Herbert Rosendorfer : Eine Biographie 9783900009779

Mit einer autobiographischen Notiz und einem Nachwort von Herbert Rosendorfer

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Herbert Rosendorfer : Eine Biographie
 9783900009779

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I R O L E R )ENTITÄTEN herausgegeben von Martin Kolozs

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des BM:UKK, des Landes Tirol und der Stadt Innsbruck.

Erschienen 2010 im Kyrene Verlag Staffierstraße 7/1, A 6020 Innsbruck www.kyrene-verlag.com

ISBN 978-3-900009-77-9

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus zu vervielfältigen. Redaktion: Martin Kolozs, Helmuth Schönauer, Elias Schneitter, Christian Yeti Beirer Lektorat: Joe Rabl Satz: Thomas Krismer Umschlagentwurf: Arno Heinz

Herbert Rosendorfer Verstehen Sie Rosendorfer? Herausgegeben von Martin Kolozs

Eine Biographie von Delia Müller

Mit einer autobiographischen Notiz und einem Nachwort von

Herbert Rosendorfer

KYRENE

Herbert Rosendorfer

Verstehen Sie Rosendorfer!? Herbert Rosendorfer lernte ich am Telefon ken­ nen. Ich rief ihn an, um mir seine Meinung zu meinem ersten Buch mit dem Titel „Das bitte­ re Erbe“ zu holen. Ein viel beschäftigter Mann war da am anderen Ende der Leitung, und das hat sich bis heute, vier Jahre nach unserem Kennenlernen, nicht maßgeblich geändert. Er schien verwundert, dass sich da eine ihm unbekannte Schreiberin meldete, die sich und ihrem Manuskript, wie so viele andere auch, wohl zu viel Bedeutung zumaß. Der Name, ja der wohlklingende Name präg­ te sich ihm, der Frauenwelt mit großer Ver­ ehrung zugetaner Mannsperson, sofort ein. Dennoch versuchte er sich diesem für seinen Geschmack offensichtlich schon zu lange dau­ ernden Gespräch zu entziehen. Doch da kannte er mich noch nicht gut genug, um zu wissen, dass ich mich von windigen Ausflüchten nicht abhalten lasse, um zu einem Ziel zu gelangen. Mein Ziel war es, meine jahrelange Arbeit von ihm, einem der meistgeschätzten zeitgenössi­ schen Autoren, bewerten zu lassen. Er wurde mich also nicht los. Und auch das ist bis heute so geblieben. Herbert Rosendorfer hat dann damals das Vorwort zu meinem Buch geschrieben, und ich 5

darf ihn heute meinen Literaturfreund nennen. Und ich danke ihm heute, indem ich versuche, ihn in einer Weise zu porträtieren, die unseren Lesern die Person und die Gedanken Herbert Rosendorfes nahebringen soll. Wer kann schon von sich behaupten, Rosen­ dorfers Texte von Anfang an verstanden zu haben? Den verborgenen Sinn hinter sarkas­ tischen Aussprüchen und apokalyptischen Szenarien herauszufiltern, kann zu einer schier unlösbaren Aufgabe anwachsen. Soll das der Leser denn überhaupt tun? So fragt man sich. Was will er uns damit sagen? Mittels einzelner Passagen aus vielen seiner Werke ergeben sich Fragen, die Rosendorfer in diesem Buch beantwortet und uns so Einbli­ cke in seine Philosophie und sein Leben ver­ mittelt. Folgen Sie mir also in die phantastische Welt von Herbert Rosendorfer. Auf dass wir einiges, nicht alles, mit seinen Augen sehen lernen.

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Am Anfang das Grundlegende

ANNÄHERUNG AN DIE WAHRHEIT - VER­ SUCH EINER KURZEN ÄSTHETIK DER PHANTASIE Ich nehme für mich die auf den ersten Blick unernst erscheinende Definition der Kunst in Anspruch (wobei ich unter Kunst, im Gegensatz zum landläufigen Sprachge­ brauch, alle Künste meine, also Musik, bildende Kunst und Literatur, mit etwas Einschränkung auch darstellende Kunst und Mischformen, et­ wa Film): Kunst ist, was ich nicht kann. Oder: Kunst ist, was ich nicht auch kann. Jetzt ist aber seit einigen Jahren das, wie man früher gesagt hat, geneigte Publikum der Meinung und deutet dies durch erfreulich vermehrten Kauf meiner Bücher an, dass ich die literarische Kunst so weit also beherrsche. Ich muss somit, so ungern ich das tue, meine Seele theoretisch zweiteilen, nämlich in meine künstlerlische-konzipierende Seele, die hie und da etwas schafft, was andere nicht auch kön­ nen, und in eine apperzipierende, also kunst­ aufnehmende Seele, die dann eingeschaltet wird, wenn ich nicht schreibe. (Dann werde ich quasi ein kranker Arzt, der Patient eines anderen Arztes wird.) Dies also zur Erklärung, warum die Definition „Kunst ist, was man nicht kann“ auch für mich gilt, sofern und soweit ich nicht gerade schreibe. 7

Delia Müller: Wer ist Herbert Rosendorfer? Karikaturist, Zeichner, Moralist, Schriftsteller, Richter...?

Herbert Rosendorfer: Ich bin in erster Linie Her­ bert Rosendorfer. Ich bin gelernter Jurist, lehr­ te aber als Quereinsteiger viele Jahre als Pro­ fessor für Literatur. Zuletzt war ich Richter am Oberlandesgericht in Naumburg an der Saale (Sachsen-Anhalt), nachdem ich viele Jahre Amtsrichter in München gewesen war. 1997 bin ich regulär in Pension gegangen. Die Tätigkeit an der Universität habe ich bald danach aufge­ geben. Irgendwann muss Schluss sein. Ich bin Schriftsteller, ich bin Mensch, politi­ scher Mensch, in dem Sinn, dass ich politisch interessiert bin, politisch aktiv aber war ich nie. Ich bin Beobachter. Das ist vielleicht der wich­ tigste Teil dieses Kollegiums, aus dem ich be­ stehe. Ein bewusst lebender Mensch ist immer auch eine Ansammlung von unterschiedlichen Einzelwesen, von Interessen und Berufen. Ich bin nicht Maler und Zeichner. Ich zeichne und male nur gern gelegentlich, zu meiner ei­ genen Unterhaltung. Dasselbe gilt für die Musik. Ich bin nicht Kom­ ponist. Dazu hab ich zu viel Respekt vor den wirklichen Komponisten. Ich habe das Kom­ ponieren gelernt, schon. Aber auch das ist mehr eine Freizeitbeschäftigung. 8

Und dann bin ich natürlich auch Pensionist. Pensionierter Richter, könnte man sagen. Und als solcher hab ich eben ausschließlich Frei­ zeit. Ich spüre die Freizeit allerdings nicht, weil ich ununterbrochen beschäftigt bin. Durch die Lesungen, vor allem in Deutschland, bin ich sehr viel unterwegs. Ich finde aber auch die Zeit, um zu Hause zu zeichnen und auch kultu­ relle Ereignisse zu besuchen. Ich hab sehr viel in meinem Leben kennenge­ lernt: Menschen, Umstände, Gegenden, Ge­ legenheiten. Aber eins hab ich nie kennenge­ lernt: Langeweile.

ÜBER APOKALYPSEN Jede Kunst ist Apoka­ lypse im ursprünglichen Sinn: Enthüllung. Der Marmorblock enthielt Michelangelos „Pietä“ Korn für Korn im ganz realen Sinn, Michelan­ gelo musste sie nur noch enthüllen. „Nur noch" natürlich unter Anführungszeichen: nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich glaube daran, dass es im Sinn Kants das Kunstwerk an sich, die Symphonie an sich, das Gedicht, den Ro­ man an sich hinter den schon greifbaren Sa­ chen gibt, und dass der Künstler nicht mehr und nicht weniger zu tun hat, als zu enthüllen, was sich ihm selber vorher enthüllt hat. Freilich gehört dazu die Fähigkeit (das oft Erlernbare) Meißel und Pinsel und Feder oder was immer handhaben zu können ... Müssen wir also den 9

Apokalypsen dankbar sein? (Selbstverständ ­ lich jedenfalls nicht den Urhebern der Apoka­ lypsen.) Wenn das so ist, dass die Apokalyp­ sen, die inneren und die äußeren, notwendig sind, um Kunst hervorzubringen, dann brau­ chen wir, meine ich, um die Zukunft der Kunst nicht besorgt zu sein. Ein Blick auf die Weltlage zeigt, dass für Apokalypsen reichlich gesorgt ist...

Delia Müller: Auch du „enthüllst“ deine Um­ welt, formst deine Eindrücke zu der typischen Rosendorfer-Sprache und gibst sie als solche dann deinen Lesern zurück. Wo holst du dir deine Inspiration? Hebert Rosendorfer: Die meisten Gedanken entstehen aus Beobachtungen. Diese entste­ hen aus Anstößen. Ohne Anstoß kann keine Beobachtung zustande kommen. Der Anstoß kann von einer Zeitungsnotiz kommen, ge­ nauso wie aus einem merkwürdig geformten Baum vor der Tür. Oder eine Bemerkung irgendeines Menschen. Ich speichere diese wie ein Computer in mei­ ner eigenen Festplatte. Ich notiere mir fast gar nichts, denn noch merke ich mir zum Glück alles. Mein sehr gutes Gedächtnis ist eine Gnade. Irgendwann wird es aber nachlassen, lässt leider schon nach. In meinem Kopf wird 10

meine Beobachtung zu einem Stück Rosen­ dorfer, das ist klar. Es stellt sich aber an die­ ser Stelle die Frage, ob ich nicht eigentlich nur „Rosendorferisches“ überhaupt aufnehme. Ob ich nur Dinge sehen will, die in mein Weltbild passen. Ich nehme Dinge und Menschen, die mich von vornherein nicht besonders beein­ drucken, dann wohl auch nicht wahr. Das ist schon einmal ein Punkt, den ich im Wesent­ lichen als „das Rosendorferische “ akzeptiere. Ich verinnerliche also nur das, was in mich hi­ neinpasst, vermute ich. Und dann wird es na­ türlich in meinem Sinn umgeformt.

Delia Müller: Der humorvolle Bezug zu den Dingen und auch zu den Menschen ist in vie­ len deiner Werke zu finden. Du betrachtest dei­ ne Figuren humoristisch. Nimmst du sie aber auch ernst?

Herbert Rosendorfer: Jede der Figuren, die ich in meinen Büchern beschreibe, nehme ich ernst. Ich möchte nicht einmal sagen, dass ich Menschen humoristisch betrachte. Ich beob­ achte sie vielmehr genau. Die Menschen an sich sind ja schon komisch. Humoristische, komische Begebenheiten oder auch Men­ schen springen mich von vornherein an. Ich habe die Gabe, diese schneller zu sehen als andere. 11

Was aber wichtiger erscheint, ist die Tatsache, dass ich vor allem mich selbst nicht allzu ernst nehme. Auch viele Vertreter der Literaturkritik nehmen mich nicht ernst. Das ist gut, dann biete ich denen keine großartigen Angriffsflä­ chen. So einfach ist das.

BRIEFE IN DIE CHINESISCHE VERGAN­ GENHEIT Die Großnasen sehen allesamt schlecht, oft schon die Kinder. Um das auszu­ gleichen, haben sie Gestelle aus Eisen erfun­ den, die sie an den Ohren einhängen - lach nicht, das nehmen die hier als völlig selbstver­ ständlich - und mit deren Hilfe sie geschliffene Glasscheiben vor den Augen balancieren. Ein­ mal bei einem meiner Spaziergänge durch den Park des ehemaligen Wu habe ich extra darauf geachtet: gut ein Drittel aller Großnasen hat so ein Scheibengestell. Es hält vor den Augen nur durch ihre großen Nasen... Auch Herr Shismi trägt so ein Scheibchengestell und selbst Frau Pao-Ieng; aber sonst ist sie, wie gesagt, sehr schön. Ich habe sie Zange angeschaut. Sie hat die ganze Zeit ihr Scheibchengestell nicht abgenommen. Ich habe überlegt: nimmt sie ihr Scheibchengestell ab, wenn einer sie be­ schläft? Gefragt habe ich selbstverständlich nicht. Man muss sich oft in dieser verrückten Welt hüten, nach Dingen zu fragen, die einem völlig natürlich erscheinen. 12

Delia Müller: Wenn ich deine Bücher lese, habe ich den Eindruck, die Menschen, die du be­ schreibst, sind alle sehr liebenswürdig, von ei­ ner intelligenten Kindlichkeit. Egal, ob wir jetzt den Anton beschreiben oder den antiken Chi­ nesen, der mittels einer Zeitmaschine in das heutige Bayern katapultiert wird. Die Rosen­ dorfer-Figuren haben einen Zugang zu ganz einfachen Dingen und sie geben diese einfa­ che Sicht der Dinge wieder, mit einem tiefen Sinn. Herbert Rosendorfer: Ja, es geht um das Kindliche im Menschen. Das kindliche Stau­ nen, das ist das Wesentliche, das ich brauche und gebrauche. Kinder müssen lernen. Nicht nur schreiben und lesen. Sie müssen auch leben, müssen sich in der Welt zurechtfinden lernen. Das entsteht dadurch, dass sie stau­ nen. Über jedes Neue staunt man, und wenn ich als Schriftsteller irgendeine Merkwürdig­ keit entdecke, staune ich. Und dieses Staunen möchte ich mir erhalten. Das Staunen über die Schönheit, das Staunen über die Skurrili­ tät, das Staunen über die Merkwürdigkeit der Dinge. Über das Komische an den Menschen und selbst an der Welt. Und das übertrage ich auf meine Romanfiguren. Es existiert in mei­ nen Werken aber keine Figur, die mich selbst darstellt. Nirgends. Aber es gibt natürlich Hel13

den, in denen viel von mir drin ist. Und diese Figuren, die staunen immer. Ich rede ja heute noch mit 76 Jahren von den anderen als von „den Erwachsenen“. Also bin ich immer noch Kind. Man kann sogar noch sagen, ich kann gar nicht anders, als zu stau­ nen.

WETTLAUF ZUM TOD Es ist strittig, wie viele Milliarden Menschen die Welt ernähren kann. Gutmenschen gehen davon aus, dass die Zahl relativ hoch ist (man spricht von 24 Milliarden), sofern durch sozialverträgliche Wirtschaft das Gleichgewicht der Versorgung hergestellt wird, das heißt, dass alle guten Willens sind. Das sind sie aber nicht und werden es nie sein, denn dieser gute Wille zum sozialverträgli­ chen Handel steht im diametralen Gegensatz zum Eigennutz, und der Eigennutz ist, so hat man die Erfahrung aus dem Scheitern des re­ al existiert habenden Sozialismus und dessen Planwirtschaft, der einzige Motor zur Produk­ tion jeglicher Art. Das heißt: auch wenn die Welt 24 Milliarden Menschen ernähren könnte, wird der Welthunger bleiben, denn die Produ­ zenten werden nie und nimmer ohne Aussicht auf Gewinn produzieren, nur um den Nichtpro­ duzenten die die Mehrheit sein werden, das Produzierte, (oder zumindest den Überschuss) zu schenken. Noch einfacher ausgedrückt: 14

nur kapitalistisches Denken ist der Motor der Produktion, und Kapitalismus beruht mit ma­ thematischer Zwangsläufigkeit darauf, dass es Arme und Reiche gibt. Delia Müller: Rosendorfer versteht sich also nicht nur als hintersinniger Moralist, sondern auch als der Mann mit dem kleinen belehren­ den Zeigefinger? Herbert Rosendorfer: Die Leute belehren zu müssen, würde ich als sehr unangenehm emp­ finden, obwohl ich als Lehrperson an der Uni­ versität gewirkt habe. Ich hoffe, dass ich auch dort nie belehrt habe, sondern immer eher er­ klärt habe. Ich versuche auch in meinen Bü­ chern eher Beispiele als womöglich Richtlinien zu geben. Ich biete meine Meinung an. Viel­ leicht ist sie richtig, vielleicht ist sie falsch. Ich erkläre und ich warne. Unter anderem davor, was auf der Weltklimakonferenz in Kopenha­ gen beschlossen worden ist, um etwas Aktu­ elles zu erwähnen, was aber leider, wie alles Aktuelle, ganz schnell wieder vergessen wur­ de. Ich bin der absoluten Meinung, dort sei der Weltuntergang beschlossen worden. Da sehe ich wirklich ziemlich schwarz. Ist das übertrie­ ben? Man muss ja übertreiben, wenn man ge­ hört werden will. An dieser Stelle zitiere ich im­ mer gern meinen Schriftstellerkollegen Franz 15

Xaver Kroetz. Er wurde mal gefragt, ob Lite­ ratur etwas verändern kann im gesellschaftli­ chen Sinn. Seine Antwort als sehr engagierter Autor war in meinen Augen erstaunlich. Er sag­ te, die Literatur an sich könne wahrscheinlich nichts verändern. Jedenfalls nicht sofort und nicht wie man einen Lichtschalter ausschaltet. Aber er würde es trotzdem probieren, denn wenn er eines Tages bei einem Jüngsten Ge­ richt - wenn es so etwas gibt - gefragt wird, dann kann er sagen: Ich habe es wenigstens gesagt. Genau diese Ansicht nehme ich auch für mich in Anspruch, ganz ernsthaft.

GROSSES SOLO FÜR ANTON Anton L. trat auf die Straße. Es war heiß wie in einem Ofen. Die Straße löste sich nach hundert Metern in ein bebendes Flimmern auf, aus dem sich nur die Straßenbahnschienen abhoben, weil sie die Sonnenstrahlen noch stärker reflektierten ... Hier wie drüben war kein Mensch. Dabei standen die ganzen Seitenstraßen der Straße, in der Anton L. wohnte, voll von geparkten Autos ... Wenn im Falle einer Evakuierung die Leute alles im Stich gelassen hätten - ihre Au­ tos sicher nicht ...An einer Litfaßsäule an der Straße, die von der Brücke aus ins Stadtzent­ rum führte, stand ein Auto. Es war sichtlich in voller Fahrt gegen die Litfaßsäule gefahren. Im Auto war niemand. Auf dem Fahrersitz hing ein 16

Smoking, auf dem Nebensitz lag ein hauch­ dünner Schlauch aus smaragdgrünem Gewe­ be. Wenn das ein Kleid war, so tut es mir leid, dass ich der Dame nicht begegnet bin... Die feinere Angst meldete sich, als die gröbere vorüber war. Auf dem Fahrrad ... überfiel An­ ton L. der Gedanke an die Nacht... Die Sonne neigte sich und der Gedanke kam immer öfter wieder, dass die Nacht unausweichlich heran­ kommen und dass Anton L. allein sein werde. Herbert Rosendorfer: Es finden sich einige apokalyptische Assoziationen in meinen Wer­ ken. In dem Band über die deutsche Geschich­ te z. B. warne ich ständig vor der Blutspur der Geschichte, wie ich ihren Gang genannt habe. Und diese Aussagen relativiere ich dann, weil ich’s nicht anders kann, immer wieder durch humorvolle Passagen. Man muss den Leuten die Schokolade um die bittere Pille schmieren, damit sie sie schlucken.

JUGENDUCHKEITSWAHN Wer soll bei der einst (bald) zu erwartenden End-Vergreisung der Bevölkerung die Renten zahlen? Auf eine jugendliche Sekretärin kommen vier zerknittert-schöne pensionierte Führungskräfte, die allenfalls noch ihren Dackel spazieren führen. Es liegt, heißt es, ein Plan in der Schublade, der einem pragmatischen Ritual eines Neger­ Vf

Stammes nachgebildet ist. An einem bestimm­ ten Tag wenden alle, die über sechzig sind, auf Bäume gesetzt und unten schütteln die Jun­ gen. Wer herunterfällt, wird erschlagen, sofern er nicht vom Sturz schon hinüber ist. Wer sich festhalten kann, darf noch ein Jahr im Greisenverschlag bleiben. Die Sache findet alljährlich am Tag Christi Himmelfahrt statt. Noch ist der Plan in der Schublade. Ich rate, statt über die verlorene Jugend nachzugrübeln, das Fest­ klammern zu trainieren. Delia Müller: In manchen Schriften von dir geht es um das Thema der Überbevölkerung. Ist das eine Angst oder eine Vision? Herbert Rosendorfer: Es ist die, meine ich, be­ rechtigte Zukunftsangst. Die Übervölkerung hat bereits katastrophale Ausmaße angenom­ men. Die Umwelt zu schonen und gleichzeitig die ständig wachsende Menschheit zu ernäh­ ren, das geht nicht zusammen. Diese Zwick­ mühle haben wir schon. Es ist dies das Prob­ lem der zu kurzen Decke: Wenn die Schultern zugedeckt sind, schauen unten die Füße her­ aus oder umgekehrt.

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Über die Literatur und das Schreiben an sich Delia Müller: Du sagst in einem früheren Inter­ view, dass du nicht an das poetische Talent glaubst, vielmehr soll es ein Schauen-Lernen sein.

Herbert Rosendorfer: Das habe ich dann doch irgendwann überdacht. Es braucht eine Gabe zum Schreiben, davon bin ich überzeugt. Ent­ weder kann man es oder man kann es nicht. Und lernen kann man es im Grunde genom­ men auch nicht. Es ist wahrscheinlich ein Bün­ del von Prädispositionen. Der Wille, sich zu äußern, muss da sein. Außerdem ist ein Buch immer auch ein Zeug­ nis, dass man einmal da gewesen ist auf der Welt, auch wenn dieses Bedürfnis, glaub ich, auch irgendwann in einem verblasst. Die Freude am Formulieren, die Freude an dem Buch, die Freude am Papier, an der Schrift, Freude an der Sprache, das alles miteinander ergibt, glaube ich, das Talent, ein Schriftstel­ ler zu sein. Das kann man nicht lernen. Man kann sich Verschiedenes aneignen, die Tech­ nik des Schreibens ganz allgemein. Oder mit der Sprache ordentlich umzugehen. Sich je­ des Wortes bewusst zu sein. Sprachdumm­ heiten vermeiden. Das kann man lernen - und 19

vor allem aber kann man das Beobachten ler­ nen. Auch das Gedächtnis lässt sich trainie­ ren. Beobachten ist ganz entscheidend fürs Schreiben. Damit, glaube ich, fängt jeder Au­ tor irgendwann an. Allerdings - ich schränke ein: Sehr viele Schriftsteller beobachten nur sich selber. Horchen nur in sich hinein. Das gibt dann die Tonnen von überflüssigen, lang­ weiligen „Romanen mir stark autobiographi­ schen Zügen“. Ich will hier nicht Helene Floss als Beispiel nennen. Delia Müller: Welchen Rat kannst du jungen Autoren geben? Wie sollen sie mit Kritik um­ gehen?

Herbert Rosendorfer: Die deutsche Literatur­ kritik ist eine Sache für sich, gemischt aus Be­ stechung, Arroganz, Autorenbelehrung und vor allem Impotenz. Ich weiß es, ich habe selber oft Literaturkritiken geschrieben, früher, und ich kenne die Versuchung zur Überheblichkeit des Kritikers. Ich habe mich zur Ordnung geru­ fen und also bemüht, mich nicht an den Autor, sondern an den künftigen, möglichen Leser zu wenden. Nachwuchsautoren sollten sich also nicht um die Kritik kümmern. Wenn einer Ihr Buch liest, freuen Sie sich. Wenn ein Kritiker es verreißt, verlieren Sie nicht den Glauben an sich selbst. Am schlimmsten sind die Kritiker, 20

die wissen, wie man jetzt schreibt. Wie man schreibt, das gibt es überhaupt nicht. Ich erinnere mich an einen meiner Anfänge: Der „Ruinenbaumeister “ 1969 erhielt fast durch­ wegs hohes Lob. Als ich dann die „Deutsche Suite“ schrieb, die 1972 erschien, schrieb die Hälfte der Kritiker: das Buch sei schlecht, weil genauso wie der „Ruinenbaumeister“, die an­ dere Hälfte: das Buch sei schlecht, weil nicht so wie der „Ruinenbaumeister“. Es ist also so gut wie unmöglich, es allen Kritikern recht zu machen. Vielleicht wäre es ein surrealistischer Romanstoff: die Geschichte jenes Schriftstel­ lers, der versucht, alle Besserwissungen der Kritiker zu befolgen. Ich wüsste auch den Ti­ tel: „Das literarische Klosett. Aus den Höllen eines folgsamen Poeten“. Nein, genießen Sie die lobenden Kritiken und befolgen Sie die Vorschläge der Kritiker nicht, und wenn Sie ei­ nen davon sehen, denken Sie an das schöne Wort Nestroys aus der Parodie „Tannhäuser“: „Gemütlich brüllt der Rinder traute Herde. O, was für Ochsen gibt es auf der Erde.“ Wichti­ ger aber noch ist ein anderes Wort dieses wah­ ren deutschen Shakespeares, der als Leitsatz über meinem Schreibtisch im Geiste drapiert ist. Und mich als gegen alle kritischen Stürme gefeit macht. Es ist eine Zeile aus Nestroys „Papieren des Teufels“: „Das ist wohl nur Chi­ märe, aber mich unterhalt’s.“ 21

DER HILFSKOCH ... die sogenannte Weg­ werfliteratur, Lese-Fast-Food, die von Auto­ ren ausgeschwitzt wird, die sich Griesgram nennen oder so ähnlich. Der ist jedoch in der Regel nicht einmal der Autor, denn das Zeug sondert ein Team von gnadenlos geknebelten Schreibknechten ab, die pro Seite einen Kick erfinden müssen, und der Griesgram steht nur auf dem Umschlag. Ob die nochmals tie­ fere Sorte die noch schlimmere ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Das sind die PromiMemoiren. Promis sind Leute, die sich so lang und so penetrant für wichtig halten, bis die Medien und davon abhängend zwangsläufig die schweigende, das heißt die durch BLÖD verbildete Menschheit es glauben. Und dann kommt unweigerlich der Moment, an dem der Promi das nicht mehr zu unterdrückende Ge­ fühl bekommt, seine Memoiren schreiben zu müssen. Er kann jedoch nicht schreiben, hat schon in der ersten Klasse Volksschule nicht aufgepasst. Also engagiert er einen oder eine, die des schriftlichen Ausdrucks einigermaßen mächtig ist, und die oder der schreiben dann mit und versuchen aus dem, was der Pro­ mi stottert, wenn schon nicht vernünftige, so doch lesbare oder druckbare Sätze zu machen. Delia Müller: Du willst andere Leute ärgern, hast du in einem früheren Interview gesagt. 22

Das scheint dir manchmal wirklich Spaß zu machen? Herbert Rosendorfer: Ich gebe gern zu, dass ich andere gerne ärgere: Überhebliche Men­ schen, Selbstüberschätzer oder solch humor­ lose, todernste Prediger, poetische Langweiler mit ihren Gedichten. Also wenn ich die ein we­ nig ärgern kann, dann freu ich mich. Es ist dies aber sicher nicht mein Hauptinteresse. Natürlich ärgern sich viele Schriftsteller über meinen Erfolg - weil sie meinen, ihre Werke sind wichtiger als meine. Dass solcher „Un­ sinn“, den man nicht ernst nehmen kann, wie ich ihn schreibe, so erfolgreich ist, giftet dann natürlich schon viele.

DER HILFSKOCH „Die Bestsellerliste!“ Sie er­ stickte fast vor Lachen, „die Bestsellerliste im Spiegel. Wenn Sie wüssten, wie die zustande kommt... Das letzte Buch vom ..." sie nann­ te wieder einen Namen, den ich unterdrücke, „stand vier oder fünf Wochen auf Platz eins, und hintenrum habe ich erfahren, dass grad einmal eineinhalbtausend Stück verkauft wur­ den ... und das, weil ein Buch von dem (!) auf der Liste auf Platz eins stehen muss. Und auch wenn gar keins verkauft würde. “

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Delia Müller: Wenn du ein neues Buch In Hän­ den hältst, kann die Bestsellerliste also nicht das Wichtigste für dich sein. Was ist für dich der schönste Moment bei der Entstehung ei­ nes neuen Werkes? Herbert Rosendorfer: Ich habe so viele eige­ ne Bücher in der Hand gehalten, da ist dieser Moment, wenn man das erste Belegexemplar druckfrisch in Händen hält, nichts so Aufre­ gendes mehr. Ein glücklicher Moment in mei­ nem Leben war aber sicher jener, als ich mein erstes Buch „Die Glasglocke“ erhalten habe. „Der Ruinenbaumeister“ folgte bald darauf und war mein erstes großes Buch, das ich in Zürich in die Hand gedrückt bekommen ha­ be - das war schon ein schöner, ergreifender Augenblick. Nach den ersten zwei oder drei Büchern wird das dann aber nicht mehr so aufregend.

Delia Müller: Aber du hast ja nicht nur Bücher geschrieben?

Herbert Rosendorfer: Ich habe viele Fernsehfil­ me geschrieben, Artikel für Zeitschriften, The­ aterstücke. Das gehorcht in jeder Weise ande­ ren Gesetzen. Delia Müller: Wie schreibst du? 24

Herbert Rosendorfer: Im Grunde genommen gibt es zwei Vorgänge, das Denken und das Schreiben. Das Niederschreiben ist fast im­ mer nur das Nachschreiben von dem, was im Kopf eh schon vorhanden ist. Die Geschichten entwickeln sich während des Nachdenkens. Vorm Einschlafen, nach dem Aufwachen, beim Hören von Musik, beim Warten beim Zahnarzt, sehr häufig beim Autofahren - da arbeitet es in meinem Kopf. Ich denke an den Anfang oder wie es weitergeht, denke ans nächste Kapitel. Der erste Satz, und der kann gänz­ lich banal sein, ist unter Umständen der, der die Geschichte prägt. Meistens schreibe ich einfach ab, was im Kopf schon geschrieben steht. Ich weiß aber nie von vornherein, wie die Geschichte ausgeht. Man kann sich das folgendermaßen vorstellen: Man geht in der Nacht durch eine nebelige Stadt. Du siehst die nächsten Häuser in der Straße ganz genau, jene hundert Meter weiter erkennst du noch, aber nicht im Detail, und die weiteren, zumin­ dest ahnst du es, muss es geben. Je weiter man fortschreitet, desto deutlicher sieht man, desto weiter geht auch die Geschichte mit mir mit. Ich bin ein Morgenmensch. Die meisten Bü­ cher hab ich vormittags geschrieben. Früher, in meinem Beruf, hab ich aber meist nach dem Abendessen geschrieben. Anders ging es da25

mals nicht. Ich habe mich irgendwann aber da­ ran gewöhnt. Ich schreibe dann ein bis zwei Stunden an ei­ nem Stück, mehr geht meistens nicht. Es er­ schöpft sich. Oder ich höre dann auf, wenn ich ein Kapitel gut abgeschlossen habe, wenn ich das Gefühl habe: Es ist richtig so. Es ist wie im Mathematikunterricht, eine Gleichung, die zum Schluss aufgeht. Dieses angenehme Ge­ fühl habe ich, wenn mir etwas gelungen ist. Ich schreibe alles von Hand, daran bin ich ge­ wöhnt. Habe mir aber auch schon überlegt, ob ich zum Computer wechseln soll oder auf Ton­ band diktieren. Dies käme aber nur infrage, falls ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mit der Hand schreiben kann. Wahrscheinlich würde ich dann aber anders „schreiben“. Ich muss das Kratzen der Feder auf dem Papier hören, das geschriebene Wort brauche ich vor mir. Der Freund, der meine Texte auf PC schreibt, ist mein erster Lektor und Kritiker, es ist mir sehr wichtig, dass er meine Texte nicht nur ab­ tippt, sondern sie auch kritisch betrachtet. DER GNADENBROTBÄCKER „Gründerva­ ter“ Er fing naturgemäß als Gründerenkel an, gründete nur kleinere Objekte, etwa das Mau­ sefallenmuseum in Polnisch-Neukirch ... Der Tod des Vaters ließ ihn dann selber zum Grün­ 26

dervater aufsteigen, und da legte er, wenn der saloppe Ausdruck erlaubt ist, so richtig los. Er gründete, was das Zeug hielt... Ganz neben­ bei gründete er den Verein zur Wiederbelebung der Knopfstiefelette und die Opernfestspiele in Tilsit. Da ihm inzwischen ein Enkel geboren worden war, stieg erzürn Gründergroßvater auf und er begann nun seine großen Alterswer­ ke zu gründen: das Hotel Adlon in Berlin, das Spielcasino von Monte Carlo, die Republik von Ecuador und die Familie Rothschild. Delia Müller: Das Jonglieren mit Worten ist oft das Ausreizen vieler Themen bis hin zur Frage: Was will er uns damit sagen? Doch es scheint, du willst deine Leser einfach oft nur unterhal­ ten, ohne große Hintergedanken? Herbert Rosendorfer: Ja, Lesen soll Vergnügen bereiten. Langweilige Bücher lege ich sofort weg. Es gibt verschiedene Arten von Lange­ weile, das empfindet aber jeder anders, des­ wegen will ich jetzt keine Beispiele nennen. Mit Alfred Andersch, der nach seinem Tod leider ein wenig in Vergessenheit geraten ist, hab ich sehr oft über Literatur geredet - über das Wie und Was. Und da hab ich gesagt: Im Grunde genommen schreib ich nur das, was ich sel­ ber gern lesen würde. Und wenn ein anderer das schreiben würde, wäre es mir sogar noch 27

lieber. Dann wäre es getan! Dann hat er fürch­ terlich gelacht und gesagt: „Ja, das täte Ih­ nen so passen, dass die anderen Ihre Bücher schreiben. “

DER HILFSKOCH Die Buchmesse findet in großen Hallen statt, in denen kleinere oder größere Stände hergerichtet sind. Es gibt Ein­ heiten. Die kleinste Einheit - für Messestände, meine ich - hat etwa Klogröße. Je nach Be­ deutung mietet ein Verlag ein bis zwanzig Klos. Schmultz hatte achtzehn Klos gemietet. Allein sechs davon waren Konsul Werners (also mei­ nem) Buch gewidmet. Delia Müller: Welche Wichtigkeit sprichst du der deutschen Buchmesse zu? Herbert Rosendorfer: Es gibt ja mittlerwei­ le zwei Buchmessen in Deutschland, eine in Frankfurt, eine in Leipzig. Beide sind sehr wichtig für das gesamte Verlagswesen. Die Grundidee zur Buchmesse war, dass Buch­ händler sich ein Bild vom Angebot machen und bestellen können. Inzwischen sind die Messen aber auch zum Treffpunkt für Verleger geworden, die sich belauern oder befreundet sind, Verträge schließen, Kontakte knüpfen. Dasselbe gilt auch für Schriftsteller. Die Buch­ messen sind natürlich auch ein ganz großer 28

Jahrmarkt der Eitelkeiten. Jeder Verlag möch­ te seinen Haupttitel ganz groß herausbringen. Auch für Literaturagenturen bietet sich hier ein wichtiger Markt. Es gibt durchwegs auch lustige Episoden in diesen heiligen Hallen der Literatur. Diese springen mir natürlich mit Genuss ins Auge. An sich ist es eine Fachmesse, nur für FachBesucher, aber es gelingt selbstverständlich auch Außenstehenden einzudringen, und die bedienen sich nicht ungern an den - logisch - frei herumliegenden Büchern. Dieses unkon­ trollierte Abhandenkommen, der „Schwund“ von ausgestellten Büchern, wird von den Ver­ lagen gar nicht ungern als Test gesehen. Eine schöne Erinnerung habe ich an jenen Tag, als mein „Hilfskoch“ das meistgestohlene Buch auf der Buchmesse war. Es wird auch maßlos angegeben. Jeder Schrift­ steller übertreibt bei den Auflagen des eigenen Buches. Das mach ich ja übrigens auch, ich nehme mich da nicht aus. Bei dem Roman „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ha­ be ich das allerdings nicht nötig. 29 Auflagen, zwei Millionen verkaufte Exemplare (ungerech­ net die Übersetzungen). DER HILFSKOCH Medien - versteht man da­ runter alles, was mittelmäßig ist? Oder hat das mit Gespensterschauen zu tun? Ich schaue 29

gern Talkschauen an, und da habe ich nicht sel­ ten das Gefühl, dass dieser gespensterschau­ ende Zusammenhang gemeint ist. Ein Talk ist übrigens bei uns daheim ein Depp, wenn ich das den eventuellen Lesern dieses so hinstel­ len darf. Ein Talkmeister vielleicht ein Oberdepp. Behördlich geprüfter Trottel. Dipl. Idiot. Delia Müller: Wie ist dein Verhältnis zu den Me­ dien?

Herbert Rosendorfer: Ich bin ein Beispiel dafür, dass Medien nicht allmächtig sind. Mein Ro­ man „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ist allein als deutsche Fassung zwei Millionen Mal verkauft worden, ohne jemals in einer der großen Zeitungen besprochen worden zu sein, nicht im Literarischen Quartett, auf keiner Bestsellerliste erschienen. Medien sind nicht allmächtig, mächtig aber schon. Das Tödlichste für ein Buch ist das Totschwei­ gen. Ein guter Verriss kann förderlich für die Absatzzahlen sein, das weiß man längst. Die Medien stürzen sich auf das Neueste. Wenn eine 17-jährige Minderpoetin ein schwei­ nisches Buch geschrieben hat, erheben die Medien ein großes Geschrei und entfachen ein Strohfeuer. Aber das ist eben nur ein Strohfeu­ er, und in einem Jahr ist das Buch samt der Autorin weg vom Fenster. 30

Religion und wahre (?) Gerechtigkeit(en)

DER HILFSKOCH „Von wegen Toleranz auch“, sagte der Wim, „da haben sich doch die Muschlawiner die Frechheit herausgenom­ men, ausgerechnet in Rom unter der Nase vom Papst eine Moschee bauen zu wollen. Jetzt nicht, dass ich für einen knittrigen Papst be­ sondere Sympathien hätte und nichts an den Katholiken auszusetzen, aber ausgerechnet in Rom eine Moschee ... Der Papst hat nur leise gemurrt: Er hat nichts dagegen, wenn dafür in Riad beim Saudi eine christliche Kirche gebaut werden darf. Da ist er sauber abgefahren. Das Geheul der Mullahs und des gekrönten Ge­ sindels war bis in die Chefetagen der Ölmultis zu hören ... Der Papst hat sich nichts mehr zu sagen getraut. Logisch, auch sein Auto fährt nicht mit Weihwasser... Das Gespräch wandte sich der islamistischen Weltgefahr zu und dass die Mohammedanisten schon ihre schmutzigen Zeigefinger nebst Ko­ ran und Maschinenpistolen nach uns ausstre­ cken sowie ihre klebrigen Netze über die Welt spinnen wollen und wir alle mehr oder minder vordem Wahabitengeschmeiß kuschen. „Und wenn es so weit ist, lieber Besenhalber, dann kannst du statt deines Diseinerfuds Hammelau­ gen und Kuskus verkaufen, und Wiener Opern­ ball und Bayreuther Festspiele und Salzburg 31

kannst du vergessen. Dann gibt ’s nur noch Mu­ ezzingebell und Freitagsgebet. Und hoffentlich wächst dir der Bart lang genug, sonst wirst du von vornherein massakriert. “ Delia Müller: Es finden sich viele Passagen in deinen Werken, in denen du den Islam heftig kritisierst, ob nun sarkastisch oder nüchtern­ faktisch. Wie würdest du deine Einstellung zur Religion im Allgemeinen und speziell zum Is­ lam beschreiben? Herbert Rosendorfer: Ich behaupte, jeder, der glaubt, glaubt an den einen Gott, den es gibt. Der liebe Gott weiß dann schon, dass er ge­ meint ist. Ob der dann Allah heißt oder Manitu oder Gottvater - dem Allmächtigen wird das schon ziemlich egal sein. Allerdings fällt mir zum Thema Religion eini­ ges zu sagen ein. Religion hat ja nicht immer zwingend was mit Glauben allein zu tun. Be­ trachten wir aus aktuellem Anlass den Islam. Der Gründer des Islam, der Prophet Moham­ med, war eine sehr zwielichtige, fragwürdige Person. Trotzdem hat seine krause Lehre, hat seine schizophrene Fieberphantasie namens „Koran“ eine Religion entstehen lassen. Die­ se Religion hat in den letzten Jahrzehnten einen fundamentalistischen Zweig hervor­ gebracht. Dieser gefährdet meiner Meinung 32

nach die abendländisch-westliche Kultur. Der Islam hat ein starres, mittelalterliches Weltbild, kurzum er bedroht das, was mir am wichtigsten ist: eben unsere kulturellen, künstlerischen Errungenschaften. Mozarts Klarinettenkonzert und Bellinis „Venus“ ver­ schwänden. Für den Islam ist alles unwichtig außer dem Koran. Und wenn der Islam wirk­ lich Europa überschwemmen würde, wäre unsere Kultur vernichtet.

Delia Müller: Sind sich vermischende Kulturen interessant oder eher gefährlich? Herbert Rosendorfer: Eine Vermischung an sich ist nicht gefährlich. Das kann sogar frucht­ bar sein, unter Umständen. Auch die christ­ liche Religion ist eine Vermischung aus allen möglichen antiken Religionen. Die Menschheit ist eine Mischrasse. Reinrassige Menschen gibt es nicht. Wer das behauptet oder in Ver­ gangenheit behauptet hat, redet Blödsinn. Das Gefährliche am Islam aber ist, dass er keine Mischung mit der westlichen Kultur will. Er will ja die Welt allein beherrschen. Und man darf nicht vergessen, dass der Islam die einzige Religion ist, die verlangt, dass alle diejenigen sich auch nach seinen Gesetzten richten, die nicht an ihn glauben.

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Delia Müller: Du hast einmal von der theolo­ gielosen Religion der Chinesen gesprochen. Findest du diese Weltanschauung besser als Religionen an sich?

Herbert Rosendorfer: Ich habe nicht zuletzt das alte China für den Blickwinkel meines Romans „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ge­ wählt, weil mir diese theologielose Religion des Konfuzianismus sympathisch ist. Sie hat den Zweifel zur Grundlage. Und das „Wu wei“, das Nicht-Einmischen, das stille Beobachten, hat meine ganze Zustimmung. FASTENPREDIGT Es ist unzureichend, die Krise der katholischen Kirche allein auf die in letzter Zeit vermehrt zutage getretenen - milde ausgedrückt - Missstände in Priestersemina­ ren und kirchlichen Internaten zurückzuführen. Solche Missstände gibt es überall, wo der täg­ liche Umgang auf das männliche Geschlecht beschränkt ist, vor allem im Sportbereich, aber auch in Kasernen und Gefängnissen und so fort. Es ist auch unzureichend, diese Miss­ stände in kirchlichen Einrichtungen und über­ haupt die Krise der Kirche auf den Zölibat zu­ rückzuführen. Das ist schon deshalb unrichtig, weil es den Zölibat nie gegeben hat. Eine mir zugänglich gemachte geheime Studie eines deutschen Erzbistums beklagt, dass vier Fünf34

tel aller katholischen Geistlichen in mehr oder minder längerdauernden eheähnlichen Ver­ hältnissen leben. Also eigentlich alle außer den Ordensleuten, die ja sozusagen unter strenger Aufsicht stehen. Das wird in anderen Diöze­ sen nicht anders sein, und das geht bis in die höchsten Höhen der Kirche. Von Papst Pius XII., diesem Extremkarrieristen auf dem Thron Petri, ist „es“ so gut wie gewiss, und ich sel­ ber kenne einen Erzbischof in der päpstlichen Kurie, der fast offen eine „Sekretärin“ hat, und einen Prälaten, Domherr zu St. Peter, der sei­ ne - sagt man da auch: „ständige Begleiterin“? - am Wochenende einfliegen lässt. Nicht dass man jetzt meint, ich gönne es den geistlichen Herren nicht oder verurteilte es moralisch. Nichts läge mir ferner, als das zu verurteilen, was eben Natur ist. Deutlich gesagt: Der Zöli­ bat ist nicht nur lebensfremd, sondern schlicht undurchführbar- von dem ganz zu schweigen, was bei den anders strukturierten schwarzafri­ kanischen Geistlichen die Kurie zum Seufzen bringt. Nein, der Priestermangel und über­ haupt die Krise der katholischen Kirche haben mit dem Zölibat nichts zu tun. Das zeigt nicht zuletzt der gleiche Priestermangel, mit dem die nicht-katholischen Kirchen zu kämpfen haben. Woran krankt die Kirche dann? An Alters­ schwäche? Ist die Kraft des Christentums verbraucht, so wie im 2., 3. Jahrhundert nach 35

Christus die der alten heidnischen Religionen? Ich glaube es nicht. Auf den wahren Kern der Lehre Christi zurückgegriffen, ist das Chris­ tentum die denkbar edelste, humanste Reli­ gion. Dass die katholische Kirche heute mit dem Christentum nichts mehr zu tun hat, hat sie selber zu verantworten, und zwar mit der von ihr jahrhundertelang betriebenen Bürokra­ tisierung der Religion. Sie hat einen Wust von Riten an die Lehre Christi angekrustet, einen Berg von Vorschriften, die zu verwalten sie ei­ nen enormen Apparat (genannt Vatikan) benö­ tigt, der so groß ist, dass er die wahre Seel­ sorge behindert. Wenn alle mit den albernen Selig- und Heiligsprechungen und ähnlichem Schwachsinn befassten Frömmigkeitsbeamten in die Seelsorge gingen, wäre der Pfarrerman­ gel zwar nicht behoben, aber ein Tropfen auf den heißen Stein wäre es ... Die Kirche ist eine großartige Behörde, sie funktioniert besser als jede weltliche. Der päpstliche Geheimdienst ist der beste außer dem israelischen. Die Kirche tut viel für die Kunst, für die Musik, ist karita­ tiv, ist erstklassig in prächtigen Aufzügen und Festlichkeiten, die Priesterkostümierung ist ausgezeichnet... nur den Glauben hat sie lang schon vernachlässigt. Das ist ihre Krise. Delia Müller: In welchem Glauben bist du er­ zogen worden? Hat sich dadurch etwas verän36

dert in deiner Anschauung zur Kirche und zum Glauben selbst? Herbert Rosendorfer: Ich selbst bin Agnosti­ ker, oder noch besser: Privatkatholik. Als Tiroler bin ich natürlich katholisch aufge­ wachsen, längere Zeit bei einem sehr katho­ lischen Großelternpaar. Ich habe von meinem neunten bis 14. Lebensjahr bei ihnen gelebt, als Einzelkind sozusagen. Die waren so ka­ tholisch, dass der Papst daneben der reins­ te Protestant war. Das hat mich sicher ge­ prägt und es war ein Prozess der Erkenntnis danach. Ein Waggon dieses beschwerenden Frachtzuges nach dem andern ist abgehängt worden. Religionsgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte hat mich immer schon in­ teressiert, ich habe sehr viel gelesen, auch Kritisches, auch Kirchenfreundliches. Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen Menschen, die das Alte und auch das Neue Testament von vorn bis hinten gelesen haben. Der christliche Glaube ist das Fundament unserer Geistesge­ schichte, ganz klar. Das meine ich immer noch, aber man muss es, um einen Modeausdruck zu gebrauchen, hinterfragen. Ich bin im Lauf dessen, was ich mein siebzig Jahre dauern­ des Erwachsenwerden nenne, immer mehr dazu gekommen, das zu tun. Ich nehme das Anthropomorphe, also die Vermenschlichung 37

von Gott, nicht ernst. Also, den alten Mann da oben mit dem weißen Bart, den gibt es mit Si­ cherheit nicht. Aber den Anfang des Anfanges muss es fast zwangsläufig geben, die Existenz an sich. Dass das „Sein“ von allein entstan­ den ist, ist schwer und eigentlich gar nicht vor­ stellbar. Gott, der wirkliche (wenn es ihn gibt) abstrakte Gott, der vielleicht „die Wahrheit an sich“ ist, ist nicht vorstellbar, nicht sinnlich greifbar. Aber dass etwas sinnlich nicht greif­ bar, gedanklich nicht vorstellbar ist, bedeutet nicht, dass es das nicht gibt. Es gibt ja auch elf Dimensionen, die wir uns nicht vorstellen kön­ nen, und es gibt sie doch. Gibt es Gott? Ich bin noch nicht fertig mit dem Nachdenken.

Delia Müller: Kirche und Glauben sind zwei Paar Schuhe. Doch wo erfährt man ehesten Gerechtigkeit?

Herbert Rosendorfer: Die Frage nach Gerech­ tigkeit ist sehr komplex. Sogar im großen Kom­ pendium „Schönfelder“, der Sammlung aller deutschen Gesetze, findet sich im Register das Wort Gerechtigkeit nicht. Das Wort Gerechtig­ keit kommt in den deutschen Gesetzbüchern also nicht vor. Es gibt ein altes bitteres, durch­ aus selbstkritisches Juristenwort: Bei einem Prozess bekommst du höchstens ein Urteil, Gerechtigkeit nicht. Die Gerechtigkeit scheint 38

also ein ganz scheues Wild zu sein. Vielleicht gibt es sie nicht - wie das Kant’sche Ding an sich nur hinter dem Ideal. Außerdem bedeutet Gerechtigkeit nicht unbe­ dingt Gleichbehandlung. Es müsste eigentlich Gerechtbehandlung genannt werden. Eine Gleichbehandlung ist unter Umständen unge­ recht, weil nicht alle Menschen gleich sind. Die angemessene Menschlichkeit sollte also Ge­ rechtigkeit herstellen. Das könnte eine Art De­ finition der Gerechtigkeit in meinen Augen sein. Ich habe mich in meiner Zeit als Richter immer bemüht, mich in Zweifelsfällen für die Gerech­ tigkeit zu entscheiden, wenn die Rechtslage nicht klar war. Ich hab mich dabei natürlich an die Gesetze halten müssen, aber ich habe dann meistens die Augen geschlossen, Luft geholt und darüber nachgedacht, was in dem bestimmten Fall wohl gerecht wäre. So bin ich meistens zu einer Lösung gekommen. Die ka­ tholische Kirche hat natürlich ihre eigene Ge­ rechtigkeit, aber das ist ein sehr schwieriges, ganz anderes Thema, das Thema „Sünde“. Was ist „Sünde“? Ich meine, die Unmensch­ lichkeit ist nicht nur die größte, sondern ei­ gentlich die einzige Sünde. Die Verletzung der Würde des anderen. Jedes Menschen. DEUTSCHE GESCHICHTE I (VORWORT) Die Weltgeschichte ist eine Blutspur. Sie hat auf 39

dem Weg der Menschheit meistenteils Blut, Tränen, Betrug, Verrat, Dreck und Eiter hinter­ lassen. Ein Goldenes Zeitalter hat es nie gege­ ben. Der hauptsächliche Geruch, der aus der Tiefe der Jahre heraufweht, ist Gestank. Die Zeugen der Vergangenheit, ob es sich um Tem­ pel, Kirchen, Burgen oder Paläste handelt, die Großtaten der Zivilisation wie Kanäle, Pyrami­ den oder Ozeanüberquerungen und gar nicht zu reden von den Schlachten gingen alle auf Kosten geknechteter, blutender, zerquetschter kleiner Leute. Die wirklichen Werte der Kul­ tur, meist Zeugnisse der Kunst, stehen ein­ sam im ganzen Meer von Leid und Brutalität. Dennoch fasziniert die Geschichte. Den wah­ ren Grund dafür habe ich noch nicht entde­ cken können. Dass wir aus der Geschichte lernen, ist ein Aberglauben. Das ist fast noch nie passiert. Allenfalls hat man das Falsche aus ihr gelernt: als Enkel Rache für das zu nehmen, was längst vermoderte andere Großväter dem eigenen angetan haben. Vielleicht liegt das Faszinierende an der Beschäftigung mit der Geschichte darin, dass man - bewusst oder meist unbewusst - von einer jene Fähigkeiten Gebrauch macht, die den Menschen vom Tier unterscheidet: sich als Spezies erinnern zu können. Wahrscheinlich dünkt mich jedoch die Erklärung, dass der Mensch dazu neigt, sich an Katastrophen zu ergötzen, sofern sie nicht 40

ihn selbst betreffen. Mit Sicherheit aber ist eins der Faszinosa der Geschichte deren Beschrei­ bung. Die Geschichtsschreibung war immer, meine ich, eine der vorzüglichsten Diszipli­ nen der Literatur ... Man wird sich daher fra­ gen, wie ich es also wage, mit einem Gibbons, Gregorovius oder Mommsen in Konkurrenz zu treten. Nein, ich wage das nicht. Ich ken­ ne, in aller Bescheidenheit, den Abstand zwi­ schen jenen Helden der Vorzeit und mir, aber es sind in den letzten Jahren derartige Berge von literarischen Gebrechlichkeiten auf histori­ schem Gebiet verfasst worden, dass ich mich nicht zu scheuen brauche, mit denen in Kon­ kurrenz zu treten. Ich beginne mit der Blutspur. Die Justiz wurde im Laufe des vorigen Jahr­ hunderts zunehmend bürokratisiert - unter gleichzeitigem zwangsläufigem Aufblähen des Apparates (Parkinson). Heute funktioniert die Justiz - mehr schlecht als recht - als Urteils­ maschine. Der zynische Satz, den angeblich einmal ein Richter einem idealistisch gesinnten Kläger zugerufen haben soll (se non e vero, e ben trovato): „Hier vor Gericht bekommen Sie nicht Gerechtigkeit, allenfalls bekommen Sie ein Urteil“, trifft den Sachverhalt genau.

Herbert Rosendorfer: Unmenschlichkeit ist nicht nur die größte, sondern eigentlich die einzige Sünde. Die Verletzung der Würde des 41

anderen. Jedes Menschen. Das erkennt z. B. die katholische Kirche nicht an, die einen Ka­ talog von unsinnigen Sünden aufgestellt hat. Delia Müller: Religion ist die eine Sache. Und wie steht es mit der Moral der Menschen?

Herbert Rosendorfer: Vielleicht hat sich der Begriff Moral durch den jahrhundertelangen Missbrauch, namentlich seitens der christlichpaulinisch-augustinischen Sittenlehre, bis zur Unbrauchbarkeit abgenutzt. Vielleicht ist Moral ein abgedankter Begriff. Vielleicht sollte man ihn durch Menschenwürde, Respekt und ethi­ sche Verantwortung ersetzen, und das alles wird durch die Meinungsfreiheit nicht nur ge­ fördert, sondern eigentlich erst garantiert.

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Autobiographische Linien AUSSI Meine Eltern wurden nebst Kindern 1939 durch ein Abkommen zwischen zwei höllischen Politclowns gezwungen, aussi, also hinauszugehen, auszuwandern, den schützen­ den Berggürtel und das wärmende Umland zu verlassen ... Die Winter 1939 bis 1941 waren besonders kalt, die Isar fror zu, was selten ge­ schieht. Ich sehe heute noch, wie meine Mut­ ter über die Reichenbachbrücke geht, aufs Eis hinunterschaut, den Kopf schüttelt und sagt: „Nein. “ Sie tat dann den Schwur, dass sie zu Fuß nach Bozen geht, wenn sie wieder hinein­ darf. Es war ihr nicht beschieden. Mir wurde das Glück zuteil, ohne zu Fuß hineinzugehen, von draußen heimkehren zu dürfen. Ich bin jetzt also wieder drinnen zwischen den schüt­ zenden Bergen. Aber ich stelle noch etwas fest: Ich war öfters in Rom, alles in allem gut ein Jahr ...Da spielt keine gebirgige Schutzzone eine Rolle, das kommt davon, dass man in Rom - und ich un­ terschreibe es gern - sich ganz drinnen in der Mitte der Seele der Welt befindet.

DER HILFSKOCH Kitzbühel ist ein Winter­ sportort ... Die Religion der Kitzbühler ist der Analphabetismus, die Naherholung ist das Le­ sen der Bankauszüge. In Spurenelementen ist 43

auch Kultur vorhanden. So gab es den Kitz­ bühler Rembrandt, er hieß Alfons Walde und wälzte sich, bildlich gesprochen, im Schnee. Er malte nur Schnee... Seine Bilderstellen unge­ heure Schneewüsten dar, bevölkert von kont­ rastierend schwarzen Bauern oder Bäuerinnen, die alle so kernig sind, dass sie ohne weiteres in Karl Moiks Musikantenstadl als Volkstums­ staffage auftreten könnten ...Ich sah die Bilder im Stadtmuseum von Kitzbühel. Es wird offen­ bar nicht häufig besucht, denn ich war dort allein, während draußen die Skimassen in den Straßen kaum aneinander vorbeikamen ... Und alles wird nach Ende der Saison zusammen­ geklappt und magaziniert, die Hilfskräfte nach draußen entlassen, die wenigen eigentlichen Kitzbühler eingemottet. Stimmt wahrscheinlich nicht, wirkt jedoch so.

LOB DER JURISPRUDENZ Den meisten wird es wohl so gegangen sein, wie es bei mir war. „Was wirst du jetzt eigentlich studieren?“, hat meine Mutter gefragt, als ich zur Immatrikulati­ on zu fahren aus dem Haus ging. „Ich habe eine halbe Stunde Straßenbahnfahrt zum Überle­ gen“, sagte ich. Im Immatrikulationsbüro wähl­ te ich die kürzeste Schlange. Es war zufällig die vordem Schalter „Jura“. (Einen Numerus clau­ sus kannte man in jenen goldenen Zeiten noch nicht). Nein, ganz so war es nicht. Was bleibt 44

einem, wenn man weder an Theologie noch Medizin heißes Bemühen wenden will, wenn man keine Begabung für Naturwissenschaft und Technik verspürt, wenn man nicht Lehrer werden will (womit ja so interessante Sachen wie Philologie, Geschichte, Geographie weg­ fallen), und wenn man nicht den schwanken­ den, wenngleich bezaubernden Blütenpfad der Archäologie, Theater- oder Musikwissenschaft betreten will? Jura. (Schmalspuristen weichen auf Betriebs- oder Volkswirtschaft aus). Delia Müller: Richter war also nicht dein Traum­ beruf von Anfang an? Herbert Rosendorfer: Überhaupt nicht. Ich wollte Kunstmaler werden. Ich hab mir einge­ bildet, ein neuer Tizian zu sein, mindestens. Mit der Zeit bin ich draufgekommen, dass das nicht ganz so ist. Trotzdem bin ich auf die Kunstakademie gegangen, zum Kummer meiner Mutter. Aber nach einem Jahr auf der Kunstakademie war mir klar, dass trotz eines gewissen Talents die Kunst kein Beruf für mich ist. Ist ein schönes Hobby für mich, aber mehr nicht. Ich habe allerdings nie aufgehört, zum eigenen Vergnügen zu zeichnen und zu malen. Dann eben Jura studiert. Zwar habe ich mich immer schon für Geschichte interessiert, woll­ te aber nicht Geschichte studieren, weil ich 45

danach vermutlich Lehrer hätte werden müs­ sen. Dazu hatte ich gar keinen Zug. An der Jurisprudenz hat mich vor allem die Rechtsgeschichte interessiert. Sie ist ja ein wichtiger Teil der Jurisprudenz. Nebenbei gesagt, habe ich dabei erkannt (ich war eini­ ge Jahre Hilfsassistent bei meinem verehr­ ten Lehrer Wolfgang Kunkel, dem großen Römischrechtler), dass die Geschichte oh­ ne Kenntnis der Rechtsgeschichte eigentlich nicht voll begriffen werden kann. Alles in allem also habe ich mich für Jura ent­ schieden, habe es nie bereut. Ich zitiere mich selber (aus dem „Mann mit den goldenen Oh­ ren“): Für die Juristerei braucht es keine spe­ zielle Begabung, und eine Begabung für an­ deres stört nicht. Ich habe das Glück gehabt, ein Examen zu machen, das gut genug war, um Richter zu werden. Ich war es gern. Ich bin dann aber auch gern in Pension gegangen. Ich habe es, wie gesagt, nie bereut. Es war gut für mich, einen bürgerlichen Beruf zu ha­ ben. Ich empfehle es jedem, der Schriftsteller werden will. Meinen Studenten hab ich immer gesagt, lernt zuerst einen bürgerlichen Beruf. Ich bin der wirklich freie Schriftsteller. Ich kann auch leben, wenn mir niemand eine Zeile ab­ kauft.

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ANNÄHERUNG AN DIE WAHRHEIT - DAS HEIMAT-LOS Sowohl bei der Heimat als auch bei den Verwandten hatte ich außerordentlich und vermutlich unverdientes Glück, denn die Verwandten sind nahezu alles Menschen, mit denen ich auch unverwandt verkehrte, und dort, wo ich geboren bin, in Bozen, oder ge­ nauer gesagt: in dem nicht mehr als solcher er­ kennbaren ehemaligen Kurort Gries bei Bozen, ist es nach übereinstimmenden Zeugnissen unvoreingenommener Weltkenner eher schön, wenngleich alles getan wird - wie überall - um den Ort durch Überkrustung mit Zivilisations­ accessoires unkenntlich zu machen. Dennoch ist mir Bozen eher Geburtsort als Heimat. Ich bin zu früh weggekommen, hatte noch keine Wurzelvernetzelungen innerhalb der Generation ausbilden können. Alle Freund­ schaften dort stammen aus späterer Zeit, ich bin dort nur ein etwas qualifizierter Tourist, weil ich die Landessprache beherrsche. Und weder bin ich Ehrenbürger noch Träger des Tiroler Adlerordens. Auch Kitzbühel, wo ich die entscheidenden Jahre meiner Jugend verbracht, und das ich vielfach direkt und indirekt besungen habe (von der Stadt und deren Bewohnern ziemlich un­ bemerkt geblieben), ist mir keine Heimat mehr, weil es das Kitzbühel, das ich geliebt habe, nicht mehr gibt. Als ich dort lebte, von 1943 bis 1948, 47

fand aus naheliegenden Gründen kein Frem­ denverkehr statt. Die alte Stadt war eine Idylle, selbst die Hotels störten nicht. Heute ist sie Op­ fer des Brutal-Tourismus geworden und Zweit­ heimat der Schickeria aus München. Bei Mün­ chen, wo ich, wie ich mit Entsetzen nachrechne, fast fünfzig Jahre gelebt habe, geht es mir wie mit gewissen schönen und geistvollen Musik­ stücken, die man zu oft hört und nicht mehr hö­ ren kann. Außerdem gibt es München ja auch nicht mehr, nur noch eine Stadt, die München imitiert. Eine Bearbeitung, sozusagen: die „Klei­ ne Nachtmusik“ von einem Akkordeonorchester gespielt. Grauenhaft und ein weites Feld: aber keine Heimat. München hat das Schicksal fast aller großen Städte erlitten: Es ist verwechselbar geworden. Eines Tages wird der Stadtplan von Oslo oder Baltimore ohne weiteres auch hier verwendbar sein. Vom Charme des Millionen­ dorfes ist fast nichts geblieben. Delia Müller: Warum hast du nach deiner Pen­ sionierung, nach so vielen Jahren in Deutsch­ land, ausgerechnet wieder Südtirol zu deiner Heimat erklärt? Hast du nach den ganzen Jahrzehnten doch noch ein Heimatgefühl ver­ spürt? Herbert Rosendorfer: Ja, das kann man wohl so sagen. Meine letzten Dienstjahre als Richter 48

habe ich am Oberlandesgericht Naumburg ver­ bracht. Als meine Pensionierung näher rückte, überlegte ich, wo ich das, was man den Le­ bensabend nennt, verbringen sollte. Ich erwog von New York über Berlin und Salzburg alles Mögliche, entschied mich aber, mich selber mit dem Spruch zitierend: „Gegenden nördlich des Alpenhauptkammes sind für menschliches Leben ungeeignet“, für Südtirol, genauer ge­ sagt: fürs Überetsch. Seitdem wohne ich in Eppan, und seitdem weiß ich, dass nicht das Klima der Grund ist, dass ich mich als „heim­ gekehrt“ fühle. Ich gehöre hierher. Es mag un­ begreiflich sein: nach 60 Jahren - ist aber so. Unlängst musste ich aus bestimmten Gründen bei der Feuerwehr anrufen. Der diensthabende Brandmeister erkannte mich an der Stimme. Heimat ist, wo einen die Feuerwehr kennt. Hei­ mat ist, wo alle die gleichen Hüte tragen.

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Rosendorfer, betrachtet von anderen (Aus­ züge aus bereits bestehenden Schriften)

Ferruccio Delle Cave, Literaturwissenschaftler aus Bozen: Rosendorfer hat ein Faible für merkwürdige Charaktere und Begebenheiten. Seine Auf­ merksamkeit beginnt dort, wo die Normalität des realen Lebens endet. Das Schreiben ist für ihn auch eine Art „Rechtsprechen“ - die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Weil er sein Geld nie durchs Schreiben verdienen musste, konnte er stets schreiben, was er wollte, nicht, was andere gern hören wollten. Diese Freiheit, so meint Rosendorfer, neide man ihm, was ihn aber weiter nicht störe. Denn der Schrift­ steller hat, neben seiner Literaturprofessur an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, noch zwei andere Passionen, die ihm wichtiger sind als seine Kritiker: die Musik und die Malerei. Daneben begibt sich der Schriftsteller Rosen­ dorfer oft auch auf eine Ebene, die der ScienceFiction abgeschaut zu sein scheint und doch rasend realistisch wirkt: Im Roman „Die Golde­ nen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa“ erobern die Außerirdischen die Erde. Die Eso­ teriker bekommen dabei ihr Fett ab genauso wie die Kirche, die Ökofreaks und die Frauen. Zu beglückwünschen ist der Schriftsteller, der Maler, der Musiker, der Historiker, der Professor 50

und Theatermensch Rosendorfer allemal, nicht nur ob seiner Vielfältigkeit, sondern auch als scharfer Beobachter und Zensor unserer Zeit, in der Vielseitigkeit und Bildung Nebenschau­ plätze gesellschaftlichen Lebens geworden zu sein scheinen. Befreit von weltanschaulichen Zwängen schenkt er uns schließlich jene Lust am Lesen wieder, die wir im Dunstkreis einer seit Jahrzehnten verkopften und intellektuell versponnenen deutschen und österreichischen Literatur schmerzlich vermissen mussten. Inga Hosp, Interview zum 70. Geburtstag von Herbert Rosendorfer: Herr Rosendorfer, in Ihrem bisherletzten Roman „Kadon, ehemaliger Gott“ findet sich folgender Aphorismus: „Ich habe keine Angst davor, dass es nach dem Tod nichts gibt. Ich wüsste es dann nur gern. “ Das ist eine logisch vertrackte Aussage. Das Buch ist vor zwei Jahren erschie­ nen. Würden Sie noch heute dazu stehen? Heute mehr denn je! - Das ist jetzt eine sehr private Aussage zu meinem Siebzigsten, al­ so wohl der Moment, ab dem man wirklich alt wird: Ich war im vorigen Jahr schwer krank, nahe daran zu sterben, so dass es beinahe wirklich mein letzter Roman gewesen wäre. Es ist nicht so, dass ich dadurch mehr Angst vor dem eigenen Tod bekommen hätte, aber er ist konkreter da. Dieses Erlebnis hat mich 51

physisch sehr mitgenommen, mich auch psy­ chisch verändert. Man findet manches nicht mehr so lustig. Andererseits wirft es einen auch auf sich selber zurück und man versucht die Zeit (das Kostbarste, das wir haben) nicht zu vergeuden. Das tu ich jetzt. Die Zehnjah­ resschritte im Leben werden üblicherweise fest gefeiert. Empfinden Sie den Siebziger als starken Einschnitt, oder feiern Sie ihn eher beiläufig? Mein Einschnitt war diese Krank­ heit, die mehr oder minder zufällig mit dem 69./70. Lebensjahr zusammengetroffen ist. Vielleicht hat das (ich glaub’s zwar nicht recht) sogar einen Sinn gehabt, dass das grad zu diesem Zeitpunkt passiert ist. Vielleicht bin ich wirklich ernster geworden. - Ich hab ja ohnedies darunter zu leiden gehabt, dass ich nicht ernst genommen werde. Ich hab eine große Lesergemeinde (das weiß ich), ei­ ne größere als so mancher Autor, der in den Medien hochgelobt wird, aber ich werde von den Großkritikern nicht ernst genommen. (Da­ mit hab ich nicht immer gut gelebt, das muss ich einräumen, aber jetzt lebe ich damit ohne Schwierigkeiten.) Das ist zu Unrecht so, denn meine Sachen sind viel ernster, als sie wirken. Es müsste nur einer hergehn und ein bissl kratzen (es haben auch schon welche das ge­ tan, z. B. Albert von Schirnding), was wirklich drinnen steht unter dem Schokoladeüberzug. 52

Und der muss halt sein, ich kann nicht über meinen Schatten springen (obwohl ich selbst gar keine Schokolade mag), ich kann nicht „schwer“ schreiben ... eben das Ernste unter dem Heiteren, Satirischen verstecken. Das war bisher Ihre große Spezialität. - Sie sind ge­ nesen, es geht Ihnen wieder gut. Sie werden weiterschreiben. Haben Sie schon Erfahrun­ gen damit gemacht, wie sich Ihr Stil, vielleicht auch Ihr Interesse an Inhalten geändert hat durch dieses Erlebnis der schweren Krankheit? Ich musste leider feststellen, dass die Einfäl­ le nicht mehr so sprudeln seitdem. Gut, das lässt im Alter überhaupt nach, selbst bei Goe­ the und Beethoven haben die reinen Einfälle nachgelassen; man muss es ersetzen durch die Ausarbeitung, den formalen Schliff, und vielleicht durch die gedankliche Unterfütte­ rung. - Das merke ich und akzeptiere es, und wenn ich’s akzeptiere, werde ich’s hoffentlich überwinden. Ist ein Thema aufgetreten im Lau­ fe dieser letzten Monate, das vorher nicht da war, und von dem Sie glauben, dass es Ihnen durch die Krankheit nahegetreten ist? Da kom­ men wir auf den anfangs zitierten Aphorismus zurück... von dem es übrigens eine volkstümli­ che Variante gibt: „Lachn tat i, wenn alls zamm nix waar!“ (lacht) Das ist noch prägnanter. - Nein, das Interesse hat sich natürlich noch verstärkt. Ich hab schon vor zehn, 15 Jahren 53

begonnen, mich für das Phänomen Religion zu interessieren. Eine Zeitlang habe ich für mich immer das Wort von - angeblich! - Henri Bergson in Anspruch genommen, er bete je­ den Tag: „Lieber Gott, vielen Dank, dass ich Atheist bin!“ - Ich habe das für mich abge­ wandelt, etwa so: „Lieber Gott, ich bitte Dich, dass es Dich gibt!“ (Aber das ist jetzt wirklich zu persönlich, und es rührt an tiefe Schichten, über die ich mir selber gar nicht klar bin.) - Die Religion ist für mich jedenfalls ein Denkthema geworden, auch ein Schreibthema: Ich halte in Kürze im Kloster Andechs einen Vortrag über den Erzhäretiker Markion. Er hat sich quasi als Fortsetzer des Paulus verstanden und ei­ ne sehr eigenartige, als häretisch verstande­ ne und verworfene Variante des Christentums erfunden, nämlich die These, Jesus habe uns vom Gott des Alten Testaments erlöst, Jesus sei also nicht der jüdische Messias gewesen. Und diese Gedanken des Markion, vor allem seiner Schüler, die dann viele krause und ab­ wegige Dinge hervorgebracht haben, die ha­ ben mich fasziniert. - Selbst wenn man streng katholisch ist und die Dogmen ernst nimmt (was ich selbstverständlich respektiere), selbst dann kann man von den Häresien lernen. Aber was ist es, das die Häresien für Sie so interessant macht? Ist es die Gedankenfrische des aus den erlaubten, eingefahrenen Bahnen 54

Hinausdenkens, der kreative Umgang mit Glau­ bensbotschaften? Genau das ist es: die Viel­ falt, die Möglichkeiten! Ich hab mich ja nicht nur mit dem Christentum befasst. Eins der fas­ zinierendsten Bücher, die ich gelesen hab, ist Mircea Eliades „Geschichte der religiösen Ide­ en“ (ein Werk, für das ich guten Gewissens den Ausdruck „gigantisch“ gebrauche), der ja nicht alle, aber die wichtigsten Religionen schildert. Das hat mich alles interessiert: die Religion als Notwendigkeit. Das hab ich gemerkt in den vier Jahren, in denen ich in den „neuen Bundesländern“ als Richter gedient hab unter Leuten, die fast ein halbes Jahrhundert lang in einem betont atheistischen Staat gelebt ha­ ben und vielfach nicht getauft waren und nie mit religiösen Dingen in Kontakt gekommen sind; das ist ja alles mit Absicht klein gehal­ ten worden. Da hab ich eigentlich das haupt­ sächliche seelische Defizit in diesem Punkt gesehen: diese haltlosen Seelen. Und dieses Problem ist eigentlich nie so richtig benannt und ausgesprochen worden, weil man immer die wirtschaftlichen Dinge in den Vordergrund gestellt hat. Da ist mir aufgegangen: Halt! Das braucht der Mensch, braucht die Menschheit. Ohne das sind das Leben und der Tod nicht zu ertragen. Selbst wenn’s nach dem Tod nichts geben sollte.

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Michael Habermehl, Neuropädagoge, begeis­ terter Rosendorfer-Leser: Ich habe vor kurzem meine gesammelten Werke von Herbert Rosendorfer nebenei­ nandergestellt und einmal gemessen: Es sind zurzeit 99 Zentimeter! Weitere sind ja bereits angekündigt, was mich sehr freut. Der amerikanische Schriftsteller von damals ist heute ein weltberühmter Autor, seine Bücher werden verfilmt (wann wird das erste Rosen­ dorfer-Buch verfilmt?). Ich lese seine Bücher weiterhin gerne, aber Herbert Rosendorfers Bücher sind für mich wahre Weltklasse. Er schrieb einmal: „Ich habe keine Botschaft, ich habe keinen Auftrag, keine Sendung oder so was, sonst würde ich Predigten schreiben.“ Die Bücher Herbert Rosendorfers besitzen für mich eine viel edlere Eigenschaft: Sie sind im besten Sinne lehrreich, ohne belehrend zu sein. Und vor allem: Sie sind unterhaltsam! Das ist das größte Geschenk, das ein Autor seinen Lesern machen kann.

Florian Sonneck verfasste im Sommersemes­ ter 1995 eine Magisterarbeit über die Münch­ ner IBERL BÜHNE bei Herbert Rosendorfer und promovierte bei ihm über den KÜNST­ LERKREIS IN KLAUSEN: Verstehe ich Rosendorfer? „Wenn Sie nicht alles von Ludwig Thoma gelesen haben, 56

werden Sie hier nicht bestehen können.“ Ich zögerte kurz ... Doch der Reiz des großen Namens siegte. Einem Seminar bei Her­ bert Rosendorfer beiwohnen zu dürfen, war mir es wert, mich zu einem späteren Zeit­ punkt ob fehlenden Wissens zu blamieren. Gleich in der Einführungssitzung zu dem Hauptseminar Ludwig Thoma als Theaterdich­ ter, das so ungewöhnlich begonnen hatte, lern­ te ich eine seiner Weisheiten kennen, die mei­ ne gesamte Studienzeit und auch heute meine Arbeit prägt: „Lesen Sie die Primärliteratur. Lesen Sie die Werke der Autoren. Die Sekun­ därliteratur hingegen können Sie vernachläs­ sigen. Deren Verfasser schreiben eh alle von­ einander ab. Ich weiß, wovon ich spreche ..." Als ich später an einem Seminar über Franz Kafka teilnahm, bot sich dasselbe Spiel. Bei der Einführung waren 120 Studenten anwesend, woraufhin Rosendorfer erklärte, dass es nicht genüge, den „Process“ und das „Schloss“ zu kennen, sondern nur die detaillierte Kenntnis aller „Tagebücher“ würde eine tief gehende Betrachtung und das annähernde Verständnis des Weltliteraten ermöglichen. Die Reihen der Kommilitonen lichteten sich zügig. Auch ich stand auf, wurde aber mit den Worten: „Herr Sonneck, bleiben Sie doch bitte“ aufgehalten. Das war der Anfang einer väterlichen Freund­ schaft mit einer schillernden und erstaunenden 57

Persönlichkeit: HERBERT ROSENDORFER. Ein Semester später bot Rosendorfer ein Se­ minar über Die bayerischen Deutschrömer im 19. Jahrhundert an, welchem ich - beein­ druckt von diesem Mann - wieder beiwohn­ te. Eines Samstags initiierte er in diesem Rahmen eine Exkursion in die Pinakothek. Er stand mit mir vor einem der Bilder und frag­ te mich, ob ich die Darstellung erklären kön­ ne. Mit großen Augen blickte ich ihn, den so vielfältigen Künstler, an, erwartete ich doch eine Erklärung von ihm. Doch er lächel­ te nur wissend und ließ mich im Unklaren. Dies blieb nicht die einzige ähnliche Erfah­ rung. Er wiederholte diese Art der Kommuni­ kation viele Male, ob in seinen Seminaren oder im Beisammensein nach Theaterauf­ führungen in seinem Lieblingscafä, der „Ku­ lisse“ auf der Münchner Maximilianstraße. Rosendorfer wirft Fragen auf, gibt Denkan­ stöße. Doch er, der so belesen ist, an des­ sen Lippen man hängen und dessen Wissen, das schier unerschöpflich scheint, man auf­ saugen möchte, maßt sich zu keinem Zeit­ punkt an, die „richtige“ Lösung zu geben. Er begnügt sich damit, was ihm augenschein­ lich großes Vergnügen bereitet, die anderen zum eigenständigen Denken zu bewegen. Während ich diese Zeilen schreibe, überlege ich die ganze Zeit, ob ich ihn, den bedeuten­ 58

den süddeutschen Schriftsteller mit seinem schier unüberschaubaren Werk, verstehe. Ich glaube nicht, oder doch: vielleicht manchmal. Aber es kommt mir nicht darauf an, ihn zu ver­ stehen. So wie es ihm nicht darauf ankommt, die anderen zu verstehen oder verstanden zu werden. Der Reiz ist die Fantasie, das eige­ ne Denken stetig zu erweitern und zu verän­ dern. Daher erlügt sich dieser Weltgeist seine Wahrheiten und schmunzelt über das Unver­ ständnis der anderen. Ich bin ehrlich und sage: „Nein, ich verstehe Rosendorfer nicht, ich lese seine Werke aber mehr als gerne und schätze ihn überaus.“ Françoise Saint-Onge verfasste 1980 eine Ma­ gisterarbeit über Herbert Rosendorfer mit dem Titel „Contrapunctus inversus“ (nachzulesen auf www.saint-onge.de): Wir werden im Werke Herbert Rosendorfers in diesem dichten, schillernden Werk, in eine überaus üppige und prunkvolle Traumwelt ge­ führt, eine barocke, utopische Welt, eine Welt à la Watteau, eine Welt der Masken und des ve­ nezianischen Karnevals, wunderlich und leicht verwelkt, eine Welt, die sich weder nach dem Zeitgeist noch nach der Mode richtet: „Was bei mir einfließt, sind altmodische Dinge, die heute gering im Kurs stehen.“ Dieses Zitat finden wir bei Bruno Weder. 59

Marlene Schwarz, Schwester von Herbert Ro­ sendorfer: Im einige laufende Regalmeter füllenden Werk eines bekannten Schriftstellers, der seine nun­ mehr siebzig Lebensjahre - oder zumindest den größten Teil davon - nutzte, um seine Leser durch skurrile Geschichten aller Art zu erfreuen, findet sich ein Erzählband mit dem Titel: „... ich geh zu Fuß nach Bozen“. Das ist ein griffiger Titel, und der Titel ist ja immer das Schwierigste an einem neuen Buch. Da freut sich der Autor, dass er ihn gefunden hat und der Verlag nichts dagegen einzuwenden hatte. Hier aber hat es eine besondere Bewandtnis damit. Denn die Erzählung, die dem Buch den Namen gibt, handelt von des Autors Mutter. Der Titel ist ein Zitat aus ihrem Mund.

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Curriculum Vitae Ich wurde in Bozen im südlichen Tirol 1934 ge­ boren. Mein Vater wollte, dass ich am Geburts­ tag Goethes zur Welt kommen solle, das hielt meine Mutter für anmaßend, weshalb nur der Geburtstag von Goethes Mutter gewählt wur­ de. Ich machte mich dazu bereit, im südlichen Tirol aufzuwachsen, da befahl aber ein mir damals unbekannter ehemaliger Kunstmaler, dass ich - nebst meiner Familie - heim in das mir ebenfalls noch unbekannte Reich gehen müsse. Mein Vater, ein Bankbeamter, bekam eine entsprechende Stelle an der Stadtspar­ kasse München angeboten. Was für ein Glück für mich, es hätte ja auch Gelsenkirchen sein können. Ich absolvierte in München, dann - ausgelagert wegen der von jenem Kunstmaler leichtfertig herbeigeführten Bombengefahr - in Kitzbühel und wieder in München erfolgreich sowohl die Volksschule als auch die Oberrealschule, bildete mir ein, zum Künstler berufen zu sein, und stocherte in der Kunstakademie herum, rückte aber dann reumütig zur Universität he­ rüber, wo ich Jura studierte, Amtsrichter und dann Richter am Oberlandesgericht wurde und in Pension ging. Nebenbei verfasste ich zahlreiche Vor- und Nachworte, Glossen, Kri­ tiken, Vorträge und so Zeug und fünfzig Bände 61

mit Romanen und Erzählungen. Auch Theater­ stücke und Fernseh- und Hörspiele, und was man eben halt so schreibt, wenn man nicht die Zeit mit Autowäschen und Sport vertrödelt. Ich bin Mitglied verschiedener Vereine und be­ schäftige mich gelegentlich damit, aus ihnen auszutreten, aber es werden nicht weniger. Ich schlittere, wenn ich aus einem ausgetreten bin, in zwei andere hinein. Dank der Tatsache, dass meine Bücher recht viele Leser und vor allem Käufer finden, bin ich in der Lage, die Vereinsbeiträge zu zahlen. Mein liebster Verein allerdings sind die Vinobarden, und da trete ich nicht aus. Nach meiner wohlverdienten Pensionierung zog ich wieder dorthin, woher mich jener in­ zwischen mit Recht verstorbene Kunstmaler herausgezerrt hatte, nämlich ins südliche Tirol, sogar in qualifizierte Gegend dort, ins freu­ denährende Überetsch. Da mir nach meiner Pensionierung mangels juristischer Dienstge­ schäfte zu viel Zeit bleibt, und ich nicht un­ unterbrochen Schrift stellen kann, kehrte ich auch zu dem Irrtum zurück, ich sei Künstler, und verfertige, um nicht nutzlos auf der Straße herumzustehen, Kunst, namentlich beschäftigt mich die Darstellung schöner junger Damen in naturbelassenem Zustand. Ich habe drei Frauen - hintereinander -, vier Kinder und sieben Enkel, Blutgruppe B, den 62

Bayerischen Verdienstorden, das Bundesver­ dienstkreuz und das österreichische Ehren­ zeichen für Kunst und Wissenschaft 1. Klasse und seit 2003 nur noch eine Niere. Gestorben bin ich noch nicht.

Herbert Rosendorfer

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Nachwort

Wir, Delia Müller und ich, haben bei der Vor­ bereitung und der Konzeption dieses Buches viel mehr miteinander gesprochen, als dann als Text hier hineingeflossen ist. Wir haben von Gott und der Welt gesprochen - und von mir und über mich. Unkondensiert wäre dieser Wust an Gesprächen ungenießbar geworden. Aber mir waren diese langen Gespräche wich­ tig, denn ich habe in derem Lauf gemerkt, dass mir an mir selber manches, sogar vieles im Re­ den klar geworden ist. Man kennt sich selber ja so wenig. Das Gespräch kehrt einem die See­ le nach außen und plötzlich stehst du selber neben und oft und manchmal auch hinter dir. Dieses Buch ist also im Grunde genom­ men nicht mehr oder auch nicht weniger als Papier und Druckerschwärze gewor­ denes Gespräch. Konzentriertes Plaudern. Ich hoffe, dass es nahe an die Wahrheit he­ rankommt, und ich bin Delia Müller zutiefst dankbar, dass sie sich mit liebevoller Ge­ duld der Mühe unterzogen hat, aus den vie­ len Gesprächen dieses Buch zu destillieren. Herbert Rosendorfer

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Quellen

Briefe in die chinesische Vergangenheit Herbert Rosendorfer, 1983 Der Hilfskoch Herbert Rosendorfer, 2009

Großes Solo für Anton Herbert Rosendorfer, 2007 Der Gnadenbrotbäcker Herbert Rosendorfer, 2009 Die Deutsche Geschichte - Band I Herbert Rosendorfer, 1998

Erlogene Wahrheiten Festschrift für Herbert Rosendorfer zum sieb­ zigsten Geburtstag, 2004, herausgegeben vom Südtiroler Künstlerbund, Red. Florian Sonneck

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