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German Pages 122 Year 2021
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Herausforderungen für die Demokratie
Sozialtheorie
Mathias Lindenau (Dr. phil.) ist Professor an der Ostschweizer Fachhochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind Angewandte Ethik und normative Fragestellungen der Sozialen Arbeit, politische Ideengeschichte, politische Philosophie und Geschichte der Sozialen Arbeit. Marcel Meier Kressig (Dr. rer. soc.) ist Professor an der Ostschweizer Fachhochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorien, politische Philosophie der Sozialen Arbeit sowie Handlungs- und Entscheidungstheorien.
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.)
Herausforderungen für die Demokratie Überlegungen zu Skepsis, Kohärenz, Macht und Repräsentation. Vadian Lectures Band 7
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Inhalt
Einleitung Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig ........................................ 7
Skepsis und Demokratie Möglichkeiten der produktiven Krisenbewältigung Jens Hacke ................................................................. 23
Populismus und die doppelte Sezession Zu Konflikten und Kohäsion in gegenwärtigen Demokratien Jan-Werner Müller........................................................... 47
Demokratie und Macht Über ein verwirrendes Beziehungsgeflecht Herfried Münkler .............................................................77
Volkssouveränität und Direkte Demokratie Über einen zweideutigen Begriff und das aktuelle Problem der Schweiz Georg Kohler ................................................................ 95
Autoren ................................................................... 119
Einleitung Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig
Vor Zehntausenden seiner Gefolgsleute stellte der noch amtierende, aber nicht mehr wiedergewählte Präsident auf einer Protestversammlung am 6. Januar 2021 die unwahre Behauptung auf, dass ihm der Wahlsieg gestohlen worden sei. Durch ihn angestachelt, machte sich im Anschluss ein wilder Mob auf den Weg, um das Wahrzeichen der Demokratie zu stürmen. Ihre Absicht war es, die formale Bestätigung des Wahlsiegers zu verhindern und dem abgewählten Präsidenten die verfassungswidrige Fortsetzung seiner Präsidentschaft zu ermöglichen. Sicherheitssperren wurden überrannt, Abgeordnetenbüros verwüstet, Gegenstände gestohlen, Menschen wurden verletzt und starben. Was wie ein Bericht über den Putschversuch in einem sogenannten »failed state« klingt, ereignete sich in den USA, dem Mutterland der modernen Demokratie. Wovor man sich in einer traditionsreichen Demokratie gefeit fühlte und was undenkbar schien, wurde Realität und ruft unweigerlich Sinclair Lewis’ Buch Das ist bei uns nicht möglich in Erinnerung. Hat sich die Demokratie erschöpft? Demokratie – Schlachtruf für individuelle Freiheit und rechtliche Gleichheit, politisches Ideal, Referenzmodell für eine erstrebenswerte politische Ordnung, Legitimationsspenderin für politisches Handeln, politisch umkämpfter Begriff. Diejenigen, die in einer Demokratie leben, befassen sich vorrangig mit den Problemen, die sie in sich trägt und den Herausforderungen, denen sie sich gegenüber sieht. Für diejenigen, die nicht in ihr leben, ist sie das Erstrebenswerte, das Versprechen auf eine bessere Zukunft, in der dem Individuum Schutz, Freiheit, Autonomie und Partizipation zukommt. Gegenüber anderen
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Herrschafts- und Regierungsformen wie der Monarchie, der Aristokratie, dem autoritären Regime oder der Diktatur hat die demokratische Ordnung deshalb nichts von ihrer Anziehungskraft und Attraktivität verloren: »Parlamentarische Demokratien produzieren keine Hungersnöte, schlachten die eigene Bevölkerung nicht ab, führen keine Kriege gegen andere liberale Demokratien und ermöglichen friedlichen Machtwechsel. Sie bieten der oppositionellen Minderheit den rechtlich gesicherten politischen Freiraum, im Ideenkampf der miteinander konkurrierenden Parteien dank guter Argumente, attraktiver Programmatik und überzeugender politischer Persönlichkeiten einmal zur Mehrheit zu werden. Auch anerkennen und garantieren sie elementare vorstaatliche Freiheits-, Grund- oder Menschenrechte und erlauben im Rahmen der Rechtsordnung ein Höchstmaß an öffentlich bekundbarer Pluralität der Weltdeutungen und Vielfalt der Lebensstile. Sie hindern niemanden daran, in den von der Rechtsordnung definierten Grenzen – die die Freiheit der jeweils anderen schützen sollen – das je eigene Ideal guten, glücklichen Lebens zu realisieren. […] Es ist nicht der geringste Vorteil der Demokratie, daß in ihr Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit als konstitutive Grundrechte geschützt sind und so ein freier diskursiver, unter den Bedingungen des modernen Pluralismus zumeist auch äußerst kontroverser Austausch über all jene Fragen und Probleme ermöglicht wird, die einzelnen Bürgern oder Gruppen von Bürgern wichtig sind.« (Graf 2018: 18) Demokratie ist jedoch nicht nur Projektionsfläche der mit ihr verbundenen Hoffnungen und der auf sie gerichteten Erwartungen. Sie ist zudem einer jener politischen Begriffe, der sich in der politischen Semantik durchgesetzt hat und auf dessen typisches Vokabular selbst von ihren Gegnern nicht verzichtet wird. Da der Demokratiebegriff aufgrund seiner inhaltlichen Dehnbarkeit von allen politischen Akteuren genutzt werden kann und wird, sind die Ansprüche umkämpft, jeweils die ›wahre‹ Demokratie zu vertreten. Denn der Wortsinn der »Volksherrschaft« ermöglicht eine vielfältige Auslegung, der es auch Regimen gestattet,
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für sich eine demokratische Legitimität in Anspruch zu nehmen und zu reklamieren, im Namen, im Auftrag und vor allem im Interesse des Volkes die jeweilige Herrschaft auszuüben (vgl. von Krockow 1985: 432). Doch trotz der »Missbrauchskapazität des Demokratiebegriffs« (Llanque 2007: 286) und seiner inflationären Verwendung im modernen Sprachgebrauch ist dennoch nicht beliebig, was eine Demokratie auszeichnet. Auch wenn aufgrund der bestehenden Variationsbreite des Demokratiebegriffs und des Demokratieverständnisses jeder Definitionsversuch unbefriedigend bleiben muss, lassen sich zentrale Merkmale benennen, denen eine Demokratie genügen muss. Grundlegend ist die direkt oder repräsentativ aus dem Volk hervorgehende politische Herrschaft, die in seinem Interesse bzw. dem Interesse seiner Mehrheit unter Achtung von Minderheitenrechten ausgeübt werden soll. Dazu bedarf es der Vorstellung von der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger, die den wesentlichen Unterschied der modernen Demokratie gegenüber ihren klassischen Vorbildern markiert; dem Verzicht auf das Beharren einer homogen zusammengesetzten Bevölkerung bei gleichzeitigem Toleranzgebot; dem Vorhandensein eines stabilen Regierungssystems, das in der Lage ist, auf Konflikte mäßigend einzuwirken; gekoppelt damit die Bereitschaft aller Beteiligten – Mehrheiten wie Minderheiten – zur Relativierung ihrer Ansprüche und Forderungen; der Geltung bürgerlicher Grundrechte sowie des rechtsstaatlichen Schutzes des einzelnen vor staatlicher Willkür; schließlich müssen den Bürgerinnen und Bürgern gleiche Einwirkungsmöglichkeiten einräumt werden, die sich i.d.R. als Partizipationsrechte und -chancen materialisieren (vgl. u.a. von Krockow 1985; Richardson 2008; Marschall 2014). Wenn in der Vergangenheit auch immer wieder erbittert über Demokratiekonzepte gestritten wurde, so schien doch die Demokratie selbst nie in Frage zu stehen. Das hat sich geändert, in Bezug auf die Demokratie ist Ernüchterung eingekehrt. Als sich 200 Jahre nach der Französischen Revolution das Ende der Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus abzeichnete, wuchs die Überzeugung, dass von nun an die Demokratie und mit ihr das Modell der (sozialen) Marktwirtschaft den weltweiten Siegeszug antreten werde. Fukuyamas
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These vom Ende der Geschichte (1992) ließ die liberale Demokratie als einen stabilen Endzustand der geschichtlichen Entwicklung erscheinen, als ein überlegenes Modell, das – auch global – zwangsläufig den Fortschritt zum Besseren verkörpert. Doch nicht nur die Erfahrungen mit dem »Arabischen Frühling« zeigten, dass diese Annahme wohl doch zu optimistisch war. Die ethnischen Säuberungen, wie sie z.B. im ehemaligen Jugoslawien verübt wurden, um demos und ethnos deckungsgleich zu machen, offenbarten schonungslos, dass auch die Demokratie pervertiert werden kann (vgl. Mann 2007). Aber auch Entwicklungen wie etwa in den EU-Mitgliedsländern Ungarn und Polen, die mit ihrer Politik eine immer autoritärere Ausprägung der Demokratie betreiben, führen vor Augen, dass Demokratisierungsprozesse nicht unumkehrbar sind und wesentliche demokratische wie auch rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt werden können (vgl. Müller 2013). Und so erstaunt auch nicht, dass der Nimbus der Demokratie, »synonym mit allem Guten, Schönen und Wahren in der Gesellschaft« (von Beyme 1974: 12) zu sein, seine Strahlkraft eingebüßt hat. An die Stelle des einstigen Optimismus sind unterschiedliche Krisenszenarien des bislang weitgehend unangefochtenen Modells der liberalen Demokratie getreten – bis hin zu der Überlegung, dass bereits das Zeitalter der Postdemokratie eingetreten sei, in dem die Grundrechte und die formalen Partizipations-, Repräsentations- und Entscheidungsverfahren der Demokratie nach wie vor Bestand haben, gesellschaftlich wirksame Entscheidungen jedoch zunehmend außerhalb demokratischer Institutionen getroffen werden und dem zunehmenden Einfluss privilegierter Eliten unterliegen (vgl. Crouch 2008). Inwiefern die oft benutzte Krisenmetapher hilfreich ist, um die Schwierigkeiten der Demokratie zu analysieren, ist umstritten: Zum einen zeigt der Begriff Verschleißerscheinungen, da oft im Dunkeln bleibt, wer oder was krisenauslösend ist, ob begriffslogisch überhaupt von einer »permanenten« Krise gesprochen werden kann oder die beschriebenen Problemlagen tatsächlich ein Spezifikum der Demokratie oder grundsätzlich aller Regierungsformen darstellen. Zum anderen ist der Begriff »Krise« ein suggestives Schlagwort, dass unverzüglichen Handlungsbedarf re-
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klamiert. Die damit verbundene »Thematisierung eines Zustandes, der auf eine dramatische Zuspitzung zustrebt« (Orth 2010: 151) suggeriert, dass in einer Ausnahmesituation der status quo nicht weiter fortgesetzt werden kann, sondern Veränderungen unverzichtbar sind, um die Bedrohung des demokratischen Systems abzuwenden. Solch akute Krisen sind in aller Regel in Bezug auf die etablierten Demokratien nicht gemeint, sondern Krise steht hier als Synonym für die Besorgnis, dass die normative Substanz der Demokratie ausgehöhlt wird und sich letztlich in einer Regression befindet. Ob diese Krisendiagnose geteilt wird, ist abhängig vom angelegten Demokratieverständnis: Sind freie, gleiche und geheime Wahlen das alleinige Charakteristikum der Demokratie? Oder besteht der Wesenskern der Demokratie über faire und freie Wahlen hinaus darin, dass diese in die Sphäre eines Rechtsstaats und der Gewaltenkontrolle integriert sind und demokratisch nicht legitimierte Akteure keine Möglichkeit besitzen, anstelle der gewählten Regierung zu herrschen? Oder muss die Demokratie zur Herstellung der politischen Gleichheit ihrer Bürgerinnen und Bürger soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit in ihr Selbstverständnis inkludieren und entsprechend Maßnahmen ergreifen, mit denen (extreme) Ungleichheiten und Ungleichverteilungen in Bezug auf die Grundgüter, Einkommen und Lebenschancen vermieden werden? (vgl. u.a. Lessenich 2019; Thiel 2015; Merkel 2013; Möllers 2012) Auch wenn – wie gezeigt – keine Einigkeit darin besteht, ob und in welchen Bereichen sich die Demokratie in einer Krise befindet und diese Einschätzung letztlich abhängig davon bleibt, welches Demokratieverständnis zugrunde gelegt wird, so bedeutet das freilich nicht, dass die Demokratie nicht mit Problemen zu kämpfen hätte: Ein diffuses Unbehagen des Demos mit der Demokratie ist nicht zu übersehen, strukturelle Unzulänglichkeiten treten zutage, neue Herausforderungen für das 21. Jahrhundert stellen sich. Demokratien müssen immer wieder Anpassungsleistungen gegenüber den sich stetig verändernden Kontextbedingungen erbringen, was auf bestehende Problemlagen wie auch auf die neuen ökologischen und globalen Pflichten gleichermaßen zutrifft. Unter anderem werden dabei folgende Punkte thematisiert:
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Schwindende staatliche Handlungsoptionen. Nicht nur die Abgabe von Kompetenzen an supra- und transnationale Organisationen können eine Verengung des demokratischen Spielraums nach sich ziehen (vgl. Schmidt 2019: 525ff.). Vielmehr besteht die Gefahr, dass die Demokratie aufgrund der hohen Abhängigkeit von wirtschaftlichen Prozessen durch eine autoritär-technokratische Marktdiktatur abgelöst wird. Die Demokratie muss ihren Geltungsbereich gegenüber Global Playern und einer global vernetzten Ökonomie behaupten, damit nicht ihre Sonderinteressen über relevante gesellschaftliche Fragen entscheiden (vgl. Streeck 2016; Dörre 2019). Erschöpftes Wohlstandsversprechen. Die Demokratie droht ihre Leistungsfähigkeit für die Sicherung und Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen zu verlieren. Die Verschärfung der sozioökonomischen Ungleichheit, aber auch die Debatten um das »rightsizing« des Sozialstaates lassen die Frage nach der Demokratie als »sozialer Zugewinngemeinschaft« virulent werden. Es besteht die Befürchtung, dass insbesondere durch die Einschränkung der sozialen Sicherungssysteme die sozialen Spaltung vertieft wird, aber sich auch die der Arbeits- und Lebensbedingungen gerade für die jüngeren Generationen verschlechtern werden (vgl. Klöpper/Büsing 2013; Höffe 2009). Wachsende Entfremdung gegenüber der classe politique. Die empfundene Distanz gegenüber den politischen Entscheidungsträgern hat sich vergrößert. Der hochkomplexe und zunehmend intransparent gewordene Entscheidungsprozess in Demokratien kann dazu führen, dass diejenigen, die nicht über Macht oder Organisationsfähigkeit verfügen, um ihre Interessen mit Nachdruck zu vertreten, kein Gehör finden. Dadurch bleiben diesen Gruppen oder Individuen strukturell Teilhabechancen verwehrt, die jedoch wesentlicher Bestandteil demokratischer Ordnungsvorstellungen sind (vgl. Nolte 2015; Vorländer 2011). Erosion der Bereitschaft zu bürgerlichem Engagement. Wenn die Bürger sich nur noch marktkonform verhalten und ausschließlich ihre egoistischen Eigeninteressen verfolgen, sie sich nicht mehr gegenüber der demokratischen Praxis verpflichtet fühlen – und das heißt: sich
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in Bürgerräten zu engagieren, politische Ämter auch dann zu übernehmen, wenn sie zeitintensiv und finanziell uninteressant sind, unabhängig von den eigenen Vorteilen im Parlament Argumente abzuwägen – dann kann die Demokratie nicht bestehen (vgl. NidaRümelin 2013; Saage 2005). Inkongruenz von Autoren- und Adressatenvolk. Zum Staatsvolk gehören längst nicht mehr alle, die dauerhaft auf dem Territorium eines bestimmten Landes leben; für die Schweiz entfallen etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung auf ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen (vgl. EDA 2018). In Bezug auf die Stimmabgabe führt die Diskrepanz zwischen Staatsbürgerschaft und Mitbürgersein dazu, dass ausländische Mitbürger und Mitbürgerinnen in einem wesentlichen Bereich von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden – was dem Ideal der freien Selbstbestimmung aller widerspricht und Minderheiten benachteiligt (vgl. Eichenberger/Koukal 2019; Dreier 2018). Zunahme der Ideologiebereitschaft und populistischer Sichtweisen. Die Sehnsucht nach simplen Weltdeutungen, aber auch die Sorge um den Verlust des ökonomischen und sozialen Status können bei Menschen die Ideologiebereitschaft fördern sowie (rechts-)populistischen Parteien Zulauf bescheren. Die Demokratie wird durch die Zunahme des Populismus herausgefordert, wenn der demokratische Grundkonsens schwindet. Problematisch zu bestimmen bleibt, wo die Grenze zwischen legitimen politischem Meinungsstreit und Missachtung der demokratischen Werte und Verfahren verläuft (vgl. Mounk 2018; Jesse/Mannwitz/Panreck 2019). Veränderte Wahrnehmung von Politik durch die Massenmedien und das Internet. Massenmedien und Internet bieten neue Möglichkeiten der Meinungs- und Willensbildung. Gegenüber den damit verbundenen Chancen können sie aber auch Freiheiten aushöhlen und Grundrechte gefährden. Zudem können sie erheblich an Deutungsmacht gewinnen, so die politische Agenda beeinflussen und schließlich die Komplexität des Politischen unterlaufen (vgl. Bernholz/Landemore/Reich 2021; Esser/Büchel 2013).
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Solche und ähnliche konjunkturelle Probleme wie inhärente Strukturprobleme rufen die Fragilität von Demokratien in Erinnerung. Die unter Einhaltung formal korrekt demokratischer Prozeduren getroffenen Maßnahmen, die jede für sich nicht bedrohlich wirken mag, können im Endeffekt dafür sorgen, dass Demokratien entweder in autoritäre Staaten abgleiten oder letztlich nur noch »Schwundstufen der Demokratie« (Offe 2003: 138) übrig bleiben – wie die Entwicklungen u.a. in Osteuropa zeigen. Dieser Wandlungsprozess vollzieht sich nicht mehr mittels Gewalt oder Putschen, sondern schleichend und unscheinbar (vgl. Przeworski 2020). Um einer derartigen Erosion der Demokratie etwas entgegenzusetzen, wurde verschiedene Therapievorschläge unterbreitet, z.B.: die Demokratie nur noch verantwortungsvollen, informierten Menschen mit politischen Kompetenzen zukommen zu lassen (vgl. Brennan 2017); oder das Los als politisches Entscheidungsinstrument zu nutzen (vgl. Buchstein 2019); oder die Einführung des »quadrat voting«, in dem jeder Bürger und jede Bürgerin jährlich über ein bestimmtes Quantum an Stimmrechten verfügt, das für anstehende Abstimmungen eingesetzt oder für spätere Abstimmungen aufgespart werden kann (vgl. Posner/Weyl 2018); oder das Umstellen auf eine »e-democracy«, um die Teilhabemöglichkeiten der Bürger und Bürgerinnen zu erhöhen und den öffentlichen Sektor zu reformieren (vgl. Ronchi 2019); oder die Überlegung, das Parlament mit einer Reihe kompetenter Fachinstitutionen zu kombinieren, um Wähler und Gewählte von hochkomplexen Problemen zu entlasten und so Populismus und politischer Apathie zu begegnen (vgl. Willke 2016); schließlich die Überlegung, eine »Herrschaft der Alten« (Benini 2019: 15) zu verhindern, in der die alten Generationen auf Kosten der jungen Generation politische Entscheidungen durchsetzen und anstelle dessen eine »Seniorendemokratie« (Richter 2020) zu setzen, in der Senioren als Träger und Treiber einer lebendigen Demokratie fungieren sollen. Nun ist grundsätzlich nicht zu erwarten, dass Reformansätze wie Wundermittel zur Bearbeitung von bestehenden oder künftigen Herausforderungen der Demokratie wirken – so inspirierend diese im Einzelfall auch sein mögen –, denn auch sie beinhalten problematische
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Aspekte: Ein elitäres Projekt wie der Vorschlag von Brennan, in der erst eine bestandene Kompetenzprüfung das Wahlrecht ermöglicht, verletzt den Grundgedanken der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie. Das Losverfahren mag auf kommunaler Ebene zur Bürgerbeteiligung durchaus seine Berechtigung haben, als Alternative zur Wahl ist es hingegen unbrauchbar, da die Gewählten sich nicht auf Wahlvoten berufen können, aber dem Wahlvolk gegenüber auch nicht rechenschaftspflichtig sind. Quadrat voting mit seinem Auktionsgedanken könnte sich kontraproduktiv auswirken, da es Anreize schafft, dass sich die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr für alle Belange der Demokratie interessieren, sondern primär für solche, die ihnen wichtig sind oder wenn sie noch Stimmrechte übrig haben. E-democracy kann durchaus einen Beitrag zur Emanzipation und Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern leisten, erweist sich aber auch als zweischneidiges Schwert, da es das soziale Selektionsproblem nicht entschärft, sondern vor allem junge und gut ausgebildete Menschen bevorzugt; fraglich ist auch, ob die Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook oder Twitter tatsächlich etwas zur Qualität des demokratischen Prozesses beiträgt und wie zudem verhindert werden kann, dass opake Entscheidungssysteme den Menschen von politischen Bewertungen, Abwägungen und Entscheidungen verdrängen. Die dezentrierte Demokratie, die auf eine Reform der demokratischen Institution Parlament zielt, könnte einen hohen Preis nach sich ziehen, da sie dem Expertenwissen eine besondere Stellung einräumt und so das Ideal demokratischer Gleichheit beschädigt werden kann; zudem könnten überzogene Erwartungen an den Sachverstand entstehen, nach Gewissheit bei Themen zu verlangen, deren Entscheidungen jedoch demokratisch ausgehandelt werden müssen. Schließlich wirft die »Seniorendemokratie« die Frage auf, warum das republikanische Ideal des Citoyen, sich für die Demokratie zu engagieren, nur an diese Gruppe herangetragen werden soll; ihre zahlenmäßige Stärke wie auch ihre geronnene Lebenserfahrung ersetzen nicht die notwendige demokratische Auseinandersetzung um die konkurrierenden Interessen der Bürgerinnen und Bürger.
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Dessen ungeachtet werden die Suchbewegungen weitergehen müssen, um auf Probleme und Herausforderungen reagieren und schließlich politische Entscheidungen treffen zu können. Dazu bedarf es der notwendigen Sensibilität für das Voraussetzungsreiche und Anspruchsvolle der Demokratie: wie die politische Gleichheit und die politische Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger erreicht werden kann. Das umfasst das Sorgetragen dafür, dass die ökonomisch benachteiligten Schichten wie auch die Bevölkerung ohne Staatsbürgerschaft politisch nicht marginalisiert werden, dass keine Sprachlosigkeit zwischen den unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürger entsteht und wie die Pluralität von Lebensformen, kultureller und weltanschaulicher Milieus, Glaubenssysteme und Weltansichten bestmöglich austariert werden kann. Es ist aber nicht nur zu fragen, was eine Demokratie leisten soll, sondern auch, was seine Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie leisten müssen. Das beinhaltet eine Auseinandersetzung darüber, welche »Anforderungen an die Leistungsfähigkeit eines demokratischen Systems« (Massing/Breit 2005: 8) gestellt werden können und wo überzogene Forderungen in Enttäuschung münden müssen. Aber auch, ob die Demokratie an wachsenden Wohlstand gebunden ist oder wie sich konkurrierende Ansprüche verschiedener Partikularinteressen von Gruppen aufheben lassen. Vor dem hier skizzierten Hintergrund lenken die Beiträge dieses Bandes den Blick bewusst nicht auf ein einzelnes Problem, sondern auf grundsätzliche Fragestellungen der Demokratie. Einleitend fragt Jens Hacke nach dem Verhältnis von Skepsis und Demokratie. Demokratie, so zeigt Hacke auf, ist nicht nur die einzige Regierungsform, die ihr gegenüber Skepsis duldet, sondern die außerdem essenziell auf Skepsis zum Zweck ihrer Selbstverbesserung angewiesen ist. Denn sie bildet ein gutes Sensorium dafür, nicht in Selbstzufriedenheit und Arroganz zu verfallen, sondern die immer wieder neu zur Selbstkritik auffordert. Ausgewogene Skepsis erinnert aber auch daran, dass die permanente Bearbeitung von kleineren und größeren Krisen charakteristisch für Demokratien ist und so eine sensationsheischende Gegenwartsdiagnostik zu relativieren imstande ist.
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Daran knüpft Jan-Werner Müller an. Wenn immer wieder vom abnehmenden Zusammenhalt in der Gesellschaft die Rede ist, zugleich aber Demokratie als eine offene Gesellschaften gewissermaßen vom Widerspruch lebt, warum sollen dann Konflikte und das Ringen um Positionen ein Problem sein? Beruht unsere Vorstellung von einer lebendigen Demokratie nicht gerade auch auf dem politischen Meinungsstreit? Müller illustriert am Beispiel des Populismus, dass im Umgang mit politischen Konflikten harte normative Grenzen gezogen werden müssen – und diese Grenzen bestehen dort, wo die andere Seite im politischen Konflikt nicht mehr als legitimer Partner anerkannt wird. Inwieweit die Bürgerinnen und Bürger eines Landes am politischen Meinungsstreit beteiligt werden und welche Einflussnahmen sie dabei besitzen, verweist auch immer auf die Frage nach der Macht in Demokratien, mit der sich Herfried Münkler auseinandersetzt. Münkler verweist darauf, dass in Demokratien durch das Volk entschieden wird – sei mittels Plebisziten und/oder Wahlen –, welche Macht beschränkt und welche Formen von Macht hingenommen werden sollen. Insofern muss sich Demokratie ständig um die Einflussnahme seiner Bürgerinnen und Bürger auf die Politik zur Sicherung ihrer weitreichenden Voraussetzungen bemühen. Nur dann wird sich das Verhältnis von Macht und Demokratie ausgewogen gestalten lassen. Abschließend erörtert Georg Kohler das Problem der politischen Repräsentation in der Demokratie. Wenn die Ausübung politischer Macht auf der Zustimmung durch die Regierten gründet, also die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, jedoch nicht selbst regieren, dann entsteht die Frage, wie die Repräsentation gestaltet und verankert werden muss. Kohler diskutiert diese Frage mit Blick auf die direktdemokratisch verfasste Schweiz und macht darauf aufmerksam, dass das »Modell Schweiz« nicht einfach auf andere Länder übertragbar ist – was jedoch nicht bedeutet, generell auf das Nachdenken über die gezielte Einführung direktdemokratischer Elemente in parlamentarisch-repräsentative Demokratien zu verzichten. Demokratie, so kann abschließend festgehalten werden, ist »alles in allem eine komplexe Form des politischen Zusammenlebens« (Lenk 1993:
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986). Sie ist kein fertiges Produkt, sondern ein politisches Projekt, das mit der prinzipiellen Offenheit und Ungewissheit von Entwicklungen, der Abhängigkeit von Kontexten sowie der Situationsbedingtheit von Politik bzw. politischem Handeln einen Umgang finden muss. Die Demokratie verfügt über Handlungsmöglichkeiten, um sich den Problemen und Herausforderungen zu stellen. Neben Verfahrensregeln und institutionellen Garantien ist dafür ebenso ein demokratischer Grundkonsens unverzichtbar: Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen ohne Gewalt und auf der Grundlage von geordneten Verfahren auszutragen und die Ergebnisse auch dann zu respektieren, wenn sie dem eigenen Standpunkt zuwiderlaufen. Es ist der gemeinsame Wille, politische Kompromisse zu erzielen, die – trotz des mühsamen und zeitintensiven Ringens um einen fairen Ausgleich zwischen konkurrierenden Interessen – gemeinsam getragen werden können und darin münden, das Bestmögliche für das politische Gemeinwesen zu erreichen. Hierbei kann nicht von einem linearen Fortschrittsoptimismus ausgegangen werden, der die Demokratie für alle Zeiten absichert und grundsätzlich eine Entwicklung hin zum Besseren bedeutet. Denn die Demokratie muss jeden Tag neu errungen werden, sie betrifft uns alle! Wiederum danken wir an dieser Stelle der Karl Zünd Stiftung, ohne deren großzügige Unterstützung die Realisierung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Le Prese/Balgach im April 2021
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Skepsis und Demokratie Möglichkeiten der produktiven Krisenbewältigung Jens Hacke
Die Skepsis gab es vor der Moderne. Sie gehört zur Entstehung der Philosophie. Ihre antiken Ursprünge, die den Wahrheitszweifel und die Vielfalt der Meinungen ins Zentrum des Denkens stellen, gehören zu den Grundlagen jeder philosophischen Beschäftigung. In den platonischen Dialogen werden Streitfragen in der Regel von mehreren Seiten beleuchtet, ohne dass es unbedingt zu einem klaren Urteil kommen muss. Spätere Schulformen der Skepsis zielen auf die Glückseligkeit des Einzelnen, hatten aber kaum Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Das wird in der Neuzeit anders. Darum lässt sich argumentieren, dass das Comeback der Skepsis im Humanismus und in der Reformation zur Ouvertüre der modernen Welt gehört. Die Skepsis steht Pate beim Zweifel an Glaubensgewissheiten, meldet Vorbehalte an, wenn es um Dogmatismus und Wahrheitsansprüche geht – sie befördert den Sinn für Pluralität und widersetzt sich dem Monopolismus der Macht und der ungeteilten Souveränität. Diese Merkmale eignen sich eigentlich für die Inanspruchnahme durch die liberale Demokratie. Allerdings gilt der Skeptiker in der Moderne häufig als konservativ, nicht selten die Grenze zum Nihilismus überschreitend (vgl. Kondylis 1986: 124-127) – und das Verhältnis von Skepsis und Demokratie ist alles andere als geklärt. Im Folgenden soll dazu ein neuer konstruktiver Vorschlag gemacht werden. Die Beschäftigung mit bestimmten Themen wird in der Regel durch schwer erklärbare Vorlieben für Ideen und Begriffe präfiguriert. Sie können vieldeutig sein und wecken Neugier, sie hängen mit bestimm-
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ten Traditionen und Autoren zusammen, deren Profil und Neigungen Interesse wecken. So jedenfalls scheint der Fall zu liegen, wenn man die Vielfalt der Positionen durchmustert, denen eine skeptische Grundhaltung oder die Thematisierung der Skepsis eigen ist. Erasmus, Montaigne, Descartes, die religionskritischen Denker der Aufklärung (Hume, Diderot, Lichtenberg, Wieland), Jacob Burckhardt, Karl Löwith, Thomas Mann, Odo Marquard, Judith Shklar oder Richard Rorty wären Anwärter für ein Pantheon der Skepsis, dessen Mitglieder zunächst einmal keiner eindeutigen politischen Richtung zuzuordnen sind. Es wäre auch schwierig, eine solche Gruppe auf einen gemeinsamen Denkstil festzulegen, denn zu divers sind die Artikulationsmöglichkeiten der Skepsis. Auch ein E.M. Cioran – Nihilist, rechtsradikaler Nationalist – betrachtete sich als Skeptiker. Allerdings sind Skeptiker häufig literarisch sensible Stilisten (vgl. Marquard 2004). Vielleicht ist es so, wie Paul Valery sagt: »Die Optimisten schreiben schlecht.« (zit.n. Mayer 1999: 113) Und möglicherweise lässt sich der Verdacht erhärten, dass Skeptiker besonders darauf bedacht sind, ihrem Zweifel eine Form zu geben, weil ihr Ansatz zunächst einmal reaktiv und kritisch ist. Sie arbeiten sich zumeist an einem Gegenüber ab und entwickeln kein Dogma, nicht selten betonen sie Relativismus und Pluralismus. Für die Annährung an solche Skeptiker kann ein ästhetisches Argument, das inhaltlich offensichtlich eher schwach ist, ausschlaggebend sein. Dennoch sollte man den schwer definierbaren Bereich des Geschmacks, der affektiven Sympathie und der intellektuellen Unterhaltsamkeit nicht unterschätzen, weil dort gewissermaßen Vorentscheidungen für geistige Beschäftigungen getroffen werden. Es gibt ja Autoren, zu denen wir gern zurückkehren, und Sympathien müssen nicht unbedingt zur Überidentifikation führen. Möglicherweise schätzt man einen Autor, eben weil er ganz eigen und anders denkt. Oder man möchte gern nacheifern, schafft es aber aus den verschiedensten Gründen nicht. Kurz: uns allen sind diese außerrationalen Impulse für die Beschäftigung mit Texten und Themen vertraut – und vielleicht ist es gar nicht möglich, darüber befriedigend Rechenschaft abzugeben. Skepsis und Skeptizismus können diverse Formen annehmen und sind an sich politisch nicht festgelegt. Skeptische Grundhaltungen kön-
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nen erkenntnistheoretisch oder religionskritisch motiviert sein, sich gegen den Rationalismus richten oder selbst rationalen Motiven entspringen, sie können sich gegen politische Herrschaftsansprüche wenden oder aber die bestehenden Herrschaftsverhältnisse affirmieren, um sie gegen Veränderungen abzuschirmen. Diese Befunde signalisieren bereits eine besondere Explikationsnotwendigkeit der Skepsis im Feld der politischen Theorie. Denn die Vorannahme bleibt verbreitet, dass es sich bei politischer Skepsis eher um eine konservative, fortschrittsbremsende Disposition handle. Wie Leo Strauss (1956: 177-179) betont hat, kann ein »extremer Skeptizismus« in Konstruktivismus umschlagen. Thomas Hobbes’ Leviathan gibt ein Beispiel dafür, wie man »absolut sichere oder wissenschaftliche Kenntnis« nur von solchen Dingen haben kann, »von denen wir selbst die Ursachen sind, deren Konstruktion in unserer eigenen Macht steht und von unserer Willkür abhängt«. Will man nicht von anthropologischer Skepsis sprechen, denn immerhin vertraut Hobbes auf die Fähigkeiten des Souveräns, so liegt doch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte vor. Selbstorganisation, Altruismus und institutionell gebotene Freiräume sind keine Optionen. Diese autoritäre Disposition, ohne Zweifel eine besondere Form der Skepsis, bleibt bis heute virulent – und ich erwähne sie, um nicht in den Verdacht der Naivität zu geraten. Es erscheint aber reizvoll – so die vorzustellende Überlegung –, eine Heuristik der Skepsis auf demokratietheoretische Probleme anzuwenden. Ein zugegebenermaßen intuitiver Zugriff kann dabei keine strenge Methodik vortäuschen, zumal Skeptiker ohnehin Zurückhaltung gegenüber systematischen Entwürfen pflegen. Trotzdem soll am Ende eine schlüssige Begründung stehen, warum die Demokratie nicht nur Skepsis ermöglicht, sondern vielmehr die einzige Regierungsform darstellt, die essenziell auf Skepsis angewiesen ist und skeptische Tugenden zum Zweck ihrer Selbstverbesserung inkorporiert.
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Relationierungsversuche Zwischen Demokratie und Skepsis lassen sich vielfältige Bezüge herstellen. Naheliegender Weise führt der erste Weg zur grundsätzlichen Demokratieskepsis, die seit der Entstehung dieser Regierungsform in der attischen Polis den theoretischen Diskurs begleitet und als Reflexionskultur nachhaltige und kontinuierlich wirksame Denkmotive etabliert hat. Die Frage, ob die Demokratie eine wünschenswerte und gute Ordnung ist, hat die klassische politische Philosophie bekanntlich eher skeptisch beantwortet. Platon oder Aristoteles reagierten auf die Entstehung einer weitgehend theorielosen Praxis, die sich aus Machtkämpfen und gewachsenen Mitbestimmungsbedürfnissen in der Bürgerschaft langsam etablierte und erst im Nachhinein reflektiert wurde. Als ihre Kennzeichen galten Wankelmütigkeit, Zügellosigkeit und Pöbelherrschaft, und wenn man – wie Platon – die Qualität politischer Führung und den Maßstab der Gerechtigkeit im Auge hatte, so ließ sich die Demokratie eben nicht zu den erstrebenswerten Verfassungen zählen. Das Kreislaufmodell der Verfassungen bei Aristoteles belegt überdies den Übergangscharakter, den man ihr zuschrieb: Die Demokratie ist darin die Degenerationsform der von ihm bevorzugten Politie. So ist also schon in der Antike die Einsicht vorgeformt, dass eine Mischverfassung mit demokratischen Elementen, die der Herrschaft der Gesetze unterliegt (wie in Platons Nomoi), der direkten Demokratie vorzuziehen ist. Freilich konzentriert sich der antike Diskurs auf die gute Ordnung und kennt kein Fortschrittsmodell, das soziale Veränderungen miteinbezieht. Allerdings bleibt die Reanimierung antiker oder speziell platonischer Argumente gegen die Demokratie ein Dauerbrenner der antiliberalen Kulturkritik. Zu groß ist die suggestive Kraft, die in den Beschreibungen der direkten Polis-Demokratie liegt – unabhängig davon, dass heutige repräsentative Regierungsformen damit nicht mehr viel zu tun haben (vgl. Deneen 2018; Brennan 2017). Darüber hinaus erfreut sich die Vorstellung vom Kreislauf der Verfassung wieder neuer Beliebtheit. In den derzeitigen Gegenwartsdiagnosen findet sich häufig die Vorstellung, dass der Autoritarismus der
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Zwischenkriegszeit in Neuaufführung zurückkehren könnte: ökonomische Krisen, Nationalismus, Populismus, Renaissance von Verschwörungstheorien – die Geister der Vergangenheit scheinen zu neuem Leben erweckt. Allgemein führt die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie, die vor allem auf der Erfahrung ihrer Fragilität beruht, zu mancherlei skeptischen Befunden. In dieser Situation können wir uns dem Begriff der Skepsis auf vierfache Weise nähern: Erstens möchte ich entgegengesetzte Inanspruchnahmen der Skepsis für die Demokratie vorstellen, nämlich auf der einen Seite die Überzeugung, dass Skepsis als Eigenschaft des Konservatismus dem Geist der Demokratie widerspricht, sowie auf der anderen Seite den Vorschlag, Demokratie skeptizistisch zu begründen. Zweitens lässt sich plakativ die generelle Skepsis konstatieren, ob die Form der liberalen Demokratie, die sich seit 1945 in der transatlantischen Welt herausgebildet hat, noch hinreichend zur Problembewältigung in der Lage ist. Es wird ihr vielfach nicht mehr zugetraut, fragmentierte multiethnische Einwanderungsgesellschaften zu integrieren, durch effiziente Governance das geforderte ökonomische Wachstum zu generieren sowie gleichzeitig das Gefälle des gesellschaftlichen Wohlstands auszugleichen. Weiterhin lässt sich drittens debattieren, inwieweit politische Gestaltungsutopien und Skepsis in der Demokratie aufeinander angewiesen bleiben. Eine letzte Blütezeit erlebte die »Politik der Skepsis« im Cold War Liberalism, als sie sich, wie Michael Oakeshott (2000) es formulierte, gegen eine ideologisch begründete »Politik der Zuversicht« wandte. Diese einfache Dichotomie scheint heute nicht mehr ausreichend zu sein. Schließlich lässt sich viertens danach fragen, auf welche Weise sich Formen der Skepsis konstruktiv in die liberale Demokratie integrieren lassen. Ich möchte am Schluss dafür argumentieren, dass skeptische Herangehensweisen dafür geeignet sind, die gewachsene Komplexität demokratischer Regierungs- und Lebensformen besser zu verstehen und zu untersuchen als die lange von der Politikwissenschaft favorisierte Konzentration auf die vermeintliche »Demokratisierung der Demokratie« (Claus Offe).
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Frage der Vereinbarkeit von Skepsis und Demokratie »Kann eine ›demokratische‹ Politik auch skeptisch sein?«, fragt sich Paul Valéry (2016: 285) in seinen Cahiers. Der junge Otto Kirchheimer (2017: 173) vertrat im Jahr 1929 noch eine entschiedene Auffassung: »Die Demokratie lebt nur, sofern sie stark ist. Skepsis und Demokratie schließen sich gegenseitig aus. Denn entweder vernichtet die Demokratie die Skepsis oder die Skepsis vernichtet die Demokratie.« Als Sozialist sympathisierte Kirchheimer bekanntlich mit einem emanzipativen Demokratieverständnis, das die Zweifel am Fortschritt ausräumen und die Entfaltung der Volkssouveränität befördern möchte. Hier geht es um eine Maximierung bzw. Verwirklichung demokratischer Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit. Kirchheimers Position ist damit typisch für den verbreiteten Konservativmusverdacht, unter den eine intellektuelle Linke die Skepsis gestellt hatte. Prominent findet sich dieser Aspekt ebenfalls bei Max Horkheimer (1988: 266 u. 273), der dem Skeptizismus jede Zukunftsfähigkeit absprach. Skepsis entsprach einer bürgerlich-liberalen Denkweise, die »den gesellschaftlichen Dingen nicht auf den Grund« geht. »Die Skepsis, einst die Negation der geltenden Illusionen steht heute gegen gar nichts mehr als gegen das Interesse an einer besseren Zukunft«, so Horkheimers Verdikt aus dem Jahr 1938. Begriffsstrategisch interessant scheint mir, dass Horkheimer die Skepsis dem Nihilismus zuordnet und als Alternative das kritische dialektische Denken präsentiert. Zwar spielt beim frühen Horkheimer allenfalls eine imaginierte künftige »klassenlose Demokratie« eine Rolle, aber es wird klar, dass die Skepsis den Weg dorthin erschwert. Dem entgegen steht dezidiert das skeptisch-defensive Demokratieverständnis, wie wir es von den amerikanischen »Founding Fathers« bis zum deutschen Grundgesetz in Verfassungstexten kennen. Im Zentrum stehen die Verhinderung von Machtkonzentration und die Gewaltenteilung als ein System der Sicherungen mit checks & balances. Dahinter steht die Überzeugung, dass das Volk nicht der Interpret des eigenen Willens sein kann, sondern Repräsentanten braucht, um den Volkswillen gewissermaßen zu veredeln und in vernünftige Bahnen zu lenken. Erst nach der »Erfindung« der demokratischen Repräsentation
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und durch die Innovation der großflächigen demokratischen Republik, die die »Founding Fathers« ins Werk setzten, ließen sich die Fragen stabiler und kontinuierlicher Regierung jenseits der alten Vorurteile neu erörtern – »government of the people, by the people, for the people«, wie die idealisierende Forderung von Abraham Lincoln später lautete. In der amerikanischen Verfassung tritt dann zum ersten Mal ein Demokratieverständnis zutage, dass in der Stabilität ein zentrales Qualitätsmerkmal sieht, d.h. in der doppelten Absicherung gegenüber einer tyrannischen Usurpation des Staates einerseits und gegen die Wankelmütigkeit und Stimmungsabhängigkeit des Volkswillens andererseits – wohl wissend, dass das eine zum anderen führen kann und dass sich demokratische Selbstgefährdung und antidemokratische Gegnerschaft oft miteinander verbinden bzw. wechselseitig bedingen. Pluralismus versus Homogenität, Repräsentation versus direkte Demokratie, »checks & balances« versus Souveränität, so lauten die Rezepte, die der Demokratie ein neues Antlitz und vor allem Dauerhaftigkeit verleihen sollen. Die amerikanische Demokratie bietet damit das Vorbild für eine defensive und restriktive Demokratie, die dem Volkswillen enge Grenzen setzt und seine »Veredelung« durch verantwortliche Repräsentanten anstrebt. Erkennbar ist auch das Bonner Grundgesetz von dieser Zurückhaltung gegenüber dem »demos« gekennzeichnet. JanWerner Müller (2016: 108) spricht von einem »stahlharten Gehäuse eingeschränkter Demokratie«, die für den Westen im Kalten Krieg charakteristisch ist. Für die politische Theorie ist freilich eine ganz andere Akzentuierung der Skepsis wichtig geworden. Eine skeptizistische Demokratiebegründung ist bei Kirchheimers Zeitgenossen Gustav Radbruch und Hans Kelsen weiterentwickelt worden (vgl. Kielmansegg 1977: 207ff.). Hans Kelsen (1929/2018) erhob den Relativismus zur Weltanschauung der Demokratie. Damit aktualisiert er eine urliberale Überzeugung, jeden Wahrheitsabsolutismus zu suspendieren bzw. jede Ideologie unter Vorbehalt zu stellen, die einen Alleinvertretungsanspruch verkündet. Kelsen geht es darum, Fortschritt und Entwicklungen offen zu halten, Revisionen zu ermöglichen und die Konkurrenz von Ideen zu fördern. Allerdings bedeutet dieser Relativismus kein »anything goes«, sondern
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fordert von Demokraten, sich dieses Vorbehalts im Hinblick auf eigene Überzeugungen gewahr zu bleiben. Ein solcher Relativismus als Weltanschauung ist deshalb nicht mit einer Entnormativierung der Demokratie gleichzusetzen. Kelsens Skepsis artikuliert sich auch darin, dass weder das Gemeinwohl objektiv bestimmbar ist noch politische und soziale Fragen definitiven Lösungen zugeführt werden können. Das Gemeinwohl oder der Volkswille entzieht sich für Kelsen jeder autoritativen Auslegung; analog zur Volkssouveränität oder zur Repräsentation handelt es sich hier allenfalls um Fiktionen, denn weder gibt es einen fassbaren homogenen Willen des Volkes noch kann dieser einheitlich verkörpert werden. Im Vorgriff auf die einschlägige Bestimmung des Gemeinwohls beim Pluralismustheoretiker Ernst Fraenkel kann Kelsen (1929/2018: 38) folgerichtig »den Gemeinschaftswillen nur als Resultante der Parteiwillen« begreifen. Die liberale Demokratie vertritt deswegen die Idee, Wahrheitsansprüche offen zu halten, schützt die Meinungsfreiheit und die Rechte der Minderheiten. Ihr Ziel ist die Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens und eine politische Kultur des Kompromisses. Mit Odo Marquard (2004) ließe sich festhalten, dass Skepsis den Sinn für Gewaltenteilung, für Kompensationen und für die Zustimmung zur bürgerlichen Welt der Toleranz und Vielheit fördert.
Neue Zweifel an der liberalen Demokratie Das Problem, welche Rolle die Skepsis in der Demokratietheorie spielt, werden wir wieder aufgreifen. Im Übrigen beschäftigt die politische Theorie aber auch die Frage, inwieweit grundlegende Zweifel an der liberalen Demokratie bestehen – inwiefern also eine allgemeine Demokratieskepsis den Diskurs bestimmt und mit welchen Argumenten man diesen Gegnern der parlamentarischen Demokratie entgegentreten kann. Seit ihrer Erfindung in der Antike hat die Demokratie skeptische Zurückweisung erfahren. Die Selbstregierung des Volkes mochte zwar in der politischen Praxis auf erstaunliche Weise funktioniert haben,
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aber sie wurde als Idee erst im Nachhinein aufgrund von Erfahrungen rekonstruiert. Die politische Philosophie war vor allem damit beschäftigt, ihre Vorbehalte gegenüber dieser Staatsform auszubreiten. Platon und Aristoteles waren, wie eingangs erwähnt, Gegner der Demokratie, und warnten vor der ihr inhärenten Tendenz zu Anarchie und Tyrannis. Mit Volkherrschaft verbanden sie vor allem die Dominanz der niederen Instinkte und zügellosen Leidenschaften des Pöbels. Die Demokratie war also stets von der Gefahr der Degeneration bedroht, ihr fehlte die verlässliche Bindung an das Gesetz ebenso wie tugendhafte Führungseliten. Ihre Suche nach der »besten Verfassung« präfigurierte in gewisser Weise die Argumente für eine Mischverfassung (Nomoi, Politie). Das Plädoyer für eine Mischverfassung, die Distanzierung von einem direkten Demokratieverständnis und die Akzeptanz der »undemokratischen Wurzeln« der parlamentarischen Repräsentation in den Ständeversammlungen der frühen Neuzeit variieren gewissermaßen altbewährte Topoi der Kritik an der antiken Demokratie. Stets blieben Skeptiker auf der Suche nach der guten Verfassung, institutionellen Bindungen und nach Wegen zur Auswahl des befähigten Führungspersonals, um den Dämon einer »Tyrannei der Mehrheit« zu bannen. Die liberale Demokratie schaffte es im 20. Jahrhundert, eine liberale Wertesubstanz als »demokratisch« umzudeklarieren und demokratische Gleichheitspostulate zumindest rechtsstaatlich abzusichern. Das von 1918-1945 hart umkämpfte Kompositum »liberale Demokratie« schien im Kalten Krieg bisweilen einen Status der Unauflöslichkeit erreicht zu haben, geriet aber von rechts und links immer wieder unter Beschuss. Der wesentliche Vorwurf lautete in den 1960er Jahren wie heute, dass die repräsentative eben nur eine formale Demokratie sei, unfähig den »wahren Willen« der Bevölkerung oder – rechtspopulistisch – des »Volkes« zur Geltung zu bringen. In den letzten Jahren verschärft sich auch die politikwissenschaftliche Debatte um die Krise der liberalen Demokratie, die vor allem im angelsächsischen Raum seit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten intensiv geführt wird. Ist vorher noch relativ moderat von der Krise der Repräsentation und des parlamentarischen Systems die Rede gewesen, geht es nun ums Ganze. Es genügt,
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sich einige der Buchtitel der letzten Zeit aufzurufen, um die Virulenz der Demokratieskepsis zu belegen: »Wie Demokratien sterben« (Levitsky/Ziblatt 2018), »Der Zerfall der Demokratie« (Mounk 2018), »The Road to Unfreedom« (Snyder 2018), »Counter-Revolution. Liberal Europe in Retreat« (Zielonka 2018), oder jüngst: »Das Licht, das erlosch« (Krastev/Holmes 2019). Die bittere Erfahrung von Brexit und Trump hat deshalb zu einer schonungslosen Inventur der Versäumnisse und Schwächen in der liberalen Demokratie geführt. Dort beschränkt man sich nicht darauf, den Populismus als neuartiges Phänomen zu analysieren und seine zerstörende Kraft offenzulegen, sondern sucht nach den Ursachen, die ihn ermöglicht haben. Der Populismus ist ein Indikator für Defekte und Unzufriedenheiten innerhalb der westlichen Demokratien. Er ist selbst aber nicht skeptisch, wenn man mit Skepsis ein gewisses Reflexionsniveau verbindet. Im Populismus erkennen wir ein Regressionsphänomen, dass aktuelle Vorbehalte gegen die parlamentarische Demokratie bündelt und überwunden geglaubte Vorstellungen von einer identitären Demokratie wiederbelebt. Mit der Simplizität und der inneren Widersprüchlichkeit populistischer Ideologieproduktion müssen wir uns an dieser Stelle nicht beschäftigen. Entscheidend ist lediglich, dass der Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen in den »gefestigten« Demokratien des Westens auf grundsätzliche Strukturprobleme verweist: 1. Nahezu unisono wird das Ende liberaler Selbstgewissheit diagnostiziert. Nicht nur scheint das Fukuyama-Moment endgültig verpufft, als man nach 1989 die liberale Demokratie als alternativlose Siegerin der Geschichte ansah. Das im Kalten Krieg propagierte untrennbare Bedingungsverhältnis von Demokratie, Kapitalismus und Freiheit ist heute zerbrochen. Auch zeitgleich blühende Visionen von einer kosmopolitischen Weltordnung, supranationaler Kooperation und einer fortschreitenden Verrechtlichung internationaler Politik haben ihre Strahlkraft verloren. Während früher die Chancen einer ökonomischen und politischen Globalisierung wie ein Heilsversprechen klangen, treten heute die Ängste vor den Folgen einer neoliberalen Globalisierung in den Vordergrund. Re-Nationalisierung,
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protektionistische Abschottung und der Rückzug aus internationalen Organisationen sind die Folge. Der Vorwurf naiver Selbstgewissheit richtet sich vor allem gegen das politische Establishment. Jan Zielonka (2018: 42-46) und das Autorengespann Levitsky/Ziblatt (2018: 42-85) versachlichen die Kritik an den Eliten, indem sie ihnen eine fahrlässige Rhetorik der Versprechungen und Oligarchisierungstendenzen attestieren. Zudem monieren sie deren kommunikatives Versagen im Hinblick auf tatsächliche Missstände sowie die Unterschätzung der politischen Gegner. Die Selbstkritiken der liberalen Demokratie stimmen auch weitgehend darin überein, dass sozioökonomische Verwerfungen unzureichend politisch bearbeitet worden sind. Den neoliberal begründeten Sachzwängen der Globalisierung folgend hat man weitgehend auf eine demokratische Kontrolle der Märkte verzichtet und damit eine Öffnung der Wohlstandsschere tatenlos hingenommen. (vgl. Zielonka 2018: 54-69; Mounk 2018: 177-187) Technokratische Modelle einer global governance, welche die schleichende Delegation von Zuständigkeiten an transnationale Institutionen und Organisationen jenseits der Demokratie vorsahen, werden mittlerweile ebenfalls skeptisch betrachtet. Es sind nicht unbedingt die tatsächlichen Verhältnisse, die Krisen auslösen, sondern diffuse Ängste und Emotionen, die politisch destabilisierend wirken. Die Furcht vor Ordnungs- und Kontrollverlust, wie auch die Flüchtlingskrise zeigt, sowie das Bedürfnis nach Sicherheit drohen keinen politischen Adressaten mehr zu finden. Timothy Snyder (2017, 2018) wiederum lenkt den Blick auf eine neue globale Konstellation, in der eine autokratische Internationale, allen voran Russland gezielte Maßnahmen zur Zerstörung des westlichen demokratischen Modells unternimmt. Die Quintessenz seiner skeptischen Analyse lautet, dass die liberale Demokratie nicht allein aufgrund selbstinduzierter Probleme geschwächt wird, sondern dass sie dem Angriff eines neuen gefährlichen Gegners ausgesetzt ist. Als Brutstätte für Putins eurasisch ausgreifenden Radikal-
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nationalismus und für Trumps »America-First«-Doktrin macht er die geistige Welt der 1930er Jahre aus. Die derzeitige westliche Selbstkritik ist nicht so sehr von Demokratieskepsis getragen als vielmehr von dem Bestreben, die Demokratievergessenheit eines elitären Liberalismus zu markieren. Anders als die Vertreter einer radikalen Demokratietheorie, die jede Entfernung zwischen Basis und Überbau als Zeichen fataler Entfremdung deuten und in der Demokratie ein fortwährendes Projekt der Emanzipation der Anteilslosen und Diskriminierten sehen, möchten die liberalen Kritiker die bewährten Mechaniken und Funktionsimperative der repräsentativen Demokratie wieder aktivieren. Sie erinnern an das normative Ethos der Demokratie und ihre verpflichtende Semantik: Gemeinwohl, Gleichheitsstreben, Chancengerechtigkeit, Verantwortung, Öffentlichkeit – die demokratische Vergegenwärtigung von gemeinschaftlichen Zielen und die Konkurrenz ambitionierter Konzepte zu ihrer Verwirklichung sind weitaus wichtiger als politische Pathosformeln von Volkssouveränität und der Intensivierung direktdemokratischer Herrschaftsmodi (vgl. Manow 2020). Insofern sollte die Skepsis auch hier in beide Richtungen wirken: zum einen als Remedium gegen einen antiinstitutionellen Demokratieenthusiasmus, der sich als Überwinder der Krise inszeniert; zum anderen als skeptische Kontrollinstanz gegenüber selbstgefälligen Eliten, die allein in den neuen Demokratiegegnern rechts und links das Problem sehen, nicht aber im eigenen Missbrauch staatlicher Mittel für dem Gemeinwohl abträgliche Zwecke.
Gestaltungsutopie und Pragmatismus in der Demokratie Die prominenteste und lange wirksame Denkfigur der Skepsis stammt aus dem Kalten Krieg und artikuliert bekanntermaßen den skeptischen Vorbehalt gegenüber ideologisch und geschichtsphilosophisch inspirierten Politikentwürfen. Neben dem bereits erwähnten Michael Oakeshott lassen sich eine ganze Reihe weiterer Vertreter eines robus-
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ten Liberalismus nennen, bei denen diese Form der Skepsis zu finden ist: Raymond Aron, Isaiah Berlin, Ralf Dahrendorf, Karl Popper, aber auch Odo Marquard. Sie entwickelten eine Vorliebe für das Denken in Dichotomien: offene und geschlossene Gesellschaft (vgl. Popper 1980), negative und positive Freiheit (vgl. Berlin 1995), Skepsis und Zuversicht (vgl. Oakeshott 2000). Selbstverständlich wussten Oakeshott und Berlin (die sich ansonsten nicht besonders mochten), dass auch die positive Freiheit und die Politik der Zuversicht ihre Daseinsberechtigung hat. »Die Zuversicht würde die Politik vereinfachen, indem sie sie abschafft; und eine durch die Zuversicht nicht relativierte Skepsis dürfte von ihren eigenen Unarten in Kürze erdrückt werden. […] Unsere Situation lässt nur ein komplex geartetes politisches Handeln zu. Wir müssen zusehen, wie wir uns in der ererbten und unvermeidlichen Komplexität einrichten, ohne uns in der falschen Hoffnung zu wiegen, wir könnten sie gegen Einfachheit eintauschen.« (Oakeshott 2000: 225) Auch ihnen ging es um eine Balancierung zweier Politikstile, aber sie favorisierten in der Frontstellung gegen den Sozialismus doch mit Nachdruck eine skeptische Position, die sie mit Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und vorsichtigem Pragmatismus verbanden. Diese dichotomische Sichtweise ist als Cold War Liberalism historisiert worden. Gleichwohl kann man diesen Denkern nicht vorwerfen, die Künstlichkeit der internationalen Ordnung während der Blockkonfrontation ignoriert zu haben. Im Gegenteil: Aron sah eine Rückkehr des Nationalismus kommen, fast schmittianisch wähnte er im Zeitalter einer industriellen Weltzivilisation neue irrationale Distinktionsbedürfnisse auf dem Vormarsch; auch Berlin beschäftigte sich zeitlebens mit den Identifikationsbedürfnissen – der Nationalismus blieb das Gespenst, der schlafende Riese. Der wesentliche Unterschied zur progressiven Linken bestand darin, dass man sich von einer Vertiefung der Demokratie wenig versprach. Man hatte es mit »Tocquevillians« zu tun, die alles andere als selbstzufrieden waren. Die 1930er Jahre steckten ihnen in den Knochen. Vielleicht muss man sie neu lesen,
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gerade weil sie die Bestandsvoraussetzungen der Demokratie immer an den Konstellationen internationaler Politik maßen. Es bleibt der Verdacht, dass sie uns auch in demokratietheoretischer Hinsicht noch etwas mitzuteilen haben, auch wenn sie nicht viel Mühe auf eine konstruktive Begründung und Weiterentwicklung der Demokratie verwendeten. Aber als Skeptiker pflegten sie ihre »imagination of desaster«: Sie rechneten stets mit dem Schlimmsten und besaßen einen Sinn für die historisch kontingente und zerbrechliche Verfassung der liberalen Demokratie. Einen der konsequentesten Skeptiker in den Sozialwissenschaften, den Soziologen Niklas Luhmann, können wir als doppelten Kronzeugen für einen erweitertes Skepsis-Verständnis aufrufen. Zum einen aktualisiert Luhmann die bereits bei Oakeshott und Berlin versteckte Einsicht, dass demokratische Politik von Zukunftsentwürfen lebt. Allerdings fühlt sich Oakeshott in den 1950er Jahren vor allem durch utopisch-technokratische Gestaltungsfantasien bedroht. Bei Oakeshott firmierte dies unter dem Begriff des Rationalismus: eine »Politik der Perfektion« oder der »Uniformität« beförderte auf gefahrvolle Weise ein Machbarkeitsdenken. Luhmann (2000: 401-406) kann eine solche Furcht nicht mehr teilen und sich zu Großideologien lediglich ironisch verhalten. Sie firmieren bei ihm als »Rahmenutopien«, die den Kontext für politische Programmatiken liefern. Darüber hinaus reduziert Luhmann dieses Utopieverständnis radikal skeptisch auf seine instrumentelle Funktion. Die Utopien sind nicht mehr Gegenbilder, die Auswege aus der Malaise der Gegenwart bieten oder wahren Glauben produzieren, sondern entspringen selbst dem politischen System, dass sich damit – Luhmann nennt das Beispiel »Soziale Marktwirtschaft« – seiner guten Absichten versichert (vgl. Lange 2002: 185ff.). Anders gewendet: Die Politik ist darauf angewiesen, die Illusion von Gestaltungsmacht und Steuerungskompetenz durch Rahmenutopien aufrecht zu erhalten, aber sie ist nicht mehr in der Lage, die Impulse aus ihrer Umwelt angemessen aufzunehmen. Insofern haben wir es hier nicht nur mit einer Deflationierung des Utopiebegriffs zu tun, sondern mit der skeptischen Beschränkung demokratischer Politik auf
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Funktionalismus und Pragmatismus. Luhmann machte klar, dass die alte Form der Utopieskepsis ohnehin ein überholtes Manöver war, seitdem sich die Politik in der Demokratie in postideologischen Fahrrinnen bewegte. Er forderte dazu auf, die Steuerungsmöglichkeiten von Politik insgesamt in Zweifel zu ziehen – und liegt damit erstaunlich nahe bei Oakeshott. Langfristiges intentionales Handeln hielt er in komplexen Gesellschaften für zunehmend unmöglich. Die Politikwissenschaft muss sich natürlich Luhmann im Kern widersetzen, weil sie sonst ihren Beruf und ihre Aufgabe verfehlen würde: reine Selbstbeobachtung des Systems, die Unmöglichkeit von Gesellschaftssteuerung, die Vorspiegelung von Handlungsalternativen – das passt ebenso wenig in unsere Wahrnehmung von Politik, wie sich damit die Disziplin der Politikwissenschaft rechtfertigen lässt. Trotzdem liegt in Luhmanns Skepsis gegenüber der politischen Gesellschaftssteuerung in der Demokratie eine heilsame Provokation. Zwar würden wir Luhmann mittlerweile widersprechen und konstatieren, dass wenn nicht Rahmenutopien, so doch Ideologeme von außen in das politische System einwandern können – der Populismus wäre nichts anderes. Wir können der Demokratie auch nicht mehr so abgeklärt wie er Stabilität zuschreiben. Da sind wir mittlerweile skeptischer geworden. Aber Luhmann sensibilisiert uns dafür, Politik in der Demokratie nicht nur im Blick auf Handlungsoptionen zu untersuchen, sondern politische Kommunikation komplexer zu entschlüsseln: als Mittel zur Absorption moralischer Konflikte und zur Absorption von Unsicherheiten – während er den Glauben aufrechterhält, dass im Hintergrund die gesellschaftlichen Teilsysteme ungestört weiterfunktionieren. Der Politikwissenschaftler Helmut Willke hat sich in mehrerlei Hinsicht von seinem Lehrer Luhmann abgesetzt. Zwar moniert auch er das Misslingen demokratischer Gesellschaftssteuerung, aber wir haben es hier nicht mit einer illusionären Vorspiegelung von Handlungskompetenz zu tun, sondern mit einer analysierbaren Steuerungsschwäche. Er sieht die »Demokratie in Zeiten der Konfusion« (2014) gefährdet, weil sie nun im Leistungsvergleich mit anderen politischen Ordnungsmodellen, die wie China Autoritarismus mit Kapitalismus verbinden, ab-
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zufallen droht. Willke ist also skeptisch, was die Output-Legitimität der Demokratie betrifft, und möchte die Demokratie von ihrer Aufgabenlast befreien. Effiziente Steuerungsmaßnahmen im Sinne einer smart governance sollen an die Experten von transnationalen Institutionen und Organisationen delegiert werden. Die Demokratie würde sich konsequenter Weise dem neoliberalen Trend zur Deregulierung, Entstaatlichung und Privatisierung fügen und verhinderte eine »Entscheidungsüberflutung«. Aus dieser Sicht spricht ein enormes Vertrauen in die Eliten einer globalen Wissensgesellschaft. Willke versucht also eine Kombination aus Expertokratie und reduzierten demokratischen Kontrollfunktionen. Auch hier wäre Skepsis angebracht. Willke sieht sein Plädoyer für eine dezentrierte Demokratie dezidiert als demokratietheoretischen Beitrag. Ihn leitet dabei die Überzeugung, dass die Demokratietheorie notorisch die kognitiven Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger überschätzt und vergeblich ihr Heil in der Ausweitung demokratischer Prozeduren sucht, ohne auf efficient governance zu achten.
Richard Rorty: Skepsis und Hoffnung Skeptisches Denken muss sich allerdings nicht in ostentativ postideologischer Manier oder im Pathos der nüchternen Sachlichkeit präsentieren. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty (1992) hat trotz seiner ironisch-skeptischen Grundhaltung stets an den politischen Zielen der Linken: das Streben nach sozialer Gerechtigkeit – festgehalten. Er war durch die Schule der Skepsis gegangen und hatte sich lediglich von den geschichtsphilosophischen Gewissheiten einer Linken gelöst, die meinte, den Fortschritt ohnehin auf ihrer Seite zu wissen. Rorty rechnete mit Rückschlägen, mit Aufklärungsverlusten und mit der Korrumpierbarkeit eines progressiven Selbstverständnisses. Er beschränkte sich allerdings nicht darauf, kommende Fehlentwicklungen zu imaginieren, sondern versuchte die Hoffnung auf Lernprozesse und grundsätzliche Verbesserung zu bewahren. Ein Musterbeispiel für Rortys skeptischen Ansatz bietet sein Essay »Looking Backwards from the Year 2096« aus dem Jahr 1996. Dieser Text bietet eine beeindruckende Übung in politi-
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scher Prognostik, die rund 25 Jahre nach der Niederschrift in mancherlei Hinsicht erstaunliche Aktualität gewinnt. Rortys fiktiver historischer Rückblick resümiert eine tiefe Krise der Demokratie, hervorgerufen durch ökonomische Ungleichheit und Bürgerkrieg. Der Graben zwischen den gut ausgebildeten und gutverdienenden Besitzenden auf der einen sowie den prekär Beschäftigten und Arbeitslosen auf der anderen Seite vergrößerte sich zusehends, ohne dass die Politik sich darum kümmerte. Die Klassenkonflikte steigerten sich zum Bürgerkrieg; aufgrund der laxen Waffengesetze eskalierte die Militarisierung des öffentlichen Lebens. Der Staat verlor Anfang des 21. Jahrhunderts das Gewaltmonopol, das Vertrauen in die Regierung und die öffentliche Verwaltung schwand, und der Kollaps der Ökonomie führte zum Hobbes’schen Krieg aller gegen alle. Rorty sah in den USA eine durch Deindustrialisierung verursachte sozioökonomischen Misere voraus, die sich in der Tat schon kurz nach der Clinton-Ära kaum leugnen ließ und die George Packer in seiner Sozialreportage The Unwinding (2013) in ebenso faszinierender wie verstörender Weise beschrieben hat. In den 1990er Jahren nimmt Rorty die Warnung ernst, »daß die alten industrialisierten Demokratien auf eine Periode ähnlich der Weimarer Zeit zusteuern, in der populistische Bewegungen die verfassungsmäßige Gewalt stürzen könnten«. Er spekulierte über die Frustration der Modernisierungsverlierer: Sie würden das Systemversagen den Eliten anlasten und darum »einen starken Mann« wählen, der ihnen verspreche, das Establishment zu entmachten. Rorty hielt eine Zerstörung der Demokratie für durchaus wahrscheinlich: »Denn wenn einmal ein solcher starker Mann im Sattel sitzt, könne niemand voraussehen, was passiert.« Sicher sei nur, dass die »Fortschritte der schwarzen und braunen Amerikaner und der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren […] weggefegt« würden (Rorty 1999b: 87f.). Rortys hält damit mindestens zwei Pointen für das künftige Schicksal der Demokratie in den USA parat. Zum einen darf sie ihrer selbst nie sicher sein; jede Form von Arroganz und Selbstzufriedenheit führt zur unausweichlichen Destruktion von amerikanischem Sendungsbewusstsein und Exzeptionalismus. Zum anderen bleibt die Demokratie nur lebensfähig, wenn sie soziale Hoffnung und die Aussicht
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auf eine kollektive Anstrengung zur Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens bieten kann. Diese Aussicht aufrechtzuerhalten hat die Linke versäumt, indem sie die eine Emanzipation zunehmend unter dem Aspekt der identity politics verfolgte, d.h. verschiedene Minderheiten in ihrem Sonderbewusstsein bestärkte, ohne hinreichend die allen gemeinsame citizenship im Blick zu haben. Demokratische Politik opferte das Gemeinwohl und die soziale Gerechtigkeit einer neoliberalen Individualisierung und einer Fragmentierung der Gesellschaft in sexuelle, ethnische oder religiöse Sonderidentitäten. Anstatt die klassische Idee von Amerika als Schmelztiegel und die gegenseitige Achtung als Bürger zu bewahren und zu fördern, hatte sich die »kulturelle Linke« darauf verlegt, das Anderssein zu kultivieren und Unterschiede dadurch zu vertiefen (Rorty 1999b: 97). Diese von Rorty früh formulierte Kritik hat in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren (vgl. Lilla 2018). Im Nachwort zu seiner Aufsatzsammlung Philosophy and Social Hope (1999a: 262-277) präsentiert er sich schließlich als Skeptiker, der seinen Glauben an die Demokratie gegen alle Plausibilitäten hochhalten möchte. Seine Skepsis hatte ihn dazu geführt, ein Zeitalter der Dark Years (2014-2044) zu imaginieren, geprägt von einer Second Great Depression, Gewalt und Bürgerkrieg. Durch sein eindringliches Zukunftsszenario möchte Rorty – dem Vorbild der von ihm bewunderten Romanciers folgend – aufschrecken und aufklären. Es geht ihm keineswegs um Apokalyptik. Neben den Versäumnissen einer Linken, die vom Weg der Sozialdemokratie abgekommen ist, und den spezifisch amerikanischen Lasten einer Demokratie, die seit Beginn von Rassendiskriminierung geprägt war, führt er drei generelle Aspekte an, die den FukuyamaMoment eines liberaldemokratischen Endes der Geschichte skeptisch konterkarieren (vgl. Fukuyama 1992): 1. Gegen eine Universalisierung der liberalen Demokratie spricht die Tatsache, dass eine demokratische Regierung nicht ohne den westlichen Lebensstandard zu haben ist – eine tragende Mittelschicht und die gut etablierten Institutionen der Zivilgesellschaft gehören zu diesem Bedingungsgefüge. Rorty erkennt (und berücksichtigt dabei erstmals vorsichtig ökologische Aspekte), dass die Größe der
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Weltbevölkerung und die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen gegen eine Universalisierung des westlichen Lebensstils sprechen. 2. Rorty registriert, dass Autokraten vom Untergang des Totalitarismus gelernt haben und mittlerweile auf die ideologische Grundierung ihrer Herrschaft verzichten. Sie sind pragmatischer und raffinierter darin geworden, ihre Unterdrückungsapparate auf Dauer zu stellen und an kapitalistische Strukturen anzupassen. Die Varianz autokratischer Formen reicht dabei vom technologisch avancierten Neomerkantilismus chinesischer Machart bis zu Militärdiktaturen, die als kaum verhüllte Kleptokratien agieren. 3. Eine Universalisierung der liberalen Demokratie erfordert eigentlich den Ausbau supranationaler Strukturen in Richtung einer föderativen Weltordnung. Dieses Ziel rückt aber durch die allseitige Renationalisierung immer ferner, denn Dekolonisierung und Entsowjetisierung haben zu einer Renaissance des Nationalstaats und auch des nationalen Eigensinns geführt. Rortys Denken offenbart dabei den Grundzug einer skeptischen Demokratieanalyse: Der Demokratie wohnt weder ein Automatismus inne, der ihre weitere Ausbreitung oder ihren weltumspannenden Siegeszug sichert, noch führt ihre Vertiefung zwingend zu einer Stabilisierung. Auch ihre Allianz mit der kapitalistischen Wirtschaftsform, die im Kalten Krieg als Bedingung ihres Erfolgs galt, ist kein Alleinstellungsmerkmal und muss nicht dauerhaft sein. Die Demokratie treibt noch in ihrem Erfolg Gegenkräfte hervor; ihre Offenheit und Angewiesenheit auf Kritik benötigen vor allem starke Verteidiger, die den Glauben an die Verbindung von Freiheit, Gleichheit und Selbstregierung in schwieriger Zeit hochhalten.
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Skepsis als Orientierungsbegriff Der Begriff der Skepsis ist im Hinblick auf die Politikwissenschaft doppeldeutig. Einerseits bezeichnet er einen kritischen Denkstil als Tugend: Rechnen mit Kontingenz, Wachsamkeit, Unvoreingenommenheit und Lernbereitschaft zählen zu den Attributen, die für jede Analyse politischer Verhältnisse unerlässlich sind. Andererseits kann Skepsis relational verstanden werden, denn es bleibt zu erklären, wogegen sich unsere Skepsis richtet und wo sie ansetzt. Für die liberale Demokratie gilt, dass ihre skeptizistische Begründung selbst gar nicht so skeptisch ist, denn sie vertraut auf Autonomie, Selbstbestimmung, die Vernunft und Dauer von Institutionen – sie glaubt an die Möglichkeit, Macht durch Gewaltenteilung auszubalancieren. Stephen Holmes (1995: 427) hat bereits in den 1990er Jahren gefragt, ob »man jemals einen gefährlichen Skeptiker getroffen« habe. Er unterscheidet einen nützlichen »politischen Skeptizismus« als Eigenschaft der Liberalen und einen nietzscheanisch getönten »moralischen Skeptizismus«, der der Demokratie schade (Holmes 1995: 397422). Weil das Glaubensbekenntnis zu den demokratischen Grundsätzen heute kaum mehr ausreicht (und auch redundant wirkt), möchte ich dafür werben, etwas mehr Skepsis in die Betrachtung und Analyse der parlamentarischen Demokratie zu inkorporieren. Die erste Lektion, die die Demokratietheorie in der Gegenwart neu lernt und insofern an die Existenzkrise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit anknüpft, besteht darin, Scheitern und Zerfall in ihr Kalkül miteinzubeziehen (vgl. Hacke 2018). Demokratietheorie darf sich nicht mehr darauf beschränken, selbstreferentiell die Optimierung demokratischer Prozeduren zu verfolgen, sondern sie muss mit Regressionen rechnen (vgl. Geiselberger 2017). Es kann dann bisweilen wichtiger werden, konstellationsabhängig über eine ReStabilisierung der Demokratie nachzudenken als sich Gedanken über eine Verfeinerung demokratischer Willensbildung zu machen. (Womit nicht ausgeschlossen wird, dass beides miteinander zusammenhängen kann.)
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Demokratieforschung aus skeptischer Warte beschäftigt sich intensiv mit den Gegnern der Demokratie und problematisiert, welche offenen Flanken ihnen das politische System bietet. Sie darf sich dabei nicht nur von theoretischen Modellen leiten lassen, sondern ist zugleich eine Erfahrungswissenschaft, die Gewinne aus historischen Vergleichen und der ideengeschichtlichen Rekonstruktion von Problemdiskursen einstreichen kann. Skeptische Herangehensweisen eignen nicht nur für Bedrohungsszenarien und Ausnahmesituationen, sondern schärfen im Luhmann’schen Sinne auch den Blick auf die Normallagen demokratischer Diskurse. Mit ihrer Hilfe kann man die überzogenen Erwartungen und die notwendig folgenden Enttäuschungen in der Demokratie als kommunikative Konstanten leichter entschlüsseln. Skeptische Demokratiebetrachtung klärt über die divergierenden Logiken in den unterschiedlichen Kommunikationsebenen auf: In der Parlamentsöffentlichkeit wird nach anderen Regeln argumentiert als in Expertengremien, und der mediale Diskurs hat einen vielfachen Strukturwandel durchgemacht, der immer schwerer zu entziffern und zu synchronisieren ist. Während die Bedeutung des öffentlichen Rundfunks und der quality press abgenommen hat, haben sich völlig neue ungefilterte politische Kommunikationsformen etabliert, die den politischen Diskurs irritieren und dynamisieren. Wenn Führungspolitiker sich per Twitter direkt an die Bevölkerung wenden und die Resonanzen im Netz bei geschlossenen Binnen-Communities eine Immunität gegen jede aufklärerische Kritik verraten, erreicht die Aufarbeitung und Kommentierung politischer Problemkonstellationen in den Leitartikeln der Printmedien nur noch eine begrenzte Leserschaft. Politische Kommunikation wird kurzatmiger, und die Verlässlichkeit des Wortes im Diskurs oder auch in der Diplomatie nimmt ab. Es scheint so, als die Notwendigkeit, Aufmerksamkeit zu erzielen, das Streben nach Verständigung immer mehr in den Schatten stellt. Welche Konsequenzen diese Entwicklung für einen ideal gedachten demokratischen Diskurs hat, muss eine skeptische Demokratieforschung mit reflektieren. Sie sollte hier für Belichtungsverhältnisse sorgen, die der ge-
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steigerten Komplexität solcher demokratischer Kommunikationsprozesse Rechnung trägt. In der Tradition defensiver Demokratiebegründungen richtet sich der wache skeptische Blick auf die Gewährleistung der Gewaltenteilung und der reflexiven Institutionenpflege. John Keane (2009) und Pierre Rosanvallon (2016) haben die Auffassung vertreten, dass es neuer unabhängiger Kontrollmechanismen und Institutionen bedarf, um auf Transparenz, Öffentlichkeit und Rechenschaftspflicht der politischen Entscheidungsträger zu achten. Keanes »monitory democracy« und Rosanvallons Betätigungs- und Aneignungsdemokratie liegt dabei ein skeptischer Impuls zugrunde. Es ist also beides im Auge zu behalten: Ob die politische Ordnung auf der einen Seite ihrem demokratischen Anspruch noch gerecht wird, d.h. genügend Möglichkeiten zur Teilhabe und Partizipation bietet, ihre öffentlichen Räume zugänglich hält und eine demokratische Lebensform fördert. Und ob auf der anderen Seite die demokratische Regierung hinreichend kontrolliert und zur Verantwortung gezogen wird. Die Demokratieforschung sollte ihr Heil weder im Versprechen einer »Demokratisierung der Demokratie« noch in technokratischen Governance-Modellen suchen. Eine skeptisch imprägnierte politische Theorie ermöglicht durch ihre Multiperspektivität und im Rückgriff auf die Erfahrungs- und Ideengeschichte der Demokratie, so ist zu hoffen, ein kluges Paradoxienmanagement. Außerdem hilft eine Skepsis der Ausgewogenheit dabei, die Dramatik einer sensationsheischenden Gegenwartsdiagnostik zu relativieren, denn sie erinnert uns daran, dass die Demokratie eigentlich die permanente Bearbeitung von kleineren und größeren Krisen bedeutet. Wenn eine skeptische Haltung sich in dieser Weise für Realismus einsetzt, trägt sie – wie einst die skeptische Moralistik – zur Aufklärung bei.
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Populismus und die doppelte Sezession1 Zu Konflikten und Kohäsion in gegenwärtigen Demokratien Jan-Werner Müller
Es wird viel geklagt über »die Spaltung der Gesellschaft«. Doch warum genau sollen Spaltungen an sich eigentlich ein Problem sein? Lebt zumindest Demokratie (die natürlich nicht mit »der Gesellschaft« identisch ist) nicht gerade vom Konflikt oder auch von dem, was in Deutschland so gern als »Streitkultur« bezeichnet wird? Auch heute gilt wohl noch, woran ein großer Liberaler wie Ralf Dahrendorf nicht müde wurde seine vielleicht im Zweifelsfalle etwas zu gemeinschaftsseligen Landsleute zu erinnern: »Konflikt ist Freiheit«. Er zog in seinem 1965 erschienen Klassiker über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland sogar den weitergehenden Schluss, liberale Demokratie sei »Regierung durch Konflikt« (Dahrendorf 1965: 174). Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein in einem pluralistischen Gemeinwesen, das gerade wegen dieses Pluralismus demokratisch sein muss: Wenn alle identisch dächten oder vollständig in einen wie auch immer gearteten politischen Verband integriert wären, gäbe es wohl kaum Konflikte und deshalb keinen Bedarf an demokratischen Institutionen. Denn deren Versprechen, anders als dies Advokaten einer illiberalen, sprich: nicht-pluralistischen, Demokratie dar-
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Dieser Beitrag basiert teilweise auf meinem Buch Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit, Berlin 2021.
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stellen, ist es gerade, dass man Differenzen aushält und Konflikte auf friedliche Weise regelt.2 Doch gibt es wohl Differenzen oder eben auch Konflikte, die Demokratien – welche bekanntermaßen sterblich sind – nicht mehr verarbeiten können; es kann zu Situationen kommen, in denen die andere Seite nicht mehr als legitimer Partner im politischen Konflikt anerkannt wird, und in denen die Entscheidungen der Institutionen, welche Auseinandersetzungen regeln sollen, nicht mehr als verbindlich respektiert werden etc. Und dann ist die Frage, ob man überhaupt noch Teil derselben politischen Grundeinheit ist. In Frankreich beispielsweise erklären ganze 35 Prozent in Umfragen, sie hätten nichts mit ihren Mitbürgern gemeinsam (vgl. Fourquet 2019). Warum sind wir überhaupt zusammen, fragen sich offenbar viele, und was geht mich das Schicksal der anderen eigentlich an – und, nicht zuletzt, spezifisch politische gesehen: Warum sollte ich mich von solchen Fremden eigentlich überstimmen lassen? Sind Demokratien heute in einer solch offenbar dramatischen Situation, dass Konflikte nicht mehr verarbeitet werden können? Ein kluger Beobachter wie Adam Przeworksi (2020) verneint diese Frage; andererseits ist es keine Panikmache darauf hinzuweisen, dass es in vielen politischen Gemeinwesen, salopp gesagt, spürbar rumort. Mit welchen vielleicht neuartigen Konflikten hat man es zu tun? Und können gewisse Gegensätze von demokratischen Institutionen noch erfolgreich bearbeitet werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen setzt sich dieser Beitrag das Ziel, Konflikte in gegenwärtigen Demokratien sowohl empirisch als auch normativ zu analysieren. Zuerst soll das besonders Problematische am Populismus und seinen Polarisierungsstrategien herausgearbeitet werden; in einem weiteren Schritt – und um nicht bei einer vermeintlich nur »moralisierenden« Kritik stecken zu bleiben
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Wobei damit normativ noch nicht sehr viel Gehaltvolles gesagt ist; der Verdacht war stets, Konflikttheorien seien geprägt von einer »arglosen Liberalität«, wonach sich aus Konflikten immer »die Wahrheit« oder auch »gerechte Verteilung« ergeben würden (Adorno 2003: 176-195).
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– soll gezeigt werden, dass wichtige, sich mit der Zeit wie von selbst vertiefende Spaltungen nicht kulturell determiniert sind.3 Ich werde zudem argumentieren, dass gewisse soziale Brüche gar nicht oder zum Teil nicht auf plausible Weise politisiert sind. Statt am Ende aber die vermeintlich einzig moralisch korrekte Antwort zu geben auf die Frage, was die Gesellschaft »zusammenhält« (bzw. wer zum Volk gehört), soll gezeigt werden, wie über solche Fragen auf demokratiefördernde, statt demokratiegefährdende, Weise gestritten werden kann.
Populismus und Polarisierung Populisten sind kaum allein verantwortlich für heutige Spaltungen; allerdings ist auch wahr, dass Polarisierung, also Spaltung, ihre Schlüsselstrategie oder, anders gesagt, ihr politisches Geschäftsmodell ist. Sie versuchen, das politische Gemeinwesen in homogene Gruppen aufzuteilen, nur um dann zu insinuieren, dass einige Gruppen grundsätzlich nicht dazugehörten, irgendwie illegitim seien oder gar eine existenzielle Bedrohung darstellten. Denn die Kernaussage der Populisten lautet, sie und nur sie repräsentierten, was bei Populisten gemeinhin als »das wahre Volk« oder auch die schweigende Mehrheit bezeichnet wird. Daraus folgt nicht nur, dass alle anderen Mitwettbewerber um die Macht grundsätzlich illegitim (weil korrupt) sind, sondern auch, dass manche Bürgerinnen und Bürger gar nicht wirklich zum Volk gehören – nämlich diejenigen, welche nicht in die symbolische Konstruktion des vermeintlich wahren Volkes passen.4 Statt davon auszugehen, dass die politische Welt durch Identitäten und Interessen gekennzeichnet ist, die sich zum Teil auch quer 3 4
Der heute allzu leicht vorgebrachte Vorwurf von »Moralismus« wird differenziert analysiert in Neuhäuser/Seidel 2020. Es handelt sich um einen Ausschluss; systemtheoretisch ist es aber immer noch ein Fall von Inklusion, gerade weil Populisten geradezu obsessiv vermeintlich gefährliche Minderheiten thematisieren. Normativ gesprochen ist aber gerade am relevantesten, dass hier bestimmte Bürgerinnen und Bürger für schlechtweg politisch irrelevant erklärt werden (vgl. Nassehi 2013: 31-45).
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durch gesellschaftliche Gruppen ziehen, simplifizieren die Populisten so die Welt und behaupten eine zentrale Spaltung, die zudem von existenzieller Bedeutung sei (im Sinne der Drohung: »Wenn die eine Seite gewinnt, werden wir alle untergehen«). Der Sieg der anderen Seite wird dann nicht als zeitweilige Niederlage interpretiert, sondern als eine grundsätzliche Bedrohung des gesamten Gemeinwesens. Entgegen mancherlei Klagen vor allem in den USA ist Polarisierung nicht gleichsam im Menschen verdrahtet; das menschliche Gehirn ist nicht einfach auf Tribalismus programmiert. Polarisierung hat eine Geschichte, sie ist menschengemacht, nicht unentrinnbares Schicksal. Allerdings gilt auch: Wer von Polarisierung profitiert, der hat in einer bereits auf irgendeine Weise zersplitterten Gesellschaften sicher leichteres Spiel. Auch Populisten können nicht alle Konflikte neu und frei erfinden. Die Frage stellt sich also: Warum sind Gesellschaften heute auf bestimmte Weise gespalten? Und insbesondere: Warum fällt es ihnen schwer, Einigkeit darüber zu erzielen, was »das Volk« ist und warum sie überhaupt (in diesem so und nicht anders konturierten Gemeinwesen) zusammenleben? Eine konventionelle Antwort verweist auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen und Einwanderern. Es gibt bekanntlich auch mehr oder weniger empirisch begründbare Ängste hinsichtlich eines angeblichen demografischen Niedergangs und insbesondere einer Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des Demos aufgrund der unterschiedlichen Geburtenraten verschiedener ethnischer Gruppen. (Beide Befürchtungen befeuern zweifelsohne die Fantasie von Rechtspopulisten, die Angst vor einem »Großen Austausch« der gegenwärtigen Bevölkerung schüren (vgl. Krastev 2020a: 66-74.)). Diese Antworten sind indessen allzu simpel: Sie unterstellen, dass ein gesellschaftlich mehr oder weniger sichtbarer Trend spezifische politische Spaltungen innerhalb der Demokratie mehr oder weniger objektiv vorgibt. Was genau ist geschehen, dass die Frage nach »dem Volk« stärker ins Blickfeld gerückt ist als vielleicht jemals zuvor in der Nachkriegszeit? Es ist, so meine These, nicht Einwanderung an sich (die in jedem Fall keine neue Entwicklung der letzten Jahre darstellt), sondern etwas, das hier als die »doppelte Sezession« bezeichnet werden soll, in Ver-
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bindung mit einer wachsenden Verunsicherung der gesellschaftlichen Mitte. Was ist damit genau gemeint? Die erste Sezession, oder Abspaltung, ist, grob gesagt, die der privilegiertesten Gruppen. Sie werden heute oft unter der Kategorie der »liberalen kosmopolitischen Elite« zusammengefasst – weniger ein analytisches Konstrukt als ein Schimpfwort, mit dem Rechtspopulisten gerne um sich werfen, aber auch ein Begriff, der von immer mehr Experten und Sozialwissenschaftlern so verwendet wird, als sei er neutral und immer schon klar, wer damit gemeint sei. Die Bezeichnung ist jedoch in zweierlei Hinsicht irreführend. Erstens trifft es zwar zu, dass viele Eliten sehr mobil sind (zumindest potenziell, wenn auch nicht immer faktisch), aber sie sind nicht notwendig kosmopolitisch in irgendeinem gehaltvollen moralischen Sinne – soweit man mit »kosmopolitisch« nicht Leute mit dem höchsten Vielfliegerstatus meint, sondern solche, die der Überzeugung sind, dass alle Menschen in derselben moralischen Beziehung zueinander stehen, oder, einfacher gesagt: dass Grenzen keine wirkliche moralische Bedeutung besitzen. Mobil sein ist keineswegs dasselbe wie universalistisch sein. Das sollte eigentlich niemanden wundern, seit im 19. Jahrhundert der Gedanke, dass Eisenbahnreisen dem Nationalismus den Garaus machen würden, sich als Illusion erwies. Andererseits verließ einer der größten universalistischen Moralphilosophen – Immanuel Kant – bekanntlich so gut wie nie seine Heimatstadt Königsberg (vgl. Krastev 2020b). Gewiss, prominente Mitglieder diverser Eliten – einschließlich weltweit bekannter Stars – machen eine große Show aus ihrer internationalen Wohltätigkeitsarbeit. Aber man sucht vergeblich nach Fürsprechern wahrer globaler Gerechtigkeit, wie sie in der politischen Philosophie verstanden wird: einer echten weltweiten Umverteilung der Ressourcen und Lebenschancen. Es ist bezeichnend, dass in den Neunzigern und in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts die Cheerleader der Globalisierung sie nicht mit ihren Vorteilen für die Menschheit als Ganze, sondern mit dem Nutzen rechtfertigten, den sie ihrer nationalen Wählerschaft bringen würde. Der Begriff »kosmopolitisch« ist noch in einer weiteren Hinsicht irreführend. In vielen westlichen Ländern folgen Wirtschafts- und Ver-
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waltungseliten derweil immer noch eindeutig nationalen Karrierewegen.5 Zugleich scheinen viele von ihnen in der Lage zu sein, jede wirkliche Abhängigkeit vom Rest der Gesellschaft hinter sich zu lassen. (Ich sage »scheinen«, weil sie natürlich immer auf Polizei, einigermaßen brauchbare Straßen etc. angewiesen sind.) Nicht jeder von ihnen lebt tatsächlich in einer der übrigen Gesellschaft gegenüber abgeschlossenen Welt, einer gated community, doch der grundlegende Trend zur Absonderung und Homogenisierung in Enklaven ist deutlich genug. Die Gebildeten und Wohlhabenden heiraten untereinander, leben eng beieinander und reproduzieren viele ihrer Privilegien über Generationen hinweg. Nichts von alledem ist so offensichtlich unmoralisch – Wollten wir wirklich zurück zu den glorreichen Zeiten, als der Chef natürlich seine Sekretärin heiratete? Würden Städte wieder great werden, wenn man die Gentrifizierung völlig rückgängig machte? –, aber diese Separierungen haben Folgen dafür, wie die Gesellschaft verstanden wird und vor allem wie die Bürgerinnen und Bürger einander betrachten. Für jene Menschen, die tatsächlich in der Lage sind, gesellschaftlich schön »Abstand zu halten« und social distancing zu betreiben, ist in der Tat nicht einsehbar, warum sie sich einer politischen Schicksalsgemeinschaft zugehörig fühlen sollten. Ist der Verweis auf wechselseitige moralische und politische Abhängigkeit nicht auch unplausibel, wenn unklar ist, wofür man seine Mitbürger denn nun praktisch überhaupt braucht? Dank der Globalisierung der Lieferketten müssen Arbeiter nicht länger demselben Gemeinwesen anzugehören. Dank des »Freihandels« müssen Konsumenten nicht im selben Land leben. Und seit der Abkehr von Massenarmeen mit Dienstpflicht nach dem Ende des Kalten Kriegs ist man auch nicht mehr darauf angewiesen, dass die Mitbürger Militärdienst leisten.6 Selbst »systemrelevante« Beschäftigte sind, wie die Pandemie gezeigt hat, für manche relevanter als für andere. Die Privilegier-
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Zu dieser These über Funktionseliten und ihre Selbstreproduktion innerhalb einer nationalen Selbstreproduktion vgl. Michael Hartmanns Arbeiten, zum Beispiel: Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden (2018). Ich danke Ivan Krastev für Anregungen in diesem Kontext.
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ten erhalten zum Teil eine medizinische Vorzugsbehandlung, was den Zugang zu Ärzten, Pflegepersonal und Tests betrifft – das alles ganz exklusiv. Eine freimütig eingestandene, aber auch recht karikaturartige Version dieser Sezession der ökonomisch Sondergestellten bietet der Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel. Er bezeichnet sich selbst als libertär (und endete nicht nur als Berater Donald Trumps, sondern als eine der Figuren, die versuchten, den Trumpismus mit politischer Philosophie zu garnieren, nachdem Thiel erklärt hatte, man müsse den Kandidaten Trump ernst, aber nicht wörtlich nehmen). In einer programmatischen Erklärung schrieb der deutschstämmige Mitgründer von PayPal: »In unserer Zeit ist es die große Aufgabe der Libertären, einen Ausweg aus der Politik in all ihren Formen zu finden – von den totalitären und fundamentalistischen Katastrophen bis hin zu dem gedankenlosen Demos, der die sogenannte ›Sozialdemokratie‹ leitet.« (Thiel 2009) Er hoffte auf einen »neuen und bislang unerprobten Prozess, der uns in ein unentdecktes Land führt«. Da es jedoch leider nur sehr wenige »unentdeckte Länder« zu geben scheint, setzt Thiel auf »Cyberspace«, auf das Weltall und auf »künstliche Wohninseln« weit draußen im Meer (gleichsam eine »Besiedlung der Ozeane«). Andere zählen eher auf die Eroberung der Zeit als des Raums und investieren in die Kryonik (nach dem Motto: »frier mich jetzt ein, und lass mich später wiederauferstehen«) – gewissermaßen eine Sezession vom Leben gewöhnlicher Sterblicher schlechthin. Thiels abschätzige Bemerkungen über den Demos blieben nicht unbemerkt, vor allem sein Satz: »Seit 1920 haben die gewaltige Zunahme der Wohlfahrtsempfänger und die Erweiterung des Wahlrechts auf die Frauen – zwei für Libertäre notorisch harte Wählergruppen – den Begriff der ›kapitalistischen Demokratie‹ in ein Oxymoron verwandelt.« (Ebd.) Später stellte er klar, dass er nicht dafür eintrete, Bürgerinnen und Bürgern das Wahlrecht zu entziehen. Eigentlich habe er doch nur sagen wollen, dass mit einem hoffnungslosen Demos nicht sehr viel anzufangen sei (und auch nicht mit einem in irgendeiner Weise reduzierten). Bestenfalls könne man hoffen, auf Distanz zu ihm zu gehen. Diese Einstellung ließe sich gut auch als Wunsch nach Abspaltung bezeich-
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nen. Sie wird nicht oft so deutlich zum Ausdruck gebracht (oder mit mehr oder weniger philosophisch klingenden Technoklischees begründet wie bei Thiel). Die Sezession derjenigen mit großem konzentriertem und vor allem verfügbarem Reichtum ist jedoch zweifellos im Gange (vgl. Osnos 2017). Die banalen Realitäten, die Thiels Sehnsucht nach unentdeckten Ländern entsprechen, sind der Erwerb eines zweiten Passes, ein Hauptwohnsitz in mehr oder weniger glamourösen Steuerparadiesen, Dritt- oder Viertwohnsitze in angeblich apokalypsesicheren Ländern wie Neuseeland und nicht zuletzt transnationale Buchungstricks mit gänzlich staatenlosen Entitäten. Zwei prominente Ökonomen schreiben dazu, dass »US-amerikanische Firmen im Jahr 2016 […] mehr als 20 Prozent ihrer außerhalb der USA erzielten Gewinne in »staatenlosen Entitäten« verbucht haben – das heißt in Mantelgesellschaften, die an gar keinem Ort registriert sind und nirgendwo besteuert werden. Letztlich haben sie damit eine Möglichkeit gefunden, um Gewinne in Höhe von 100 Milliarden Dollar quasi auf einem anderen Planeten zu erzielen.« (Saez/Zuckman 2020: 112) Solche Abspaltungen werden nicht von »Irgendwo-Menschen« unternommen, die von dem britischen Journalisten beschworenen anywheres im Gegensatz zu angeblich fest verwurzelten somewheres (und auch das Geld landet in Wirklichkeit keineswegs nirgendwo). Auch hat all das nichts mit moralischem oder kulturellem Kosmopolitismus zu tun, wenngleich rechtspopulistische Politiker – allzeit bereit, Kulturkämpfe vom Zaun zu brechen – dies so darstellen. Die Kritik an den Eliten enthält jedoch einen wahren Kern: Manche Bürger entziehen sich tatsächlich allem, was als halbwegs anständiger Gesellschaftsvertrag gelten könnte. Natürlich ist all dies nicht völlig neu. Schon der Abbé Sieyès, eine führende Figur der Französischen Revolution, bemerkte mit Blick auf die französischen Aristokraten, dass die Privilegierten sich als eine eigene »menschliche Spezies« verstünden. Sie mussten schließlich feststellen, dass sie dies nicht waren, geradeso wie manche heute am Ende entdecken werden, dass es keine unentdeckten Länder gibt und man in
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einer Pandemie selbst bei medizinischer Vorzugsbehandlung letztlich überall nur so sicher ist wie an dem am wenigsten sicheren Ort (solange das Virus überall sein kann). Dennoch ist soziale Distanzierung heute etwas anders als in früheren Zeitaltern. Ungleichheit wird oft verborgen, statt offen gerechtfertigt, wie einst in den Aristokratien. Die schiere Undurchsichtigkeit demokratischer Politik in komplexen Gesellschaften mit hoch entwickelter Arbeitsteilung kann den Eindruck entstehen lassen, wir säßen alle im selben Boot, obwohl in Wirklichkeit für verschiedene Menschen verschiedene Regeln auf ganz verschiedenen Schiffen (oder gar Luxusyachten) gelten. Sozialwissenschaftler, die diese Komplexität zu durchdringen versuchten, fragten sich (und brachen damit ein politisches Tabu), ob manche Demokratien – vor allem die USA – heute nicht de facto als Oligarchien zu klassifizieren seien. Das heißt nicht, dass man die USA zum Beispiel mit dem kleptokratischen Russland der neunziger Jahre gleichsetzt oder mit dem Libanon nach dem Bürgerkrieg, wo die entscheidenden politischen Positionen unabhängig vom Ausgang jeglicher Wahlen von denselben religiös-politischen Führern kontrolliert und zur Bereicherung genutzt werden. Die Oligarchie kann zwei verschiedene Merkmale aufweisen, die nicht unbedingt miteinander einhergehen. Ein Oligarch war nach dem ersten von Aristoteles bestimmten Kriterium nicht nur ein Mensch mit gewaltigem Reichtum, sondern auch jemand, der von Gier und dem schieren Bedürfnis nach immer mehr beherrscht war (bei den Griechen: pleonexia). Nachdem Trump im Februar 2016 die demokratischen Vorwahlen in Nevada gewonnen hatte, verkündete er in einer Rede in Las Vegas: »Mir fällt es schwer, Geld abzulehnen, denn ich habe mein Leben lang gegrabscht und gegrabscht und gegrabscht. Ihr müsst wissen, ich bin gierig, ich will Geld und noch mehr Geld. Ich sage euch, was wir tun werden, okay? Wir werden gierig sein, okay? Jetzt werden wir gierig für
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die Vereinigten Staaten sein und grabschen, grabschen, grabschen. Wir werden so viel Geld hereinholen und so viel von allem.«7 Natürlich ist nicht jeder sehr wohlhabende und nicht jeder von Gier beherrschte Mensch ein Oligarch. Denn das zweite (von Aristoteles gleichfalls genannte) Merkmal des Oligarchen lautet, dass er seinen Reichtum einsetzt, um Abhängigkeiten zu schaffen und den politischen Prozess zu verzerren. Die Wirkung liegt grob gesagt darin, dass einzelne Personen mit konzentriertem (und zugleich leicht verfügbarem) Reichtum in einem ganz anderen politischen Universum agieren. Der Sozialwissenschaftler Jeffrey Winters (2011) verweist auf die entscheidende Trennungslinie zwischen Allerweltsreichen und jenen, die über so viel überschüssige Ressourcen verfügen, dass sie sich die teuren Dienste der von ihm so genannten »Einkommensverteidigungsindustrie« (income defense industry) leisten können. Nur wer hochqualifizierte Wirtschaftsprüfer und Anwälte engagieren kann, die Steueroasen wie die Cayman Islands zu nutzen verstehen, wird niedrigere Steuern zu zahlen haben als seine eigenen Sekretärinnen (um Warren Buffets berüchtigtes Beispiel zu zitieren). Entgegen dem Klischee der Ultrareichen als liberaler, global eingestellter Gutmenschen sind die tatsächlichen wirtschaftspolitischen Präferenzen der 0.1 Prozent sehr konservativ. Und sie sorgen dafür, dass diese Präferenzen sehr viel mehr zählen als die der restlichen Bevölkerung, wenn auch nicht unbedingt in allen politischen Fragen. In den USA entscheiden die außergewöhnlich Wohlhabenden zum Beispiel nicht einfach so über Waffengesetze oder Abtreibung. Bei Steuern und Handelsfragen tragen ihre Präferenzen dagegen meist den Sieg davon, und da die politischen Details oft – teils mit Absicht – so kompliziert sind, verstehen viele normale Bürger und selbst viele Profis nicht, in welcher Weise die außergewöhnlich Vermögenden von einzelnen Entscheidungen profitieren (ohne jemals in der Öffentlichkeit zu erscheinen und dort zu sagen, sie wollten »grabschen, grabschen, 7
Ein Transkript der am 24. Februar 2016 gehaltenen Rede ist online verfügbar unter: http://www.tampabay.com/opinion/columns/transcript-trumps-winningwinning-winning-speech/2266681/.
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grabschen«).8 Und selbst wenn sie es verstehen, fällt es ihnen vielleicht dennoch schwer, zum Beispiel gegen Republikaner anzugehen, die während der Pandemie 2020 die Nothilfegesetze mit Geschenken für Konzerne und insbesondere für Immobilienunternehmen spickten (wobei gerade letztere, ebenso wie, krude gesagt, die Wall Street, in beiden Parteien großen Einfluss haben; andere Businesses sind eindeutiger einer Partei zugeordnet: Silicon Valley den Demokraten, der Bergbau den Republikanern – den Demokraten fällt zu letzterem meistens nicht mehr ein, als den Kohlearbeitern zu raten, doch auf Computerprogrammierer umzuschulen). In den USA stellen sich Gestalten, die man mit einigem Recht als Oligarchen bezeichnen kann (von einigen prominenten Ausnahmen abgesehen), an die Seite einer immer radikaleren Rechten. Sie waren uneingeschränkt bereit, die populistische Strategie eines Trump zu akzeptieren, die letztlich keine reale Wall für das vermeintlich wahre Volk zustande brachte, Steuererleichterungen für die Wall Street aber schon. Mehr als 80 Prozent der 2017 beschlossenen Steuersenkungen und nach dem Jobs Act gewährten Subventionen gingen direkt an das obere ein Prozent (republikanische Geldgeber hatten deutlich gemacht, dass sie die Partei nicht länger finanziell unterstützen würden, falls die Steuersenkungen nicht geliefert würden). Trump hatte versprochen, die Mexikaner aus dem Land zu halten; stattdessen bestand sein größte legislative Leistung darin, den mächtigsten US-Amerikanern die Möglichkeit zu geben, sich von gemeinsamen fiskalischen Verpflichtungen loszusagen und in einer, wie man dies nennen könnte, concierge society zu leben. Man beachte, dass diese faktische Abspaltung nicht auf irgendeiner Verschwörung basiert, sondern auf der weitgehenden Kontrolle einer der beiden großen politischen Parteien (und natürlich auch dem Einfluss auf die andere Partei). Wie die Politikwissenschaftler Jacob S.
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Für Aristoteles lag die Schwierigkeit in der Unterscheidung zwischen Oligarchen und Aristokraten. Reichtum konnte ein Zeichen von Gier und Korruption sein, aber auch ein Hinweis auf Tugend (vgl. die ausgezeichnete Diskussion in Arlen 2019).
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Hacker und Paul Pierson gezeigt haben, wissen die Republikaner und ihre Geldgeber sehr genau, dass ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Präferenzen in der Wählerschaft keineswegs breite Unterstützung genießen (wenn man bei Umfragen erklärt, was die Republikaner genau erreichen wollen, reagieren Wähler der Partei zum Teil ungläubig). Sie müssen ihre ökonomischen Ziele an eine Strategie permanenter Kulturkämpfe knüpfen, um überhaupt eine Siegeschance zu haben, und selbst diese Siege sind nur deshalb möglich, weil die ländlichen Wähler im politischen System der USA einen strukturellen Vorteil genießen, vor allem aufgrund ihrer gewaltigen Überrepräsentation im US-Senat (vgl. Hacker/Pierson 2020). Und zur Not gibt es immer noch Wählerunterdrückung und andere Möglichkeiten, um dafür zu sorgen, dass aus einer nominellen Demokratie de facto eine Tyrannei der Minderheit wird – ein Szenario, über das die von den Republikanern angeblich so verehrten Gründerväter sich nicht weniger Sorgen machten als über die viel häufiger evozierte »Tyrannei der Mehrheit«. Wir sollten uns deshalb – bei allem Respekt vor Aristoteles – weniger Sorgen um die Psychologie der Hochvermögenden machen als um die der Demokratie zugrundeliegende Infrastruktur – insbesondere den Charakter des Parteiensystems und die Gesetze zur Wahlkampffinanzierung, die das System ganz entscheidend prägen. Denn diese Infrastruktur erleichtert auch so etwas wie die Sezession der Hochvermögenden. Die zweite Abspaltung ist weit weniger sichtbar. Sie ähnelt nicht der secessio plebis in der römischen Republik, als die Plebejer buchstäblich unter Protest die Stadt verließen und eine Art Generalstreik organisierten, um die Senatoren zu politischen Veränderungen zu zwingen. Sie ist auch nicht der Reaktion der ärmeren Bürger im alten demokratischen Athen vergleichbar, die entdeckten, dass die Reichen eigentlich zu nichts gut waren. Platon (zugegeben kein objektiver Beobachter) beschrieb diesen Augenblick der Erkenntnis: »Wenn ein rüstiger und in der Sonne abgehärteter Proletarier in der Schlacht der Nebenmann eines reichen Herren mit der Stubenfarbe und einem von fremdem Fette gemästeten Balge wird und diesen voll
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Atemnot und ganz unbeholfen sieht: glaubst du nicht, daß jener dann die nicht unbegründete Ansicht gewinnt, daß solche Herren nur allein durch ihre proletarische Schlechtigkeit reich seien, und daß die Proletarier, wenn sie unter sich allein zusammen sind, sich gegenseitig zuflüstern: ›Unsere Herren sind so viel wie nichts!‹ Nicht wahr?« (Platon 1940: 309)9 Solch ein Sinneswandel – erschreckend für alle, die fürchten, Demokratie berge stets die Gefahr, dass die Armen die Reichen bluten lassen – zeichnet sich heute freilich eher nicht ab. Die zweite Sezession hat man sich vielmehr so vorzustellen: Eine wachsende Zahl von Bürgern am unteren Ende des Einkommensspektrums (um es sehr neutral auszudrücken) geht nicht mehr zur Wahl und beteiligt sich auch nicht in anderer Weise an der Politik. Das heißt natürlich nicht, dass die faktische Enthaltung auf einem bewussten Programm nach Art der Weltraumfantasien eines Peter Thiel basierte. Für derart Abgehängte gibt es eben keine »unentdeckten Länder«; ihnen bleibt nur ein Land des Mangels und der stillen Verzweiflung.10 9
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In Athen dienten die Reichen allgemein in der Reiterei, die Hopliten (von manchen Historikern als »Mittelschicht« bezeichnet) als Fußsoldaten und die Armen am häufigsten als Ruderer (thetes) in der Flotte. Radikale Demokratie bedeutete eine Mehrheit für die thetes in der Volksversammlung (vgl. Hansen 1995: 128f.). Wolfgang Merkel hat für dieses Phänomen den Ausdruck »Zweidrittelgesellschaft« geprägt: Das untere Drittel ist nahezu vollständig aus dem politischen Leben verschwunden (vgl. auch Teinturier 2017). Zu empirischen Belegen vgl. Armin Schäfer und Hannah Schwender (2019: 395-413). Sie stellen die starke These auf: »Von den egalitärsten Ländern hin zu denen mit der größten Ungleichheit sinkt die Wahlbeteiligung – unter ansonsten gleichen Bedingungen – um 7 bis 15 Prozentpunkte (je nach dem gewählten Modell), was etwa der Wirkung einer gesetzlichen Wahlpflicht entspricht. In Deutschland, wo die institutionellen Voraussetzungen überall dieselben sind, weisen relativ ärmere Regionen eine deutlich niedrigere Wahlbeteiligung auf. Und schließlich haben wir herausgefunden, dass die Wahlbeteiligung in Ländern mit großer Ungleichheit überall sinkt, am stärksten jedoch bei Gruppen mit niedrigem Einkommen. Unsere Befunde stützen daher eindeutig den Ansatz der relativen Macht – den Ansatz der rationalen Enthaltung –, der erwarten lässt, dass Ungleichheit ei-
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Eine weitgehend unsichtbare Abspaltung dieser Art verstärkt sich möglicherweise selbst, da politische Parteien auch keinen Grund haben, sich um Leute zu kümmern, die keinen Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen. Das verstärkt wiederum den Eindruck der ärmeren Bevölkerungsschichten, dass die Politik ihnen nichts zu bieten habe (falls sie es sich denn überhaupt leisten können, der Politik Aufmerksamkeit zu schenken). Die Folge ist eine sinkende und insbesondere immer stärker verzerrte Partizipation. Claus Offe fasst die hier wirksame Logik zusammen: »Wenn die Menschen dazu konditioniert werden, ihre Rechte und politischen Möglichkeiten ungenutzt zu lassen, und konkurrierende politische Eliten wie auch politische Parteien zu der Erkenntnis gelangen, dass Teile der Wählerschaft ihre politischen Möglichkeiten mit geringerer Wahrscheinlichkeit nutzen dürften, werden diese Eliten ihre Wahlprogramme, Wahlkämpfe und Mobilisierungsstrategien auf jene Segmente der Wählerschaft konzentrieren, die tatsächlich ›zählen‹, und andere vernachlässigen.« (Offe 2013: 203)11 Die Folge ist ein Teufelskreis, der politische Eliten und ärmere Bürger immer weiter voneinander entfernt; oder, anders gesagt: Politischer Wettbewerb nimmt ab, während ökonomischer Wettbewerb unter den Bürgerinnen und Bürgern immer weiterwächst. Die Pandemie von 2020 war einerseits wie ein Rorschachtest. Jeder konnte darin die politische Lektion sehen, die er eh schon immer
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nen negativen Einfluss auf das politische Engagement hat. Unsere Analysen zeigen, dass in Ländern mit größerer Ungleichheit weniger Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Der Vorstellung, wonach Ungleichheit die Armen zu größerer politischer Betätigung motiviere, weil ›mehr auf dem Spiel‹ stehe, fehlt also jegliche empirische Grundlage«. (ebd.: 407) Thomas Piketty (2020: 937) fügt hinzu, man dürfe nicht unterstellen, dass alle, die sich der Wahl verweigerten oder sich enthielten per se Rassisten wären: »Wenn die unteren Schichten von migrationsfeindlichen Bewegungen völlig überzeugt wären, müsste ihre Wahlbeteiligung […] sehr hoch sein. Da diese gering ist, sind die Wähler mit den gegebenen Wahlmöglichkeiten wohl eher unzufrieden.«
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gepredigt hatte, zum Beispiel: »Wir brauchen einen starken Staat!« Sie glich aber auch einer Röntgenaufnahme, denn sie machte strukturelle Probleme deutlich sichtbar (die sie nicht selbst geschaffen hatte und die viele sicher schon geahnt hatten: Auch ein Knochenbruch ist einem meist vor der Röntgenaufnahme bewusst). Die Privilegierten konnten sich in ihre Häuser und Wohnungen zurückziehen, die besonders Privilegierten an ihre Zweitwohnsitze (von denen es beispielsweise in Frankreich erstaunliche 3.4 Millionen gibt), und die Oligarchen konnten sich auf ihren hotelähnlichen Anwesen in den Hamptons verschanzen, oder gar noch mehr Abstand halten und mit ihren Yachten aufs offene Meer verschwinden (was allerdings das Luxusproblem aufwarf, ob und wie man mit seinem Personal in Quarantäne ging). Die ohnehin schon Benachteiligten starben weiterhin und bestätigten damit, dass in den USA eine nominelle Demokratie in vielerlei Hinsicht eine rassistische Kastengesellschaft geblieben ist: Die Armen haben eher Vorerkrankungen und leben häufiger auf engem Raum zusammen. Selbst der Gedanke, auch die Bessergestellten seien von der Gesundheit der Lieferanten und Zusteller abhängig, scheint kein wirkliches Gefühl dafür ausgelöst zu haben, dass wir, wie der wohlfeile Spruch nun mal lautet, »alle in einem Boot sitzen«, weil wir tatsächlich aufeinander angewiesen seien. Abhängigkeit einzugestehen hätte nicht das Ende der Konflikte und politischen Meinungsverschiedenheiten bedeutet, aber es hätte einige Absurditäten der Kulturkämpfe bloßgelegt, wonach selbst das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen zum Schutz seiner selbst und anderer als Zeichen der falschen (irgendwie unpatriotischen) politischen Identität gedeutet werden konnte. Dagegen scheint Benjamin Disraelis Beschreibung Großbritanniens im 19. Jahrhundert einige westliche Länder im 21. Jahrhundert bestens zu charakterisieren: »Zwei Nationen, zwischen denen es keinen Verkehr und keine Sympathie gibt; die von den Bräuchen, vom Denken und Fühlen der jeweils anderen so wenig wissen, als wohnten sie in ganz verschiedenen Zonen […]; die aus Menschen ganz unterschiedlichen Schlages bestehen, sich anders ernähren, verschiedene Umgangsformen besitzen und nicht denselben Gesetzen gehorchen.« (zit. in Müller 2021)
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An der Spitze findet man Bürger, die sich stark an der Politik beteiligen, aber zugleich viele Möglichkeiten haben, irgendwo ganz anders überzusiedeln. Die abgesonderte Nation unten setzt sich aus Männern und Frauen zusammen, die sich kaum mit Politik befassen und eigentlich nirgendwo hinkönnen. Natürlich ist das eine radikale – viele werden einwenden: zu radikale – Vereinfachung. Denn schließlich gibt es außerdem noch das Problem einen unter wachsenden Druck geratenden Mitte, zu der in manchen Ländern auch jene Gruppe gehören mag, die oberflächlich wie eine aus wohlhabenden Berufstätigen bestehende obere Mittelschicht erscheint. In den USA macht sich diese Gruppe zunehmend Sorgen wegen der steigenden Ausbildungskosten und der schmaler werdenden Wege zum College (das heißt zu Möglichkeiten, die eigenen Privilegien an die Nachkommen weiterzugeben, nach dem schönen Prinzip dessen, was der britische Economist als Erb-Meritokratie kritisiert). Wenn sie an den »großen Bevölkerungsaustausch« denken, kommen ihnen nicht Muslime in den Sinn, sondern Maschinen, die Arbeitsplätze in Buchhaltung und Management bedrohen. Es gibt zahlreiche empirische Belege für den wachsenden Pessimismus der Bürger und Bürgerinnen hinsichtlich ihrer eigenen wirtschaftlichen Zukunft und der ihrer Nachkommen: 58 Prozent der USAmerikaner und 60 Prozent der Europäer glauben, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen selbst. Przeworski (2020: 128f.) schreibt dazu: »Der Verlust des tief verwurzelten Glaubens an den intergenerationellen Fortschritt ist ein markanter historischer Bruch«. Diese wahrgenommene Bedrohung und die Aussicht auf einen Niedergang vermögen wohl am besten zu erklären, warum Bürger der Mittelschicht zumindest zeitweilig bereit zu sein scheinen, Verstöße gegen demokratische und rechtstaatliche Prinzipien zu billigen. Vielen Bürgern ist zumindest teilweise bewusst, dass die Orbáns und Trumps dieser Welt der Demokratie Schaden zufügen. In hochgradig polarisierten und immer ungleicheren Gesellschaften sind sie jedoch willens, den Schaden aus (illusorischem oder realem) wirtschaftlichem Eigennutz hinzuneh-
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men.12 Das Problem erreicht seine größten Ausmaße, wenn Populisten ein Gefühl des »wir oder sie« kreieren und die Angst schüren, das Land würde »uns weggenommen«. Wie wiederum der Politikwissenschaftler Larry Bartels (2020) gezeigt hat, vermag »ethnische Feindseligkeit«, wie er dies nennt (im Klartext: Feindseligkeit gegenüber Nichtweißen, die angeblich die Macht übernehmen oder zumindest zu viele Forderungen an den Staat stellen), die schwindende Bindung an demokratische Prinzipien bei einer beträchtlichen Zahl bekennender Republikaner in den USA zu erklären. Dabei geht es nicht lediglich um den Verzicht auf Nettigkeiten bei der Verteidigung eines Staates, den sie offenbar als einen »ethnischen Staat« verstehen; vielmehr billigen sie Gesetzlosigkeit oder gar Gewalt. Heute sind also manche Bürger offensichtlich bereit, Beschädigungen der Demokratie in Kauf zu nehmen – so denn die politischen Abbruchunternehmer ihnen einen mehr oder weniger konkreten persönlichen Vorteil versprechen. Dieser Impuls, um anderer Dinge willen eine Aushöhlung der Demokratie zu akzeptieren, ist eine Versuchung, der nicht nur wirtschaftlich (oder ethnisch) unsichere Mehrheiten oder verängstigte Mittelschichten erliegen. Gerade die Privilegiertesten behaupten oft lautstark, sie wären begeisterte Anhänger der Demokratie und wir alle müssten sie verteidigen – allerdings nur solange keine Steuern erhöht werden: Lloyd Blankfein, ehemals Chef von Goldman Sachs und eingetragener Demokrat, erklärte während der Vorwahlen 2020: »Ich denke, es könnte mir schwerer fallen Bernie zu wählen 12
Vgl. Svolik (2019): »Das politische Geschick eines Chávez, Orbán oder Erdoğan liegt in ihrer Fähigkeit, politische Frontlinien entlang gesellschaftlicher Spaltungen zu ziehen, die erst noch schwelten, als diese Politiker in ihre Führungspositionen gewählt wurden. Nach ihren Erfolgen mussten sich ihre Anhänger bei Wahlen zwischen ihren eigenen Parteiinteressen auf der einen und demokratischen Prinzipien auf der anderen Seite entscheiden.« (S. 30-31) Zu detailliertem empirischen Material über die Frage, ob Wähler bereit sind, undemokratisches Verhalten von Politikern der von ihnen unterstützten Partei zu sanktionieren, vgl. Graham/Svolik (2020: 392-409). Wie die Autoren festgestellt haben, sind die »Wähler gegenüber der Verletzung demokratischer Prinzipien durch Kandidaten der eigenen Partei um 50 Prozent nachsichtiger«. (ebd.: 404)
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als Trump«. Nach Sanders’ Attacke auf die »Milliardärsklasse« gefragt, meinte er: »Ich mag keine Ermordung durch Kategorisierung. Das halte ich für unamerikanisch. Ich finde, das ist destruktiv und maßlos. Ich finde, das ist ebenso schädlich für den amerikanischen Charakter wie Trump, der Gruppen von Menschen verunglimpft, denen er niemals begegnet ist. Aber wenigstens kümmert Trump sich um die Wirtschaft.« (Blankfein 2020) So können sehr Wohlhabende denn an rechtspopulistischen Parteien etwas Positives finden, weil sie ihren wirtschaftlichen Interessen dienen (»wenigstens kümmert Trump sich um die Wirtschaft«). Die Mittelschichten wiederum können in diesen Parteien Retter des »wahren Volks« vor allerlei unwürdigen Anderen erblicken, ob das nun die Armen oder ethnische Minderheiten (oder beide) sein mögen. »Wir brauchen die Ängstlichen, um Mehrheiten zu bewegen«, erklärte eine führende Politikerin der AfD einmal dazu (vgl. Jacobson 2015). Und die am schlechtesten Gestellten gehen erst gar nicht zur Wahl oder, wenn doch, dann eher, um den etablierten Parteien per Protestwahl einen Denkzettel zu verpassen – wobei rechtspopulistische Kandidaten oft schlicht für das lauteste »Ihr könnt mich alle mal!« zu stehen scheint (um Michael Moores Charakterisierung von Trump zu zitieren).
Eine harte Grenze demokratischer Konflikte Rechts- und Linkspopulisten mögen nicht ganz Unrecht haben, wenn sie auf ihre Weise von der Sezession bestimmter Eliten sprechen. Sie haben jedoch ganz sicher Unrecht, wenn sie alle Konflikte auf Fragen von Zugehörigkeit reduzieren oder jeden Dissens mit ihnen per se für illegitim halten (»wer anderer Meinung ist, muss ein Volksverräter sein!«). Wegen dieses Impulses sind echte Linkspopulisten – also politische Akteure, die auf der Basis der einen oder anderen linksgerichteten Ideologie einen Alleinanspruch auf die Vertretung des Volkes erheben – gleichfalls geneigt, demokratische Institutionen zu untergraben.
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Schließlich gibt es keinen Grund, die politischen Grundrechte ihrer Gegner zu schützen, da doch klar ist, dass diese eigentlich gar keinen Platz im demokratischen Spiel verdienen. Das beste Beispiel dafür ist immer noch Venezuela unter Chávez und Maduro. Rechtspopulisten hingegen lassen sich oft auf eine sonderbare politische Projektion ein. Sie beschwören so etwas wie eine Vertreibung des vermeintlich »wahren Volkes«, dessen Angehörige auf »sehr unfaire Weise« (im Trump-Sprech) dazu gebracht würden, sich wie Fremde im eigenen Land zu fühlen. Doch kann das wahre Volk sich kaum von der eigenen Heimat loslösen, wenngleich einige Rechtsextreme sich genau darum bemühen, etwa wenn sie in North Dakota eine Art gated community von White Supremacy schaffen, indem sie eine fast entvölkerte Kleinstadt aufkauften (nachzuverfolgen in dem ausgezeichneten Dokumentarfilm Welcome to Leith) oder wenn die Freiheitliche Partei in Österreich ein pittoreskes kleines Gasthaus – die Pension Enzian – aufkaufte und dort Gold versteckte, weil man im Falle eines europäischen Bürgerkriegs natürlich einen angemessenen Zufluchtsort benötige: Formen, wenn man so will, von innerer Sezession. Dieselben Leute, die Ängste davor schüren, »das Land zu verlieren«, streben de facto danach, all jene aus dem politischen Gemeinwesen auszuschließen, die angeblich nicht wirklich zum Volk gehören. Betroffen davon sind kaum die Mächtigsten, sondern in der Regel ohnehin verwundbare Minderheiten, die schikaniert oder gar ihrer Rechte beraubt werden. Da ist es denn auch egal, dass die Pandemie eines hätte lehren können: dass nämlich die Angehörigen des »wahren Volkes« gerade auf die oft als »volksfremd« diffamierten Minderheiten angewiesen sind: auf die wandernden Erntearbeiter in den USA; auf die Rumänen und Bulgaren, letztlich die einzigen verbliebenen hochgradig mobilen Europäer, die man mit Charterflügen zur Arbeit in Fleischfabriken nach Deutschland transportierte (während die angeblich liberal-kosmopolitischen Eliten bequem Home Office machten). Solche wechselseitigen Abhängigkeiten werden von Rechtspopulisten stets geleugnet, denn wer wechselseitige Abhängigkeit anerkennt, der gesteht ein, dass andere gleichfalls Ansprüche haben und dass diese Ansprüche vielleicht auf faire Weise in einen politischen Prozess eingebunden werden müssen
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(vgl. Purdy 2020: 41). Stattdessen vermitteln diese politischen Führer Mehrheiten das Gefühl, sie wären die wahren Opfer, die attackiert würden, oder stiften Gemeinschaft durch geteilte Empörung über diejenigen, die gar nicht richtig zum Volk gehören (vgl. Krastev 2020a; Fieschi 2019: 162). Diese Empörung hat eine reale Ursache, denn Minderheiten erheben tatsächlich manchmal neue Ansprüche, doch es ist nicht unvermeidbar, dass solche Forderungen von den Wählern rechtspopulistischer Parteien in dem Sinne verstanden werden, dass »Leute, die nicht wirklich zu uns gehören, uns was wegnehmen wollen«. Heißt all das letztlich, dass jeder Bezug auf »das Volk« von vornherein gefährlich und vielleicht per se illiberal sei oder immer auf Ausschließung zielte? Die Antwort ist nein. Es wäre nämlich sonderbar, wenn man in einer Demokratie versuchte, jede Bezugnahme auf »das Volk« zum Unding zu erklären. Was wäre zum Beispiel von einer Berufspolitikerin zu halten, die auf die Frage nach einem für sie attraktiven Selbstverständnis der Bürgerschaft nur zu antworten vermöchte, sie habe keine Ahnung, könne aber gerne über einige technische Lösungen für die jüngsten Probleme mit dem Abwassersystem der Stadt referieren? Politik als Beruf umfasst nicht zuletzt die Aufgabe, sich Gedanken darüber zu machen, was das Volk ist – oder was es sein könnte und sollte. Daran ist nichts Absonderliches, auch wenn es in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der enormen Vorbelastung des Wortes »Volk« oft so wahrgenommen wird (nicht umsonst schuf der Künstler Hans Haacke ein Denkmal mit der Inschrift »Der Bevölkerung«). Der Unterschied zwischen einem populistischen und einem nichtpopulistischen Politiker besteht darin, dass letzterer Vorstellungen über »das Volk« als grundsätzlich falsifizierbare Aussagen versteht, gleichsam als Hypothesen, die an der Wahlurne (zumindest zeitweilig) widerlegt werden können.13 Der populistische Politiker weiß dagegen nicht
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Die Bestätigung einer Sicht an der Wahlurne bedeutet natürlich keinen Freifahrtschein. Die Verwirklichung einer bestimmten Sicht wird von der Möglichkeit begrenzt, dass die gegenwärtige Minderheit die Macht erlangt und die Vorstellung vom Volk verändert.
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nur immer schon, dass er die einzig richtige Antwort auf die Frage kennt, was denn das Volk sei. Er tut zudem so, als wäre diese Antwort eine schlichtweg gegebene, unbestreitbare Tatsache (die eben er als einziger klar sieht). Behauptungen dieser Art über das einzig wahre Volk können niemals durch die Ergebnisse einer Wahl oder einer Volksabstimmung widerlegt werden. Falls es den Anschein hat, dass sie widerlegt worden sei, kann das nur durch Betrug geschehen sein. Populisten erheben nicht den Anspruch, den Willen des Volkes zugleich zu formen und zu befolgen, wie demokratische Politikerinnen und Politiker dies im Großen und Ganzen tun. Sie geben vor, sie fänden ihn lediglich vor, da der kollektive Wille sich unmittelbar aus dem einen und einzig authentischen Verständnis des Volkes ableiten lässt.14 Der Hinweis auf diesen Unterschied, so bedeutsam er ist, beantwortet natürlich noch nicht die Frage, was denn dann ein nicht-populistisches Verständnis von Volk auszeichnet. Die Debatten politischer Philosophen über diese Frage bewegen sich meist zwischen zwei Extremen. Auf der einen Seite findet sich die Position, eine moralisch korrekte Theorie sei in der Lage, die politischen Grenzen ein für alle Mal zu klären. Verteidiger des Nationalismus als einer moralischen Theorie vertreten zum Beispiel die Auffassung, alle größeren Gruppierungen mit gemeinsamer Kultur müssten politische Selbstbestimmung genießen. Auf der anderen Seite steht die Ansicht, solche Theorien stellten eine undemokratische Zumutung seitens der Moralphilosophen dar. Stattdessen solle man die Frage nach den Konturen des Volkes ganz der konkreten politischen Auseinandersetzung überlassen. Aus dieser Perspektive wirkt jedes von oben dekretierte Zusammengehörigkeitskriterium wie ein illegitimer Versuch, ein wirklich demokratisches Ringen um politische Kernfragen erst gar nicht zuzulassen (wobei Moralphilosophen von solcher Macht natürlich nur träumen können).15 14
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Auf den Unterschied zwischen Formen und Finden hat auch Ernst Fraenkel (1960: 323-340) immer wieder hingewiesen. Man denke etwa an Narendra Modis Behauptung: »Ich bin nur das Medium«, und »es ist das Volk, dessen Stimme hier widerhallt« (Khilnani 2017). Sehr klar dargestellt wird dieses Dilemma in White/Ypi (2015): »The Politics of Peoplehood«.
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Angesichts von Konflikten dann nur die Achseln zu zucken – sollen die Würfel doch fallen, wie sie wollen – resultiert dann aber vielleicht in Sprachlosigkeit angesichts von Politikern, die systematisch gegen Minderheiten hetzten oder diese gar entrechten. Zugleich haben Anhänger des Gedankens, dass man die Konflikte einfach konsequent ausfechten solle, durchaus nicht Unrecht, wenn sie Zweifel am Gedanken einer singulär korrekten moralischen Antwort säen, einer Antwort, die dem Demos keine andere Aufgabe zuwiese, als dankbar den richtigen, von Philosophen heruntergereichten Plan in Empfang zu nehmen.16 Sie können aber auch nicht automatisch davon ausgehen, dass Streit immer zu Inklusion führt. Sie könnte durchaus auch mit der Forderung enden, den Demos zu verkleinern (zum Beispiel durch Ausschluss oder Vertreibung).17 So sind denn beide Antworten unbefriedigend. Vielleicht liegt das daran, dass die Frage schlecht gestellt ist. Bei allem Respekt für Gedankenexperimente als Methode zum Schärfen der eigenen moralischen Intuitionen: Man fängt eigentlich nicht mit einem von Menschen bevölkerten Globus an und fragt dann, wie man sie am besten in verschiedene Staaten und Völker aufteilt. Man würde vergeblich nach einem archimedischen normativen Punkt suchen, von dem aus so alles klar würde (vgl. Stilz 2019). Ein anderer Weg ist plausibler. Es geht eigentlich nicht um »das Volk« in einem abstrakten Sinne, sondern um ein spezifisch demokratisches Volk. Natürlich ist das höchst voraussetzungsvoll. Vor allem setzt es voraus, dass eine bestimmte Gruppe ihr Leben nach Prin-
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Entgegen dem üblichen Bild des unbändigen und Normen missachtenden Populisten gehört er in Wirklichkeit auf die erstgenannte Seite des Dilemmas: Die Norm ist, dass genau jene Menschen das Volk bilden, die dies nach Ansicht des Populisten als des einzigen Repräsentanten des Volkes tun. Es erscheint, gelinde gesagt, eher unzureichend, wenn man sagt, wo solche auf Ausschluss zielende Maßnahmen dominierten, »geben sie uns einen nützlichen Hinweis auf die dringende Notwendigkeit zur Förderung entgegengesetzter Sichtweisen und wirken als Anreiz, dies auch zu tun« (White/Ypi 2015: 456).
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zipien der Gleichheit und Freiheit zu gestalten versucht.18 Mit anderen Worten, wir sollten von einer geteilten Absicht ausgehen, nach diesen Prinzipien zu leben; und das wiederum impliziert einen Imperativ, einen institutionellen Apparat (kurz: einen Staat) zu errichten, der diese gemeinsame Absicht auch umfassend durchsetzt (vgl. Stilz 2019: 98). Man könnte natürlich einwenden, was eigentlich bewiesen werden müsse, sei damit vorausgesetzt worden. Doch diese sehr grobe Skizze eines spezifisch demokratischen Volkes schreibt im endlosen Konflikt über Grenzen keine bestimmte Antwort vor. Sie beschränkt lediglich mögliche Konflikte auf zweierlei nichttriviale Weise. Erstens darf ein demokratisches Volk Bürgerinnen und Bürger nicht vertreiben oder entrechten (also gegen ihren Willen ausschließen). Es darf auch nicht den Status als Mitglieder des Gemeinwesens bei einzelnen Bürgern auf perfidere Weise in Frage stellen; das widerspräche der Verpflichtung auf politische Gleichheit. Solch ein Verhalten – oder auch nur eine entsprechende Rhetorik – läge außerhalb dessen, was man die harte Grenze des demokratischen Konflikts nennen könnte. Den Befürwortern von Vertreibung und Entrechtung ihre Wünsche zu versagen ist kein Verstoß gegen demokratische Prinzipien, da diese Bürger sich dem kollektiven demokratischen Projekt ja gar nicht wirklich angeschlossen haben. Weniger offensichtlich ist, dass man ihnen noch nicht einmal besondere Bemühungen zur Rechtfertigung einer Ausgrenzung verweigernden Politik schuldet, da sie den gemeinsamen Rahmen von Freiheit und Gleichheit, den das politischen Gemeinwesen sich gesetzt hat, ohnehin nicht akzeptieren (ebd.). Zweitens darf man bei Auseinandersetzungen um Grenzen nicht einfach auf eine angeblich selbstverständliche, quasi-natürliche Volkskonzeption verweisen. Genau das versuchen Anhänger eines bestimmten ethnischen Verständnisses der Nation gern (auch wenn sie dabei nicht unbedingt gleichzeitig Populisten sein müssen, die behaupten, als
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Wie Josiah Ober (2016) dargelegt hat, kam es zwar nur selten, aber immerhin doch gelegentlich vor, dass eine Gruppe die Vorteile sozialer Zusammenarbeit ohne einen Herren suchte.
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einzige den Demos/Ethnos zu vertreten) (vgl. Wolkenstein 2019: 330348). Das Problem ist nicht, dass eine Position, die Einwanderung zu beschränken versucht, von vorneherein außerhalb der demokratischen Debatte stünde. Hier geht es nicht um den Inhalt dieser Auffassung, sondern um die Art, wie sie vorgetragen wird – nämlich, indem das Verständnis von Volk als über jeglichen politischen Konflikt erhaben naturalisiert (oder gar sakralisiert) wird. Es ist eine Sache, zu behaupten, die Einwanderung treibe die Löhne geringqualifizierter Beschäftigter nach unten (auch wenn die empirischen Belege für diese These höchst umstritten sind). Es ist etwas anderes, zu dekretieren, nur Christen könnten Amerikaner sein – und damit Schluss der Debatte! Wie der Rechtstheoretiker Christoph Möllers (2019: 103) einmal bemerkt hat: »Wo sich endgültige Sicherheit über den Volksbegriff durchsetzt, ist die Demokratie am Ende«. All dies lässt immer noch sehr viel Raum für demokratischen Konflikt. Keinen Raum lässt es hingegen für die simple Behauptung, das Volk sei kulturell eindeutig determiniert oder gar von Natur vorgegeben (»Amerikaner müssen weiße Christen sein, und der Staat gehört ihnen allein« – jene Art von Kulturkampf-Rhetorik, die US-Republikanern half, sowohl mit ihrer extrem regressiven Steuerpolitik als auch mit ihrer jahrelangen Duldung von Trump, dem offensichtlichen DemokratieTerminator, immer wieder durchzukommen). Natürlich kann man fragen, ob die oben angesprochene harte Grenze nicht auch nur eine schlichte »Behauptung« oder gar eine andere Form von Determinismus ist, die die Frage nach Zugehörigkeit einfach aus der politischen Auseinandersetzung herausnimmt. Entscheidend ist hier, dass die harte Grenze nicht willkürlich oder mit Verweis auf quasi-natürliche Gegebenheiten gezogen wird; stattdessen wird sie mit dem Hinweis auf ein unverzichtbares Element der Demokratie an sich – nämlich politische Gleichheit – gerechtfertigt. Es stimmt schon, dass nichtdemokratische Staaten Sorgen dieser Art (und solch harte normative Grenzziehungen) nicht kennen.19 19
Manche meinen, in der Demokratie sei es notwendig, alle Entscheidungen zu rechtfertigen, die anderen letztlich Zwang auferlegen. Grenzen beträfen nicht
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nur jene, die sich innerhalb der Grenzen befinden, sondern auch jene, die draußen gehalten werden. Deshalb müssten auch sie Teil des Entscheidungsprozesses sein. Daraus wird geschlossen, dass der Demos aus der Sicht eines konsequenten Demokraten nicht weniger als global sein müsse. Derselbe Schluss scheint sich zu ergeben, wenn man ein etwas schwächeres Kriterium anlegt und argumentiert, in einem demokratischen Staat hätten nahezu alle Entscheidungen – ob nun mit direktem Zwang für andere verbunden oder nicht – Auswirkungen auf Nichtbürger, und da alle von einer Entscheidung Betroffenen dabei ein Wort mitzureden haben sollten, landen wir wieder bei der Forderung nach einer Art Weltdemokratie. – Eine häufige Antwort auf diese Position lautet, man könne sich einfach keinen politischen Apparat vorstellen, der einem globalen Demos die Möglichkeit gäbe, einen kollektiven Willen zu bestimmen (oder gar universell bindende Entscheidungen durchgängig umzusetzen), ohne in eine Tyrannei auszuarten. Ein weiterer Einwand betont, dass es ganz unterschiedliche und dennoch legitime Formen der Durchsetzung des Freiheits- und Gleichheitsgrundsatzes gibt. Die Menschen sind sich nicht einmal einig über die elementaren politischen Rechte. Jeder mag seine eigenen Gründe haben, anderer Meinung zu sein, und all diese Gründe könnten durchaus gute Gründe sein – zum Beispiel auf der Grundlage unterschiedlicher historischer Erfahrungen oder unterschiedlicher Wertvorstellungen, die die Grundrechte betreffen (sie aber nicht allein bestimmen), oder auf der Basis divergierender Ansichten bezüglich der empirischen Auswirkungen, welche die Grundrechte für verschiedene Menschen haben könnten, und so weiter. Die Position, dass alles global sein müsse, erreicht also das Gegenteil dessen, was die Verfechter einer ethnischen Perspektive wollen. Sie dehnt das Volk bis zum absoluten Maximum aus (und letztlich müssten sogar Außerirdische in Debatten über die Frage einbezogen werden, ob sie von der Erde ausgeschlossen werden können). Auf einer Ebene haben die beiden Extrempositionen allerdings etwas gemeinsam: Sie schließen eine demokratische Auseinandersetzung über die Frage aus, wer denn nun genau das Volk sei oder sein soll. Die Größe des Volkes ist gegeben, die Formen der Zugehörigkeit werden über die Zeit nicht in Frage gestellt oder verändert. Ich behaupte nicht, die beiden Positionen wären moralisch gleichwertig. Es spricht viel für eine Vorstellung des Volkes, die im Sinne gegenseitiger Verpflichtung sensibel für die Außenwelt bleibt. Wolkenstein (2019: 343f.) erwähnt die Kampagne für die Unabhängigkeit Schottlands als Beispiel dafür, dass Akteure versuchten, ihre Ziele nicht nur gegenüber den Einheimischen (den Schotten), sondern auch gegenüber Außenstehenden (den übrigen Briten und der EU) zu rechtfertigen (vgl. hierzu Abizadeh 2008: 37-65).
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Aus alledem folgt im Übrigen nicht, dass die heute bestehenden Staatsgrenzen niemals verändert werden dürften oder dass jeder Prozess, an dessen Ende ein Demos scheinbar kleiner geworden ist, automatisch illegitim wäre. Man denke etwa eine permanent entfremdete kulturelle Minderheit, die keine Stimme hat, weil eine dominierende Gruppe den Staat benutzt, um die eigene Kultur (einschließlich der eigenen Sprache) auf Kosten aller übrigen zu fördern. Solch eine Situation könnte Grundlage für eine tatsächliche rechtliche Abspaltung sein, die zu einer Verkleinerung des verbleibenden Demos führte (auch wenn es selbst bei Trennung und Abspaltung unter demokratischen Völkern natürlich kein Recht auf Vertreibung gibt). Kampf um kulturelle Fragen ist nicht per se illegitim. Aber auch derartige Auseinandersetzungen, so die These dieses Beitrags, müssen sich innerhalb einer harten normativen Grenze bewegen. Unabhängig davon gilt: Die doppelte Sezession hat wenig mit Kultur zu tun; es ist irreführend, Spaltung von Gesellschaft als primär eine zwischen somewheres und anywheres darzustellen. Aus demokratietheoretischer Sicht wäre es allemal besser, die Abspaltungen oben und unten zu politisieren, so dass das politische System die Konflikte bearbeiten kann – und zwar idealerweise im Sinne demokratischer Grundprinzipien von Freiheit und Gleichheit. Was das konkret heißt, ist eine komplexe Frage, die bei anderer Gelegenheit weiterverfolgt werden soll.
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Demokratie und Macht1 Über ein verwirrendes Beziehungsgeflecht Herfried Münkler
Vorbemerkung Als Mathias Lindenau mich fragte, ob ich im Rahmen der VadianLectures einen Vortrag über Demokratie und Macht halten könne, habe ich umgehend zugesagt: Mit beiden Zentralbegriffen des vorgegebenen Themas, mit Demokratie wie mit Macht, habe ich mich in der Vergangenheit immer wieder beschäftigt, also sollte ein solcher Vortrag kein großes Problem sein. Doch da hatte ich mich getäuscht. Das wurde mir klar, als ich damit begann, die Verbindungslinien zwischen beiden Begriffen etwas genauer in den Blick zu nehmen. Hierbei nämlich stieß ich auf eine Reihe landläufiger Vorstellungen, die weit verbreitet sind, aber vermutlich in die Irre führen. Vier davon will ich kurz nennen: 1. Demokratie sei eine Ordnung, die Macht tendenziell zum Verschwinden bringe, zumindest sei Demokratisierung eine Methode, um Macht zu reduzieren. Diese Vorstellung folgt der auf Jacob Burckhardt und über ihn hinaus auf Friedrich Christoph Schlosser zurückgehenden Annahme, dass Macht böse sei (vgl. Burckhardt 2018: 42) und deswegen so weit wie möglich reduziert werden solle. 2. Dem kontrastiert die Vorstellung, in einer Demokratie liege die Macht unmittelbar beim Volk, das sie in einem revolutionären Akt 1
Die Vortragsform wurde für die Veröffentlichung weitgehend beibehalten; der Text wurde jedoch um einige Ergänzungen und Erläuterungen erweitert.
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erobert habe, doch es drängten sich anschließend immer wieder Eliten dazwischen, so dass das Volk die ihm entfremdete Macht von Zeit zu Zeit zurückerobern müsse. Dieser Gedanke ist von Robert Michels in dem »ehernen Gesetz der Oligarchie« in einer eher pessimistischen Zuspitzung ausformuliert worden (vgl. Michels 1989: 351-369). 3. Demokratien seien zu einem außenpolitisch effektiven Machtgebrauch nur in Grenzen fähig, weil in ihnen zu viele mitreden wöllten und in Demokratien sich kaum ein Politiker zutraue, eine entschlossene, nicht unter Revisionsvorbehalt stehende Entscheidung zu treffen. Diese Vorstellung ist vor allem unter autoritär regierenden Gegnern der Demokratie weit verbreitet. 4. Demokratien könnten gar leicht in eine »Tyrannei der Mehrheit« ausarten, bei der eine Mehrheit des Volkes die Macht nach Gutdünken und Willkür gebrauche, so dass Minderheiten notorisch benachteiligt würden. Über dieses Problem hat sich Alexis de Tocqueville eingehend Gedanken gemacht (1987, Teil 1: 369-391). Belassen wir es zunächst bei diesen vier landläufigen, wenn auch mit ideengeschichtlicher Reputation versehenen Vorstellungen über das Verhältnis von Demokratie und Macht bzw. Macht und Demokratie. Sie sollen uns im Folgenden als Problemanzeiger und Nachfragen dienen, wenn wir zunächst den Machtbegriff und sodann die diversen Vorstellungen von Demokratie in Augenschein nehmen, um Aufschluss über das doch offenbar diffizile Verhältnis von Macht und Demokratie zu bekommen. So viel jedenfalls lässt sich schon jetzt vorwegnehmen: Es gibt keine einfache und auch keine einzige Beziehung zwischen Demokratie und Macht, sondern ein Geflecht von Beziehungen, und dieses Geflecht verändert sich strukturell, sobald sich die Definition von Demokratie wie von Macht verändert. Das ist die erste These, die ich nachfolgend entwickeln will: Wer die Beziehung zwischen Demokratie und Macht klären will, muss zunächst klären, was er unter Demokratie und unter Macht verstehen will. Vermutlich lässt sich diese strukturelle Varianz auch im Verhältnis anderer politischer Ordnungen zur Macht beobachten, also dort, wo
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nicht die Vielen, sondern nur Einige die Macht inne haben und wir von einer Oligarchie sprechen, und auch dort, wo die Macht bei einem Einzelnen liegt, was wir dann als Monarchie oder Autokratie, womöglich auch als Tyrannis oder auch Diktatur bezeichnen. Diese Bezeichnungen für die Machtkonzentration bei einem Einzelnen haben sehr unterschiedliche Konnotationen, und die unterschiedlichen Bezeichnungen bringen wesentlich den jeweiligen Umgang mit der Macht zum Ausdruck: wohlwollend und fürsorglich oder unterdrückend und hemmungslos. Bei Demokratien fällt ein so starker Gegensatz nicht auf, doch in abgemilderter Form kann man auch hier gesellschaftlich offene und abgeschlossene Demokratien beobachten. Dennoch, das ist die zweite These, die nachfolgend entwickelt werden soll, ist in Demokratien das Verhältnis zur Macht von allen Verfassungsformen am kompliziertesten und komplexesten. Das liegt auch daran, dass wir heute für die Herrschaft der Vielen nur eine einzige Bezeichnung – eben Demokratie – haben, während wir die Herrschaft Einiger als Aristokratie oder Oligarchie bezeichnen können und bei der Alleinherrschaft über mindestens vier Bezeichnungen verfügen, unter denen wir mit Blick auf den Gebrauch der Macht auswählen können: Monarchie, Autokratie, Diktatur und Tyrannis. Der Machtgebrauch ist dabei konstitutiv für den Begriff, den wir als Bezeichnung für die jeweilige politische Ordnung wählen. Im Falle der Demokratie haben wir indes nur diesen einen Begriff, denn der in der antiken Literatur gebräuchliche negative Parallelbegriff zur Demokratie – Ochlokratie, Pöbelherrschaft – bezieht sich zunächst weniger auf den Machtgebrauch als auf die spezifische soziale Zusammensetzung der Vielen, und obendrein ist er als politische Bezeichnung ungebräuchlich geworden. Zumal nach 1989 ist Demokratie zu einem Catch-all-Begriff geworden, der durch die Hinzufügung von Attributen ein wenig differenziert wird: liberale Demokratie, beschädigte Demokratie, gelenkte Demokratie usw.
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Kurze ideengeschichtliche Erkundung: Wer ist das Volk? Schon bei diesen wenigen Vorüberlegungen zum Thema Demokratie und Macht sind wir in ein Gestrüpp von Annahmen und Unterstellungen geraten, in das ich nun in Form eines kurzen Gangs durch die politische Ideengeschichte einige Breschen schlagen will, um mir und uns eine gewisse Orientierung zu verschaffen. Zunächst aber noch eine letzte Vorbemerkung: Es ist auffällig, dass die antiken Griechen, von denen ja im Wesentlichen die Begriffe stammen, mit denen wir nach wie vor arbeiten, wenn wir Staatstypen und Verfassungsformen sortieren, die Herrschaft des Volkes bzw. der Vielen ausdrücklich mit kratos, also Stärke, Kraft, Macht und Herrschaft, verbunden haben. Sie waren offenbar nicht der Auffassung, dass Macht verschwinde, wenn sie vom Volk beziehungsweise von den Vielen ausgeübt werde. Das galt zumal dort, wo demos nicht als die Gemeinschaft aller Bürger, sondern als die Masse der unteren Schichten in einer Stadt verstanden wurde, Demokratie also eine Bezeichnung für die »Parteidiktatur des Demos« war. Die aristokratischen beziehungsweise oligarchischen Gegner der Demokratie haben den Begriff zumeist in diesem Sinn gebraucht: als Bezeichnung einer Ordnung, in der die Mehrheit der städtischen Bevölkerung zu Vollbürgern geworden war und auf dieser Grundlage nunmehr hemmungslos von der ihr zugefallenen Macht Gebrauch machte. Damit war aus ihrer Sicht das Verhältnis von Macht und Demokratie geklärt. So, wie sie, die sich die Edlen (hoi aristoi) nannten oder sich als die Schönen und Guten (hoi kaloi kai agathoi) bezeichneten, die Macht in ihrem eigene Interesse gebrauchten, so gebrauche sie auch der Demos in seinem eigenen Interesse, und der als Ps-Xenophon bezeichnete unbekannte Verfasser einer Schrift über die Verfassung der Athener ging davon aus, dass das Volk obendrein seine eigenen Interessen sehr genau kannte. Definiert man Demokratie in diesem Sinne, ist man das Problem einer strukturellen Varianz von Demokratie und Macht los, hat dafür aber ein anderes Problem, das zu bearbeiten ist, nämlich, dass man »Volk« im Unterschied zur Gesamtheit der Bewohner einer Stadt/eines Staates im buchstäblichen Sinn definieren muss und dabei obendrein zu klären hat, ob dieses »Volk« seine Interessen kenne und selbst vertreten könne
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oder ob eine Gruppe Wohlmeinender beziehungsweise eine politische Avantgarde die Interessen des Volkes an dessen Stelle vertreten müsse, weil nur sie zwischen den wirklichen und den bloß vermeintlichen, den »objektiven« und »subjektiven« Interessen des Volkes unterscheiden könne. Bei ersterem handelt es sich um ein paternalistisches (oder auch maternalistisches) Demokratieverständnis, bei letzterem um ein revolutionäres oder populistisches, wobei es in allen Fällen um die Frage geht, wer die Macht, die offiziell beim Volke liegt, tatsächlich innehat. Damit wären wir bei Lenin und Lukács sowie deren spezifischem Verständnis von Macht angekommen, also bei einer von wenigen ausgeübten »Diktatur des Proletariats«. Oder auch, komplementär dazu, bei einem populistisch-plebiszitären Demokratieverständnis, bei dem Einer oder Einige mitsamt ihren Anhängern von sich behaupten, sie seien »das Volk«. Dieser Populismus wiederum hat eine rechte und eine linke Variante. Wir sehen damit, wie wenig der Begriff der Demokratie selbst eine verlässliche Auskunft darüber gibt, wie sein Verhältnis zur Macht geartet ist; stattdessen müssen wir in die diversen Typen von Demokratie hineinschauen, um eine annähernde Vorstellung von der jeweiligen Beziehung zur Macht zu bekommen. Eine Reihe antiker Politiktheoretiker – Philosophen ebenso wie Historiker – hat der skizzierten einfachen Linie zwischen Partikularinteresse und Machtgebrauch nicht folgen wollen und deswegen den Begriff des Allgemeininteresses beziehungsweise des Gemeinwohls als Qualifikationskriterium des Machtgebrauchs ins Spiel gebracht. Vor allem Aristoteles ist hier zu nennen, der die Herrschaft von Einem, Einigen und Vielen danach unterschieden hat, ob sie die Macht in ihrem Eigeninteresse oder in dem der Gesamtheit gebrauchten, und auf dieser Grundlage hat er Monarchie und Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie, Politie (am besten übersetzt als Bürgerherrschaft) und Demokratie (Volksherrschaft) einander gegenübergestellt. Damit stand für ihn Demokratie als qualifizierender Begriff für die negative (parekbatische) Seite der Herrschaft der Vielen, und erst der hellenistische Historiker Polybios hat die Demokratie dann auf die positive Seite gerückt und ihr den Begriff der Ochlokratie, der Pöbelherrschaft, gegenübergestellt (dazu ausführlich Münkler/Straßenberger 2016: 93-102).
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Diese Vorstellung vom interessenpartikularen Machtgebrauch in der Demokratie hat sich bis ins 18. und 19. Jahrhundert gehalten, weswegen die meisten Autoren, die für die Herrschaft der Vielen eintraten, sie nicht als Demokratie, sondern als Republik bezeichnet haben. Das gilt für Montesquieu und Rousseau ebenso wie für die Autoren der Federalist Papers, Hamilton, Madison und Jay. Sie haben unterschiedliche Vorschläge gemacht, um einen partikularen Machtgebrauch durch bestimmte Gruppen des Volkes zu verhindern, also eine »Tyrannei der Mehrheit« im Sinne Tocquevilles zu blockieren (vgl. Hüglin 1977) und das republikanische Regieren auf die Verfolgung des Gemeinwohls zu verpflichten. Man kann das als Gewaltenteilung bezeichnen, die ein Durchregieren verhindern soll, oder auf das System der checks und balances verweisen; man kann von einer gemischten Verfassung sprechen, wie das Alois Riklin (2006) getan hat, kann aber auch von den rechtlichen Begrenzungen des Machtgebrauchs bzw. der Bindung des Volkswillens an Rechtsprinzipien sprechen, weswegen sich ja auch die Selbstbezeichnung als liberal-demokratischer Rechtsstaat eingebürgert hat. Das Problem der Macht ist in diesem System der Machtbegrenzung und Machtkontrolle zwar nicht verschwunden, aber die voluntative Dimension des Machtgebrauchs ist begrenzt. Pluralität und Liberalität sind gegen den Volkswillen und seinen Machtgebrauch geschützt. Oder anders formuliert: dem Ansturm des Populismus, gleich ob von links oder von rechts, sind Grenzen gesetzt. Das ist in Deutschland sicherlich stärker der Fall als in der Schweiz, aber in Deutschland hat man mit einem außer Rand und Band geratenen Volk am Ende der Weimarer Republik auch ganz andere Erfahrungen gemacht als in der Schweiz. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben einem unbegrenzten Volkswillen misstraut und ihn deswegen an die Kette der »Ewigkeitsgarantie« für zentrale Grundgesetzartikel gelegt. Außerdem haben sie im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung keine »Volksgesetzgebung« auf Gesamtstaatsebene vorgesehen.
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Was ist Macht und wie umfassend soll ein politikrelevanter Machtbegriff sein? Werfen wir zunächst einen Blick auf das, was unter Macht zu verstehen ist – beziehungsweise was wir unter Machtgesichtspunkten ins Auge fassen und im weiteren Sinn für politisch regelungsbedürftig oder auch regelungsfähig ansehen wollen. Das ist im demokratischen Rechtsstaat selbst eine Frage des Kampfs um die Macht, weil die einen das Hauptproblem darin sehen, dass der Staat in zu viele Bereiche eingreift und dadurch zu mächtig wird, während die anderen im Gegenteil darauf setzen, dass der Staat regulierend eingreift, um unkontrollierte, wildwüchsige Macht in der Gesellschaft seiner Kontrolle zu unterwerfen. Die Frage, welche Macht beschränkt werden soll und welche Form von Macht hingenommen werden kann, wird in einer Demokratie durch das Volk entschieden, bei Plebisziten, insofern solche vorgesehen sind, im Hinblick auf konkrete Fragen, im Akt der Wahl eher generell durch Stimmabgabe für eine bestimmte Partei oder Person. Beide Seiten warnen im demokratischen Wettstreit, also im Werben um politische Unterstützung und um Wählerstimmen bei anstehenden Entscheidungen, vor zu viel Macht und setzen auf die Begrenzung dieser Macht, nur dass die einen die Gefahr von der konzentrierten Macht des Staates und die andern die Gefahr von der dispersen Macht in der Gesellschaft – oder auch vom internationalen Kapital – ausgehen sehen. Hier wird also, wenn wir es allgemein betrachten, Macht aufgebaut, um Macht zu begrenzen beziehungsweise auf den Aufbau von Macht wird verzichtet, weil man die vorhandene, politisch unkontrollierte Macht für hinnehmbar hält. Hinter diesen unterschiedlichen Präferenzen stehen Ideologien und Interessen. Daraus entstehen dann politische Frontstellungen, die sich mit der Veränderung der sozioökonomischen Konstellationen immer wieder ändern können. Sie verändern sich freilich auch, weil sich das Verständnis dessen verändert, was Macht ist und was in der Gesellschaft unter Macht verstanden wird. Ein Blick auf die Geschichte der Machttheorien von Thukydides über Machiavelli bis zu Nietzsche und Foucault (vgl. dazu Münkler 1991; Röttgers 1990: 124ff. und öfter; Stockhammer 2009; Rudolph 2017: 29ff.)
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zeigt eine wachsende Subtilisierung des Machtbegriffs, die zur Folge hat, dass Macht auch dort als Problem wahrgenommen wird, wo man zuvor kein Problem und keine Anforderung politischen Intervenierens gesehen hat. Nun ist die Analytik der Macht, wie gerade erläutert, nicht damit gleichbedeutend, dass überall dort, wo Macht wahrgenommen worden ist, dieser auch sogleich Zügel angelegt werden sollen. Das gilt zumal für Thukydides und Machiavelli, die Macht analysieren, um ihre Leser zu klügeren und aufmerksameren Beobachtern des politischen Geschehens zu machen und ihnen womöglich die erforderlichen Fähigkeiten zu verschaffen, im Kampf um die Macht selbst erfolgreich mitzuspielen, was nicht dasselbe ist, wie die neu identifizierten Machtformen zu begrenzen oder zu verkleinern. In gewisser Hinsicht gilt das auch für Nietzsche und Foucault, wenn sie in Gewohnheiten, Moralvorstellungen und Semantiken Macht aufspüren und für sie sensibilisieren. Der Analytik der Macht folgt zumeist jedoch die Pragmatik der Machtzügelung, die an die Stelle einer Einübung in den Gebrauch von Macht sogleich deren prinzipielle Begrenzung setzen will – eine Vorstellung, die Demokratie also nicht als eine wesentlich agonale Praxis begreift, sondern als institutionellen Opferschutz. Beide Sichtweisen können sich dabei auf demokratische Grundsätze berufen, und das Austarieren zwischen beiden Positionen ist selbst ein Bestandteil der demokratischen Auseinandersetzung. Demokratien, die das Agonale grundsätzlich unterbinden, weil jeder Agon nun einmal Opfer generiert, verwandeln sich in große Lazarette der Viktimisierten, in denen es nicht mehr um politische Macht, sondern nur noch um Entschädigungsansprüche geht (was freilich auch eine Form von Macht ist), und Demokratien, die dem Kampf um die Macht keine Grenzen setzen, werden zu Tummelplätzen der Lügen und Beleidigungen, zu gespaltenen Gesellschaften, die am Rande des Bürgerkriegs stehen, wie wir das jüngst am Beispiel der USA in der Ära Trump haben beobachten können. Offensichtlich funktionieren Demokratien dann am besten, wenn sie zwischen Machtkampf und Machtbegrenzung die Mitte halten. Wo diese genau liegt, dürfte freilich schwer zu sagen sein, denn
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sie verändert sich in Abhängigkeit von den politischen Konstellationen (vgl. Münkler 2010: 75-136). Ein anderer Ansatz, die Frage der Macht in der Demokratie zu thematisieren, folgt dem Vorschlag Hannah Arendts (1970), sehr genau zwischen Gewalt und Macht zu unterscheiden, wobei unter Gewalt vergegenständlichte (reifizierte) Instrumente der Willensdurchsetzung verstanden werden, während Macht aus dem Zusammenhandeln der Menschen erwächst, also aus der Bereitschaft und Fähigkeit, aufeinander zuzugehen, sich nicht nur untereinander zu verständigen, sondern auch gemeinsam tätig zu werden und dabei darauf zu vertrauen, dass gerade aus der Gemeinsamkeit, dem Zusammenwirken von Vielen, Macht erwächst. Man kann sich das vergegenwärtigen, wenn man an die monatelange Konfrontation in Belarus denkt: auf der einen Seite die Gewalt des Polizeiapparats, vergegenständlicht in der Kampfmontur der Sicherheitsleute, Helm, Schild, Schlagstock, Wasserwerfer usw., und auf der anderen Seite die Ausdauer und der Mut derer, die allwöchentlich gegen das Regime demonstriert haben. Das Beispiel zeigt aber auch, dass Arendts Zuversicht, zuletzt werde die Macht über die Gewalt siegen, nicht immer bestätigt wird. Die Ereignisse in Hongkong sind ein anderes Beispiel dafür, dass Gewalt über Macht im Arendt’schen Sinn triumphieren kann. Das Problem von Arendts Unterscheidung, einem Nebenprodukt ihres großen Werks über das tätige Leben, das Buch Vita activa (1967), ist, dass mit der seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahre 1958 erfolgten Sublimierung des Machtbegriffs die Grenzziehungen zwischen Macht und Gewalt nicht mehr so einfach zu ziehen sind: Wenn wir etwa rhetorische Praktiken als Elemente bei der Konstitution von Macht durch Zusammenhandeln begreifen, so stellt sich die Frage, ob es sich dabei im Sinne von Arendts Unterscheidung um Macht oder um Gewalt handelt, Rhetorik ist nämlich selbst kein Zusammenhandeln, also keine Macht im engeren Sinn, sondern eine Fähigkeit von Einzelnen, die, wenn sie medial verstärkt wird, Gewaltcharakter annehmen kann. Denkt man das zu Ende, so ist Gewalt, wenn Rhetorik die Voraussetzung des Zusammenhandelns ist, ein Quellgrund von Macht. Dem würde Arendt zweifellos widersprechen, jedenfalls ist
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es dem Sinn und Zweck ihrer Unterscheidung zuwider. Wir müssen dieses Problem hier nicht weiter verfolgen; es genügt aber, um deutlich zu machen, dass die Subtilisierung des Machtbegriffs durch die Soziologie und die jüngere Kulturwissenschaft (vgl. etwa Imbusch, 1998) in politiktheoretische Paradoxien führt, die schwerlich aufzulösen sind. Man kann daraus schlussfolgern, dass die voranschreitende Subtilisierung des Machtbegriffs negative Folgen für das System der Machtbegrenzung und -kontrolle haben kann. Ich schlage darum vor, Arendts Unterscheidung von Macht und Gewalt als politische Faustregel anzusehen, die nach wie vor verwendbar ist, aber nur so lange, wie wir beide Begriffe nicht weiter problematisieren. Ich will darum zunächst auf Bertrand Russells in dem Buch Macht (2001) vorgenommene Differenzierung von Machtformen zurückgreifen, die in einem eher phänomenologischen Sinn priesterliche und königliche Macht voneinander unterscheidet, eine Unterscheidung, die sich bei Carl Schmitt als eine zwischen potestas indirecta und potestas directa findet, eine, die über Gewissensängste und Gewissensnöte ausgeübt wird, und eine, die direkt auf den Körper zielt und die Leiblichkeit des Menschen zur Geisel der Willensdurchsetzung macht. Das Projekt der Demokratisierung hat an der königlichen Macht angesetzt und sich damit begnügt, die Begrenzung der priesterlichen Macht den Aufklärern zu überlassen. In der Retrospektive können wir feststellen, dass es sich bei der Begrenzung beider Machtformen um weithin gleichzeitige Vorgänge handelte, vielleicht mit einem kleinen zeitlichen Vorlauf der Aufklärung gegenüber der Demokratisierung. Die Pointe dieser Teilung der Machtsorten und der Begrenzung des politischen Machtkampfs auf die königliche Macht hat, dort jedenfalls wo sie gelang, dazu beigetragen, dass die daraus hervorgegangene Ordnung liberal war, also den Bereich des Glaubens der persönlichen Präferenz des Einzelnen überließ. Aber damit waren die potestates indirectae nicht abgeschafft, sondern kehrten in anderer Form wieder. Russell hat den beiden Machtformen deshalb noch die Macht über die öffentliche Meinung bzw. Macht qua öffentlicher Meinung und schließlich auch moralische Macht zugesellt, wobei er freilich stärker den jeweiligen Machthaber als die Macht der Meinung selbst im Auge hat. Schließlich fügt er dem Ensemble
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der Machtsorten noch wirtschaftliche Macht, revolutionäre Macht und nackte Gewalt hinzu. Im Unterschied zu Arendt begreift er Gewalt also nicht als das Andere der Macht, sondern als eine ihrer Unterformen, einen spezifischen Typus von Macht. Im Prinzip hat Russell, der damit für einen bestimmten Typ der Machtanalyse steht, das Problem der Machtsorten aufgelöst, indem er es mit einer Typologie der Herrschaft verbunden hat, was dann die Möglichkeit eröffnet, auf beiden Seiten, der Macht wie der Demokratie, die Kollektivsingulare aufzulösen und durch plurale Konzepte zu ersetzen. Eine alternative Typologie der Machtsorten findet sich bei Michael Mann (1990: 46ff.), der zwischen politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ideologischer bzw. kultureller Macht unterschieden hat, wobei er diese Machtsorten freilich weniger auf die inneren Verhältnisse einer politischen Ordnung als auf die Beziehungen zwischen den Staaten und ihren jeweiligen Ordnungen bezogen hat. Manns Typologie lässt sich dadurch erweitern, dass man den einzelnen Machtsorten ein spezifisches Gewicht bzw. eine eigene Faktorgröße zuweist, die sich mit den jeweiligen politischen Konstellationen verändert. So ist es in den letzten Jahrzehnten zu einem Bedeutungsverlust militärischer Macht und einem komplementären Bedeutungsgewinn der wirtschaftlichen und der ideologischen Machtsorte gekommen bzw., in der Begrifflichkeit von Joseph Nye (2011: 113), zu einer Verschiebung von hard power zu soft power. Obendrein lassen sich die vier Machtsorten nicht nur im Additionsmodell nebeneinanderstellen, sondern politische Macht obendrein als eine Größe begreifen, die sich aus der Multiplikation der drei anderen Machtsorten ergibt. Damit haben wir dann ein dynamisches Modell vor uns, das auch auf Demokratien zwecks Messung ihrer jeweiligen Macht angewandt werden kann, verbunden mit der Frage, ob Demokratien sich womöglich bevorzugt mit bestimmten Machtsorten verbinden, weswegen es Konstellationen gibt, die der Machtentfaltung von Demokratien günstig sind, aber vermutlich auch solche, bei denen sie gegenüber anderen politischen Ordnungen im Nachteil sind. Dem nachzugehen ist indes ein eigenes Thema, das hier zu weit führen würde.
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Zu erwähnen ist hier schließlich noch die von Sofsky und Paris (1991) entwickelte Figurationstypologie von Macht, die mit ihren drei Figurationen von Macht – der Autorität, der Stellvertretung und der Koalition – ausgesprochen demokratieaffin ist, insofern es sich dabei um Formen der Machtbildung handelt, die in demokratischen Ordnungen von besonderer Relevanz sind. Dem könnte man weiter nachgehen, indem man in Anlehnung an den von Soeffner und Tänzler herausgegebenen Band Figurative Politik (2002) über die Performanz der Macht nachdenkt, von deren Inszenierung und Ästhetisierung bis zu Posen des Prestiges. Das alles will ich hier aber nur andeuten. Halten wir zusammenfassend fest: die juridische Machtanalyse interessiert sich wesentlich für die Verfassung und die in dieser geregelten Lagerung von Macht an bestimmten Orten des politischen Systems; die politologische Machtanalyse fragt nach Machtsorten und ihrer Verfügbarkeit für die jeweiligen politischen Akteure, und die soziologische Machtanalyse beschäftigt sich mit spezifischen Figurationen im politischen System, die für die Generierung und den Gebrauch von Macht relevant sind. Für unser Thema heißt das, dass sich das Problem unterschiedlich darstellt, und zwar je nachdem, welchen Machtbegriff und welche Typologie von Macht wir der Betrachtung zugrunde legen. Die Demokratie als Verfassungsordnung kann Macht beschränken, indem sie diese auf diverse Institutionen verteilt und dabei darauf achtet, dass sie sich gegenseitig kontrollieren und notfalls blockieren, wie das im System der checks and balances vorgesehen ist; sie kann ebenso aber auch Macht steigern oder überhaupt erst generieren, indem sie Möglichkeiten schafft, dass Menschen im Sinne Arendts zusammenwirken und in diesem Zusammenwirken sehr viel mehr erreichen können (also Macht haben), als wenn jeder für sich allein tätig würde und man die Effekte dessen anschließend addieren müsste.
Typen der Demokratie und deren Verhältnis zur Macht Das Verhältnis von Macht und Demokratie (dazu speziell Arndt 2014) wird noch komplexer, wenn man nicht nur bei der Macht, sondern auch
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im Fall der Demokratie danach fragt, was damit denn eigentlich gemeint sei, und im Gefolge dieser Frage die unterschiedlichen Ausgestaltungen von Demokratie ins Auge fasst: solche, denen es vor allem um eine Steigerung der Freiheitsgrade des Einzelnen geht (vgl. Möllers 2020); solche, die einen starken Akzent auf soziale Gerechtigkeit, also auf nicht nur formal, sondern auch material gleiche Ausgangsbedingungen der Menschen, legen (vgl. Meyer 2005); solche, die den Volkswillen plebiszitär zur Geltung bringen (vgl. Schiller/Mittendorf 2002), und solche, die ihn an den Imperativ einer ethnisch oder konfessionell homogenen Bevölkerung binden; andere, die als Organisation von Lernund Reflexionsprozessen angelegt sind (vgl. Schmalz-Bruns 1995), und wieder andere, die sich pluralistisch verstehen und Demokratie als Inklusion unterschiedlicher ethnischer Herkunft und diverser Konfessionen verstehen (vgl. Foroutan/Hensel 2020: 305ff.) usw. Demokratie ist ein Containerbegriff, in dem sich recht unterschiedliche Vorstellungen von Volksherrschaft oder bürgerschaftlicher Partizipation finden, darunter auch solche, die einander in zentralen Prämissen widersprechen. Die antike Demokratie folgte, wie bereits erwähnt, wesentlich anderen Grundsätzen und Vorgaben als die moderne Demokratie, die sehr viel stärker auf den Einzelnen abhebt als auf das Kollektiv, die also individualistischer und insofern auch pluralistischer ist als die attische Demokratie und die darum stärker auf eine Bürger- als eine Volksherrschaft hinausläuft (dazu Pinzani 2009). Werfen wir aber zunächst einen Blick auf die Frage, ob und inwieweit die Demokratie tatsächlich für sich in Anspruch nehmen kann, dass die Macht beim Volk liegt und die Entscheidungen des Volkes tatsächlich weithin den politischen Kurs der Regierung bestimmen. Das ist eine für die Schweiz, wie ich weiß, besonders wichtige Frage, da hier die Bürger über das Institut der Volksabstimmung sehr viel stärker an der politischen Agenda beteiligt sind als in anderen Demokratien, die dieses Institut nicht kennen oder es nur in abgeschwächter Form praktizieren. Hier geht die Macht, wie man sagt, nur vom Volk aus, aber sie bleibt nicht bei ihm, sondern liegt dann eine Legislaturperiode bei den gewählten Abgeordneten und kehrt erst danach, gewissermaßen für einen Tag, zum Volk zurück, um dann wieder von ihm »auszugehen«. Das
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Volk, so der Vorwurf, wird durch die Parteien mediatisiert. Dem wird verfassungspolitisch entgegen zu wirken versucht, indem die Parteien selbst auf demokratische Grundsätze verpflichtet werden. Dass das nicht genüge, hat Robert Michels, einer der Grundväter der Soziologie in Deutschland, in seinem epochalen Werk Zur Soziologie des Parteienwesens gezeigt, in dem er das »eherne Gesetz der Oligarchie« aufgestellt hat, wonach die Organisationserfordernisse einer Partei notorisch deren inneren Kreis begünstigen, so dass sich die Parteielite letzten Endes immer durchsetze (vgl. Michels 1989: 351ff.; dazu Gennett 2008: 411-531). Ob das so heute noch stimmt, kann man indes bezweifeln, empirisch etwa am Beispiel von Donald Trump, der im Jahre 2015 gegen den Willen der republikanischen Parteioligarchie Präsidentschaftskandidat wurde (vgl. Levitsky/Ziblatt 2018: 64ff.), theoretisch durch den Hinweis auf die gravierenden Veränderungen des medialen Systems, in deren Folge gerade Außenseitern der Organisation gute Erfolgschancen zugewachsen sind. Auch haben die Parteien das Verfahren der Mitgliederbefragung/-abstimmung entwickelt und damit dem Parteivolk größere Einflussmöglichkeiten verschafft. Das hat bei den beiden großen Volksparteien in Deutschland indes zu keinen überzeugenden Ergebnissen geführt: Frau Kramp-Karrenbauer ist politisch früh gescheitert, und Frau Esken ist vom Typ her eher für die Führung einer Zehn-Prozent-Partei als einer Volkspartei geeignet. Mitgliederentscheide stärken nicht unbedingt die Attraktivität und Schlagkraft einer Partei, die um die politische Mehrheit kämpft. Im Gegenteil. Aber ist das in einer stärker plesbiszitär ausgelegten Demokratie grundsätzlich anders? Bei Thukydides, der auch der Historiker der attischen Demokratie in Athen war, liest man über diese direkte Demokratie die Feststellung, dem Namen nach sei Athen eine Demokratie, der Sache nach aber »die Herrschaft des ersten Mannes« gewesen (Thukydides 1976: II, 65, 9). Das bezog er auf Perikles, den Führer und Kopf der demokratischen Partei, der den Ton an- und die Richtung vorgab – und die Mehrheit der Bürger, die an den Volksversammlungen teilnahmen und abstimmten, folgten ihm. Auch hier können wir somit Prozesse der Mediatisierung beobachten.
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Demokratie ist also eine Ordnung, die ständig, nicht etwa ein für allemal, sondern immer wieder aufs Neue, sich um den Einfluss wie die Einflussnahme der Bürger auf die Politik, also um die Macht des Volkes bemühen muss, für die es nicht genügt, dass der Einfluss der Bürger auf die Politik in der Verfassung festgeschrieben ist, sondern in der man ständig damit zu tun hat, Verhärtungen und Verholzungen, Erstarrungen und Ermüdungen aufzulösen, auf Erschöpfungen und Ermattungen zu reagieren und angesichts veränderter sozialer, ökonomischer und medialer Konstellationen den Bürgern neue, bisher unbekannte, jedenfalls unbeschrittene Wege aus der empfundenen Machtlosigkeit zur politischen Einflussnahme zu öffnen (dazu Münkler/Münkler 2019: 257334). Ich spreche bewusst von Bürgern und nicht vom Volk, wähle also die Pluralität der Einzelnen anstelle des Kollektivsingulars Volk, denn der kann allzu leicht von charismatischen Anführern als Legitimationsressource gekapert werden. Und obendrein sperrt sich die Insistenz auf dem Bürger dagegen, dass eine plebiszitär-populistische Veränderung der politischen Ordnung für die Lösung des Problems, nämlich die Erneuerung der Zugangswege zur Politik, genommen werden kann. Abschließend will ich die beiden unterschiedlichen Demokratietypen, mit denen ich hier arbeite, kurz gegeneinander konturieren: Es handelt sich um Idealtypen im Sinne Max Webers, in denen die empirisch vorfindlichen demokratischen Ordnungen zu zwei Modellen stilisiert worden sind: der deliberativ-pluralistischen Demokratie und der plebiszitär-populistischen Demokratie, die in unterschiedlicher Weise die Entwicklungspfade zur Demokratie abbilden und Antworten auf die Frage nach der permanent anstehenden Erneuerung der Demokratie bieten. Dabei ist die deliberativ-pluralistische Demokratie auf die »Machtquelle« des Bürgers ausgerichtet, während diese Machtquelle in der plebiszitär-populistischen Demokratie das Volk ist, um dessen Willen es geht, wobei dieser Willen jedoch häufig von charismatischen Volksführern artikuliert und interpretiert wird. Aus Perspektive der plebiszitär-populistischen Demokratiekonzeption sind die Eliten und das Establishment das Problem, insofern wesentlich sie dafür sorgen, dass die Interessen und Präferenzen einer Mehrheit des Volkes nicht wahrgenommen werden oder zumindest in
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der operativen Politik, also jenseits der offiziellen Bekundungen, keine Rolle spielen (vgl. Rosanvallon 2020: 25-71). So lautet die Klage, die mit linken wie rechten Leittönen angeschlagen werden kann. Im einen Fall stehen eher wirtschaftliche Eliten, die mit Geldmacht ausgestattet sind, im andern Eliten, die die öffentliche Meinung beherrschen, im Fokus der Kritik. Für die politische Linke ist es, wenn sie auf dieses Modell setzt, die Wirtschaftsmacht (der Finanzkapitalismus), die zur Blockade der Demokratie geworden ist (vgl. Mouffe 2018), für die Rechte ist es hingegen die Meinungsmacht einiger, die gebrochen werden muss, damit das Volk zum Zuge kommt. Aber auch das sind Idealtypen, und in der politischen Rivalität können wir seit einiger Zeit eine Amalgamierung beider Sichtweisen beobachten, die vor allem von der politisch Rechten ausgeht. Dagegen fasst der deliberativ-pluralistische Typ der Demokratie sehr viel stärker den Bürger ins Auge und fragt nach seiner Bereitschaft und Befähigung zur politischen Partizipation. Politische Teilhabe wird hier voraussetzungsvoll gedacht, nicht nur im Hinblick auf einen Willen und eine Meinung, sondern auch mit Blick auf politische Urteilskraft, die nahe und ferne Folgen von Entscheidungen abzuschätzen vermag. Die für diesen Typ leitende Frage nach der Macht ist also die nach der Selbstermächtigung der Bürger im Sinne ihrer Selbstbefähigung. Dazu bedarf es eines gewissen Wissens, also kognitiver Kompetenzen, aber auch gewisser Kenntnisse der politischen Praxis (prozeduraler Kompetenzen), des Erlernens von Stellvertretung und Koalitionsbildung, aber auch dem Aufbau von Autorität (praktischer Kompetenzen). Das ist sehr viel anspruchsvoller als die bloße Äußerung eines Willens oder einer Meinung. Es zeigt die ungeheure Komplexität der Demokratie, ihre weitreichenden Voraussetzungen, die immer wieder neu gesichert oder auch wieder hergestellt werden müssen, wenn denn die demokratische Ordnung nicht untergehen soll. Ich denke, dass hier die wichtigste Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Demokratie zu finden ist.
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Volkssouveränität und Direkte Demokratie1 Über einen zweideutigen Begriff und das aktuelle Problem der Schweiz Georg Kohler
Über »die« Demokratie nachdenken verlangt, sich klarzumachen, dass es sie nur im Plural gibt. Denn »Demokratie« ist ein vager, vielfach unterbestimmter Klassifikationsbegriff, der so offen ist, dass sich unter ihm heterogene Formen politischer Herrschaft versammeln lassen, von der Einparteiendiktatur chinesischen Musters bis zum Fürstentum Lichtenstein. Anders verhält es sich mit dem Begriff der »Direkten Demokratie«. Zwar gibt es ein Feld von Möglichkeiten, Volkssouveränität »direkt«, ohne zwischengeschaltete Instanzen (wie Parteien und Parlamente) zu verwirklichen; die kurzlebigen revolutionären Rätedemokratien liefern dafür traurige Beispiele. Doch als dauerhaft funktionierendes Exempel
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Im vorliegenden Essay werden die Gestalt und die Institutionen direktdemokratischer Volksherrschaft vor allem im Blick auf ein zentrales Problem – ihre Position im Rahmen der postnationalen Konstellation – diskutiert. Das geschieht am Beispiel der Schweiz, des einzigen Landes, das direktdemokratische Volksrechte sehr weitgehend in sein politisches Existieren integriert hat. Dieser Ansatz hat zur Folge, dass andere Aspekte des Themas – etwa die Idee, repräsentativ-parlamentarische Demokratien durch direktdemokratische Elemente zu erweitern – unberücksichtigt bleiben. Damit soll nicht gesagt sein, dass solche Überlegungen überflüssig sind. Doch die entsprechende Erweiterung der Diskussion hätte den hier zur Verfügung stehenden Raum überschritten.
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findet sich auf staatlicher Ebene für sie als einziges Paradigma lediglich die (halb-)direkte (also parlamentarisch eingeschränkte) Demokratie der Schweiz (vgl. zur Direktdemokratie: Schmidt 2006: 355-375). Das Folgende gliedert sich in zwei Hauptstücke; in die Auseinandersetzung einerseits mit der generellen Idee der Demokratie und dem Problem ihrer Repräsentation, zum anderen in den Versuch, das demokratische Modell Schweiz und dessen aktuelle Schwierigkeiten zu analysieren.
Die nicht-selbstverständliche Demokratie Obwohl es in der Gegenwart nicht so aussieht, ist die Idee der Demokratie lange Zeit alles andere als selbstverständlich gewesen. Das zeigt sich, wenn man ihren Stellenwert im Rahmen der Politischen Philosophie betrachtet: Berühmt ist Platons Verdikt über die Staatsform der Demokratie als einer buchstäblich kopflosen Volksherrschaft, die nur dazu dienen könne, dass die am wenigsten Qualifizierten die Macht am Steuer des Staatsschiffes übernehmen; die Rücksichtslosen, die Demagogen, die Spalter und Schönredner, die das Volk durch falsche Versprechungen und üble Strategien ins Elend führen.2 Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass die (meisten) Denker der Antike die Demokratie nicht schätzten. Umso bemerkenswerter ist der Befund, dass »Demokratie zu einem der dominierenden Glaubensbekenntnisse in der heutigen Welt geworden ist […] wie die Standardeinstellung bei einem Computerprogramm.« (Lilla 2014: 25) Amartya Sen – zweifellos ein prominenter, global reputierter Gewährsmann – notiert etwas, worüber sich kaum noch jemand wundert, was tatsächlich aber erstaunlich ist: die Selbstverständlichkeit der Demokratie. Mark Lilla, dem ich den Hinweis auf dieses Faktum verdanke, vertieft den Gedanken; mit der Erinnerung an die prinzipiell monarchie2
Exemplarisch für diese Position ist das Buch III der »Politeia«; vgl. Kohler 2017: 57 -82.
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freundlichen Meinungen von politischen Philosophen der Neuzeit wie Bodin, Hobbes oder Hugo Grotius; zweitens mit der Feststellung notwendiger, nicht eo ipso demokratischer Gewaltenteilungen; drittens mit der begründeten Skepsis gegenüber populistischen Versuchungen: »Sogar die amerikanischen Gründerväter befanden – gewarnt durch das Scheitern der republikanischen Ansätze in Italien –, dass eine funktionsfähige moderne Demokratie durch nichtdemokratische Instrumente eingeschränkt werden müsse: eine festgeschriebene Verfassung, ein System institutioneller ›checks and balances‹ und unveräusserliche Persönlichkeitsrechte […]. Während eines Grossteils seiner Geschichte stand der Begriff Demokratie […] für ein Regierungssystem, und zwar keineswegs für ein besonders gutes.« (ebd.: 25) Lilla markiert wichtige Themen, durch die der Begriff der Demokratie differenziert wird: die Unterscheidung von Demokratie als Staatsprinzip und als Exekutivform; die Bestimmung des Gegensatzes von Grundrechten, verankert in der Verfassungsordnung, und wechselnder Mehrheitsmacht; der Umgang mit dem permanenten Basisproblem des Politischen – seiner Korrumpierbarkeit durch die Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur. Ich werde mich aber auf zwei andere Dinge konzentrieren, die für die Konzeption der Demokratie wichtig sind: auf das Problem des »Volkes« (=Demos) der Demokratie und auf das Problem seiner Repräsentation.
Repräsentation und Demokratiekrise Der vermittelte Volkswille Wer oder was ist das Volk der Volksherrschaft? Um diese Frage demokratietheoretisch angemessen beantworten zu können, ist zuerst der Unterschied zwischen Demokratie als Staats- im Gegensatz zu ihr als Regierungsform zu markieren.
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Demokratie als Staatsform bezeichnet »das Volk« als den Inhaber der höchsten und letzten Entscheidungsmacht. Das Volk ist der Souverän, der das Recht hat, die primären Staatsstrukturen letztinstanzlich festzulegen. Im Gegensatz dazu ist Demokratie dann (auch) Regierungsform, wenn das Volk nicht nur Legitimationsinstanz des Verfassungsgesetzes ist, sondern außerdem über die einfachen Legislativ- und sogar über tagtägliche Exekutivfunktionen verfügt. Dass derartige politische Organisationsformen allenfalls zu Jäger- und Sammlergesellschaften passen, aber unbrauchbar sind, wenn Gesellschaften höhere Komplexitätsgrade erreichen, muss nicht lange begründet werden. Und es ist gleichermaßen klar, dass sich im Gefolge der sozialen Evolution bald einmal verschiedenartige politische Aufgaben und die entsprechenden Trägerrollen ausdifferenzieren. Die Evolutionsschritte, die zum neuzeitlichen Staat, der spezifischen Rechtsförmigkeit und zur Bändigung des »Leviathan« durch die Aufteilung seiner Macht in verschiedene Funktionen (»Gewalten«) führen, müssen nicht verfolgt werden, um bald auf ein Elementarproblem der demokratischen Staatsidee zu stoßen: Wer ist der Demos, das Volk? Wodurch wird es bestimmt? Ideengeschichtlich betrachtet, kommt man zum überraschenden Befund, dass es wenig beachtet wurde: »In […] demokratischen Diskursen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird Volk zunächst eher als transzendentales Prinzip, denn als konkretes Handlungssubjekt angesehen: ›We, the people.‹ Volkssouveränität, ist erst einmal eine abstrakte Referenzgröße in einem politischen Legitimationsdiskurs, ohne dass schon eine genaue Vorstellung darüber besteht, wie sie konkret ausgestaltet werden sollte.« (Manow 2019: 5) Für die amerikanischen Gründerväter war beim Begriff »people« implizit klar, was er umfasste, nämlich keine coloured people und auch keine Frauen, also allein weiße Männer. Wenig erstaunlich, dass hinter dem »abstrakten Legitimationskonzept […] das konkret vorgestellte […] Volk […] als politische Größe verschwindet«. (ebd.)
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Die überragende Werthaftigkeit des Volksbegriffs erzeugt im Lauf des Aufstiegs der Demokratie zur Staatsidee der Moderne mächtige Programmimpulse; zugleich erlaubt sie Unterschiede bei der institutionellen Ausgestaltung. Weil »Herrschaft des Volkes« sehr Diverses meinen kann, jedoch oberste Norm ist, wird im Prozess ihrer geschichtlichgesellschaftlichen Implementierung die Offenheit des Konzepts zum Treiber von Inklusionen: Dass zum Volk der Demokratie auch Frauen und Menschen nicht-weißer Hautfarbe gehören, ist schwer zu verneinen, wenn der Grundsatz der Menschengleichheit gilt. Nicht weniger folgerichtig als es das Programm der Inklusion ist, ergibt sich aus der Frage, wer nun berechtigt sei mitzubestimmen und in welchen die res publica betreffenden Dingen, das Problem der Repräsentation des Volkswillens; das Problem der näheren Ausgestaltung der Staatsordnung. Die Antwort auf die Frage nach dem Wie und Wofür der Repräsentation eröffnet den Vermittlungsbereich zwischen Demos und dessen Präsenz in Legislativbeschlüssen, Exekutivhandlungen und Gerichtstätigkeiten. Dabei zeigen sich viele Möglichkeiten der Realisierung – und die typischen Schwierigkeiten und Konsequenzen asymmetrischer Machtverteilung. Repräsentation ist ohne Konzentration von Einfluss- und Wirkungschancen auf wenige Amtsträger sinnlos. Die notwendige Komplexitätsreduktion ist nur durch die rigorose Beschneidung von generellen Mitwirkungskompetenzen möglich. Das ist zwar eine Binsenwahrheit und praxeologische Trivialität, doch sie lässt sich leicht in Institutionenkritik umsetzen. Die Anklagen gegen »die Eliten«, »Die da oben«, gegen die classe politique bieten dafür Exempel. Bevor ich eine Variante solcher Kritik diskutiere, will ich die Konsequenzen von repräsentationslogischen Machtasymmetrien ein Stück weit vor Augen führen. Wenn der demokratische Volkswille allein per Repräsentation, d.h. mittels Substitution der Vielen durch Vorrechte für Wenige zur Geltung gebracht werden kann, wird man mit drei Überlegungen konfrontiert: Welches sind die ethisch-moralischen Forderungen, vor denen die Repräsentanten bestehen sollten? Zweitens: Welches sind die vernünfti-
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gen, pragmatisch einleuchtenden Verfahren der Auswahl der Berechtigten? Drittens: Mit welchen Auswirkungen soziologischer und psychologischer Natur auf deren Verhalten muss gerechnet werden? Alle drei Aufgaben verlangen mehr als ein paar Sätze; ich begnüge mich mit Stichworten, um die Richtung der fälligen Reflexionen anzuzeigen. Erstens muss von der/dem Repräsentantin/en erwartet werden, dass sie/er sich dem Gemeinwohlnutzen verpflichtet fühlt; und zwar auch dann, wenn sie oder er im Rahmen der demokratischen Diversität eine eigene Parteiperspektive vertritt. Parteidisziplin darf nicht die letzte Richtschnur sein; am Ende muss das persönliche Gewissen stehen, die individuelle und wahrhaftige Überzeugung im Hinblick auf das Für-alle-Gute. So anspruchsvoll diese Forderung ist, so offensichtlich ist die Versuchung, sie opportunistisch zu verdrängen. Zweitens kommt (im Normalfall) als Ausleseverfahren lediglich die demokratische Mehrheitswahl in Betracht; die Qualifikation der Vertreter und Vertreterinnen aufgrund abzählbarer Stimmen derjenigen, für die sie zu handeln haben. Voraussetzung dafür ist aber eine Öffentlichkeit, deren Meinungsbildung sich in repressionsfreien Diskussionen und Wahlen äußern kann. Das Bündel von Nachfragen, das mit diesem Postulat akut wird, will ich nicht aufschnüren; nicht zuletzt sind mit ihm die Kriterien der Unterscheidung zwischen wirklicher und scheinhafter Demokratie verbunden. Drittes sind die soziologisch-sozialstrukturellen Konsequenzen von Repräsentationsmechanismen zu berücksichtigen. In arbeitsteiligen Gesellschaften prägen sich die Spezialistenrollen des Berufspolitikers, der Parteifunktionärin etc. aus. Eine Schicht entsteht, die – trotz interner Differenzen – gemeinsame Interessen besitzt, die nicht notwendigerweise mit dem fürs Ganze bestehenden Gemeinnutzen übereinstimmen. Es bilden sich vernetzte Eliten, die ihre Privilegien hüten.
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Auf der Folie solcher Probleme der Repräsentation werden am Beispiel einer aktuellen Publikation prinzipielle Überlegungen zur Lage der westlichen3 Demokratie machen möglich.
Kappelers »Superstaat« Repräsentation impliziert, dass »die Vielen« und »die Wenigen« nicht über gleich viel Einfluss und Macht verfügen. Nicht zufällig entwickeln sich aus diesen Unterschieden Probleme im Verhältnis zwischen Bürgererwartungen und dem strukturellen Eigensinn von Repräsentationseliten; eine Spaltung, die zur Bedrohung der Demokratie werden kann. Freilich sollte man sich bei der Kritik nicht von Vorurteilen leiten lassen. Entschieden nicht neutral verfährt in dieser Sache der Autor Beat Kappeler (2020a), um zu einem negativen Urteil über die undemokratische Staatsführung der großen europäischen Länder zu kommen: »Wenn diese Demokratien von Parteiführern beherrscht werden, welche die Regierung bilden, und welche die Parlamentarier mit der Androhung von Neuwahlen und Sitzverlusten und Parteiausschluss zu konformer Verhalten zwingen, dann ist dies eine Top-down Struktur. Alle vier Jahre eine so beherrschte Partei gegen eine andere, aber gleich funktionierende auszuwechseln, läuft auf blosse circulation des élites hinaus, doch nicht auf Mitwirkung. Der Widerstand formiert sich dann im allgemeinen Zerfall hergebrachter Parteilandschaften; in neuen, als populistisch verschrienen Parteien, weil es anders kaum mehr geht. Die Alleinherrschaft der einsamen Entscheider Merkel, Macron und Johnson spricht Bände.« (Kappeler 2020b: 8) Kappeler deutet die Krise der Demokratie als Krise der repräsentativen Demokratie. Diese Eigenschaft sei es, die der Demokratie das Misstrauen breiter Bevölkerungsteile und den Erfolg populistischer Verachtung 3
Von »westlicher Demokratie« spreche ich, um anzuzeigen, dass damit der Typus von Demokratie gemeint ist, der am besten durch die »pluralistische Demokratietheorie« beschrieben wird; vgl. dazu Schmidt 2006: 226-240.
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eintrügen. Was ihn im Umkehrschluss dazu ermutigt, für mehr direkte Demokratie zu plädieren; für das Abhalten von Volksabstimmungen, für die Dezentralisierung der Staatsgewalt durch föderale Kompetenzen und für die Verringerung der Großparteiendominanz durch Verfahren des Stimmensplitings.4 Dass die Staatsführung in vielen europäischen Demokratien populistisch beanstandet wird, ist richtig. Ob diese Stimmung tragfähiger Grund für die Diagnose einer Demokratiekrise als Folge von Repräsentativstrukturen ist, kann aber bezweifelt werden. Vor der eigenen Analyse einige Einwände gegen Kappelers Thesen: a) Zu Kappelers Feststellung der circulation des élites: Ein Tadel kann das nicht sein; die friedliche Auswechslung der jeweils Regierenden durch Wahlen ist einer der großen Vorteile von demokratischliberalen Verfassungen. Die Annahme, dass es bei diesem Vorgang bloß um die Ersetzung durch »anderes Gleiches« geht, ist leicht zu widerlegen: Labour ist nicht Tory, SPD nicht CDU/CSU, die MacronPartei ganz und gar nicht dasselbe wie der Front National oder die Républicains. b) Offensichtlich ist die repräsentative Parteiendemokratie entgegen Kappelers Zirkulationsthese in der Lage neue Interessenkonstellationen zur Geltung zu bringen. Wie sonst ließe sich der Aufstieg »der Grünen« erklären? Wird das mit dem »Zerfall der Parteienlandschaft« identifiziert, dann bestätigt man, dass auch in der »Parteiendemokratie« tief reichende Anpassungen an veränderte Herausforderungen möglich sind. c) Da solche Veränderungen nicht mit dem Aufkommen von »als populistisch verschrienen Parteien« gleichzusetzen sind, sollte über die Gründe des erstarkten Rechtspopulismus genauer nachgedacht werden. Es ist belegbar, dass sich dieser nicht einer
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In der Schweiz darf man bei Wahlen die Wahllisten der Parteien sehr weitgehend verändern (durch so genanntes »panachieren«, oder auch einzelne Kandidaten/Kandidatinnen durch Verdoppelung der Stimme promovieren qua »kumulieren«).
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generell mangelhaften Vertretung »volksnaher« Interessen durch elitäre Top-Down-Strukturen verdankt, sondern zusammen mit elementaren Konflikten in unserer, zugleich klein und massiv ungleich gewordenen Welt aufgekommen ist; man denke an die Flüchtlingsbewegungen im Jahre 2015. d) Schief ist die Behauptung, eine Diktatur der Eliten zeige sich in der »Alleinherrschaft der einsamen Entscheider« Merkel, Macron, Johnson. Denn Premier Johnson hat mit Get Brexit done Mehrheitswahlen gewonnen, während umgekehrt der haushohe Wahlsieger Macron seine Reformpläne nur sehr limitiert verwirklichen kann und die »Merkel-muss-weg«-Kanzlerin seit langer Zeit wieder über hohe Beliebtheitswerte verfügt.
Zur Krise der Demokratie und der westlichen Wohlstandsgesellschaft Wenn es nach »1989«, nach dem Mauerfall und Zusammenbruch des Sowjetsozialismus, vollkommen klar schien, dass einzig das westliche Ordnungsmodell politischer Gemeinschaftlichkeit – Marktwirtschaft auf der Basis liberaler Grundrechte im Rahmen einer sozialstaatlichen Demokratie – dauerhaft realitätstauglich und vernünftigerweise bejahbar sei, so ist das dreißig Jahre später weniger evident. Es wurde sichtbar, dass das Paradigma inhomogen ist – in postsowjetischen Staaten verloren vor allem die liberalen Elemente an Verbindlichkeit –, zugleich eröffnete der beispiellos rasche ökonomische Aufstieg der Volksrepublik China die Aussicht auf einen alternativen Ansatz, der all denen einleuchten will, die die liberale Demokratie ohnehin für einen atlantisch-europäischen Sonderweg halten. Auf die Diskussion dieser Aspekte will ich verzichten; aber nicht ohne festzuhalten, dass die allgemeine Idee der liberalen Demokratie noch immer das nicht-utopisch beste politische Organisationsmodell ist. Von einer Krise der (liberalen) Demokratie zu reden, heißt daher nicht, sie als normatives Modell und Projekt verabschieden. Es besagt bloß, dass die einst verbreitete Zuversicht für ihr Gelingen vom Wissen
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um ihre Nicht-Selbstverständlichkeit und permanente Fragilität abgelöst wurde. Es sind vor allem zwei Gründe, die zur Revision allzu optimistischer Demokratieprognosen nötigen. Und beide haben mit Erfolgen der westlich-liberalen Demokratie zu tun, deren Nutznießer zu sein wir in unserem Teil der Welt seit vielen Jahrzehnten das Glück haben: a) Die Möglichkeiten des technisch-industriellen Wissenswachstums und die damit verbundene Verflechtung wirtschaftlicher Produktions- und Handelsbeziehungen, die Prozesse der Globalisierung, erzeugen länderübergreifende, weltweite soziale Zusammenhänge, die von der Hoheitsmacht der meisten demokratischen Einzelstaaten nicht mehr isoliert zu bewältigen und zu regulieren sind. Die Folge ist eine postnationale Problemlage, die der nationalstaatlichen Demokratie die Bestimmungsmacht über zentrale Politiken entzieht. Was sich auf verteidigungspoltisch-militärischem Gebiet schon nach »45« zeigte – die Notwendigkeit supranationaler Organisationseinheiten – ist spätestens seit »89« auch auf zivilem Gebiet unübersehbar geworden. Elementare Bedingungen gedeihlichen Existierens und Kooperierens sind nur noch gemeinsam, im transnationalen Staatenverbund zu sichern. Diesen Fakten muss auch eine souveräne Demokratie aus Eigeninteresse Rechnung tragen; am besten so, dass sie ihre »Abhängigkeiten erkennt und durch vertraglich geregelte Zusammenarbeit [beschließt], wer die Regel des zwischenstaatlichen Verhältnisses festlegt, wer Einfluss nimmt oder zumindest konsultiert wird.« (Gerber 2021: 18)5 Was verlangt wird, ist nichts anderes als die Anpassung des demokratischen Nationalstaates an die veränderten Voraussetzungen seiner Lebensfähigkeit. Gleichwohl sorgt die Einbindung in transnationale Regulierungen bei Teilen der Bürgerschaft für Verunsicherung und Frustrationen. Man spürt, dass man auf
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Jean Daniel Gerber war ehemaliger Schweizer Chefdiplomat.
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Schienen unterwegs ist, deren Führung nicht immer dem nationalen Eigensinn entspricht. Obwohl politisch wirkungsmächtig, kann der populistisch-nationalistische Verdruss über die partielle Entmächtigung volkssouveräner Letztentscheidung jeder nüchternen Betrachtung jedoch nur als realitätsfern erscheinen. Anders verhält es sich mit jenen Kollektivgefühlen und Zukunftsängsten, die die globalisierte superindustrielle Zivilisation insgesamt überfluten, diese Ahnungen und Einsichten, dass im Großen und Ganzen tatsächlich etwas schiefläuft. »Klimawandel« ist das scheinbar harmlose Stichwort für die bedrohlichen Entwicklungen, die mit Ursachen zusammenhängen, die uns Angehörigen der ökologisch übermäßig ressourcenverzehrenden Wohlstandswelt ein bequemes Leben ermöglichen. Mit ihm erreicht alle, die wir in ökonomisch gut gepolsterten Demokratien leben, eine Angst einflößende, katastrophische Drift, die direkt aus dem marktkapitalistisch befeuerten Konsumwachstum der Gegenwart entsteht. b) Die zweite, das demokratisch befestigte Selbstbewusstsein verstörende Tendenz hat ebenfalls mit solchem zu tun, was unter anderem Blickwinkel als Erfolg der westlichen Demokratie (insbesondere Europas) zu verbuchen wäre: die Tatsache eines 75-jährigen Friedens in einem Erdteil, der während Jahrhunderten Ort blutigster Konflikte war. Dieser inzwischen selbstverständlich erscheinende »ewige Frieden« ist darum so bedeutend für die herrschende Malaise und Unzufriedenheit, weil in und dank ihm jenes ältere Generationen prägende kollektive Bewusstsein allmählich verblasst, das die Menschen daran erinnert, was auf alle Fälle zu vermeiden ist: offene Gewalt, Hass und die feindselige Verachtung der anderen Seite. Die Erfahrung, dass auf Gewalt als der letzten Richterin im Konflikt von Interessen, Weltanschauungen und materiellen Gütern zu setzen, die schlechteste aller Lösungen ist, bildete das implizite Hintergrundwissen, in dem sich die Legitimität demokratischer Politiken verankern konnte. Es sorgte für Kompromissbereitschaften und die Suche nach Verständigung. Das Streben nach Vermittlung
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und Dämpfung aufkommender Feindschaftsgefühle war lange Zeit ein zentraler Teil der öffentlichen Kultur und des geltenden Basiskonsens’. Der seit der Jahrhundertwende unleugbare Verlust solcher Primärorientierungen ist, sozialpsychologisch messbar, mitverantwortlich für die Zunahme gesellschaftlicher Spaltungen und die sich verbreitende Stimmung böser Gehässigkeit, die die Sensibilität für den Bestand einer gemeinschaftlichen liberaldemokratischen Grundordnung zerstören kann.
Der zweifache Sinn von »Volkssouveränität« Zweck dieser Zeitdiagnose ist der Versuch, die Demokratiemalaise tiefer zu begründen als nur mit dem Verweis auf die Herrschaft selbstsüchtiger Eliten. Sie soll aber auch an das erinnern, was heute die direkte Demokratie der Schweiz beunruhigt: das Problem der nationalen Souveränität. Während bisher das Thema der demokratischen Repräsentation die Leithinsicht lieferte, geht es im nächsten Kapitel um die Idee der Volkssouveränität. Sie bildet den Ankerpunkt der gegenwärtigen Diskussion um die Verteidigung der schweizerischen Demokratie und deren singuläre, von durchsetzungsstarken Volksrechten bestimmte Staatsstruktur. Es ist ein grundlegender, obgleich in der öffentlichen Diskussion häufig gemachter Fehler, die Idee der Volkssouveränität unmittelbar auf das Institutionssystem der direkten Demokratie zu beziehen. Denn die Kategorie der Volkssouveränität hat ihren primären Ort im Definitionszusammenhang der Staats-, nicht der Regierungsform. Sie besagt, dass der Demos bzw. die Mehrheit aller Staatsangehörigen die Verfassung bestimmt. Wenn nun aber von Volkssouveränität in der direkten Demokratie mit Verweis auf Institutionen wie Initiativ- und Referendumsrecht die Rede ist, tritt der Demos – das Volk – immer als Mitregent auf; als Akteur, der in die einfache Gesetzgebung, in den Abschluss internationaler Verträge, ja sogar in eigentliche Regierungsbeschlüsse
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eingreifen kann.6 »Volkssouveränität« generell und »Volkssouveränität« im schweizerischen Kontext bedeuten nicht dasselbe. Das ist zu beachten, wenn man die identitätspolitischen und kollektivpsychologischen Dynamiken verstehen will, die sich im Fall der Schweiz unmittelbar mit dem Thema »Volkssouveränität« verbinden.
Volkssouveränität in der postnationalen Konstellation Das Paradox der Souveränität Der Begriff der Souveränität bezeichnet das Recht der höchsten Staatsgewalt, die letztverbindlichen Entscheidungen zu treffen, die der Staatsmacht überhaupt zustehen. Jean Bodin, der erste Theoretiker der neuzeitlichen Souveränitätslehre, konstatiert: »Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende, absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen.« (Bodin 1981: 250) Doch schon für Bodin ist die »absolute« Staatsgewalt eine relative Sache: »Den Gesetzen Gottes sowie denjenigen der Natur« sind nämlich »alle Fürsten der Erde unterworfen und es steht nicht in ihrer Macht, sich über sie hinwegzusetzen, ohne sich eines Majestätsverbrechens an Gott schuldig zu machen.« (ebd.: 213) Und sogar von Menschen gemachte Verbindlichkeiten dürfen unter gewissen Voraussetzungen nicht einfach gekappt werden. Bodins Lehre lässt sich mit drei Feststellungen verbinden, die noch heute gültig sind: Erstens gehört zur Idee der Souveränität das Paradox, einerseits die Forderung nach der höchsten und letzten Regelungsmacht zu formulieren, andererseits an diesem Postulat immer wieder scheitern zu müssen; und zwar sowohl in faktischer wie in normativer Hinsicht. 6
Man sollte übrigens nie vergessen, dass die direktdemokratischen Elemente (Referendumsrecht und das Recht zur Verfassungsänderung durch eine Volksmehrheit, plus der Zustimmung der Mehrheit der Kantone) erst in der Totalrevision der BV von 1874 eingeführt wurden. Die Verfassung von 1848 ist zwar föderalistisch, aber streng parlamentarisch-repräsentativ (vgl. dazu Kölz 1992; insb. 5. Kap.: Grundlagen der direkten Demokratie, S. 31 u. 37).
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Zweitens gehört zum Begriff der Souveränität sowohl das Moment faktischer Überlegenheit und realer Übermacht (der Souverän muss in der Lage sein, sich durchzusetzen, oder er ist nicht souverän), als auch das Moment der obersten, normativen Rechtssetzungskompetenz. Gesetz und Recht sollen das sein, was er als solches bestimmt. Doch auf beiden Feldern ist das ein zu großer Anspruch. Denn drittens gehört zum Anspruch der Souveränität nicht nur die unausweichliche Erfahrung, dass seine normative Rechtsgewalt durch die Macht des Faktischen, durch innenpolitische Gegenkräfte oder außenpolitische Interessenkonstellationen durchkreuzt wird, sondern gleichermaßen die Konfrontation mit normativen Vorgaben und Schranken, die vom jeweiligen Träger der Souveränität nicht mehr rechtens aufzuheben sind, sondern von ihm höchsten verletzt werden können. In der Gegenwart sind das die Normen des zwingenden Völkerrechts, die auch den Nationalstaat binden. Wie selbstwidersprüchlich die Idee des Souveräns und der Souveränität auch sein mag, sie bleibt ein zentrales Merkmal moderner Staatlichkeit. An der Zunahme derjenigen Zumutungen, die man heute als souveräner Staat zu akzeptieren hat, lässt sich aber auch erkennen, wie sehr sich die Idee des Einzelstaates in den letzten Jahrzehnten veränderte. Nicht ohne Grund wird dieser Transformationsprozess, der sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch beschleunigte, als Prozess der Entsouveränisierung des Staates beschrieben. Die Entsouveränisierung ergibt sich aus der fortschreitenden faktischen Entmachtung des Einzelstaates, die im europäischen Rahmen seit 1945 besonders gut zu beobachten ist: »Ob wir an die innere oder äußere Sicherheit denken, an die Daseinsvorsorge, das volkswirtschaftliche Wohlergehen und den Schutz der Umwelt – ein Großteil der Aufgaben, die die Rechts- und Staatsform auf den Plan rufen, überschreitet heute staatliche Grenzen. Zusätzlich [gewinnen] auf der internationalen Bühne neue Akteure Macht und Einfluss: international tätige Unternehmen, inter- und transnationale Institutionen und regierungsunabhängige Organisation.
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[Diese] Neuerungen entfalten eine Dimension, die die Politik und ihre Theorie entscheidend verändert hat.« (Höffe 1999: 13f.)
Souveränitätstransfer, nicht Souveränitätsverlust Staatliche Selbstbehauptung ist in der soeben skizzierten Welt nur zusammen mit anderen politischen Einheiten zu verwirklichen, die durch gemeinsame Interessen vereint sind, deren Verfolgung sie gemeinsam vertraglich regeln. Was dadurch geschieht, ist als partieller Souveränitätstransfer der einzelstaatlichen Selbstbestimmungsmacht an die Vertragsgemeinschaft zu beschreiben, aber gerade nicht als einseitiger Souveränitätsverlust. Im Blick auf die Schweiz wird das vom Staatsrechtler René Rhinow (2021: 17) so beschrieben: »Souveränität bedeutet längst nicht mehr absolute Unabhängigkeit, das wäre ohnehin illusorisch. Denn die Schweiz ist auf der Welt durch zahlreiche Staatsverträge rechtlich eingebunden und auch faktisch von Entwicklungen im Ausland abhängig. Wenn dem Begriff der Souveränität noch ein Sinn zukommen soll, dann im abschliessenden Recht der Schweiz, über ihr Schicksal in demokratischen Selbstbestimmungen entscheiden zu können. Aber genau dieses Recht schliesst auch selbst gewählte Bindungen mit ein. Jedes Abkommens enthält Rechte und Pflichten für beide Vertragsparteien. Und jede Kompetenzübertragung mindert in einem kleineren oder grösseren Umfang die künftige freie Gestaltung durch die Vertragspartner. Dies gilt auch für die Einräumung von richterlichen Befugnissen an internationale Instanzen, was im Übrigen alles andere als ein Novum in unseren internationalen Beziehungen darstellt. Dadurch wird die Souveränität keineswegs in Frage gestellt. Es ist eine simple politische Beurteilung, ob die Kompetenzübertragungen in einem konkreten Vertrag die Vorteile, die man sich vom Vertrag als Ganzem erhofft, rechtfertigt oder nicht.« Das ist einleuchtend. Doch warum ist es so schwierig, diesen Gedanken selbstverständlich werden zu lassen? Die Frage führt zurück zu den all-
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gemeinen Voraussetzungen jeder demokratischen Ordnung und – von da aus – zu den speziellen Bedingungen, die mit der Möglichkeit der (halb-)direkten Demokratie der Schweiz verbunden sind. Basis jeder gelingenden Demokratie und volkssouveränen Staatlichkeit ist die empirisch fassbare Gegebenheit einer kollektivpsychologischen Anforderung: das Faktum eines die (Mehrheit der) Bürgerschaft umfassenden Wir-Bewusstseins und -gefühls. »Wir, das Volk« ist nie nur verfassungsrechtlich-institutionell als die Einheit einer autonomen Staatsbürgergemeinschaft zu begreifen, sondern ebenso als die durch Tradition, Bildung, Symbole und durch die mit diesen verknüpften Emotionen erfahrene Zusammengehörigkeit des politischen Kollektivs. Die buchstäblich grundlegende Funktion dieses, in sozialpsychologischen Kategorien näher definierbaren Einheitsbewusstseins für den Bestand demokratischer Institutionen braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, wenn man sich klar macht, dass – realgeschichtlich betrachtet – sein Name »Nation« heißt: »Wenn man auf die vergangenen zwei Jahrhunderte schaut, muss man sagen, dass es neben der Idee der ›Nation‹ keine andere Idee gegeben hat, die Menschen wirkungsmächtig zu einem Kollektiv zusammenzufassen fähig gewesen ist, so dass es dauernd handlungsfähig zu sein vermochte. Das hat nur die Nation geschafft.« (Langewiesche 2007: 64) Die Tragweite dieser Feststellung ist kaum zu überschätzen. Hält man sich den Konnex zwischen der Möglichkeit von Demokratie und der in historischer Perspektive als fundamental für ihre Wirklichkeit erkannten Nation vor Augen, wird die erstrangige Bedeutung der Beziehung zwischen rechtlich-institutioneller und sozialpsychologischer Dimension offensichtlich. Die Stärke dieser Beziehung ist elementar ja nicht nur für den Bestand von Demokratien; jede als legitim akzeptiere Ordnung basiert auf der Annahme, dass diese über den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung und damit über die souveräne Berechtigung verfügt, die fälligen Probleme zu lösen. Die »Nation« ist die geschichtlich realisierte Antwort
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auf das Erfordernis, zu Gunsten demokratischer Verfassungen empirisches Wir-Bewusstsein mit der Zustimmung zur Staatsmacht zu koppeln. Wenn aber der Glaube an die Leistungskraft des eigenen Staates schwindet, dann gerät auch die Geltung gegebener demokratischer Institutionen in Gefahr. Als Ersatz schwärmt man dann von einem neuen, wahrhaft demokratischen, weil »völkischen« Staat; oder man zieht sich ins Schneckenhaus der Reaktion zurück und verweigert die Auseinandersetzung mit den Tatsachen einer gewandelten Welt. Alle Demokratien Europas befinden sich in dieser Lage: Was sie einst ermöglicht hat, die Verankerung im geschichtlich gewachsenen Nationalgefühl, wird mit dem Ungenügen ihrer staatlichen Exekutivkräfte konfrontiert; ein Zustand, der beides erodieren lässt: das Zutrauen in den (Einzel-)Staat und den Glauben an seine wahrhaft demokratische Verfassung.
Erstes Fazit Die historisch realisierte Idee der Demokratie stützt sich auf die Effizienz des zwischen »Wir« und »Ihr« unterscheidenden Nationalstaates, welcher seinem eigenen Existenzsinn nach dem Anspruch auf durchsetzungsfähige Rechtsmacht, dem Prinzip der Souveränität, unterstellt ist. Doch eben diese Macht entgleitet ihm und der in seinem Rahmen bestehenden Demokratie mehr und mehr. Das ist die Konstellation, die erklärt, weshalb die Zustimmung zu sogenannten »Souveränitätstranfers« so notwendig wie umstritten ist. Deren Unentbehrlichkeit zu akzeptieren und nationalstaatliche Defizite durch Souveränitätsverschiebungen zu kompensieren, ist auch dann nicht einfach, wenn man zugibt, dass dies nicht geschieht, um den Einzelstaat zu schädigen, sondern im Gegenteil um ihm die Funktionsfähigkeit zu sichern. Die partikularstaatliche Demokratie ist ja trotz allem und nach wie vor der Garant jenes kollektiven Identitätsgefühls, das für eine Demokratie, die den Namen verdient, unabdingbar ist. Damit »Volksherrschaft« das ist, was zu sein sie prätendiert, bleibt sie immer noch auf dieses emotionale Entgegenkommen ihrer Angehörigen angewiesen, das sie bisher lediglich in nationalstaatlicher verfass-
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ter Gestalt zu erlangen vermochte. Fraglich ist freilich, wie sich dieses Erfordernis mit den Zwängen traditioneller Nationalgefühle vereinen lässt. Das Thema der Volkssouveränität ist daher nichts Abstraktes, das nur Rechtsphilosophen interessiert. Es beschäftigt die Menschen eines Kleinstaats genauso wie die Angehörigen des europäischen Großstaates vom Format Deutschlands. Das Problem einer zustimmungsfähigen policy auf dem Gebiet notwendiger Souveränitätstranfers ist überall ein umstrittenes Traktandum; nicht nur in der »Willensnation Schweiz«, hier aber ganz besonders.7 7
Der Begriff der »Willensnation« ist kein Etikett für einen historisch objektiven Befund; keine Kurzformel, die die Entwicklung der Eidgenossenschaft von ihren Anfängen im 14. Jahrhundert bis zum Beginn des Bundesstaates in der Mitte des 19. Jahrhunderts bündig zusammenfasst. Er ist Ausdruck jener besonderen Nationalideologie, die erst nach 1848 das schweizerische Selbstverständnis prägen konnte und auch tatsächlich prägte. Maßgeblich für die Durchsetzung dieser Idee war mit zahlreichen Schriften der Staats- und Völkerrechtler Carl Hilty (1833-1909), der beispielsweise 1875 die »Überlegenheit der Schweizer Nationalität« – im Gegensatz zur gemeineuropäischen Nationenbildung – folgendermaßen begründet: »Was die Schweiz zusammenhält gegenüber und inmitten dieser großen Reiche ihrer nächsten Blutsverwandten und Stammesgenossen, ist ein idealer Zug, das Bewusstsein, einen in vielen Hinsichten besseren Staat zu bilden, eine Nationalität zu sein, die hoch über der bloßen Bluts- und Sprachenverwandtschaft steht.« (Hilty 1875: 28f.) Für André Holenstein, Professor für ältere Schweizer Geschichte an der Universität Bern (dem ich den Hinweis auf das obige Zitat verdanke), ist diese Vorstellung die Konsequenz einer Argumentation, die – typisch für die Nationentheorien des 19. Jahrhunderts – die realen Vorgänge, die die Geschichte der Schweiz vor 1848 bestimmten, mehr oder weniger ins Gegenteil verkehrt. Denn für den Historiker ist klar, dass »die Schweiz (viel) weniger eine Willensnation war, als sie es von sich gerne behauptet, sondern dass sie (im Grunde) wider Willen eine Nation wurde.« (Holenstein 2018: 1) Holenstein bestreitet allerdings nicht die These, dass nach 1848 und 1874 (Einführung des Referendumsrechts in die Verfassung) die »Nationalidee der Willensnation« zu einem »Pfeiler im Konzept einer genuinen schweizerischen Nationalität gemacht wurde.« (ebd.: 6) Wichtig für die Begriffsgeschichte der »Willensnation« sind außerdem die Formulierungen des französischen Philosophen Ernest Renan, die explizit auf den Willen (la volonté) abheben: »La Suisse, si bien faite, puisqu’elle a été faite par l‹ assentiment de ses différentes
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Willensnation Demokratie, Volksherrschaft, Volkssouveränität, diese drei Begriffe sind eng ineinander verflochten, aber nicht identisch. Sie haben ihren Schwerpunkt in unterschiedlichen semantischen Kontexten, die es zu beachten gilt, wenn es um genaue Argumente geht. »Volkssouveränität« bedeutet im Zusammenhang der repräsentativen Demokratie nicht genau das gleiche wie im Rahmen der (halb-)direkten Demokratie der Schweiz. Für diese ist »Volkssouveränität« nicht bloß Index für die staatsbürgergemeinschaftliche Verfassungshoheit, sondern ebenso Anker des Bewusstseins, dass die Bürger und Bürgerinnen in Plebisziten über Sachgeschäfte auf parlamentarischer und manchmal sogar auf Regierungsebene entscheiden können. »Volkssouveränität« ist in der Demokratie der Schweiz das Codewort für Bürgerbeteiligung an Legislation und Exekutive, für Partizipationschancen, die in jeder anderen Art von Volksherrschaft undenkbar sind. Die Bürger und Bürgerinnen des Landes verstehen sich deshalb nicht als Klienten des Staates und schon gar nicht als dessen Untertanen, sondern als seine selbstbewussten Herrn und Herrinnen. So ist es nicht verwunderlich, dass hier die Akzeptanz von Souveränitätseinbußen und deren Kompensation durch Verträge auf suprastaatlicher Ebene noch um vieles schwieriger zu erreichen ist als in Nationalstaaten ohne direktdemokratische Rechte. Für die meisten Schweizer und Schweizerinnen selbstverständlich und schwer begreiflich für alle, die mit der hiesigen Mentalität nicht vertraut sind, ist die unmittelbare Verknüpfung des identitätsbildenden Nationalgefühls mit den Elementen der direktdemokratischen Verfassung. Die Strukturen der eidgenössischen Form, Volkssouveränität rechtlich zu realisieren, sind hoch besetze Werte. Die Identifikation mit
parties, compte trois ou quatre langues. Il y dans l’homme quelque chose de supérieur à la langue : c’est la volonté. La volonté de la Suisse d’etre unie, malgré la varieté des ces idiomes, est un fait plus important qu’un similitude souvent obtenue par des vexations.« (Renan 1887: 298f.)
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ihnen gehört zum Kern des Wir-Gefühls, zum legitimitätsstiftenden Basiskonsens, der erst das Volk zur Einheit einer mehrsprachigen, alltagskulturell stark diversifizierten politischen Nation integriert. Der Begriff der Schweiz als einer »Willensnation« bringt diese eigene Verbindung zwischen Wir-Identität und spezieller Verfassungsform auf den Punkt. Der Begriff markiert, dass das Land seine Einheit nicht irgendeiner vorausgesetzten ethnischen oder sprachlich-kulturellen Homogenität verdankt, sondern dem ausdrücklichen, freien und bewussten Wollen der Bürgerschaft. Gewiss ist das zu behaupten – auch – eine Übertreibung. Allzu stark verdrängt es die historisch-strukturellen Kräfte und unpersönlichen Traditionsmächte, die im Fall der Schweiz die explizite Bundesstaatsgründung getragen und verursacht haben. Dennoch trifft der Begriff das Wesentliche: Die bundestaatliche Schweiz von 1848 war das Produkt einer intentionalen Konstruktion; zunächst von Eliten, bald aber getragen von der ganzen Bevölkerung zwischen Genfer- und Bodensee, von Basel bis Lugano. Als solche Konstruktion konnte sie Bestand nur haben, weil und indem sie zwischen den Menschen – trotz deren Bindungen an sehr ungleiche Landesteile, soziale Gruppen, Sprach- und Konfessionszugehörigkeiten – ein hohes Maß an gegenseitiger Loyalität und eine starke Selbstbehauptungsenergie zu erzeugen und zu bewahren vermochte. Der Begriff der »Willensnation« bringt zum Ausdruck, dass diese Faktoren nicht existieren, ohne die partizipative Weise demokratischer Zusammengehörigkeit, die sich die allmählich zur Einheit gewordene Eidgenossenschaft im neuen, Schritt für Schritt um Volksrechte erweiterten Bundesstaat (vgl. Kölz 1992: 31 u. 37) erworben hat. Der kollektive Wille zur autonomen Existenz im Medium einer weit gehende persönliche Mitwirkung gestattenden Rechtsordnung, die fundamentale Wir-Identität des Landes und dessen direktdemokratische Verfahren sind daher die zwei Seiten der einen Medaille: Das gelingende Wir ist der zentrale identitätsstiftende Wert, der die Verfahren begründet, die es selbst wieder bestätigen und in der Praxis erneuern. Darum erscheint jede Verkürzung dieser Verfahren (etwa mittels Beschneidung direktdemokratischer Rechte durch transnationale Oberinstan-
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zen) sehr schnell als unmittelbare Identitätsbedrohung, als Zerstörung der eigentlichen Substanz des Landes.
Zweites Fazit Wenn die Integration der schweizerischen Diversitäten in der Erfahrung erfolgreicher Selbstbehauptung gelingt, dann verwandeln sich die gefährlich zerbrechlichen Realisierungsbedingungen der direkten Demokratie in deren Stärken: Das, was unter weniger günstigen Umständen, zur fatalen Blockademacht werden könnte, z.B. die Vetodrohung des Referendumsrechts (vgl. Neidhard 1970), befördert durch seinen permanenten Zwang zur Zusammenarbeit sowohl die Kenntnisnahme der jeweils Anderen in deren Alterität als auch die geduldige Entwicklung breit abgestützter Entscheidungen. Die prinzipielle Bereitschaft zur explizit politischen, durch die Verfassung institutionell auf Dauer gestellten Deliberation und Verständigung bildet also den psychologischen Grund der nationalen Einheit. Das macht ihn stark, so lange das »Modell Schweiz« selbstverständlich funktioniert. Umgekehrt muss alles, was diesen Zusammenhang und dessen Möglichkeitsbedingungen in Frage stellt (oder in Frage zu stellen scheint), sehr schnell als Angriff auf das kollektive Selbst und auch auf die je individuelle Identität wahrgenommen werden – mindestens bei denen, die das Schweizer-Sein als einen wesentlichen Aspekt ihrer Persönlichkeit betrachten. Womit wir an die eigentlich nervöse Stelle der heutigen Willensnation geraten sind; an den Zusammenstoß der direktdemokratischen Selbstgestaltung samt ihrer außenpolitischen Autonomie mit den zivilisatorischen Tendenzen, die die Macht des Nationalstaates durchkreuzen, übersteigen, manchmal brechen. Seit etwa dreißig Jahren ist das Land mit Kräften und Vorgängen beschäftigt, die auf diesen Punkt zielen. Die trans- und postnationale Konstellation, die bekannten zivilisationstypischen Vernetzungsprozesse der Handlungsbedingungen und Risikofolgen, welche einzel- oder gar kleinstaatlich nicht mehr zu bearbeiten sind, sie alle nötigen zu institutionellen Arrangements und Politikformen, die die Angehörigen der direktdemokratischen, auf ihre Ei-
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genständigkeit bedachten Willensnation begreiflicherweise beunruhigen, ja erschrecken. Denn die Willensnation setzt, um ihr gewachsenes Selbstverständnis zu bewahren, ja nicht bloß ein hohes Maß an Engagement, sondern auch die feste Überzeugung der Bürger und Bürgerinnen voraus, dass im »eigenen Haus« das »Volk« das letzte Wort hat und behält; Erwartungen, die unplausibel werden, wenn sogar die staatlichen Institutionen und deren Repräsentanten die tragenden Ideen, wie die Eigenständigkeit und die Souveränität des Volkes zu entmächtigen scheinen.8 Fazit: Das Dilemma zwischen nationaler Selbstbestimmung und supranationaler Problemverarbeitung ist kein Problem, das bloß die Schweiz betrifft, aber es ist singulär in seiner Wirkung auf ihre politische Struktur und deren Eigensinn.
Prognose Die Schweiz ist zwar das Musterland der direkten Demokratie, aber nur eine Variante aus der Vielzahl von Möglichkeiten, diese politische Idee zu verwirklichen. Darum sollte man zwischen ihrer spezifisch schweizerischen Realisierung und der generellen Frage unterscheiden, ob die gezielte Einführung direktdemokratischer Elemente in parlamentarisch-repräsentative Demokratien nicht sehr wohl denkbar, vielleicht sogar wünschenswert sei. Sofern man das spezielle Zusammenspiel demokratischer Kräfte im politischen Raum der Willensnation als Sonderfall begreift, wird einem aber auch rasch klar, weshalb das Modell Schweiz nicht exportierbar ist. Zu offensichtlich basiert es auf kontingenten Entstehungszusammenhängen; auf einer Gemengelage von Ursachen, die sich nicht reproduzieren lässt.
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So sprachen schon 1992 die Gegner des EWR-Vertrags von diesem als einem »Kolonialvertrag«, der die Schweiz den Bedingungen einer imperialistischen Kolonialmacht unterwirft.
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Im Blick auf die Erfolge der Schweiz pauschal für »Direkte Demokratie« zu werben, empfiehlt sich heute umso weniger, als dass dieses System mehr und mehr in Turbulenzen gerät. Ohne schmerzhafte Korrekturen seiner volkssouveränen Eigenständigkeit und der dazu komplementären Wir-Identität wird das Land diese Schwierigkeit nicht gut bewältigen. Das ist im jetzigen Zeitpunkt zwar noch Prognose und nicht schon objektiv belegbare Feststellung, doch die Lage, in der sich die Schweiz nun befindet, lässt einen dritten Weg kaum offen. Entweder beugt sich der schweizerische Souverän der Einsicht, dass die supranationale EU keine ephemere Erscheinung ist, sondern Ausdruck einer fundamentalen zivilisatorischen Tendenz und ist darum bereit, vertraglich weitgehende Beschränkungen seiner Rechte in Kauf zu nehmen, oder er muss nachhaltige Einbußen hinnehmen – im ökonomischen Verkehr, auf der Ebene wissenschaftlicher Kommunikation, beim Schutz seiner Interessen auf globaler Stufe etc. Vor dieser Alternative steht die schweizerische Demokratie seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, doch deren Unausweichlichkeit ist nun offensichtlich geworden.
Literatur Bodin, Jean (1981): Sechs Bücher über den Staat, Bd. I., hg. v. MayerTasch, Peter Cornelius, München. Gerber, Jean Daniel (2021): »Die falsch verstandene Souveränität«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15.02.2021, S. 18. Hilty, Carl (1875): Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft, Bern. Höffe, Otfried (1999): Demokratie in Zeiten der Globalisierung, München. Holenstein, André (2018): »Die Schweiz – eine Willensnation?« Vortrag vor der österreichisch-schweizerischen Kulturgesellschaft vom 22.02.2018, Zürich. Kappeler, Beat (2020a): Der Superstaat. Von Bürokratie und Parteizentralen und wie man den schlanken Staat zurückgewinnt, Zürich.
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Kappeler, Beat (2020b): Perspektiven. Informationsbulletin des freiheitlichen Think Tanks der Schweiz Nr. 3, S. 8. Kohler, Georg (2017): »Der implizite Sokrates. Das Utopische und das Paradigma der Politeia«, in: Abbt, Christine/Niazi, Nahyan (Hg.), Der Vieltuer und die Demokratie. Politische und philosophische Aspekte von Allotrio- und Polypragmosyne, Basel, S. 57-81. Kölz, Alfred (1992): Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848, Bern. Langewiesche, Dieter (2007): »Die Nation schafft Freiheit« (SpiegelGespräch), in: Der Spiegel, Nr. 4 vom 22.01.2007. Lilla, Mark (2014): »Das leere Credo des 20. Jahrhunderts«, in: Wenzel, Uwe Justus (Hg.), Volksherrschaft – Wunsch und Wirklichkeit, Zürich, S. 24-29. Manow, Philip (2019): »Demokratisierung der Demokratie«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 73. Jg., Heft 847, S. 515. Neidhard, Leonhard (1970): Plebiszit und pluralitäre Demokratie, Bern. Renan, Ernest (1887): Discours et Conférences, Paris. Rhinow, René (2021): »Souveränität ist wichtig, aber wozu?«, in: NZZ am Sonntag vom 14.02.2021, S. 17. Schmidt, Manfred G. (2006): Demokratietheorien. Eine Einführung, Opladen.
Autoren
Hacke, Jens, (geb. 1973), vertritt derzeit den Lehrbereich für Vergleichende Politische Kulturforschung an der Universität der Bundeswehr München. Er arbeitete als Vertretungsprofessor für politische Theorie und Ideengeschichte in Halle (2016-2018) und Greifswald (20182019) und ist Privatdozent an der Humboldt Universität zu Berlin. Themengebiete: Demokratietheorie, Liberalismus- und Konservatismusforschung, Politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Kohler, Georg, (geb. 1945), Prof. em., Dr. phil., Lic.iur., Ordinarius für Philosophie, mit besonderer Berücksichtigung der Politischen Philosophie, an der Universität Zürich von 1994-2010. Müller, Jan-Werner, (geb. 1970), Roger Williams Straus Professor of Social Sciences an der Universität Princeton. Themenschwerpunkte: Politische Theorie und moderne Ideengeschichte. Münkler, Herfried, (geb. 1951), von 1992 bis 2018 Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Theorie der Politik, an der HumboldtUniversität zu Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie, Politische Kultur sowie Theorie und Geschichte des Krieges.
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
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Gabriele Winker
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