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German Pages 84 [86] Year 2016
Jahrgang 2010 1. Karl-Heinz Ott Die vielen Abschiede von der Mimesis ISBN 978-3-515-09803-8 20 S., € 6,– 2. Klaus Böldl Dämon und Göttergünstling. Anmerkungen zu einer isländischen Dichterpersönlichkeit des 10. Jahrhunderts ISBN 978-3-515-09804-5 20 S., € 6,– Jahrgang 2011 1. Hans Dieter Schäfer Verteidigung des Lebens durch Poesie. Über die Moderne von Klopstock bis Benn ISBN 978-3-515-09968-4 72 S., mit 31 Abb., € 14,– 2. Albert von Schirnding Nach dem »Sündenfall«. Droht eine neue pädagogische Eiszeit? ISBN 978-3-515-09969-1 20 S., € 6,–
Jahrgang 2013 1. Hans Dieter Schäfer Kommunikationslosigkeit und Gewalt. Über Georg Büchners ›Woyzeck‹ ISBN 978-3-515-10443-2 48 S., mit 13 Abb., € 11,– 2. Arnold Stadler Bilder als Partituren des Lebens: Ein Ausflug in die Welt des Malers Arnold Bräckle. Eine Vergegenwärtigung ISBN 978-3-515-10444-9 48 S., mit 19 z.T. farbigen Abb., € 11,–
Preisänderungen vorbehalten
Jahrgang 2014 1. Jan Wagner Der Poet als Maskenball. Über imaginäre Dichter ISBN 978-3-515-10822-5 20 S., € 6,– 2. Ulrich Konrad Werkstattblicke. Haydn, Beethoven und Wagner beim Komponieren beobachtet ISBN 978-3-515-10823-2 32 S., mit 14 Abb., 9 Notenbeispielen und einer CD als Beilage, € 11,– Jahrgang 2015 1. Uwe Pörksen ›In Stahlgewittern‹ oder als ›Überläufer‹ zur Natur? Ernst Jüngers Erlebnis und Wilhelm Lehmanns Deserteur und Luftmensch im Ersten Weltkrieg ISBN 978-3-515-11105-8 32 S., mit 3 Abb., € 8,– 2. Paul-Michael Lützeler Napoleons caesaristischer Ehrgeiz im Hinblick auf den Europa-Diskurs ISBN 978-3-515-11106-5 32 S., mit 23 Abb., € 8,–
Hans Dieter Schäfer · Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß
4. Petra Plättner (Hrsg.) Der schwierige Neubeginn – Vier deutsche Dichter 1949. Beiträge von Heinrich Detering, Dirk von Petersdorff, Hans Dieter Schäfer und Albert von Schirnding anlässlich des 60jährigen Bestehens der Klasse der Literatur ISBN 978-3-515-09637-9 79 S., € 14,–
Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß Mit einer Spurensuche und einer Familienerinnerung von Hanne Lenz
Jahrgang 2016 1. Hans Dieter Schäfer Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß. Mit einer Spurensuche und einer Familienerinnerung von Hanne Lenz ISBN 978-3-515-11607-7 ISBN für das E-Book: 978-3-515-11608-4 84 S., mit 46 teils farbigen Abb., € 14,– 2. Ulrich Konrad Komponieren in kriegerischer Zeit. ›Eine Vaterländische Ouvertüre‹ op. 140 von Max Reger ISBN 978-3-515-11609-1 ISBN für das E-Book: 978-3-515-11610-7 48 S., mit 3 Abb. und 7 Notenbeispielen, € 11,–
ISSN 0002-2985
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN UND DER LITERATUR • MAINZ FRANZ STEINER VERLAG • STUTTGART
Klasse der Literatur und der Musik
Hans Dieter Schäfer
weitere Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Klasse der Literatur (ab 2014: Klasse der Literatur und der Musik)
akademie der wissenschaften und der literatur Abhandlungen der Klasse der Literatur und der Musik Jahrgang 2016 · Nr. 1
Hans Dieter Schäfer Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß Mit einer Spurensuche und einer Familienerinnerung von Hanne Lenz
akademie der wissenschaften und der literatur · mainz franz steiner verlag · stuttgart
Vorgelegt in der Plenarsitzung am 18. April 2015, zum Druck genehmigt am selben Tag, ausgegeben am 4. November 2016.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abruf bar. ISBN 978-3-515-11607-7 ISBN für das E-Book: 978-3-515-11608-4
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1967 las ich zum ersten Mal Sätze von Hermann Lenz, einem damals nahezu unbekannten Schriftsteller – ›Der Käfer‹ hieß das kurze Prosastück im Feuilleton einer Tageszeitung.1 Es handelt von einem Mann, der als letzter Mörike gesehen haben soll. Glaubhaft gemacht wird die Geschichte durch das am Ende mitgeteilte Sterben des Augenzeugen, der dem Erzähler »vor einige[n] Wochen« Zeugnis von der Begegnung abgelegt hatte. (S. 41) Lenz vergegenständlichte das Zusammentreffen mit Mörike durch »Schaufenster […] hinter den Säulen des Königsbaus« in Stuttgart »an einem Nachmittag im Juni« und rückte den Augenzeugen als Offizier in einer Uniform der Königin Olga, »blau mit breiten Epauletten« (S. 39), in einen fernen Bezirk. Zigarrengeruch, Hufklappern sowie ein Mädchen mit einem über Steinfliesen wischenden Krinolinenrock lösen das Feste zum Atmosphärischen hin auf und bereiten im Dunkel eines Wolkenschattens den Auftritt Mörikes vor »mit schlaffem gelblichem Gesicht«, während unter dem ›»Gebäu von Stirne«‹ Brillengläser spiegeln. »Schlafwandlerisch« geht er auf eine Säule zu, um mit dem Zeigefinder einen »goldgrün glänzenden Käfer« zu berühren, »merkwürdig groß«. (S. 40 f.) Mörike und der Käfer zeichnen sich sowohl durch Geglitzer wie durch das Plumpe aus – das Licht bringt beide zum Leben. Lenz legte Mörike nur einen Satz in den Mund: »Der ist nicht tot.« (S. 41) Vermutlich handelt es sich um den Großen Rosenkäfer oder Großen Goldkäfer (Protaetia aeruginosa), der knapp 30 mm lang wird und anders als der Gemeine (Cetonia aurata) nur im Mai und Juni fliegt. Die Steinsäule als Aufenthaltsort betont das Fremde, doch die tastenden Fühler und das Spannen der »goldgrünen Decken […] mit durchsichtig rosaschimmernden Flügeln darunter« lassen ahnen, daß der Käfer in der Lage ist, seine Lebenskräfte am Nektar einer Blüte zu stärken. (S. 42) Umrahmt wird die Geschichte von einem Besuch des Erzählers in einem Antiquariat, vollgestopft mit Büchern, die da und dort ihre »Goldpressungen […] zwischen zerfledderten Rücken« glimmen lassen. Das dumpf riechende Ladenlokal sowie die Gravuren stellen eine Verbindung zum »goldgrün glänzenden Käfer« her, der sich gern im Mulm alter Eichen verpuppt – er war schon zur Zeit der Begegnung mit dem Augenzeugen selten wie »der rote Leinenband« der zweiten, vermehrten Auflage von Mörikes Gedichten, die der Erzähler »in dem schmalen Zimmerschlauch« kauft, »wo die Regale bis zur Decke reichten«. (S. 38) Heute ist der Käfer durch rasch wachsende Nadelholzwälder sowie die Beseitigung von Totholz vom Aussterben bedroht.2 Es scheint, als ob Lenz dem Außenseiter ein Denkmal setzen wollte, der in der »immerwährenden Gegenwart der Massenmedien« ohne Wahrnehmung auskommen muß, so daß er nicht nur das Besondere, sondern vor allem auch das Verschwinden mit dem Großen Goldkäfer teilt, zumal sich für beide mit der Buchkultur samt Antiquariaten bzw. dem Mulm das überlebenswichtige Milieu auf dem Rückzug befindet.3
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1 Hermann Lenz, Cleversulzbach. Federzeichnung
Als sich Ende der sechziger Jahre die Mehrheit, auch die der Schriftsteller, von der Expansion der Technik und dem damit verbundenem Fortschrittsoptimismus blenden ließ, beeindruckte mich, daß das Vergangene auf diese so unaufdringliche Weise seine Daseinsberechtigung fand. »Das ist nicht tot«, dachte ich, fragte nach einem Buch von Hermann Lenz und hielt wenig später den 1966 herausgekommenen Roman ›Verlassene Zimmer‹ in den Händen, ohne zu ahnen, daß es der erste Band der neun autobiographischen Rapp-Bücher gewesen war, in denen Lenz sein Leben mit den Augen einer Spiegel-Figur aufrollte. Kurz nach dem 60. Geburtstag, noch vor der Entdeckung durch Peter Handke und dem damit hervorgerufenen Erfolg samt Büchner-Preis, veröffentlichte ich ein Porträt unter dem Titel ›Das Atelier in meinem Innern‹4, für den 80. hielt ich auf Einladung der Stadt München eine kleine Laudatio,5 und zum 100. Geburtstag 2013 brachte mich der Verleger Ulrich Keicher auf den Gedanken, etwas aus dem Nachlaß zu veröffentlichen, so daß ich als erster Benutzer das umfangreiche, aber lückenhaft von der Bayerischen Staatsbibliothek auf bewahrte Tagebuchwerk6 sowie die Notizbücher und Kalender durchforschte – aus dieser Beschäftigung gingen mit dem ›Schwäbischer Lebenslauf‹ und ›Altersnotizen 1997-1998‹ zwei Publikationen hervor.7 Fast siebzig Jahre führte Hermann Lenz Tagebuch, in dem bis 1945 Erinnerungen, dichterische Versuche und Reflexionen dominieren, während Alltagsbeobachtungen in den Hintergrund rücken. In und neben diesen Aufzeichnungen entwickelte sich ein vielbändiges Werk, das außer fiktionalen Erzählwerken autobiographische Romane enthält, in denen Lenz Erlebtes aus seinem »unfreiwilligen Gedächtnis« bereitstellte und mit Erfindungen ausgestaltete. Der Schüler hatte sich ein kartoniertes Buch mit linierten Seiten gekauft und am 1. Januar 1929 eine Miniatur von Cleversulzbach hineingezeichnet (Abb. 1), doch es dauerte noch zwei Tage, bis er unter das Bild eine Erinnerung an eine Fahrradtour mit dem Vater in das Dorf aus dem letzten Herbst niederschrieb. Mich überraschte, daß schon hier Mörike einen Auftritt bekam, der von 1834 bis zu seiner frühzeitigen Pensionierung 1843 in Cleversulzbach als Pfarrer tätig gewesen war. Erst im »Vierundachtzigsten« verzichtete Lenz auf die »Konzeption
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von Geschichten« (19.-25.9.1997) und verfaßte nur noch Notizen, während ihn die Herzerkrankung immer weiter schwächte. Am 29. April 1998, vierzehn Tage vor dem Tod, setzte er im Tagebuch mit seiner girlandenartigen Schrift deutlich lesbar einen halb imaginären Schlußpunkt. (Abb. 2) Der Ort des Schreibens war die Dachstube im elterlichen Haus Stuttgart Birkenwaldstraße 203, die Hermann Lenz als Vierzehnjähriger bezog und die nach Erbstreitigkeiten mit der Schwester 1975 in das Haus seiner Ehefrau nach München übertragen wurde. In der »kaum sechzehn Quadratmeter schmalen« Kammer »mit schrägen Wänden« (AT, S. 262) baute er sich eine Klause und stattete sie mit Büchern und Andachtsbildern seiner Lieblingsdichter aus, zu denen von Anfang an Mörike zählte. (L+S, S. 16 und S. 111) »Wenn ich arbeite, dann kann ich zu ihm aufsehen, und wenn es in mir kämpft, kann ich mir von ihm Kraft holen«, bekannte der Schüler. (20.1.1930) Das Tagebuchschreiben wurde vermutlich von Notizheften und Taschen kalendern angeregt, wie sie die Mutter zu Eintragungen von Alltagsbegeben heiten und Trostsprüchen nutzte.8 Selten versuchte sich der Autor in der Tätigkeit des Vaters, der als Kunsterzieher am Stuttgarter Reformrealgymnasium arbeitete und in der Freizeit sein Skizzenbuch dabei hatte.9 Im Oktober 1947 fertigte Lenz von seiner häuslichen Umgebung vier farbige Federzeichnungen an, als wollte er seinem Refugium nach den Aussperrungen durch Krieg und Gefangenschaft eine andere Dauer als durch das Wort verleihen. Das erste Bild zeigt den Raum vor dem Eingang zur Dachstube und den oberen Teil der steilen Holztreppe; man erkennt einen Schrubber an dem mit »Ölfarbe bemalten Schrank aus Tannen holz« (F, S. 223), ein Regal, »das früher Schrank für Dienstbotenkleider« gewesen war (NZ, S. 60), zum Trocknen aufgehängte Tabakblätter und einen Lehnstuhl neben der Kommode des Großvaters Julius Krumm. (Abb. 3) Zwei weitere Zeich-
2 Hermann Lenz, Letzte Tagebuchnotiz
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Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß
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3-5 Hermann Lenz: Vorraum und Dachstube. Aquarellierte Federzeichnungen, Oktober 1947
nungen geben die Klause wieder. Die eine zeigt den Ofen vor einem bis zur Decke reichenden Gestell mit Büchern, durch die der Autor aus der Enge eine freie Welt betrat, ohne dabei dem Lebensgenuß eine Absage zu erteilen, wie der französische Trinkbeutel für Wein zwischen Regal und Heizkörper als eine Art Gegenstück zum Tabak andeutet (Abb. 4); auf der anderen sind Nachtkasten, Lampe und das Bett mit Kissen, einer Joppe, Mappe, Buch und Aschenbecher zu sehen – an der Wand hängt das bekannte Foto Mörikes von Friedrich Brandseph und am Kopfende vermutlich die Aufnahme eines Autors der Moderne.10 (Abb. 5) Erstaunlich ist, daß Lenz von der Nachkriegsliteratur vor allem Arno Schmidt schätzte11, der die Wortkunst des Naturalisten Arno Holz und seiner Nachfolger weiterzuführen versuchte, während er selbst seine Vorbilder von der Gegenströmung bezog und Hofmannsthal oder Arthur Schnitzler verehrte. Die Sympathie hat vielleicht etwas mit verwandten Produktionsbedingungen zu tun – verbarrikadierte sich Schmidt in seinem Haus im Heidedorf Bargfeld bei Celle12, riegelte sich der Schriftsteller aus Stuttgart unterm Dach vor den Menschen ab, denn trotz aller Verbindlichkeit mied er in seiner Klause jede Nähe. »Auch die Ra-
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6 Hermann Lenz: Das Glück des Dichters ist die Schuld. Aquarellierte Federzeichnung, 7. Juli 1950
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dierung von Schnitzler mußt Du sehen«, schrieb er an seine spätere Frau Hanne. (4.7.1938) Doch ihre Gegenwart im »geheiligten Raum« hatte Entsetzen zur Folge, denn das Geschäft des Schreibens war nur in der Selbstisolation möglich. »Hanne ist seit gestern bei mir und es hat mich zur Raserei gebracht, daß ich jetzt nicht mehr arbeiten kann: Sie sitzt hinter mir in meinem Zimmer. [...] nur meine Gedanken an meine Arbeiten können mich retten«, heißt es im Tagebuch 1939. »Sie [...] sieht alles was ich tue, das ist schrecklich.«13 Im Dezember 1937 hatte Hermann Lenz beim Kunstgeschichtsstudium in München Johanna Trautwein kennengelernt, die blendend aussah. Als hätte die Begegnung seine Dachkammer mit einem neuen Bild ausgestattet, schwärmte er dem Freund Wiegandt vor: »Wenn ich sie so ansehe in der Ecke am Ofen, muß ich doch sagen: es ist ein hübscher Augaff. Oft bin ich erstaunt, was ich alles habe und wie hübsch es zusammenpaßt.« (29.12.1938, DLA) Schon Anfang 1936 fixierte das Tagebuch seine Wünsche: »Vor dem Einschlafen habe ich dann wieder an eine sehr schöne Frau gedacht, der ich alles sagen würde, die mich aber gar nicht liebt sondern nur schätzen sollte und manchmal zum Tee kommen und zum Plaudern,« um später zu ergänzen: »Die Frau soll schön sein, Rotstift und Schwarzstift verwenden und lackierte Nägel haben.« (12. und 15.2.1936) Im Todesjahr gestand Lenz: »Die Sexualität hast du mißachtet oder du bist ängstlich ausgewichen«, um diese Versagung als »sehr beschämend und wohl eine Sünde« zu bezeichnen. (3.2.1998) Ein Vorspiel zu diesem Bekenntnis kann man in der farbigen Federzeichnung ›Das Glück des Dichters ist die Schuld‹ von 1950 mit dem entblößten Frauenkörper sehen, der sich vom Buch halb verdeckt neben einem bekleideten Mann zeigt – ein Dollarzeichen, der gehörnte Tierkopf, Vogel, Fisch, Fledermäuse und die Mondsichel überm Minarett sind Allegorien der Poesie, die ihr Leben der Verweigerung verdankt. (Abb. 6) Daß Hermann Lenz in den autobiographischen Romanen sein Alter Ego »Rapp« nannte, ist vielleicht ein Spiegelreflex auf den radikalen Pietisten Georg Johann Rapp, der die »inner eheliche Enthaltsamkeit« gefordert hatte.14 Frühkindliche Enttäuschungen vermischten sich mit einer Weltabsage, die Lenz bei Mörike bestätigt fand, der als Trost spendende Heiligenfigur das Leben begleitete. »Seine Gedichte nehme ich seit 1929 in einem Reclam-Band, den ich mir damals einbinden ließ, überall hin mit«, gestand er Wolf Donndorf. »Das Buch war in Frankreich, in Rußland und Amerika dabei […], und während ich dies schreibe, liegt es neben mir.« (30.4.1974, DLA) Im Gedicht ›Verborgenheit‹ konnte Lenz warm zustimmend lesen: Laß, o Welt, o, laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laß dies Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein!15
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Die vom Vater erwartete Doktor arbeit jagte Hermann Lenz »immer neue Schrecken ein«, gestand er Hanne am 27. Juli 1938. »Ein Besuch in einer öffent l ichen Bibliothek wirkt auf mich fast zerrüttend, wenn ich […] diese schnüffelnden Tierfratzen hinter angegilbten Büchern herumsitzen sehe.« Er entwickelte einen Haß auf die Universität, wobei vor allem die Sprache Ekel auslöste. »Ich 7 Hermann Lenz, um 1938 bin verwöhnt durch meinen Umgang mit Herrn von Hofmannsthal und Goethe und Thomas Mann, George usw. Dagegen diese niedrigen Gehirne, alles schmutzig!«, schrieb er nicht ohne Selbsterhöhung an Wiegandt. (19./30.11.1938, DLA). Ein Foto aus den späten dreißiger Jahren (Abb. 7) zeigt ihn an einem Biedermeier-Schreibtisch mit Messingleuchter, die Augen hinter der Brille sind nach unten gerichtet, während die dunklen Haare und das von der Mutter geschenkte »schwarze Hemd« (NZ, S. 52) den melancholischen Gesichtsausdruck verstärken. Obwohl Zivilisiertheit und Urbanität verfielen, flackerten vor dem Zweiten Weltkrieg bei Teilen der europäischen Jugend Rituale der großen Welt nach, auch wenn es sich dabei oft nur noch um die Erinnerung an Erinnerungen handelte. Lenz zeichnete sich als Baudelaire mit Zigarre und Zylinder, den das Pariser Bürgertum am Abend mit schwarz glänzender Seide sowie farbigem, meist rotem Futter getragen hatte. Unter die Skizze schrieb er: »Lenz-Baudelaire-Stuttgart-München-Paris.« (Abb. 8) Mit Johanna Trautwein, einer »Halbjüdin«, kultivierte der junge Schriftsteller das Elegante mit einem Zug zum Bohemehaften. (Abb. 9) »So um den Odeonsplatz ist doch immer ein bissel internationale Luft, so ein Geruch von Wien und 9 Hanne Trautwein
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Paris«, schrieb er aus der Stuttgarter Dachstube nach München und gestand, daß das »Jüdische doch eine verfeinerte Wirkung, etwas Atmosphärisch-Zartes habe [...].« (2.7.1938) Lenz räumte später in einen Brief an Kasimir Edschmid ein, daß er »die Zeit von 33 bis 45 [...] ein bißchen wie Schneewittchen im gläsernen Sarg verbracht« hatte: »Draußen war alles abscheulich, roh und gemein, in meine Welt durfte nichts davon eindringen... [...]. Ich machte alle die Jahre über in allen möglichen Antiquariaten Jagd auf Thomas Mann, Schnitzler, Hofmannsthal, Marcel Proust etc., hatte auch guten Erfolg, denn ich bekam, so weit ich mir’s leisten konnte, fast alles, was ich haben wollte [...], doch waren’s eigentlich recht bittere Früchte [...]«. (28.1.1948, DLA) Als der Reichstag einen sozialdemokratischen Antrag zur Aufhebung der Notverordnungen annahm und sofort aufgelöst wurde, 8 Hermann Lenz: Rauchender Mann. Bleistift auf bekannte Lenz mit Siebzehn: »Die Seidenpapier, 1938 Staatsgewalt muß auf der Volkssouveränität begründet sein« und grenzte sich damit vom Vater ab, der die Meinung vertreten hatte, »daß dem deutschen Volk nur durch eine Diktatur geholfen werden könne«. Kurz und bündig stellte er fest: »Ich selbst betrachte eine Diktatur als das größte Unglück [...].« (18.7.1930) Für den »Massen-Schreier« Hitler hatte Lenz nur Verachtung übrig. »Hoffentlich reißt ihm der Hochmut mal die Schädeldecke auseinander, daß er schweigt«, wetterte Lenz. (An Wiegandt 25.9.1935, DLA) Ohne Zweifel drückt sich darin eine Opposition gegen den Vater aus, der nach den Erinnerungen von Herbert Wiegandt »militärisch-grob« gewesen war und sich gleichzeitig »vielleicht als Künstler« fühlte, während ihm die literarischen Versuche des Sohnes »fremd« geblieben seien. (Gespräch 14.3.2002) Im Ersten Weltkrieg verwundet verkörperte er
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links 10 Hermann Lenz sen. als Oberstleutnant, um 1941 rechts 11 Hermann Lenz, um 1938
das Ethos des Kaiserreichs, das die Ideale der Humanität als »Gefühlsduselei« abgewertet und von den Männern »eisernen Willen«, »Schneid« und »zackiges Verhalten« gefordert hatte. Die Erscheinung des Vaters (Abb. 10), der es unter Hitler zum Oberstleutnant brachte16, steht im Gegensatz zur laschen und weichen Haltung des Sohnes. (Abb. 11) Die Mutter Elise Krumm hatte ein Konservatorium und später das Schweizer Pensionat Monney besucht, wo Verhaltensformen wie Affektbeherrschung, Ordnungsdenken und Stil bei den Mahlzeiten eingeübt wurden. Die von der ›Neuen Rundschau‹ 1938 gedruckte Erzählung ›Das stille Haus‹ transferiert die Familie aus Stuttgart in das Wien der Jahrhundertwende und erhöht die Klavier spielende Mutter aus dem Einfamilienhaus zur Dame der guten Gesellschaft in einem ehemaligem Palais. Doch trotz der feinen Formen im Benehmen sei Elise Lenz aber »eher kalt« als »herzlich warm« gewesen, erzählte Herbert Wiegandt. (Gespräch 14.3.2002) Mit dilettantischen Kunstausübungen, Selbstbetrachtungen und Bibelverehrung17 schuf das Elternhaus die Möglichkeit zum Überleben, aber der ungehobelte Vater und vermutlich noch mehr die nicht durchschaute Abweisung der Mutter ließen im Sohn kein Selbstwertgefühl wachsen. Ein eindrucksvolles Zeugnis sind die Kritzeleien auf der Rückseite eines Briefumschlags vom 13. Juni 1939 (Abb. 13), die auf den in Blockschrift wieder-
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12 Rückseite eines Briefumschlags, 13. Juni 1939
gegebenen Satz zulaufen: »DER GROSSE NULL-LENZ WARTET AUF DEN KRIEG « – oben rechts ist eingekastelt zu lesen: »Wenn der Krieg kommt [,] bin ich endlich aufgehoben«, und darunter links: »hoffentlich packt mich dann gleich ein gut gezielter Schuß.«18 Hermann Lenz kam bei Kriegsausbruch zur 212. Infanterie Division, die August 1939 in München aufgestellt wurde. Nach Kämpfen in Frankreich war die Truppe einige Monate inaktiv, bis man sie im Februar 1941 am Kanal zum Küstenschutz einsetzte. Im November wurde die Division zur Heeresgruppe Nord transportiert, um bei Peterhof an der Belagerung von Leningrad teilzunehmen. Die deutsche Wehrmacht hatte den ausgebrannten Zarenplast zu einem Stützpunkt umgebaut, ließ in der Parkanlage Stacheldraht und Minen verlegen sowie Panzergräben ausheben. Auf einem Foto ist Hermann Lenz mit Pfeife und russischer Pelzmütze19 in einem der Gräben zu erkennen – ein Baum, der im Hintergrund schräg zwischen zwei anderen hängt, wurde vermutlich von Granaten getroffen. (Abb. 13) Am 7. Januar 1942 begann in dem teilweise bewaldeten und verschneiten Gelände eine Offensive der Roten Armee – Ende März konnte sich die Wehrmacht unter hohen Verlusten aus der Umklammerung befreien und ei-
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nen Gegenangriff starten.20 »Februar und März waren für mich böse Momente, denn ich wurde mitten in die Hölle unserer Zeit hineingeworfen. [...] Beim Angriff am 13. Februar 1942 vor Leningrad waren von den beteiligten zwei Zügen meiner Kompanie nur noch ein Feldwebel, ein Unteroffizier und ich übrig nach Abgang aller Toten, Verwundeten, Kranken«, heißt in einem Brief an seinen Freund Herbert Wiegandt. (5.11.1942, DLA) Anfang August 1942 versetzte man die Kompanie von Lenz in das Sumpfgebiet vom Wolchow, wo sie am Südufer des Ladogasees die Stellungen gegen die Roten Armee verstärken sollte. Der Fluß war aus strategischer Sicht von großer Bedeutung, denn vor seiner Mündung bildet er mit einer Breite 13 Im Park von Peterhof, 1941/42 von bis zu 600 Metern und seinen sumpfigen, unüberschaubaren Uferzonen eine ideale natürliche Verteidigungszone. »Wir müssen Knüppeldämme bauen, jeden Tag muß ich 4 Stunden lang schwere Balken schleppen«, meldete Lenz nach München. »Dazu kommt noch das Postenstehen, nachts und tagsüber 9 Stunden. Da bleibt wenig Zeit übrig, zum Schlafen nicht und nicht zum Schreiben.« (An Hanne Trautwein 18.8.1942) Die 2. Stoßarmee unter General Wlassow war am Wolchow weiter als die anderen vorgedrungen, doch Reserven der Wehrmacht schnitten die Truppen ab, so daß sie nicht mehr versorgt werden konnten. Nachdem die Soldaten ihre Pferde, später Baumrinde und Gegenstände aus Leder verzehrt hatten und viele verhungert waren, wurden die Überlebenden im Sommer 1942 von den Deutschen getötet. Trotz der Belastungen gelang es Hermann Lenz, im Unterstand »bei einem Kerzenflämmchen, das auf geschmolzenem Stearin in einem Näpfchen aus Pappe schwamm«, seinem Handwerk treu zu bleiben. (L+S, S. 32) Mitten auf die erste Seite des Notizbuchs, das in grün und braun gefleckte Zeltleinwand eingebunden war, hatte er ein Zeitungsfoto von Thomas Mann geklebt, rechts Namen und Feldpostnummer sowie links die Heimatadresse eingetragen. (Abb. 14) Unter die Prosastücke notierte Lenz Zeit und Ort, um am Ende das ganze Buch mit zwei Inhaltsverzeichnissen samt Seitenzählung auszustatten.
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14 Vorsatzblatt des Notizbuches, 1941
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rechts 15 Julius Krumm, 1905 links 16 Familie Krumm, 1904
Anfang September 1942 entstand am Wolchow die Skizze ›Der Großvater‹, die am 23. Januar 1943 durch Vermittlung Kasimir Edschmids in der ›Kölnischen Zeitung‹ unter der Überschrift ›Ein schwäbischer Lebenslauf‹ erschien. Sie ist eine Vorstudie zu dem Roman ›Verlassene Zimmer‹ und erzählt von Julius Krumm, der als Feinmechaniker in den USA gearbeitet und eine kleine Weinwirtschaft in Gablenberg bei Stuttgart betrieben hatte; die kleine Geschichte führt in die »sichere wohlanständige Welt« vor der »Zerstörung«, wie es ausdrücklich am Ende heißt. Julius Krumm wurde 1848 geboren und starb schon 1910. Hermann Lenz kannte den Vater seiner Mutter Elise nur aus Erzählungen, von Erinnerungsstücken und vor allem von Fotos. Die rechte Aufnahme dokumentiert den bürgerlichen Habitus – Krumm trägt einen Hut, keine Uniformmütze und hat an seiner Seite statt einer Waffe einen Spazierstock. (Abb. 15) Auf der Fotografie erscheint zwischen den dunkel gekleideten Großeltern in Weiß Elise Krumm, die der Autor in dem Bericht ebenfalls auftreten ließ, doch das Augenmerk gehört zunächst ganz dem Großvater. (Abb. 16) Obwohl Lenz an der Front das 1904 aufgenommene Photo nicht dabei hatte, konnte er es aus seinem Gedächtnis beinahe detailgetreu beschreiben:
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»Eine Photographie zeigt ihn auf einem Stühlchen sitzend, wie er, den Anflug eines leichten Schmunzelns im Gesicht, herausschaut. Seine Art zu sitzen ist behaglich, obwohl er dick ist, von einer gewissen Zierlichkeit. Die Füße, in schwarzen Stiefeletten, sind leicht aufgesetzt, und die eine Hand mit der kleinen Warze ruht auf der gedrechselten Stuhllehne. Er sieht ein wenig genießerisch aus. Die »Mücke«, dies winzige Bartrestchen am Kinn, ist sorgfältig ausrasiert, die kleine Stupsnase paßt zu den Äuglein, die belustigt dreinschauen, als fänden sie das Komische im Leben immer leicht heraus.[…] In seinem Aussehen und in seiner Haltung erkennt man etwas Städtisches. Das ist einer von den Herren, denkt man, die vormittags in den Anlagen der Stadt spazierengehen, einen schwarzen Stock mit einer Silberkrücke bei sich haben, aus kleinen Weinstuben der Altstadt kommen – dem ›Engele-Buck‹ oder der ›Warmen Wand‹ – und im Adressbuch als ›Privatiers‹ stehen.« (SLB, S. 5-6) Mit dem ›Schwäbischen Lebenslauf‹ versuchte Lenz, durch Objektnähe die Künstlichkeit zu überwinden, die sich aus der Isolierung von den ins Exil gegangenen Schriftstellern ergab. Im ›Reich‹ hatte Wilhelm Lehmann eine »Dosis ›Sachlichkeit‹« gefordert (Nr. 46/ 14.11.1943)21 ähnlich wie Benn, dem daran gelegen war, »neue Themen, neue Wirklichkeiten in die fade deutsche Lyrik zu bringen, fort von Stimmung u. Sentiments zu Gegenständen u diese mit seinem eigenen Bilde füllen.«22 Die Geschichte über Julius Krumm erhält in der ›Kölnischen Zeitung‹ allein für den Jahrgang 1943 Entsprechungen von Autoren der Kleinen Form wie u. a. Friedo Lampe, Horst Lange oder Sigismund von Radecki. Gemeinsam ist dem ›Schwäbischen Lebenslauf‹ und dem Roman ›Verlassene Zimmer‹ die Bescheidenheit. Immer wieder wird das Große durch Alltägliches und die nur angedeutete Mundart entheroisiert. Das Notizbuch enthält eine für den Druck gestrichene Passage, in der Krumm und Christian Wagner durch das Herzensfenster eines Aborthäuschens auf die Kupferdächer des Neuen Schlosses und den Kirchturm schauen; Julius hatte sogar ein Gedicht darauf gemacht, »das er dann vorlas, wenn er die kleine Elise rot werden lassen wollte«, heißt es in der Handschrift, die nicht ohne Ironie das Nebeneinander des »behaglich dicken« und »schemenhaft verdorrten Mann[es]« hervorhebt, »beide im Duft des warmen Holzes« und dem »Geschmack nach Chlorkalk«. Kunst und einfaches Leben schließen einander nicht aus. Daß der Weinwirt und der Bauerndichter beim Trinken aus »kleinen dicken Gläsern« in der Anthologie ›Immortellen‹ lesen, stellt außerdem eine versteckte Hommage an Heinrich Heine dar. Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Textes war vermutlich eine Grundhaltung, die Lenz später in den ›Verlassenen Zimmern‹ programmatisch formulieren sollte: »Es kam darauf an, unbeirrt zu bleiben, den Leuten immer dasselbe Gesicht zu zeigen, wegzuhören und allmählich sogar wegzudenken oder wegzubleiben, auch wenn
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17 Urkunde, Kriegsweihnachten 1942
man unter ihnen war.« (VZ, S. 49) Vieles spricht dafür, daß der Autor die Überlebensstrategie im Elternhaus an der Front weiter ausgebildet hatte. »Vom Krieg schrieb ich nichts auf«, bekannte er später (L+S, S. 32), doch daß die Flucht in die Fiktion nicht die Regel gewesen war, zeigt das Prosastück ›Frontkaserne‹: »Ich ging durch einen Graben, es war noch kalt und die Bretter unter meinen Stiefeln schimmerten. Der Oberleutnant erwartete uns, dann sagte er, wir brauchen nichts zu denken bei der Sache; er sprach ganz leis und hatte das grüne Moskitonetz vor dem Gesicht. Man sah auf ’s Meer hinaus, das golden schimmerte und mir wars heiß. [...] Langsam ging’s über Steintrümmer und dann begann das Kriechen. Ich hatte, der Moskitos wegen, Stoff handschuhe an und spürte das Weiche der Asche unter den Fingern, die wie ein dicker Teppich den Boden bedeckten. Rostiges Blech lag herum, Schweiß brach mir aus, das blaue Halbdunkel zwischen kahlen Bäumen und der süße Leichengeruch überall machten alles zu einer Vulkanlandschaft.« (18.6.1942)
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Die Passage über einen Spähtrupp wirkt im Vergleich mit einer ähnlichen S telle aus dem 1975 veröffentlichten Roman ›Neue Zeit‹ (NZ, S. 165) atmosphärisch wesentlich dichter. Wie im Buch öffnen sich auch die Aufzeichnungen aus dem Krieg der russischen Landschaft, um mit ihren gesehenen und gehörten Einzelheiten das Morden erträglich zu machen. »Die Baumwipfel drüben haben sich dunstig verfüllt und an den morschen Stümpfen ist es schwarz von Fliegen. [...] Die Maus kommt, schnuppert, krabbelt ins Dach unter die Dachpappe, dort kratzt sie, was sich wie ein Trommeln anhört«, beobachtete Lenz in den ›Sumpfbildern‹. Vermutlich hatte er einen Brief von Hanne erhalten, der von »Himbeeren [...] in einem Tal« erzählt sowie von einem Bach voll tiefer »Gumpen, wo die Forellen hin und her schießen, mit kriechenden Brombeerranken und ganzen Büschen von blauen Glockenblumen an den Ufern.« (3.8.1942) Wie eine Antwort darauf liest sich eine weitere Passage aus dem Ende August geschriebenen Prosastück: »Überall siehst du Weidenröschen, aber die haben jetzt schon weiße Samenwolle und viele Himbeeren werden auch schon überreif und fallen aus. Hast du noch ein bißchen Schokolade und eine Himbeere? Dann iß beides und einen Augenblick lang spürst du ein unbändiges freies Gefühl und denkst an alle Beeren im Sumpf voller Zärtlichkeit.« (29.-31.8.1942) »Zur Erinnerung an den Rußlandeinsatz« bekam der Obergefeite Hermann Lenz »Kriegsweihnachten 1942« eine Urkunde mit einer Graphik überreicht, die durch das Schriftband »1941 von Peterhof zum Wolchow 1942« beide Frontabschnitte voneinander trennt. (Abb. 17) Der obere Teil mit der angedeuteten Küste stellt den Truppeneinsatz beim Zarenschloß dar. Man erkennt links ein Soldatengrab mit Stahlhelm auf dem Kreuz, einen Verwundeten auf der Bahre sowie zwei Soldaten im Kampfeinsatz. Eine Rotkreuz-Fahne markiert die ehemalige großfürstliche Residenz »Korkule« als Lazarett, während »Snomenka« am Südufer der Kronstädter Bucht einen Vorposten vor Leningrad bezeichnet. In der Mitte erkennt man die Peter- und Paul-Kathedrale und das noch heute in Trümmern liegende Englische Schloß. Beide Bauwerke gehören zur Anlage von Schloß Peterhof. In der unteren Hälfte wechseln sich Arbeits- und Ruheszenen am Wolchow ab. Überm Blockhaus unter Sternen und zwischen Tannen scheinen zwei Personen in Zivil den zukünftigen Frieden als Weihnachtsbotschaft vorwegzunehmen, während »Erika-Schneise« und »Kreipe-Schneise« gerodete Schußfelder bezeichnen. Gegenüber dem Bild ist das Gedicht ›Denk, daran Kamerad!‹ abgedruckt, das mit der Strophe einsetzt: Viel deutsche Soldaten kämpften im Osten und stritten und stürmten mit Siegesgeschrei. Sie standen in eisigen Nächten auf Posten, und du und ich –, wir waren dabei.
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Wie ein Gegenentwurf zu solch einer Propaganda-Lyrik wirkt das Gedicht ›Russischer Herbst‹, das am 26.September 1942 entstand und das Georg von der Vring mit vier anderen Arbeiten von Hermann Lenz in seine Anthologie ›Die russische Front‹ aufnahm: Prall hängen überall die Preißelbeeren. Am Baumstamm spür ich eine rauhe Hand. Die Mäuse sich umsonst der Schlangen wehren. Ihr Blut ist naß. Das Laub ist rot entbrannt. Die Szenerie hat durch die »rauhe Hand« und den Tod der Mäuse etwa Bedrohliches; ihr nasses Blut erhält im »rot entbrannten« Laub sowohl Kontrast wie Echo. Das menschliche Leid findet in der Natur eine Entsprechung, wobei die Schlangen das Böse verkörpern. Im Gedicht heißt es weiter: Es wehn der Erde offne rote Wunden. Der Tag geht grau vorbei und wird nicht hell. Tautränen habe ich im Gras gefunden, Und Schlehdorn ritzt des weichen Schafes Fell. Die dunkle Wolke kommt und geht vorüber. Der Herbst kocht heuer einen seltnen Wein: Von lauter Asche wird er dunkler, trüber Und von der Totenerde bitter sein.23 Trauer und Leid werden unsentimental durch »Tautränen« und »Schlehdorn« angedeutet, während das Gleichmaß des Vergehens von Tag und Wolke Trost gibt. Wie später im Roman (NZ, S. 170 f.) hatte Lenz in der ›Frontkaserne‹ erzählt, wie von der Schneeschmelze am Stacheldraht eine Russin in Filzstiefeln hervorgeschwemmt wurde, »ganz schokoladenbraun im Gesicht«, sie »bleckte ihre weißen Zähne und hatte in der Stirn ein Loch. Ein Kleiderbündel lag bei ihr, darin sah man eine Waschschüssel und eine Flasche sich abzeichnen. Ihr Hinterteil war entblößt und als sie dann zusammenschmolz, saßen auf dem klebrigen Stoff des Höschens viele Fliegen, und Stare pickten nach den Würmern.« (18.6.1942) Das sind die »offne[n] rote[n] Wunden«, die das Gedicht aus dem Kirchenlied zur Hilfe nimmt. Während des Kriechens beim Spähtrupp hatte der Soldat das »Weiche der Asche unter den Fingern« gespürt; zusammen mit der »Totenerde« entsteht im ›Russischen Herbst‹ ein anderer Wein als der zum Abendmahl, »dunkler, trüber« und vom Bösen »bitter« gemacht. Doch im Gegensatz dazu hängen »Prall […] überall die Preißelbeeren«, die erst gekocht süß schmecken und auf der »Totenerde« gereift das Überlebensprinzip der Natur dokumentieren.
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links 18 und rechts 19 Hermann Lenz, März 1998. Photogaphien von Maria Behrle
Ein von der Ärztin Maria Behrle hergestelltes Farbfoto zeigt Hermann Lenz sechsundfünfzig Jahre später im März 1998 abgemagert, aber mit wachen Augen, die unverändert neugierig auf die Welt wie an der Front sehend dem drohenden Tod begegneten. (Abb. 18) Der Schriftsteller litt seit zehn Jahren an MitralStenose, einem Herzklappenfehler, der wahrscheinlich seit Kriegsende als Folge eines Gelenkrheumatismus, der in Amerika erfolgreich behandelt wurde, in ihm steckte. Im Antrag der Ärztin an die Krankenkasse für einen Treppenlift wird »eine schwere Herzinsuffizienz mit Atemnot in Ruhe« diagnostiziert und »eine Sauerstoff-Langzeittherapie« erwähnt.24 Nach dem letzten Roman ›Freunde‹, der 1997 herauskam, beschränkte er sich auf das Tagebuch. Diese von ihm als ›Altersnotizen‹ betitelten Aufzeichnungen waren für die Veröffentlichung gedacht und lassen den Leser an der Umgebung seines Hauses, Erinnerungen und Träumen sowie dem körperlichen Verfall Anteil nehmen. Am 19. September 1997 notierte Hermann Lenz (Abb. 20-21): »Wieder zu grünen Gefilden als Labsal für Schreckensgedanken. / Wie alle Bäume sich zeigen im schwarzen Licht, wenn die Blätter sich regen als glitzernder Schmuck oder als ob sie im Wind frören. Dabei reden sie, verraten etwas, das den Menschen nie klar wird oder streuen Bündel gitarrenähnlicher Klänge aus. Wie
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20-21 Tagebuch, 16. September 1997
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Höhleneingänge öffnen sich dunkle Mulden im Astgestrüpp. In diesen Höhlungen bergen sich Vögel, die Nester nah den Wipfel bauen, wie der Pirol, der dem Kirschbaum nah sein will, drunten im Garten. […] Wie Steinwürfe fliegen kleine Vögel, die in den Gärten nisten und herbei kommen, wenn ihr Tisch vor dem Terrassenfenster gedeckt ist, wo die gebückte Weißhaarige wohnt. Im Fliederbusch und auf der Dachrinne wartet eine Amsel. Sie läßt sich fallen, und dann spricht sie und verscheucht die Kleinen, rückt aber respektvoll zur Seite, wenn eine Taube keine Nähe duldet.« (A, S. 6) Lenz gab Beobachtungen aus der Dachstube, denn das Geschehen ereignet sich »drunten im Garten« – eine Haltung, die schon in den Jugendaufzeichnungen vorkommt, doch jetzt löste er die Töne der Vögel und das Blattwerk aus der Oberflächenwiedergabe und erzeugte durch Wendungen wie »schwarzes Licht«, »Bündel gitarrenähnlicher Klänge« oder »glitzernder Schmuck« eine von den Menschen unabhängig existierende Welt. Mulden, in denen Vögel ihre Nester bauen, sind »Höhleneingänge«, und der Flug kleiner Vögel hat den Charakter von »Steinwürfen«. Daß es in den Aufzeichnungen aus den letzten Lebensmonaten scheint, als ob die Blätter »im Wind frören«, hängt mit dem Empfinden des Autors zusammen, der nicht müde wurde, auf seiner kurzen Strecke um das Haus mit den Blättern zu reden und sie zu streicheln. »Jede psychische Veränderung soll sichtbar gemacht werden«, hatte Lenz einmal bekannt, »sie bedingt eine veränderte Art des Sehens und der Darstellung.« (An Schäfer 29.9.1969) Als weiteres »Labsal« rückten Erinnerungen wie die an eine Wanderung im Bayerischen Wald ins Gedächtnis, sie überwanden das mühselige »Stehenbleiben. Aufatmen« (A, S. 15) und gaben im Akt des Zurückdenkens »verlorene Kräfte« zurück: »Im Gehen quietschte es manchmal unter meinen Schuhen[,] die naß wurden. Ich zog sie aus, band sie zusammen und hängte sie über die Schulter. Schon stand ich vor glänzendem Wasser, das dem Grase und dem Moos wohltat, denn hier hatten sie genug zu trinken.« (A, S. 28 f.) Zuweilen fielen Hermann Lenz beim Schreiben die Augen zu wie auf dem Foto vom Kaffeetisch (Abb. 19) – ab und zu findet man getilgte Querstriche, die auf das Papier kamen, weil der Schreiber »eingenickt« war, was eine Bemerkung am 28. November 1997 bei anderen »Krakelstriche[n]« bezeugt. (Abb. 22) Das immer wieder wohltuend wahrgenommene »Licht«, das »breite Bahnen über die Straße zieht« (A, S. 13) oder schräg »durch entlaubte Bäume« fällt und »die Fenster hoher Etagenhäuser ineinanderschillern« läßt (A, S. 22), suggeriert einen Erlösungsraum für das Körperliche, das bis in intime Einzelheiten dargestellt ist. Die Atemnot beim Aufstehen und beim Glattziehen der »wasserdichten Einlage« (A, S. 20), das Waschen und Ankleiden ohne Schläuche des Ozongerätes in den Nasenlöchern (3.2.1998) erfahren ebenso Aufnahme wie die »Mühe, den Kot loszuwerden« (28.12.1997) oder das Hinlegen »auf die rechte
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22 Tagebuch, 24. April 1998
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23 Hanne und Hermann Lenz, April 1998. Photographie von Stefan Moses
Seite« in der Hoffnung, »ein oder zwei Stunden« Schlaf zu finden. (A, S. 16) Einmal löste ein Tagtraum die Atemnot auf und stellte »kleine Lichtflecken« vor die zugemachten Augen, »ein Kornblumenblau, und das Rot einer Buschnelke«, erinnerte sich der Sterbebereite nach dem Aufwachen, »alle von kleinen Blumen und Blättern, an einem Waldrand, als wären sie leicht wegzuwischen«. (A, S. 26) Die Notizen sparen die dunklen Seiten nicht aus. In Alpträumen zeigt sich der Vater als »übergroßer Zeichenlehrer« oder erteilt in einem »gestreiften Anzug [...] respektgebietend« Anweisungen (A, S. 24) – vermutlich handelt es sich bei solchen Bedrückungen um ein wiederkehrendes Motiv, denn im letzten autobiographischen Roman ist ein Traum erwähnt, in dem der »Vater [...] mit seinem Militärkoppel« eine Züchtigung vornimmt. (F, S. 101) Einem realen Alptraum gleicht die Schilderung, wie der Kranke, »in das Gärtchen hinterm Haus« eingesperrt, vergeblich nach Hilfe ruft, sich aus Angst vor einer Erkältung, die wegen »fehlende[r] Abwehrkräfte« eine Lungenentzündung hervorrufen könnte, in eine »Decke aus dem Krieg« einwickelt, und kurz danach »wieder das Viereck des Rasenstreifens« ausgeht. »Nun stand Hanne da. Sie war keine Vision meiner aufgescheuchten Seele, sondern ein Stück Wirklichkeit. Welch großes Glück!« (A, S. 25 f.) Der letzte Traum Ende April 1998 erzählt von der Angst um die Frau, die im Gebirge al-
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lein einen kürzeren, aber schwierigeren Weg gewählt hat und das Schicksal des Kranken zu spiegeln scheint: »Es gelangen ihr einige Schritte, dann mußte sie stehen bleiben«. Doch der Anruf »›Hanne!‹« und die Versicherung »›Ich komme dir entgegen!‹« haben eine Beruhigung zur Folge. (Abb.22) Am 13. Januar bekannte Lenz: »Glücklich aber bin ich nicht gewesen, wie’s mir vorkommt, wenn ich mich erinnere. Peter Handke fragte mich, als wir uns kennenlernten: »Sind sie einsam?‹« Doch nach wenigen Tagen sollte er eine ganz andere Lebensbilanz ziehen: »Mein größtes Glück: daß ich mit Hanne leben durfte.« (3.2.1998) Vermutlich dachte Hermann Lenz jetzt daran, daß diese Verbindung seine dichterische Tätigkeit am Leben hielt, nicht nur durch materielle Fürsorge, sondern auch durch die Kontinuität des von den Eltern geschaffenen seelischen Klimas; die Ehefrau hatte dabei ihre eigene Begabung unterdrückt,25 sieht man von einem 1946 veröffentlichten Erzählungsband unter dem Namen ihrer jüdischen Großmutter ab, als ihr Mann in Gefangenschaft gewesen war.26 Jeden Tag betrieb Lenz sein Schreibhandwerk, ohne sich mit seiner Frau am Abend darüber auszutauschen, die lediglich als Korrekturleserin des schon ausgedruckten Buches am Produktionsprozeß beteiligt wurde.27 »Ich hatte keine einzige Freundin in Stuttgart«, beklagte sich Hanne Lenz nach dem Tod ihres Ehemanns bei Patricia Reimann in einem Radio-Interview. »Auch in den fast dreißig Jahren, die ich dort lebte, habe ich keine gefunden.«28 Das Erzählwerk deutet Spannungen der »beiden Frauen« im Haus an (SA, S. 8), die von Taschenkalendern der Mutter bestätigt werden.29 Eine Bemerkung der Journalistin, Hanne sähe auf den Fotos in dem AlbumBuch oft so aus, als fühlte sie sich als Ehefrau »eigentlich nicht ins Bild gehörig«, wurde ausdrücklich bejaht, doch habe in ihr immer der Wunsch geherrscht, »das zu verdecken«.30 Auch Hermann Lenz scheute sich, Konflikte auszutragen, so daß es zu einer doppelten Verdeckung kam. »Ich bin nun einmal ein Neurotiker, bemühe mich aber immer normal zu erscheinen«, räumte er Herbert Wiegandt gegenüber ein. »Weil man sich doch angleichen muß, um seine Umgebung nicht unglücklich zu machen.« (8.3.1954, DLA) Hermann und Hanne Lenz verband eine in den Familien erlebte Ausgrenzung. »[…] sonst fühl ich mich genau so fremd in dieser Zeit wie Du«, schrieb Hanne Trautwein an die Front. »Wenn ich zurückdenk, so hab’ ich das immer schon gehabt, schon als Kind, ich hab’ mich immer irgendwie ›ausgestoßen‹ gefühlt und anders als die anderen Leute.« (14.4.1944) Am 2. April 1998 nahm Stefan Moses das Paar im Gärtchen vor Efeu auf, der die Rückwand des Hauses überwuchert – um das Heimweh von Hermann Lenz nach der Birkenwaldstraße zu mildern, hatte Hanne einen Ableger aus Stuttgart mitgenommen. Beide scheinen in der Zeitschrift ›Merkur‹ zu lesen, die sie jeden Monat vom Klett Verlag geschickt bekamen. (Abb. 23) Die Simulation der Lektüre bringt ungewollt eine andere zum Ausdruck. Stefan Hradil, der von Mitte der 1970er bis Ende der 1980er Jahre in der Karl Theodor Straße wohnte, erinnerte
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sich, wie er den Autor im Garten spazieren sah, ohne mit ihm zu sprechen, aber die Kinder hätten sich »immer wieder mit Hermann Lenz über den Gartenzaun hinweg angeregt unterhalten. Ganz offensichtlich mochte er Kinder. Seine Frau haben wir nie im Garten gesehen. Wir, auch die Kinder, wußten nicht einmal, daß es eine Ehefrau gab.« (Mitteilung vom 3.6.2015) Ende August 1929 hatte Lenz eine erste ›Lebensbeschreibung‹ zu Papier gebracht; auf dem versiegelten Umschlag ist in der Handschrift des Vaters zu lesen: »Dieses Kuvert enthält die Lebensbeschreibung des Hermann Lenz, geschrieben in seinem 16. Jahr! / Er will [,] daß das Kuvert erst nach 3 Jahren von dem 29. August 1929 gerechnet geöffnet werden soll!! / Hermann Lenz / dies soll geschehen und nicht anders.« Doch der Verfasser hatte es nicht so lange ausgehalten und den Umschlag schon zwei Jahre später aufgemacht; noch einmal wiedergelesen wurde der Text, wie auf dem Kuvert verzeichnet, im November 1946.31 Es ist hier nicht der Ort, auf die Nähe von Hermann Lenz zum Pietismus mit der Verklärung von Arbeit, Sparsamkeit, Ordnungsliebe und der ständigen Neigung zur Rechtfertigung und Selbstbeobachtung einzugehen. Ein Hinweis auf die ›Eigene Lebens-Beschreibung‹ von Adam Bernd (1738) soll ausreichen, die sich durch Detailtreue auszeichnet und Protokolle der Krankheitszustände von Körper und Seele gibt. Bernds unablässige Selbstschau wurde durch die mangelnde Zuwendung der Eltern hervorgerufen. Ähnliches ist bei Hermann Lenz zu vermuten, der am 13. Februar 1936 seinem Tagebuch anvertraut hatte: »Ich hab eben auch gar keine Liebe. Ich habe das gar nie erlebt. [...] So geht das Leben weiter und man tut nichts. Ich möchte immerfort arbeiten können. Das ist die Todesangst.« Offensichtlich wurden dadurch wie bei Adam Bernd »Erinnerungszwänge« ausgelöst, die darauf drängten, aufgeschrieben zu werden.32 So heißt es am 12. April 1998: »Zunächst fahren Winde aus seinem Leib[…]. Sie gehören dazu und wecken eine Kindheitserinnerung«. Durch die Belästigung, die wegen des »verminderten Geruchssinns […] kaum noch als störend« empfunden wurde, tauchte die »Großmutter im schwarzen Kleid mit durchsichtigen Spitzenkrägelchen« aus dem Gedächtnis auf wie sie das Foto von 1904 überliefert hat. (Abb. 16) Zwangshandlungen sind durch das Bedürfnis geprägt, immer das Gleiche, Bekannte und Vertraute herzustellen und wiederfinden zu wollen. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn Lenz das Biedermeier-Schreibzeug (15.9.1997), die »Kommode aus dem Besitz des Julius Krumm« (28.12.1997) oder das Bett des Großvaters »mit Matratzen von heute und grüner Steppdecke« (3.2.1998) als Glücksumstände lobte, auch wenn die Möbel im Erzählwerk dutzende Mal vorher beschrieben wurden. Freud kennzeichnete ein bestimmtes »Bettzeremoniell«, das von einer »besonderen Gewissenhaftigkeit« und »Angst bei der Unterlassung« gekennzeichnet wird, als »heilige Handlung«33, die von einem Zwang, Dinge anzufassen, begleitet werden kann.
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24-32 Von Hermann Lenz datierte Paßbilder, oben links vom 26. September 1958
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33 Ausschnitt aus der ›Süddeutschen Zeitung‹, 10. Juli 1998
In den ›Altersnotizen‹ findet sich ein solches Ritual im Dank an das Treppengeländer oder die Bekleidung bis zu der von »Hanne gestrickte[n] Wattejacke«, dem Nachtgruß in der Dachstube an »jede Ecke – es sind fünf« und dem vierfachen Entlangstreichen »mit den Fingerspitzen [...] unterm Steckkontakt«. (A, S.16) An anderer Stelle ist von »meinen ›Dämonen‹« die Rede, die Lenz »günstig« stimmen müsse, außerdem erwähnte er einen »Zählzwang«, der »lästig« wird, weil er dazu führt, »jeden Schritt auf dem Trottoir zu zählen«. (28.11.1997) Zu den Ritualen gehörte auch das Bedürfnis, Tag für Tag zu schreiben, um die innere Unruhe unter Kontrolle zu halten, was aber Kontrollverluste bei der künstlerischen Produktion zur Folge hatte. Der zwanghafte Mensch hat nach Fritz Riemann vermutlich in der »Kindheit zu früh die Erfahrung gemacht, daß in der Welt vieles [...] verboten war, was er gern getan hätte.«34 Wiederkehrende Handlungen vermittelten dem Autor Sicherheit und schienen Ängste zu dämpfen, von denen er seit der Schulzeit überflutet wurde. »Manchmal, da kommt eine starke innere Aufregung über mich. Es ist eine große Furcht, und ich weiß nicht warum. […] Großer Gott, gieb mir Kraft!«, hatte er am 2. September 1930 notiert. Dem Tage-
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buch von 1972 vertraute Lenz mehr als vierzig Jahre später an: »Ich schreibe, um mir ein Bild zu machen und damit ich mich nicht umbringe.«35 Über Jahrzehnte ließ der Schriftsteller Paßfotos von sich herstellen, die er mit Daten versah und immer wieder zur Selbstüberprüfung in die Hand nahm. (Abb. 24-32) Parallel zur Erforschung des eigenen Gesichts trat eine des Gewissens. Lenz teilte nach dem 60. Geburtstag Otto Heuschele mit, daß »sich nichts verändert oder gar gebessert« habe, »weil ich noch immer so beunruhigt bin wie früher, [...] denn schmerzhaft wird alles für lebenslänglich bleiben. [...] Ich pinsele halt den Lack des guten Benehmens darüber«. (2.3.1973, DLA) Am Ende des letzten Tagebuchs hatte er eine herausgelöste Seite aus den Notizen der sechziger Jahren deponiert, auf der Beobachtungen über die eigene Handschrift abgeschrieben sind, die Gustav Warburg, ein Vetter von Hanne, ihr in London im Januar 1949 mit auf den Weg nach Stuttgart gegeben hatte. Neben »sehr gute[r] Beobachtungsgabe« und »große[m] Formniveau« wird eine »Vielschichtigkeit der Persönlichkeit [...] bis zur Gefahr einer Spaltung des Ich« festgestellt, hinzu kämen »Kontaktschwierigkeit« und die »Neigung zu ständiger Depression, die aber immer wieder unterdrückt und bestraft wird«; der Schreiber sei »konziliant«, aber sage »zu sehr, die anderen Menschen interessieren ihn im Grunde nicht.« Das am 25. August 1965 noch einmal abgeschriebene Zitat enthält den Zusatz: »Ob das heute noch gilt? Oh gewiß und: leider... Aber ich muß mich mit mir selbst abfinden.« Vieles spricht dafür, daß Lenz den Befund von Gustav Warburg als eine Art Sündenbekenntnis und Beichte auffaßte und der Nachwelt übermitteln wollte, auch wenn er sein »gespaltenes Wesen« akzeptierte (An Schöffler 27.10.1958, DLA), weil der Mensch ohne »Schizophrenie […] nicht existieren kann.« (An Schäfer 19.12.1981). Zwei Monate nach dem Tod veröffentlichte die ›Süddeutsche Zeitung‹ ein Foto von Stefan Moses (Abb. 33), das am selben Apriltag wie das im Gärtchen mit Hanne aufgenommen wurde (Abb. 23) – das Bild ist zwar Teil einer Serie, in die auch andere Schriftsteller einbezogen waren, doch es bringt das Wesen von Hermann Lenz an der Schwelle des Todes im Biedermeierspiegel geradezu bestürzend zum Ausdruck. Als wollte er die Aufnahme kommentieren, heißt es am 12. April 1998: »In meinem Gesicht zeigen sich jetzt die Falten, die ich mir in 85 Jahren ehrlich erworben habe. Früher waren sie im Fett meiner kräftigen Wangen verborgen, nun aber, als einer, der um 18 Kilo abmagern mußte, bin ich mit 44 Kilo vom Leben schwer gezeichnet, und sehe im Spiegel einen überlegen Lächelnden, der so schaut, als wüßte er alles; dabei sieht er nicht mehr als früher.« (A, S. 27) Hermann Lenz gestand sein Nicht-Wissen ein und starb einen Monat später am 12. Mai 1998. Das »doppelte Gesicht« deutet eine Spaltung in zwei Personen an, und es scheint, daß sie in den autobiographischen Romanen durch Eugen Rapp heilend ausagiert wurde. Am Ende der bürgerlichen Kultur zeigt sich noch einmal eindrucksvoll, wie die Enge samt Affekt- und Triebbeherrschung
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34 Grabstein, Alter Nordfriedhof München. Photographie von Ulrich Keicher, 1999
Voraussetzung gewesen war, das verbotene Begehren in der Poesie auszukosten. Dadurch bildete sich eine neue Empfindungsfähigkeit heraus, die Vergangenheit und die Natur als Wunder zu erfahren. Die um 1750 im Widerspruch zur Leistungsethik einsetzende Moderne36 hatte sich nach der »Stunde Null« bei einigen Künstlern bewahrt, wurde aber in ihrer Entfaltung nicht nur von außen gestört, denn die Kommunikationsverluste durch Selbstisolierung bestärkten wie bei Arno Schmidt oder Paul Celan, mit dem Lenz befreundet gewesen war, das unkontrollierte Schreiben.37 So sehr die drei Schriftsteller die Moderne fortzusetzen versuchten, waren sie doch auch schon Teil der Marktgesellschaft. (Vgl.
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Hermann Lenz wollte es »mit drei Erinnerungs- oder AutobiographieRomanen genug sein lassen« (An Schäfer 16.5.1978), ließ sich aber von Siegfried Unseld nach ›Verlassene Zimmer‹, ›Andere Tage‹ und ›Neue Zeit‹ zur Fortschreibung des Projekts verleiten – die Quantität führte zu Qualitätsabsenkungen, so daß die 1978 bis 1997 veröffentlichten Rapp-Romane ›Tagebuch vom Überleben und Leben‹, ›Ein Fremdling‹, ›Der Wanderer‹, ›Seltsamer Abschied‹, ›Herbstlicht‹ und ›Freunde‹ bei eindrucksvollen Naturpassagen über weite Strecken ins Kokette und Geschwätzige ausufern. Wie schon gezeigt schließt das Tagebuch mit einer nur zum Teil ehrlichen Bilanz: »In meinen autobiographischen Büchern habe ich die innere Sphäre neben der äußeren dargestellt.« (Vgl. Abb. 2) Lenz konnte zwar die »äußere Sphäre« mit allen Einzelheiten fotografisch getreu speichern und durch langes Üben und Suchen immer lebensnäher gestalten, doch das schon in seiner Büchnerpreisrede genannte Vorhaben, »die Empfindungen der andern zu ergründen«38, mußte an der von ihm beklagten »ewige[n] Selbstbespiegelung« scheitern.39 Dennoch hinterließ er einige »wertbeständige« Arbeiten 40, obwohl der Schriftsteller in einem Brief an Paul Celan schon 1958 hellsichtig erklärte, daß die »Bücher zur Ware geworden sind wie gewisse Plastik-Einkaufsbeutel, die man nach einigen Tagen wegwirft.«41 Als ich ihm einmal eine Ansichtskarte mit der Astronomischen Uhr aus dem Dom von Münster schickte, antwortete er: »So etwas möchte ich mit Wörtern machen, dann überdauert es mich.« (An S. 53f.)
Schäfer 26.5.1974)
Auch im letzten Lebensjahr benutzte Hermann Lenz neben dem Tagebuch ein Notizheft, in dem er am 25. April 1998 mit diesem Gedicht Abschied nahm: Meine Heimat inwärts Lemberg Besucht er zuweilen, Wenn der September kommt. Dort sind die Fachwerkhäuser Frisch herausgeputzt, Aber man denkt sich ein Grau auf ihnen Wie’s ist nach 5 Regenjahren [.] An warmen Tagen Fliehen die Goldkäfer Unter die Blätter Am Rande des Waldwegs. Iß reife Himbeeren, Wenn du noch welche findest. (A, S. 32)
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Wie »aufwärts« und »überwärts« stammt das Wort »inwärts« aus dem Umfeld des Pietismus, das eine Bewegung zur Einkehr ausdrückt, um Gott zu erfahren. Wenn Werther schreibt: »Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt«, ist das eine Umdeutung der mystisch-pietistischen Haltung zum Subjektivismus des 18. Jahrhunderts, der im Werk von Hermann Lenz zu einem späten Nachklang kommt.42 Lemberg liegt in der Pfalz, doch die genannten »Fachwerkhäuser / Frisch herausgeputzt« gibt es dort nicht. In Baden-Württemberg bezeichnet der Name zwei Berge in der Nähe von Ludwigsburg und am Westrand der Schwäbischen Alb – die Verse bauen eine erfundene Stadt auf. »Aber man denkt sich ein Grau auf ihnen / Wie’s ist nach 5 Regenjahren«, kann man über die Häuser lesen. Die Goldkäfer erinnern an die eingangs erörterte Mörike-Begegnung. Vermutlich handelt es sich diesmal aber um nicht gefährdete Goldglänzende Lauf käfer (Carabus auronitens), die sich räuberisch von kleinen Tieren wie zum Beispiel Schnecken, Würmern und Insekten ernähren; sie sind flugunfähig, bevorzugen Waldränder und gelten als kälteliebend.43 »An warmen Tagen / Fliehen die Goldkäfer / Unter die Blätter / Am Rande des Waldwegs«, bestätigen die Verse. Das unmittelbar bevorstehende Sterben löste vermutlich Blitzlicht-Erinnerungen an das Sumpfgebiet des Wolchow aus, wo Lenz Tag und Nacht dem Tod nahe gewesen war und notiert hatte: »Überall siehst du Weidenröschen, aber die haben jetzt schon weiße Samenwolle und viele Himbeeren werden auch schon überreif und fallen aus. Hast du noch ein bißchen Schokolade und eine Himbeere? Dann iß beides […]«. Das Gedicht endet mit einer ähnlichen Aufforderung, wobei beide Male der Verzehr mit Wendungen wie »Hast du noch« oder »Wenn du noch welche findest« in Frage gestellt wird. Die Himbeere galt schon im Altertum als Heilpflanze – der Gehalt an Vitamin C, Kalium und Fruchtsäure soll die Abwehrkräfte und die Wundheilung fördern, aber der Todkranke konnte die Früchte Ende April nur in seiner Vorstellung in den Mund nehmen. Für Lenz waren sie ein Medikament, das in großer Not heruntergeschluckt »einen Augenblick lang [...] ein unbändiges freies Gefühl« erzeugen kann. (29.-31.8.1942) Seit dem sechzehnten Lebensjahr diente ihm das Schreiben als Selbsttherapie – bis zum Schluß war der Wille vorhanden, sich durch das Abtauchen in die eigene oder fremde Vergangenheit und die Wahrnehmung der Natur aus dem Kerker des Ich zu befreien, denn wie die goldgrünen Käfer ist die Himbeere ohne Gut und Böse; sie steht für eine Welt, die tatsächlich vorhanden ist, und unsere Bewunderung gehört der enormen Energie, mit der Hermann Lenz zeitlebens gegen den eigenen Tod angeschrieben hatte.
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Eine Spurensuche Hanne Lenz öffnete die Tür und hielt eine Flasche Trollinger in der Hand, an der noch Cellophanpapier klebte; vermutlich hatte sie auf dem Heimweg vom Klett Verlag, wo sie das Lektorat für Psychoanalyse und Psychologie betreute, noch etwas für das Abendessen eingekauft. Hermann Lenz war nicht da. Ein paar Momente später stand er lächelnd vor mir, als hätte ihn eine Bühnenmaschinerie von seiner Dachkammer in das Wohnzimmer gestellt – ein eher kleiner, gedrungener Mann mit Augen hinter Brillengläsern, auf denen das Licht einer Lampe Reflexe warf. Als Hanne nach unten in die Küche ging, stockte das Gespräch. Um das Schweigen zu überbrücken, ahmte der Gastgeber mit kaum verstellter Stimme eine Szene auf dem Dachboden in Künzelsau nach, wo er und seine Schwester Telefonieren gespielt hatten.44 Schließlich legte er aus einer Pappschachtel Schwarz-Weiß-Fotos auf den Tisch. Eine Aufnahme ist besonders deutlich haften geblieben, vermutlich weil ich sie in dem Buch ›Bilder aus meinem Album‹ wiedererkannte. (Abb. 35) In einem Rhombus aus Licht sitzt der Dreijährige mit Spielzeugpferd und Peitsche, von der die Schnur auf dem Parkettboden einen Halbkreis bildet. Die rechte Gesichtshälfte scheint hell, die andere ist beinahe unkenntlich von Dunkelheit bedeckt. Hinter dem Kind steht ein Sessel mit Kugeln an den Lehnen und einer leeren Sitzfläche. Die Photographie liefert einen verwischten, aber doch plastischen Eindruck und wurde wohl im Wohnzimmer des Elternhauses in Künzelsau aufgenommen. Wenn sich Hermann Lenz über die Aufnahme beugte, blieb ein Auge aufgrund einer Muskelschwäche starr geöffnet. Die freudigen Worte, die der Abzug bei ihm geweckt hatte, fehlen in meinem Gedächtnis. Ich hatte Mitte März 1969 auf der Rückfahrt von Marbach in der Birkenwaldstraße Station gemacht. Wir sprachen über das Dritte Reich, denn durch meine Arbeit über Wilhelm Lehmann 35 Hermann Lenz, 1915
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lernte ich Zeitungen und Zeitschriften kennen, die ganz anders waren, als sie der Mythos der »Stunde Null« erwarten ließ. Lenz zog aus dem Bücherregal Kärtchen, auf die er Gedichte geklebt hatte. »Der Wald, worin ich einstens war, / liegt noch im gleichen Licht«, las er den Anfang von ›Der Beerenwald‹, das hatte Günter Eich geschrieben – erschienen waren die Verse 1939 in der ›Dame‹.45 Ich wußte, daß Lenz 1936 bei Ellermann ein Lyrikheft veröffentlicht hatte, kannte aber den ›Schwäbischen Lebenslauf‹ über seinen Großvater Julius Krumm aus der ›Kölnischen Zeitung‹ von 1943 nicht. »Ich wollte weg von der Welt an der Front mit dem ewigen Postenstehen und dem Schanzen, wo wir bis zu den Knöcheln im Morast stehen mußten und dachte mir ein Leben aus, das sich lohnte«, erzählte er und versprach, eine Kopie des Prosastücks zu schicken. Plötzlich wandte sich Hanne Lenz leise zu ihrem Mann; aus dem Getuschel war das Wort »Mutter« zu hören – er stand auf und ging vermutlich ins Erdgeschoß, um vor dem GuteNacht-Sagen eine Weile bei seiner Mutter zu bleiben. (F, S. 370) Als Lenz zurückgekehrt war, führte er mich die steile Holztreppe in seine Dachstube. Wir kamen an einem Regal mit Belegen von Anthologien und Zeitschriften vorbei. »Mitmachen haben Sie mich ja lassen«, war sein Kommentar. Das Deckenlicht hellte den Raum nur ungenügend auf; er deutete auf Aktentaschen, die dickbäuchig mit Manuskriptseiten gefüllt waren. Der Roman ›Neue Zeit‹, der gerade entstand, wurde mit keinem Wort erwähnt. Er gab mir eine Anthologie des Fischer Verlags mit Erzählungen u. a. von William Faulkner, F. Scott-Fitzgerald und Thomas Wolfe in die Hand, die ein Jahr nach den Olympischen Spielen erschienen war.46 »Wir sind übrigens an jedes Buch herangekommen«, bestätigte er meine Vermutungen und kramte die Proust-Übersetzung von Hessel und Benjamin hervor, die er 1939 in einem Antiquariat kaufte. Wir betrachteten gemeinsam an der Wand die Zeichnung einer Wendeltreppe, die sein Vater 1920 vom Schloß in Künzelsau gemacht hatte.47 Zwischen einer Säule und einem Seil als Geländer schienen die ausgetretenen Steinstufen von Helligkeit beschichtet zu sein, die für die Schilderung vom Tod des Großeltern in die ›Verlassenen Zimmer‹ einbezogen wurde. (VZ, S. 108 und S. 251) Lenz schaute zu mir herüber, als wollte er erfahren, ob mir die Treppe bekannt vorkam. »Der Schreibtisch stammt von der Aussteuer meiner Mutter«, erläuterte er, als ob die Mitteilung eine große Bedeutung hätte und hob dabei ein Schreibzeug aus glasiertem Ton mit der Jahreszahl 1837 ins Licht. Die Atmosphäre war ganz anders als bei Wilhelm Lehmann, bei dem ich mich warm aufgenommen fühlte48 – für einen Augenblick kam es mir vor, als sei Hermann Lenz ein Wärter, der den Besucher durch sein eigenes Museum führt. Wieder unten im Raum bei den Biedermeiermöbeln ergab sich, daß ich das Buch ›Spiegelhütte‹ noch nicht kannte. Hanne Lenz bat ihren Mann, ein Exemplar mitzugeben. »Das sind doch keine alten Socken«, sagte er mürrisch und schrieb eine Widmung »zur Erinnerung an
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unsere Begegnung in Stuttgart« hinein. Ziemlich spät fuhr ich mit einer Taxe ins Hotel. An der Bar saßen noch einige Bauingenieure, die an der Verlegung des Straßenbahnnetzes in den Untergrund arbeiteten; man hoffe, in zwei, drei Jahren den Tunnel zwischen Neckartor und Marienplatz fertig gestellt zu haben. Mein Nachbar schlug den Roman auf, der neben meinem Glas lag. »Nach dem Essen ging er zum ›Roten Herzfleck‹. Dem Platz beim Rathaus mit dem Saal der verlorenen Schritte, wo der Statthalter seine Empfänge gab«, las er.49 Erst als ich in Regensburg wohnte, wurde mir bewußt, daß die Altstadt Vorbild für Drommersheim gewesen war. Die Unbekanntheit machte Lenz zu schaffen. »Manchmal tut mir das, wenn ich an meinen ›Erfolg‹ denke, beinahe leid«, bekannte er. »Schließlich aber komme ich dann doch wieder drauf, daß ich so bin wie ich bin und weiß, was ich will.« (An Schäfer 31.12.1968) Bei meinem Besuch versprach ich, etwas dagegen zu tun, doch die seltsame Begegnung hatte vermutlich eine Sperre ausgelöst – ungeduldig wartete er bis Anfang 1971 eine erste kleine Besprechung erschien.50 Viele seiner Briefe lesen sich, als wollte er eine positive Stimmung erzeugen, gehen aber kaum ernsthaft auf den Empfänger ein – einige wirken wie Ausschnitte aus den Protokollen, die er beinahe Tag für Tag zu Papier brachte. Auf die Dissertation antwortete Lenz lapidar: »Da haben Sie sich also in einen Dichter vertieft statt Kehricht zu sammeln, wie es heute auch in der Literaturwissenschaft üblich ist.« (24.8.1969) Vermutlich blätterte er das Buch nicht einmal durch. Erst später bekam ich heraus, daß er Wissenschaftler ablehnte und jedem ihrer »schrecklich nützlichen und grausam nüchternen Sätze« feindselig gegenüberstand. (An Hanne Trautwein 21.7.1938). Ein Jahr zuvor hatte Hermann Lenz zu meinem ersten Lyrikband wie über ein Stück Prosa von sich selbst geschrieben.51 Einmal reagierte er auch bei Poetischem gekränkt: »Ihre Gedichte im MERKUR kenne ich vom früheren Lesen, weil meine Frau die Zeitschrift von Klett geschenkt bekommt. Die haben Welt-Niveau, und einer wie ich steht bescheiden daneben.« (30.11.1977) Als 1978 in der Schweiz der Band ›Kältezonen‹ herauskam, verglich Lenz die Gedichte mit Kaf ka, »obwohl sie mit Kaf kas Arbeiten nur die Unerbittlichkeit gemeinsam haben, literarisch aber nicht von ihm abhängig sind« (20.1.1979) – die Worte erinnern an Thomas Mann, der viel und damit gar nicht lobte. An Hans Reisiger hatte er 1953 über Lenz geschrieben: »Das ist ein originelles, träumerisch-kühnes Talent, ganz selbstständig neben Kaf ka […]. Aus Deutschland ist mir seit langem nichts so Interessantes gekommen.«52 Nach einer Lesung in Regensburg am 7. März 1981 saß ich neben Lenz im Ratskeller, er gab mir seinen Lyrikband ›Zeitlebens‹ in die Hand mit der Widmung: »Hans Dieter Schäfer, der keinen Grund hat, niedergedrückt zu sein, weil er’s besser kann als der Endesunterfertigte«.53 Aber auch das war vielleicht keine wirkliche Anerkennung, weil der Schriftsteller wenig von den eigenen Gedichten hielt. »Manchmal mache ich auch heute noch
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ein paar wie einer, der in seiner Freizeit Holz spaltet«, hatte er schon am Beginn der Korrespondenz eingestanden. (20.2.1969) Im Buch fand ich dann doch einige bemerkenswerte Verse. Im Gedicht ›Elternhaus‹ erinnerte Lenz an die Unzufriedenheit von Vater und Mutter, weil der »Rasen zu spät gemäht« sowie »Löwenzahn […] zwischen Tuffsteinplatten« nicht ausgerupft wurden, und bekannte: Im letzten Sommer aber hab ich es getan, Wie meine Eltern es sich wünschten. Meine Mutter Lag sterbend in dem neuen Krankenhaus, Trank Milch aus Schnabeltassen, röchelte, Sah großäugig zur Decke, und ihr Mund War weit geöffnet wie ein Vogelschnabel, Wenn Hitze, Müdigkeit und Krankheit quälen.54 Anfang 2000 bat mich Thomas Scheuffelen aus Marbach um Vorschläge für ein Spurenheft, das Orte erkundet, in dem Dichter gelebt und gearbeitet hatten – ich dachte an Marieluise Fleißer in Ingolstadt, hörte jedoch, daß das Thema bereits für ein Marbacher Magazin in Bearbeitung war. Ein Projekt über Hermann Lenz in Stuttgart fand Zustimmung, so daß ich im Mai Hanne Lenz besuchte. In München, Mannheimer Straße 5, war noch der Treppenlift montiert, der auf Antrag der Ärztin Maria Behrle für den Kranken eingebaut wurde. »Vielleicht können wir ihn beide noch mal gebrauchen«, sagte sie und gab mir vor dem Kaffeetrinken ein in blaues Seidenpapier eingeschlagenes Fläschchen, das eine Tinktur gegen meine Kniebeschwerden enthielt, die ich am Telefon erwähnt hatte. Wir sprachen über Narzißmus, und ich war erstaunt, daß von ihr nicht nur Heinz Kohut, sondern auch Raimund Battegay gekannt wurde. Das Alter habe auch Vorteile; man sei nicht mehr so leicht gekränkt, fügte Hanne Lenz hinzu und erzählte vom Judentum ihrer Familie. Der Großvater Gustav Gabriel Cohen habe als Kaufmann und Bankier noch vor Herzl einen Privatdruck über den Judenstaat veröffentlicht, den sie herausgeben wolle.55 »Meine Mutter trat wegen ihres Ehemanns zum Katholizismus über und verlor alles Jüdische«, erzählte Hanne Lenz. »Sie war aber tief religiös.« Ich wußte, daß sich die Mutter vor der Ehe unter dem Mädchennamen Marie Cohen als Malerin einen Namen gemacht hatte, doch bei meinem Besuch konnte ich über die Arbeiten und Ausstellungen nichts in Erfahrung bringen. Meine Gastgeberin schob nur die kleine Radierung eines Segelboots über den Tisch. »Das Kreuzen auf dem Ammersee war eine Befreiung – die Jacht hieß Rasso, und es machte Freude, den Körper von Sonne und Wind auslaugen zu lassen.« Auf die Fragen, wovon das Segeln befreit hatte und wie es beim Fischen mit dem Vater gewesen war, kam keine Antwort. Ich dachte an das Foto aus dem Album-Buch, das die Dreizehnjährige mit einem Hecht zeigt,
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der ihr bis zur Hüfte reichte – Hanne mit dem zu großen Schlapphut des Vaters schaut in die Kamera, als wollte sie das Fremde des metallisch glänzenden Körpers an ihrer Seite nicht wahrhaben, während die Studioleuchte an der Wand ein Doppelwesen erzeugte. (Abb. 36) Die Mutter habe sie einmal auf den Herd gesetzt und beim Malen vergessen, daß der Ofen eingeheizt war, hörte ich wie beiläufig. Ansonsten vermied Hanne Lenz alles Persönliche vermutlich aus Scheu, etwas von ihren seelischen Verletzungen preiszugeben. Schließlich erkundigte ich mich nach Tagebüchern von Hermann Lenz, die wären von ihm alle im Kleinhesseloher See versenkt worden; Briefe hätte er nach dem Lesen oft weggeworfen, nur ihr sei es zu verdanken, daß die von Paul Celan und 36 Hanne Trautwein, 1928 Peter Handke erhalten geblieben wären. Ob sie sich in »Treutlein Hanni« wiedererkenne, wollte ich wissen, erhielt aber nur ein Kopfschütteln als Antwort.56 »Jeder hat versucht, einen eigenen Weg zu gehen«, erklärte Hanne Lenz. Vor dem Abschied bat ich, die Dachstube anschauen zu dürfen. Links am Eingang lehnte der Wanderstock aus Haselnußholz von Handke mit der eingeschnitzten Inschrift »Hermann zum 26. Februar 1913«; eine paar neue Bildchen, die vermutlich für wenig Geld in Münchner Antiquitätenläden gekauft wurden, hingen neben denen aus Stuttgart an den Wänden, dann sah ich vom Fenster in den Garten hinunter, aus dem Sträucher wild nach oben wuchsen und wo vermutlich anders als in Stuttgart das Unkraut ungejätet blieb. (SA, S. 155 f.) Eine Woche nach dem Treffen bekam ich einen von Hanne Lenz gezeichneten Grundriß der Räume aus dem Siedlungshaus in der Birkenwaldstraße 203. (Vgl. Abb. 38) Rechts im Vorplatz der Dachstube hatte sie die Kommode von Julius Krumm eingetragen (F, S. 223) und im Wohnzimmer des ersten Stocks den Biedermeier-Eckschrank aus dem Erbe ihrer Mutter. (F, S. 228) Im Schlafraum ist ein Ehebett angedeutet. Bad und Küche mußte das Paar mit den Eltern teilen, die im Erdgeschoß wohnten – das kleine Zimmer oben war mit »vermietet« gekennzeichnet, denn dort schlief das Personal der gegenüberliegenden Bäckerei Wieland, in welche die Schwester eingeheiratet hatte. (W, S. 26) Auffällig ist, daß Hanne Lenz das gemeinsame Wohn- und Schlafzimmer »Lenz junior« zuordnete, als hätte sie selbst nie in der Birkenwaldstraße gelebt.
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Um die wichtigsten Orte des Schriftstellers in Augenschein zu nehmen, fuhr ich im Herbst nach Stuttgart. Am ersten Morgen ging es zunächst per Bus der Linie 42 in die Gablenberger Hauptstraße, um das von Julius Krumm bewirtschaftete Lokal Zum Hasen aufzusuchen. Von der gegenüberliegenden Seite fotografierte ich das Gebäude, das zu meiner Überraschung nicht mehr Gaststätte Ost hieß – den Namen Wirtshaus Hasen konnte man in großen erhabenen Frakturbuchstaben über dem Gastraum lesen. »Das ist Margret Stegmaier zu verdanken«, bemerkte ein Mann, als ich ein Foto von der Speisekarte machte. Über Stuttgarts Grenzen hinaus berühmt sei der schwäbische Kartoffelsalat. Ich erzählte von Julius Krumm und dem »vergoldeten Hasen« der »so groß wie ein elfjähriger Bub vor den Fenstern im ersten Stock« gestanden hatte. (ST, 310) »Das Lokal macht um halb zwölf auf, bleiben Sie doch – beim Rostbraten werden die Zwiebeln extra in einer anderen Pfanne gebraten«, warb der Gablenberger. Dann nahm ich noch das breitgieblige Nebenhaus auf, in das der Großvater nach dem Verkauf des Restaurants gezogen war. Beide Gebäude waren neu verputzt. Für die Reise bereitete ich mich mit den Feuilletons aus dem Buch ›Stuttgart‹ vor, die Lenz vom Januar 1963 bis September 1975 für eine Monatszeitschrift geschrieben hatte. Wieder im Bus suchte ich in der Sammlung nach der Gablenberger Hauptstraße; weil sie dem Autor vermutlich langweilig vorkam, erzählte er von der Zeit um 1900. Damals »wohnten fast nur Weingärtner in der Hauptstraße. Hinter ihren Häusern hatten sie Obstgärten bis zum Klingenbach hinunter und gegenüber, auf dem Talhang, ihre ›Wengert‹«, las ich. »Im Herbst legte meine Großmutter Pflaumen und Zwetschgen auf Brennesselblätter, damit die Früchte ihren blauen Hauch behielten; sie fuhr sie dann in einem Leiterwägelchen zum Wochenmarkt nach Stuttgart.« (ST, S. 311 f.) Lenz scheint »langsam gehend und ins Notizbuch kritzelnd« (ST, S. 204) ein letzter Flaneur gewesen zu sein, der durch die Straßen streifte und seine Reflexionen aus kleinen Beobachtungen gewann. Wie bei Franz Hessels ›Spazieren in Berlin‹ (1929) tritt aus der Gegenwart häufig Vergangenes aus der Kindheit hervor, allerdings in einer von »Bomben und Wohlstand« veränderten Stadt. (ST, S. 102) Das Aufschreiben geschah nicht zweckfrei, sondern programmatisch, denn »um jedes Haus, das abgerissen werden soll […], tut es mir leid«, bekannte er in dem Kapitel über die Gablenberger Hauptstraße. (ST, S. 313) Es muß schon gegen Mittag gewesen sein, als ich die Staffel zur HermannLenz-Höhe hinauflief, die vor wenigen Monaten an der Ecke Birkenwald-/ Friedrich-Ebert-Straße angelegt wurde. Auf der Mauer des Aussichtspunktes hatte die Stiftung Geiststraße Sieben eine Platte mit Namen und Daten des Dichters unter dem Zitat »Vor deiner Haut beginnt die Fremde« aus dem Roman ›Die Augen eines Dieners‹57 angebracht. Für ein Foto legte ich das ›Stuttgart‹-Buch und den Stadtplan aus dem Baedeker daneben, ohne zu bemerken, daß ein abgestorbenes Lindenblatt groß wie ein Zehn-Cent-Stück auf das Messing gefallen
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war. (Abb. 37) Wenige Schritte weiter stand ich vor dem Haus in der Birkenwaldstraße, das in den Hang gebaut und von einer Hecke halb verdeckt wurde. An der Klingel fehlte ein Name. Rotgefärbtes Weinlaub wuchs vom Garten bis zum Dach, über dem sich eine Birke zeigte. Dann machte ich eine Aufnahme vom Fenster der Dachkammer, in der Hermann Lenz seine Bücher geschrieben hatte, und ging zum Haus von Emil Wieland und Margarethe Lenz hinüber. Auf dem Flachdach des Vorbaus waren noch die Glaswände der Terrasse zu sehen, doch das Café Weißenhof bäck Birkenwaldstraße 214 gab es nicht mehr. Ich dachte an den Erbstreit nach dem Tod der Mutter, der die Geschwister für immer trennen sollte, und ging einen der liebsten Spazierwege von Hermann Lenz Richtung Feuerbacher Heide, wo die Gespräche mit dem Schäfer Johann Präg aus Bartenstein im Hohenloher Land stattfinden. (SA, S. 173 f.) Die Grünfläche senkte sich bis zum Kräherwald; die Hügelzüge dahinter lagen im Dunst, doch von Schloß Solitude war jetzt im Herbst nicht einmal ein weißer Fleck zu sehen. Auf dem Rückweg trat auf der Robert-Bosch-Straße das Panorama der Stadt dagegen deutlich hervor. Lenz bewunderte die Villen und das Großzügig-Gedehnte dieser Höhenstraße. An heißen Tagen »wird hier das Trottoir zum Ofen«, schrieb er, »während auf der anderen Seite unter dichten Blätterkugeln schmalstämmiger Linden Kühle wartet, weil auch noch Hecken und Obstbäume über die Zäune schauen.« (ST, S. 244) Danach erkundete ich die Schulwege. Lenz ging über den Eckartshaldenweg zur nahen Prag-Realschule, die am Pragfriedhof lag. Später besuchte er das Reformrealgymnasium in der Neckarstraße in Stuttgart-Ost, wo sein Vater seit 1924 Unterricht gab. Um »Geld für Bücher« zu sparen, verzichtete der Schüler auf die Straßenbahn und durchquerte den Friedhof, »an Mörikes Grab vorbei«. (AT, S. 61) In der Abteilung 10, Reihe 1, fand ich den Stein, der 1904 neu gestaltet wurde und eher dem Jugendstil der Feierhalle mit seiner herrschaft-
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lichen Gestik als dem Biedermeier nahe kommt. Damals wußte ich noch nicht, daß die Grabsteine von Hermann und Hanne Lenz die runde, sich nach unten verbreiternde Form aufnahmen – obwohl Tondo und Reliefplatten aus Bronze durch eine Empire-Girlande ersetzt wurden, blieb etwas vom Eindruck des Massiven erhalten. (Vgl. Abb. 34, 45) Noch bevor es dunkel wurde versuchte ich, den Weg auszukundschaften, auf dem der Schriftsteller neun Jahre in sein Büro am Charlottenplatz herunterstieg, bis es 1958 in die Wohnung verlegte wurde. (F, S. 326) Ich lief wieder zur Birkenwaldstraße hoch, bog in die Robert-Meyer-Straße ein und ging wenig später eine alte Steintreppe zwischen Gärten abwärts. Links war zum Schutz ein Geländer angebracht, während rechts Glaskugel-Lampen auf Stangen auf dem Rasen standen. Nach einer Bahnunterführung kam ein Schornstein ins Blickfeld, der zum Bürgerhospital gehörte. Ich hatte die Staffel mit Laub fotografiert und knipste auch den Schonstein aus roten Ziegelsteinen, weil Lenz dachte, daß in den Öfen »abgesägte Beine« und »weggeschnittene Brüste« verbrannt würden. (F, S. 156) Von der Haltestelle unten fuhr ich mit dem Bus der Linie 44 zum Charlottenplatz. Im Buch über Stuttgart hatte er die Umgestaltung zu einem mehrstöckigen Verkehrsbau beschrieben und behelmte Männer erwähnt, die an »rostigem Gestänge« arbeiten, »zwischen das sich der Beton ergießen wird.« (ST, S. 117) Ich mochte nicht die Treppe zum Fußgängertunnel hinuntersteigen, um zum Alten Waisenhaus zu gelangen, wo Lenz im zweiten Stock als Sekretär des Stuttgarter Kulturbundes und des Süddeutschen Schriftstellerverbandes tätig gewesen war. »Wenn alles fertig und der Boden wieder glattgebügelt ist, wird sich eine asphaltierte Betonplatte als steinerner See dehnen«, hatte er notiert. (ST, S. 118) Tatsächlich wirkten das Barockgebäude und das Wilhelmspalais auf der anderen Seite wie isolierte Überbleibsel, die aus der Vergangenheit angeschwemmt wurden. Den Platz quert heute die Bundesstraße 27 in Ost-West-Richtung, in Nord-Süd-Richtung zwei Etagen tiefer die Bundesstraße 14 – zwischen den Ebenen für den Straßenverkehr befindet sich die der Stadtbahn. Es ist bemerkenswert, dachte ich, daß Lenz lange vor der Kritik an der autogerechten Stadt von den Veränderungen Zeugnis abgelegt hatte, und freute mich, daß sich die Stiftskirche und die beiden Türme des Alten Schlosses wie Manifestationen einer anderen Zeit über das Waisenhaus hoben. Am nächsten Tag nahm ich die S-Bahn nach Marbach. Schon als Schüler war Hermann Lenz mit dem Vater aus Stuttgart in das Schillermuseum geradelt, um die Handschriften Mörikes in den Vitrinen wie Reliquien eines Heiligen andächtig zu bestaunen58, jetzt studierte ich Dokumente von Lenz, aber nicht als Pilger, sondern als Entdeckungsreisender. Zunächst legte man mir im Handschriften-Lesesaal auf meinen Wunsch die Akten vom Stuttgarter Kulturbund und dem Süddeutschen Schriftstellerverband vor – das Einkommen lag
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1957 im Monat bei 250 DM. Doch weil der Kulturverein im gleichen Jahr aufgelöst wurde, blieben nur noch die Einkünfte von 150 DM aus der Arbeit für das andere Amt, die sich bis zur Abwahl 1971 lediglich auf 300 DM erhöhen sollten. (SA, S. 150) Trotz der Finanznot hatte Hermann Lenz damals an Heinz Schöffler geschrieben: »Das synkretistische Zeitalter mit rosafarbenen und schwarzen Gesinnungsträgern, die aber keine Gesinnung haben, sondern bloß verdienen wollen, ist nicht nach meinem Geschmack.« (23.6.1956, DLA) Bei Alfred Anderschs ›Sansibar‹-Roman kam er sich »beim Lesen auf den Arm genommen vor« und »tauschte das Buch […] wieder um.« (An Heinz Schöffler 14.11.1958, DLA) Vermutlich ahnte Lenz durch die Sprache das Unwahre, ohne etwas von den Verstrickungen des Autors mit der NS-Ideologie wissen zu können.59 Die Funde waren peripher, bis im Deutschen Literaturarchiv die Briefe an Kasimir Edschmid auf den Tisch kamen, die Lenz aus Rußland als »Bunker- und Grabenmensch« geschrieben hatte. (31.10.1941, DLA) Der junge lobte am älteren Schriftsteller das »Weltmännische« (3.12.1941, DLA) und erzählte ihm von »Erinnerungsstücke[n] aus der Zarenzeit«, die er in verlassenen Häusern entdeckte, »alte Bilder, Mädchen in Schutenhut und mit den Ringellöckchen des Biedermeier. […] Man spürt, wie verschüchtert und bestürzt solche Menschen gelebt haben müssen – das Lustschloß des Zaren aus dem achtzehnten Jahrhundert ist vollständig ausgebrannt, aber der Schnee, der darauf liegt, mildert den finsteren Eindruck.« (31.10.1941, DLA) Wie im Notizbuch sparte Hermann Lenz das Morden nicht aus. »Dann komme ich zum Bombentrichter, wo wir immer unser Wasser zum Abkochen holen, dort liegt ein Mädchen, das stöhnt, mit glasigen Augen und blauen Lippen«, teilte er Anfang August 1942 mit. »Sie hat drei Schüsse in den Bauch bekommen wie sich nachher herausstellt, und ich muß sie mit einem anderen unter die Achsel packen und ein Stück nach vorn schleifen; dabei spüre ich die Wärme ihrer Achselhöhle in der Hand und es graut mir.« (5.8.1942, DLA) Lenz berichtete Edschmid vom brieflichen Rat eines ehemaligen Universitätslehrers, »noch viel härter [zu] werden« und fragte: »Muß ich das wirklich? Ich denke immer daran, was Sie mir im Winter schrieben: ›Macht euch nicht gemein mit dieser Welt!‹« (20.8.1942, DLA) Aus der Bibliothek bestellte ich den Briefwechsel Kasimir Edschmids mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Erna Pinner, die am 13. November 1935 aus dem Londoner Exil geschrieben hatte: »Du hast die Wahl: entweder Feuer und Asche speien – oder abseits sich eine Welt im Geist bauen, in der es immer Wege gibt.«60 Es scheint, als hätte Kasimir Edschmid diesen Rat an Hermann Lenz weitergegeben. Nach den Entdeckungen in Marbach setzte ich die Spurensuche fort und fragte Herbert Wiegandt aus Stuttgart, ob er mir Briefe von Hermann Lenz zugänglich machen könnte. Er stimmte nach einigem Zögern zu, so daß ich ihn Mitte März 2002 in der Kernerstraße besuchte. Dem Siebenundachtzigjährigen sah man das Alter nicht an – er wirkte spartanisch wie das große Wohnzimmer, in dem auf
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den Dielen nur wenige Einrichtungsgegenstände aus den Fünfzigern standen. Unter Glas lag im Durchmesser des runden Tischs eine Fotovergrößerung, die Wiegandt in jungen Jahren auf dem Gelände der Hochschule für Gestaltung in Ulm zeigte. Er fühlte sich als Leiter der Städtischen Volksbücherei bis 1965 dem Kreis um Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher nahe. Offensichtlich hatte ihn der Minimalismus so stark beeindruckt, daß auf den Regalen zwischen den Büchern viel freier Raum gelassen wurde, was bei einem Professor für Bibliothekswesen an der Stuttgarter Fachhochschule überraschte. »Wir waren an der Universität in Heidelberg seit 1933 täglich, aber auch in den Ferien oft zusammen«, erzählte Wiegandt. Er habe Hermann Lenz damals für seinen nächsten Freund gehalten, natürlich sei auch die gemeinsame Abwehr gegen den Nationalsozialismus ein wichtiges Verbindungsmittel gewesen. »Einige Aufnahmen aus dem Band ›Bilder aus meinem Album‹ machte ich mit dem Selbstauslöser, aber der Insel Verlag hat vor dem Druck nicht einmal bei mir angefragt«, dabei zeigte er auf Fotos von Lenz am Schreibtisch, im Garten der Eltern und vor dem Stuttgarter Standesamt. Hanne Lenz habe sich in der Birkenwaldstraße nicht wohl gefühlt. Ich legte eine Kopie vom Grundriß auf den Tisch, den ich vom Haus gezeichnet bekam. (Abb. 38) »Ja, das war sehr eng für beide, aber Hanne hatte sich angepaßt, daß sie sogar schwäbisch redete«, sagte Wiegandt. »Da ist ja sogar die Kommode von Julius Krumm!«, rief er erstaunt. »Als sie beim Saubermachen einmal vom Platz gerückt wurde, geriet Hermann außer Kontrolle – die Kommode war für ihn ein Fetisch wie Mörike.« Wiegandt erklärte weiter, eine zu enge Bindung an die Mutter habe das Begehren des Sohns unterdrückt und wies auf den Anfang des Romans ›Das stille Haus‹ hin.61 Schon in München wäre zwischen Hanne und Hermann keine Erotik zu spüren gewesen, meinte er und korrigierte damit eine mißverständliche Formulierung aus dem letzten Rapp-Roman. (F, S. 77) »Bei Hannes Geburt 1915 war die Mutter Marie Cohen 45 Jahre alt gewesen, der Vater Kurt Trautwein erst 34. Vielleicht hatte das Kind unschöne Szenen mitbekommen, als der Vater versuchte, seine Wünsche durchzusetzen«, erfuhr ich.62 »Hanne steckte voller Lebensangst und konnte nicht alleine sein.« Auf die Frage, ob sich Wiegandt im »Wieland« wiedererkenne, lachte er. »Ich habe sogar protestiert, und Hermann Lenz versprach, für eine zweite Auflage der ›Neuen Zeit‹ Änderungen zu berücksichtigen«.63 Schließlich reichte er mir zwei Tragetaschen aus Plastik gefüllt mit Briefen und bedauerte, daß seine Frau verreist wäre, sie sei mit Hanne befreundet gewesen und hätte sicher einiges über die Zeit in Stuttgart erzählen können.
linke Seite 38 Hanne Lenz: Grundriß. Bleistift und Tinte, 2000
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Hinter der leeren Fläche vom Charlottenplatz stand das Schwabenbräu-Hochhaus, doch offensichtlich hatte es den Besitzer gewechselt, denn von den Glaswänden leuchtete die ebenfalls rote Reklame des Stuttgarter Hof bräu. Ich war von der Kernerstraße in die Weinstube Zur Kiste gefahren, die am Rand des Bohnenviertels liegt, und ging zunächst die enge und knarrende Treppe in den ersten Stock hoch. In den beiden Nebenzimmern saßen noch keine Gäste, aber im Raum zur Straße hatte man schon die Fensterläden geschlossen. Eine junge Frau deckte die wenigen Tische ein, während das Seil vom Aufzug zu hören war, der das Essen nach unten ins Erdgeschoß und die Getränke nach oben brachte. Das Lampenlicht gab der Holzvertäfelung einen warmen Ton, der auch auf den kolorierten Stichen von Alt-Stuttgart lag, so daß man weder Farben noch Einzelheiten erkennen konnte. Mit den beiden Plastik-Einkaufsbeuteln stand ich im Raum, wo jeden Montag der Stammtisch der Dreizehn tagte, den Alfred Günther und Thaddäus Troll um 1950 ins Leben gerufen hatten – seit er in die Kiste umgezogen war, nahm auch Hermann Lenz in den siebziger Jahren hin und wieder daran teil.64 (F, S. 37-43) Unten fand ich einen Platz in der Nähe des grünen Kachelofens. Weil die Briefe nicht geordnet waren, griff ich zaudernd in die beiden Tüten wie in Lostöpfe und bemerkte bald, daß Dokumente von Rang neben mir auf der polierten Holzbank lagen. Bis heute ist unklar, ob Vertrauen in meine Person oder Geringschätzung der Briefe für die Leihgabe verantwortlich gewesen waren. Der Pfaffenweiler Batzenberg, Gutedel, den Lenz zu Linsen mit Spätzle und Saitenwürsten getrunken hatte, stand nicht mehr auf der Karte (ST, S. 487), doch die Bedienung empfahl als Ersatz einen Auggener Schäf, Gutedel aus Baden. Obwohl das Lokal erst vor einer halben Stunde geöffnet hatte, wurde der untere Gastraum schnell voll, so daß sich ein älteres Paar zu mir setzte. Es waren Stammgäste, die noch Wilhelm Bräuniger junior kannten, der die Kiste bis 1993 bewirtschaftete – 100 Jahre war sie in Familienbesitz. »Der Name kommt von einer Hafertruhe, die zum Füttern der Pferde vor dem Haus stand«, erzählte die Frau. »Die andere Legende spricht von einer vergoldeten Kiste, die Studenten über ihren Stammtisch aufgehängt hatten.« Ob ich nicht am Eingang das Schild aus Schmiedeeisen mit einem Lastträger und einer Riesenkiste auf dem Rücken gesehen hätte? Das Gasthaus selbst habe es schon in der Biedermeierzeit als Bierwirtschaft gegeben. Auf Wunsch servierte man mir nur Achtel, so daß ich die Weißweine der Karte teilweise durchprobieren konnte. Nachdem die Teller weggeräumt waren, setzte sich die Wirtin Ernerose Wenger eine Weile zu uns. »Die Gäste trinken immer weniger, und alle wollen essen«, klagte sie. Nach der Einführung des Euro wäre der Einkauf teurer geworden, das Haus sei eben alt, und die Energiekosten summierten sich. »70 Sitzplätze bietet die Kiste. Mindestens ein-, eher zweimal müßten sie jeden Abend belegt sein«, erzählte die Wirtin und deutete auf eine der Tragetaschen mit dem Aufdruck WMF. Das seien
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39 Hermann Lenz und Herbert Wiegandt in München, 1938
Unterlagen für eine Expedition, erklärte ich und bestellte einen Verrenberger Goldberg, Riesling aus der Nähe von Künzelsau, wo Hermann Lenz die ersten elf Jahre gelebt hatte. Als ich die Briefe zurückbrachte, kamen vermutlich aus dem Schlafzimmer Geräusche, als schleiften schwere Vorhänge über den Boden. Wiegandt entschuldigte sich, daß seine Frau mich auch diesmal nicht begrüßt hatte. Sie sei krank gewesen und zöge sich jetzt an. Ich riet, die Briefe nach Marbach zu geben, doch die Übergabe war schon eingeleitet, so daß sie dort noch vor seinem Tod im November 2003 archiviert wurden. Vor dem Krieg sei er mehrfach mit Lenz in der Mannheimerstraße gewesen, habe auch zweimal auf Reisen dort gewohnt. (Abb. 39) »Die Mutter von Hanne machte einen zarten, verhuschten und gebrechlichen Eindruck, hatte aber auch etwas Energisches«, erzählte Wiegandt. »Religiös im eigentlichen Sinn war sie nicht gewesen, befragte die Sterne und glaubte, durch Kartenlesen die Zukunft vorauszusehen.« Der Vater sei 1934 von der TU aus politischen Gründen beurlaubt worden, nicht weil er mit einer Jüdin verheiratet gewesen sei. »Es ist ein Glück, daß die Mutter 1942 an Herzversagen starb und die Deportation nicht miterleben mußte«, meinte er beklommen. Dann kam
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Wiegandt auf das Schwäbische von Lenz zu sprechen: »Hermann war bescheiden, tat aber nur so«, er wäre wie so viele erfolgreiche Schwaben ein Tüftler gewesen, dem mit Eugen Rapp ein Markenprodukt gelungen sei. »Die Büchnerpreisrede dokumentiert, daß er unpolitisch dachte und über kein Bewußtsein für das Tragische verfügte«, betonte der Freund. »Wenn der ›Hessische Landbote‹ lediglich als Heilmittel für Abbau eigener Aggressionen bezeichnet wird, dann stülpte er wie so oft über Fremdes die eigene Person.«65 Wenige Wochen vor meinem zweiten Besuch erhielt ich von Wiegandt sein gerade veröffentlichtes Buch ›Inselexistenz‹ über ›Vorkrieg und Krieg 1933-1945‹ geschickt – der kartonierte Einband zeigt den Autor in einer weiten russischen Winterlandschaft im Vordergrund als Einzelnen, nicht verloren, sondern als Person, die das eigene Ich behauptet. Er hatte in Heidelberg bei Jaspers studiert. Während das Foto von 1941/42 das existentialistische Credo seines Lehrers glaubwürdig vor Augen stellt, enttäuscht der Text, der angeblich aus »Briefen und Aufzeichnungen eines damals 21 bis 31jährigen« besteht.66 Auf die Frage nach den Originalen erklärte Wiegandt, daß er sie aus Platzgründen vernichtet habe. Anschließend traf ich mich mit Ulrich Keicher in der Tauberquelle, wo das Gespräch sofort auf die ›Inselexistenz‹ kam. »Der Brief- oder Tagebuchschreiber weiß zuviel«, meinte er. »Die Aufzeichnungen wurden vermutlich im Nachhinein geschrieben.« Dann bestellten wir beide Maultaschen – während sich mein Tischnachbar aus Warmbronn für Maultaschen ›geschmälzt‹ mit zerlassener Butter und Kartoffelsalat entschied, wollte ich sie ›klassisch‹ in einer Brühe als Suppeneinlage. »In vielen Familien gibt es spezielle Rezepte für die Füllung, die gekochten Schinken, geräucherte Schinkenwurst, Hackfleisch oder Bratenreste vorsehen«, klärte mich Keicher auf. »Die in der Tauberquelle besteht aus Brät, Zwiebeln und Spinat.« Beim Essen erzählte ich beinahe alles, was Wiegandt über Hermann Lenz berichtet hatte, und daß eigene Recherchen seine Auskünfte bestätigt hätten. »Es ist besser, wegen Hanne Lenz das Spurenheft fallen zu lassen«, sagte ich. Wir kamen überein, nach ihrem Tod etwas über den ›ganzen‹ Lenz zu machen, wobei neben den Abgründen auch die eindrucksvollen Leistungen dieses Schriftstellers dargestellt werden sollten. Das Vorhaben hatte ich vergessen, als Ulrich Keicher zehn Jahre später einen Druck zum hundertsten Geburtstag 2013 vorschlug – inzwischen war der Nachlaß in der Bayerischen Staatsbibliothek von Monika Köstlin mustergültig geordnet worden. Aus Neugier studierte ich zunächst die Aufzeichnungen über meinen ersten Besuch in der Birkenwaldstraße – wie ein photographischer Automat hatte Hermann Lenz das Äußere erfaßt: »Ein mittelgroßer, neunundzwanzigjähriger, ein bißchen dick gewordener junger Mann, die Augen dunkelbraun wie sein kurz geschnittenes Haar. Meine Frau sagte, daß er gut gerochen habe; vielleicht hatte er ein feines Haarwasser gekauft. […] Von der Brille, einer goldg länzenden,
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40 Hermann Lenz mit Helen und Simon Schäfer, 1976
hat er an der Nase rote Druckflecken, die langsam verschwinden, wenn er sie eine Zeitlang abgenommen hat.« Die Distanz äußert sich in der Wendung »meine Frau« statt »Hanne«, die vermutlich Sympathie für den Besucher empfand.67 Eingebunden in die Beschreibung waren Informationen über meine Herkunft und den Wunsch, »Universitätslehrer« zu werden. (16.3.1969) Dann schlug ich die Eintragungen vom Dezember 1976 auf, als uns Hermann und Hanne Lenz in Regensburg besuchten. »Schäfer war in einem grünen Samtanzug und hatte manchmal großzügige Bewegungen, ein eher kleiner, wohlgemästeter Mann«, der erzählte, er sei »jetzt zu seinem Glück Beamter auf Lebenszeit« geworden. Lenz zeigte sich enttäuscht von der Hochhauswohnung (»stillos… dachte ich«) und schilderte für den nächsten Tag einen Gang in ein altes Gebäude neben dem Rathaus bis zur Dachwohnung, dem ich angeblich »wie angewidert über ausgeschabten Treppenstufen« gefolgt sei. »Die hätte mir genügt, wenn sie nur still gewesen wäre.« Er verlor mich fast ganz aus dem Auge und konzentrierte sich auf Simon, dem er einen Turm aus Legosteinen baute, und vor allem auf meine Frau, nicht nur wegen der guten Mahlzeiten, sondern weil sie als ehemalige Richterin Bilder malte. (Abb. 40) »Jetzt hatte sie ihres Sohnes wegen die Beamtenarbeit nach zehn Jahren aufgegeben«, heißt es zustimmend. Die von eigenen Wünschen eingeengte Beobachtungsgabe war evident – obwohl ich neben meiner Frau auf dem Bahnsteig bei der Abfahrt nach München stand, bekannte er, nur ihr lange
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nachgewinkt zu haben, dann folgen Beschreibungen der nächtlichen Zugfahrt mit Lokomotiven auf Bahnhöfen, die »bestaubt waren mit Schnee« und einem »Siedlungshaus weit abseits […] am Rand von Landshut«, wo »ein Mann den Weg vom Haus zum Garten vom Schnee freischaufelte, das brachte Empfindungen von früher her, von damals aus der Kindheit«. (27.12.1976) Ich war dann doch etwas erschrocken und tat mich bei der weiteren Lektüre etwas schwer, doch je mehr sich Hermann Lenz den körperlichen Beschwerden auf dem Weg zum Tod näherte, desto wesentlicher wurden die Aufzeichnungen, ohne daß sie sich ganz von der Egomanie befreien konnten. Bald wurde mir jedoch klar, daß nur eine Auswahl von Notizen der letzten beiden Lebensjahre eine Veröffentlichung rechtfertigen würde. Eindrucksvoll waren zum Beispiel Eintragungen wie diese: »(Künzelsau) Als der Apfelmost noch in Holzfässern gärte, stampfte und rumpelte, fuhren Bauern mit Leiterwagen vor der Weinwirtschaft vor und legten ihren Pferden Gummiplanen gegen den Regen über, gingen in die Weinwirtschaft von Wilhelm Me[t]zger hinein und fingen an, sich den Schaum des gärenden Mostes von Lippen und Bart zu wischen, während draußen ihre Rösser Regen über sich hinunter laufen lassen mußten und Frau Me[t]zger mit großem blauen Krug in den Keller ging. Eines der Rösser legte sich aufs Trottoir vor der Metzgerei Schlör, und ich stand am Fenster unseres Hinteren Stüble und hätte gern das liegende Pferd hinüber zum überwölbten Durchgang unter Frau Reisigs Haus geführt, damit es dort trocken werden und weiterschlafen konnte. Doch meine Großmutter kam ins Zimmer, machte Licht und legte Teller auf den Tisch, weil’s Zeit zum Nachtessen war. Dabei sagte sie die Verse: ›Montag ist der blaue Tag, / Dienstag i nex schaffe mag, / Mittwoch, do geht’s G’schäft net stark, / Donnerstag ist der Wochenmarkt / Freitag laß’ i Freitag sei, / Und der Samstag schlupft in Sonntag nei‹, die mich zum Lachen brachten. Jetzt war das Leben endlich wieder einmal hell.« (A, S. 17 f.) Die am 7. Dezember 1997 spontan aufgeschriebene Erinnerung teilt Eindrücke mit, die Lenz als Kind in seinem obsessiven Gedächtnis gespeichert hatte, um sie fünf Monate vor dem Tod abzurufen. Der Vorgang des Gärens, die im Regen stehenden Pferde mit ihren Gummiplanen und das Abwischen des Schaums vom Mund sowie die mundartliche Färbung der Verse erzeugen eine magische Realität, die an die besten Passagen des 1963 begonnen Romans ›Verlassene Zimmer‹ erinnert. Etwas Naives bestimmt die Episode, zumal das am Fenster stehende Kind wünscht, dem müden Pferd einen trockenen Schlafplatz zu verschaffen. Neben dem Computer liegt die Detailkarte der Umgebung vom Haus Keltergasse 63 aus dem kleinen Stadtführer ›Mit Hermann Lenz durch Künzelsau‹ von Stefan Kraut.68 Die Metzgerei Schlör befindet sich auf der rechten Seite am Rat-
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hausplatz schräg gegenüber vom Elternhaus, der Weinstube und dem Haus von Frau Reisig, das 1980 abgebrochen wurde. Er hätte das Pferd »nur auf die andere Seite der Keltergasse führen müssen, fünf Meter vielleicht«, bestätigte Stefan Kraut die topographische Genauigkeit. (Mitteilung vom 23.2.2016) Nach der Lektüre der Aufzeichnung ließ ich in den Handschriften-Lesesaal das Manuskript ›Bilder aus meinem Künzelsau‹ vom Sommer 1930 kommen und staunte, daß sich der Siebzehnjährige als »kleinen Bub« am Fenster des Dachbodens sah und von den »Garnberger Bauern« erzählte, die auf der Keltergasse »rasselnd« vor die »Wirtschaft des ›Metzgerbecken‹« fahren.69 Die Dauerhaftigkeit dieser Bemühungen ist vermutlich dadurch begründet, daß Lenz auf eine Halbexistenz reduziert erst durch die Wiederherstellung der eigenen Vergangenheit zum Leben fand, wobei er keine sklavischen Abbilder, sondern Imaginationen gab, so verblüffend sie auch in ihrer Genauigkeit sind. Am Ende der Eintragung bekannte der zum Sterben bereite Dichter: »Jetzt war das Leben endlich wieder einmal hell« – schon der Schüler hatte den Vorgang des Zurückdenkens »an eine besonders schöne Zeit in unserem Leben« mit einem »Sonnenstrahl« verglichen, der »einzelne Fenster und Dächer hell auf blitzen läßt.« Das Schreiben war für Hermann Lenz von Beginn an ein Trost suchender Vorgang, der erst mit seinem Tod Abschluß und Vollendung finden konnte. Auf der anderen Seite des Lesesaals musterten Peter Hamm und Helmut Böttiger von einer Säule verdeckt Fotos für eine nie zustande gekommene Ausstellung zum 100. Geburtstag im Münchner Literaturhaus. »Bitte, berichten Sie den beiden nicht, welcher Schatz in diesen Kästen liegt«, sagte ich zu Monika Köstlin und las weiter in den Aufzeichnungen, die Hermann Lenz unverändert als Flaneur zeigen. Jetzt aber radelte er nicht mehr durch den Englischen Garten oder auf einen von Gestrüpp überwachsenen Hügel in der Umgebung 70 – seine Herzerkrankung beschränkte den Raum auf wenige Straßenzüge, die er zu Fuß langsam geworden durchstreifte. Von der Bibliothek fuhr ich mit der U-Bahn zur Münchner Freiheit und bog nach einer Weile in die Karl-Theodor-Straße ein. Links lag das mehrfach erwähnte gelbe Jugendstilgebäude des Maximiliangymnasiums. Vergeblich suchte ich die als »nahebei« beschriebene Wirtschaft Zur alten Burg »mit Backsteinen im Erdgeschoß und dräuenden Fensterlöchern neben dem Eingang, die Backsteine von Verwitterung angeknabbert, bröselig an den Kanten.« (A, S. 13) In der Bismarckstraße fand sich ein Haus, das der Darstellung entsprach; das Lokal hieß jetzt La Sud und bot französische Speisen an. Schon vorher hatte ich herausbekommen, daß die Dreharbeiten im Gymnasium zu ›Anna Maria – Eine Frau geht ihren Weg‹ nicht Ende September 1997 stattgefunden haben konnten (A, S. 13), denn die letzte Folge der Fernsehserie mit Uschi Glas und Michael Degen wurde schon im Januar von Sat 1 ausgestrahlt. Vermutlich mischten sich in die Notizen vom Tag auch Erinnerungen
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an frühere Spaziergänge, als die Bewegungen noch nicht so häufig von Pausen zum Atemholen unterbrochen wurden. Ich ging zum Reihenhaus in der Mannheimer Straße, um Barbara Hamm von der Hermann-Lenz-Stiftung zu treffen. Das dreistöckige Gebäude wurde 1935 von der Firma Hartlaub & Eichbauer mit dem Geld Marie Cohens errichtet und 1938 auf Hanne Trautwein überschrieben. Wie in Stuttgart bedeckte wilder Wein große Teile der Mauer, doch die Riesen-Tanne war verschwunden. Beate Grentzenberg, die mit ihrem Mann Thomas Rauch das Gebäude behutsam saniert hatte, öffnete nach dem Klingeln und führte mich in die beiden mit einem Durchgang verbundenen Wohnräume im Hauptgeschoß. Weil auf den Dielen keine Teppiche lagen, wirkten die fünfundvierzig Quadratmeter noch größer als in der Erinnerung. Ich war auch wegen Fotos gekommen, und Beate Grentzenberg ermunterte mich, die Kästchen über der Schreibplatte eines Biedermeier-Sekretärs aufzuziehen. Dort fand ich die Aufnahme der Familie Julius Krumm, die Hermann Lenz in der Studie von 1942 aus dem Kopf beschrieben hatte (Vgl. Abb. 16) – sie fehlt in den ›Bildern aus meinem Album‹. Dann lagen beide Karten vor mir, die Emilie Feuerlein als Kammerzofe des Fürsten Orlow-Dawidow 1909 an Elise Krumm schrieb. Die Ansichten zeigen sie vor einem Heuhaufen oder mit Sonnenschirmchen, Federhut und langem Rock auf felsigem Gestein am Strand von Menton an der Côte d’Azur. (SL, S. 37) Ich erinnerte mich, daß das erste Foto im Notizbuch genannt und das andere in den ›Verlassenen Zimmern‹ beschrieben wurde. (VZ, S. 53)71 Auf der Fensterbank fand ich in einer Plastikhülle Dutzende von Paßbildern, die nicht mit den Serien aus der Staatbibliothek identisch waren; darunter lag ein unbekannter Artikel aus der ›Neuen Zürcher Zeitung‹. Der Satz »Ich wollte etwas zustande bringen, das die Zeit eindämmt und staut, als verwandle sie sich in etwas Festes, Helles und Durchsichtiges, ähnlich dem Bernstein«, ließ mich an die Antwort auf meine Karte mit der Astronomischen Uhr aus dem 14. Jahrhundert denken.72 (Vgl. S. 33) Barbara Hamm strich nach ihrer Ankunft in der Küche Butter über aufgeschnittene Brezeln, dabei erzählte sie, daß Hanne Lenz das Arbeitszimmer und die beiden zentralen Wohnräume mit Möbeln, allen Bildern und den Bücherregalen bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Sie plante eine Wohnung für Stipendiaten; auch Lesungen, welche die Erinnerung an das Werk wach halten sollten, wären beabsichtigt. Obwohl die Sanierung mit einer Garderobe in der ehemaligen Waschküche und einem Gästezimmer im Oktober 2011 abgeschlossen wurde, hatte es mit dem Gedenken nach der Grabsteinsetzung von Hanne Lenz erst eine Zusammenkunft gegeben – ich ahnte nicht, daß die Veranstaltung bis Ende 2016 die einzige bleiben und keiner der Stipendiaten dort wohnen sollte. Dann erwähnte Barbara Hamm das Geschick von Hanne Lenz, mit dem sie Honorare und Preisgelder vorteilhaft angelegt hätte, so daß die Stiftung über eine gute Grundlage verfüge. »Ein großes Problem sind die
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vielen Belegstücke unten im Keller«, sagte sie noch. »Wir wissen nicht, was wir mit ihnen machen sollen.« Beate Grentzenberg brachte zwei Ansichtskarten, die sie im Regal neben einem Buch von mir gefunden hatte. Ich bat, die Dokumente mit den Fotos einzuscannen. »Storm nannte sich selbstgefällig den ›letzten Lyriker‹; für mich und andere verkörpern Sie, auch wenn das peinlich klingt, den ›letzten Dichter‹«, hatte ich am 3. Oktober 1982 auf der Karte mit einem dänischen Wasserrad geschrieben. »Das Erdreich, in dem Sie wurzeln, ist uns lange vor den Füßen weggeschwemmt.« Heute wundere ich mich über diese Idealisierung, denn schon für Lenz war die Kultur von der Geschichte aufgelöst worden, so daß er sich mühsam aus Schnitzler und anderen Österreichern des Fin de Siècle einen eigenen Ton zusammenmischen mußte. »Sie meinen also, ich sei der ›letzte Dichter‹. Kurios und schmerzhaft mutet’s mich an, weil ich dann also auf einem absterbenden Ast sitze«, antwortete er am 10. Oktober. »Es lebt sich aber trotz allem, auch unter Schriftstellern, hier und dort recht vergnüglich, und die Leute, die Herrschaften und die Kollegen lassen es sich (sozusagen) schmecken.« Eine ähnliche Lebensbejahung spricht aus einem Brief an Hanne aus dem letzten Kriegssommer, der den Rückzug wie eine Urlaubsreise schildert: »Persönlich geht’s mir ja sehr gut, ich bin zum ersten Male im Krieg wieder am Bauch braun geworden wie in der Sommerfrische[,] weil ich im Freien mit der Schaufel gearbeitet habe und auch lange in der Sonne gelegen bin, nur mit einer zerrissenen ausgeliehenen Turnhose bekleidet. Das hat mir Spaß gemacht, ich konnte auch wieder baden in den litauischen Seen, an denen unsere Reise vorbeiführte.« (15.7.1944)73 Durch Peter Handkes ›Einladung, Hermann Lenz zu lesen‹, die vor Weihnachten 1973 in der ›Süddeutschen Zeitung‹ erschien, wurde der Schriftsteller erfolgreicher Teil des Literaturbetriebs. Lenz nannte im Roman ›Seltsamer Abschied‹ »die Wendung seiner Lebensbahn ›Eugens Erweckung‹« (SA, S. 277) und verglich sie mit der Rettung vor dem Tod im Krieg (SA, S. 275). Nach dem »Donnerschlag« (H, S. 54), durch den es »aufwärts« gegangen war (SA, S. 278), rückte er von der antimateriellen Haltung aus den fünfziger Jahren ab (Vgl. S. 43) und bekannte Handke gegenüber: »Lieber Peter, ja, immer berühmter werden, darauf kommt’s für uns wahrscheinlich an, freilich nur des Geldes wegen (am Leben hängen wir halt doch) und berichtete über den Raabe-Preis, denn »10 000 Mark Preisgeld sind nicht zu verachten.«74 Als Antwort auf die andere Karte mit der Frage nach der Begegnung Peter Handkes, hatte Lenz seinen Aufsatz über die Zusammenkünfte aus der ›Stuttgarter Zeitung‹ beigelegt – »weil man mich aufgefordert hat, schrieb ich’s auf«, fügte er hinzu. (26.5.1974) Über fünfundzwanzig Jahre hielten beide öffentlich und privat eine Folge gegenseitiger Belobigungen aufrecht, die erst mit dem letzten Brief von Hermann Lenz und Peter Handkes Grabrede ein Ende fand.75
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41 Hermann und Hanne Lenz mit Michael Krüger in Vicenza anläßlich der Verleihung des PetrarcaPreises an Tomas Tranströmer, 1981. Photographie von Isolde Ohlbaum
Durch den erfolgreichen Autor kam Lenz in die Hof haltung des »Medienfürsten« Hubert Burda, der sich als Mäzen platziert hatte76 und ihm für ein Handke porträt in der ›Bunten‹ 5000 Euro überwies.77 Lenz schrieb bewundernd an seinen jungen Befürworter: »Und ich denke an die Tafelrunde bei Hubert Burda wie an ein Zusammensein mit alten Freunden. Burda ist ein Geselligkeitsmeister und dies wahrscheinlich nur, weil er er selbst ist (etwas sehr Seltenes). Jeder, der da war, hat dazu gepaßt. So ist’s bei allen Deinen Freunden.«78 Der Autor, der bis dahin das Gefühl hatte, »nirgends dazuzugehören« (SA, S. 211), freute sich über das Gewinnen von »Freunden« (F, S. 106), wobei das Isolationsgefühl auf eine durch den Vater Franz Burda verursachte ähnliche Konstellation bei dem Verlegersohn traf.79 Beide wollten durch die Nähe zu »prominenten Herrschaften« (H, S. 88) das fehlende Selbstbewußtsein kompensieren. Zwar beteiligte sich Lenz gern an den Tafelrunden oder Kulturreisen (Abb. 41) und nahm 1987 in Asolo den Petrarca-Preis entgegen80, scheute sich aber nicht in den ›Freunden‹, den Medienunternehmer und seine Mutter durch Selbstäußerungen bloßzustellen.81 Auf einer Schiffstour entlang der türkischen Küste kann man Notizen einer als Köchin angeheuerten Studentin lesen: »›Der Mann ist schwierig, wie der sich benimmt…‹«. (F, S. 16) Weil Burda mit der sechsundzwanzig Jahre jüngeren Maria
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Furtwängler »›eine auffallend helle Person mit bekanntem Namen‹« in Aussicht hatte, wollte er sich von Kristina (»Mucki«) Göhner trennen – ihr Weinen sparte der Schriftsteller nicht aus. »›Mit der, die er jetzt noch hat, ist er seit zehn Jahren beisammen‹«, ließ er Hanne erklären.82 (F, S. 15) 1999 wurde aus dem PetrarcaPreis ein Hermann-Lenz-Preis, der nach dem Tod von Hanne 2010 wieder den alten Namen erhielt – die Jury von Peter Hamm, Peter Handke, Alfred Kolleritsch und Michael Krüger blieb die gleiche. Eine Gesellschaft traf sich an Orten, die nicht mehr im Leben Petrarcas, sondern in dem von Hermann Lenz eine Bedeutung erlangt hatten. Im David in Regensburg stellte an einem Donnerstagabend Mitte Juni 2000 Michael Krüger die etwa dreißig bis vierzig Gäste vor – vermutlich hatte mich Hanne Lenz auf die Liste gesetzt. Wegen des unsommerlichen Wetters verzichtete man auf die Dachterrasse mit Domblick und ließ im Restaurant einen langen Tisch decken. Das Lokal blieb an diesem Abend geschlossen. Krüger, der mir gegenübersaß, rief zu Alfred Kolleritsch herüber: »Nun, hat Dein Sohn die Matura gemacht?« Als der Verleger vom geplanten Germanistikstudium hörte, konnte er nicht mehr an sich halten und machte über das Fach zynische Bemerkungen, er verstünde gar nicht, wie man das ernst nehmen könne. Irgendwann stand Burda hinter mir und legte seine Hände auf meine Schultern: »So gut haben Sie noch nie gegessen«, sagte er. Am nächsten Tag wurde die Auszeichnung mit 15 000 Euro an Johannes Kühn verliehen, doch ich konnte wegen des Unterrichts nicht dabei sein und schloß mich der Gruppe erst wieder am Abend an. Auf dem Rasengeviert des gotischen Kreuzgangs der Minoritenkirche waren Stühle und Tische gestellt. Neben mir saß Ulrich Keicher, weil er drei Gedichtbände des Preisträgers verlegt hatte. Unser Blick ging über den Ziehbrunnen zum Schiff der Kirche, während Fackeln im Gras einen matten Schein auf die Gesichter von Burda und der Jurymitglieder legten. »Schön, daß wir hier bei Johannes Kühn und Irmgard und Benno Rech sitzen«, bemerkte Keicher. Samstag, nach Verleihung der Preise für junge Lyrik und des Hermann-Lenz-Stipendiums an Lutz Seiler, bestieg die Gesellschaft das Fahrgastschiff Agnes Bernauer und versammelte sich im Salon des Mitteldecks, wo vor dem Essen Getränke serviert wurden. »Johannes, lies mal ein Gedicht«, rief einer. Doch die meisten hörten nicht zu und unterhielten sich. In einer Ecke saß Marianne Koch und schrieb Rezepte. Als Kühn von derselben Stimme wieder aufgefordert wurde, legte Irmgard Rech ihre Hand auf seinen Arm. Hinter Straubing flogen Kormorane mit langgestrecktem Hals über das Wasser und landeten aufrecht, mit gefächertem Schwanz und vorgestreckten Füßen am Ufer, das aus kleinen Sandbuchten und Gebüsch bestand. Bevor sie wieder abheben konnten, mußten sie eine lange Strecke über die Wasseroberfläche laufen. Dann tauchten die beiden Türme der Benediktinerabtei von Niederaltaich auf. Burda hörte aufmerksam zu, als der
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Führer im Innenraum einige der 200 Einzelfresken von Andreas Heindl erläuterte. »Hubert ist eins mit der Kunst«, sagte ein älterer Übersetzer neben mir. »Er hat über Ruinenbilder des 18. Jahrhunderts promoviert.« An der Anlegestelle stand die Veranstaltungsmanagerin und sprach in ein großes drahtloses Telefon, vermutlich ging es um den Bus, der ab Deggendorf den Rücktransport besorgen sollte. Für den Abend hatte Burda Media in Kallmünz den Goldenen Löwen gebucht. Ich war zu einer privaten Geburtstagsfeier eingeladen, nahm aber am Sonntagvormittag an der Stadtführung teil, mit der die Zusammenkunft beendet wurde. Viele waren schon abgereist. Peter Morsbach stellte Gebäude vor, in denen Dichter gelebt hatten, während Eva Sixt aus den Werken las. »Wie war es denn in Kallmünz?«, fragte ich den Übersetzer. »Es wurde viel getrunken, aber eigentlich kann ich mir in meinem Alter so etwas nicht mehr leisten«, antwortete er und fand die Preisgelder im Vergleich mit den Ausgaben für das Drumherum »nicht großzügig«.83 In der Fürst-Anselm-Allee begann es zu regnen. Peter Handke, der stumm neben mir ging, bot ich an, unter meinen Schirm zu kommen, er müsse ihn aber halten. Mit den Worten »Unter Ihren Schirm gehe ich nicht« sprang er aufgeschreckt zur Seite. Vermutlich war es der einzige Satz, der dem Schriftsteller während der Zusammenkunft über die Lippen kam. Vor der Emmeramskirche hatte der Regen aufgehört. Vom Platz aus sah ich, wie er der hübschen Eva Sixt einen langen Kuß gab – beide standen vor dem Zugang zur Kirche wie auf einer Bühne. Wir gingen noch ein Stück zum rätselvollen Portal der Schottenkirche. »An die 70 kunsthistorische Deutungsversuche der Symbolsprache gibt es, keiner von ihnen ist endgültig schlüssig«, erklärte Morsbach. »Am ehesten handelt es sich um den Kampf zwischen Himmelreich und Antichrist.« Marianne Koch war die einzige, die mit mir in das Innere ging, wo sie ihre Hand auf die waagrechte Reliefplastik des Mönchs Rydan mit Schlüssel und Torbalken legte. Im Herbst 2015 ließ ich mir für die Spurensuche in der Staatsbibliothek noch einmal von Hermann Lenz die Notizbücher sowie seine Briefe an Hanne aus dem Krieg kommen und las erst jetzt das Prosastück ›Partisanen (Ein guter Fang)‹. Der Text wurde am 19. August 1942, wenige Tage vor dem ›Schwäbischen Lebenslauf‹, geschrieben und mit dem Propagandabericht ›Die kommen‹ bei einem Wettbewerb der Division eingereicht. Schon im Januar hatte Lenz ein verklärendes Porträt seines Kommandeurs für eine Ausschreibung der DivisionsFlugplatzstellung von Peterhof hergestellt. Über eine Episode aus dem Frankreichfeldzug heißt es im ›General‹: »Dann ging er durch den Graben und eine Granate schlug neben ihm ein; ein schwerer zackiger und noch warmer Splitter wurde ihm vor die Füße geworfen, den er auf hob. Er wog ihn nachdenklich in der Hand, zeigte ihm einem Unteroffizier, der mit verstörtem Blick und ganz zusammengekrochen herankam
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und sagte: ›Da sehen Sie, die hätte mich jetzt fast erwischt, den werde ich mir als Erinnerungsstück mit nach Hause nehmen.‹ […] Er sog dabei an der Zigarre […] und [ich] spürte seine Überlegenheit, während ich selbst verblüfft da stand… So habe ich den General gesehen während der zwei Jahre, die ich bei der Division bin.« (14.1.1942) Der Kommandeur, von dem »Freundlichkeit und Güte« ausging und der »auch etwas Kühnes, Heiteres« hatte, war Theodor Endres, der 1897 in die Bayerische Armee eingetreten war, 1931 unter gleichzeitiger Beförderung zum Generalleutnant in den Ruhestand verabschiedet und bei Kriegsbeginn mit dreiundsechzig Jahren reaktiviert wurde. Vermutlich war es die Herkunft aus dem Kaiserreich und das beinahe gleiche Alter mit dem Vater von Lenz, das die Nähe hergestellt hatte. Im Januar 1944 mußte die Heeresgruppe Nord die Belagerung von Leningrad aufgegeben – vom letzten Stationierungsort Tschudow zwischen Peterhof und Nowgorod zog sich die geschwächte 212. Infanterie-Division an die Narwa zurück, kam in Weißrußland zum Stehen und floh über Wilna [Vilnius] nach Alitten [Alytus], wo sie von der Roten Armee vernichtend geschlagen wurde. Die offizielle Auflösung erfolgte am 15. September 1944. Auf dem Truppenübungsplatz Schieratz [Sieradz] im Warthegau gliederte man die Überlebenden in die neu aufgestellte 212. Volksgrenadier-Division ein. Hier erhielt Hermann Lenz den Auftrag, eine »kurze Divisionsgeschichte« zu schreiben. Gleichzeitig verfaßte er »in 4 Stunden einmal geschwind ein paar ›Russische Miniaturen‹ […], die der Kriegszeichner unserer Division [...] illustrierte.« (An Hanne Trautwein 30.9.1944). In der Mannheimer Straße hatte sich die Schrift zwar erhalten, muß aber nach Auskunft von Beate Grentzenberg »im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Briefwechsels [Hermann und Hanne Lenz] an einen anderen Ort im Haus geraten sein.« (Mitteilung vom 29.1.2016). Die unpaginierte Broschur (Abb. 42), die Michael Schwidtal als Herausgeber der Briefe freundlicherweise als Kopie zur Verfügung stellte, ist dem neuen Divisions-Kommandeur Ritterkreuzträger Franz Sensfuß gewidmet und enthält sechs Episoden.84 »Man schaut sich selber zu, sieht die vielen Bilder 42 Titel
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der Erinnerung plötzlich scharf und klar werden wie in einem Film…«, notierte Hermann Lenz in der Einleitung. [S. 1] In der ersten Sequenz gehen »ein Soldat« und eine Wasserträgerin mit einem »Gestell über den Schultern, das aussieht wie ein Joch« in eine zerschossene Kaserne, »wo im Gang viele Bilder der Machthaber hängen«. Die Namen »Stalin« und »Marschall Woroschilow« stehen im Gegensatz zu »Dunja Fürstin Orlow«. So heißt die Frau, die sich in ihrer Stube mit einer Visitenkarte zu erkennen gibt: »›Das bin ich … vielmehr, das war ich einmal früher…‹«. [ S. 2 f.] Vielleicht übernahm Hermann Lenz den Namen von einem berühmten Adelsgeschlecht, das in der Nähe von Strelna bei Sankt Petersburg einen Landschaftspark mit einem Palast bauen ließ, oder er dachte auch nur an die Herrschaft, bei der Emilie Feuerlein als Kammerzofe gedient hatte. (Vgl. S. 52) »Julius [Krumms] Tochter Elise war auch da, frisch aus der französischen Schweiz vom Pensionat gekommen [...] Man sah die Familie des Grafen Orlow aus der Ferne an [...] und spürte einen Hauch der großen Welt,« heißt es in dem Prosastück ›Emilie‹ aus dem Notizbuch von 1942 über ein Treffen in BadenBaden.85 Die »feinen Züge« der französisch sprechenden Fürstin [S. 3] stellte Lenz eine »tiefe, stumpfe Gleichgültigkeit« russischer Gesichter [S. 5] gegenüber. Alle Begegnungen rücken das russische Volk nicht ohne Diskriminierung in einen Bereich, der »jedem westlichen Betrachter immer neue Rätsel« aufgibt. [S. 1] Die Kinder, die im Dorf »verschlagen und frech […] an den Zäunen« lehnen und einen aus »schmalen Augenschlitzen« mustern [S. 7], sind ebenso negativ besetzt wie die »heimtückisch und unheimlich in ihrer Verachtung […] gegen den Tod« kämpfenden Partisanen. [S. 5] In der Hälfte aller Episoden spielen sie eine Rolle. Der folgende Satz nimmt vermutlich Erfahrungen vom Sommer 1942 auf, wobei die Soldaten der 2. Stoßarmee zu Angehörigen irregulärer Streitkräfte verändert wurden: »Die Partisanen tauchen in der Erinnerung auf, die lange im Sumpfwald verkrochen lebten, bis ihre Hände durchsichtig und klein geworden waren vor Entkräftung, fast wie Kinderhände«. [S. 6] Anfang November 1942 meldete Lenz seinem Freund Wiegandt: »Wir schießen Partisanen ab« und erzählte von einem Mann, »der viele Kugeln im Bauch hatte« und mit der Bitte, ihn zu erschießen, »auf seine Schläfe deutete«; derselbe Brief erwähnt ein verwundetes Mädchen – es hatte ein »nagelneues Funkgerät bei sich« und bekreuzigte sich »in einem fort«. (5.11.1942, DLA) Beide Erlebnisse sind in die Propagandaschrift eingegangen. Die »fünf Schüsse ins Ohr« werden jetzt »hinter das Ohr« geknallt. [S. 5] Kommt hier Soldatenjargon zur Sprache, erscheint bei der jungen Frau eine abwertende Tendenz, wenn es heißt, daß sie das Funkgerät »noch im Tode […] voll kalter Berechnung« mit ihrem Körper bedeckt. [S. 6] Wie sehr die Broschur eigene Erfahrungen manipuliert, zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit einem Brief an Kasimir Edschmid vom 31. Oktober 1941: »Ich fragte einen Popen, der einen Gottesdienst in einer von den Kommissaren verwüsteten Kirche
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unterm Schutz der Deutschen gehalten hatte: ›Ist es jetzt nicht besser für euch, daß ihr jetzt wieder, da wir im Land sind, ungestört beten könnt‹. Er antwortet bloß: ›Was ist besser?‹« (DLA) Für die Broschur schrieb Lenz die Episode um: »Da schließt der alte Mann sein prunkvolles Gewand sorgfältig in den Kasten, kommt, jetzt ein kleiner und armseliger Bauer mit breitem Gesicht und Kalmückenaugen, auf den Soldaten zu und fragt, während er ihn scharf anschaut: ›Wer ist besser?‹ Dann geht er fort.« [S. 9 f.] Während der Brief eine Nähe beider Diktaturen andeutet, rücken die Miniaturen den Popen durch die »Kalmückenaugen« ins Fremde, wobei das Vertauschen von »Was ist besser?« mit »Wer ist besser?« die Antwort ins Persönliche verschiebt, um den unüberbrückbaren Gegensatz der Menschen »aus Westeuropa« zu »jedem Asiaten« hervorzuheben. [S. 8] Damit füllte Lenz ein Argumentationsmuster aus, das General von Küchler vorgab, der bei der Belagerung von Leningrad die 18. Armee führte. Am »Barbarossa-Tag« hatte er vor seinen Mitarbeitern den beginnenden Krieg in den Zusammenhang des jahrhundertealten Kampfes »seit Tschingis Khan« und den »asiatischen Horden« gestellt.86 Die Nähe zu dieser Ideologie scheuten andere Autoren, die nach Rußland abkommandiert wurden. Als ich 1979 Horst Langes ›Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg‹ nach München schickte87, wiederholte Lenz die mehrfach überlieferte Legende, er habe »nachts beim ›Hindenburg-Licht‹ im Bunker […] nichts von dem beschrieben«, was um ihn »herum vorging«. Ausdrücklich galt die Bewunderung dem Realismus des Tagebuchs und daß Lange »den Mut hatte, seinen Vorgesetzten als Schreibender gegenüberzutreten.« Er habe davon »lieber nichts gesagt, obwohl es sich schließlich auch nicht verheimlichen ließ.« (An Schäfer 28.12.1979). Daß Hermann Lenz anders als Horst Lange als Schriftsteller gegen Kriegsende der Macht nachgab, lag vermutlich an derselben Schwäche, mit der er seit seiner Entdeckung den Marktgesetzen folgte. (Vgl. S. 53) »Jetzt seh ich, daß viele Leute an meinem Zeug Geschmack finden können, sogar unser General. Er hat mich der ›Russischen Miniaturen‹ wegen sehr gelobt«, teilte Lenz nicht ohne Stolz Hanne mit, ebnete aber den Rang durch das Wort »Zeug« ebenso ein wie durch das Geständnis, daß die Episoden »abends geschwind hingeschmiert« wurden, »als die anderen im Kino waren.« (25.10.1944) Schon vorher hatte er sich gefreut, daß die in einer Woche hergestellte Divisionsgeschichte »von den verschiedensten Seiten gelobt worden ist.« (30.9.1944) Ob aber der Schriftsteller die nicht überlieferte Abhandlung ›Fünf Jahre im Westen und Osten‹ (NZ, S. 339) »wie eine Arbeit […] nach dem Krieg« (NZ, S. 341) verfaßt hatte, sollte durch den Fund der ›Russischen Miniaturen‹ in Zweifel gezogen werden. Während Hermann Lenz in der Kaserne 1938 und später an der Front kein von völkischer Propaganda freies Klima erlebte, machte Hanne Trautwein vor und nach dem Krieg in München zunächst andere Erfahrungen und erzählte Christian Fuhrmeister von Vorlesungen über Kunstgeschichte an der Universi-
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tät, die sich »völlig neutral« zur NS-Ideologie verhielten. Obwohl Hans Jantzen förderndes Mitglied der SS gewesen war und eine »Hakenkreuzfahne am Auto« hatte, konnte sie bei ihm noch im Sommer 1941 promovieren.88 Danach wurde die »Halbjüdin« Assistentin in der Kunsthandlung Weinmüller am Odeonsplatz, wo sie u. a. jüdische Raubkunst katalogisierte und auch später in der Wiener Dependance mithalf, das enorme Einkommen des Besitzers von 259 000 RM allein für 1943 zu erwirtschaften.89 Erfand Hermann Lenz an der Front Hofmannsthal in Rodaun90, konnte Hanne Lenz noch 1943 das Grab besuchen: »Es war im Herbst, am Tag von Allerheiligen, als ich von Wien aus hinaus fuhr, alle Straßen und Züge waren voll von Leuten, die Blumen und Kränze zu den Gräbern brachten und auch in dem kleinen Rodauner Friedhof waren alle Gräber aufgeputzt und Kerzen brannten. Allein das Grab von Hofmannsthal, oben, an der Mauer, war leer, nur der Mispelstrauch […] war da und viele Vögel, die von seinen roten Beeren aßen. Ich bin dann nach Kalksburg hineingegangen und habe mit Mühe eine Gärtnerei gefunden, die mir ein paar Blumen verkaufte, die ich dann hinbrachte, dunkelrote Chrysanthemen und Efeu.«91 Vermutlich im Oktober 1944 wurde Hanne Lenz als »Mischling ersten Grades« zur Zwangsarbeit in einem Straßenbahndepot verpflichtet, obwohl sich Adolf Weinmüller, der »so viele SS-Offiziere und hohe Nazi-Leute« kannte, um eine Freistellung bemüht hatte.92 In »zwei Trainingsanzüge« und darüber noch in einen »Monteuranzug« gekleidet »und Holzschuhe und um den Kopf einen langen dicken wollenen Schal« kam sie sich beim Schrubben der Trams in der Kälte »wie in die Unterwelt verbannt« vor; Hanne berichtete von Schikanen des Chefs und »von niederen feigen Subjekten mit verkniffenen Gesichtern«, erwähnte aber auch »ein paar nette einfache Leute […], die es gut mit uns meinen und uns das Dasein zu erleichtern suchen.« (An Hermann Lenz 16. und 26.11.1944) Die Zwangsarbeit wurde von der Angst begleitet, »es führe ein Auto vor und wir würden auch deportiert.«93 In seiner nach dem Krieg in Camp Forrest verfaßten ›Amerikanischen Rechenschaft‹ erzählte Hermann Lenz von einer »Herz-Krankheit« durch die »schwere Arbeit« und daß man Hanne »umkommen lassen wollte«, doch sie sei von einem Lazarett aufgenommen worden, wo sie »gut behandelt wurde. Sie schrieb mir noch im Februar [1945], daß sie einen Genesungsurlaub von acht Wochen erhalten habe.« Diese nur hier belegte Rettung in den letzten Kriegsmonaten scheint für eine »Halbjüdin« unwahrscheinlich, doch Lenz gab die Tatsachen vermutlich richtig wieder, denn er wollte sich Klarheit über seine Haltung verschaffen und gestand, den Bericht »in Anlehnung an ein großes Vorbild«, nämlich der ›Pariser Rechenschaft‹ von Thomas Mann, geschrieben zu haben. 94 In der ›Neuen Zeit‹ sparte er den Krankenhausaufenthalt aus und bemerkte nur:
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43 Kurt Trautwein (obere Reihe, 2. von links) mit Walther von Dyck (vorne rechts), Rudolf Diesel und Oskar von Miller (untere Reihe, 1. und 2. von links) auf dem Dampfer ›Amerika‹
»Treutlein Hanni war gerettet worden. Die hatte ihren Vater, und der war stark.« (NZ, S. 329)
Hannes Vater Kurt Trautwein, der im Roman »meistens finster« dreinschaut und »sein Auto geradezu mit Leidenschaft putzte« (NZ, S. 39), bekommt wegen der Universitätsphobie von Hermann Lenz »etwas Dämonisches«, weil er »als der fünfte Sohn des Schullehrers aus Dießen am Ammersee […] Hochschulprofessor« geworden war. (NZ, S. 41) Im ›Fremdling‹ ist Trautwein ein Anhänger Pawlows, der nachgewiesen hatte, »daß es nur körperliche Reflexe, aber keine Seele gab«, und wird von Rapp als »Atheist« verurteilt, nicht ohne den Hinweis: »Dein Vater aber, der ist gläubig…«. (EF, S. 271) Aus dem Historischen Archiv der Technischen Universität bestellte ich mir die Personalakte und erfuhr, daß Kurt Trautwein 1912, im Jahr seiner Hochzeit mit Marie Cohen, als wissenschaftliches Mitglied einer deutschen Studienkommission an einer Reise in die USA teilgenommen hatte. Das Deutsche Museum besitzt ein Foto, das ihn auf dem Dampfer Amerika u. a. mit Walther von Dyck, Oskar von Miller und Rudolf Diesel zeigt. (Abb. 43) Für seine Dissertation entdeckte Trautwein eine »neue Gruppe von Schwefelbakterien« und erforschte den »Stoffwechsel physiologisch
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außerordentlich gründlich,« wie der Leiter des Botanischen Instituts der Universität Würzburg Hans Kniep am 3. November 1921 bestätigte; im Zeugnis vom 14. Februar hatte es über den jungen Wissenschaftler geheißen: »Die Arbeit zeigt ihn als sehr tüchtigen Biologen, denkenden und geschickten Chemiker und gewandten Bakteriologen.«95 Nach der Habilitation ›Über Fortschritte auf dem Gebiete der Hefeforschung‹ wurde er im Dezember 1923 zum außerordentlichen Professor für chemisch-technische Analyse am Gärungsphysiologischen Institut Freising-Weihenstephan berufen, das an die Technische Universität München angegliedert war. Nach der Machtergreifung kam es in der Außenstelle durch ein Zusammenspiel von Kultusministerium mit nationalsozialistischen Studenten und Mitarbeitern zu umfangreicheren Säuberungsmaßnahmen als in der TU. Im Fall Trautwein versorgte sein Assistent das Ministerium mit belastendem Material. Im März 1933 habe er angeblich »den Verdacht, daß die Nationalsozialisten den Reichstag angezündet hätten« geäußert, und am 10. Mai soll Trautwein am Tag der Bücherverbrennung während der Rundfunkübertragung vom Münchner Königsplatz als einziger den Deutschen Gruß verweigert haben – schon für das Wintersemester entzog man dem »›marxistisch-pazifistischen‹« Professor die Lehrbefugnis, am 1. März 1934 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt und drei Jahre später nach dem neuen Beamtengesetz aufgrund der Ehe mit einer »Volljüdin« aus dem Staatsdienst entlassen.96 Bis 1935 konnte er durch Vermittlung Oskar von Millers noch am Deutschen Museum arbeiten, die Tätigkeiten und Verbindungen danach sowie die Umstände der Rettung von Hanne sind unbekannt. Im Rahmen des kriegsbedingten Einsatzes von Ruhestands beamten bewarb sich der Mikrobiologe 1943 vergeblich um eine Wiedereinstellung, wobei er sich über die Lage an der Front keine Illusionen machte. Am 27. Januar 1943, wenige Tage vor der Niederlage in Stalingrad, heißt es in einem Brief an Hermann Lenz mit einem Dank für ein Zigaretten-Paket: »Ich bin der Überzeugung, daß das furchtbare Drama einem Ende entgegengeht, vielleicht in einem schnellerem Tempo als man allgemein glaubt.«97 Doch Kurt Trautwein mußte noch drei Jahre auf die Rückkehr nach Weihenstephan warten. Im Juli 1946 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt und Ende des Sommersemesters 1949 als Leiter des Instituts für technische Mykologie an der Fakultät für Brauwesen in den Ruhestand verabschiedet. Im Todesjahr 1958 setzte der Wissenschaftler unter seine lebenslange pazifistische Haltung mit dem ›Appell der Vierundvierzig‹ gegen die Atombewaffnung einen spektakulären Schlußpunkt. Universitätsprofessoren vor allem aus den Bereichen Naturwissenschaft und Theologie warben mit ihrer Unterschrift für eine atomfreie Zone. Der von Renate Riemek angeregte Aufruf wandte sich an die Gewerkschaften und löste spontane und breite Reaktion aus, bei denen Kampfmaßnahmen »einschließlich der Stilllegung von Betrieben« nicht ausgeschlossen wurden.98
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44 Marie Cohen in der Mitte mit Dachauer Malern beim Picknick, um 1905
Kurt Trautweins Frau Marie Edith wurde in Manchester als dritte Tochter des Bankiers Gustav Gabriel Cohen geboren, der noch vor Theodor Herzl mit seiner Schrift ›Die Judenfrage und die Zukunft‹ für einen jüdischen Nationalstaat warb. Obwohl die Familie 1879 nach Hamburg übergesiedelt war, behielt Marie die englische Staatsbürgerschaft. Aus dem noch ungeordneten Nachlaß von Hanne Lenz machte mir Monika Köstlin Tagebücher zugänglich, die sie als empfindsame junge Dame des Großbürgertums zeigen und auch Dichtungen enthalten wie ›Weiß-Blau und Rot‹ und ›Irmgard’s Tagebuch oder die Leiden eines Mädchens‹. Wie Marie Cohen zur Malerei kam und warum sie nach dem Tod ihres Vaters 1906 die öffentliche Karriere abbrach, liegt im Dunkeln. 1905 veröffentlichte ›Ost und West‹ einen eindrucksvollen Artikel über die Fünfunddreißigjährige. Die ›Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum‹ hatte sich im Kontext einer von Martin Buber propagierten »Jüdischen Renaissance« der Dokumentation künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Leistungen zur Aufgabe gemacht – vor der Würdigung Marie Cohens brachte der Jahrgang u. a. einen Bericht ihres Schwagers Otto Warburg ›Über die zionistische Ostafrika -Expedition‹ und danach die Darstellung ›An den Ufern der Weichsel‹ von
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S chalom Asch. 1904 war in der gleichen Zeitschrift eine Erinnerung ihres Vaters an seine Freundschaft mit Theodor Herzl erschienen. Der Essay bezieht sich auf »einige Gemälde«, die der Jugendstilkeramiker Richard Mutz »soeben« in seinem Kunstsalon in Berlin an der Ecke Ludwigskirch-/ Uhlandstraße ausgestellt hatte. Der anonyme Verfasser bescheinigte Marie Cohen »eine große Beherrschung der Technik und eine bedeutende Selbständigkeit in der Auffassung und im Ausdruck«, den Schöpfungen müsse »eine emsige Arbeit im Stillen vorausgegangen sein.«99 Die »Arbeit im Stillen« fand in Dachau bei München statt, wo sich neben Worpswede die bedeutendste Künstlerkolonie in Deutschland angesiedelt hatte, doch die umfangreiche Literatur über den Malerort enthält kaum Spuren von Marie Cohen.100 Die Maler orientierten sich an Künstlern aus Paris, die in das Dorf Barbizon kamen, um unter freiem Himmel zu arbeiten. (Abb. 44) In der Kollektion bei Mutz gab es nur eine Darstellung vom Dachauer Moos, die anderen sechs zeigen einfache Menschen aus der Umgebung. »Ein weiches, zartes Helldunkel umschwebt all diese Bilder, aus denen die Gestalten wie traumumflossen auftauchen. Marie Cohen liebt nicht die scharfen, harten Umrisse; sie löst die Konturen in einem Spiel von Licht und Schatten auf«, heißt es in ›Ost und West‹. »Weit davon entfernt, im alltäglichen Sinne ›schön‹ zu sein«, ergreifen sie den Beschauer »durch den kummervollen oder resignierten Ausdruck, bald aber durch ein unbestimmbares Etwas«.101 In der Mannheimer Straße sind noch vier Gemälde vorhanden, darunter der ›Knabe aus Dachau‹ aus der Zeitschrift (Sp.184) sowie eins von Hanne mit achtzehn Jahren. Im Haus liegen Radierungen, die den Vater, ihren Ehemann sowie seine Segeljacht zeigen. (Vgl. S. 38) Beate Grentzen berg fand außerdem »neben der Kohlezeichnung einer alten Frau (signiert mit M. T.) ein Skizzenbuch aus einer Herbstwoche 1910, die Marie Cohen in Salò am Gardasee in der Villa Halkyone des damals bereits verstorbenen Dichters Otto Erich Hartleben verbrachte.« (Mitteilung vom 3.2.2016) Daß Marie Trautwein unter der Verfolgungen des NS-Systems leiden mußte, geht aus einem Brief von Hanne an Hermann Lenz hervor.102 Obwohl Deportationen »jüdisch Versippte« nicht unmittelbar bedrohten, machte sich die Familie Gedanken über die Umsiedlung in ein Arbeitslager. »Wir wußten nichts von Auschwitz und dem, was dort passierte«, erzählte Hanne Lenz in dem Radio-Interview und erwähnte die schwere Herzkrankheit ihrer Mutter. »Ich dachte, sie kann unmöglich in so einem Lager existieren, und ich bin jung und kräftig und habe gewisse handwerkliche Fähigkeiten, ich könnte ihr da sehr gut zur Seite stehen.«103 Marie Trautweins Schwester Ada war in Berlin mit dem jüdischen Geigenhändler Ernst Rée, dem Bruder des Nietzschefreundes Paul, verheiratet gewesen. (Vgl. S. 71) Als im Februar 1942 der Deportationsbefehl für sie und ihre Tochter Olga in der Mannheimer Straße bekannt wurde, bekam Hannes Mutter einen Herzanfall. »Nach einer furchtbaren Nacht haben wir sie gestern Morgen noch ins Krankenhaus gebracht. Sie hat
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dort Spritzen bekommen, aber es half alles nichts mehr und am Nachmittag um ½ 3 Uhr war es zu Ende«, berichtete Hanne an die Front. »Ich sitze die ganze Zeit in ihrer Stube und schaue auf das leere Bett und auf die Sachen, die sie vor wenigen Tagen noch benützt hat und kann es gar nicht fassen, daß sie nimmer da sein soll.« (An Hermann Lenz 26.2.1942) Als junges Mädchen hatte Marie Cohen nicht nur Edelweiß aus Zermatt (19.8.1889) oder ein Blatt vom Rütli (29.7.1889) in ihr Tagebuch geklebt, sondern auch einen Zeitungsausschnitt mit dem ›Aufruf für russische Juden‹ des reformierten Bischofs von Komorn Gabriel Pap: »Es ist, als wären die finsteren Geister des Mittelalters wieder hervorgedrungen aus jenen Grüften, in denen wir sie für immer begraben wähnten. […] Das menschliche Gefühl lehnt sich auf bei der Lectüre jener Leiden, Drangsalierungen und grausamen Verfolgungen, welche die Juden Rußlands ihres Glaubens wegen erdulden müssen. In nächtiger Zeit werden ihre Wohnungen überrumpelt, Unschuldige in den Kerker gezerrt, die heiligsten Bande des Familienlebens zerrissen, Gatten voneinander, Kinder von den Eltern getrennt.« (25.8.1891) Marie teilte damit die Sorge ihres Vaters, der 1891 im Hamburger Komitee zur Hilfe der aus Rußland geflüchteten Juden mitgearbeitet und über seine Erfahrungen im zweiten Teil der ›Judenfrage‹ berichtet hatte. Ihre ältere Schwester Bertha Anna heiratete damals den Tropen- und Kolonialbotaniker Otto Warburg, der 1911-1920 Präsident der Zionistischen Weltorganisation wurde und danach als Leiter der landwirtschaftlich-botanischen Versuchsstation in Tel Aviv den Grundstein für die Biowissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem legte. Als Hanne Lenz eine Ausgabe des utopischen Romans ›Altneuland‹ von Theodor Herzl mit einer Einleitung Otto Warburgs von Paul Celan geschenkt bekam, erinnert sie sich an Besuche des Onkels »bei uns in München, wenn er aus Palästina kam; seine Gestalt – auch äußerlich ganz orientalisch – umweht vom Geheimnis der Ferne, der Besonderheit, ein Mann, der halb im Hiesigen, halb im Östlichen zu Hause war, der fremdartige Geschenke brachte, die seltsam und doch vertraut waren, die mich auszeichneten vor den anderen Kindern.«104 Nach dem Krieg nahm Hanne Lenz Kontakt zum jüdischen Teil ihrer Familie auf. Um den Jahreswechsel 1948/49 besuchte sie für drei Wochen ihren Vetter Gustav Warburg in London, der als Chef bibliothekar der Wiener Library 1940 bis 1946 die Verfolgung der Juden durch das NS-System dokumentierte und danach als Referent für Außenpolitik bei der Anglo-Jewish Association arbeitete. Der jüngste Sohn Otto Warburgs fertigte das Handschriften-Gutachten von Hermann Lenz an (Vgl. S. 31), so daß Hanne ernsthaft zögerte, nach Stuttgart zurückzukehren. Bedeutsamer war der Aufenthalt im Herbst 1959 bei seinem älteren Bruder Edgar Warburg, der Hanne schon vor seiner Emigration
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45 Grabstein, Neuer Israelitischer Friedhof, München. Photographie von Isolde Ohlbaum, 2014
nahestand. »Er war ein ungeheuer belesener Mensch«, erzählte sie Patricia Reimann, der knapp zwanzig Jahre ältere Arzt sei »so etwas wie ein Bruder« gewesen. »Er hat mir Bücher geliehen und hat mit mir über diese Bücher geredet, ich verdanke ihm sehr viel.105 Zusammen mit seiner Frau betreute er als Mediziner den Kibbutz Kiriath Anavim in den judäischen Bergen westlich von Jerusalem sowie die Dörfer und Siedlungen der Region, durch die Edgar und Fanya Warburg die Besucherin mit ihrem Jeep fuhren. Nach der Reise gestand sie Paul
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Celan, die »drei Wochen« hätten das in ihr verstärkt, was immer in ihr gewesen sei. »Verkrustungen, Fremdes, angesintertes Mauerwerk« wären abgelöst worden. »Es fällt mir schwer, Europa, die Deutschen wieder um mich zu sehen.«106 Sie wäre am liebsten in Israel geblieben und sei in der Zwischenzeit noch öfter dort gewesen, erzählte sie in dem Radio-Interview, selbst »in der schwierigen Zeit der Intifada« habe sie sich dort »irgendwie zu Hause gefühlt.« Ausdrücklich hob Hanne Lenz die Kommunikation hervor, die anderen Regeln folgte, als in der Mannheimer- oder der Birkenwaldstraße; sie habe gemerkt, »daß das lauter Leute sind, mit denen ich mich gut verstehe. Wo ich gar nicht viel reden muß, wo alles, was ich sage, sofort richtig verstanden wird, und ich habe dadurch eine große innere Freiheit gefunden.« 107 Obwohl der Ehemann seit 1998 in München auf dem Alten Nordfriedhof begraben lag, wurde Hanne Lenz 2010 auf dem Neuen Israelitischen Friedhof beigesetzt. (Abb. 45) Mit dem Grabstein bekannte sie sich zu der in Israel gewonnenen »inneren Freiheit« und löste durch die Trennung der Ruhestätten die Simulation des Miteinanders zugunsten der Wahrheit auf, nicht ohne mit der gleichen Gestalt des Steins aus der Ferne eine Nähe in der Form herzustellen. (Vgl. Abb. 32) Die Inschrift von Hannes Grabstein ist hebräisch und deutsch und wurde dem Ritus folgend vierteilig gegliedert. Die oberste Zeile mit dem Davidstern in der Mitte enthält die Abkürzungen פund נfür » פה נקברתHier ist begraben« oder » פה נטמנתHier ist geborgen«. Darunter sind der Vorname הנחChanna und der des Großvaters גבריﭏלGawriel zu lesen, dazu kommt die Abkürzung von לברכה – זכרונהIhre Erinnerung sei gesegnet. In der dritten Zeile ist – נפטרהgestorben – vermerkt sowie für den Todestag das Datum des jüdischen Kalenders. Die Mitte gehört in lateinischen Buchstaben Titel, Vor- und Nachname sowie den Daten in arabischen Ziffern. Wie bei den meisten dieser Grabsteine findet sich am Schluß ein Segenswunsch mit der Abkürzung – תנצבהMöge ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebendigen, angelehnt an 1. Samuel 25, 26.108 Bei einem nichtjüdischen Vater ist der Ersatz durch den Namen des Großvaters traditionell.109 Das Foto zeigt, daß Besucher Steine auf den oberen Rand gelegt hatten, um symbolisch anzudeuten, daß man die Tote als »Tochter Gawriels« im Gedächtnis behalten hat. Weil Hanne Lenz nicht als Jüdin vergessen sein wollte, sorgte sie außerdem dafür, daß die beiden verschollenen Schriften ihres Großvaters über den Judenstaat an die Öffentlichkeit kamen, und setzte am Ende des Buchs sieben Jahre vor dem eigenen Ableben ihrer jüdischen Familie ein Denkmal.
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Eine Familienerinnerung an Gustav Gabriel Cohen von Hanne Lenz
Meinen Großvater, Gustav Gabriel Cohen, habe ich nicht gekannt. Ich wurde lange nach seinem Tod geboren. Aber das Bild, das ich von ihm habe, nach den Erzählungen meiner Mutter und meiner Vettern, die ihn noch als Kinder erlebt haben, ist so deutlich, als ob ich ihm selbst begegnet wäre. Er war eine Art Familien-Über-Ich, eine moralische Instanz. Alles, was man mich als Kind lehrte – über den Umgang mit den anderen Menschen, über das, was man zu tun oder zu lassen habe –, geschah sozusagen in seinem Namen. Noch heute frage ich mich in kritischen Momenten: Was hätte der Großvater dazu gesagt? Hätte er geschwiegen oder zur Seite geschaut? Hätte er etwas als »Lüge« bezeichnet – denn Lügen war ihm verhaßt? Ich sehe sein Bild vor mir, wie ich es von Photographien kenne. Ich sehe ihn als jungen Mann, zur Zeit seiner Brautwerbung und seiner Hochzeit, ein schlanker, eher kleiner Mann mit bräunlichem Haar und hellen Augen, mit einem Backenbart, der sorgsam gepflegt war, wie er überhaupt sehr auf sein Äußeres hielt, oft ‒ wie meine Mutter erzählte ‒ zweimal am Tag das Hemd wechselte, was damals etwas Ungewöhnliches war. In seinem Gesicht ist ein Zug von Selbstvertrauen, Lebenszugewandtheit ‒ später, als alter Mann, fehlt dieses Weltvertrauen, er wirkt aber sehr beherrscht, freilich auch etwas abwesend. Er stammte aus einer Familie von Cohens (Priestern). Er selbst hat sich in seiner Jugend wohl ganz von der Religion abgewendet, aber er erzählte seinen Kindern, daß ihre Vorfahren Rabbiner gewesen seien, daß die Familie ursprünglich am Oberrhein zu Hause war und erst später (wohl erst im 18. Jahrhundert) nach Hamburg kam. Im hebräischen Geburtsregister der Hamburger Gemeinde (62 b) ist aufgezeichnet, daß aus einer am 3.4.1783 geschlossenen Ehe eines Gabriel Joseph Cohn, genannt Cohen, drei Söhne hervorgegangen seien: Gerson (*24.2.1785), Josel (= Jekutiel, *6.2.1788) und Jakob (* 11.12.1789). Die Mutter hieß Buna, geborene Wertheim. Gerson, der älteste Sohn, wurde Zuckermakler und war ein guter Freund von Salomon Heine und auch von dessen Neffe Heinrich Heine, der ihn oft besuchte ‒ des guten Sabbatessens wegen, das es dort gab ‒ und auch über ihn schrieb. Josel ( Jekutiel), der zweite Sohn, war der Vater von Gustav Gabriel, der am 17.2.1830 geboren wurde. Seine Mutter, also Josels Frau, war Betty, geb. Levin. Es gab noch einen zweiten Sohn, Leopold, von dem ich nicht weiß, ob er älter oder jünger als Gustav Gabriel war. Er spielte in der Familiensaga die Rolle des »Verlorenen«, offenbar nach einer großen Auseinandersetzung zwischen den Brüdern. Gustav und Leopold zerrissen (wohl erst nach dem Tod der Eltern) alle Bande. Es wurde erzählt, daß Gustav Gabriel seinem Bruder Vorwürfe machte wegen irgendwelcher unsoliden Geschäftsgebaren, die diesem viel Geld gebracht hatten. Darauf verließ Leopold Cohen Europa, zog mit Frau
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46 Gustav Gabriel und Hanne Cohen, die Großeltern von Hanne Lenz, mit ihrer Tochter Ella in Glion am Genfer See
und Tochter nach Amerika, wo er sein Vermögen noch mehr vergrößerte. Nach dem Tod seiner Frau reiste er mit der Tochter von Ort zu Ort, immer in Hotels lebend, ohne dauernden Wohnsitz, aber sehr vermögend. In meiner Kindheit, als sich meine Eltern in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs oft mühsam durchbrachten, wurde zuweilen von der Hoffnung geredet, daß »Onkel Leopold« in Amerika das Zeitliche gesegnet habe und etwas von der Fülle des Hinterlassenen auf die armen Verwandten in Deutschland fiele. Aber es war eine vergebliche Hoffnung. Doch nun zurück zu meinem Großvater Gustav G. Cohen. Er muß als junger Mann sehr interessiert und begabt gewesen sein. Man schickte ihn aufs Johanneum, das berühmte Hamburger Gymnasium, was für Juden ungewöhnlich war. Er hatte nicht die Absicht, Kaufmann zu werden wie sein Vater Josel, von dem die einen sagten, er sei wie sein Bruder Gerson Zuckermakler gewesen, die anderen, er habe mit Goldwaren gehandelt. Er wollte Geschichte und Philosophie studieren. Als er ungefähr 18 Jahre alt war, erlitt sein Vater (angeblich durch ein Schiffsunglück) große finanzielle Verluste und sah sich außerstande, das Studium seines Sohnes zu finanzieren. Dieser mußte vorzeitig das Johanneum verlassen
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und eine kaufmännische Ausbildung beginnen. Er fuhr dann ‒ mit einem Segelschiff ‒ nach Südafrika, wo ein Onkel von ihm lebte, in dessen Geschäft er eintrat. Er handelte mit Baumwolle (Kattun), die damals gerade Hochkonjunktur hatte, so daß Gustav G. Cohen es bald zu Wohlstand brachte. Er wurde schon in jungen Jahren (Mitte Dreißig) und als Jude zum Vorstand der Handelskammer in Port Elisabeth gewählt. Um diese Zeit reiste er zurück nach Hamburg, um eine Frau zu suchen. Er fand sie auch sehr bald, ein junges Mädchen namens Hanne Dehn. Ihre väterliche Familie war aus Holland nach Deutschland gekommen, schon einige Generationen zuvor. Ihr Großvater, Abraham Isaak Dehn, war Rabbiner in Burgsteinfurth (Westfalen) gewesen, ein anderer Vorfahr, Abraham Meyer Cohen, starb in Hannover. Er stammte von einem Berend Cohen im Hamburg, der ursprünglich in Worms am Rhein gelebt hatte. Hat vielleicht dieser Cohen zur Familie von Gustav G. Cohen gehört, dessen Vorfahren ja auch vom Rhein stammen sollen ‒ so daß die Dehns und die Cohens schon früher miteinander verwandt gewesen sind? Die Mutter von Hanne Dehn, die kurz nach der Geburt (erst 22 Jahre alt) gestorben war, war eine geborene Melchior ‒ Hanne Melchior also ‒ aus der bekannten Familie Melchior in Kopenhagen. Zu dieser Familie Melchior bestanden auch später, für die Kinder von Gustav G. Cohen und Hanne Cohen-Dehn, enge freundschaftliche Beziehungen. Gustav G. Cohen scheint sofort gewußt zu haben, daß Hanne Dehn die Frau war, die zu ihm gehörte. Ein Verlobungsbild zeigt die junge anmutige Frau, die einen besonderen Charme gehabt haben muß, der ihr Leben lang angehalten hat, wie Verwandte berichten. Ihre Eltern, Vater Bernhard Dehn und seine zweite Frau (eine geborene Goldschmidt) fanden, daß ihre Tochter noch zu jung für eine Heirat sei (sie war 1843 geboren) und daß man noch zwei Jahre warten müsse. Gustav G. Cohen kehrte nach Afrika zurück. Zwei Jahre später fuhr er wieder nach Hamburg, heiratete Hanne Dehn und nahm sie mit sich nach Port Elisabeth. Zwei Töchter wurden geboren. Die Firma entwickelte sich vorzüglich. Da die junge Frau aber ungern in Südafrika gewesen zu sein scheint ‒ so fern von ihrer Familie, ihren Eltern und Geschwistern ‒ und wohl auch das Klima nicht vertrug, übersiedelte Gustav G. Cohen mit den Seinen nach Manchester (England). Er war schon einige Zeit zuvor englischer Staatsbürger. In Manchester, der Baumwollstadt, lebte er in einem Vorort High Banks (Didsbury). Die Übersiedlung muß etwa um 1869 erfolgt sein, denn Marie Edith, dritte Tochter des Paares und meine Mutter, wurde am 1. Mai 1870 in Didsbury geboren. Die Firma Cohens hieß ›Openshaw, Unna and Co., a Firm of Shippers‹, mit der Adresse 100 Portlandstreet, Manchester. 1878 entschloß sich Gustav G. Cohen, seine Firma in Manchester aufzugeben, sich vom Geschäfte überhaupt zurückzuziehen und nach Hamburg zu übersiedeln. Er wollte nun endlich ganz seinen Neigungen
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leben, den Interessen seiner Jugendzeit: Geschichte und Philosophie. Vermutlich arbeitete er daneben noch mit seinem erworbenen Vermögen. Wie meine Mutter erzählte, ging er fast täglich zur Börse und war dort eine bekannte Figur. Er baute sich in Hamburg ein schönes Haus, am Harvestehuder Weg, mit Blick auf die Alster. Es scheint ein nobles Haus gewesen zu sein. Noch heute steht es am Harvestehuder Weg (Nr. 53). Es besaß einen Rosengarten und eine Voliere, denn Gustav G. Cohen war ein großer Vogelfreund. Seine Frau Hanne war glücklich, wieder im Kreis ihrer Verwandten und Freunde zu sein. Sie und Gustav G. Cohen führten eine sehr gute Ehe, meine Mutter erinnerte sich nicht, jemals eine Mißstimmung zwischen den beiden erlebt zu haben. Nach meiner Mutter, der dritten Tochter, war ein Sohn geboren worden, Edgar Cohen. Man hatte ihn sich lange gewünscht. Später kam noch einmal ein Mädchen zur Welt, Ada Marianne. (Sie wurde eine berühmte Schönheit und heiratete einen Mann aus der bekannten Familie Rée, Ernst Rée.) Sie und ihre Tochter Olga Rée wurden 1942 von Berlin nach Riga deportiert und dort ermordet. Es gibt eine hübsche Photographie der fünf Cohen-Kinder. Gustav G. Cohen lebte seine Studien, er übersetzte aus dem Englischen (Thomas Carlyle) und schrieb für seine zweite Tochter Ella Esther, die kränklich war und die er selbst unterrichtete, ein Handbuch der Geschichte. Ella war wohl die einzige, die seine Interessen teilte, auch später, als er sich dem Zionismus zuwandte. Sie nahm an seiner Freundschaft mit Theodor Herzl teil. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs gelang es ihr noch, nach Palästina auszuwandern, wo sie ‒ in Haifa ‒ (vielleicht 1941) gestorben ist. Nicht lange, nachdem die Familie nach Hamburg gezogen war, erkrankte Edgar, der einzige Sohn, an Mittelohrentzündung. Es entwickelte sich daraus eine Gehirnhautentzündung, die man damals (ohne Penicillin) nicht heilen konnte. Das Kind starb unter schrecklichen Schmerzen. In der Nacht, da dies geschah ‒ so erzählte meine Mutter ‒ wurden die Haare ihres Vaters schneeweiß. Sie erkannte ihn kaum, als sie ihn am Morgen sah. Sie selbst war damals zehn Jahre alt. Nicht nur sein Aussehen veränderte sich, sondern auch sein Wesen. Etwas in ihm war zerbrochen, und etwas anderes entwickelte sich in ihm. Für ein paar Wochen zog er sich nach Westerland auf Sylt zurück. Er hatte ein Buch bei sich, das in diesen Jahren Aufsehen erregt hatte: ›Daniel Deronda‹ von George Eliot. Diese englische Schriftstellerin hatte sich ausgiebig mit jüdischen Fragen und jüdischer Geschichte beschäftigt und verarbeitete in ihrem Roman die Idee, daß nur ein jüdischer Staat in Palästina die Lösung des jüdischen Problems sein könne. Die Lektüre dieses Romans machte auf Gustav G. Cohen großen Eindruck. Sie bestärkte ihn in seinen eigenen Gedanken über dieses Problem. Er verfaßte einen Aufsatz ›Die Judenfrage und die Zukunft‹, in dem er forderte, daß die Gleichgültigkeit der meisten Juden gegenüber ihrer Herkunft und der Geschichte ihres Stammes verschwinden müsse, daß nur die Bildung eines eigenen Staates
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in der alten Heimat das jüdische Volk wieder stark machen könne und gefeit gegen alle Angriffe von außen. Diese Schrift ließ er 1891 drucken. Er schickte sie an Theodor Herzl, als dessen ›Judenstaat‹ erschienen war. Es entstand eine Freundschaft zwischen den beiden, die in Briefen und Tagebuchnotizen Herzls belegt ist. Einige Jahre nach der ersten Schrift, 1885, verfasste Gustav G. Cohen einen zweiten Aufsatz ›Drei Stadien‹, in der er die verschiedenen Stufen der Assimilierung beschrieb ‒ sehr gut beobachtet und oft sarkastisch kommentiert. Auch diese Schrift veröffentlichte er als Privatdruck. Beide Broschüren sind nur noch in wenigen Exemplaren vorhanden. Nach der Bekanntschaft mit Herzl suchte Gustav G. Cohen wohl verstärkt nach Menschen in seiner Umgebung, die seine Meinung teilten. Er gründete eine zionistische Gruppe in Hamburg. Es fanden sich aber auch Leute, die seine Ideen belächelten. Meine Mutter erzählte, einmal sei er in der Börse gewesen und habe gehört, wie andere Leute sagten: »Schaut, das ist der Mann, der will, daß alle Juden ins Heilige Land gehen.« Neben seiner zionistischen Arbeit, neben seinen Studien, war Gustav G. Cohen auch philanthropisch tätig. Einen beträchtlichen Teil seines Vermögens verwendete er für wohltätige Zwecke. Er gründete ein Blindenheim, das er auch selbst oft besuchte ‒ zu Festen, wie Weihnachten etwa (denn das Heim war nicht nur für Juden, sondern für alle Bürger gedacht). Er bekümmerte sich auch um einzelne arme Familien. Meine Mutter, die von früh auf ein starkes soziales Interesse hatte, begleitete ihn oft bei diesen Besuchen, schon als sie ein Kind war. Gustav G. Cohen hatte diese Interessen gemeinsam mit einem Onkel seiner Frau, Moses Melchior in Kopenhagen, der auch eine umfangreiche philanthropische Arbeit entfaltete. 1897 fuhr er als Vertreter der zionistischen Gruppe Hamburg nach Basel zum 1. Zionisten-Kongreß. Dort traf er Herzl, und ihre Freundschaft vertiefte sich. Tagebucheintragungen Herzls und Bilder, die ihn und Herzl zusammen mit Mandelstamm auf dem Balkon des Hotels zu den drei Königen zeigen, beweisen dies. Es entstand ein reger Briefwechsel mit Herzl, der zum Teil im Herzl-Archiv in Jerusalem erhalten ist. Diese Korrespondenz ging vor allem auch um die Gründung einer Bank der Jewish Company, der Jüdischen Nationalbank. Dafür holte Herzl den Rat Cohens ein und nutzte dessen Verbindungen nach England, denn der Sitz dieser Institution sollte London sein. Kurz vor seinem Tod schrieb Herzl an Cohen, er bitte ihn, ein Quartier in Hamburg für ihn zu besorgen, denn er wolle eine Kur in Blankenese machen. Zu dieser Reise aber kam es nicht mehr, Herzl starb am 3. Juli 1904. Gustav G. Cohen, der selber seit Jahren herzkrank war, fuhr zur Beerdigung nach Wien. Zwei Jahre später starb auch er. Er liegt auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben, ein Davidstern ist eingraviert in seinen Grabstein. Seine zionistische Arbeit setzte sein Schwiegersohn Professor Otto Warburg (1859-1938) fort, der Mann seiner ältesten Tochter Anna. Er ist in Hamburg geboren worden. 1892 wurde er Professor für Botanik
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in Berlin. Von 1911 bis 1920 war er der dritte Präsident der Zionistischen Weltorganisation. In den 20er Jahren hat er maßgeblich an der landwirtschaftlichen Kultivierung Palästinas mitgewirkt, u. a. als Leiter des Instituts für Botanik an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die Kinder Otto Warburgs arbeiteten ebenfalls für den Zionismus, Enkel und Urenkel leben in Israel. Hanne Lenz, geb. Trautwein Tochter von Marie Edith Trautwein, geb. Cohen geschrieben März 2003, München
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Signaturen Bayerische Staatsbibliothek Briefe Hermann Lenz an Hanne Trautwein BSB Ana 583 B.II.Suppl.1 Briefe von Hanne Trautwein an Hermann Lenz BSB Ana 583 B.IV. Suppl.1 Tagebuch BSB Ana 583 C.I.2
Siglen A AT BSB DLA EF
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Altersnotizen 1997-1998. Ausgewählt und herausgegeben von Hans Dieter Schäfer. Warmbronn 2014. Andre Tage. Roman. Köln/Olten 1968. Bayerische Staatsbibliothek, München. Deutsches Literaturarchiv, Marbach. Ein Fremdling. Roman. Frankfurt a. M. 1983. Freunde. Roman. Frankfurt am. M./ Leipzig 1997. Hermann-Lenz-Stiftung, München. Leben und Schreiben. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1986 (edition suhrkamp 1425). Neue Zeit. Roman. Frankfurt a. M. 1975. Schwäbischer Lebenslauf. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Dieter Schäfer. Warmbronn 2013. Stuttgart. Aus zwölf Jahren Stuttgarter Leben. Hrsg. Von Günter Beysiegel. Stuttgart/Zürich 1983. Tagebuch vom Überleben und Leben. Roman. Frankfurt a. M. 1978. Verlassene Zimmer. Roman. Köln/Olten 1966. Der Wanderer. Roman. Frankfurt a. M. 1986.
Anmerkungen 1 Die Welt Nr. 174 (16.7.1967) Die geistige Welt S. II; Nachdruck aus: Federlese. Ein Almanach des deutschen PEN Zentrums Bundesrepublik. Hrsg. von Benno Reifenberg und Wolfgang Weyrauch. München 1967, S. 104-107; das Prosastück erschien unter dem Titel »Er hatte Mörike noch gekannt« bereits in: Süddeutsche Zeitung Nr. 300 (15./16.12.1956), Feuilleton [S. 45]; vgl. auch Begegnung mit Mörike. In: Stuttgarter Zeitung Nr. 52 (2.3.1963) Die Brücke zur Welt, S. III. Zitiert nach Hermann Lenz: Hotel Memoria. Erzählungen. Frankfurt a. M. 1990, S. 38-42 (Insel-Bücherei Nr. 1115), dort S. 42 die Entstehungszeit mit 1956. 2 Vgl. [PDF] Der Große Rosenkäfer ist vom Aussterben bedroht. Heute ist auch der Gemeinen Rosenkäfer gefährdet, wie Wilhelm Barthlott bezeugte: »Der Holunder in meinem Garten blüht unverdrossen, die einstmals alltäglichen Rosenkäfer und Feuerstehler meiner Kindheit habe ich seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Umweltgifte wie Pestizide, Herbizide und Dünger sind die Ursache: heute unverzichtbare Chemikalien für unsere globale Ernährung. «(Mitteilung vom 6.6.2015) 3 Über das Verschwinden von Außenseiter und Textur durch das Universum technischer Bilder vgl. Hans Dieter Schäfer: Avantgarde als Werbung und Geste der langen Fünfziger
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Jahre oder Hölderlin im Turm. In: Ders., Das Gespaltene Bewußtsein Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erweiterte Neuausgabe. Göttingen 2009, S. 275-277 (Mainzer Reihe Neue Folge, 8). 4 Das Atelier in meinem Innern. Autorenporträt. Hermann Lenz. In: Die Welt Nr. 87 (12.4.1973) Welt des Buches S. VIII, auch in: Einladung, Hermann Lenz zu lesen. Hrsg. von Rainer Moritz. Frankfurt a. M. 1988, S. 30-32 (suhrkamp taschenbuch 2092), hier S. 32 schon der Hinweis auf ein »unfreiwilliges Gedächtnis«. 5 Ansprache 25.2.1993. Kulturreferat und Bayerische Akademie der Schönen Künste. Hilde brandhaus München; vgl. die zusammen mit Thomas Reche herausgegebene kleine Festschrift ›Hermann Lenz zum 80. Geburtstag‹ Passau 1993 mit Beiträgen u. a. von Hans Bender, Paul Celan, Gottfried von Einem, Peter Hamm, Ludwig Harig, Harald Hartung, Wulf Kirsten, Eckart Kleßmann, Michael Krüger, Albert von Schirnding, Erwin Wickert und Bernhard Zeller. 6 Die Tagebücher vom 20.11.1946 bis 10.5.1968 sind nicht erhalten, außerdem gibt es Lücken vom 10.6. bis 16.12.1972, vom 13.1. bis 7.11.1977, vom 29.6.1983 bis 15.9.1985 sowie vom 9.8.1986 bis 9.6.1988; 1989 bricht die Überlieferung noch einmal ab und setzt mit dem 14.6.1993 wieder ein. 7 Schwäbischer Lebenslauf. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Dieter Schäfer. Warmbronn 2013; Altersnotizen 1997-1998. Ausgewählt und herausgegeben von Hans Dieter Schäfer. Im Wendebuch zusammen mit Hans Dieter Schäfer: Das unfreiwillige Gedächtnis. Warmbronn 2014. 8 Die Notizbücher der Mutter enthalten u. a. eingeklebte Ausschnitte aus Zeitungen oder Kalendern, Losungen wie »Hüte dich und sei stille! / Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir« sowie erbaulichen Zitate z. B. von Marc Aurel, Tersteegen, Shakespeare, Goethe oder Grillparzer (BSB Ana 583.C.I.3 1940-1943), vgl. auch das ›Notizbuch meiner Mutter Elise geb. Krumm im sogenannten ›Dritten Reich‹‹ (BSB Ana 593 C.VII.3.8); außerdem: »Jeden Tag schrieb sie in einen Kalender, wie das Wetter gewesen und was ihr begegnet war. Einmal nahm sie ihn zur Hand und las ihm daraus vor: ›Eugen benimmt sich mir gegenüber falsch.‹ Das war vorgestern gewesen. Sie schrieb sorgfältig und genau.« (SA , S. 9) 9 Vgl. aus der Perspektive der Schwester: »Der Vater hatte Cleversulzbach abgezeichnet und für Eugen ein Aquarell gemacht, das jetzt in seiner Stube hing, oben unterm Dach. ›Der hat’s besser gemacht als ich.‹ / So etwas gab es also hier in Stuttgart: der Vater zeichnete Mörikes Dorf, und der Sohn machte ein Gedicht auf Mörike: sehr altmodisch...«. (AT, S. 59) 10 Nach einem Hinweis von Petra Plättner könnte es sich wegen der Kopf haltung um die Reproduktion eines Photos von Robert Walser handeln, das Paul Hans Renfer 1899 aufgenommen hat. 11 Das Porträt von Arno Schmidt L+S, S. 155-167, bes. S. 156, der Autor habe einen »Panzer umgeschnallt«, um sich »die Grobiane rings vom Leib zu halten«, ferner S. 59, S. 82 und folgendes Bekenntnis: »Arno Schmidt ist aber kein Avantgardist, kein Progressiver, der hat sich bloß sein Sprachgewand witzig und grotesk herausgeputzt und seine menschenverachtende Clowns-Phantasie spielen lassen. An alledem freue ich mich heute, habe meinen Spaß daran, obwohl mir seine Spätwerke allzu spielerisch geworden zu sein scheinen und ich zu faul bin, seine orthographischen lautmalerischen Anspielungen ins Zugängliche, Verständliche herunterzuziehen. […] Grundsätzlich aber bin ich ihm immer noch treu, lese mal wieder ›Die Umsiedler‹ in der Erstausgabe von 1953 usw.« (An Schäfer 28.12.1979) 12 Schäfer (Anm. 3), S. 292. Vgl. Hermann Lenz: »Letzlich ging es ihm nur darum, seine Klause, die Dachstube, nicht zu verlassen.« (T, S. 277)
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13 Vgl. das Tagebuch vom 6.9.1939 (Tagebücher 23.6.-28.11.1946, [1939]); der Begriff »geheiligte[r] Raum« im Brief Hanne Trautweins an Hermann Lenz 8.8.1942. 14 Jean Firges: Der Pietismus im deutschen Südwesten. Sonnenberg 2005, S. 66. 15 Eduard Mörike: Verborgenheit. In: Eduard Mörike, Gedichte. Auswahl und Nachwort. von Bernhard Zeller. Stuttgart 1977, S. 65 (Reclam UB 7661). 16 Nach Norbert Hummelt (Im stillen Haus. Wo Hermann Lenz in München schrieb. Mit Fotografien von Isolde Ohlbaum. München 2009) war der Vater von Hermann Lenz Stadtkommandant in Nancy gewesen (S. 30), was unwahrscheinlich ist. Vgl. aber ›Neue Zeit‹, nach dem der Vater 1941 in Nancy mit einer »geschickte[n] Begründung […] seinem General« gegenüber die Erschießung »eines sogenannten Partisanen« verhindert (S. 126) und mit dem Eintritt in den Ruhestand die Beförderung zum Oberstleutnant erhalten haben soll. (S. 254) 17 Der Vater las nach dem Nachtessen der Familie aus der Bibel vor, z. B. Psalm 121: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt.« (Tagebuch 2.11.1929) Vgl. »Später [...] war der Vater mittags heimgekommen und hatte gesagt: ›Heut früh bin ich den Eckartshaldenweg hinuntergegangen, und da ist drüben die Sonn’ aufgegangen wie in dem Choral: ›Morgenglanz der Ewigkeit / Licht vom unerschaffnen Lichte.‹‹« (EF, S. 146) 18 BSB Ana 583 C.II.6 Diverse Schriftstücke; vgl. die Zeichnung eines Revolverumrisses mit der Inschrift »ich hab ja auch keinen Erfolg« auf dem Programm der Mainfränkischen Gaukulturwoche, Tag der Musik Würzburg 28.9.1937, daneben: »Das ist die Selbstmordpistole des Dichters Hermann Lenz.« Ebd. 19 Hermann Lenz: Bilder aus meinem Album. Frankfurt a. M. 1987 über die Mütze, »die ich mit dem Fuß aus dem Schnee der Straße gekratzt habe […]«. (S. 21) 20 William Lubbek/David Hurt: Counteratack at the Volchov. In: Dies., At Leningad’s Gates. The Combat Memoirs of a Soldier with Army Group North. Philadelphia u. a. 2006, S. 221-223. 21 Wilhelm Lehmann: Entstehung eines Gedichts. In: Ders., Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 6 Essays I. Hrsg. von Wolfgang Menzel nach Vorarbeiten von Reinhard Tgahrt. Stuttgart 2006, S. 225. 22 Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Hrsg. von Harald Steinhagen und Jürgen Schröder. Wiesbaden und München 1977-1980, S. 377 f. (18.1.1945). 23 Die junge Front. Gedichte junger Soldaten. Hrsg. von Georg von der Vring. München 1943, S. 50; jetzt in: Zeitlebens. Gedichte 1934-1980. München 1981, S. 49. 24 BSB Ana 583 C.II.17 Ärztliche Unterlagen. 25 Vgl. das Gespräch mit Patricia Reimann, das am 3. Juni 2004 auf Bayern2 Radio gesendet wurde: Modell für den großen Roman. Hanne Lenz über ihr Leben mit Hermann Lenz. Manuskript Bayerischer Rundfunk Kulturkritik, S. 21: »Aber ich habe dann gemerkt, daß ich sehr gut leben kann, ohne zu schreiben, während man das von meinem Mann nicht sagen konnte. Er hätte nicht leben können, ohne zu schreiben. So habe ich darauf verzichtet, denn ich wollte nicht in einen Konkurrenzkampf mit meinen Mann treten.« 26 Cornelia Dehn: Das Nachtkarussell. Erzählungen. Ulm 1946; noch zu Lebzeiten Hannes gab Rainer Moritz 2005 im Verlag Ulrich Keicher einen Teildruck heraus. Das Pseudonym setzt sich aus dem Namen der Großmutter [Hanne] Dehn und dem Spielnamen zusammen, den Hanne Lenz im Umgang mit dem Ehepaar Wiegandt erhielt. Die schriftstellerischen Wünsche Hannes wurden Hermann Lenz von Jörg Kastl übermittelt, wie aus einem Brief an Hanne Trautwein hervorgeht. (25.10.1944) 27 Auf die Frage von Norbert Hummelt (Anm. 16) an Hanne Lenz, ob ihr Mann »abends schon vorlas, was er am Tag Neues geschrieben hatte«, antwortete sie im Mai 2007 oder im
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April 2008: »Überhaupt nicht. Außer ganz am Anfang, wie wir geheiratet haben, da hat er vielleicht ein paarmal, aber nicht mehr als drei-, viermal vorgelesen, aber später überhaupt nicht mehr […], dann sind die Fahnen gekommen, und erst dann hab ich’s gelesen« (S. 36) 28 Reimann (Anm. 25), S. 28. 29 »Hanne sucht Eier im Kühlschrank und vermutet, ich hätte diese genommen! – !«, heißt es am 1. März 1959, und am 6. März: »Streit mit Hanne. […] ›Du hängst Dein Maul in alles‹, sagte sie zu mir. – –!!– –« (BSB Ana 583 C.VII.31 Lebensdokumente Mutter Elise Lenz). Vgl. auch Taschenkalender Johanna Lenz 5. 5. 1953: »Dem ganzen Tag geärgert über Mutters Vorwürfe, sehr unglücklich und verstimmt geworden.« (BSB Ana 583 C.I.1) 30 Reimann (Anm. 25), S. 28. 31 BSB Ana 583 C.II.18 Lebensläufe. 32 Volker Hoffmann: Nachwort. In, Adam Bernd, Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973. Angeblich stehen die »ausgeprägte Egozentrik« (S. 405) und »die zu keinem Ergebnis führenden Erinnerungszwänge« (S. 426) in Zusammenhang mit der Mutter, die mit ihrer strengen Erziehung eine Schwächung geschaffen, aber gleichzeitig ein »Palliativ gegen die aggressiven Regungen und [...] Ängste vermittelt« habe: »Kirchenlieder, ›Macht- und Trostsprüche‹ aus der Bibel und Erbauungsliteratur werden [...] ein Zaubermittel, verpönte Impulse zu beschwichtigen bzw. auf erlaubte Weise abzureagieren.« (S. 404) 33 Siegmund Freud: Zwangshandlungen und Religionsübung. In: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 7. London 1955, S. 130. 34 Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. München 1975, S. 137; Zwänge können »mit geradezu dämonischer Macht ein Eigenleben führen«, um »sich, auf andere, bisher noch nicht von ihn[en] ergriffene Gebiete auszudehnen« (S. 115); der Kranke mußte »von der Kindheit an« Affekte »unterdrücken«, die »bestraft« oder mit »Liebesentzug« beantwortet wurden. (S. 123) Andere Forscher sehen die Ursache in »strenge[r] Erziehung« und »überzogene[n] Sauberkeitsanforderungen«. Vgl. Otto Benkert und Martina Lenzen-Schulte: Zwangskrankheiten. Ursachen – Symptome – Therapien. München 4 2004, S. 84. Über den Sauberkeitsexzeß der Mutter vgl.: »[…] jetzt aber sammelt sie jeden Löffel Sauce, kratzte Teigreste eines Kuchens mit einem gelben und vorne runden Schaber aus Zelluloid von der Aluminiumwand einer Schüssel ab und war so arg gewissenhaft, so pünktlich und genau und sauber, daß sie, die Junge, manchmal aus der Küche gehen und sich draußen schütteln mußte.« (AT, S. 92 f.) Weil Lenz das als Zurückweisung empfundene Verhalten der Eltern bemäntelte oder nur bruchstückhaft wahrnehmen wollte, fand er nicht aus dem Elternhaus. An Hermann Kasack schrieb er nach dem Tod des Vaters: »[...] aber froh bin ich, bis in sein letztes Lebensjahr bei ihm gewesen zu sein. Mit meinen Eltern habe ich Glück. Und zum Glück ist noch die Mutter da.« (23.4.1965, DLA). 35 Tagebuch 11.3.1972-19.6.1972, auf Vorderseite über Anschrift mit Datum 11.5.1972 notiert. 36 Hans Dieter Schäfer: Verteidigung des Lebens durch Poesie. Über die Moderne von Klopstock bis Benn. Stuttgart 2011, S. [3]-4 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Klasse Literatur). 37 Zur Selbstisolierung und zum unkontrolliertem Schreiben von Schmidt und Celan vgl. Schäfer (Anm. 3), S. 292 f. und 297. 38 Büchner-Preis-Reden 1972-1983. Mit einem Vorwort von Herbert Heckmann. Stuttgart 1984, S. 118 (Reclam UB 8011). 39 Die »ewige Selbstbespiegelung« (an Herbert Wiegandt 24.12.1947, DLA) und ein »lädierte[s] Selbstwertgefühl« (an Hanne Trautwein 18.1.1944) scheinen sich zu bedingen.
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40 Paul Celan, Hanne und Hermann Lenz: Briefwechsel. Hrsg. von Barbara Wiedemann in Verbindung mit Hanne Lenz. Frankfurt 2001, der Begriff »wertbeständig« über ›Sprachgitter‹, S. 113 (25.3.1959). 41 Ebd. S. 106 (11.8.1958). 42 August Langen: Der Wortschatz des Pietismus. Zweite, ergänzte Auflage. Tübingen 1968, S. 156; Henkel »Heute Morgen… bin ich ziemlich betrübt und dürre im Gemüth aufgewacht, darauf ich mich dann alsobald zu meinem Hertzen inwärts gekehret, und Christentum gesuchet, und auch endlich gefunden«; S. 152 Goethe ›Werther‹ und S. 461 Goethe ›Tagebuch‹ »stund inwärts gewendet wieder auf.« 43 naturspaziergang.de/Kaefer/Carabidae/Carabus_auronitens.htm sowie landesmuseum. at/fileadmin/user_upload/…tier/05_2006 pdf. 44 Vgl. die Szene aus der Erstfassung vom ›Stillen Haus‹, in der sich der Erzähler und seine Schwester Margit auf dem Dachboden Briefe schreiben. Nachdruck aus der ›Neuen Rundschau‹ 49 (November 1938) S. 450-469 in: Am Rande der Nacht, Moderne Klassik im Dritten Reich. Ein Lesebuch herausgegeben von Hans Dieter Schäfer. Frankfurt a. M./ Berlin 1984, S.76-95, hier S. 84 (Ullstein Buch 34212). 45 Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Hrsg. von Axel Vieregg. Bd. 1 Frankfurt a. M. 1991, S. 63; dort kein Nachweis des Erstdrucks im 1. Aprilheft der ›Dame‹ 1939, das Gedicht ist auch im Notizbuch verzeichnet. Lenz wies mich auf die bis 1938 von Herbert Bayer gestaltete Zeitschrift ›Die neue Linie‹ hin, die im Märzheft 1943 von ihm das Gedicht ›Gedenkblatt‹ brachte. Vgl. ›Zeitlebens‹ (Anm. 23), S. 46 f. 46 Neu-Amerika. Zwanzig Erzähler der Gegenwart. Hrsg. von Kurt Ullrich. Berlin 1937. 47 Im Schloß befand sich das evangelische Landes-Schullehrerseminar, an dem der Vater seit 1912 Unterricht gab. Die Zeichnung ist abgebildet auf dem Schutzumschlag von: Die Begegnung. Roman. Frankfurt a. M. 1979. 48 Vgl. ›Erinnerung an Wilhelm Lehmann‹. In: Hans Dieter Schäfer (Hrsg.), Wilhelm Lehmanns Stimme und Echo. Göttingen 2005, S. 49-55 (Sichtbare Zeit. Journal der WilhelmLehmann-Gesellschaft 1). 49 Spiegelhütte. Köln/ Olten 1962, S. 126. 50 Monat 23 ( Januar 1971) S. 107, über den Roman ›Der innere Bezirk‹. Neben dem Porträt (Anm. 4) schrieb ich Hinweise auf die Erzählung ›Dame und Scharfrichter‹ (Hessischer Rundfunk 25.3.1974 und Die Welt Nr. 135 [13.6.1974], S.2) sowie den Roman ›Neue Zeit‹. (Neue Rundschau 86 [1975] S. 513-518). Daß die folgenden Bücher von mir unbesprochen blieben, lag nicht nur an dem wachsenden Ruhm von Lenz, sondern weil ich 1977 die journalistische Arbeit einstellte. Am 14. und 21. Mai 1979 hielt ich auf Einladung der Buchhandlung Atlantis und der Regensburger Volkshochschule vor einer Lesung des Schriftstellers eine vierstündige Einführung in das Werk. 51 Über Fiktive Erinnerungen. Nachwort Wilhelm Lehmann. Darmstadt: Bläschke [1968] (Das Neueste Gedicht 31) notierte Hermann Lenz: »Mir fällt auf, daß in den Gedichten Erfahrungen mit Gegenständen (›Die weißen Trauben im Stuck / Erinnern an tiefere Zeiten‹) in einen nicht beschreitbaren Bezirk verschoben werden und Patina bekommen und auf etwas Anderes, bisher Unbekanntes hinweisen.« (9.7.1968) 52 Thomas Mann: Briefe 1948-1955 und Nachlese. Briefe Band 3. Hrsg. von Erika Mann. [Frankfurt a. M.] 1965, S. 292 (19.4.1953). Im Thomas-Mann-Archiv liegt neben einer Kopie die einer maschinenschriftlichen Abschrift mit dem Vermerk von Hans Reisiger, das Original sei Hermann Lenz geschenkt worden. (Mitteilung Gabi Hollender vom 15.2.2016, ThomasMann-Archiv an der ETH -Bibliothek, Zürich).
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53 Kurz vor dem Treffen hatte ich geschrieben: »Um Erfahrungen zu machen, war es für mich wichtig, Karriere, Geld usw. aufzugeben. Die Gefahr dieser Rückzüge besteht freilich darin, daß man VERSTEINERT und schließlich so wird wie die Zeit, gegen die man vorgibt, zu rebellieren. Im letzten Brief deutete ich an, wie viel schwerer es unsere Generation hat, ›unabhängig‹ zu sein. Ständig ist die Balance bedroht, die Beziehungen tragen nur schwer und ohne äußere Halterungen durchzustehen und nicht in Sentimentalität zu vergleiten oder zum Zyniker zu werden – ein Kunststück wie im Zirkus oder auf dem Geländer der Steinernen Brücke.« (4.3.1981) 54 Zeitlebens (Anm. 23), S. 108-109. 55 Gustav Gabriel Cohen: Das Ideal des eigenen Staates. Zwei Schriften aus den Anfängen des Zionismus. Mit einem Beitrag von Hanne Lenz. Herausgeben und eingeleitet von Daniel Hoffmann. Berlin 2003. 56 Im Gespräch mit Patricia Reimann (Anm. 25) räumte Hanne Lenz ein: »Ich kann sie betrachten, wie irgendeine andere Romanfigur, denn Dinge, die mich besonders beschäftigen, die sind bei der Treutlein Hanni nicht zu finden. Die ist in vielen Dingen auch anders als ich.« Auf die Frage: »Was sind das für Dinge?«, reagierte Hanne Lenz mit den Worten »Kann man das weglassen?«( S. 18) 57 Frankfurt a. M. 1979, S. 183; siehe auch: »Hinter deiner Haut liegt ein Bezirk, der dir allein gehört; davor dehnt sich die Fremde.« (AT, S. 189) Die Tafel gehört zu einem poetischen Lehrpfad, den die Stiftung eingerichtet hat. Vgl. Stadtverdichtung Stuttgart. 29 Texttafeln als Postkartensatz. Stuttgart 2004. 58 Im Tagebuch vom 2. Januar 1930 schilderte Lenz einen Besuch im Schillermuseum vom 21. Mai des Vorjahres, wo er nicht nur an den »Originalhandschriften« Freude fand, sondern auch »an den feinen Zeichnungen dieses Dichters« und »an seinem Schreibzeug«. ( BSB Ana 583 C.I.2 Tagebuch 1929/30, S. 179) Ulrich Keicher verdanke ich den Hinweis auf die Ansprache von Hermann Lenz zur Eröffnung der Sonderausstellung 1981 im Schiller-Nationalmuseum ›»… in Dichters Lande…«‹, die eine längere Passage über Mörike während eines Besuchs in Marbach am 29. Juni 1929 enthält – das erste Mal war er als Vierzehnjähriger mit der Schulklasse dort. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft (1981) [S. 525]-527. 59 Hans Dieter Schäfer: Kultur als Simulation. Das Dritte Reich und die Postmoderne. In: Frank Lothar Kroll/ Rüdiger von Voss (Hrsg.), Schriftteller und Widerstand. Facetten und Probleme der Inneren Emigration. Göttingen 2012, S. 400-404. 60 Ulrike Edschmid: »Wir wollen nicht mehr darüber reden.« Erna Pinner und Kasimir Edschmid. Eine Geschichte in Briefen. München 1999, S. 19; am 13. November 1935 hatte Edschmid für die Trennung nach zwanzigjährigem Zusammenleben den »barbarischen Terror« und die »Ideen von Narren und Wahnsinnigen« verantwortlich gemacht. (Ebd.). 61 Stuttgart 21952. »Nun fing meine Mutter unten an zu spielen, und ich hörte es in meinem viel zu großen Bett. […] Ich war glücklich, das selige Wiegen der Melodie […] streifte mich im Liegen wie der warme, durchs Fenster wehende Wind, während ich nackt auf den Kissen lag, die sich an meine Haut anschmiegten.« ( S. 5). Später fand ich in der Bayerischen Staatsbibliothek im Tagebuch vom 2. Oktober 1969 ein Gedicht, in dem sich die unterdrückten Affekte grotesk Luft verschaffen: Sex mal sex ist sexunddreißig. Meine Mutter ist so fleißig, Meine Mutter ist so fett Auf dem grünen Lotterbett.
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62 Im Roman ›Neue Zeit‹ läßt der Autor Treutlein Hanni vom »plastischen Bilde eines Satyrs« aus dem Versteigerungshaus Weinmüller erzählen, »bei dem man ›es‹ deutlich gesehen« habe. »In der Kunst ließ also Treulein Hanne auch so etwas gelten, und sie hatte recht; weil es in Wirklichkeit nicht so toll schön oder begeisternd war, als wenn man es sich nur wünschte; obwohl… gewiß und außerdem… Aber sie wünscht es sich ja in Wirklichkeit auch nicht und wahrscheinlich aus Angst nicht.« (NZ , S. 213 f ) 63 Lenz versprach, nicht nur die Einwände in Neuauflagen zu berücksichtigen, sondern ihm die »Seiten im Manuskript« vorzulegen, »falls ich den ›Wieland‹ noch einmal auftreten lassen sollte«. Dabei räumte der Schriftsteller ein: »In meinen Büchern also bin immer nur ich zu finden.« (15.3.1973, DLA) Ausführlich dazu H, S. 93 f. 64 Vgl. Hubert Giesen: Der Stammtisch der Dreizehn. In: Karin von Maur (Hrsg.), Kleine Geschichten aus Stuttgart. Stuttgart 1990, S. 101-[110]. 65 Büchner-Preis-Reden (Anm. 38), S. 114. 66 Herbert Wiegandt: Vorwort. In: Ders., Inselexistenz. Vorkrieg und Krieg 1935-1945. Briefe und Aufzeichnungen. Weißenhorn 2002, [S. 7] (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 21). 67 Vgl. die Haltung von Hanne Lenz im Dank für das Beileidschreiben, die sie ihrem Mann zuschreibt: »Sie waren der erste, der von ihm und seinen Büchern Notiz genommen hat und von der er sich verstanden fühlte. Ich weiß noch genau, wie froh und dankbar er war über ihren Besuch, damals in Stuttgart, als er noch ein ›Niemand‹ war.« (15.6.1998) 68 Stefan Kraut: Mit Hermann Lenz durch Künzelsau. Ein Stadtführer. Künzelsau 1998, [S. 1]; vgl. auch Rainer Moritz: Hermann Lenz und Künzelsau. Marbach am Neckar 2011 (Spuren 87). 69 BSB Ana 583 A.VI.4. Abdruck in: »Au net schlecht«. Hermann Lenz 100 Jahre. Eine Ausstellung des Fördervereins Künstlerfamilie Sommer e.V. zum 100. Geburtstag von Hermann Lenz. Künzelsau 2013, S. 51-55. Vgl. außerdem aus den ›Verlassenen Zimmern‹ die »Weinstube von Wilhelm Metzger« (VZ, S. 143), der »Most in einem irdenen, mit dunkelblauen Blumen bemalten Krug« von Frau Metzger (VZ, S. 152) und Verse der Großmutter (VZ, S. 153, S. 192 und S. 206). 70 »Ansonsten fahre ich täglich im Englischen Garten Rad. […] Nun, ja, abseits gibt’s Gärtnereien, Plätze am Isarufer, wo ich in der Badehose sitzen und dösen kann. Ich hab sogar einen gestrüppüberwachsenen Hügel entdeckt; der ist, außer einem Trümmerberg, die einzige Erhebung hier herum und man schaut weit hinaus. Leider kommen immer wieder Schüler und Schülerinnen, die mich verwundert anschauen, wenn ich da allein neben meinem Rad liege.« (An Schäfer 9.9.1975) 71 »Emilie schickte aus Rußland einmal eine Photographie nach Hause, die zeigt sie mit aufgelöstem Haar vor einem Heuhaufen. Im Sommer auf den riesigen Landgütern, wo sie mit den Bauern tanzte, die Steppenmusik der Gitarre und die Schreie schöner Burschen hörte, war sie glücklich. Stiefel aus rotem Leder trug sie.« (Notizbuch 23.-24.9.1942). Auch das in den ›Verlassenen Zimmern‹ beschriebene Foto von »Emilie in Tegernseer Tracht mit Hosen, Wadelstrümpfen und Tiroler Hut« konnte in der Mannheimer Straße gefunden werden; der künstliche Landschaftshintergrund vermutlich ließ Lenz schreiben: »Immerhin sonderbar, daß die Vornehmen immer herumreisten, als wechselten sie Paris, Petersburg, Mentone, Reval, London, Tegernsee wie die Leinwände eines Photographen, um vor diesen zu posieren.« (VZ , S. 156) 72 Hermann Lenz: Der andere Bezirk. Übers Schreiben. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24.6.1983.
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73 Nach Gedanken an den beinahe erfahrenen Tod durch einen US-Panzer an der Mosel und die lang andauernden Erfolglosigkeit seines »Schreib-Geschäfts« bekannte Hermann Lenz im Oktober 1997: »Es lohnt sich auf der Welt zu sein« (A, S. 14), damit mußte er eine schon vorher gebrauchte Wendung wiederholt haben, denn als seine Ehefrau von Patricia Reimann (Anm. 25) zu dieser Haltung befragt wurde, erklärte sie: »Also wirklich stehen hinter diesem Satz tue ich nicht, muß ich gestehen.« (S. 30) 74 Peter Handke Hermann Lenz: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Frankfurt a. M./ Leipzig 2006, S. 163 (12.10.1982); vgl. schon die TagebuchEintragung von 1968: »Was interessiert einen Schriftsteller, wenn sein Buch erschienen ist, am meisten? Der Ruhm, dieser angenehme Doktor, der so wohlig schmeichelt, wenn ihn der Autor bei Begegnungen durchdringen fühlt? / Aber er kann (zum Glück) nicht immer ein[en] Lorbeerkranz auf dem Kopf tragen. Deshalb ist für ihn der Absatz seines Buchs die habhaftere Freude; da hat er etwas in der Hand, daran kann er sich halten.« (23.6.) 75 Handke-Lenz ebd., S. 288 (23.3.1998) über »Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982-1987). Salzburg 1998; die Grabrede vom 18. Mai 1998 ebd, S. 412-414, wurde von Rainer Porzelt protokolliert, was den Fehler in den Schlußgedanken über einen nicht vorhandenen ersten Satz der ›Verlassenen Zimmer‹ nicht erklären kann, vielleicht dachte Handke bei »›Er ließ es aus den Saiten krachen‹« (S. 414) an die Szene mit dem Geiger Sarasate, in der Krumm glaubte, »vor dem Beifall ein […] Korsett durchs Kleid einer Frau neben sich knistern und knacken zu hören.« (VZ , S. 15) Der Anfangssatz des Romans lautet: »Seine Frau zog einen frischen Strumpf in die Gaslampe überm ovalen Tisch ein, wo ab und an der Dichter saß, der Bauer in Warmbronn war.« (VZ , S. 9) 76 Vgl. Gisela Freisingers unautorisierte Biographie: Hubert Burda. Der Medienfürst. Frankfurt a. M. 2005, S. 11 wird das Nettovermögen nach dem Wirtschaftsmagazin Forbes für 2004 mit 2,5 Milliarden US-Dollar angegeben, S. 185 f. zur Inszenierung Burdas als Hofmann; vgl. auch: TAN: Geld, Geist und Glamour. Hier ein Schwatz mit einer Ministerin, da ein Plausch mit dem Rockstar: Hubert Burda ist ein Prominentenjäger. Der Verleger reiht sich perfekt ein ins Panoptikum der Leute von heute, über die seine »Bunte« berichtet. In: Süddeutsche Zeitung Nr.190 (18./19.8.2012) S. 52. 77 Handke Lenz (Anm. 74) S. 190 (11.10.1983). 78 Ebd. S. 154 (5.12.1980). 79 Peter Handke bei Freisinger (Anm. 76): »›Durch die Härte seines Vaters wäre er fast gescheitert. Wie im Alten Testament war es der Vater, der den Sohn zum Verlorenen macht. Aber der Sohn hat nicht akzeptiert, daß er der Verlorene wird. […] Ich habe noch nie so einen einsamen Menschen erlebt wie Hubert Anfang der siebziger Jahre.‹« (S. 116) Vgl. auch Herbert Warth: »›Er hat sich als Außenseiter gesehen und sich deshalb als Verstoßener stilisiert. Er fühlte sich immer allein und mit dem Rücken an der Wand, und so hat er sich auch verhalten.‹« (S. 212) Zum Auf bau des eigenen Selbstbewußtseins durch Begegnungen mit Peter Hamm, Peter Handke, Michael Krüger, Wolf Wondratschek (S. 99). 80 Petrarca-Preis 1987/88. Redaktion Hans-Jürgen Balmes. [München] Edition Petrarca o. J. Hermann Lenz ›Jung und Alt‹ (S. 29-33), Laudatio von Peter Hamm ›Hermann Lenz und die Ambivalenz‹ (S. 36-51), Foto Hermann Lenz mit Gerhard Meier und Gustav Januš. (S. 371) 81 Mit einem von Schönheitschirurgen geliftetem Gesicht ließ Lenz Änne Burda sagen: »›Hier setze ich mich manchmal auf den Teppich, breite meinen Schmuck aus und wühle in meinem Besitz.‹« (F, S. 85) Burda erklärte als Urban: »›Frauen fliegen nur auf Männer, die Macht haben. Deshalb wollte ich Macht erringen… Ich habe FORBES (wohl eine Zeitschrift
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aus Amerika) gekauft. Das kostet mich 125 Millionen‹«. (F, S. 105) – nach Freisinger [Anm. 76], S. 288 befindet sich das Wirtschaftsmagazin unverändert in amerikanischem Familien besitz, doch Burda erhielt 1989 eine Lizenz für Deutschland. 82 Der »Mäzen, der schon 1986 zu den reichsten Männern des Landes gehört«, dachte an keine Abfindung, zumal die »Frau ohne Trauschein« ihren Job im Verlag verlor; Nicolas Sombart soll dafür gesorgt haben, daß sie eine Uhr von Cartier als Abschiedsgeschenk bekam, erzählt Freisinger [Anm. 76], S. 256 f. 83 Der Begriff »Geiz des Mäzens« bei Freisinger [Anm. 76], S. 189. 84 Hermann Lenz: Russische Miniaturen. Mit Zeichnungen von Eberhard Glatzer. 1944 – als Manuskript gedruckt, HLS; Glatzer machte sich nach dem Krieg als Maler, Buchillustrator und vor allem als Textildesigner einen Namen. Vgl. Eberhard Glatzer: 50 Jahre Malerei und Grafik. München 1989. 85 Emilie. Notizbücher 1940-1943, S. 136-148; Datierung: 15. bis 18. September Wolchow. 86 Ansprache 22. 6. 1941. In: Johannes Hürter: Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 49 (2001) S. 415 f. 87 Horst Lange: Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg. Herausgegeben und kommentiert von Hans Dieter Schäfer. Mit einem Lebensbild von Horst Lange von Oda Schaefer. Mainz 1979 (Die Mainzer Reihe 46). 88 Tonband-Interview vom 23.3.2004; Kassette im Besitz von Christian Fuhrmeister, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München. 89 Meike Hopp: Kunsthandel im NS: Adolf Weinmüller in München und Wien. Köln u. a. 2011, S. 18; allein von 1936-1945 wurden 34.500 Objekte versteigert, neben »Plastik, Gemälden, Zeichnungen, Graphik und Kunsthandwerk, auch Ostasiatica, Antiquitäten, Möbel, Silber, Schmuck, Waffen und Gebrauchsgegenstände.« (Ebd.) Meike Hopp zitiert aus dem Tonband-Interview (Anm. 88), daß Hanne Lenz über die jüdische Herkunft der Objekte »nur Vermutungen« hatte. (S. 141) 90 Im Notizbuch heißt es: »Rodaun liegt bei Wien, da kann man mit dem Einspänner nach dem Theater hinausfahren, abends, wenn’s geregnet hat und alle Blätter tropfen. Das hat Herr von Hofmannsthal auch oft gemacht, er trug dabei den schwarzen Abendanzug […] und spürte die kühle Abendluft im Fahren herankommen und das Gesicht kühlen, das noch heiß war von der Luft im Theatersaal und der feinen nervenerregenden Musik […].« (25.7.1941) 91 Vgl. Hanne Lenz an Paul Celan (Anm. 40), S. 89 (3.8.1957). 92 Reimann (Anm. 25), S. 10. 93 Ebd., S. 11. 94 Amerikanische Rechenschaft. 23./24.Okt. 45 Camp Forrest/Tenn. BSB Ana 583.C.I.2 Suppl. Diverse Tagebuchnotizen, S. 3; Lenz vertrat anders als Thomas Mann in der ›Pariser Rechenschaft‹ von 1926 einen »hoffnungslosen Standpunkt« und glaubte »Europa wird zerfallen« (S. 16), wünschte sich vorher »Bücher von Thomas Mann, Franz Werfel und Arthur Schnitzler in den Auslagen einer deutschen Buchhandlung« zu sehen, möchte »über Hofmannsthal sprechen und wieder Bilder von Picasso anschauen.« (S. 15) 95 Historisches Archiv der Technischen Universität München, HATUM . PA . Prof. Dr. Kurt Trautwein; die in Bibliographien Kurt Trautwein zugeschriebene Schrift ›Lungenschüsse und deren Heilerfolge in besonderer Hinsicht auf die konservative Behandlungsweise‹ 1941 dürfte ein Namensverwandter verfaßt haben. 96 Martin Pabst/Margot Fuchs: Technische Universität München – die Geschichte eines Wissenschaftsunternehmens. Hrsg. von Wolfgang A. Herrmann. Bd. 1. Berlin/ München 2006, S. 249-250.
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97 BSB Ana 583.BIV.Suppl.7. 98 Hans Karl Rupp: Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer: Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung der BRD. Köln 1970, S.139-142. 99 an.: Marie Cohen. In: Ost und West. Illustrierte Zeitschrift für das moderne Judentum. Hrsg. von Leo Winz. Jg. 5, H. 3 (März 1905) Sp. 182. 100 Lorenz Josef Reitmeier: Dachau. Der berühmte Malerort. Dachau 1989, in der »Da chauer Künstlerliste mit 2407 Namen« ist Marie Cohen S. 480 genannt. 101 Ost und West (Anm. 99), Sp.182 f. Die Gemälde heißen ›Kinderbildnis‹ (Sp. 181/182), ›Knabe aus Dachau‹ (Sp. 183), ›Knabe aus Dachau‹ (Sp. 184), ›Alte Frau‹ (Sp. 186), ›Mädchen aus Dachau‹ (Sp. 187), ›Alte Frau‹ (Sp. 188) und ›Mädchen vom Lande‹ (Sp. 190). 102 »Auch was mich damals, im November und Anfang Dezember [1941] so sehr bedrückt hat, kann ich Dir leider nicht erzählen. Es hat hauptsächlich meine Mutter betroffen und ihre Verwandten und ist eine sehr umständliche Angelegenheit. Wir haben schreckliche Lauferei und Aufregung davon gehabt, aber schließlich ist – bis jetzt wenigstens – noch alles gut abgegangen. […] Was dieser Krieg alles für Unglück gebracht hat, aber dies ist gewiß, daß die Schuldigen einmal bestraft werden, vielleicht dauerts gar nicht so lang.« (An Hermann Lenz 4.1.1942) 103 Reimann (Anm. 25), S. 7 f. 104 Lenz/ Celan (Anm. 40), S. 133 (7.2.1960). 105 Reimann (Anm. 25), S. 25. 106 Lenz/ Celan (Anm. 40), S. 127 (21.11.1959). 107 Reimann (Anm. 25), S. 25 f. 108 Nach Mitteilungen von Alexis Leonas, die Siegmund Probst am 10.2.2016 weitergab, sowie von Nathanja Hüttenmeister, Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen vom 11.6.2016. 109 »Es ist wirklich Usus, in so einem Falle den Namen des Großvaters zu benutzen. Neben bei, zur genauen Definition, es gibt keinen Halbjuden, falls die Mutter Jüdin ist, ist das Kind Jude, und falls die Mutter keine Jüdin ist, ist das Kind kein Jude.« (Mitteilung von Josef Chaim Bloch 22.12.2015)
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Quellennachweis Hanne Lenz: Eine Familienerinnerung an Gustav Gabriel Cohen. In: Gustav Gabriel Cohen, Das Ideal des eigenen Staates. Zwei Schriften aus den Anfängen des Zionismus. Herausgegeben und eingeleitet von Daniel Hoffmann. Berlin 2003, S. 158-167. Beim Nachdruck wurden einige Absätze zusammengezogen; er erfolgt mit freundlicher Genehmigung der HermannLenz-Stiftung, München.
Bildnachweise Abb.1 BSB Ana 583 C.I.1 Notizbücher 1990-1997, 25.4.1998; Abb. 2 BSB Ana 583 C.I.1 Tagebuch 1929/30, S. 7; Abb. 3-6 BSB Ana 583 C.II.4 Skizzenbuch; Abb. 7, 8 BSB Ana 583 BII. Suppl.1; Abb. 9-11 HLS; Abb. 12 BSB Ana 583 C.II.6 Diverse Schriftstücke; Abb. 13 HLS; Abb. 14 BSB Ana 583 C.I.3 Notizbücher 1940-1943; Abb. 15,16 HLS; Abb 17 BSB Ana 583 C.I.3; Abb. 18, 19 BSB Ana 583 E.III Fotos aus den letzten Lebensjahren; Abb. 20-22 BSB Ana 583 C.I.1 Notizbücher 1990-1997, 19.9.1997 und 24.4.1998; Abb. 23 BSB Ana 583 E.III Fotos aus den letzten Lebensjahren; Abb. 24 BSB Ana 583; Abb. 25-32 HLS; Abb. 33 Süddeutsche Zeitung (10. Juli 1998) S. 11; Abb. 34 Ulrich Keicher; Abb. 35 HLS; Abb. 36 BSB Ana 583; Abb. 31 Ebd., S. 95; Abb. 37, 38 Hans Dieter Schäfer; Abb. 39 Herbert Wiegandt. Insel existenz. Vorkrieg und Krieg 1933-1945. Weißenhorn 2002, vor S. 33; Abb. 40 Hans Dieter Schäfer; Abb. 41 Isolde Ohlbaum; Abb. 42 HLS; Abb. 43 Deutsches Museum, München; Abb. 44 HLS; ; Abb. 45 Isolde Ohlbaum; Abb. 46 BSB Ana 583.
Dank Ganz besonderen Dank gebührt Hermann und Hanne Lenz † (München) für ihre Auskünfte. Herbert Wiegandt † (Stuttgart) war mit Hermann Lenz befreundet und gab wegweisende Informationen. Außerdem halfen Wilhelm Barthlott (Bonn), Josef Chaim Bloch (Regensburg), Ulrich von Bülow (Marbach), Bernhard Echte (Wädenswil), Beate Grentzenberg (München), Margot Fuchs (München), Christian Fuhrmeister (München), Barbara Hamm (München), Gabi Hollender (Zürich), Meike Hopp (München), Stefan Hradil (Mainz), Nathanja Hütten meister (Essen), Ulrich Keicher (Warmbronn), Monika Köstlin (München), Alexis Leonas (Köln/Budapest), Isolde Ohlbaum (München), Thomas Reche (Neumarkt), Ingrid Rückert (München) und Gernot Wolz (Coburg). Michael Schwidtal (Frankfurt), der die Veröffentlichung des Briefwechsels von Hermann und Hanne Lenz für Winter 2016/17 vorbereitet, vermittelte mir eine Kopie der ›Russischen Miniaturen‹. Die Zusammenarbeit mit Siegmund Probst (Hannover) hatte gründliche Recherchen zur Folge. Petra Plättner komponierte Bilder mit dem Text und richtete sorgfältig den Druck ein. Für die vielfache Unterstützung sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgesprochen. Hans Dieter Schäfer
Jahrgang 2010 1. Karl-Heinz Ott Die vielen Abschiede von der Mimesis ISBN 978-3-515-09803-8 20 S., € 6,– 2. Klaus Böldl Dämon und Göttergünstling. Anmerkungen zu einer isländischen Dichterpersönlichkeit des 10. Jahrhunderts ISBN 978-3-515-09804-5 20 S., € 6,– Jahrgang 2011 1. Hans Dieter Schäfer Verteidigung des Lebens durch Poesie. Über die Moderne von Klopstock bis Benn ISBN 978-3-515-09968-4 72 S., mit 31 Abb., € 14,– 2. Albert von Schirnding Nach dem »Sündenfall«. Droht eine neue pädagogische Eiszeit? ISBN 978-3-515-09969-1 20 S., € 6,–
Jahrgang 2013 1. Hans Dieter Schäfer Kommunikationslosigkeit und Gewalt. Über Georg Büchners ›Woyzeck‹ ISBN 978-3-515-10443-2 48 S., mit 13 Abb., € 11,– 2. Arnold Stadler Bilder als Partituren des Lebens: Ein Ausflug in die Welt des Malers Arnold Bräckle. Eine Vergegenwärtigung ISBN 978-3-515-10444-9 48 S., mit 19 z.T. farbigen Abb., € 11,–
Preisänderungen vorbehalten
Jahrgang 2014 1. Jan Wagner Der Poet als Maskenball. Über imaginäre Dichter ISBN 978-3-515-10822-5 20 S., € 6,– 2. Ulrich Konrad Werkstattblicke. Haydn, Beethoven und Wagner beim Komponieren beobachtet ISBN 978-3-515-10823-2 32 S., mit 14 Abb., 9 Notenbeispielen und einer CD als Beilage, € 11,– Jahrgang 2015 1. Uwe Pörksen ›In Stahlgewittern‹ oder als ›Überläufer‹ zur Natur? Ernst Jüngers Erlebnis und Wilhelm Lehmanns Deserteur und Luftmensch im Ersten Weltkrieg ISBN 978-3-515-11105-8 32 S., mit 3 Abb., € 8,– 2. Paul-Michael Lützeler Napoleons caesaristischer Ehrgeiz im Hinblick auf den Europa-Diskurs ISBN 978-3-515-11106-5 32 S., mit 23 Abb., € 8,–
Hans Dieter Schäfer · Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß
4. Petra Plättner (Hrsg.) Der schwierige Neubeginn – Vier deutsche Dichter 1949. Beiträge von Heinrich Detering, Dirk von Petersdorff, Hans Dieter Schäfer und Albert von Schirnding anlässlich des 60jährigen Bestehens der Klasse der Literatur ISBN 978-3-515-09637-9 79 S., € 14,–
Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß Mit einer Spurensuche und einer Familienerinnerung von Hanne Lenz
Jahrgang 2016 1. Hans Dieter Schäfer Hermann Lenz – Das Tagebuch aus dem Nachlaß. Mit einer Spurensuche und einer Familienerinnerung von Hanne Lenz ISBN 978-3-515-11607-7 ISBN für das E-Book: 978-3-515-11608-4 84 S., mit 46 teils farbigen Abb., € 14,– 2. Ulrich Konrad Komponieren in kriegerischer Zeit. ›Eine Vaterländische Ouvertüre‹ op. 140 von Max Reger ISBN 978-3-515-11609-1 ISBN für das E-Book: 978-3-515-11610-7 48 S., mit 3 Abb. und 7 Notenbeispielen, € 11,–
ISSN 0002-2985
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Klasse der Literatur und der Musik
Hans Dieter Schäfer
weitere Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Klasse der Literatur (ab 2014: Klasse der Literatur und der Musik)