven Arbeitsweise und damit ein Mittel der Effizienzsteigerung und Verfahrensrationalisierung. Zu diesem Zweck ordnete Joseph II. 1782 an, die Verwaltungstexte durch eine straffere und transparentere Struktur deutlicher zu machen48. Noch dringender wurden solche Maßnahmen durch die Verwaltungsreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts49. Die im 18. Jahrhundert kritisierte Einförmigkeit der Verwaltungssprache wurde 1827 von Nitsch als für den Geschäftsstil wesentlich beschrieben50. Er erkannte, dass ihre festen Formen Elemente einer reglementierten Sprache waren, die die intersubjektive Reproduktion von Bedeutung vereinfachten. Darüber hinaus macht eine Sprache, die praktisch aus wiederverwendbaren Textmodulen besteht, die Schreiber zu formalistischen Unpersönlichkeiten (Max Weber) und erfüllt damit eine wichtige Bedingung des institutionenstaatlichen Prinzips und der bürokratischen Herrschaft. Der Entpersonalisierung der Herrschaft durch den modernen Staat entsprach eine Entindividualisierung der Verwaltungssprache, in der die Sprecher substituierbar sind. 3. Schönheit Schönheit war für Kritiker und Instruktoren des Kanzleistils keine selbständige Eigenschaft, sondern die Folge der konsequenten Anwendung anderer notwendiger Merkmale, besonders der Deutlichkeit, der Angemessenheit, der Sprachrichtigkeit und der Klarheit der Argumentation51. Daher ist es auch kein Widerspruch, wenn 45
Eine ähnliche Meinung vertraten auch, wenngleich in der simpleren Form: Nur wer deutlich denken kann, kann deutlich schreiben: Boeschen, Schreibart (Anm. 37), 10; Moser, Staats-Grammatic (Anm. 35), 294; Johann Friedrich Plitt, Ueber den Geschäftsstil und dessen Anweisung auf hohen Schulen, Frankfurt am Main/Leipzig 1785, 20. 46 Klaus Margreiter, Verwaltungssprache und Verwaltungskultur im Vormärz, in: Verwaltungsarchiv 102/3 (2011), 406 – 430, 415. 47 Boeschen, Schreibart (Anm. 37), 2 f.; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 52 f. Ähnlich Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 205 f. 48 Hofdekret 2. Jänner 1782. 49 Margreiter, Vormärz (Anm. 46), 407 – 410. 50 Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 22. 51 Ernst Ferdinand Klein, In wiefern muß ein Geschäftsmann sich eines schönen Styls befleißigen?, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit 2 (1788), 3 – 9, 4; Johann Heinrich Gottlob von Justi, Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart und allen in den Geschäfften und Rechtssachen vorfallenden schriftlichen Ausarbeitungen, zu welchem
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die Autoren des 18. Jahrhunderts häufig die Schönheit, oder vielmehr die Unschönheit der Verwaltungssprache thematisierten, aber eine schöne Sprache nicht ausdrücklich verlangten. Einerseits beurteilten und verurteilten sie den Kanzleistil eindeutig nach ästhetischen Kriterien, andererseits wurde eine nach ästhetischen Gesichtspunkten ausgerichtete Verwaltungssprache weder positiv bestimmt, noch gewünscht. Ihre Äußerungen lassen, im Gegenteil, Misstrauen gegenüber rhetorischen Kunstgriffen erkennen. Man hielt solche in einer so spezifisch von Nützlichkeit und praktischer Zweckmäßigkeit bestimmten Sprache für deplatziert und wollte sich wohl auch nicht dem Vorwurf der fachlichen Inkompetenz und der Schöngeisterei aussetzen. Am markantesten vertrat Sonnenfels diese Haltung: „aller Putz der Schönschreiberey“, so erklärte er, seien im Geschäftsstil fehl am Platz52. Im Übrigen verwies man auf die bekannten Stilisten der Zeit, die in ihren literarischen Werken gezeigt hätten, wie eine schöne Sprache auszusehen hätte53. Die Autoren des 19. Jahrhunderts unterschieden sich in der ästhetischen Beurteilung nicht von ihren Vorgängern und bekräftigten das Bekenntnis zu den stilprägenden Autoritäten des 18. Jahrhunderts. Doch im Gegensatz zu diesen räumten sie Beamten und Publikum einen größeren Spielraum bei der Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel ein54. Wo es die Umstände erlaubten, sollte der Stil durchaus lebhaft sein, denn eine Sprache, die jeden Vorgang unterschiedslos sachlich und trocken behandelte, war der Würde eines Verwaltungsakts ebenso wenig angemessen wie abgeschmackte Ornamente55. Am deutlichsten tritt diese Haltung bei Aloys Schreiber hervor, der in Heidelberg den Geschäftsstil las und dessen Handbuch eine ausführliche Einführung in die Poetik enthält. Man begrüßte den strategischen Einsatz der Rhetorik zur Verstärkung der Textwirkung, wo immer es opportun erschien56. Unverblümt erinnerten die Autoren des Vormärz ihre Leser daran, dass zur Erreichung des Zwecks eines amtlichen Schreibens das Wohlwollen des lesenden Beamten zu erringen war und dass dazu jedes Mittel angewandt werden dürfe, das nicht gegen die Ende allenthalben wohlausgearbeitete Proben und Beispiele beigefüget werden, Wien 1774, 26, 31, 38; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 9, 15. 52 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 54. 53 Justi, Anweisung (Anm. 51), 33; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 37; August Ludwig Schott, Vorbereitung zur juristischen Praxis besonders in Rücksicht auf die Schreibart in rechtlichen Geschäften, Erlangen 1784, IV. Nur Scheidlein widersprach selbst dieser Empfehlung mit dem Argument, Schriftsteller würden bestimmte Formulierung gebrauchen, weil sie schön seien, nicht umgekehrt. Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 12 f, 37. 54 Margreiter, Vormärz (Anm. 46), 421 – 423. 55 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 166; Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 8. 56 Stephan Behlen, Grundsätze des Geschäftsstyls mit besonderer Beziehung auf die schriftlichen Arbeiten bei der Forstverwaltung, hrsg. v. Johann Matthäus Bechstein/E. P. Laurop (Die Forst-und Jagdwissenschaft nach allen ihren Teilen für angehende und ausübende Forstmänner und Jäger, 14. Teil), Erfurt/Gotha 1826, 91; De Lugo, Privatpersonen (Anm. 8), 16; Nitsch, Anweisung (Anm. 8), 8; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 73 f, 103, 127; Aloys Schreiber, Vom Geschäftsstyl und dem mündlichen Vortrage, Karlsruhe 1824, 65; Seng, Geschäfts-Styl (Anm. 8), 4 f.
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guten Sitten verstoße57. Die praktische Notwendigkeit, die Sprache in der Verwaltung manipulativ einzusetzen, und, wie Rumpf formulierte, unter Berücksichtigung „psychologischer Gesetze“ „mit jedesmaliger Beachtung der Individualität und der Maximen derjenigen Person und Behörde, deren Beurtheilung und Entscheidung die Sache unterliegt“, reflektierte den Ermessenspielraum der Beamten58. Solange sich die Verwaltungsreformen und der Rechtsstaat in der Erprobungsphase befanden, konnte nicht davon ausgegangen werden, dass Verfahren und Vorgänge transparent und nach regulären und legalen Ablaufroutinen gehandhabt wurden. Nach spätestens vier Jahrzehnten verdichteten sich die Erfahrungen mit dieser Praxis gemeinsam mit einer oft autoritären Amtsführung in der politisch sensibilisierten Öffentlichkeit zur Vorstellung eines obrigkeitsstaatlichen Willkürregimes. Die Ursachen für diesen bemerkenswerten Wandel in der Beurteilung der Funktion von Verwaltungssprache, die „nicht allein durch Faßlichkeit dem Verstande einleuchten, sondern auch durch Reiz und Anmuth sich dem Gefühl anschmeicheln [sollte]“, können auf der Basis der vorliegenden Quellen nicht ermittelt werden59. Möglich ist, dass die jüngere Autorengeneration ein neues, poetischeres Verständnis von Sprache und damit vielleicht höhere, jedenfalls aber andere stilistische Ansprüche hatte. Zugleich äußerte sich darin aber auch ein pragmatischeres, nüchterneres und möglicherweise sogar ernüchtertes Verständnis von Verwaltung, deren Praxis in einem eindeutigen Gegensatz zu den wichtigsten Prinzipien der Verwaltungsreformen standen. Ihr fehlte das Vertrauen in die Objektivität der Beamten, die strenge Rechtsstaatlichkeit ihrer Verfahren und wohl auch das der Aufklärer in eine vernünftige Regierung. Selbstverständlich durfte die schöne Verwaltungssprache nicht buntscheckig, weitschweifig oder kriechend sein. Sie sollte geschmackvoll, wenn möglich natürlich sein und den Ton der feinen Welt haben; mit anderen Worten: sie war schön, wenn sie möglichst umfassend den Stilpräferenzen der höfischen Gesellschaft und großbürgerlicher Milieus entsprach60. Adelung stellte 1783 fest: „In den Geschäften der Höfe, […], sind die Verfasser immer Männer von Weltkenntniß und Geschmack, welches denn seinen Einfluß auch auf ihren Ausdruck hat. Wie wenig sich aber dieses von den Concipienten der rechtlichen Schriften sagen läßt, wissen diejenigen am besten, welche diese Herren kennen.“61
An diesem Argument lässt sich die polemische Instrumentalisierung des Kriteriums des guten Geschmacks und die parteiliche Bindung der Kritik an die Werte des Herkunftsmilieus der Autoren gut erkennen. Geschmacklos war die Verwendung veralteter Wörter ebenso wie die von Regionalismen, weil sie an die oberdeutsche 57
Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 190 – 192; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 132; Schreiber, Geschäftsstyl (Anm. 56), 54. 58 Eibach, Staat (Anm. 33), 45 f, 73 f.; Raphael, Sprache (Anm. 1), 198; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 103, 152 f. Zitat: Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 191. 59 Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 39. 60 Haas, Kultur (Anm. 33), 237. 61 Adelung, Kanzleistil (Anm. 39), 136.
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Kanzleisprachtradition erinnerten, die wegen ihrer vielfältigen devoten Untertänigkeitsfloskeln als ganz besonders geschmacklos zu gelten hatte62. Das schloss unter anderem alle unaussprechlichen, d. h. unanständigen und unflätigen Wörter und Wendungen grundsätzlich aus Verwaltungsdokumenten aus63. Intime Angelegenheiten empfahl Rumpf, „mit einem gewissen trocknen keuschen Ernst und Witz“ zu behandeln64. Diese Norm zwang besonders Justizbeamte in der Praxis zur Anwendung entschuldigender Kennzeichnungen (salva venia, cum venia), um zu erkennen zu geben, dass eine protokollierte Unanständigkeit den Wortlaut der Zeugenaussage wiedergibt. David Sabean hat diese Vorgehensweise mit magischen Praktiken in Verbindung gebracht65. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Beamten vorgeschriebene und die ästhetischen Normen des Beamtenmilieus reflektierende Stilvorgaben anwandten, wie sie in allen einschlägigen Handbüchern beschrieben wurden. Als ,buntscheckig‘ wurde eine Sprache bezeichnet, wenn sie sich aus stilistisch unvereinbaren Elementen zusammensetzte. Damit waren vor allem Fremdwörter gemeint. Wie schon die kulturpatriotischen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts, besonders die fruchtbringende Gesellschaft, kritisierte Rumpf die maßlose Verwendung lateinischer und französischer Begriffe sowohl als Ausdruck unzureichender Bildung, wie mangelnden Nationalstolzes: „Das Einmischen fremder Wörter in deutsche Rede und Schrift giebt unserer Sprache und Völkerschaft das Ansehen von Unausgebildetheit und Geistesärmlichkeit, schadet der deutlichen und lebendigen Einsicht, beleidigt den guten Geschmack und das Gefühl für das wahre Schöne. Manche prunken und gefallen sich, oder finden wohl gar einen Wohlklang in fremden Wörtern; sie versündigen sich recht muthwillig an dem Heiligthum der Nation.“66
Substanziell unterscheiden sich diese deutlichen Worte kaum von den Argumenten des 18. Jahrhunderts. Auch die aufgeklärten Kritiker hatten sich um das Ansehen der deutschen Sprache gesorgt, ihre Bedürftigkeit, die die Fremdwörter zu belegen schienen, und namentlich um die Geschmacks- und Stilprobleme, die damit verbunden waren. 1774 attestierte Heinrich Gottlob von Justi in seiner Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart seinen Zeitgenossen immerhin, seit zwanzig Jahren von der Fremdwortsucht geheilt zu sein, allerdings erst, nachdem er eine zwanzigseitige Rechtfertigung der deutschen Sprache und den Nachweis ihrer Anwendbarkeit in den Geschäfften und Rechtssachen zu Papier gebracht hatte67. Fast fünfzig Jahre später 62
Ebd., 131, 136. Goeckingk, Kanzleistil (Anm. 16), 234 f. Bensen, Versuch (Anm. 9), 51, besonders 62 f.; Nitsch, Anweisung (Anm. 8), S. 7 f.; Klein, In wiefern (Anm. 51), 2; Moser, Cancley=Decorum (Anm. 14), 516; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 194; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 154; Seng, Geschäfts-Styl (Anm. 8), 4. 64 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 194. 65 David Sabean, Soziale Distanzierungen. Ritualisierte Gestik in deutscher bürokratischer Prosa der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 4 (1996), 216 – 233, 220. 66 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 128 f. 67 Justi, Anweisung (Anm. 51), 3 – 23, 37. 63
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stellte Rumpfs Formulierung noch deutlich heraus, dass Buntscheckigkeit und Sprachmengerei als schwerste Verstöße, ja als das Gegenteil der allseits geforderten Sprachreinheit gesehen wurden68. Fremde Elemente könnten daher auch nicht schön sein, nicht nur weil sie die Einheitlichkeit störten, sondern weil sie außerdem von Charakterschwäche zeugten69. Goeckingk verglich den Kanzleistil mit einer „alten häßlichen Kokette […], die hier eine Warze mit einem Schönpflästerchen, dort das Kupfer der Wangen mit Schminke bedeckt, wohl gar ein gläsernes Aug und einen wächsernen Zahn sich eingesetzt hat.“70 Seine Kritik führte drastisch vor Augen, dass der Stil der Verwaltungssprache in einem krassen Gegensatz zum Ideal der Natürlichkeit stand. Zugleich zeigt sie, wie sehr dieses Ideal nicht nur ein ästhetisches war, sondern im aufgeklärten Diskurs eine politische Funktion erfüllte. Natürlichkeit verkörperte die vernünftige, aufgeklärte Alternative zum barocken Schwulst des Ancien régime, wobei übersehen wurde, dass sie seit dem 16. Jahrhundert auch das erklärte Ideal der höfischen Gesellschaft, des honnête homme und der galante conduite, gewesen war. Daher ist es bemerkenswert, dass im 18. Jahrhundert nur wenige Autoren so weit gingen, ausdrücklich eine natürliche Verwaltungssprache zu verlangen71. Eine prominente Ausnahme bildete Justi, der die Natürlichkeit neben der Deutlichkeit für die wichtigste ihrer Eigenschaften hielt72. Er forderte auch bei Verwaltungstexten, die Sätze müssten „natürlich und ungezwungen aus der Feder fließen“ und erklärte: „Nichts kann schön seyn, als was natürlich ist.“73 Darunter verstand er allerdings nicht mehr als eine dem Zweck angemessene Sprache und damit weniger ein Schönheitsideal im eigentlichen Sinn74. Nur für Adelung waren Natürlichkeit und Einfachheit ästhetischer Selbstzweck75. Obwohl sich im beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Auffassung von der Natur bildete, die sich zu einem ästhetischen Leitbild der Epoche entwickelte, orientierte sich Rumpfs Bestimmung von Natürlichkeit eher an der Aufklärungsposition als an der Romantik: „[I]st [der Geschäftsstil] von allem Gesuchten und Gezwungenen (Pretiösen), von aller Uebertreibung (Schwulst, Bombast), frei, so darf er Anspruch auf Natürlichkeit machen.
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Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 127. Justi, Anweisung (Anm. 51), 38; Michael Wieczorrek, Stil und Status. Juristisches Schreiben im 18. Jahrhundert, in: Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Ulrich Kronauer/Jörn Garber (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 14), Tübingen 2001, 99 – 112, 110. 70 Goeckingk, Kanzleistil (Anm. 16), 214 f. 71 Beck, Staatspraxis (Anm. 12), 145. 72 Justi, Anweisung (Anm. 51), 110, 123. 73 Ebd., 59. 74 Ebd., 122. 75 Adelung, Kanzleistil (Anm. 39), 130. 69
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Hochtrabende Redensarten werden oft für blühenden Styl gehalten: sie blenden den Unwissenden, dem Kenner sind sie lächerlich.“76
Die Nüchternheit seines Standpunkts wird noch durch den Zusatz unterstrichen, sprachlich besonders elaborierte Texte bewiesen schlechten Geschmack; nur ebenso ungebildete wie mangelhaft erzogene Leser würden sich von dergleichen beeindrucken lassen. Rumpf hätte kaum so selbstbewusst von der exponierten Position des arbiter elegantium aus argumentieren können, wäre diese Auffassung nicht schon Konsens gewesen. Für die Praktiker war vor allem die Einfachheit auch Mittel zum Zweck der Verstärkung der Textwirkung, die im Fall von Verwaltungstexten natürlich in der Ausführung der darin ausgesprochenen Empfehlungen oder Anordnungen bestehen musste77. Alle Autoren waren sich darüber einig, dass dieser Effekt nur durch eine möglichst würdevolle Sprache zu erzielen war, die, wie Rumpf meinte, allemal eher durch eine natürliche, als eine „gezierte, schwülstige, überladene Schreibart“ zustande käme, und ohne die bei den Untertanen „nicht die nöthige Begierde zur Befolgung“ geweckt würde, wie Scheidlein ergänzte78. 4. Verständlichkeit Das Bedeutungsfeld von Verständlichkeit überschneidet sich mit dem der Deutlichkeit, so dass vieles, was über das eine geschrieben wurde, auch für das andere gilt. Der Zusammenhang zwischen diesen Kategorien ist evident, denn was verständlich ist, ist meistens auch deutlich. Ob aber umgekehrt Deutlichkeit unbedingt Verständlichkeit impliziert, ist weniger klar. Wie die Deutlichkeit ist die Verständlichkeit eine notwendige und selbstverständliche Eigenschaft von Gebrauchstexten, und ebenso selbstverständlich verstießen Verwaltungstexte gegen diese Maxime. Wenn Justi die Verständlichkeit als „vornehmsten Endzweck aller Schrift“ bezeichnete und sich Scheidlein und Rumpf ähnlich bestimmt äußerten, dann können solche Erklärungen in diesem Kontext nur als dringende Ermahnungen verstanden werden79. Scheidlein berichtete 1784, der Kaiser habe 1781 angeordnet, in jeder Behörde, in der Texte verfasst wurden, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren, einen Spezialisten anzustellen, der sie sprachlich redigierte, womit er nicht nur sein eigenes, sondern auch das Misstrauen des Monarchen in die Sprachkompetenz der Beamten zum Ausdruck brachte80. Unverständnis konnte Verständnislosigkeit bedeuten, aber auch wörtlich verstanden werden. In einem Abschnitt über die Sprache gegenüber Vorgesetzten bei Sonnenfels findet sich folgende Formulierung: „Was sind allerhöchste Hände, zu denen 76
Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 134. Boeschen, Schreibart (Anm. 37), 2 f.; Schott, Vorbereitung (Anm. 53), 273. 78 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 77; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 30. 79 Justi, Anweisung (Anm. 51), 35, vgl. auch 43, 50; Scheidlein, Erklärungen (wie Anm. 8), 20; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 126; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 39. 80 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 31. 77
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eine Schrift überreicht wird? was der allerhöchste Ort, von dem eine Entschlüssung erfließt?“81 Natürlich waren diese Fragen rhetorisch, gleichwohl verfolgten sie den Zweck aufzuzeigen, dass die Verwaltungssprache und, wie in diesem Fall, die Majestätssprache, Ausdrücke enthielten, die in der natürlichen Sprache nicht vorkamen. Für Stilisten wie Sonnenfels erklärte dieser Umstand außerdem die „Steife und Ungelenksamkeit“ des Kanzleistils: er schränke den Formulierungsspielraum ein und erzwänge die Anwendung von Wörtern und Wendungen, deren ursprüngliche und eigentliche Bedeutung nicht mehr verstanden wurde, weil sie seit langer Zeit – außer in den Behörden – nirgends mehr in Gebrauch waren82. Fremdwörter, juristische Fachbegriffe und Regionalismen machten Verwaltungstexte für Uneingeweihte unverständlich83. Doch bei den Regionalismen schieden sich wieder die Geister. Tatsächlich hat die juristische Fachsprache, wie Andreas Görgen festgestellt hat, Regionalismen besonders schnell abgebaut und die erste überregional verständliche deutsche Fachsprache entwickelt84. Während die meisten Autoren die Regionalismen als Gefahr für die Stilqualität ablehnten, waren sie für De Lugo und namentlich für Schreiber der größeren Verständlichkeit wegen unentbehrlich85. Die Ursache für diesen Auffassungsunterschied liegt in der Uneinigkeit, die in der Frage bestand, welche Bevölkerungsteile die Adressaten von Verwaltungstexten wären. Zwar vergaß kein Autor, am wenigsten die kritischen, den Hinweis, der Stil eines Texts müsse sich an den Gewohnheiten und Erwartungen des Lesers orientieren, aber nur vier von ihnen stellten fest, dass das vor allem deshalb notwendig war, weil das Aufnahmevermögen nicht bei allen Adressaten gleich war.86 Sie widersprachen damit allen anderen Autoren, die die Untertanen als amorphe Gruppe behandelten, weil sie in Wirklichkeit, wie Michael Wieczorrek gezeigt hat, nur das gebildete Bürgertum meinten87. Lediglich Sonnenfels und seine Nachfolger gingen davon aus, dass behördliche Anordnungen und eigentlich jeder Verwaltungstext von unterschiedslos allen Untertanen verstanden werden muss. Zunächst natürlich deshalb, weil sämtliche Untertanen, zwar in unterschiedlichem Umfang, aber dennoch grundsätzlich Befehlsempfänger der Regierung waren. Daher mussten schon aus diesem Grund Anordnungen so formuliert werden, dass deren Befolgung sicher 81
Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 73. Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 45 f, 98; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 35. 83 Adam Friedrich Glafey, Anleitung zu einer welt-üblichen teutschen Schreib-Art. worinnen die Grund-Lehren zu dem in Welt-Händeln gebräuchlichsten Stylo enthalten sind, 3. Aufl., Leipzig 1747, 20; Johann Heinrich Gottlob von Justi, Historische und juristische Schriften, Frankfurt am Main/Leipzig 1761, 466; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 187; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 43, 59; Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 48 f. 84 Andreas Görgen, Aufklärerische Tendenzen in der Gesetzessprache der frühen Neuzeit, in: Recht und Sprache in der deutschen Aufklärung, hrsg.v. Ulrich Kronauer/Jörn Garber (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 14), Tübingen 2001, 72 – 98, 89. 85 De Lugo, Privatpersonen (Anm. 8), Vorrede; Schreiber, Geschäftsstyl (Anm. 56), 8. 86 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 44; Schreiber, Geschäftsstyl (Anm. 56), 13. 87 Wieczorrek, Stil und Status (Anm. 69), 112. 82
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erwartet werde durfte88. Staudner entgegnete der Kritik an den Regionalismen mit dem entwaffnend realistischen Argument: „[…] wer befiehlt, der will auch verstanden seyn.“89 Auch dieses Problem hatte einen kulturpatriotischen Hintergrund. Als 1784 Sonnenfels’ Buch Über den Geschäftsstil erschien, wurde es mit besonderer Aufmerksamkeit rezipiert, denn es wurde mit einiger Berechtigung mehr als der Wille des Kaisers als die Meinung des Autors gelesen90. Seine ausdrückliche Absicht bestand in der Vereinheitlichung der Geschäftsstils als Beitrag zur Einführung der deutschen Sprache als einzige Amtssprache aller Länder der Habsburgermonarchie. Deshalb wurde es öfter und hämischer als alle anderen Publikationen auf diesem Gebiet kritisiert, als offenbar wurde, dass sich Sonnenfels teilweise über die Normen Gottscheds hinweggesetzt hatte91. Nicht nur hatte er die in der Habsburgermonarchie übliche Verwaltungsterminologie verwendet, er hatte sich auch in Syntax und Vokabular an der oberdeutschen Tradition orientiert. Dass er darüber hinaus offen erklärte, „der Haufen, besonders in Aufsätzen für alle Volksklassen, muß dem Schriftsteller den Maßstab der Deutlichkeit geben“, verstanden norddeutsche Leser als Provokation92. Gottsched hatte eine Normierung der deutschen Schriftsprache verlangt, und da sich diese Normen überwiegend an der norddeutschen Sprachpraxis orientierten, konnten sie bald zu einem gemeinsamen Identifikationsobjekt der gebildeten und aufgeklärten Milieus des Nordens werden. Zusammen mit Adelungs heftiger Ablehnung der oberdeutschen Tradition in der Kanzleisprache schienen Gottscheds Normen die Überlegenheit der norddeutschen Sprache zu beweisen und eine entsprechend geringschätzige Haltung gegenüber den Sprachtraditionen des Südens zu
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Behlen, Grundsätze (Anm. 56), 90; Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 204; Goeckingk, Kanzleistil (Anm. 16), 218; Justi, Anweisung (Anm. 51), 287; Anonym (R.), Noch etwas über den Kanzleistil, in: Deutsches Museum 2 (1779), 517 – 539, 540; Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 176.; Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 52. 89 Staudner, Rettung (Anm. 39), 128, vgl. auch 25 f. Vgl. ferner Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 204. 90 Anonym, Sonnenfels über den Geschäftsstyl, die ersten Grundlinien für angehende österreichische Kanzleybeamten 1784, in: Allgemeine Literatur Zeitung, November (1784), 178 – 180, 178 f. 91 Becker, Sauerteig (Anm. 4), 85 – 90; Leslie Bodi, Sprachregelung als Kulturgeschichte. Sonnenfels: ,Über den Geschäftsstil‘ (1784) und die Ausbildung der österreichischen Mentalität, in: Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung, hrsg. v. Gotthard Wunberg/Dieter A. Binder, Wien 1996, 122 – 153, 137 f., 146. Vgl. auch Peter Stachel, Der Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zu Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, hrsg. v. Johannes Feichtiger/Peter Stachel, Innsbruck 2001, 11 – 45. url: http://www.oeaw.ac.at/ikt/fileadmin/mediapool/Ikt_pub/Online_Publikatio nen/sta_1staat.pdf, 27 (14. Juli 2013). 92 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), S. 50. Tf, Sonnenfels über den Geschäftsstil… , in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 70/1 (1786), 304 – 308, 306.
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rechtfertigen93. So rügte ein anonymer Rezensent, Sonnenfels’ „Ausdrücke der österreichischen Landesmundart […] giebt nun freylich auch dem neuern Geschäftsstyl, zumahl für deren nicht gewohnte nördliche Deutsche, noch eine gewisse unangenehme Rohigkeit, ein steifes und holpriges Wesen“94, und für einen anderen „beweiset doch dies Buch, dass die Barbarey des österreichischen Kanzleystyls ganz vorzüglich sey“, eine Barbarey, „welche man heutzutage einem Geschäftsmann in Ober- und Niedersachsen […] gar nicht verzeihen würde.“95 Noch 1820 diente ein Mustertext von Sonnenfels bei Rumpf als Lehrbuchbeispiel für einen schlechten Verwaltungstext96. Sonnenfels replizierte auf diese Kritik in der zweiten Auflage: „Fast jede kleine Stadt von Ober- und Niedersachsen möchte gerne ganz Deutschland ihre Aussprache zur Regel aufdringen. […] Beinahe jede deutsche Provinz heißt Provinzialausdrücke, was in andern Provinzen anders als bei ihr genennet wird. Dieses ist eine [sic] der größten Hindernisse zur Vollkommenheit unsrer Sprache, welche an eigenthümlichen, malenden, und der Ableitung nach eignen Wörtern die reichste unter allen lebenden Sprachen seyn kann, sobald jede Provinz die lächerliche Foderung [sic] der Ausschlüssung aufgeben, und dafür von der andern herübernehmen wird, was in der allgemeinen Sprache abgeht.“97
Die Frage der Regionalismen in der Verwaltungssprache uferte in die publizistische Austragung der Rivalität zwischen Österreich und Preußen aus98. Am eigentlichen Problem musste diese Diskussion vorbeigehen, denn die Verfechter einer strengen Gottschedobservanz behandelten die oberdeutsche Kanzleisprache bereits als regionale Abweichung von der hochdeutschen Norm99. Nicht nur in Österreich, auch in der Schweiz führte die Radikalität dieses Anspruchs, der die traditionsreiche oberdeutsche Schriftsprache (an der besonders die Kanzleien der Reichsstädte deutlich hartnäckiger festhielten als die kaiserlichen) zu einer Regionalsprache degradierte, zu Irritationen und Abwehrreaktionen100. Der Göttinger Staatsrechtslehrer Stephan Pütter und Bischoff verteidigten den oberdeutschen Standard, weil er als gemeinsame Amtssprache die Reichseinheit symbolisiere und stärke bzw. wegen seines rei-
93 Adelung, Kanzleistil (Anm. 39), 131 – 136; Goeckingk, Kanzleistil (Anm. 16), 234; Heller, Reform (Anm. 4), 166 f, 223; (R.), Noch etwas (Anm. 88), 520 f. 94 Anonym, Sonnenfels (Anm. 90), 179. 95 Tf, Sonnenfels (Anm. 92), 305. 96 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 8), 216 f. 97 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 51, Fußnote*. 98 Becker, Sauerteig (Anm. 4), 79. Siehe ferner: Anonym, Anhang zu dem Werke über den Geschäftsstil(styl) des Herrn Hofraths und Professors von Sonnenfels. Herausgegeben von einem seiner Zuhörer, Wien 1787. Tf, Anhang zu dem Werke über den Geschäftsstil(styl) des Herrn Hofraths und Professors von Sonnenfels. Herausgegeben von einem seiner Zuhörer. Wien, bey Kurzbeck. 1787, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 86/2, 2. St. (1789), 579 – 590, 584. 99 Adelung, Kanzleistil (Anm. 39), 131 – 136; Goeckingk, Kanzleistil (Anm. 16), 234; Heller, Reform (Anm. 4), 166 f. 100 Polenz, Sprachgeschichte (Anm. 2), 169 – 175.
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chen Repertoires an verfahrensfesten Formulierungen101. Damit standen sie jedoch auf verlorenem Posten. In Preußen und seinem Einflussbereich hatte die aufgeklärte Öffentlichkeit begonnen, in der Sprache und der Verwaltung Elemente eines patriotischen Staats- und Regionalbewusstseins zu sehen; jener borussischen Überlegenheitsideologie, die im 19. Jahrhundert die „deutsche Aufgabe Preußens“ zu einer kulturellen Mission machte102. Vor diesem Hintergrund musste die Frage der Berechtigung von Regionalismen in der Verwaltungssprache auf beiden Seiten empfindliche Reaktionen hervorrufen und eine sachliche Auseinandersetzung damit zunehmend schwierig werden. An wen waren behördliche Mitteilungen gerichtet? Im Fall von Gerichtsurteilen ist die Frage leicht beantwortet und bleibt dennoch offen, denn auch sie waren nicht so formuliert, dass sie von ungebildeten Klägern oder Beklagten hätten verstanden werden können. Sehr wahrscheinlich ging man davon aus, dass Ungebildete und natürlich Analphabeten ohnehin nicht ohne Rechtsbeistand prozessieren konnten, so dass es überflüssig war, die Dokumente in einer auch ihnen verständlichen Form auszufertigen103. Umso merkwürdiger war es, wenn Sonnenfels genau das verlangte. Für ihn schloss der Begriff ,Untertanen‘ den Haufen, für Staudner den Pöbel mit ein. Noch konkreter definierte Justi die Zielgruppe der Verwaltung: Richter und Advokaten schrieben auch für Bauersmänner, Handwerksmänner und Künstler104. Nicht weniger konkret aber deutlich enger umriss Rumpf ihr Publikum: gebildete Ungelehrte, Bürger, Kaufleute, Künstler und Soldaten sollten den preußischen Geschäftsstil ohne Schwierigkeiten verstehen können105. Daneben gab er allerdings zu bedenken, es gäbe Leute, „die strenge Beweise nicht fassen können, oder trockene Beweise nicht achten.“106 In solchen Fällen habe die Rhetorik als Überredungskunst zur Anwendung zu kommen. Eine solche Sprache aber, die sich „an ein von Leidenschaften umhergetriebenes Volk“ richte, hatte Staudner noch abgelehnt und damit zugleich, sich überhaupt ans Volk zu wenden107. Die Standpunkte bezüglich der Zielgruppe waren von der jeweiligen Einschätzung abhängig, was dem Volk zugetraut und zugemutet werden könne. Pütter vertrat 1765 die Auffassung, „man kann nicht schreiben, ohne an das Verhältnis dessen, in welches Namen geschrieben wird, gegen den, an wen man schreibt, zu denken“, womit er weniger eine zielgruppenorientierte als eine die ständische Ranghierarchie
101 Bischoff, Handbuch (Anm. 15), 190 f.; Hattenhauer, Rechts- und Gesetzessprache (Anm. 20), 44. 102 Bernd Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, 17. 103 Wieczorrek, Stil und Status (Anm. 69), 112. 104 Justi, Schriften (Anm. 83), 466. 105 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 178. 106 Rumpf, Geschäftsstyl (Anm. 5), 83; Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 132. 107 Staudner, Rettung (Anm. 39), 111.
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respektierende Sprache meinte108. Sonnenfels und Scheidlein wussten, dass z. B. mehrmaliges Lesen eines schwierigen Texts den meisten Untertanen unzumutbar war109. Wenn die Eleganz einer juristischen Deduktion oder ein geschmackvoller, elaborierter Stil die leichte Fassbarkeit behinderte, so war, dem bürgerlichen Formempfinden zum Trotz, der Verständlichkeit Vorrang einzuräumen110. Zu solchen Zugeständnissen waren andere nicht bereit. Der Frankfurter Jurist Friedrich Plitt wandte dagegen ein, der Bauer hinter dem Pflug rede durchaus nicht gut, und seine Sprache sei für höhere Aufgaben nicht geeignet111. Auch Friedrich Carl von Savigny bezweifelte die Möglichkeit der Sprachverständlichkeit für alle112. Rumpf legte darauf Wert, dass auf die Bildungsstufe des Publikums Rücksicht zu nehmen sei, doch „Hieraus folgt nun nicht, daß man in dem den niedern Volksklassen eigenen Geiste, oder in einer bei denselben üblichen Sprache schreiben soll: edel und ernsthaft muß immer die Schreibart, für wen sie auch bestimmt ist, bleiben, wenn nicht der Eindruck geschwächt oder ganz verloren, und das unverletzbare Ansehen der Obrigkeit darunter leiden soll.“113 Wie Sonnenfels verstand auch Bensen unter einem verständlichen Ausdruck eine populäre Sprache und empfahl eine solche nachdrücklich, aber nur dann, wenn sie mit der Würde des Gegenstands vereinbar sei, „indem verständlich schreiben nicht gerade so viel heißt, als in der Sprache des gemeinen Mannes sich ausdrücken.“114 Welche Gründe konnten Rumpf und Bensen haben, Würde und Allgemeinverständlichkeit als sich gegenseitig ausschließende Alternativen aufzufassen? Hatten die Pariser Sansculottes den Glauben an den Geist der niederen Volksklassen so dauerhaft zerstört, dass man ihm das Verständnis eines stilistisch hochwertigen und würdevollen Texts pauschal absprechen durfte, nur weil er nicht in der Lage war, einen solchen zu verfassen? Sonnenfels’ Einsicht, „was dem gemeinen Mann verständlich ist, wird es auch dem Gelehrten seyn, aber umgekehrt nicht eben so“, war als Tatsachenfeststellung korrekt, als Norm aber nicht mehrheitsfähig, weil sie den Faktor der Sprache als Statussymbol nicht berücksichtigte115. Vor diesem Hintergrund war auch Scheidleins Forderung, die Verwaltungssprache müsse dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen, unrealistisch und naiv, weil ein solcher Gebrauch nicht existierte116. 108 Johann Stephan Pütter, Anleitung zur Juristischen Praxi: wie in Teutschland sowohl gerichtliche als außergerichtliche Rechtshändel oder andere Canzley-, Reichs- und StaatsSachen schriftlich oder mündlich verhandelt, und in Archiven beygeleget werden, Göttingen 1765, 37. 109 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 58; Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 44. 110 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 20. 111 Plitt, Geschäftsstil (Anm. 45), 6. 112 Hugo Steger, Institutionensprache, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Band 5, Freiburg 1989, 125 – 128, 126. 113 Rumpf, Staatssekretär (Anm. 17), 153. 114 Bensen, Versuch (Anm. 9), 82. 115 Sonnenfels, Geschäftsstil (Anm. 8), 50. 116 Scheidlein, Erklärungen (Anm. 8), 15.
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Aus diesem Grund mussten, wie Stefan Haas festgestellt hat, sämtliche Versuche der preußischen Verwaltungsreform, Kommunikation auf der Basis einer allgemein verständlichen Sprache herzustellen, scheitern. Es war den Beamten nicht möglich, ihre Sprache – die Sprache ihres Herkunftsmilieus, ihre Fachsprache und den Dialekt ihrer Herkunftsregion – in die Sprache der Mehrheitsbevölkerung zu übersetzen117. In der konstruktivistischen Kulturgeschichtsforschung wird das Kommunikationsproblem umgangen, indem die Verwaltung als diskursgenerierendes System aufgefasst wird, das u. a. mit Hilfe seiner Sprache eine autogene Realität konstruiert. Weil die Sprache nach dieser Auffassung Wirklichkeit nicht beschreiben, sondern immer nur die gruppenspezifischen Vorstellungen von der Wirklichkeit reproduzieren kann, kann mit ihr auch nichts kommuniziert werden, was außerhalb des Diskurses ihrer eigenen Welt Realität beanspruchen könnte. Die Wirklichkeitsferne der Verwaltungssprache selbst und ihr Umgang mit ihr werden als Indizien für die Konstruktion eines solchen diskursiven Paralleluniversums gedeutet. Hinweise für die Konstruktion einer Verwaltungswirklichkeit können jedoch Verwaltungsphänomene nur erklären, wenn man die Hypothese der Wirklichkeitskonstruktion in der Verwaltung bereits als Tatsache voraussetzt. Ohne diese Prämisse belegen solche, als Elemente der Wirklichkeitskonstruktion interpretierte Sachverhalte immer nur die Annahme der Wirklichkeitskonstruktion selbst. Abgesehen von dieser Petitio principii und der zirkulären Struktur (die für den radikalen erkenntnistheoretischen Relativismus generell typisch ist) ist die Annahme, die Verwaltung habe sich eine verwaltbare Wirklichkeit erst erschaffen müssen, um verwalten zu können, zwar nicht undenkbar, aber unwahrscheinlich und zur plausiblen Erklärung verwaltungskultureller Phänomene nicht erforderlich. Wenn sie dennoch zuträfe, dann wäre Verwaltung vor dem Abschluss der Prozesse der Konstruktion der Verwaltungswirklichkeit und der Adaption der Verwaltetendiskurse an den Verwaltungsdiskurs unmöglich gewesen. Tatsächlich haben Behörden seit es sie gibt zwar nicht immer, aber meistens erfolgreich mit den Verwalteten kommuniziert. Dass die Verwalteten Elemente des Verwaltungsdiskurses, auch in der Sprache, übernommen und internalisiert haben, ist bekannt, doch war diese Rezeption ebenso offenkundig keine Voraussetzung, um sie verwalten zu können. III. Schluss In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Verwaltungssprache Schauplatz der Auseinandersetzungen über die Normierung der deutschen Standardsprache. Dabei trafen zwei Interessenslagen aufeinander: Ein überwiegend in Preußen und den nördlichen deutschen Staaten aktiver Teil der aufgeklärten Öffentlichkeit hatte es sich zum Anliegen gemacht, den von Gottsched formulierten Sprachnormen im ganzen deutschen Sprachraum Gültigkeit zu verschaffen. Zugleich hatten aufge117 Haas, Kultur (Anm. 33), 247. Joachim Eibach hat für Baden festgestellt, dass Beamte selten aus der Region stammten, in der sie eingesetzt waren. Vgl. Eibach, Staat (wie Anm. 33), 46.
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klärte Monarchen (besonders in Preußen und in der Habsburgermonarchie) wiederholt eine Straffung, Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verwaltungsdokumente verlangt. Diese beiden Interessen konvergierten jedoch nur teilweise, denn einerseits wäre eine klare, moderne und für das ganze Reich verbindliche Standardsprache den Bemühungen zur Verwaltungssprachreform entgegengekommen, andererseits waren die gottschedischen Normen in Süddeutschland und der Schweiz nicht unumstritten. Diese Auseinandersetzung markiert die Trennung der (nord)deutschen Verwaltungsterminologie von der konservativeren der Habsburgermonarchie. Die Kritik aufgeklärter Kommentatoren richtete sich in erster Linie gegen den Geschäftsstil, weil er veraltet war und dem modernen Geschmack nicht mehr entsprach. Autoren, denen an einer möglichst großen Reichweite behördlicher Mitteilungen gelegen war, wiesen außerdem darauf hin, eine unverständliche Sprache bliebe bildungsfernen Milieus unzugänglich, was die Wirksamkeit von Verwaltungsmaßnahmen beeinträchtigen müsse. Dass die zeremonielle Funktion des Kanzleistils auch von den Kritikern erkannt und respektiert wurde, zeigt vielleicht der Umstand, dass die mangelnde Allgemeinverständlichkeit der Verwaltungssprache in ihren Urteilen quantitativ eine untergeordnete Rolle spielte (wenn man von Sonnenfels und Scheidlein absieht). Schließlich konnten sich Verwaltungstexte ohnehin nur an die Minderheit der Lesekundigen richten. Wenn sich die Änderungsvorschläge aufgeklärter Kommentatoren weitgehend auf die äußere Struktur wie die Verkürzung oder Abschaffung der Kurialien, die Straffung des Textaufbaus etwa mittels nummerierter Rubriken und namentlich den Stil der Texte beschränkten, waren diese Anregungen wesentlich mehr als Kosmetik118. Man versprach sich von ihnen eine Reparatur der Sprache mit dem Ziel der Wiederherstellung ihrer zeremoniellen Funktion. Diese Erörterungen, die in ihrer Kontinuität einen eigenen Diskurs etablierten, waren zwar durchaus (selbst)kritisch, doch ihr eigentlicher Zweck bestand in der Setzung möglichst konkreter, anwendbarer Normen und der Anleitung zu ihrer Anwendung. Vor allem reflektierte die Verwaltungssprachkritik die Entwicklungen, die sowohl die Gesellschaft der so genannten Sattelzeit im Allgemeinen, als auch des Staats und seiner Verwaltung kennzeichneten. Die Auseinandersetzung um den Kanzleistil, namentlich die Kurialien, war eine Kraftprobe zwischen Traditionalisten und dem Milieu des aufgeklärten Bürgertums, in der es um die Verbindlichkeit neuer Stilpräferenzen und damit die kulturelle Hegemonie ging. Der Kampf um den guten Geschmack in der Verwaltung ging im 19. Jahrhundert weiter; ein starkes Indiz für die Beständigkeit der Traditionen der frühmodernen Verwaltungskultur in einer Periode permanenter Reform. Obwohl die Schwächen des Kanzleistils fast ausschließlich auf der Basis ästhetischer Gesichtspunkte diskutiert und verurteilt wurden, war das Bedürfnis nach einem neuen Sprachstil wahrscheinlich nicht nur eines nach Schönheit. In ihm äußerte sich auch das Bedürfnis nach einem neuen Verwaltungsstil, also einer neuen Form der Kommunikation und damit einem neuen Verhältnis zwischen Regierung und Verwalteten. Eine neue Verwaltungssprache im Sinn der 118
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Aufklärung verlangte eine neue Auffassung von Höflichkeit und Achtung, die, anders als jene des Kanzleistils, authentisch war und den modernen Vorstellungen von Menschenwürde gerecht wurde. In der Forderung, die Verwaltung müsse sich den Stilpräferenzen der Untertanen oder jedenfalls eines Teils der Untertanen anpassen, äußerte sich das Verlangen einer neuen Elite nach stärkerer Integration in den Staat. Uneinigkeit bestand dagegen in der Frage des Umfangs dieser Integration. Während die Mehrheit der Autoren sie auf die Gebildeten und den Mittelstand beschränkt wissen wollte, traten vor allem jene aus der Habsburgermonarchie für eine Sprache ein, die von ausnahmslos allen Untertanen verstanden werden konnte. Diese Forderung brach nicht nur mit allen Verwaltungstraditionen und wichtigen Elementen der Beamtenidentität, sondern stellte die traditionale Regierungsweise insgesamt in Frage. Regenten hatten sich stets nur in Ausnahmefällen direkt an alle Untertanen gewandt. Ihre Anordnungen richteten sie an ihre Vasallen – Prälaten, Adel, die Räte der Städte und in der Neuzeit auch die leitenden Beamten – denen die Durchführung der Befehle oblag. Die Formen des Kanzleizeremoniells, dessen zentraler Bestandteil der Kanzleistil war, waren auf die Erfordernisse der Kommunikation zwischen Fürsten und Standespersonen abgestimmt. Wenn die Fürsten ihre Anordnungen direkt an sämtliche Untertanen aller Stände gerichtet hätten, wie Sonnenfels und seine Nachfolger zweifellos nicht ohne das Placet des Kaisers vorschlugen, dann hätten sie quasi an den politischen Eliten vorbeiregiert. Dabei handelte es sich nicht nur um eine aufgeklärte Sichtweise von Politik, sondern zugleich um die Vollendung des absolutistischen Herrschaftsanspruchs. Allerdings teilte der Allgemeinverständlichkeitsanspruch das Schicksal vieler anderer absolutistischer Initiativen: Er konnte in der Praxis nicht durchgesetzt werden. Die Auswirkungen seiner Realisierung hätten beträchtlich gewesen sein können, denn eine konsequente Allgemeinverständlichkeit der Verwaltungssprache hätte Beamten und Verwaltungsjuristen, kurz: der Obrigkeit, das Auslegungsmonopol von Gesetzen wenigsten teilweise entzogen119. Damit hätte eine Situation entstehen können, die mit den Folgen von Luthers Bibelübersetzung vergleichbar gewesen wäre. Allgemeinverständlichkeit war schon deshalb schwer realisierbar, weil der Geschäftsstil objektiv eine Fachsprache war. Von anderen Fachsprachen unterscheidet sich die Verwaltungssprache dadurch, dass sie auch von Personen verstanden werden muss, die dem Sprechermilieu nicht angehören. Dieser Widerspruch belastet das Verhältnis zwischen der Verwaltung und den Verwalteten bis in die Gegenwart.
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Hattenhauer, Rechts- und Gesetzessprache (Anm. 20), 40.
Verwaltungskulturen im Kirchenstaat? Konzeptionelle Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung Von Birgit Emich, Erlangen Was ist und wonach fragt die Kulturgeschichte der Verwaltung? Folgt man dem semiotischen Kulturbegriff von Max Weber und Clifford Geertz, dann ist Kultur das selbstgesponnene Netz aus Deutungen und Bedeutungen, in das sich der Mensch verstrickt. Wer Kultur erforscht, erforscht folglich Wahrnehmungen und Sichtweisen, Normen und Werte, Handlungsmuster und Aktionsformen. Zu erschließen ist diese Welt der Deutungen und Bedeutungen auch über normative Quellen und Diskurse, aber vor allem über Symbole und Praktiken. Damit rücken weitere Kategorien in den Blick: Organisation und Verfahren, mediale Verfasstheit, Technologien. All dies – und natürlich auch die Wechselwirkungen zwischen diesen Aspekten und Dimensionen – hat eine Kulturgeschichte der Verwaltung zu erfassen. Bündeln könnte man diese hier keineswegs abschließend erfasste Vielfalt der Untersuchungsgegenstände unter dem Begriff der Verwaltungskultur: Verwaltungskultur wäre dann der Gegenstand einer kulturalistisch orientierten Verwaltungsgeschichtsforschung. Aber ist Verwaltungskultur auch ein Konzept, das analytischen Nutzen entfalten, das der Forschung also methodisch wie inhaltlich Wege weisen könnte? Diese Diskussion erinnert an die langen Debatten über die Kategorie der politischen Kultur, die zweifellos einen Gegenstandsbereich beschreibt, in ihrem analytischen Mehrwert aber umstritten ist und wohl nicht zuletzt deswegen eine Umformulierung in die Kulturgeschichte des Politischen erfahren hat1: Statt nach einem Phänomen namens politischer Kultur zu fragen, hat vor allem die Frühneuzeitforschung eine kulturalistische Sichtweise auf das Politische entwickelt – der Gegenstand ist „der Handlungsraum, in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen geht“2, die Perspektive ist eine kulturgeschichtliche. Was aber bedeutet dies für die Kulturgeschichte der Verwaltung? Könnte es sein, dass sich auch der Be1
Vgl. hierzu Max Kaase, Sinn oder Unsinn des Konzepts ,Politische Kultur‘ für die Vergleichende Politikforschung, oder auch: Der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln, in: Wahlen und politisches System, hrsg. v. Max Kaase/Hans Dieter Klingemann, Opladen 1983, 144 – 172; sowie grundlegend für die genannte Umformulierung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Beiheft der ZHF, 35) Berlin 2005. 2 Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Beiheft der ZHF, 35) Berlin 2005, 9 – 24, 14.
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griff der Verwaltungskultur zwar zur Bezeichnung des weiten Gegenstandsbereichs eignet und durchaus Fragen generiert, zu deren Beantwortung aber konzeptionell wenig beizutragen hat? Und wenn dem so wäre: Welche alternativen Kategorien und Konzepte böten sich an? Um das zu klären, beginne ich mit der Suche nach begrifflichen Präzisierungen. In der Literatur finden sich durchaus Vorschläge, was unter Verwaltungskultur zu verstehen sei. Vor allem Verwaltungswissenschaftler benutzen den Begriff oft und gern – so oft und gern, dass gleich mehrere Bedeutungsvarianten im Angebot sind. Mal umfasst der Begriff Haltungen, Werte und Handlungsmuster innerhalb von Behörden, dann wieder solche Haltungen und Handlungen gegenüber den Behörden, und nicht selten auch die Wertvorstellungen und Verhaltensstandards im Verwaltungshandeln ganz allgemein3. Angesichts dieser Vielfalt an Bedeutungsebenen überrascht es nicht, dass manche Autoren vor dem Begriff eher warnen: „Verwaltungskultur“, so etwa Stefan Fisch aus dem Verwaltungseldorado Speyer, drohe zu einem „catch all term“ zu werden, „mit dem sich viele für interessant gehaltene Sachverhalte auf einen Begriff bringen lassen, dessen wissenschaftlicher Ertrag deshalb jedoch „nahe Null“ liegt“4. Warum die Verwaltungswissenschaft dennoch an dem Begriff festhält, wird gern mit den Erfahrungen in der EU-Bürokratie erklärt. Um es in den Worten des ehemaligen und offenbar leidgeprüften EU-Agrarkommissars Fischler zu sagen: „Was die Deutschen als Nepotismus geißeln, nennen die Italiener sozial“5. Und um diese Vielfalt der Einstellungen auf einen Begriff zu bringen, böte sich eben die Kategorie der Verwaltungskultur an6.
3 Stefan Fisch, Verwaltungskulturen – geronnene Geschichte?, in: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft 33 (2000), 303 – 323, 305, definiert Verwaltungskultur nach Frank Arnechiarico als „a transmissible pattern of beliefs, values and behaviour in public agencies about the agency’s role and relationship to the public“. Nach S. Fisch, Verwaltungskulturen (diese Anm.), 311, bedürfte es „zu einer vollständigen Erfassung von Verwaltungskulturen als Kulturen […] umfassender Untersuchungen von Wertvorstellungen und von darauf basierenden Verhaltensstandards“. Dies bedeute „die Herausarbeitung von identitätsstiftenden Weltbildern“ und „die Beobachtung von Symbolen und Zeichen, von Ritualen und Vorbildern im Alltag des Verwaltungshandelns“. Empirisch seien „Verwaltungskulturen als Systeme […] bislang immer nur in Bruchstücken beschrieben worden“. Werner Jann, Verwaltungskulturen im internationalen Vergleich. Ein Überblick über den Stand der empirischen Forschung, in: Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 33 (2000), 325 – 349, 331, unterscheidet vier unterschiedliche Verwendungen des Begriffs der Verwaltungskultur: Er bezeichne 1. beständige Verhaltensmuster und organisatorische Formen und Prinzipien in einer Einheit (z. B. einer Nation), 2. „Meinungen, Einstellungen, Werte (kurz Orientierungsmuster)“ gegenüber der Verwaltung, 3. Orientierungsmuster innerhalb der öffentlichen Verwaltung allgemein, 4. Orientierungsmuster und Handlungen in einer bestimmten Verwaltung. Auch Jann geht davon aus, dass diese Ebenen in aller Regel getrennt voneinander untersucht werden. 4 S. Fisch, Geronnene Geschichte (Anm. 3), 322. Mit „nahe Null“ zitiert Fisch hier Max Kaase, Sinn oder Unsinn (Anm. 1), der sich mit dieser Einschätzung nicht zufällig auf das mit ähnlichen Problemen behaftete Konzept der politischen Kultur bezog. 5 Zitiert nach W. Jann, Verwaltungskulturen (Anm. 3), 326.
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In der Geschichtswissenschaft scheint diese Kategorie bislang kaum Verwendung gefunden zu haben. Aber es gibt Ausnahmen, etwa Peter Becker, Stefan Haas, Peter Collmer7, und natürlich das Essener DFG-Projekt „Herrschaftsvermittlung in der Frühen Neuzeit“, für dessen Abschlusstagung dieser Beitrag entstand. Das Konzeptpapier zu dieser Tagung weist denn auch einen Weg, wie aus dem Catch-all-Begriff eine analytisch scharfe Kategorie werden könnte: Um Verwaltungskulturen zu erfassen, sei nach Binnenlogiken von Verwaltungen zu suchen8. Gerade diese Binnenlogiken erlaubten es, von einer eigenen Kultur der Institutionen zu sprechen. Zu finden seien die Binnenlogiken in der Praxis der Verwaltung, und genau dorthin, in die Verwaltungspraxis der Frühen Neuzeit, werde ich mich im zweiten Teil dieses Beitrags begeben. Bevor ich jedoch zu meinem praktischen Beispiel komme, möchte ich im ersten Teil zunächst einige theoretische Überlegungen anstellen. Diese Überlegungen haben tentativen Charakter; sie beschränken sich überdies auf zwei Anmerkungen zum Begriff der Binnenlogik und damit zum Konzept der Verwaltungskultur. Die erste betrifft die Frage, ob wir in der Frühen Neuzeit überhaupt einen Binnenraum der Verwaltung ausmachen können, was also, kurz gesagt, Verwaltung überhaupt ist. Die zweite theoretische Anmerkung zielt auf die Vorstellung einer einzigen Logik im Verwaltungshandeln. Hier möchte ich einige Impulse der Organisationssoziologie aufgreifen und für die Vorstellung werben, dass wir es mit mehreren Logiken oder Rationalitäten zu tun haben9. Dahinter verbirgt sich mein Vorschlag für eine konzeptionelle Ausrichtung der Verwaltungsgeschichte: Die Frage, wie sich diese unterschiedlichen Logiken, Normen oder Rationalitäten auf dem (noch näher zu bestimmenden) Feld der Verwaltung zueinander verhalten, könnte ein roter Faden sein, eine Art thematisches Rückgrat für die sich formierende Kulturgeschichte der Ver6 Eine einschlägige Kritik an der Verwendung des Kulturbegriffs zur Erklärung unterschiedlicher Bewertungen von Patronage und Klientelismus findet sich bei Niklas Luhmann, Kausalität im Süden, in: Soziale Systeme 1 (1995), H.1, 7 – 28, 8 (Absatz I der Online-Version unter http://www.soziale-systeme.ch/leseproben/luhmann.htm): „Wenn aber ein Begriff nicht klarstellen kann, was durch ihn ausgeschlossen wird, was also die andere, nicht bezeichnete Seite seiner Form ist, sind wissenschaftliche Erträge nicht zu erwarten“. Luhmanns Alternative: Kausalität als Zuschreibung, als soziale Konstruktion. Auch dieser Gedanke dürfte für einen konzeptionellen Entwurf einer Kulturgeschichte der Verwaltung fruchtbar zu machen sein. 7 Peter Becker, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Verwaltung, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15 (2003), 311 – 336. Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800 – 1848, Frankfurt am Main 2005; sowie Stefan Haas, Verwaltungsgeschichte nach Cultural und Communicative Turn. Perspektiven einer historischen Implementationsforschung, in diesem Band. Vgl. zu Peter Collmer dessen Beitrag in diesem Band: Dreieckskommunikation in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Vier Thesen und ein Quellenbeispiel. 8 Vgl. die Einleitung zu diesem Sammelband von Stefan Brakensiek. 9 Rational wird hier schlicht als zielgerichtet verstanden: Das Handeln ist auf ein Ziel gerichtet, die gewählten Mittel sind dem Ziel adäquat. Unterschiedliche Rationalitäten ergeben sich mithin aus unterschiedlichen Zielsetzungen.
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waltung. Die Kategorie der Verwaltungskultur scheint mir hierfür – um dies vorwegzunehmen – weniger geeignet. Zunächst aber: Was heißt überhaupt Verwaltung? Nach einer klassischen Formulierung des später in anderer Rolle bekannt gewordenen Verwaltungsfachmanns Woodrow Wilson sind nicht die großen Pläne des Regierungshandelns administrativ. Aufgabe der Administration und damit der Kern der Verwaltung sei vielmehr die kleinteilige Ausführung dieser großen Pläne10. Für den modernen Anstaltsstaat mag das zutreffen: Wo Politik und Verwaltung getrennt sind, beschränkt sich die Verwaltung auf das Ausführen extern definierter Aufträge – Verwaltung ist eine ausführende Instanz ohne eigene Entscheidungsgewalt. In der Frühen Neuzeit kommt man mit der Dichotomie von Regierung und Verwaltung allerdings nicht weit. Wohl deswegen ist im Titel der hier dokumentierten Tagung die Rede von „Herrschaft und Verwaltung“, und deswegen sprechen Stefan Haas und Mark Hengerer in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Bandes („Im Schatten der Macht“) über Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung zwischen 1600 und 1950 von „politischadministrativen Systemen“ anstelle von „staatlicher Verwaltung“11. Wenn aber Regieren und Verwalten nicht zu trennen sind, wie sollen dann jene Binnenlogiken der Verwaltung zu erkennen sein, die nach Essener Lesart die Verwaltungskultur ausmachen12 ? Vielleicht, indem man sich auf bestimmte Themenfelder konzentriert, auf bestimmte Verfahren wie die Visitationen, auf bestimmte Amtsträger. Tatsächlich arbeitet die Verwaltungsgeschichte ja genau so: indem sie die untrennbare Vermengung von Regieren und Verwalten, von großem Plan und kleinteiliger Ausführung akzeptiert und ihre Untersuchungsgegenstände durch Konzentration und Auswahl fokussiert. Verwaltung habe eben viele Gesichter, so auch Stefan Fisch, und um dem gerecht zu werden, solle man ohnehin besser von Verwaltungskulturen im Plural reden13. Dieses Argument dürfte auch in Essen Gehör finden: Wenn ich das richtig 10 Woodrow Wilson, The Study of Administration, in: Political Science Quarterly 2/2 (1887), 198 – 222, 212: „The broad plans of governmental action are not administrative; the detailed execution of such plans is administrative“. Zitiert auch im Editorial zu Traverse 2011: Stefan Nellen/Agnes Nienhaus/Frédéric Sardet/Hans-Ulrich Schiedt, Verwalten und regieren – Administrer et gouverner, Traverse. Zeitschrift für Geschichte / Revue d’histoire 17 (2011), 2. 11 Stefan Haas/Mark Hengerer, Zur Einführung: Kultur und Kommunikation in politischadministrativen Systemen der Frühen Neuzeit und der Moderne, in: Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600 – 1950, hrsg. v. Stefan Haas/Mark Hengerer, Frankfurt am Main/New York 2008, 9 – 22, 9. 12 Ob sich die vormoderne Verwaltung von der modernen in jeder Hinsicht grundlegend unterscheidet, wäre noch zu überprüfen. Bislang dominiert die Vorstellung von einem Bruch in der Verwaltungsgeschichte um 1800, so etwa ganz ausdrücklich bei Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft und Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, 12: „Die heutigen Bürokratien entstammen nicht diesen älteren Vorläufern. […] Ihre rechtlichen, sozialen und technisch-organisatorischen Grundlagen wurden in deutlicher Zäsur mit den älteren Verwaltungszuständen geschaffen, die etwa bis 1800 in Europa dominierten“. 13 S. Fisch, Geronnene Geschichte (Anm. 3), 322.
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sehe, dient der Begriff dem dortigen Forschungsprojekt zur Herrschaftsvermittlung ebenfalls vor allem dazu, die historische Vielfalt zu erfassen. Das ist natürlich legitim. Man könnte darin aber auch die Konsequenz eines konzeptionellen Problems sehen. Schließlich haben sowohl die Kleinteiligkeit der Forschung als auch die Freude an der Vielfalt der Verwaltungsgesichter und -kulturen ihre Wurzeln in einer Verlustmeldung. So herrscht Einigkeit, dass die große Erzählung von der Bürokratisierung als Rationalisierung als Modernisierung ihre Überzeugungskraft verloren hat. Aber was kam stattdessen? Prozesse sind verdächtig, Teleologien tabu. Was bleibt, ist eben die kleinteilige Betrachtung von Verfahren, Feldern, Amtsträgern. Wie gesagt: Das ist legitim14. Es birgt aber doch auch ein gewisses Risiko. Denn wie sollen wir erklären, was wir tun, wenn Verwaltungsgeschichte, ob kulturalistisch oder nicht, aus einem Sammelsurium von Detailbefunden ohne Zusammenhang und roten Faden besteht, wenn also Verwaltungskultur(en) als Catch-all-Begriff der einzige gemeinsame Nenner verwaltungsgeschichtlicher Forschung sein sollte? Ich will hier nicht der Rückkehr einer geradlinigen Meistererzählung das Wort reden. Ich glaube aber, dass die Kulturgeschichte der Verwaltung sowohl zur Selbstverständigung über ihr Tun als auch zur besseren Vergleichbarkeit der Befunde einen roten Faden, einige grundlegende Kategorien, Leitfragen und Kernthemen gut gebrauchen könnte15. Natürlich liegen hierfür bereits anregende und weiterführende Vorschläge vor: Das Essener Projekt plädiert für das Konzept der Triangulierung als Abkehr von dyadischen Vorstellungen und als Zugriff auf administrative Verfahren; Peter Becker möchte neben der Sprache vor allem die Persona des Amtsträgers in den Mittelpunkt rücken; auch Arndt Brendecke wirbt dafür, nach Handlungsspielräumen der Amtsträger und damit sowohl nach Amtsbegriff und Habitus als auch nach dem persön14 Dass die Konzentration auf einzelne Verfahren, Techniken oder Medien nicht nur legitim, sondern oftmals überaus ertragreich ist und nicht blind sein muss für Prozesse, zeigt etwa Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2001. Ohnehin kommt ein kulturalistischer Blick auf die Verwaltungsgeschichte nicht ohne die Frage nach dem Eigengewicht administrativer Logiken und Praktiken (also etwa der Schriftlichkeit, der Ablage und Speicherung etc.) aus. Forschungen auf diesem wichtigen Feld, das auch die Neoinstitutionalisten mit ihrem Hinweis auf das Eigengewicht von Institutionen (s.u.) ansprechen, ließen sich mit organisationssoziologischen Kategorien m. E. weiter voranbringen. Allerdings scheint es mir nicht sinnvoll, den Begriff der Verwaltungskultur oder auch den der die Verwaltungskultur kennzeichnenden Binnenlogik auf diese administrativ-technische Dimension zu verengen: Dass Verwaltung in der Frühen Neuzeit nicht ohne weitere, konkurrierende Logiken zu erfassen ist, möchte ich im Folgenden ja gerade zeigen. 15 Das illustriert in gewisser Weise auch der Band: Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Hochedlinger/Thomas Winkelbauer (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 57), München 2010, der eine ganze Fülle von Detailstudien zur Forschungsgeschichte und Lehre sowie Fallstudien zur Habsburgermonarchie umfasst, aber selbst unter der Rubrik „Wege der Forschung: „Klassische“ und „alternative“ Zugänge“ abgesehen von dem Beitrag von Stefan Brakensiek, Verwaltungsgeschichte als Alltagsgeschichte. Zum Finanzgebaren frühneuzeitlicher Amtsträger im Spannungsfeld zwischen Stabsdisziplinierung und Mitunternehmerschaft, 271 – 290, zum Alltag der Verwaltung als sozialer Praxis eher weitere Fallstudien als konzeptionelle Neuentwürfe bietet.
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lichen Faktor zu fragen; und Stefan Haas lenkt mit dem Begriff der Emergenz den Blick auf Phänomene, die nicht in der Summe der Intentionen aufgehen16. Alle diese Vorschläge erweisen sich für die Kulturgeschichte der Verwaltung als überaus fruchtbar und nützlich. Dennoch dürfte es sich lohnen, Ausschau nach weiteren Kategorien und Fragestellungen zu halten, die womöglich die Vorstellung einer Entwicklung, das Prozesshafte in die Verwaltungsgeschichte zurückbringen könnten. Auf der Suche nach solchen Kategorien könnten jene Impulse nützlich sein, die Hand in Hand mit einer Reihe empirischer Studien die Meistererzählung der bürokratischen Modernisierung um ihre Überzeugungskraft gebracht haben. Der erste dieser Impulse betrifft unsere Vorstellungen von den Akteuren und ihren Handlungen. Wenn man mit Max Weber und den Vertretern von Rational-Choice-Theorien annimmt, dass Akteure subjektive Ziele vor Augen haben und sich so verhalten, wie sie denken, ihre Ziele am besten erreichen zu können, dann muss man nach diesen Zielen fragen und nach der Adäquanz der Mittel. Wenn man aber annimmt, dass die Akteure nicht unbedingt zielgerichtet handeln, wohl aber ihr Handeln im Rückblick immer als zielgerichtet interpretieren, dann verschiebt sich die Frage nach dem Sinn: Dann ist nicht das Handeln der Akteure aus ihren Zielen zu erklären, dann bleibt nur zu untersuchen, wie sie ihr Handeln in der Rückschau als sinnvoll interpretieren. Die Sinngebung erfolgt immer rückwirkend, so die Überzeugung von Karl E. Weick, mit dessen Namen diese Trendwende in der US-amerikanischen Organisationssoziologie verbunden ist17. Weick selbst hat das auf eine schlichte Formel gebracht: „Die Leute wissen, was sie denken, wenn sie sehen, was sie sagen“18. Das gilt aber nicht nur für „die Leute“. Es gilt ebenso für Organisationen: Organisationen und damit auch Verwaltungsbehörden sind „sensemaking systems“, sinngenerierende Systeme, die ihre Selbstwahrnehmung rückblickend stets neu erzeugen19. Dieser Ansatz mündet unmittelbar in eine Kulturgeschichte der Verwaltung. Zu befragen ist das Verwaltungshandeln aus dieser Sicht sicher weiterhin auch nach den Zielen und Intentionen der Akteure, aber doch vor allem nach ihren Interpretationen des eigenen Handelns – nach den Sinnhorizonten, für die sich die Kulturgeschichte ohnehin interessiert, nach der Selbstbeschreibung von Einzelnen und Organisationen, nach der Art und Weise, wie sie ihre Umwelt beobachten, und auch nach der Fremdbeschreibung der Verwaltung durch Dritte. Dieser Ansatz verbindet nicht nur individuelle und 16 Vgl. etwa Arndt Brendecke, Die Blindheit der Macht. Über den subjektiven Mehrwert alteuropäischer Beratung, in: Zeitschrift für Ideengeschichte III/3 (2009), 33 – 43. Zu den Vorschlägen von Stefan Haas vgl. S. Haas, Verwaltungsgeschichte (Anm. 7). Zu Peter Becker vgl. P. Becker, Überlegungen (Anm. 7). 17 Grundlegend: Karl E. Weick, The Social Psychology of Organizing, Reading 1969; dt. Ausgabe: Der Prozess des Organisierens, Frankfurt am Main 1985. 18 Karl E. Weick, Sensemaking in Organizations. Foundations for Organizational Science, Thousand Oaks/London/New Delhi 1995, 106; dort heißt es im Original: „[P]eople know what they think when they see what they say“. 19 Hierzu ausführlich und titelgebend: K. Weick, Sensemaking (Anm. 18).
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kollektive Wahrnehmungen, er könnte auch verhindern helfen, nicht offenkundig und eindeutig sachorientierte Handlungsweisen als defizitär und hinderlich abzutun. Und er könnte darüber hinwegtrösten, dass man bei frühneuzeitlichen Verwaltungen, die ja mehr reagieren als gestalten, klare Handlungsziele oftmals vergeblich sucht. Ein zweiter Impuls entstammt ebenfalls der Organisationssoziologie, genauer: ihrem neoinstitutionalistischen Zweig, dem auch Weick zuzurechnen ist20. Grundsätzlich warnen die Neoinstitutionalisten davor, in der Tradition der RationalChoice-Ansätze den Aspekt der Rationalität überzubewerten und das Eigengewicht der Institutionen zu übersehen. Sind sie sich darin mit den klassischen Institutionalisten einig, mahnen sie diesen gegenüber an, neben der formalen Organisation auch die informelle Ebene zu berücksichtigen. Beides, das Eigengewicht der Institutionen und die Bedeutung der informellen Ebene, klingt schon im Titel eines Aufsatzes von 1977 an, der von John W. Meyer und Brian Rowan stammt und als eine Art Gründungsschrift der neoinstitutionalistischen Denkrichtung gelten kann: „Institutionalisierte Organisationen. Formale Struktur als Mythos und Zeremonie“21. Der Kerngedanke lautet: Eine formale Organisation (also auch eine Behörde) ist so, wie sie ist, nicht nur aus Gründen der Effizienz, sondern weil jede formale Organisation Legitimität, das heißt soziale Akzeptanz und Glaubwürdigkeit, beschaffen und sichern muss. Dazu aber muss sie zeigen, dass sie den in der Gesellschaft etablierten Werten und Ansprüchen genügt. Solche externen Wertvorstellungen wären etwa in der klassischen Moderne Effizienz und ökonomische Rationalität als Inbegriff der Modernität, heute eher Umweltschutz, Nachhaltigkeit, die Förderung von Minderheiten, Gleichstellungspolitik und Diversity-Management. Zum Ausdruck gebracht werden diese akzeptanzstiftenden Übereinstimmungen durch Techniken und Verfahren, etwa durch bestimmte Formen von Aktenführung, Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung oder durch die Beteiligung von Frauenbeauftragten in Berufungsverfahren, aber auch in zeremonieller, symbolischer Form: Diplome und Zertifikate der Mitarbeiter beweisen Kompetenz, Computer demonstrieren Modernität, Frauenbeauftragte symbolisieren durch ihre schiere Existenz das Bemühen um Geschlechtergerechtigkeit22. Entscheidend ist hierbei der Gedanke, dass sich Organisationen in 20
Allg. zu dieser Strömung vgl. die Übersicht von Peter Walgenbach/Renate Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008. Allgemein zur Organisationssoziologie vgl. auch Emil Walter-Busch, Organisationstheorien von Weber bis Weick, Amsterdam 1996; sowie Organisationstheorien, hrsg. v. Alfred Kieser/Mark Ebers, 6., erweiterte Auflage, Stuttgart 2006. 21 John W. Meyer/Brian Rowan, Institutionalized Organizations. Formal Structure as Myth and Ceremony, in: American Journal of Sociology 83 (1977), 340 – 363. Eine deutsche Übersetzung mit dem Titel: Institutionalisierte Organisationen. Formale Struktur als Mythos und Zeremonie, bietet: Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft. Grundlegende Texte und empirische Studien – Neo-Institutionalism in Education Science: Basic Texts and Empirical Studies, hrsg. v. Sascha Koch/Michael Schemmann, Wiesbaden 2009, 28 – 56. 22 Dass Verfahren immer sowohl eine expressiv-symbolische als auch eine instrumentelle Dimension haben, ist der Grundgedanke des Münsteraner Leibniz-Projekts „Vormoderne Verfahren“ von Barbara Stollberg-Rilinger; vgl. etwa: Vormoderne politische Verfahren, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Beiheft der ZHF, 25), Berlin 2001. Im Sinne dieses Ansatzes
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ihren formalen Strukturen ihrer Umwelt anpassen: Sie nehmen Programme auf, die keinen Effizienzgewinn versprechen, sondern für Akzeptanz und Glaubwürdigkeit sorgen sollen. „Isomorphie“ heißt das bei den Neoinstitutionalisten, und diese Isomorphie hat Folgen. Denn wenn die formale Organisation – also die Ebene des Expliziten, meist schriftlich Geregelten – mit der Aufgabe befasst ist, Legitimität zu beschaffen, dann bleibt das effiziente, zielgerichtete Handeln oftmals auf die Ebene des Informellen angewiesen: Die formale Organisation bietet Rationalitätsfassaden, eben Mythen und Zeremonien; die informelle Ebene, der Bereich des nicht Kodifizierten, nicht explizit und nicht schriftlich Geregelten sorgt dafür, dass die formal definierten Zwecke der Organisation auch tatsächlich erreicht werden. Mit diesem Ansatz haben kürzlich Sven Reichardt und Wolfgang Seibel unter dem Titel „Der prekäre Staat“ Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus untersucht. Dass die Verwaltung im NS mit seiner vielbeschriebenen Polykratie zwar ständig neue formale Strukturen etablierte, aber dennoch bis zuletzt effizient funktionierte, erklären sie auch mit der Ideologisierung, aber vor allem mit der gleichzeitigen Personalisierung und Informalisierung der Arbeitsweise: Die Reintegration der sich ausdifferenzierenden Verwaltung erfolgte maßgeblich durch Vernetzung23. Erweist sich die Frage nach dem Verhältnis von formaler Organisation und informeller Ebene damit auch für die Zeitgeschichte als fruchtbar, liegt der Reiz dieses Ansatzes für die Frühneuzeitforschung noch offener zu Tage. Schließlich kommt die Ebene des Informellen, der Verflechtung, der Netzwerke, die ja für die Frühe Neuzeit von ebenso eminenter wie evidenter Bedeutung ist, in diesem Zugriff schon konzeptionell zu ihrem Recht. Welche Einsichten der Blick auf die informelle Ebene zu eröffnen vermag, hat sich auch bei der Untersuchung von Herrschaft und Verwaltung immer wieder gezeigt. So darf mittlerweile als unbestritten gelten, dass Nepotismus und Patronage als Inbegriff des Informellen nicht nur eine zentrale, sondern oft auch eine durchaus funktionale Rolle im politisch-administrativen System gespielt haben. Ihren Beitrag auf diesem Feld hat auch die intensive Erforschung des römisch-päpstlichen Herrschaftssystems geleistet, das – dies sei der gelegentlich anzutreffenden Etikettierung Roms als mit nichts vergleichbarer Ausnahmeerscheinung entgegengehalten – aufgrund seiner spezifischen Verfasstheit die genannten Phänomene vielleicht noch besser erkennen lässt als andere Untersuchungsräume, aber doch nicht weniger vergleichbar und aussagekräftig ist als, sagen wir: Hessen-Kassel. Und mit Blick auf diese Untersuchungen muss man den oben zitierten Agrarkommissar Fischler etwas korrigieren: Wenigstens jene Deutschen, die die Geschichte des Papsttums erforschen, schelten den Nepotismus keineswegs. Sie haben vielmehr kann die Beteiligung von Frauenbeauftragten an Verfahren sowohl als technisches Instrument als auch als symbolische Form interpretiert werden. 23 Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, hrsg. v. Sven Reichardt/Wolfgang Seibel, Frankfurt am Main 2011; darin v. a. die Einleitung der Herausgeber: Radikalität und Stabilität: Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, 7 – 28, insbesondere 17 – 20.
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immer wieder beschrieben und gezeigt, dass Patronage als soziale Institution nicht nur ernst zu nehmen ist, sondern wichtige Funktionen im Prozess der Durchsetzung und Verdichtung von Herrschaft übernehmen konnte24. Staatsbildung im Windschatten des Nepotismus – auf diese Formel könnte man die römischen Befunde bringen25. Aus der Sicht dieser und vieler anderer Forschungen besteht die Aufgabe denn auch nicht darin, die schrittweise Überwindung des Informellen auf dem Weg zur modernen Bürokratie nachzuzeichnen – dass Organisationen zwingend eine informelle Seite haben und Informalität folglich nie verschwinden kann, weiß die Organisationssoziologie ja schon lange26. Vielmehr geht es darum, das jeweilige Verhältnis von Formalität und Informalität zu ermitteln27. Wie sich Prozesse der Formalisierung zu Prozessen der Informalisierung verhalten, gehört meines Erachtens zu den großen Fragen, vor denen die Verwaltungsgeschichte steht und die die Kulturgeschichte der Verwaltung auch konzeptionell voranbringen könnten28. 24 Um auch hier eine ,Gründungsschrift‘ zu nennen: Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen – „Verflechtung“ als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg, 14), München 1979; gekürzt wiederabgedruckt in: Wolfgang Reinhard, Ausgewählte Abhandlungen (Historische Forschungen, 60), Berlin 1997, 289 – 310. Eine Art Zusammenfassung der entsprechenden Arbeiten, die v. a. im Umfeld Wolfgang Reinhards entstanden sind, bietet: Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605 – 1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum, 37), Stuttgart 2009. 25 So etwa im Blick auf die römischen Zentralbehörden und deren Entwicklung Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605 – 1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom (Päpste und Papsttum, 30), Stuttgart 2001. 26 Vgl. z. B. Walther Müller-Jentsch, Organisationssoziologie. Eine Einführung, Frankfurt am Main/New York 2003, 12 – 15; Peter Preisendörfer, Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien und Problemstellungen, 2. Auflage, Wiesbaden 2008, 66 – 73. In kommunikationsoder systemtheoretischer Lesart ergibt sich aus der Einsicht in die dauerhafte Existenz einer informellen Organisation die überaus fruchtbare Frage nach Interaktion in Organisationen, vgl. hierzu grundlegend André Kieserling, Interaktion in Organisationen, in: Die Verwaltung des politischen Systems. Neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema, hrsg. v. Klaus Dammann/Dieter Grunow/Klaus P. Japp, Opladen 1994, 168 – 183; sowie André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt 1999. 27 Hier wäre aus der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie das Konzept der Kopplung nutzbar zu machen, das v. a. auf Karl E. Weick zurückgeht; grundlegend hierzu: Karl E. Weick, Educational Organizations as Loosely Coupled Systems, in: Administrative Science Quarterly 21 (1976), 1 – 19. Eine deutsche Übersetzung unter dem Titel: Bildungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme, in: Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft. Grundlegende Texte und empirische Studien – Neo-Institutionalism in Education Science: Basic Texts and Empirical Studies, hrsg. v. Sascha Koch/Michael Schemmann, Wiesbaden 2009, 85 – 109. 28 Nach ersten Überlegungen aus dem Jahr 2008 (Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen: Der Fall Rom, in: Informelle Strukturen bei Hof. Dresdener Gespräche III zur Theorie des Hofes, hrsg. v. Reinhardt Butz/Jan Hirschbiegel, Münster 2008, 149 – 156) hierzu dann ausführlicher: Birgit Emich, Die Formalisierung des Informellen. Ein Beitrag zur Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit, in: Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und
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Was damit gemeint ist, möchte ich an einem konkreten Beispiel zu zeigen versuchen. Im Zentrum wird hierbei der Kirchenstaat stehen, genauer: die Provinz Ferrara im frühen 17. Jahrhundert. Inhaltlich habe ich kein bestimmtes Verfahren oder Amt herausgegriffen, sondern ein Aufgabenfeld des politisch-administrativen Systems, die Getreidepolitik29. Die Getreideverwaltung bietet sich an, weil es kaum ein Thema des administrativen Alltags gab, dem Politiktheoretiker wie -praktiker in der Frühen Neuzeit so viel Bedeutung für die Stabilität von Herrschaft beimaßen wie der Versorgung der Bevölkerung mit Korn. In der politischen Ratgeberliteratur der Zeit spielt die Lebensmittelversorgung eine besondere Rolle, und auch im Alltag der Provinzverwaltung nahm dieses Thema breiten Raum ein. Dies zeigt schon der erste Blick auf die sogenannten Bandi, das heißt auf die öffentlichen Aushänge, in denen der Kardinallegat, der an der Spitze der Ferrareser Provinzverwaltung stand, seinen Untertanen Anweisungen erteilte. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Erlasse bezog sich auf das Korn der Ferraresen. In schöner Regelmäßigkeit wurden die Landbesitzer im Verlauf der Ernte zunächst aufgefordert, ihre Erntemengen zu melden. Dann folgte der Aufruf, sämtliche Erträge jenseits der den Bauern im üblichen Halbpachtverfahren zustehenden Mengen in die Stadt zu bringen. Dieser Aufruf musste mehrfach wiederholt werden: Mal wurden den Säumigen Ermittlungen und Strafen angedroht, mal wegen des Dauerregens die Fristen verlängert, dann verschärfte sich wieder der Ton, und am Ende wurden nicht selten Ultimaten gesetzt. Den Abschluss dieser Erlassoffensive bildete regelmäßig die Aufforderung, nun die Mengen des offenbar in der Stadt eingetroffenen Getreides zu melden. Volker Reinhardt, der die entsprechende Flut an Aushängen für Rom ausgewertet und dabei offensichtlich nicht nur Freude gehabt hat, spricht hier von „starrsinniger Monotonie Jahr für Jahr“30. Man könnte aber vielleicht auch von einer Publikationsoffensive reden, die die Sorge der Staatsgewalt um die Versorgungslage zum Ausdruck brachte und bringen sollte. Doch nicht nur die symbolische Dimension dieser MaßStaatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit, hrsg. v. Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/Christian Wieland, Heidelberg 2011, 81 – 95. 29 Zum Folgenden vgl. ausführlich und mit allen Belegen Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Köln/Weimar/Wien 2005, Kapitel IV.3: Das Korn der Ferraresen, 657 – 775. Dass ich meine dort dargelegten empirischen Befunde mit Hilfe der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie nicht nur in anderen Worten beschreiben, sondern in der Sache besser erfassen kann als ohne diese Kategorien, hat mich selbst vom Nutzen dieser Ansätze überzeugt – und mag rechtfertigen, dass ich mich im Folgenden in empirischer Hinsicht gänzlich auf meine damaligen Ergebnisse stütze. Mit Hilfe neoinstitutionalistischer Theorien lassen sich im Übrigen auch die Hinweise auf meine eigenen eher theoretischen Arbeiten in den Fußnoten erklären: Ganz im Sinne Weicks und der rückblickenden Sinnstiftung scheinen mir diese Auseinandersetzungen mit den Befunden aus Rom und Ferrara schon länger um das Problem zu kreisen, wie sich die verwaltungsgeschichtlichen Phänomene für die Ausarbeitung eines umfassenderen Konzeptes einer Kulturgeschichte der Verwaltung nutzen lassen. So gesehen, dokumentieren die Selbstzitate entweder ein work in progress – oder eine Rationalitätsfassade. 30 Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563 – 1797 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 72), Tübingen 1991, 29.
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nahmen verdient Beachtung. Weiterführend ist auch der vergleichende Blick, zu dem Volker Reinhardts Befunde zu Rom und entsprechende Arbeiten zum Land der Päpste einladen31: Ob Ferrara oder Rom, ob Bologna oder andere Orte des Kirchenstaates – die Bemühungen um Meldung und Einfuhr waren überall die gleichen. Am Ende der Aufforderungskaskaden lagen für alle Verwaltungsgebiete Zahlen vor. Wie viel Getreide zur Versorgung der Provinz zur Verfügung stand, wusste man in Rom, Bologna und Ferrara meist zur gleichen Zeit. Welche Schlüsse man daraus zog, folgte jedoch unterschiedlichen Regeln. In Rom beriet eine ganze Behörde über die Zahlen: die Annona, eine für Rom und sein Umland zuständige Getreidebehörde, deren Name auf antike Wurzeln verweist und im Übrigen heute noch existiert – wenn auch nur für den einzigen Supermarkt in der Vatikanstadt. Diese Annona war weit mehr als eine Aufsichtsbehörde. Um die Hauptstadt Rom und die zu gewalttätigen Ritualen neigenden Römer nicht den Widrigkeiten des Marktes auszusetzen, kaufte die Annona regelmäßig Getreide auf. Diese Vorräte wurden nach Bedarf in den Markt gelenkt, und da sich die Päpste den Luxus des schweren Brotes etwas kosten ließen, konnte die Annona als zweites Gleis der Getreideversorgung neben dem freien Markt in aller Regel eine Brotpolitik im Interesse der Verbraucher betreiben. Das schiere Gegenteil war in Bologna der Fall. Hier wurde der Markt durch einen Höchstpreis gedeckelt: Mehr als der sogenannte Calmiere durfte das Korn nicht kosten. Was aussieht wie Verbraucherschutz, entpuppte sich in der Praxis allerdings als Instrument der Preisstützung. Um der renitenten städtischen Oberschicht entgegenzukommen, hatten es die Päpste zugelassen, dass in Bologna der Stadtadel, und das hieß die Landbesitzer selbst, den Getreidepreis festlegen durften. Dass hier eine Preispolitik im Interesse der Produzenten betrieben wurde, liegt daher auf der Hand. Zwei Modelle standen mithin bereit, als 1598 das ehemalige Herzogtum Ferrara an den Kirchenstaat fiel. Allerdings entschied sich der damalige Papst Clemens VIII. weder für den Verbraucherschutz alla romana noch für die Produzentenpreise alla bolognese. In Ferrara legte fortan der Kardinallegat, also der vor Ort residierende Verwaltungschef der Provinz im Range eines Kardinals, den Höchstpreis fest, und 31
Zur Bologneser Getreidepolitik vgl. die Beiträge von Alberto Guenzi, Il „calmiero del formento“: Controllo del prezzo del pane e difesa della rendita terriera a Bologna nei secoli XVII e XVIII, in: Annali della fondazione Luigi Einaudi 11 (1977), 143 – 201; Alberto Guenzi, Un mercato regolato: Pane e fornai a Bologna nell’età moderna, in: Quaderni Storici 37 (1978), 370 – 397; Alberto Guenzi, Il frumento e la città: Il caso di Bologna nell’età moderna, in: Quaderni Storici 46 (1981), 153 – 167; Alberto Guenzi, La tutela del consumatore nell’antico regime. I „vittuali di prima necessità“ a Bologna, in: Disciplina dell’anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra medioevo ed età moderna, hrsg. v. Paolo Prodi (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Quaderno 40), Bologna 1994, 733 – 756. Zu Ravenna: Ivo Mattozzi, Per una ricerca sui rapporti tra comunità di Ravenna e poteri centrali nel Cinquecento. Appunti sulla questione annonaria, in: Persistenze feudali e autonomie comunitative in Stati Padani fra Cinque e Settecento, hrsg. v. Giovanni Tocci, Bologna 1988, 221 – 246. Allgemein zum Kirchenstaat vgl. auch Cesarina Casanova, Le mediazioni del privilegio. Economie e poteri nelle legazioni pontificie del Settecento, Bologna 1984, v. a. 79 – 90.
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zwar genau dann, wenn der letzte seiner Aushänge Erfolg gehabt hatte und die in der Stadt befindlichen Erntemengen bekannt waren. Um diesen jährlichen Balanceakt zwischen Verbraucherschutz und Profitinteressen war der Legat nicht zu beneiden. Da vom Calmiere, dem amtlichen Höchstpreis, unmittelbar das Gewicht des Brotes abhing, das für eine bestimmte Menge Geldes zu haben war, durfte die Marke im Interesse der unteren Schichten nicht zu hoch steigen. Blieb der Calmiere indes zu tief, bekam es der Legat mit den Landbesitzern zu tun. Vor allem aber, und das war in den fetten Jahren des frühen 17. Jahrhunderts das Hauptproblem, waren die Ernten mitunter so üppig, dass aufgrund des Überangebots Preisstürze sondergleichen drohten. Um dies zu verhindern, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Rom ließ den grundsätzlich verbotenen Export des überschüssigen Korns aus der Provinz zu, oder aber man gründete doch noch eine Einrichtung, die wie die römische Annona die Überschüsse durch entsprechende Aufkäufe vom Markt abschöpfte. Tatsächlich sollte es so kommen. Nach dem Ende der langen Amtszeit des in dieser Hinsicht wenig beweglichen Legaten Orazio Spinola wurde 1615 mit Giacomo Serra ein Kardinal als neuer Verwaltungschef nach Ferrara geschickt, der seine Ämterlaufbahn just an der römischen Annona angefangen und in der päpstlichen Finanzverwaltung fortgesetzt hatte. Dieser Kardinal Serra gründete in Ferrara umgehend eine dem römischen Vorbild ähnliche Behörde, die nicht Annona, sondern Abbondanza hieß und zweierlei unter Beweis stellte. Zum einen war der Spielraum der Amtsträger und damit die Bedeutung des persönlichen Faktors groß: Wie Serras Rückgriff auf ihm aus seiner römischen Zeit vertraute getreidepolitische Institutionen und Routinen zeigt, konnten Ämterlaufbahn und Amtserfahrung der Akteure das Verwaltungshandeln offenbar deutlich prägen. Zum anderen verweist die Benennung dieser Stelle zur Marktregulierung darauf, dass administratives Handeln immer auch mit der Repräsentation von Herrschaft zu tun hatte: Abbondanza, das war der Überfluss, der ikonografisch durch das Füllhorn dargestellt wurde, in dieser Form auch in der Papstikonografie zu finden war und als Bezeichnung für eine Behörde das paternalistische Amtsverständnis der Pontifices im Wortsinn auf den Begriff brachte32. 32 Um auch in diesem Fall beim Pontifikat Pauls V. zu bleiben: Den Katafalk für diesen Papst, der während der Trauerfeiern im Januar 1622 in Santa Maria Maggiore aufgestellt war, schmückte u. a. eine stehende Figur, die Kornähren in den Händen, der Ährenkranz auf dem Kopf und das Füllhorn zu ihren Füßen als Abbondanza oder (in römischer Terminologie) Annona auswiesen. Dokumentiert ist dies etwa in einem aufwendig illustrierten Werk, für das Dietrich Krüger als Stecher, Giovanni Lanfranco als Zeichner und Lelio Guidiccioni als Autor verantwortlich zeichneten: Breve racconto della trasportatione del corpo di Papa Paolo V. dalla Basilica di S. Pietro a’ quella di S. Maria Maggiore; con l’Oratione recitata nelle sue esequie, & alcuni versi posti nell’apparato, Rom 1623. Tafel 10 zeigt die Personifikation der, so die Sockelbeschriftung, Annona. Bibliotheca Hertziana, Bibliothek, Katalog-Nr. Zk 4019 – 2230 gr raro; das Digitalisat einer Aufnahme der Tafel 10 aus der Fotothek der Bibliotheca Hertziana findet sich unter http://fotothek.biblhertz.it/bh/a/bhpd36041a.jpg (letzter Besuch 17. Mai 2013). Den Palazzo Borghese, d. h. den innerstädtischen Palast der Papstfamilie, ziert eine Fontana dell’abbondanza, die der im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in Rom tätige, stark an Bernini orientierte Künstler Francesco Cavallini noch Jahrzehnte nach dem Ende des Familienpontifikats hergestellt und mit den entsprechenden Symbolen versehen hat.
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Aber zurück in die Zeit, bevor Serra dieses Füllhorn über den Ferraresen ausschüttete. Unter dem Kardinallegaten Spinola gab es keine solche Einrichtung wie die Abbondanza, und so mussten sich die Agrarproduzenten in Zeiten reicher Ernte um eine andere Lösung ihres Preis- und Absatzproblems bemühen. Die einfachste Lösung versprach eine sogenannte Tratta. Bei diesen Tratte (so der Plural) handelte es sich um Exportlizenzen für Agrarprodukte aus dem Kirchenstaat33, und solche Lizenzen gehörten zu den begehrtesten Privilegien im Land der Päpste. Ihr Wert hing ab von der Laufzeit der Exportgenehmigung und von der Menge an Korn, für das die Ausfuhr in Aussicht gestellt wurde. Immer aber war die tatsächliche Ausfuhr des privilegierten Getreides von zwei Einschränkungen abhängig: Niemals durfte das Korn an Ungläubige und Feinde der Kirche gelangen, und in Zeiten schlechter Ernte war ein Export nicht möglich. Um sicherzustellen, dass kein Korn exportiert wurde, bevor die eigene Provinz versorgt war, etablierte sich ein kompliziertes Bewilligungsverfahren. Die Besitzer einer Tratta mussten diese Jahr für Jahr in Rom vorlegen und dort einen Antrag stellen, das Privileg im aktuellen Erntejahr auch tatsächlich nutzen zu dürfen. Gestützt auf die Angaben des Legaten zur Ernte in der Provinz prüfte die Apostolische Kammer die Anträge. Genehmigungen bedurften der Unterschrift des Papstes – Getreideexport war Chefsache. Aber selbst mit einer päpstlichen Zusage in der Hand war der Export noch nicht gesichert. Denn als Auge und Ohr der Staatsgewalt vor Ort besaß der Legat ein Vetorecht, und wenn er Bedenken hatte, konnte er auch den privilegierten Besitzern einer Tratta die Ausfuhr untersagen. Ein durchdachtes System also: Die Tratte dienten als Ventil, um den einheimischen Markt zu regulieren, und das dreifache Prüfungsverfahren durch Kammer, Papst und Kardinallegat stellte sicher, dass nichts schief lief. Allerdings war diese ökonomische Rationalität nicht die einzige Größe im Spiel. Hinzu kamen zwei andere Wertesysteme, Logiken oder Rationalitäten, die administrativ verarbeitet werden mussten: die politische Dimension der Tratte und der Aspekt der Gunst. Wenn man die Liste derer durchmustert, die für das Ferraresische eine Tratta besaßen und somit über „grano privilegiato“, also über privilegiertes Getreide verfügten, wie es in einer bezeichnenden Übertragung der Eigenschaften vom Menschen auf die Güter hieß, dann wird schnell deutlich, was für die politisch-administrativen Systeme der Frühneuzeit wohl generell gilt: Weil nicht nur Regieren und Verwalten kaum zu trennen, sondern auch Sachgebiete nicht säuberlich zu scheiden waren, stellte die Frage, wessen Tratta denn nun zum Zuge kam, ein komplexes politisch-ökonomisches Mischproblem dar. Indem Abgabenpächter der Apostolischen Kammer noch eine fette Tratta ins Vertragspaket geschnürt bekamen, wurde der Pachtbetrag nach oben getrieben; indem die Päpste die Fürstenhäuser jenseits der Grenze mit einer Tratta für ihr Korn aus dem Kirchenstaat bedachten, pflegten sie ihre politischen Beziehungen innerhalb Italiens. Nuntien im Dienste Roms erhielten als Teil ihrer Besoldung neben anderen Privilegien auch Exportlizenzen, und wie alle Amtsträger im innerstaatlichen Verwaltungsapparat wurden auch die Ferrareser Legaten 33 Vgl. ausführlich zu den Tratte und ihrer Vergabe mit Literatur und allen Belegen: B. Emich, Territoriale Integration (Anm. 29), 717 – 775.
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mit Tratte für ihre eigenen Ländereien bedacht. Zu den Vertragspartnern, benachbarten Fürsten und Amtsträgern gesellte sich zudem die Gruppe der treuen Diener und Klienten: Besonders verlässliche Anhänger innerhalb der Amtshierarchie, lokale Magnaten, die es für ihre Loyalität zu entlohnen galt, die Botschafter der Städte des Kirchenstaates, die an der Kurie weilten und für eine Tratta mehr die Interessen ihrer Heimat zuweilen vergaßen – sie alle wurden mit Exportlizenzen für ihr Wohlverhalten belohnt. Und selbstverständlich ließ sich auch die Papstfamilie diese Möglichkeit der Bereicherung nicht entgehen. Wie gering die Autonomie bestimmter Aufgabenfelder war, wird hier mit Händen greifbar: Der ökonomischen Rationalität, die in den Tratte das entscheidende Mittel zur Regulierung des Getreidemarktes sah, standen eine politische und eine klienteläre Rationalität gegenüber. In deren Fokus standen nicht die exportierbaren Getreidemengen, sondern allein die Personen, denen das zum Export anstehende Getreide gehörte. Vermittelt wurden diese verschiedenen Rationalitäten oder Binnenlogiken durch das Verfahren. So trat neben die dreifache Sicherung im jährlichen Bewilligungsverfahren eine Verdoppelung der Kommunikationswege: Wer irgend konnte, beließ es nicht dabei, den Antrag auf Bewilligung in der Kammer einzureichen. Hinzu gesellte sich in aller Regel ein schriftliches Hilfegesuch an den Kardinalnepoten, der als Haupt der päpstlichen Klientel den Aspekt der Gunst zu prüfen hatte. Die amtlichen Anträge und die Bitten um Gunst und Hilfe sind leicht auseinander zu halten. Sie unterschieden sich nicht nur in Form, Stil und Inhalt, sie wurden auch von verschiedenen Behörden bearbeitet: Die Anträge gingen an die Apostolische Kammer, die Bittbriefe an das Patronagesekretariat des Nepoten. Dass speziell für diese Art klientelärer Parallelkorrespondenz ein eigenes Sekretariat mit eigenen Mitarbeitern, eigenen Routinen und eigener Ablage geschaffen worden war, verweist auf das, was ich die Formalisierung des Informellen nenne: Gunst und Gnade wurden in Rom auf dem Dienstweg behandelt34. Der Vorteil liegt auf der Hand. Beim Kardinalnepoten als Chef der Klientel liefen die Wünsche aller Interessenten zusammen, und der Nepot war es denn auch, der der Kammer signalisierte, mit welcher Dringlichkeit wessen Antrag zu prüfen und zu bewilligen war. Auf diese Weise war sichergestellt, dass die nach klientelär-politischer Logik richtigen Leute das nach ökonomischer Logik zur Ausfuhr freigegebene Korn exportieren durften: Die ökonomische Rationalität hatte mit der Logik des Klientelären Frieden geschlossen. Überdies machte das Verfahren auch eine klienteläre Nachsteuerung möglich. Wer als besonderen Gunsterweis eine Tratta verliehen bekommen hatte, danach aber in Ungnade gefallen war, behielt zwar sein Privileg; auf die jährliche Bewilligung konnte er aber nicht mehr hoffen. Wie wichtig diese Feinjustierung war, zeigte sich regelmäßig zu Beginn eines Pontifikats. Denn da jeder neue Papst zunächst seine eigene Klientel zu bedenken hatte, die Gefolgschaft des vorherigen Pontifex aber weiterhin im Besitz eines Privilegs war, konnte nur das jährliche Bewilligungsverfahren mit seiner Nachsteue34 Ausführlich zu diesem Sekretariat: Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus (Anm. 25), v. a. 263 – 283.
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rung die Getreideversorgung des Kirchenstaates vor dem klientelären Kollaps bewahren. Dass das Kontroll- und Bewilligungssystem zuweilen versagte, schließt dies nicht aus. Im Gegenteil, solche Ausfälle waren in gewisser Weise strukturell vorgegeben. Denn wenn der Kardinalnepot für sich selbst um eine Tratta bat, war weder in der Kammer noch vor Ort beim Legaten mit Widerstand zu rechnen. Schließlich war der Kardinalnepot nicht nur der Neffe des amtierenden Papstes, sondern auch der oberste Dienstherr aller Amtsträger und zugleich der oberste Patron der Klientel. Gegen diese Kernschmelze aller Rationalitäten in der Person des Nepoten konnte kein Kontrollsystem bestehen. Aber in der Regel funktionierte die Zusammenarbeit: Indem die Ebene des Informellen, also die klientelären Beziehungen zwischen Amtsträgern und Antragstellern ebenso wie die soziale Verflechtung zwischen den Amtsträgern, in das Verfahren miteingebunden wurde, gelang die Versöhnung der Rationalitäten. Durch die Formalisierung des Informellen wurde auch das Informelle in die Grenzen der ökonomischen Rationalität verwiesen. Umgekehrt beförderte die Integration dieses klientelären Programms in die formale Struktur aber auch die Akzeptanz des gesamten Verfahrens: Die Unterschichten profitierten kaum mehr, aber immerhin insoweit davon, als dass Hungerkrisen nach Möglichkeit nicht noch durch den Export des privilegierten Korns verschärft wurden. Die darüber hinaus möglichen Gewinne teilten sich jene, auf die es politisch ankam: die Eliten in Rom und in der Provinz. Das Feld ist, um im Bild zu bleiben, damit keineswegs abgeerntet. Aus kulturalistischer Sicht ließe sich der Ferrareser Getreideverwaltung noch einiges abgewinnen. Lohnende Aspekte einer Kulturgeschichte der Verwaltung wären etwa die Bedeutung der Informationen über die Versorgungslage, die ja allen Entscheidungen zugrunde lagen35 ; die instrumentelle wie symbolische Funktion administrativer Techniken36 ; die Verinnerlichung der Rollen in der politischen Semantik sowohl 35 Auch für den großen Komplex von Information und Wissen haben organisationstheoretische Zugänge ergiebige Anregungen zu bieten. So ist aus der Sicht der Neoinstitutionalisten die Anhäufung von Information als Versuch der Organisation zu deuten, ihre eigene Unsicherheit zu absorbieren: Die immer größer werdenden Massen an Information dienten weniger der Herstellung von Entscheidungen als vielmehr der Darstellung dieser Entscheidungen als rational, vgl. hierzu etwa Martha S. Feldman/James G. March, Information in Organizations as Signal and Symbol, in: Administrative Science Quarterly 26 (1981), 171 – 186. Zur Bedeutung von Information und Wissen für die frühneuzeitliche Verwaltung vgl.: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, hrsg. v. Arndt Brendecke/Susanne Friedrich/ Markus Friedrich, Berlin 2008; Arndt Brendecke, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der Spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009; Markus Friedrich, Der lange Arm Roms? Globale Verwaltung und Kommunikation im Jesuitenorden 1540 – 1773, Frankfurt am Main 2011. 36 Dass auch Techniken im engeren Sinne wie etwa der Calmiere sowohl eine instrumentelle als auch eine symbolische Dimension haben, zeigt das Beispiel der „Tariffa perpetua“, einer Tabelle, in der einem bestimmten Getreidepreis pro Gewichteinheit ein bestimmtes Brotgewicht für die übliche Menge Geld entspricht. Diese Tariffa perpetua wurde in Rom seit 1605, in Bologna seit 1606, in Ferrara seit 1617 veröffentlicht. Dass dieses technische Detail
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der Privilegierten als auch der Stadt Ferrara37; die schizoiden Aufspaltungen des Legaten, der in seiner offiziellen Erntemeldung die Gewährung jeder weiteren Tratta als Katastrophe brandmarkte, in einem Patronagebrief an den Kardinalnepoten aber die Exekution von dessen Ausfuhrgenehmigung mit Freuden zusagte. Gerade die zuletzt genannte Verdoppelung der Rollen macht deutlich, wie schnell Rational-Choice-Modelle der Handlungstheorie die Akteure aus analytischer Sicht in die Persönlichkeitsspaltung führen38. All das kann ich hier nicht ausführen. Stattdessen möchte ich kurz bilanzieren, was der Blick in den Kirchenstaat zu Tage gefördert hat. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es nicht die eine getreidepolitische Linie im Staat der Kirche gab: Die römische Verwaltung reagierte flexibel auf die Situation vor Ort, so dass regelrecht konträre Modelle auf kleinem Raum nebeneinander Platz fanden. Ob man diese abweichenden Modelle auf dem Feld der Getreideverwaltung als unterschiedliche Verwaltungskulturen begreifen sollte, scheint mir indes fraglich. Wenn, dann haben wir es hier mit Spiegelungen der politischen Kulturen im Allgemeinen zu tun, die zwischen den Provinzen ganz sicher variierten39. Spezifische Verwaltungskulturen mit je eigener Binnenlogik kann ich hier aber nicht ausmachen. Zweitens war zu erkennen, dass auch innerhalb des gleichen Systems unterschiedliche Linien denkbar waren: Indem Serra ganz andere Wege ging als sein Amtsvorgänger Spinola, demonstrierte er die Bedeutung des persönlichen Faktors und mit ihm die Handlungsspielräume der Amtsträger40. Immer aber trat der Legat als Stellvertreter des Papstes in Erscheinung: Vertrotz der unterschiedlichen Modelle und Zielsetzungen der Getreidepolitik in gleicher Weise gebraucht wurde, verweist auf ihre Botschaft und Funktion: Indem sie den Eindruck der Zwangsläufigkeit und der logischen Konsequenz in der Brotpreispolitik vermittelte, entlastete sie den Legaten bzw. die Annona in Rom. 37 Zur Semantik der jeweiligen Korrespondenzpartner und -ebenen vgl. auch Birgit Emich, Potere della parola, parole del potere: Ferrara e Roma verso il 1600, in: Dimensioni e problemi della ricerca storica 2/2001, 79 – 106. 38 Der Legat Spinola hätte dies sicher bestätigt: Am 18. Juni 1608 schrieb er an Kardinal Borghese als seinem offiziellen Ansprechpartner für alle Fragen der Provinzverwaltung über die Exportlizenzen, „che realmente questa materia e quella, che mi fa perdere il cervello et mi fa ricevere mille disgusti in questo governo“ (Archivio Segreto Vaticano, Fondo Borghese II 39,187v). Zu Serras schnellen Wechseln zwischen Amtspflicht und Dienstbereitschaft vgl. B. Emich, Territoriale Integration (Anm. 29), 750 – 752. 39 Vgl. hierzu Birgit Emich, Bologneser libertà, Ferrareser decadenza: Politische Kultur und päpstliche Herrschaft im Kirchenstaat der Frühen Neuzeit, in: Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Ronald G. Asch/Dagmar Freist, Köln/Weimar/Wien 2005, 117 – 134. Trotz der eingangs zitierten Schwierigkeiten, diese Kategorie konzeptionell nutzbar zu machen, scheint mir das Konzept der politischen Kultur nicht nur wichtige Fragen aufzuwerfen, sondern auch Phänomene benennbar und vor allem verschiedene Spielarten der politischen Kultur unterscheidbar zu machen. Vgl. hierzu auch Birgit Emich, Frühneuzeitliche Staatsbildung und politische Kultur. Für die Veralltäglichung eines Konzepts, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger (Beiheft der ZHF, 35), Berlin 2005, 191 – 205. 40 Ich bin mir bewusst, diesen Begriff hier anders zu verwenden als von Arndt Brendecke vorgeschlagen. Das Potential seiner Unterscheidung von Amtsnatur und persönlichem Faktor
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waltungshandeln war drittens auch stets eine Inszenierung von Herrschaft, sei es im Veto-Recht des Legaten und der Flut seiner Erlasse, die von der Vorsorge und Fürsorge der Päpste für ihre Untertanen zeugten, sei es in der Benennung der Abbondanza, in der ein politisches Ziel der Herrschaft institutionelle Gestalt annahm. Dass Verwaltungsgeschichte auch einen praxeologischen Zugang zur Geschichte der politischen Ideen darstellt, unterstreicht dieses Beispiel mit Nachdruck41. Festzuhalten bleibt viertens auch die Vielfalt der Bezüge: So wie die Trennschärfe zwischen Regieren und Verwalten gering ist, so spielen stets mehrere Themenfelder in die mitnichten autonomen Aufgabengebiete des politisch-administrativen Systems hinein. Auch deswegen mussten – und das ist der mir wichtigste Punkt – verschiedene Rationalitäten aufeinander treffen, hier etwa die ökonomische Rationalität der Marksteuerung und die klienteläre Rationalität im vollen Ansehen der Person. Vermittelt wurden diese Rationalitäten durch das Verfahren: Dank des dreifachen Prüfungssystems mit dem Vetorecht des Legaten war die Versorgung der Provinz und damit das politisch Notwendige gesichert, dank der Verdoppelung des Bewilligungsverfahrens um die Patronagekorrespondenz wurden neben der exportierbaren Menge auch die päpstlichen Gunsterweise gewogen und verteilt. Man wird das nicht Isomorphie nennen müssen. Aber dass hier Grundwerte der Gesellschaft in eine formale Struktur integriert werden, scheint doch klar zu Tage zu liegen: Die päpstliche Patronagepolitik wurde in ein Verwaltungsverfahren eingebaut und damit in gewisser Weise ökonomisch entschärft. Gleichzeitig gewann das Verfahren selbst, das privilegiertes Korn von nicht privilegiertem unterscheiden und den Faktor Gunst verarbeiten konnte, die Akzeptanz der Eliten42. Die Verwaltung und ihre Verfahren erweisen sich in diesem Licht als eine Art Plattform, auf der konkurrierende Rationalitäten zum Ausgleich gebracht werden – in meinem römisch-ferraresischen Beispiel vor allem die klienteläre mit der ökonomischen Rationalität, und dies qua Formalisierung des Informellen. Diese Formalisierung des Informellen stellt indes lediglich eine von vielen Varianten dar, wie formöchte ich damit nicht in Abrede stellen. Allerdings sollte bei der Unterscheidung von objektiven und subjektiven Handlungsgründen, deren Widersprüchlichkeit Spielräume der Dezision öffnen (A. Brendecke; Die Blindheit der Macht (Anm. 16), 38), nicht übersehen werden, dass es auch auf der Ebene der objektiven Handlungsgründe Spielräume gibt – wie eben jene getreidepolitischer Art zwischen den Linien Spinolas und Serras. 41 Ein Plädoyer, die Verwaltungspraxis als Zugang zur politischen Ideengeschichte zu nutzen, indem das „Words are Deeds“ Wittgensteins, der Sprechakttheorie und der Cambridge School in ein „Deeds are Words“ umgekehrt und die Praxis der Verwaltung damit als eine Art ideengeschichtlicher Text lesbar wird, bietet Klaus-Gert Lutterbeck, Methodologische Reflexionen über eine politische Ideengeschichte administrativer Praxis, in: Formen und Transfer städtischen Verwaltungswissens, hrsg. v. Nico Randeraad (Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte, 15), Baden-Baden 2003, 337 – 366. 42 Ähnliche Befunde auf einem anderen Politikfeld und mit einem etwas anderen methodischen Zugang: Birgit Emich, Mit Luhmann im Kirchenstaat. Die römische Wasserbauverwaltung in verfahrenstheoretischer Sicht, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, hrsg. v. Barbara StollbergRilinger/André Krischer (Beiheft der ZHF, 44), Berlin 2010, 275 – 301.
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malisierte, explizit geregelte, sachbezogene Verwaltungstätigkeit auf der einen Seite und informelle, nicht kodifizierte, auf Personen und ihre Beziehungen konzentrierte Aspekte auf der anderen Seite miteinander verbunden sein können. Über die Varianten und Konstellationen im Verhältnis von Formalität und Informalität und über die langfristigen Verschiebungen in diesem Verhältnis wüsste ich gern mehr43. Dass die Frage nach den verschiedenen Rationalitäten, die im Verwaltungshandeln aufeinander treffen, und damit auch die Frage nach dem Verhältnis von Formalität und Informalität der Kulturgeschichte der Verwaltung konzeptionell den Rücken stärken und zu einem roten Faden verhelfen können, scheint mir aber gewiss44.
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Zu den Vorteilen dieser Frageperspektive gegenüber dem Konzept der Verwaltungskultur dürfte zählen, dass über den Begriff der Kultur vor allem Unterschiede zu anderen Kulturen fokussiert werden (so etwa im Blick auf die unterschiedlichen politischen Kulturen im Kirchenstaat, vgl. Anm. 39), während die Frage nach Informalität und Formalität auf deren Verhältnis und damit eher auf vergleichbare Befunde und Entwicklungslinien abzielt, vgl. hierzu auch Stefan Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, 128. 44 Diese Frage ist im Übrigen eng mit dem Aspekt der Entscheidung verknüpft, dem – bereits das Programm der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands 2013 in München (online unter: http:// www.agfnz2013.geschichte.uni-muenchen.de/index.html) deutet dies an – in Zukunft verstärkt die Aufmerksamkeit der Forschung gehören dürfte. Die Verbindung der Themen ergibt sich aus der Definition formaler Organisation, wie sie u. a. S. Kühl, Organisationen (Anm. 43), im Gefolge Luhmanns vorschlägt: Während die Formalstrukturen von (nach Luhmann über Mitgliedschaft, Zweck und Hierarchie definierten) Organisationen deren mitgeteilte Mitgliedschaftsbedingungen (97) und damit die „entschiedenen Entscheidungsprämissen“ (98) darstellen, handelt es sich bei den informellen Strukturen um die „nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen“ (116). Der Übergang vom Informalen zum Formalen vollzieht sich mithin durch eine Entscheidung (d. h. hier durch die offizielle Festlegung von Bedingungen der Mitgliedschaft in einer Organisation, die wiederum für spätere Entscheidungen dieser Organisation wichtig und in diesem Sinne Entscheidungsprämissen sein werden). Auch diese Ansätze sind für eine elaborierte Kulturgeschichte der Verwaltung nutzbar zu machen.
Verwaltungsgeschichte nach Cultural und Communicative Turn. Perspektiven einer historischen Implementationsforschung Von Stefan Haas, Göttingen Verwaltungen sind beschrieben worden als Maschinen, als Organismen, als Gehirne, als Kulturen oder als psychische Gefängnisse, in denen die Repression von Sexualität und Tod sich in einer Orgie überdimensionierter Rationalisierung niederschlägt1. Gareth Morgan hat in seinem innerhalb der Organisationstheorie vielbeachteten Buch über „Images of organization“ die kreative Kraft herausgearbeitet, die in der jeweiligen Verwendung einer Metapher für die Erklärung eines, in unserem Fall verwaltungshistorischen Phänomens, andererseits aber auch für die Gestaltung einer Organisation bei der Institutionalisierung einer Problemlösung steckt2. Verwaltung wurde vorgestellt als langer Arm der Herrschaft, als ihre Repräsentation vor Ort oder ihr Alltag3. In dieser Makroperspektive kommt aber weniger in den Blick, was Verwaltung im Alltag tut, und wie dieses Tun Bedeutung nicht allein repräsentiert und aufführt, sondern zuallererst konstituiert. Im Alltag verwaltet Verwaltung Wirklichkeit. Doch was sich wie eine Tautologie liest, wird sinnvoll eruierbar im Anschluss an den Cultural und an den Communicative Turn in den Geisteswissenschaften der vergangenen zwei Jahrzehnte4 : Verwaltung schafft einerseits eine Ordnung, 1 Diese Metaphern werden ausführlich behandelt in Gareth Morgan, Images of Organization, Beverly Hills 1986. 2 Zu letztgenanntem Aspekt besonders Gareth Morgan, lmaginization. The Art of Creative Management, London 1993. Zur Aufnahme der metaphorischen Herangehensweise in der Organisations- und Verwaltungstheorie vgl. auch David Grant/Cliff Oswick (Hrsg.), Metaphor and organizations, London/Thousand Oaks 1996. 3 Diese Perspektive einer Verwaltung als Alltag der Herrschaft geht zurück auf Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, 551. 4 Das Paradigma für den hier verwendeten Turnbegriff ist der Copernican Turn. Damit einher geht eine spezifische Auffassung dessen, was als Theorie in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bezeichnet werden kann. Der Theory Turn der vergangenen zwanzig Jahre hat einen Theoriebegriff etabliert, der diesen nicht mehr als ein Modell meist soziologischer Provenienz formuliert, an dem historische Wirklichkeit heuristisch gemessen wird (wie in der Bielefelder Schule), sondern als konzeptionelles Gerüst von Basisannahmen, die die Erforschung eines Wirklichkeitsausschnittes allererst ermöglichen. Zu den verschiedenen Theoriebegriffen in der Geschichtswissenschaft vgl. Stefan Haas, Theoriemodelle der Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, hrsg. v. Frank Bösch, Göttingen 2012, 67 – 83.
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indem sie Informationseingaben in eine von ihr verarbeitbare und damit verwaltbare Sprache übersetzt. Damit schafft sie Anschlussfähigkeit an Gesetze, Durchführungsverordnungen und andere Vorgaben der Herrschaft. Andererseits kommuniziert sie beständig: mit ihrer vorgesetzten Behörde, mit nachgeordneten Instanzen, mit den Verwalteten und nicht zuletzt mit sich selbst, indem sie die angesprochene Übersetzungsleistung vollbringt, die notwendig ist, um das Chaos der Wirklichkeit in eine rationale Organisationsstruktur zu übersetzen. Vom Resultat her betrachtet sieht Verwaltung daher aus wie die Realisierung jener Modernisierung, die uns als Rationalisierung mittlerweile kalt und entmenschlicht vorkommt. Ihre Funktionsweisen können dabei aber, so die Erwartung eines kultur- und kommunikationshistorischen Ansatzes in der Verwaltungsgeschichte, durchaus irrational sein, ihr Handeln weniger statisch als vielmehr anpassungsorientiert, ihre ritualisierten Verdichtungen dem permanenten Versuch geschuldet, den Einbruch der Unordnung in die von ihr geschaffene und so nur von ihr organisier- und verwaltbare Wirklichkeit abzuwenden. Eine Kultur- und Kommunikationsgeschichte der Verwaltung eröffnet daher neue Perspektiven, die sozialen Interaktionen, aus denen Verwalten und Organisieren besteht, vielschichtiger und dynamischer zu interpretieren, als dies in einer die Verwaltungshierarchie primär beschreibenden oder einer strukturdeterministischen Betrachtungsweise möglich ist5. Verwaltung macht Sinn – in der aktiven Bedeutung des Wortes, dass Verwaltung die Bedeutung ihres eigenen Handelns selbst herstellt. Ein solcher Ansatz speist sich aus den wissenschaftstheoretischen Entwicklungen, die im Kontext der Entstehung einer neuen Kulturgeschichte6 entwickelt worden sind und die durch den Communicative beziehungsweise Medial Turn eine neue Dynamik aufgenommen haben. Die folgenden Passagen erläutern, wie dieses theoretische Konzept für eine Verwaltungsgeschichte aussehen kann und aus welchen Theoremen und Diskussionen es sich speist. Der Begriff der Organisationsgeschichte wird hier synonym zu Verwaltungsgeschichte begriffen, weil im Begriff des Organisierens von Wirklichkeit deutlicher als in seinem Pendant der Verwaltung von Wirklichkeit das aktiv kreative Element, das der Verwaltung zugeschrieben werden kann, bereits im Begriff konnotiert wird. 5
Beispiel für die lange Tradition einer Verwaltungsgeschichte als deskriptive faktenorientierte Geschichtsschreibung ist beispielsweise Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/GeorgChristoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. Herausgegeben im Auftrag der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 6 Bde., Stuttgart 1983 – 1988. Beispiele für strukturhistorische Konzepte in der Verwaltungsgeschichte sind Bernd Wunder, Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1780 – 1825), München/Wien 1978; ders., Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt am Main 1986. 6 Für die Cultural Turns lassen sich keine eindeutigen Referenztexte mehr zitieren. Sie werden unabhängig voneinander gleichzeitig an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Disziplinen entwickelt. Für die Geschichtswissenschaft ist begriffsprägend Lynn Avery Hunt (Hrsg.), The new cultural history, Berkeley CA 1989. Eine instruktive Textsammlung bieten Christoph Conrad/Martina Kessel (Hrsg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998.
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I. Grundlagen einer Kulturgeschichte der Verwaltung Die neue Kulturgeschichte fragt nach Sinn und Bedeutung. Sie tut dies, weil der strukturdeterministische Blick verloren gegangen ist. Wo dieser dominierte, galt die Bedeutung einer sozialen Handlung, einer Idee, eines kommunikativen Aktes als präfiguriert durch die Strukturen, in denen dieser Akt oder diese Handlung vollzogen wurden7. Dieser Wandel war vorbereitet worden durch den Linguistic Turn, der die Sprache als entscheidendes Element der Wirklichkeitsbetrachtung in den Geisteswissenschaften verankern wollte8. Wirklichkeit und damit auch historische Wirklichkeit, wird als etwas gesehen, das nur dann relevant wird, wenn es sprachlich kodierbar ist. Und nur in dieser sprachlich kodierten Welt agieren menschliche Akteure, formulieren soziale Interaktionen, Hierarchien, eine Weltsicht. Angelehnt an Wittgensteins „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“9 formulierte der von Richard Rorty als Linguistic Turn bezeichnete Umbruch in den Geisteswissenschaften einen primär sprachhistorischen Zugang zur menschlichen Lebenswelt10. Dass dies weniger monolithisch sich ausnimmt, als der Blick auf dieses Grundtheorem nahelegt, wurde schon früh in der Philosophie als der Referenzdisziplin dieses Umbruchs bemerkbar: Dort standen sich mit Ideal Language Philosophy und Ordinary Language Philosophy zwei Strömungen gegenüber, die an unterschiedlichen Stellen ansetzten, um das Hauptproblem der neuen Sprachphilosophie zu lösen: nämlich Klarheit in die wissenschaftliche Erkenntnis zu bringen. Die eine war bemüht, eine rein logisch formale Sprache zu entwickeln, die von jeglichen metaphysischen Resten befreit war11, die andere suchte nach einer Klärung der Alltagssprache12.
7 William H. Sewell, A Theory of Structure. Duality, Agency, and Transformation, in: The American Journal of Sociology 98 (1992), 1 – 29; Chris Lorenz, Wozu noch Theorie der Geschichte? Über das ambivalente Verhältnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie, in: Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit, hrsg. v. Volker Depkat/Matthias Müller/Andreas Urs Sommer, Stuttgart 2004, 117 – 143. Einen Überblick über den historischen Kontext des Theorems bietet Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 173 – 198. 8 Bezogen auf die Geschichtswissenschaft vgl. u. a. Peter Schöttler, Wer hat Angst vor dem Linguistic Turn?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 134 – 151; Franklin R. Ankersmit, The Linguistic Turn, Literary Theory and Historical Theory, in: Historia. Zeitschrift für alte Geschichte 45 (2000), 271 – 311; Alessandro Barberi, Clio verwunde(r)t. Hayden White, Carlo Ginzburg und das Sprachproblem der Geschichte (Kultur als Praxis 3), Wien 2000. 9 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico philosophicus, Frankfurt am Main 2006, Satz 5.6. 10 Richard Rorty (Hrsg.), The Linguistic turn. Recent essays in philosophical method, Chicago/London 1967. 11 Ein instruktives Beispiel ist Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, BerlinSchlachtensee 1928. 12 U.a. John Rogers Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt am Main 1983.
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Das wissenschaftstheoretische Problem der Analytischen Sprachphilosophie war nun nicht Thema der empirischen Einzelwissenschaften, auch wenn es, wirkmächtig besonders bei Hayden White und der Narrativitätsdebatte, seit den frühen 1970er Jahren in den Selbstreflexionsdiskurs Einlass findet13. Aber dort, wo die (historische) Wirkmächtigkeit der Sprache entdeckt wurde, wurde bald auch sprach- und begriffshistorisch argumentiert. Und es war kein Zufall, dass einer der bedeutendsten Vertreter eines sprachhistorischen Ansatzes sich empirisch intensiv mit jener Zeit befasste, in der die modernen Verwaltungsstrukturen entwickelt worden sind: Reinhard Koselleck formulierte einen begriffshistorischen Ansatz, der noch deutlich strukturhistorische Argumentationsformen zu integrieren vermochte14. Anders dagegen ist dies bei dem einflussreichsten sprachhistorischen Ansatz der jüngeren Wissenschaftsgeschichte: der Diskurstheorie von Michel Foucault15. Dieser Ansatz liest an der Oberfläche des Gesagten eine Dynamik der Vernetzung von Bedeutungen ab, die nicht mehr auf ein intentionales Subjekt oder eine machtorientiert handelnde soziale Gruppe rückbezogen werden. Verdichtungen von Bedeutung und Ausgrenzungen finden dann in einer Bewegung der Diskurselemente selbst statt, die sich archäologisch herausarbeiten, aber nicht mehr hermeneutisch verstehen lassen. Damit war prominent der Strukturdeterminismus ebenso abgelehnt wie die klassische Hermeneutik. Für die Erklärung des Funktionierens von Verwaltung am Übergang von Vormoderne zu Moderne eröffneten sich neue Erklärungsmöglichkeiten. Dies war vor allem dadurch möglich, weil zeitgleich zur breit einsetzenden Foucaultrezeption die Alltagsgeschichte einen neuen Blick auf historische Wirklichkeit warf. Sinn und Bedeutung wurden nicht in einer vorgängigen Struktur, sondern im widerstreitenden Handeln gesucht16. ,Aneignung‘ war ein zentraler Begriff dieser Richtung und er machte deutlich, dass Bedeutung nicht ein präfiguriertes Phänomen war, das in sozialen Interaktionen immer wieder aufgeführt wurde, sondern dass sich in der Performanz kleine Sinnverschiebungen einschlichen, die in ihrer Gesamtheit historisch wirkmächtig werden konnten. Der Einfluss von Foucaults Arbeiten ist hier deutlich spürbar – und auch Luhmanns systemtheoretisch interpretierter Begriff der Emergenz als der Entstehung von Sinnüberschuss in sozialen Interaktionen, die sich nicht allein durch eine Analyse der Intentionen der beteiligten Akteure erklären las13 Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1994; ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1990. 14 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt am Main 2009. Vgl. auch Kosellecks Arbeiten zur Verwaltungsgeschichte der preußischen Reformzeit: Ders., Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989. 15 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 2008. 16 Z. B. Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989; David Warren Sabean, Reflections on Microhistory, in: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, hrsg. v. Gunilla Budde/ Sebastian Conrad/Oliver Janz, Göttingen 2006, 275 – 289.
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sen, ist deutlich paralleler geführt, als dies in den wissenschaftstheoretischen Debatten der jeweiligen Schulen akzeptiert wird17. Der Alltag wird in dieser Betrachtungsweise zu einem Ort, in dem Sinn und Bedeutung allererst hergestellt werden müssen. Dabei erschließen sich diese nicht allein aus den Vorgaben. Sie müssen angeeignet werden und in dieser Aneignung werden sie verändert. Die vielen, auf Inquisitionsprotokollen beruhenden Arbeiten der Alltagsgeschichte der 1970er und 1980er Jahre zeichnen ein eindrückliches Bild, auch wenn die Quellenverfasser den Widerstreit häufig überzeichnen. Diese Forschungen verdeutlichen das Prinzip, wonach sich Geschichte als eine Auseinandersetzung um Norm und Abweichung interpretieren lässt. Alf Lüdtkes Konzept des „EigenSinns“18, mit einer signifikanten Schreibweise, der die Doppeldeutigkeit des Wortes herausstellt und es dadurch mit zusätzlichem theoretischem Sinn auflädt, ist hier repräsentativ. Es formuliert just jene Abweichung als Normalität, die den strukturdeterministischen Blick unterhöhlt und ein differenzierteres Bild von sozialer Wirklichkeit zeichnet. Mit Linguistic Turn und Alltagsgeschichte war etwas prekär geworden, was bislang als determiniert und damit gar nicht analytisch überlegenswert betrachtet worden ist: Die sinnhafte Welt, in der Menschen leben, das laut Max Weber selbstgesponnene Bedeutungsgewebe19, in dem Menschen sich selbst und andere erleben und das überhaupt erst eine, um einen phänomenologischen Begriff zu verwenden, Lebenswelt ermöglicht. Man könnte diesen Cultural Turn, dieses Prekär-Werden von Sinn und die sich hieran anschließenden vielfachen Turnbewegungen auf der Suche nach immer neuen Begründungsmodellen, auch über die Diskurse der Postmoderne, der Systemtheorie, der Kultur- und Wissenssoziologie und einiger andere herleiten20. Der Verweis auf Weber, der zugleich einer auf die Methode der Dichten Beschreibung des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz ist, einem der zentralen Referenztexte des engeren Cultural Turns um 1990, zeigt aber, wie vermeintlich nahe und doch zugleich so unendlich fern sich strukturhistorisch-soziologistische und kultura-
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Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Frankfurt am Main 1973; Peter M. Hejl, Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen, in: Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, hrsg. v. Wolfgang Krohn/Günter Küppers, Frankfurt am Main 1992, 269 – 292. 18 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 19 So wirkmächtig rezipiert bei Clifford Geertz, Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, in: The Interpretation of Cultures. Selected Essays, hrsg. v. Clifford Geertz, New York 1973, 3 – 30, 4 – 5. 20 Vgl. Stefan Haas, Mediale Bedingungen der Erkenntnisformulierung und -vermittlung in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Theoretische und pragmatische Perspektiven, in: Medialität der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, hrsg. v. Fabio Crivellari/Kay Kirchmann/Marcus Sandl/Rudolf Schlögl, Konstanz 2004, 211 – 238.
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listische Ansätze sind21. Man kann dies zeigen entlang des Begriffs der Repräsentativität. Dort, wo Bedeutung prekär wird, kann es ein solches Phänomen nicht mehr geben: das Typische, das Normale, das Durchschnittliche werden als Analysefiguren ersetzt durch eine Vorstellung von einem Feld des Möglichen und des Unmöglichen – dessen Grenzen dann selbst wiederum historisch erklärungsbedürftig sind22. II. Die Neubegründung einer kulturwissenschaftlichen Kommunikations- und Mediengeschichte Für die Verwaltungsgeschichte hat dies massive Konsequenzen. Zunächst etwas Positives, sie erlebt eine Aufwertung. War sie bislang im Wesentlichen als eine Verdinglichung von Herrschaft in den Blick genommen worden – und damit als ein sekundäres, nachgeordnetes Phänomen – wird sie nun zentral. Das politisch-administrative System in seiner Gesamtheit macht erst das aus, was Politik ist. Die an der Spitze der politischen Pyramide formulierten Gesetze und Erlasse dagegen sind, ohne im Alltag realisiert zu werden, nur programmatische Äußerungen, deren Wirkungsweisen und Wirkmächtigkeiten nun erklärungsbedürftig geworden sind. Den zuvor formulierten alltagshistorischen und diskurstheoretischen Perspektiven folgend, produzieren programmatische politische Texte der entscheidungsbefugten Instanzen wie Gesetze oder Verordnungen nicht den Sinn einer politischen Maßnahme. Vielmehr muss der Ausgangstext erst angeeignet, interpretiert und weitergegeben werden und in dieser Weitergabe wird er permanent umgeschrieben23. Wenn Sinn nicht mehr in Intentionen oder in struktureller Machbarkeit aufgeht, sondern in ihrer Bedeutung für die Generierung sozialer Wirklichkeit prekär wird, dann steht im Vordergrund der Untersuchungen, wie ein politisches Programm Sinn erst generieren kann – und es kann dies nur, wenn es als ein kulturelles, das heißt sinngenerierendes Phänomen im Alltag realisiert wird. Die Orte dieser Realisierung im Sinne von Realwerdung politischer Programme sind die Verwaltungsinstanzen, die damit in den Fokus einer kulturwissenschaftlich informierten Politikgeschichte rücken24. Doch stellt sich die Frage, wer oder was diese Aneignungen eigentlich vornimmt, wenn in poststrukturalistischen Ansätzen, und dazu gehört die Mehrheit der neueren 21 Clifford Geertz, Local knowledge. Further essays in interpretive anthropology, New York 2001. 22 In diesem Kontext hat sich die Rolle epistemologischer und konzeptioneller Überlegungen so massiv in den Vordergrund geschoben, dass von einem Theory Turn gesprochen werden kann, Haas, Theoriemodelle (Anm. 4), 71 – 72. 23 Einflussreich für dieses Argument ist auch die Rezeptionsästhetik, die in der Aneignung – im Fall der hier zitierten Literatur – von literarischen Texten ein sinnkonstituierendes Handeln sieht. Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Bd. 1: Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1977. 24 Diese Argumentationsführung entwickelt in Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Zur Umsetzung der preußischen Reformen 1808 – 1848, Frankfurt am Main/New York 2005.
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kulturwissenschaftlichen Forschungen, das intentionale Subjekt seinen bestimmenden Platz verloren hat25. Beantworten lässt sich diese Frage, wenn man den Cultural Turn, der im vorherigen Kapitel behandelt wurde, kombiniert mit dem Communicative beziehungsweise Medial Turn26. Mit diesen Turns vollzog sich eine Redynamisierung der Geschichtswissenschaft. Die frühe Neue Kulturgeschichte neigte zur Analyse vergleichsweise statischer Zustände, Phänomenen von längerer Dauer und langsamer Entwicklungsdynamik. Auch im Werk von Foucault war eine der größten Leerstellen die mangelnde Erklärbarkeit epochaler Wandlungen, die er nichtsdestotrotz in seinen Werken, allen voran in Les Mots et les Choses, immer wieder konstatierte27. Die kommunikative Wende kann dies klären. Dazu wird ein Theorem in das Modell der Cultural Turns implementiert, das bereits in den Diskussionen um Raum- und Körpergeschichte prägend war: dasjenige einer nicht physikalisch gedachten Materialität28. Die Frage, ob es ein Jenseits des Diskurses gibt, ist gerade von einer Körpergeschichte konzeptionell überzeugend dahingehend beantwortet worden, dass es eine körperliche Materialität gibt, die nicht in den Diskursen aufgeht, aber auch nicht mit denjenigen Körpern, die die Naturwissenschaften beschreiben, identisch sind. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry brachte dies auf den Punkt, als sie bezogen auf den Schmerz, neben Sexualität und Tod eines der die zentralen Themen einer radikalen kulturalistischen Körpergeschichte, schrieb: „Was immer der Schmerz bewirken mag, er bewirkt es zum Teil durch seine Nichtkommunizierbarkeit. Dies bestätigt sich darin, dass er sich der Sprache widersetzt“29. Ein solcher materialitätsorientierter Ansatz lässt sich auf eine Kommunikationsgeschichte anwenden – ein für die Verwaltungsgeschichte eminent wichtiges Element, da sich Verwaltungsaktivität weitgehend als kommunikatives Handeln vollzieht. Diese theoretische Transformation gelingt argumentativ, wenn Kommunikation nicht mehr nur als Bedeutungsvermittlung von Sender zu Empfänger formuliert wird, sondern als ein bedeutungsmodifizierender Prozess, wobei die Veränderung in den Momenten der Dekodierung und Enkodierung der Botschaft aufgrund der spe25
Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992. Eine kurze Zusammenfassung in Knut Hickethier, Zwischen Gutenberg-Galaxis und Bilder-Universum. Medien als neues Paradigma, Welt zu erklären, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 146 – 172. 27 Die Diskurstheorie selbst basiert auf einem Ansatz, der das immer wieder Neu- und Umschreiben von Diskursen thematisiert und Verdichtungen eher als temporäre Knotenbildungen denn als statische Strukturen beschreibt. Wie aber der Übergang von einer Großformation zur nächsten erklärt werden könnte, bleibt in der Theoriebildung Foucaults ungeklärt. Die theoretisch-methodischen Schriften liegen nun im jüngst erschienenen Sammelband vor: Michel Foucault, Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt am Main 2009. 28 U.a. Edward W. Soja, Thirdspace. Die Erweiterung des Geographischen Blicks, in: Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, hrsg. v. Hans Gebhardt/Paul Reuber/ Günter Wolkersdorfer/Harald Bathelt, Heidelberg 2003, 269 – 288. 29 Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main 1992, 12 – 13. 26
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zifischen materiellen Bedingungen des Mediums zu erklären ist. Diese Bedeutungsmodifikationen sind teilweise nur marginal, in der Summe aber machen sie kommunikatives Handeln als permanente Neugenerierung von Sinn erklärbar – ähnlich dem Kinderspiel der ,Stillen Post‘, wo zur Erklärung der Differenz von Eingabe und Resultat kein intentionales Subjekt als Argument bemüht werden muss, sondern die permanente Kodierung und Neukodierung der Botschaft in dem spezifischen Kanal zu einer Modifikation der Bedeutung der Botschaft führt. Um ein solches Medien- und Kommunikationsmodell zu entwickeln, vollzog man eine Relektüre der älteren Medienwissenschaft. Das klassische Modell stammt von dem Mathematiker Claude Elwood Shannon und formuliert ein Sender-EmpfängerModell mit einem relativ einflusslosen Kanal30. Der konstatierte Störeinfluss erschwerte Kommunikation und bestand im Verrauschen der Nachricht durch externe Faktoren wie beispielsweise atmosphärische Störungen. Shannon hatte sein Modell vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs formuliert, in dessen Kontext er in den Bell Laboratories mit Kryptografie beschäftigt war. Sein Interesse galt der Frage, wie sich Information verlustfrei übertragen ließ. Dazu transferierte er Elemente der Wahrscheinlichkeitstheorie von Norbert Wiener auf das Feld der Informationsübertragung und entwickelte eine mathematische Beschreibung, wie eine verrauschte Nachricht vom Empfänger wieder rekonstruiert werden könnte – was durch spezifische Vereinfachungen der zu übertragenden Botschaft gelingen kann. Wenn Botschaften nur eine relativ überschaubare Bandbreite an Möglichkeiten haben, kann mit einem logischen Algorithmus auch eine teils zerstörte Nachricht wieder rekonstruiert und in ihrer wahrscheinlichen Stimmigkeit berechnet werden. Für die Kulturwissenschaften ist aber gerade diese Veränderung spannend. Was macht ein Empfänger mit einer Botschaft, die er mehr oder weniger modifiziert wahrnimmt, und was ist verantwortlich für die Modifikationen? Dazu rezipierte man im Kontext der Cultural Turns die Arbeiten der Toronto School of Communication31. Diese entwickelte schon in den 1960er Jahren ein Modell, in der Kommunikation nicht extern über gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Faktoren erklärt wird. Im Mittelpunkt steht vielmehr der Kanal beziehungsweise das Medium selbst. Eric Havelock, britischer Altertumswissenschaftler, der in Toronto und später in Harvard und Yale unterrichtete, formulierte einen Ansatz, der den Wechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit als zentrale Revolution der antiken Welt formulier30
Claude Elwood Shannon, A mathematical theory of communication, in: Bell System Technical Journal 27 (1948), 379 – 423 und 623 – 656; ders./Warren Weaver, The mathematical theory of communication, Urbana (Illinois) 1949. 31 Zur Toronto School vgl. die frühe Sammlung Edmund Snow Carpenter, Marshall McLuhan, Explorations in communication. An anthology, Boston 1960. Klassisch sind Marshall McLuhan, The Gutenberg galaxy. The making of typographic man, London 1962; ders., Understanding media. The extensions of man, New York 1964. Überblick zur historischen Entwicklung Rita Watson/Menahem Blondheim (Hrsg.), The Toronto school of communication theory. Interpretations, extensions, applications, Toronto 2007.
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te32. Das Besondere an der griechischen Schriftlichkeit war das Lautalphabet. Mit ihm war es möglich, dass Schriftkundige jedes gehörte Wort in ein Schriftbild transferieren konnten. Möglich war dies dadurch, dass das griechische Alphabet die gesprochene Sprache in einzelne Laute zerlegte und diese wie Module behandelte, die immer wieder gleich aufgeführt werden konnten. Havelock blieb nun nicht bei dieser Beobachtung der Wirkung und Funktionsweise des Lautalphabets stehen, sondern nahm dieses als Ausgangspunkt für weitreichende soziale und politische Revolutionen33 : Beispielsweise wird durch die Möglichkeit, dass ein Schreiber ein neues gesprochenes Wort selbst in geschriebene Sprache transferieren kann, ein innovativer Effekt für die griechische Gesellschaft im Ganzen generiert. In einer Bildsprache ist es nötig, dass es eine Instanz gibt, die Standardisierungen vornimmt, damit dann alle Schreiber das entsprechende Zeichen dekodieren und selbst einsetzen können. Dies führt zu einer Hierarchie und zu einer Elitenbildung innerhalb der Schriftkundigen. Dies fällt für Havelock im griechischen Lautalphabet weg, weswegen er es als modernisierend im Sinne einer Demokratisierung der Gesellschaft begreift. Mit der Modularisierung sind für Havelock aber auch entscheidende Schritte getan, um die politische Verwaltung zu verändern. Ähnlich hat Michael Giesecke für den Buchdruck gezeigt, wie die von Gutenberg vollzogene Modularisierung des Drucks nicht nur die Druckproduktion veränderte, sondern auch Betriebs- und Produktionsstrukturen nachhaltig transformierte34. Damit ist ein Ansatz formulierbar, der permanente Dynamik bei der Übermittlung von Botschaften zum historischen Prinzip erklärt und den Wandel medientechnischer Dispositive als zentral verursachend für historischen Epochenwechsel formuliert. Dieses Theorem, das es erlaubt, Kommunikation und Medien nicht als Gegenstand neben anderen, sondern als zentrale theoretisch-konzeptionelle Perspektive der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Verwaltungsgeschichte im Besonderen zu erklären, basiert auf der Annahme, dass es einen Unterschied macht, welches Medium in einer spezifischen Situation Verwendung findet – und zwar nicht aufgrund des Umgangs mit diesem, sondern auf der Basis seiner materiellen Kanaleigenschaften35. Angenommen wird, dass nur durch die Art und Weise, wie ein Medium Wirklichkeit dekodiert und enkodiert, Wirklichkeit überhaupt erleb- und thematisierbar wird. Daher ist es zentral für eine Arbeit, die mit einem solchen Ansatz ge32
Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge 1963. Eric A. Havelock, Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. 34 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1991; Michael Giesecke, Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte, Frankfurt am Main 2007. Zu einer Anwendung eines ähnlichen Ansatzes auf Fragen einer historiographischen Information vgl. Wolfgang Ernst, Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik, München 2013. 35 Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt am Main 1988. Paradigmatisch für diesen Ansatz war die Arbeit des Literaturwissenschaftlers Friedrich A. Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 33
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schrieben wird, welches Medium eingesetzt wird, um gesellschaftliche Wirklichkeit zu kommunizieren. Bezogen auf die Verwaltungsgeschichte bedeutet dies, dass es einen essentiellen Unterschied macht – und daher erklärungsbedürftig ist –, ob die Kommunikation zwischen einer Verwaltungsinstanz mittels eines geschriebenen oder eines gesprochen Textes, eines Bildes, eines Films, eines Formulars oder als gestische Performanz eines uniformierten Körpers stattfindet36. Die Erklärung wird zunächst beim Medium und seinen materiellen Bedingungen selbst ansetzen, um eine spezifische historische Situation zu klären, bevor etwa soziale Bedingungen der Sender- und Empfängerkonstellation oder ökonomische Verfügbarkeiten von Medien analysiert werden. Mit einem solchen konzeptionellen Ansatz verändern sich die Fragen, mit denen die Geschichtswissenschaft an historische Phänomene herangeht, in eklatanter Weise. Nun steht nicht mehr im Zentrum, wie eine übergeordnete Instanz es erreicht, ihre Ziele eins zu eins zu kommunizieren, sondern welche Bedeutungsdifferenz das Medium generiert, mit dem kommuniziert wird. Abweichungen und Änderungen werden zur erwarteten Normalität, gelungene Kommunikation im Sinne einer Eins-zu-Eins-Repräsentation der Senderintention im Verständnis des Empfängers zur Ausnahme. Das Bild von Geschichte wird dynamisiert. Nicht mehr das Typische oder das Repräsentative stehen im Fokus der Aufmerksamkeit der Forschung, sondern Variationen, Abweichungen und Modifikationen. Dahinter steht auch eine von der Postmoderne geprägten Erfahrung der zunehmenden Unsteuerbarkeit von Megastrukturen, eine Erfahrung, die sich aber nicht ungeprüft auf vormoderne Verwaltungsstrukturen übertragen lässt. Zumindest aber bewahrt sie davor, die Verwaltung bereits über obrigkeitliche Verordnungen zu definieren, vielmehr legt dieser Ansatz nahe, sich verwaltungstechnisches Organisieren und Administrieren von sozialer Wirklichkeit immer unter praxeologischer und performativer Perspektive und damit alltags- und quellennah anzusehen37. Denn Wirklichkeit wird nun nicht mehr ,repräsentiert‘, sondern muss ständig neu konstituiert und wiederaufgeführt werden – und der Fokus des Blicks geht auf die kleinen Änderungen, die mit der Wiederaufführung von scheinbaren Routinen einhergehen. Damit entsteht das Bild vom sozialen Handeln als Feld von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in einem spezifisch raumzeitlichen Rahmen, was auch wiederum dem klassischen, auf der Suche nach dem Typischen basierenden Ansatz des Strukturalismus widerspricht. Auch dieses Theorem schuldet der Ansatz des Communicative Turns der Diskursanalyse 36 Stefan Haas, Ziviluniformen als symbolische Kommunikation an der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft und Kultur. Geschichte und Theorie der Erforschung eines komplexen Phänomens, in: Die zivile Uniform als symbolische Kommunikation. Kleidung zwischen Repräsentation, Imagination und Konsumption in Europa vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, hrsg. v. Stefan Haas/Elisabeth Hackspiel-Mikosch, Stuttgart 2006, 13 – 45. 37 Zur Bedeutung von Performanzen in kulturwissenschaftlichen Forschungen u. a. Marvin A. Carlson, Performance. A critical introduction, London 1996; Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hrsg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002; Henry Bial (Hrsg.), The performance studies reader, London 2004; Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2011.
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Foucaultscher Provenienz. Das Medium selbst repräsentiert nun nicht mehr Wirklichkeit, sondern erschafft diese, wobei angenommen wird, dass jedes kommunikative Handeln die medialen Bedingungen seiner bedeutungsgenerierenden Leistung reflektiert38. Folgt man dieser Argumentation, dann ist ein niedergeschriebener Bericht einer Visitation nicht einfach nur eine andere Repräsentation von sozialem Handeln, wie es sich auch in einer bildlichen Quelle wiederfinden könnte. Visitation ist immer auch ein physischer Vorgang, in der körperliches Handeln, Bekleidung, Gesten und gesprochene Sprache eine entscheidende Rolle spielen. Es ist daher zu reflektieren, welche spezifische Enkodierung ein Visitationsbericht von einer Visitation vornimmt. An diesem Beispiel wird auch nochmals die kategorial neue Betrachtungsweise eines Communicative Turns deutlich: Die Medien sind als Träger der Übermittlung von Information und damit Kommunikation als sozialer Akt der Informationsverarbeitung und -weitergabe zu wirklichkeitsgenerierenden Faktoren im historiographischen Analysemodell geworden. Es wird daher erwartet, dass eine bedeutungsverlustfreie Übersetzbarkeit von Botschaften in unterschiedliche Medien scheitert. Menschen leben in Welten, die von den materiellen Bedingungen der Medien, die sie umgeben, wesentlich geprägt, wenn auch nicht determiniert sind. Sie verwenden Medien und sind selbst Medien in einem sozial wie kulturell komplexen Kommunikationsprozess. Was aber bedeutet dies für die Verwaltungsgeschichte? III. Verwaltungskommunikation in Implementationsprozessen Fasst man Verwaltungstätigkeit als sinngenerierendes Handeln auf, das im Wesentlichen aus Kommunikationsakten besteht, und interpretiert man diese selbst als in einer Weise bedeutungsgenerierend, die an die Materialität des Aktes gebunden ist, so lässt sich ein neuer Zugang zur Verwaltungsgeschichte entwickeln. Formuliert worden ist dieser Ansatz in der Historischen Implementationsforschung, die sich aus den Cultural Turns, der Politikfeldforschung und einem medienwissenschaftlichen Kommunikationsbegriff entwickeln lässt39. Er basiert auf der älteren Implementationsforschung, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren als Reaktion auf die Erfahrung des Scheiterns sozialliberaler Reformprogramme zunächst in Nordamerika, und dann in Mitteleuropa in der Politikwissenschaft entwickelt worden ist. „A policy is no better than its implementation“40 war eine prägnante Formulierung, in der K. A. Archibald 1970 die desillusionierende Erfahrung des Versickerns engagierter Politikprojekte im Dickicht lokaler Behördeninkompetenz und mangelhafter Ko38 Theoretisch formuliert in Lorenz Engell, Das Mondprogramm. Wie das Fernsehen das größte Ereignis aller Zeiten erzeugte und wieder auflöste, um zu seiner Geschichte zu finden, in: Medienereignisse der Moderne, hrsg. v. Friedrich Lenger/Ansgar Nünning, Darmstadt 2008, 150 – 171. 39 Entwickelt in Haas, Kultur (wie Anm. 25), 27 – 38. 40 K. A. Archibald, Three views of the expert’s role in policymaking. Systems analysis, incrementalism, and the clinical approach, in: Policy Sciences 1 (1970), 73 – 86, 76.
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operationspraktiken zwischen den Instanzen formulierte. Und noch deutlicher machten es Jeffrey L. Pressman und Aaron Wildavsky in einem der längsten Buchuntertitel der Geschichte politikwissenschaftlicher Literatur: „How great expectations in Washington are dashed in Oakland; or, why it’s amazing, that federal programs work at all this being a saga of the economic development administration as told by two sympathetic observers who seek to build morals on a foundation of ruined hopes“41. Die positive Botschaft aus diesen Erfahrungen formulierten sie wiederum in einem sehr kurzen Obertitel: „Implementation“. Diese galt als Lösung für das Problem und beinhaltete in den 1970er Jahren den Versuch, eine wissenschaftliche fundierte Beratung für politikentscheidende Stellen aufzubauen, mit der der Implementationsprozess steuerbar werden sollte. Als auch dies sich weitgehend im Sand verlief und die Steuerbarkeit politisch-administrativer Systeme immer prekärer wurde, entschwand die politikwissenschaftliche Implementationsforschung aus den fachwissenschaftlichen Diskursen. Nun muss sich eine kulturwissenschaftlich informierte Verwaltungsgeschichtsschreibung nicht um Politikberatung kümmern, sondern um die geschichtswissenschaftliche Analyse politisch-administrativer Prozesse. Daher kann sie von der mangelhaften Steuerbarkeit absehen und gerade daran die Erklärungsbedürftigkeit von historischem Verwaltungshandeln festmachen. Um dies zu erreichen, werden oben genannte Ansätze im Kontext der Cultural Turns mit einer kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft sowie den Traditionen der Implementations- und der PolicyScience-Forschung beziehungsweise Politikfeldforschung42 zusammengeführt. Damit soll ein heuristisches Modell entwickelt werden, Politik als kommunikativen Prozess zu begreifen, in den Verwaltungshandeln nicht nachgeordnet, sondern genuin sinnstiftend eingebunden ist. Implementation meint nicht Durchsetzung oder Vollzug. Mit diesen beiden letztgenannten Begriffen würde man eine Vorstellung konnotieren, die Politik als obrigkeitlich formulierte Bedeutungsgenerierung definiert. Ihr Ziel wäre dann, zu untersuchen, wie Abweichungen von diesem zustande kommen. Ihr Maßstab wäre die eineindeutige Umsetzung des Sinns, den ein Gesetz oder eine Verordnung formuliert. Implementation als analytisches Konzept geht von dem Theorem aus, dass Politik ein dynamischer Prozess ist, in dem durch das Prinzip der Kommunikation politische Inhalte über verschiedene Instanzen innerhalb und außerhalb des politisch-administrativen Systems transportiert werden und dabei, unter Verwendung der oben kurz 41
Jeffrey L. Pressman/Aaron Wildavsky, Implementation. How great expectations in Washington are dashed in Oakland; or, why it’s amazing, that federal programs work at all this being a saga of the economic development administration as told by two sympathetic observers who seek to build morals on a foundation of ruined hopes, Berkeley/Los Angeles/London 1973. 42 Vgl. Klaus Schubert, Politikfeldanalyse. Eine Einführung, Opladen 1991; Werner Jann, Kategorien der Policy-Forschung, Speyer 1981; Klaus von Beyme, Politikfeldanalyse in der Bundesrepublik, in: Politik in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. Klaus von Beyme/ Manfred G. Schmidt, Opladen 1990, 18 – 35.
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dargestellten Argumentationsform, beständig modifiziert werden. Diese Modifikation wird zum Fokus der Betrachtung, die kleinen Abweichungen und Verschiebungen der intendierten Bedeutung durch permanentes Umschreiben (im weiteren Sinn) sind bedeutsam für die vom politisch-administrativen System kreierte soziale Wirklichkeit. Intendierte Verschiebungen durch Eigensinn nachgeordneter Instanzen sind dabei eine Variante, die diesen Prozess als einen dynamischen auffassbar macht. Doch bedarf es auf der konzeptionellen Ebene nicht eines solchen, an der Alltagsgeschichte geschulten Blicks auf Widerständigkeit. Es wird vielmehr erwartet, dass die Materialität der Medien und die komplexen En- und Dekodierungsprozesse von Botschaften immer schon das zu Kommunizierende verändern. Der Fall, dass ein Gesetzgebungsprozess oder der Erlass einer Verordnung unverändert bleibt, wenn er auf der Bühne der politischen Entscheidungsträger formuliert wird und beim Gang durch die Instanzen des politisch-administrativen Systems auf gesellschaftliche Akteure trifft, die von der politischen Maßnahme betroffen sind, stellt eine kaum erwartbare Ausnahme dar. Vielmehr wird mit einer beständigen Modifikation gerechnet. Der Gesetzestext oder das politische Programm gehen daher nicht in dem Text auf, der von den entscheidungsbefugten Stellen erlassen wird. Sie sind nicht identisch mit der intendierten Maßnahme oder Zielvorgabe der übergeordneten Instanz oder Obrigkeit. Vielmehr wird erwartet, dass dieser ,Text‘, im breiten Verständnis des Linguistic Turn, im Implementationsprozess beständig umgeschrieben wird, indem er gedeutet, missverstanden, übersetzt, transferiert oder reformuliert wird. Das eigentlich zu Untersuchende ist daher nicht die obrigkeitliche Intention und der mögliche Widerstand der Betroffenen – das zentrale Thema sozialhistorischer Interpretationen der Verwaltungsgeschichte –, sondern der sich wandelnde virtuelle Text, der im Implementationsprozess entsteht. Auch dieses theoretische Konzept ist nicht zuletzt Erfahrungen der Mikrogeschichte geschuldet und geht wie diese einher mit einer deutlichen Ausweitung des zu untersuchenden Quellenkorpus für ein Forschungsvorhaben. Zur zentralen Legitimation einer kulturwissenschaftlichen Verwaltungsgeschichte wird damit die politikwissenschaftliche Frage: „Was wird aus einem Gesetz (und für die Frühneuzeitforschung lässt sich dies entsprechend modifizieren), nachdem es die politische Entscheidungsbühne verlassen hat?“43. Sie verdeutlicht, dass Politikgeschichte ohne die Beachtung der Implementationsphase und damit der Tätigkeit der Verwaltungsinstanzen nicht sinnvoll geschrieben werden kann. Verwaltungsgeschichte im Kontext der Cultural Turns wird zu einem zentralen Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte des Politischen oder des Sozialen lässt sich ohne sie kaum schreiben. Politische Prozesse lassen sich über dynamische Stadien rekonstruieren, die teils autopoietisch, teils geplant mit emergenten Resultaten ablaufen, in denen der Implementationsphase eine entscheidende Rolle zukommt. In ihr stoßen politische Programme und Maßnahmen auf Alltag und werden damit zu sozialer Realität. An diesem Punkt ist Verwaltung entscheidend beteiligt, nicht nur als eine durchführende Vollzugsbehörde, sondern als ein komple43 Eugene Bardach, The Implementation Game. What happens after a Bill becomes a Law, Cambridge/Mass./London 1977.
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xes mit sich selbst und seiner Umwelt kommunizierendes System, das Sinn und Bedeutung beständig umschreibt. Um diese Transferleistungen und Modifikationen zu erklären, kann man intentionales Handeln bemühen, wenn es sich in den Quellen nachweisen lässt. Emergente Prozesse sind aber immer dort wirkmächtig, wo kommuniziert wird, gleich, ob dabei textliche, sprachliche, körperliche, gestische oder andere Medialitäten involviert sind. Um diese theoretisch zu formulieren, kann man an der Toronto School einerseits, an der neuen kulturalistischen Medienwissenschaft andererseits anschließen. Verwaltung ist also mehr als der Agent der Herrschaft. Verwalten als Prozess kultureller Sinnbildung ist ein komplexes historisches Phänomen, das mehr Facetten beinhaltet, als die Metapher einer verkrusteten Bürokratie zu bearbeiten erlaubt. In diesem Sinn ist eine postmoderne Verwaltungsgeschichte ein auf Dynamiken zielendes zentrales Forschungsvorhaben, dem in einer zunehmend unsteuerbaren Wirklichkeit zentrale Analysepotentiale zukommen.
Schlusskommentar Von Barbara Stollberg-Rilinger, Münster Die Beiträge dieser Tagung haben eindrucksvoll gezeigt, wie erkenntnisfördernd es ist, die Geschichte von Herrschaft und Verwaltung als wechselseitigen Kommunikationsprozess zu schreiben und die Wege weiter zu verfolgen, die Konzepte wie ,akzeptanzorientierte Herrschaft‘, ,Triangulierung‘ und ,empowering interaction‘ eröffnet haben. Das kann und soll in einem Schlusskommentar nicht annähernd angemessen zusammengefasst werden. Ich möchte hier nur einige allgemeine Eindrücke formulieren und einige lose Enden aufnehmen, die es in Zukunft vielleicht noch stärker miteinander zu verknüpfen gilt. Es hatte einen tieferen Sinn, diese Tagung mit dem Fall der niederösterreichischen Kreisämter im 18. Jahrhundert beginnen zu lassen, die geradezu ein Musterbeispiel Weberscher Rationalisierung und Bürokratisierung gewesen zu sein scheinen und damit auf der Tagung als unglaublicher Sonderfall aufgenommen wurden (Corinna von Bredow). Das war symptomatisch: Die alte Meistererzählung ist offenbar mittlerweile so erschüttert, dass man sich geradezu wundert, wenn Verwaltungsbehörden überhaupt funktioniert haben, das heißt im Falle der Kreisämter, wenn sie die Lokalgewalten wirkungsvoll kontrollierten und den Untertanen Schutz gegen deren Übergriffe boten. Es scheint fast zu schön, um wahr zu sein. Denn dank den Studien vor allem der Reinhard-Schule zur Mikropolitik wissen wir mittlerweile viel über die Reziprozitätslogik, die Dominanz von Patronage und personaler Verflechtung in vormodernen Gesellschaften. Daraus ergibt sich als Konsequenz eine Art historiographischer Beweislastumkehrung: Nicht das Scheitern, sondern das erfolgreiche Funktionieren von Verwaltung ist der unwahrscheinliche Fall. Die Unwahrscheinlichkeit, dass sich bürokratische, das heißt unpersönlich-sachorientierte Verfahren herausbilden, macht diese Verfahren aber erst recht erklärungsbedürftig. Angesichts der allgegenwärtigen mikropolitischen Verflechtungen fragt es sich desto mehr, wie sich Institutionen herausbilden konnten, die die Position eines neutralen Dritten jenseits der ständischen Reziprozitätslogik einnahmen. Die Frage nach dem Staatsbildungsprozess ist also alles andere als obsolet, ganz im Gegenteil. Dabei gilt es ein für allemal das hartnäckige Missverständnis auszuräumen, Prozessmodelle seien notwendigerweise teleologisch und normativ aufgeladen. Kaum jemand würde heute mehr behaupten wollen, Prozesse der Staatsbildung seien programmatisch auf ihr segensreiches Endziel hin gesteuert worden, wie es die Selbstbeschreibung der Kameralisten und Verwaltungswissenschaftler suggeriert, die meinten, den Staat als Maschine konstruieren zu können. Das heißt aber nicht,
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dass diese Prozesse strukturlos abgelaufen wären und dass Handlungsprogramme dabei gar keine Rolle gespielt hätten. Zu erklären ist vielmehr, wie sich selbst verstärkende Prozesse der Formalisierung und Bürokratisierung in Gang kamen und wie dabei intendierte und unintendierte Handlungsfolgen, explizite und implizite Handlungslogiken ganz unterschiedlicher Akteursgruppen in Wechselwirkung zueinander traten. Mit anderen Worten: Was brachte eine Verwaltung dazu, gegen alle gesellschaftlichen Erwartungen ihrer Umwelt überhaupt jemals unparteilich, sachorientiert und gemeinwohlbezogen zu agieren? Die neuen Ansätze der Verwaltungsgeschichte, wie sie hier vorgestellt werden, unterscheiden sich also von den älteren zum einen darin, dass sie das nicht mehr einfach mit dem Rückgriff auf die Rationalitätserzählung der Zeitgenossen selbst erklären – in dem Sinne, dass die aufgeklärten Programme der Vernunft mit einer gewissen Notwendigkeit zum Durchbruch und der rationalen Herrschaft zur Durchsetzung verholfen hätten –, sondern danach fragen, wie es entgegen aller Wahrscheinlichkeit dazu kam, dass die herkömmliche Handlungslogik zumindest partiell von einer anderen, neuen Logik überformt wurde. Sie lenken damit zum anderen die Aufmerksamkeit weg von der zentralen herrschaftlichen Normsetzung und hin zu der Eigenlogik der Verwaltung, die sich nur als offenes, wechselseitiges Geschehen verstehen lässt (man spricht deshalb bekanntlich nicht mehr von Herrschaftsdurchsetzung, sondern von Implementation). Daraus ergibt sich zugleich drittens, dass man versucht, den Staatsbildungsprozess von der Ebene der abstrakten Strukturen auf die Ebene der konkreten Kommunikationsakte, kollektiven Praktiken und Diskurse herunterzubrechen. Die wesentlichen Fragen lauten dann: Wie war das Verhältnis zwischen zentraler Herrschaft, Verwaltung und Verwalteten beschaffen? Worin lag die „Eigenlogik der Verwaltung als Interaktionssystem“ (Birgit Näther) und wie muss man sich ihre Wirkungsweise im Detail vorstellen? Inwiefern entfalteten sich Prozesse der staatlichen Verdichtung im und durch das Zusammen-Handeln der verschiedenen Beteiligten, aber in Teilen ohne oder gar gegen ihre explizite Absicht, also gleichsam hinter ihrem Rücken? Dazu hier nur einige Stichworte, anhand derer diese Fragen auf der Tagung diskutiert wurden und denen genauer nachzugehen sich weiterhin lohnt.
Triangulierung Der meistdiskutierte Begriff dieser Tagung war der der ,Triangulierung‘. In einem ganz allgemeinen Sinne sind Dreiecksbeziehungen in nahezu allen sozialen Konstellationen wirksam: Es gibt immer einen ,Dritten‘, und sei es nur als externen Beobachter, dessen Vorhandensein das Verhältnis zwischen zwei Akteuren beeinflusst. Versteht man den Begriff aber in einem spezifischeren Sinne, so erscheint er sehr hilfreich, um zu erklären, wie der Prozess der Machtkonzentration auf unterschiedlichen Ebenen Fahrt aufnahm (Peter Collmer, Bettina Severin-Barboutie, Simon Karstens
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und andere). Danach meint Triangulierung, dass es unter Bedingungen eines zunächst geringen Machtgefälles zwischen verschiedenen Akteuren einem dieser Akteure gelingt, sich gegenüber den anderen als unparteiischer Dritter zu positionieren und damit die eingefahrenen Muster der Reziprozität zu durchbrechen. Fragen die Anderen die Neutralität und Sachlichkeit des Dritten nach, dann kommt ein Prozess der Ermächtigung (,empowerment‘) in Gang, der sich laufend selbst verstärkt, solange die Erwartungen gegenüber dem Dritten von diesem nicht massiv enttäuscht werden. Information Die Rolle von Informationssammlung in Rahmen von ,empowering interaction‘ ist in neueren Arbeiten vielfältig thematisiert worden. Dabei geht es allerdings in der Regel vor allem um die instrumentelle Funktion von Information für herrschaftliches Handeln. Ein mindestens ebenso wichtiger Aspekt, der auf der Tagung zur Sprache gekommen ist (Hanna Sonkajärvi, Nicolás Brochhagen und andere), liegt aber in den (höchst ambivalenten) symbolischen Wirkungen der Informationserhebung (wie sie auch heute aus universitären Evaluationsverfahren bestens vertraut sind): Informationen liefern zu müssen, kann als Zumutung empfunden werden und Misstrauen gegenüber der Obrigkeit wecken; Informationen liefern zu dürfen kann aber auch umgekehrt als Gelegenheit zur Artikulation eigener Bedürfnisse empfunden werden und ein Gefühl der Partizipation erzeugen. Auf Seiten der Verwaltungsbehörden dient Informationssammlung der Absorption von Entscheidungsunsicherheit und der Erzeugung von Rationalitätsfiktionen. Ob tatsächlich ein kausales Verhältnis zwischen Informationssammlung und rationaler Entscheidung besteht, ist dabei zunächst einmal völlig offen. Diesen Fragen gilt es auch in der Verwaltungsgeschichte der Frühen Neuzeit noch genauer nachzugehen. Kultur der Verwaltung: Habitualisierungen und Habitus Ein anderes, ergänzendes Erklärungsmodell, das auf der Tagung diskutiert worden ist, rekurriert auf die Wirkmächtigkeit inkorporierter Verhaltensweisen, impliziter Regeln und Routinen, also: auf soziale Habitualisierung. Handlungsroutinen sorgen für Stetigkeit, erzeugen normative Erwartungen und stiften Vertrauen – eine der wichtigsten Legitimitätsressourcen von Herrschaft. Haben sich Verwaltungspraktiken erst einmal zu Routinen verfestigt und habitualisiert, dann verstärken sie sich tendenziell selbst. Die Frage ist dann aber erst recht, wie es gelingen konnte, dass sich neue, sachlich-unpersönliche Verhaltensweisen einbürgerten und alte, an den sozialen Nahbeziehungen orientierte Verhaltensgewohnheiten verdrängten. Wie entstand ein ,bürokratischer Habitus‘? Am ehesten lässt sich das für die neue Verwaltungselite im Reich und seinen Territorien beschreiben. Mehrere Beiträge haben in diesem Zusammenhang auf die Ausbildung einer neuen Generation von ,Staatsdienern‘ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verwiesen, die alle an denselben Universitäten studiert und alle dieselben Bücher gelesen hatten (Corinna von Bredow, Klaus Margrei-
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ter). Die Angehörigen dieser Generation von ,aufgeklärten‘ Fachleuten waren verbunden durch einen gemeinsamen sozialen Habitus und ein intensives Gruppenbewusstsein; sie fühlten sich als gemeinwohlorientierter ,allgemeiner Stand‘. Das kam unter anderem in dem Projekt einer neuen, sachlich-unpersönlichen Verwaltungssprache zum Ausdruck, die programmatisch gegen den barocken, persönliche Hierarchien reproduzierenden Kanzleistil durchgesetzt werden sollte (Klaus Margreiter). Formalität/Informalität Eine zentrale Rolle für die Staatsbildung spielen ganz ohne Zweifel Prozesse der Formalisierung, das heißt der Setzung expliziter, abstrakt-unpersönlicher, schriftlicher, sanktionsbewehrter Normen. Deren Wirkung hat bekanntlich schon Max Weber ins Zentrum seines Rationalisierungsmodells gestellt. Neuere Ansätze der Verwaltungsgeschichte gehen im Anschluss an die Organisationssoziologie davon aus, dass formale Normen immer nur eine Seite der Medaille sind, und fragen danach, wie Formalisierungsprozesse mit bestehenden informellen Verhaltenserwartungen in Beziehung treten und inwiefern sie diese verändern (Birgit Emich). Dabei sind informelle (zum Beispiel klienteläre) Normen keineswegs einfach als zu überwindendes Hindernis zu verstehen, das dem Ziel einer vollständigen Formalisierung im Weg steht. Ganz im Gegenteil: Je strenger formalisiert eine Institution ist, desto notwendiger sind komplementär dazu informelle Regeln, die die Auswüchse der formalen Normen kompensieren, zur Not in Form von ,brauchbarer Illegalität‘. Wie das In-, Mit- und Gegeneinander formaler und informeller Normen tatsächlich im konkreten Verwaltungsalltag aussah, dafür liefern mehrere Einzelbeiträge der Tagung wichtige Hinweise: etwa darüber, wie Normenkollisionen gehandhabt wurden (Birgit Emich), wie man die Lücken der formalen Normen kreativ füllte (Birgit Näther), welche Rolle Schriftgebrauch und Aktenförmigkeit dabei spielten, und so weiter. Näherer Erforschung wert sind die Funktionen und Effekte scheinbar geringfügiger Verwaltungspraktiken wie etwa das Setzen von Fristen, das Entscheidungsdruck erzeugte (Corinna von Bredow), oder die Vorschrift zum Gebrauch amtlichen Stempelpapiers für private Geschäfte, die die Allgegenwart von Verwaltung symbolisch erfahrbar machte (Bettina Severin-Barboutie). Auch die massenweise formale Dispensierung von den selbst geschaffenen Verboten ist eine aufschlussreiche Herrschaftspraxis, deren Funktion nicht zuletzt in der symbolischen Selbstinszenierung der Herrschaft gelegen zu haben scheint (Hanna Sonkajärvi). Überhaupt zeigt sich immer wieder, wie wichtig es ist, die symbolischen Funktionen des Herrschafts- und Verwaltungshandelns nicht zu unterschätzen. Es ist – wie alles soziale Handeln – nie rein instrumentell, sondern erzeugt stets auch Sinn. Es hat insofern performativen Charakter, als es immer zugleich seine eigene symbolische Inszenierung ist (Birgit Emich, Stefan Haas). Diese wenigen Akzentsetzungen zeigen vielleicht, in welche Richtung sich eine neue ,Kulturgeschichte der Verwaltung‘ bewegen könnte. Das theoretische Instrumentarium der verschiedenen Ansätze, das zeigt diese Tagung, kann zur Vermittlung
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zwischen Mikro- und Makroebene, Akteuren und Strukturen, subjektiv gemeintem und kollektiv erzeugtem Sinn dienen. Am Ende könnte sich zeigen, dass das ,selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‘ der Kultur und das ,stahlharte Gehäuse der Hörigkeit‘ des Staats nur zwei unterschiedliche Aspekte ein und desselben Sachverhalts sind.