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German Pages [258] Year 2023
Herausforderung Mensch
Jahrbuch der Religionspädagogik
Herausgegeben von Stefan Altmeyer / Bernhard Grümme / Helga Kohler-Spiegel / Elisabeth Naurath / Bernd Schröder / Friedrich Schweitzer
Herausforderung Mensch Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) Band 39 (2023) herausgegeben von Stefan Altmeyer, Bernhard Grümme, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer
Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © VTT Studio/shutterstock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70336-2
Inhalt
Schlaglichter Was heißt es für dich, in diesen Zeiten ein Mensch zu sein? (Texte von Schüler:innen – gesammelt in Lohne [Niedersachsen], Ochtrup, Rheine und Emsdetten [NRW]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Religionspädagogische Erschließungen Riskantes Unterfangen. Annäherungen an eine religionspädagogische Anthropologie in den gegenwärtigen Transformationsprozessen der Spätmoderne (Bernhard Grümme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der Mensch – ein Schlüsselthema des Religionsunterrichts? Ökumenisch-didaktische Grundlegungen und Konkretisierungen am Beispiel der Theosis-Vorstellung (Yauheniya Danilovich, Mirjam Schambeck sf und Henrik Simojoki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Interdisziplinäre Perspektiven Gottebenbildlichkeit im Kontext biblischer Anthropologie und ihre gegenwärtige Orientierungskraft (Andreas Wagner) . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Theologische Anthropologie im evangelisch-katholischen Gespräch (Bertram Stubenrauch und Martin Hailer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Anthropologie – strittig zwischen Christentum und Islam? (Muna Tatari und Christian Ströbele) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die Visionen des Transhumanismus – zwischen Technologisierung, Virtualisierung und Digitalisierung (Caroline Helmus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Freiheit und Determinismus – Anthropologie im Spiegel der Naturwissenschaften (Sven Walter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Glauben im Namen der Menschheit. Über die Bindung der Religion an die Humanität (Volker Gerhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Das Anthropozän als Bedingung von Erziehung und Bildung (Christoph Wulf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
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Inhalt
Didaktische Konkretionen Vom Nutzen anthropologischer Streitfragen für den Religionsunterricht – ein Plädoyer (Peter Kliemann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Inklusionstheoretische und religionsdidaktische Reflexionen zur Anthropologie (Ulrike Witten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Hetero und LGBTQIA+. Zur Geschlechtlichkeit des Menschen als Thema des RU (Helga Kohler-Spiegel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Künstliche Intelligenz als Thema im Religionsunterricht (Simon Kluge) . . . . 165 Mensch und Menschenbilder als Thema des jüdischen Religionsunterrichts (Mark Krasnov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Typisch westlich? Eine Auseinandersetzung mit Menschenbildern aus postkolonialer Sicht (Britta Konz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Der vulnerable Mensch – der überflüssige Mensch. Menschenbilder im Kontext von Berufsschule (Joachim Ruopp) . . . . . . . . . . 200 Anthropologie mit Kindern zum Thema machen? Gemeindepädagogische Impulse (Caroline Teschmer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Menschsein als Zuspruch und Anspruch – Anthropologie in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Eine kritische Analyse mit Blick auf die Sekundarstufe I (Gabriele Otten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Bilanz Herausforderung: Mensch – Anstöße für eine religionspädagogische Anthropologie und den Religionsunterricht im Anthropozän (Bernd Schröder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Schlaglichter
Was heißt es für dich, in diesen Zeiten ein Mensch zu sein? Texte von Schüler:innen – gesammelt in Lohne (Niedersachsen), Ochtrup, Rheine und Emsdetten (NRW)
Klassenstufe 5 »Ich finde es gerade schwer, ein Mensch zu sein, weil man vorgeschrieben bekommt, perfekt zu sein. Das kann aber niemand sein, weil jeder verschieden ist. Man soll sich nicht verändern, nur weil andere sagen, dass man ihnen nicht gefällt. Du bist du! Ich bin ich!« (Marie) »Ein Mensch zu sein, das heißt für mich, die Natur zu genießen. Aber leider zerstören wir die Natur, und das finde ich blöd!« (Linus)
Klassenstufe 9 »Wir sind gleichzeitig Zerstörer und Schöpfer. Denn wir erfinden so viele neue Dinge, die uns den Alltag erleichtern. Aber wir zerstören auch die Umwelt, weil wir nicht gut genug mit unserem Planeten umgehen.« (Ella) »Für mich bedeutet es, ein Mensch zu sein, leben zu können und das zu machen, was ich mag.« (Femke) »Ein Mensch zu sein, bedeutet, in schweren Zeiten nicht den Verstand zu verlieren, sondern nach einer Lösung zu suchen für sich selbst, aber auch für andere Menschen, denen es schlecht geht. Denn ein Mensch zu sein, bedeutet auch, dass man nicht alles allein schaffen kann. Ein Mensch zu sein, bedeutet, zu forschen und zu entdecken, an neues Wissen zu gelangen und dieses Wissen für einen guten Zweck zu nutzen, um beispielsweise unsere Umwelt zu schützen, denn auch diese schafft das nicht allein. Ein Mensch zu sein, bedeutet, mit der Zeit zu gehen und sich dieser anzupassen, sich ein Smartphone zuzulegen und rund um die Uhr erreichbar zu sein. Denn sonst ist man altmodisch oder komisch. Ein Mensch zu sein, bedeutet aber auch, zu lachen und zu weinen, zu siegen und zu scheitern, zu feiern und zu trauern, tapfer zu sein und ängstlich zu sein.« (Giulia)
Was heißt es für dich, in diesen Zeiten ein Mensch zu sein?
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»Ich fühle mich von der Gesellschaft, aber vor allem von den Alten ausgebeutet. Ich bin zum falschen Zeitpunkt geboren. Schon jetzt haben die Alten die Macht über die Politik (politische Entscheidungen) und die Industrie […]. Die interessieren unsere Wünsche nicht, da sie sich nicht um die Probleme kümmern müssen, die sie verursachen. Klimawandel passiert wegen denen und wir müssen es klären. Feindlichkeit gegenüber Minderheiten wurde wegen deren Wahlstimme von der Politik befeuert. Dass die Preise steigen (Immobilien), ist auch deren Schuld, weil sie das alles besitzen. Und die Jugend muss darunter leiden. Unsere Zeit ist scheiße!!!« (Leo)
Klassenstufe 11 »Ein Mensch zu sein, bedeutet, trotz der Krisen unserer Zeit zusammenzuhalten und für ein besseres Morgen zu kämpfen. Auch wenn die Situation oft aussichtslos erscheint, gibt die Menschlichkeit Grund zur Hoffnung.« (Thea) »Ein Mensch zu sein, bedeutet für mich, fehlbar zu sein, Fehler zu machen und Fehler zu akzeptieren.« (Ida) »In diesen Zeiten ein Mensch zu sein, bedeutet für mich, das ganze Leben darauf hinzuarbeiten, erfolgreich zu sein, um so aus der Masse zu treten und seinem Leben einen Sinn zu geben.« (Hanna) »In dieser Zeit ein Mensch zu sein, bedeutet für mich, zu lernen, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu hinterfragen und vor allem zu versuchen, dabei sich selbst zu finden, damit man in den negativen Ereignissen nicht untergeht. Es ist wichtig, sich einen Halt zu suchen, um weiterhin Freude zu spüren, gerade wenn man merkt, dass diese nicht selbstverständlich ist.« (Verena) »Was heißt es, in dieser Zeit ein Mensch zu sein? In diesen Zeiten – geprägt von Krieg, Corona, Klimakrise und das langanhaltende Problem der Digitalisierung. Was heißt es da überhaupt noch, ein Mensch zu sein? Wie ist man menschlich? Menschsein heißt, Emotionen und Gefühle zu haben. Aber sie regulieren können.
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Texte von Schüler:innen
Menschsein bedeutet, Wünsche und Instinkte zu haben. Aber sie regulieren können. Menschsein ist eine Fähigkeit, logisch zu denken, vernünftig zu sein und zu überlegen, was sinnvoll ist. Trotzdem ist die Welt oft grausam und der Mensch ekelig und kalt. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenrechte und Menschenwürde. Nett formulierte Ziele im GG [Grundgesetz]. Doch die Wahrheit bleibt: Der Mensch ist oft grausam, ekelig und kalt. Die Jugend ist von einer grausamen Welt geprägt. Von der einen Krise ziehen wir direkt in die nächste. Von Corona direkt rüber zum Krieg, wobei Klimakrise und Digitalisierung schon immer mit dabei waren. Schaltet man die Nachrichten ein, wird man von Negativem nur so überschüttet. So naiv, wie der Mensch ist, wartet er trotzdem auf den Moment, in dem es heißt: ›Jetzt ist alles gut.‹ Nach dem Gewitter die Sonne … Aber das kommt nicht mehr. Den Moment wird es eh nicht geben. Viele Leute denken immer noch so, weil wir halt Menschen sind und so ticken. Der Mensch denkt immer, bald beginnt die gute Zeit. Bald beginnt das Leben. Wenn ich das erreiche, dann gehts mir gut. Wenn ich den Job bekomme, dann gehts los. Wenn ich den Studienplatz, die Ausbildung bekomme, dann … Aber das geht ja immer so weiter. Der Moment trifft gar nicht ein. Menschsein heißt also, Sinnfragen zu stellen, Ziele zu haben und sein Leben auf diese Ziele auszurichten. Und dabei das Hier und Jetzt nicht zu vergessen. Menschsein heißt auch, mit anderen zusammen zu sein. In einer Gruppe Zusammengehörigkeit zu fühlen und dabei das Gemeinwohl vor das Individualwohl zu setzen. Das Wichtigste jedoch: Es geht immer nur darum, glücklich zu sein.« (Leona, 17 Jahre) »Als Mensch kann man mit gewissen Situationen bzw. Stress umgehen. Ich selber erlebe immer wieder in meinem Leben, dass es eine Grenze gibt. Irgendwann geht es einfach nicht mehr. Da kann man nicht mehr. Angesichts der vielen Krisen, wie Pandemien oder Krieg, welcher extreme Folgen hat, steigt dieser Stress. Mehr Belastungsfaktoren treffen auf einen. Man merkt das, sehr dolle sogar. Immer mehr Herausforderungen werden auch auf unsere Generation treffen. Unwetter, Wasserkriege, … Man kann nur spekulieren, was alles passieren kann. Man weiß aber, es wird nicht weniger. Und das ist ein Problem. Wenn wir jetzt schon zweifeln, ganz viele in unserer Generation auch am Menschsein, wo soll das hinführen?
Was heißt es für dich, in diesen Zeiten ein Mensch zu sein?
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Um es klar auszudrücken: Ich als Mensch leide. Klar probiert man, auch positive Dinge zu sehen, Hoffnung zu haben und unter entsprechenden Umständen glücklich zu sein. Man schätzt Dinge mehr und lebt Gefühle intensiver. Aber klar, im Vordergrund stehen die negativen Aspekte. Man kann nicht alles aushalten, trotzdem glaube ich, dass man sich in Zukunft anhand der menschlichen Anpassungsfähigkeit an die entsprechenden Situationen gewöhnen wird und mit der Stärke, die ein Mensch hat, die Dinge durchstehen kann. Ein Mensch ist stärker, als er denkt, wird immer gesagt. In Zukunft werden wir dies sehen. Ich glaube, wie gesagt, in Zukunft wird die ganze Situation nicht besser. Deswegen hoffe ich, dass man lernt, mit Stress, Druck, Angst vor falschen Entscheidungen etc. zu leben und positiv durchs Leben zu gehen. Um noch mal auf mich einzugehen: Ich merke tausend Auswirkungen von Dingen, die auf der Welt passieren, zu Hause, in der Schule oder unterwegs. Die Diskussion am Familientisch wegen der hohen Energie-, Gas- oder Treibstoffkosten. Die Thematisierung der Dinge in der Schule. Viel, viel mehr gibt es noch. Aber es ist, glaub ich, klar geworden, dass ich darunter leide, einstecken muss, mich zurückhalte und zusammenreiße, aber ich schütze trotzdem mein Leben. Mir geht es sehr gut, und es gibt zu viele Menschen auf der Welt, denen es so viel schlechter geht als mir. Deswegen finde ich, ich muss auch beschützen, was ich habe, und die Liebe, die ich von Personen in meinem Leben bekomme.« (weiblich, 17 Jahre)
Religionspädagogische Erschließungen
Riskantes Unterfangen. Annäherungen an eine religionspädagogische Anthropologie in den gegenwärtigen Transformationsprozessen der Spätmoderne Bernhard Grümme
Wenn es gefährlich wird, wenn Unsicherheiten entstehen, man keinen verlässlichen Boden unter den Füßen zu haben glaubt, wird die Anthropologie bemüht, die Reflexion (logos) auf den Menschen (anthropos). Begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass der Begriff Anthropologie erst seit dem 16. Jahrhundert gebräuchlich ist.1 Wo die selbstverständliche Vertrautheit des Menschen mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott zerstört wird, wo nach dem Zivilisationsbruch der Pest und dann in den Konfessionskriegen religiöse Plausibilitäten radikal zerbrechen, wo die Annahme eines einheitlichen Seinsdenkens nicht mehr geteilt wird, wo der Mensch sich auch persönlich radikal verunsichert sieht, dort kommt es erstmals zu eigenständigen anthropologischen Bemühungen. Demnach ist »die Dringlichkeit anthropologischer Reflexionen […] als Indikator einer gesellschaftlichen Krisensituation zu verstehen«2. Anthropologie ist eine Krisenwissenschaft, eine Wissensform der Krise, in der man alle Kraft aufbietet, um diese Krise durchaus im Streit mit anderen Anthropologien kritisch wie konstruktiv zu bearbeiten. Deshalb eignet der Anthropologie ein »polemischer«, ja ein emanzipatorischer, kritischer Charakter.3 Eindrucksvoll erkennbar wird dies beispielsweise in den gegenwärtigen Dynamiken der Bioethik. Wenn Jürgen Habermas hier gattungstheoretisch argumentiert, also vom Menschsein her, und sich dabei in aufsehenerregender Weise auf das biblische Erbe der Gottesbildlichkeit bezieht,4 dann steht dies in einer ganz auffälligen Parallelität theologischer Anthropologien, die ihrerseits bemüht sind, in den jeweils gegenwärtigen Auseinandersetzungen Kraft, Sinn und Orientierung aus dem jüdisch-christlichen Traditionen zu gewinnen und – wie jüngst – die »Verteidigung des Heiligen« durch eine »Anthropo1
Vgl. Odo Marquard, Art. Anthropologie, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1971, 362–374. 2 Jürgen Manemann, Ende des Menschen. Reflexionen im Zeitalter der Posttraditionalität, in: Orientierung 65 (2001), Bd. 1, 231–234, 242–246, hier 231. 3 Vgl. Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg i. Br. 1983, 48. 4 Vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zur liberalen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001.
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logie der digitalen Transformation« anzustreben.5 Ähnliche Dynamiken einer »Verteidigung des Menschen« finden sich in der Psychologie,6 aber auch in der Pädagogik7. Und die Religionspädagogik? Begriffen als Verbundwissenschaft, dürfte man wie in den gerade genannten Bezugswissenschaften auch bei ihr eine kontextsensible Selbstverortung und damit einen orientierenden, sinnstiftenden wie begründenden Rückgriff auf anthropologische Kategorien erwarten, der bis in die Ebenen der Didaktik und Methodik greifbar wird. Bereits ihr axiomatischer Rückgriff auf Kategorien wie Bildung, Lernen, Freiheit, Glaube, Religion, aber nicht minder die Didaktik eines rationale, affektive und praktische Momente zusammenfügenden Lernens bis in die vorauslaufenden Unterstellungen eines lernenden, bildsamen oder gar religiös ansprechbaren Subjekts unter Absetzung von poststrukturalistischen Bestreitungen von Wahrheitsansprüchen, von Normativität und einem emphatischen Subjektbegriff – all dies verdeutlicht nur andeutungsweise die elementaren anthropologischen Implikationen in religionspädagogischen Prozessen.8 Ist es an der Zeit, innezuhalten, sich anthropologisch zu orientieren und angesichts neuer, vielleicht krisenhaft zugespitzter Herausforderungen Perspektiven zu entwerfen? Immerhin legt auch das Jahrbuch der Religionspädagogik (JRP) nach fast 20 Jahren nun erneut einen Band zur Anthropologie vor.9 In dieser Situation scheint es wichtig, nach (1) einer begrifflichen Klärung (2) den religionspädagogischen Diskurs analytisch zu untersuchen, inwiefern dort anthro pologische Überlegungen relevant sind, und sodann (3) konstruktiv zu fragen, welche Gestalt und welchen Anspruch eine weiterführende Anthropologie aus der Logik der Religionspädagogik heraus haben könnte.
5 Johannes Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021, 3; grundlegend: Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Per spektive, Göttingen 1983; Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg i. Br. 2011; Erwin Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006. 6 Vgl. Thomas Fuchs, Verteidigung des Menschen. Grundfrage einer verkörperten Anthropologie, Berlin 2021. 7 Vgl. Jörg Zirfas, Pädagogische Anthropologie, Paderborn 2021. 8 Vgl. Bernhard Grümme, Subjekt und Subjektorientierung in der Religionspädagogik – Unterscheidungen und Perspektiven, in: Stefan Altmeyer/Bernhard Grümme/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion subjektorientiert erschließen (JRP 38), Göttingen 2022, 33–50. 9 Vgl. Christoph Bizer/Roland Degen/Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Norbert Mette/ Friedrich Schweitzer/Folker Rickers (Hg.), Menschen-Bilder im Umbruch – Didaktische Impulse (JRP 20), Neukirchen-Vluyn 2004.
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1A nthropologischer Zirkel. Zur Struktur anthropologischer Reflexionen Religionspädagogische Anthropologie ist schon allein zur Begriffsklärung interdisziplinär auf andere Anthropologien angewiesen. Von prominenter Bedeutung sind solche Ansätze philosophischer Anthropologie, die bemüht sind, Anthropologie in der Vielzahl ihrer Einzelwissenschaften und der damit zusammenhängenden Zersplitterung eines Verständnisses dessen neu zu gewinnen, was es heißt, ein Mensch zu sein und als Mensch zu leben. Philosophen wie Max Scheler, Helmut Plessner und Arnold Gehlen deuten den Menschen von seiner Naturverhaftetheit, von seiner Leiblichkeit und seinem beobachtbaren Verhalten her. In dieser Hinsicht stellen die Biologie, Verhaltensforschung und Genetik wichtige Kategorien bereit. Diese Anthropologien aber gestehen dem Menschen eine Sonderstellung zu. Bei Scheler und Gehlen wird sie als »Weltoffenheit« bezeichnet, bei Plessner als »exzentrische Positionalität«. Der Mensch ist nicht nur Umwelt, nicht nur Natur. Sondern er hat seine Natur und er hat seine Umwelt, indem er durch seinen Geist bereits über die Natur auslangen und sie noch einmal thematisieren kann.10 In kritischer Anknüpfung wird dafür die Anthropologie Kants reformuliert. Von hierher wird deutlich, inwiefern Anthropologie als Krisenwissenschaft verstanden werden kann: Sie denkt den Menschen als jemanden, der alle sektoralen, auf einen engen Bereich der Wirklichkeit begrenzten Zugriffe noch einmal überwindet, der – wie etwa in besonderer Verdichtung in den berühmten vier Fragen Kants (1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch?) – sich als Ganzes thematisiert und über einzelne Bereiche hinaus nach dem Grund fragt, ja der die Frage nach dem Grund ist, die innergeschichtlich nicht still gestellt werden kann.11 Genau darin liegt bereits eine Anschlussfähigkeit für Religion und damit auch für eine theologische und religionspädagogische Anthropologie.12 Allerdings ist eine solche philosophische Anthropologie unter den spätmodernen Bedingungen des »nachmetaphysischen Denkens« (Jürgen Habermas) ungleichzeitig und schwer verständlich geworden. Zu sehr wird hier »der Mensch« noch im Banne essenzialistischer Wesensphilosophie reflektiert, zu wenig wird er als kontingentes Individuum gesehen, das unlösbar in sprach10 Vgl. Daniel Martin Feige, Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie, Berlin 2022, 266–280. 11 Vgl. Wolfgang Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 27. 12 Vgl. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 62–65.
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lich vermittelten geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen lebt. Daher wächst in der Spätmoderne die Einsicht in die zirkuläre Struktur der Anthropologie und in deren geschichtliche Verortung. Was ist damit gemeint? Im Unterschied zu anderen Erkenntnis- und Vernunftvollzügen ist das Nachdenken über den Menschen nicht in einer starren Subjekt-Objekt-Spaltung angesiedelt. Der Mensch denkt dabei nicht nur über etwas anderes nach. Er reflektiert vielmehr über den Menschen im erfahrungsgesättigten Wissen darum, dass er selbst Mensch ist und dies zugleich mit allen anderen Menschen auf eine jeweilige Weise teilt. Anthropologie geschieht also weder in einer reinen Introspektion, einer geschichtsabgewandten transzendentalen Reflexion noch in bloßer Verobjektivierung des Anderen. Über menschliche Existenz nachzudenken, bedeutet demnach, sich mit Blick auf andere und zugleich sich von ihnen her zu reflektieren und sich dabei unweigerlich mit den eigenen Erfahrungen, Begrenzungen, mit allen Beschränkungen und Unfreiheiten, Unvernünftigen und Sinnentwürfen ins Spiel zu bringen. Da dies aber in der unauslotbaren Heterogenität menschlicher Existenzweisen geschieht, die sich ihrerseits geschichtlich je neu und anders bestimmen, ist die Frage nach dem Menschen letztlich eine »ebenso offene und unbeantwortbare wie darin zugleich nicht aufgebbare und unverzichtbare Selbstbefragung«13. Anthropologie ist demnach von einer »anthropologischen Differenz« geprägt, insofern der Mensch nicht auf einen Begriff zu bringen ist und doch auf seine Selbstauslegung in selbstreflexiver verantwortlicher Praxis nicht verzichten kann.14 Dies unterscheidet ihn kategorial vom Tier.15 Anthropologie ist gerade in ihrer geschichtlichen Verwurzelung selbstreflexiv, weil sie in pädagogischen Praktiken in Anspruch genommen wird, praxeologisch angelegt, ist sich selbst entzogen wie zugleich orientierungsfähig. Anthropologie ist demnach selbst relational strukturiert und weist eine explizite wie implizite Seite auf. Menschen leben »immer anthropologisch«16, insofern sie sich inmitten geschichtlicher wie kultureller Bestimmungen in bestimmten Lebenspraktiken und Lebensformen selbst auslegen. 13 Norbert Ricken, Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, 152–172, hier 154. Vgl. Feige, Natur des Menschen, 266. 14 Vgl. Dietmar Kamper, Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik, München 1973, 172. 15 Vgl. Feige, Natur des Menschen, 28–34. 16 Ricken, Menschen, 154.
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Dies geschieht in zweierlei Weise: einmal explizit, indem sie sich dessen bewusst werden oder indem überhaupt Entwürfe von Anthropologie ein solches Nachdenken über den Menschen explizieren. Dies geschieht jedoch auch implizit, ohne dass ihnen dies voll bewusst ist. Auch ohne ein ausdrückliches Menschenbild können das Nachdenken und Handeln zugleich verborgene Bezüge auf den Menschen haben und sind »in Form und Struktur« Vollzug menschlicher Selbstauslegung.17 Das aber hat wichtige Konsequenzen für die Religionspädagogik, die wir beleuchten müssen, um Ansatz und Ziel einer religionspädagogischen Anthropologie zu verstehen.
2 Aspekte einer religionspädagogischen Anthropologie. Analytische Zugänge Was aus Sicht einer religionspädagogischen Anthropologie an dieser Struktur der Anthropologie besonders interessant ist, sind drei Aspekte. 2.1 Relevanzen und Voraussetzungen
Es ist erstens die Einsicht in die religionspädagogische wie theologische Anschlussfähigkeit der anthropologischen Differenz zwischen Entzogenheit und Selbstaufgegebenheit, zwischen der geschichtlichen Dynamik menschlicher Existenz auf unbegreifbare Alterität und Unbedingtheit hin einerseits und sinngeleiteter, verantwortlicher Freiheit andererseits. Rudolf Englert hat darauf verwiesen, dass genau diese Spannung es ermöglicht, die Relevanz und den Ansatz von Anthropologie für die Religionspädagogik zu begründen.18 Diese Spannung impliziert die prinzipielle Rechtfertigungspflicht einer Verbindung von Anthropologie und Religionspädagogik. Nicht nur, dass diese angesichts der Infragestellungen bestimmter Menschenbilder im Allgemeinen und des christlichen Menschenbildes im Besonderen erst plausibilisiert werden müssen. Überhaupt wird es begründungsbedürftig, religionspädagogische Praxen in normativer Weise auf bestimmte anthropologische Vorannahmen oder gar normativ gesetzte Menschenbilder zu beziehen. In dieser spanungsvollen Konstellation agiert nun Englert im Lichte einer Schnittfeldlogik zwischen anthropologischen und religionspädagogischen Fragen: Aus anthropologischer Hinsicht sind religionspädagogische Auseinander17 Ebd., 154. 18 Rudolf Englert, Anthropologische Voraussetzungen religiösen Lernens, Freiburg 2008, 131–139.
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setzungen mit den »großen Fragen«, mit der Unabschließbarkeit menschlicher Existenz und den Praktiken religiösen Lernens durchaus triftig; aus religionspädagogischer Sicht wiederum setzen religionspädagogische Konturierungen des Bildungsbegriffs, des Lernens, der Verantwortung anthropologische Reflexionen voraus, die diese ihrerseits befruchten können. Es sind demnach die Relevanzen der Religionspädagogik für die Anthropologie in der Vielfalt ihrer Disziplinen einerseits wie die anthropologischen Voraussetzungen andererseits, von denen aus sich Sinn und Grund religionspädagogischer Anthropologie erschließen.19 2.2 Menschenbilder
Es ist zweitens die Erkenntnis der Unausweichlichkeit von Menschenbildern. Eine Pädagogik ohne Menschenbilder stellt »eine Unmöglichkeit« dar,20 was auch für die Religionspädagogik gilt.21 Und doch haben sie eine innere Dialektik. Jeder Bildungsprozess geht zumindest implizit von einer bestimmten Vorstellung vom Menschen aus, um Erfahrungen zu ordnen, sie besser zu verstehen, um eine Richtung zu haben und ein Kriterium dafür, was gute und was schlechte Bildungspraxis ist. Außerhalb des anthropologischen Zirkels sind Menschenbilder jedoch nicht zu erlangen. Eckart Liebau unterscheidet deshalb drei Dimensionen pädagogischen Handelns, die mit drei Dimensionen pädagogischer Menschenbilder impliziter und expliziter Art korrelieren: 1. Implizites pädagogisches Handeln, wie es in privaten Erziehungs- oder traditionellen Verhältnissen zu finden ist; zu nennen ist hier die Familie. 2. Explizites intentional-zielgerichtetes, bewusstes pädagogisches Handeln wie insbesondere in der Schule sowie 3. sozialisatorische Einflüsse. In jeder dieser Dimensionen sind implizite Menschenbilder anzutreffen. Kommt also Erziehung offensichtlich ohne Menschenbilder nicht aus, so zeigt sich dennoch eine tiefgreifende Problematik einer »Menschenbild-Pädagogik«22, die schließlich zu einer dezidierten pädagogischen Anthropologiekri19 Vgl. Rudolf Englert, Anthropologische Voraussetzungen religiösen Lernens, in: Erwin Dirscherl/Christoph Dohmen/Rudolf Englert/Bernhard Laux (Hg.), In Beziehung leben. Theologische Anthropologie, Freiburg i. Br. 2008, 131–189, hier 131. Vgl. Henrik Simojoki/Thomas Schlag, Eine Einleitung, in: Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 16–31. 20 Zirfas, Pädagogische Anthropologie, 12. 21 Vgl. Reinhold Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, Darmstadt 2008, 41. Ähnlich Peter Biehl, Art. Mensch, Menschenbild. 1. Theologisch, in: LexRP 2001, 1314–1320, 1314 ff. 22 Jürgen Oelkers, Der Mensch als Maß des Bildungswesens, in: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 118–137, hier 130.
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tik führt.23 Bilder neigen zu Verkrustungen und Festlegungen. Man meint, zu wissen, wer der Mensch ist, man meint, festlegen zu dürfen, wie der Mensch sein soll, man droht ihn auf die eigenen Vorstellungen festzulegen und formt ihn dementsprechend. Das hat mit Macht zu tun, mit Einordnung und Fixierung, ohne dass die Menschen selbst sich jeweils frei bestimmen und ihr Leben und ihre Sinnorientierung wirklich wählen können. Ideologiekritisch wäre dies noch zuzuspitzen mit der Beobachtung, dass häufig dabei gesellschaftliche wie kulturelle Kräfte etwas als in der menschlichen Natur verankert ansehen, dies als Forschungsergebnis wertfreier Wissenschaft deklarieren und von dort einen »Katalog anthropologischer Konstanten« als Norm suggerieren, was faktisch interessengeleitet ist.24 Vor dem Hintergrund einer solchen Anthropologiekritik versteht es sich, dass die Rede von einem christlichen Menschenbild erst recht problematisch werden musste, zumal auch aus theologischer Sicht es deren »unendlich viele« gibt und das biblische Bilderverbot jedes Bild unter Vorbehalt stellt.25 Deshalb bleibt für Friedrich-Wilhelm Graf die Rede von einem christlichen Menschenbild aporetisch, weil Menschenbilder pädagogisch oft als Schablone dienen, durch die Menschen andere Menschen auf ein »bestimmtes ›Menschenbild‹ zu formen versuchen: Menschenmissbrauch in pädagogischer Absicht«26. Aufgrund dessen alle Menschenbilder in einem Ikonoklasmus prinzipiell abzulehnen, birgt freilich erhebliche Schwierigkeiten.27 Überlässt nicht eine anthropologisch bildlose, schwache Religionspädagogik die Praxis sich selbst, um sie dadurch in besonderer Weise für Ideologien anfällig zu machen? Alle pädagogischen Zielvorstellungen »manipulieren die Erziehung, aber ohne Bilder kann man nicht erziehen«28. Menschenbilder können die Würde des Menschen gerade dort kritisch zur Sprache bringen, wo diese gefährdet ist. So ergibt sich insgesamt eine dreifache Funktion von Menschenbildern, auch für die Religionspädagogik: 1. eine analytische Funktion, insofern sie 23 Vgl. Helmut Peukert, Die Frage nach der Allgemeinbildung als Frage nach dem Verhältnis von Bildung und Vernunft, in: Jürgen-Eckardt Pleines (Hg.), Das Problem des Allgemeinen in der Bildungstheorie, Würzburg 1987, 69–88, hier 79–82. 24 Vgl. Jürgen Habermas, Art. Anthropologie, in: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.), Fischer Lexikon Philosophie, Frankfurt a. M. 1961, 18–35, hier 34 f. 25 Vgl. Karl Lehmann, Das christliche Menschenbild in Gesellschaft und Kirche, in: Reinhold Biskup/Rolf Hasse (Hg.), Das Menschenbild in Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin/Stuttgart/ Wien 2000, 51–78, hier 56. 26 Friedrich Wilhelm Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009, 173. 27 Vgl. Friedrich Schweitzer, Pädagogik und Religion. Eine Einführung, Stuttgart 2003, 127. 28 Jürgen Oelkers, Kinder sind anders, in: Waltraud Harth-Peter (Hg.), »Kinder sind anders«. Maria Montessoris Bild vom Kinde auf dem Prüfstand, Würzburg 1997, 243–258, hier 255.
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helfen können, vorhandene Menschenbilder zu entziffern und freizulegen; 2. eine normative Funktion, weil die in Bildungsprozesse eingebrachten Ziele und Methoden stets mit anthropologischen Hintergrundannahmen verbunden sind; 3. eine kritische Funktion, weil sie die vorhandenen Menschenbilder kritisieren und mit anderen normativ aufgeladenen Perspektiven auf den Menschen konfrontieren.29 2.3 Explizite und implizite Anthropologien. Vier Spotlights
Drittens ist es die Unterscheidung von expliziter und impliziter Anthropologie, die auch für meine Analytik religionspädagogischer Anthropologien fruchtbar gemacht werden kann. Angesichts der angedeuteten Legitimationsbedürftigkeit von Anthropologie nimmt es nicht wunder, dass bislang elaborierte Ansätze expliziter Natur im gegenwärtigen Diskurs rar sind. Englerts »religionspädagogische Anthropologie« von 2008 war wohl die erste ihrer Art, wenngleich begrenzt auf religiöses Lernen.30 Grümme und Müller-Friese hingegen legten aus unterschiedlicher Hermeneutik heraus jeweils elaborierte wie grundlegende Konturen einer religionspädagogischen Anthropologie vor. Während Ersterer einen alteritätstheoretisch begründeten, in den unterschiedlichen Dimensionen heterogener Erfahrungen situierten Anlauf wählt,31 gründet Letztere ihre Anthropologie in biblischen wie offenbarungstheologischen Vorannahmen, denen sie jeweils religionspädagogische Anregungen entnimmt.32 Diese Grundlegungen werden inzwischen durch eine Vielzahl an partikularen anthropologischen Rückgründungen von Brennpunkten derzeitiger Religionspädagogik flankiert. So finden sich anthropologische Begründungen insbesondere zum interreligiösen Lernen, zur Inklusion, zur Kindertheologie, zur Empirie, zur Globalisierung oder auch zur Digitalität.33 Daneben finden sich auf verschiedenen Feldern implizite anthropologische Rekurse. Wissenschaftstheoretisch durchaus auf unterschiedlichen Ebenen der 29 Vgl. Bernhard Grümme, Öffentliche Religionspädagogik. Religiöse Bildung in pluralen Lebenswelten, Stuttgart 2015, 195–206. Mit anderer Akzentsetzung Zirfas, Pädagogische Anthropologie, 13: Menschenbilder sind »sowohl deskriptiv, optativ und normativ«. 30 Vgl. Englert, Anthropologische Voraussetzungen religiösen Lernens. 31 Vgl. Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg 2012. 32 Vgl. Anita Müller-Friese, Gott und Mensch. Orientierungswissen Anthropologie, Stuttgart 2017. 33 Vgl. insgesamt Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014.
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Religionspädagogik angesiedelt, wähle ich aus Gründen einer gewissen Repräsentativität vier verschiedene Felder, die ich in kurzen Spotlights beleuchte: a. Historische Religionspädagogik
Religiöse Bildungsprozesse werden vollkommen unterschiedlich konstruiert und normativ bestimmt, wenn man sie im Lichte eines ungebrochenen Gutseins des Kindes wie bei Rousseau oder im Lichte einer durch die Erbsünde geprägten Existenz ausrichtet. Konfessionelle Differenzen werden hierbei sicher nicht unwichtig sein.34 b. Konstruktivistische Religionspädagogik
Diese derzeit didaktisch prominente und vielfältig institutionalisierte Religionspädagogik geht von einer starken Orientierung an selbsttätigen, frei agierenden und motivational engagierten Lernenden aus, wodurch auch die Rolle der Religionslehrkräfte als Moderator:innen und Arrangeure des Lernprozesses spezifisch strukturiert wird. Dies ist angesichts der Wende der Religionspädagogik zur Subjektorientierung und der normativen Ausrichtung am Bildungsbegriff zu begrüßen. Doch basiert die hier mitschwingende implizite Anthropologie schon allein durch die Universalisierung eines bürgerlichen Mittelstandskindes auf höchst legitimierungsbedürftigen Vorannahmen, die nicht ohne erhebliche Probleme sind.35 Analoges gilt für die Kinder- und Jugendtheologie, die sich erst langsam auf ihre Dialektik kritisch besinnt.36 c. Kompetenzorientierte Religionspädagogik
Normativ als Grundlage der Lehrpläne und Curricula verankert, wird ein kompetenzorientierter RU hinsichtlich des zugrundeliegenden Menschenbildes (noch immer) nicht hinreichend reflektiert.37 So wäre danach zu fragen, wie denn ein Menschenbild aussehen könnte, das »so etwas wie eine ›religiöse Kompetenz‹ als ein wesentliches Moment menschlichen Ganz-Sein-Könnens enthält und das geeignet wäre, heutigen Kompetenzmodellen als Grundlage
34 Vgl. Reinhold Boschki, Menschenbild und hamartiologisch sensible Pädagogik: Paulus oder Rousseau, in: Helmut Hoping/Michael Schulz (Hg.), Unheilvolles Erbe? Zur Theologie der Erbsünde, Freiburg 2009, 77–97. 35 Vgl. Bernhard Grümme, Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung, Freiburg i. Br. 2021, 147–170. 36 Vgl. Hanna Roose, Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht, Stuttgart 2019. 37 Vgl. Simojoki/Schlag, Eine Einleitung, 16.
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zu dienen«38. Oder es wäre noch grundsätzlicher, die Kompetenzorientierung überhaupt zu problematisieren, ob hier nicht eine Anthropologie des Homo oeconomicus und eines quantifizierbaren Selbst kultiviert wird, die im Banne einer Perfektibilitätsmentalität Bildung auf Anwendung und Verzweckung reduziert und Menschen vorrangig unter ökonomischen Funktionalisierungsaspekten thematisiert?39 d. Digitalisierung
Einerseits zeigen sich in der Digitalisierung unbestreitbare Partizipationsmöglichkeiten, ungeahnte Dynamisierungen und Freisetzungen der Subjekte im RU. Digitalisierung eröffnet Kommunikationen, bahnt Lernwege, bietet nicht zuletzt im Horizont von Inklusion innovative wie adressat:innenorientierte Fördermöglichkeiten und offeriert Artikulations- und Suchräume für eigene Lebensdeutungen und eigene Formen von Religiosität vielfältigster Art – bis hin zu einer kreativen, transzendenzoffen und theologieproduktiven Theologie Jugendlicher.40 Die Heranwachsenden rücken in die Rolle eines eigenmächtigen Akteurs, der souverän religiöse Inhalte montiert, gewichtet oder neu konstruiert. Sie werden unabhängig von religiösen oder kirchlichen Autoritäten, gründen neue religiöse Netzwerke mit einem niederschwelligen, oft nur temporär wirksamen Grad an Verbindlichkeit oder individualisieren sich weiter religiös.41 Semantische Verschiebungen werden feststellbar. Glaube im Netz wird oft als »Lifestyle« und »Lebenshilfe sofort« präsentiert, eine »funktional-pragmatische Sicht auf Religion und Glaube« dominiert.42 Identitätsfragen werden zentral.43 Problematische Momente sind dennoch nicht zu übersehen. Dazu zählen ins38 Rudolf Englert, Religion im Lehrplan der Schule: Eine Auseinandersetzung mit Modellen aus Geschichte und Gegenwart, in: Hans-Georg Ziebertz/Günter R. Schmidt (Hg.), Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, Freiburg i. Br. Gütersloh 2006, 211–228, hier 228. 39 Vgl. exemplarisch Konrad Liessmann, Bildung als Provokation, Wien 2017. 40 Vgl. Thomas Schlag, »Turn of translation« – Öffentliche religiöse Bildung als individuellintermediäre Übersetzungspraxis in digitalen Zeiten, in: Werner Haußmann/Andrea Roth/ Susanne Schwarz/Christa Tribula/Manfred L. Pirner (Hg.), EinFach Übersetzen. Theologie und Regionspädagogik in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit, Stuttgart 2019, 45–52, hier 49. 41 Vgl. Anna Neumaier, Die Bedeutung digitaler Medien für gegenwärtige Religiosität, in: KatBl 3 (2018), 175–178, hier 178. 42 Elisabeth Hurth, Christliche Influencer. In der Aufmerksamkeitsspirale, in: HK 4 (2020), 38– 40, hier 40. 43 Vgl. Hans Mendl/Rudolf Sitzberger/Alexandra Lamberty, Identitätsbildung in digitalen Welten. Ein Forschungsbericht, in: ÖRF 28 (2020), 143–160.
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besondere (die durch die Implikationen für das komplexe Verhältnis von Körper-Leib-Ding-Seele verursachten) Verdinglichungsprozesse, Mechanismen von Virtualisierung, die Konstruktion und Simulation von Affekten, Entitäten und Identitäten oder auch Kommodifizierungsprozesse.44 Diese vier Spotlights, die sicher noch weiter auszudifferenzieren und auch noch zu ergänzen wären, markieren a. Herausforderung, b. Relevanz und c. Ansatzpunkt einer religionspädagogischen Anthropologie. a) Insbesondere, wenn sie sich im genannten entwickelten Sinne als Krisenwissenschaft artikuliert, hätte sich die Religionspädagogik selbstkritisch wie ideologiekritisch mit ihren (oft unreflektierten) anthropologischen Voraussetzungen auseinanderzusetzen, um ihrer eigenen normativen Orientierung an Bildung zu entsprechen.45 Hierzu wäre eine anthropologiekritische (Selbst-)Reflexivität zu kultivieren. b) Dafür muss sie die angedeuteten kontextuellen Herausforderungen für religiöse Bildungsprozesse analysieren und zum Ort ihrer Wahrheitsfähigkeit werden lassen, indem sie sich dort kritisch wie produktiv mit ihren anthropologischen Ressourcen einschaltet. c) Hierfür müsste sie ihre eigene Geschichtlichkeit und Kontextualität reflektieren und so sprachfähig sein, dass sie in dem Diskurs anderer, teilweise konfligierender Anthropologien einen verstehbaren, lernbereiten wie orientierungsfähigen Beitrag leistet. Dazu wäre ihr substanzieller Gehalt zu entfalten, der ohne (vormodernen) Vormachtanspruch durchaus mit dem Anspruch auf Normativität eingespielt wird.
44 Vgl. Christian Leineweber, Digitale Bildung und Entfremdung – Versuch einer normativ-kritischen Verhältnisbestimmung, in: Valentin Dander/Patrick Bettinger/Estella Ferraro/Christian Leineweber/Klaus Rummler (Hg.), Digitalisierung – Subjekt – Bildung. Kritische Betrachtung der digitalen Transformation, Opladen/Berlin/Toronto 2020, 38–56; Eva-Maria Leven/Jens Palkowitch-Kühl, Schülerinnen und Schüler in ihrer digitalen Welt, in: Ulrich Kropac/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 127–133. 45 Vgl. Bernd Schröder, Bildung – unverzichtbar für die Entfaltung des Menschseins wie für die Explikation von (christlicher) Religion, in: Bernd Schröder (Hg.), Bildung, Tübingen 2021, 221–235.
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3 Skizzen einer religionspädagogischen Anthropologie Vor diesem Hintergrund kristallisieren sich Ansatz und Status einer religionspädagogischen Anthropologie heraus, den wir nun besser verstehen können.46 Dazu wären Anthropologiekritik und Normativität, Erfahrung und Vernunft, Empirie und Wahrheitsanspruch zu verschränken, womit deutlich wird, wie riskant eine solche religionspädagogische Anthropologie ist. In einem nachmetaphysischen Zeitalter darf sie nicht ohne Plausibilitätsverlust auf eine essenzialistische, autoritativ (und sei es aus kirchlicher Dogmatik, Naturrecht oder Bibel) gesetzte Anthropologie zurückgreifen, die die geschichtlichen Prozesse unterschätzt, welche eben neben den materialen Gehalten auch die Begriffe prägen.47 Ein solcher deduktiver Zug wäre schon deshalb höchst fragwürdig, weil er die eigene Handlungs- und Erkenntnislogik der religionspädagogischen Praxis unterschätzt. Hingegen kann sie um ihres eigenen bildungstheoretischen Anspruchs willen nicht auf jegliche Normativität verzichten. Denn ohne diese würden »emanzipatorische und antiemanzipatorische«, dem Anspruch auf Freiheit und Bildung zuträgliche oder abträgliche Formen »ununterscheidbar«.48 Die Herausforderungen gegenwärtiger Anthropologie, wie sie in Transhumanismus oder Ökonomisierung liegen, würden so nicht mehr kritisch bearbeitbar. Deshalb sind etwa eine pragmatisch-handlungsregulative Anthropologie genauso wie eine Negative, auf Performativität und Mimesis konzentrierte Anthropologie von ihrem Geltungsanspruch her zu schwach.49 Weiterführend könnte hingegen eine alteritätstheoretisch begründete Anthropologie sein, die sich aus den personalen Erfahrungsvollzügen der Menschen heraus handlungstheoretisch grundiert und dabei durchaus universalisierbare, wenngleich historisch wandelbare Kategorien mit Geltungsanspruch entwickelt.50 Dies ermöglicht religionspädagogischer Anthropologie die erforderlichen Begründungsleistungen sowie die Kraft selbstreflexiver Aufklärung, durch die sie sich ihrerseits prüfen kann, ob und inwieweit diese ihren eigenen normativen Ansatz freisetzender religiöser Bildung dementieren.51 46 47 48 49
Vgl. Begründungen Grümme, Menschen bilden, 70–155. Vgl. Feige, Natur des Menschen, 172–257. Feige, Natur des Menschen, 75. Vgl. Ulrike Mietzner/Heinz-Elmar Tenorth, Anthropologie als Thema und Problem in der Erziehungswissenschaft. Vielfalt der Methoden, Desiderat des Pädagogischen, in: Zeitschrift für Pädagogik 53, Beiheft 52 (2007), 7–19; Zirfas, Pädagogische Anthropologie, 169–180. 50 Vgl. Grümme, Menschen bilden, 70–156. 51 Vgl. Grümme, Praxeologie, 361–425.
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Gerade weil sie sich an der Empirie humanwissenschaftlicher Forschungen orientiert, ist ihr ein monolithischer Ansatz verwehrt, wenn es um die materialen Gehalte, um die Substanz der Anthropologie geht. Deshalb trägt eine religionspädagogische Anthropologie von ihrem wissenschaftstheoretischen Grundgerüst der Vieldimensionalität menschlicher Existenz sowie der unübersehbaren Heterogenität von Anthropologien am besten Rechnung durch eine Entfaltung aus und in unterschiedlichen Dimensionen. Freilich werden diese Dimensionen nicht aus fachwissenschaftlichen Diskursen schlicht abgeleitet, sondern aus den vielfältigen Momenten personalen Erfahrungsvollzugs heraus generiert. Durch diese erfahrungsbezogene Rückgründung bekommen sie eine interdependente, hochdynamische, geschichtlich je neu zu akzentuierende Gestalt, die als solche mit biblischen und theologischen Anthropologien korreliert werden kann.52 Die sich daraus ergebenden substanziellen Bestimmungen lassen sich in grober Verkürzung auf folgende Dimensionen zumindest andeuten: Menschliche Existenz ist körperlich strukturiert. »Der Mensch« als Körper, Leib, Seele ist Gottes Ebenbild, dessen verschiedene Aspekte von Rationalität, Affekt und Wille sich als Aspekte eines unabschließbaren Ganzen erschließen. In dieser (1) Ganzheitlichkeit53 sind (2) Endlichkeit und Geschöpflichkeit impliziert. »Der Mensch« ist ein endliches, ein zeitliches, ein geschichtliches und sterbliches Wesen, das seinen Sinn nicht in sich selbst finden kann. Er lebt vom Anderen her – vom anderen Menschen und letztlich von Gott, der ihm im anderen Menschen als seinem Bild ähnlich nahe sein will. Diese Theologie der Gottesbildlichkeit verdeutlicht, dass ihm seine Identität von Gott geschenkt und in der Auferstehungshoffnung als endgültig gerettete zugesagt ist (3), diese aber in Sozialität (4) und als von Gott her getragene unvertretbare personale Freiheit (5) hin zu leben ist. Gleichwohl kann diese Freiheit scheitern, kann der Mensch vor sich, vor anderen und vor Gott schuldig werden (6). Freiheit wie Schuld setzen Zurechenbarkeit und damit Vernunft voraus. Für christliches Denken ist der Mensch ein animal rationale, ein rationales Wesen, ein Wesen von Vernunft und Verstand (7). Als Hörer des Wortes allerdings kann der Mensch sich nicht zufriedengeben mit dem, was ist. Ihm wird eine Offenheit auf Gott zugetraut, aus der heraus sich ihm Gott schenken kann. Das Wunder der göttlichen Liebe besteht nun darin, dass der Mensch in seiner religiösen Dimension (8) in der ganzen Breite und Tiefe seiner Existenz von Gott angerufen ist. Dieser Liebe des nahen und 52 Vgl. Grümme, Menschen bilden, 120–157. Kritisch gegen die Vorbehalte bei Simojoki/Schlag, Eine Einleitung, 22–24. 53 Vgl. Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder Tübingen 2019, 519; Christian Frevel, Gottesbilder und Menschenbilder. Studien zu Anthropologie und Theologie im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2016, 191–195.
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zugleich als Heiligem Geheimnis fernen Gottes entspricht der Mensch dann am ehesten, indem er sich ganz auf sie betend und liebend einlässt.54 Dies kann hier (und braucht auch wegen der im Jahrbuch folgenden Überlegungen, die einzelnen Aspekte weiter auszuarbeiten) nicht weiterpräzisiert werden. Der Ertrag dieser inhaltlichen Konkretion für eine religionspädagogische Anthropologie liegt nun indessen nicht darin, dass diese Dimensionen unmittelbar didaktische Ableitungen erlaubten. Für die Religionspädagogik sind anthropologische Reflexionen nicht deshalb unverzichtbar, weil sie aus ihnen direkt normative Bestimmungen und Handlungsanweisungen ableiten könnte. Wenn für manche aus dem christlichen Menschenbild »folgt […], dass jegliche Didaktik und Ausgestaltung schulischen Lernens und schulischer Lernorte vom Prinzip der Ermöglichung bestimmt sein muss«, weil sich neutestamentlich »aus der Orientierung an Jesus Christus die Mitwirkung am Kommen des Reich Gottes« ergibt,55 dann soll dies sicherlich die didaktische Bedeutung der Gottes bildlichkeit zeigen. In der Tat kann religionspädagogische Anthropologie ihren Beitrag zur Klärung und normativen Bestimmung von Leitbegriffen wie »Bildung«, »Bildsamkeit« und »Freiheit« leisten. Es wäre wohl ein Kategoriefehler, wenn direkt aus der Anthropologie didaktische oder gar methodische Folgerungen abgeleitet werden. Ohne didaktische Brechungen sind die Einsichten religionspädagogischer Anthropologien nicht fruchtbar zu machen. Anderes würde in ein Ableitungsdenken zurückfallen, das die Eigenlogik religionspädagogischer Praxen übersieht und Religionspädagogik zur schlichten Anwendungswissenschaft reduziert.56 Der Ertrag solcher didaktischen Brechungen für eine religionspädagogische Anthropologie liegt vielmehr darin, dass diese Dimensionen unter korrelativer Ausfaltung einer Theologie der Gottesbildlichkeit eine normative Bestimmung entfalten, die freilich noch zu präzisieren ist. Sie ist keine statische oder gar am (hetero)normativen Bild eines gesunden Menschen ausgerichtete Anthropologie, die am Fragmentarischen, Schuldhaften und Nichtidentischen vorbeisähe. Das wäre ideologisch. Menschsein heißt, vulnerabel, verwundbar zu sein,57 auch wenn hierbei nochmals gesellschaftsanalytische Differenzierungen vorzunehmen sind. Nicht alle sind gleich verwundbar, wie die Coronapandemie gezeigt hat. Insofern ist 54 Vgl. Grümme, Menschen bilden, 156–481. 55 Hans Mendl, Anthropologie, christliche, in: Hans Mendl, Taschenlexikon Religionsdidaktik. Das Wichtigste für Studium und Beruf, München 2019, 15. 56 Vgl. Schweitzer, Pädagogik und Religion, 128. 57 Vgl. Hildegund Keul (Hg.), Theologische Vulnerabilitätsforschung – interdisziplinär und gesellschaftsrelevant, Stuttgart 2021.
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die religionspädagogische Anthropologie von eschatologischer Erwartung strukturiert. Gottesebenbildlichkeit ist »nicht so sehr als faktisch gegebene, sondern eher als ursprüngliche und noch faktisch einzulösende Bestimmung des Menschen zu begreifen«.58 Dies qualifiziert die religionspädagogische Anthropologie als bloß vorläufige, auf das unbedingte Geheimnis hin unabgeschlossene, weil vom Geheimnis her eröffnete Größe, die das geschichtlich wahrzumachen strebt, von dem sie sich vorauslaufend befreit und beschenkt weiß.59
4 Bündelung und Perspektiven Nun müsste Folgendes deutlich geworden sein: Anthropologische Reflexionen sind für eine kontextsensible Religionspädagogik elementar als reflexive Klärung und Perspektivierung der eigenen empirischen, hermeneutischen wie normativen Hintergrundannahmen und eine selbstreflexive Aufklärung über die eigenen Praktiken. Hierzu bringt sie als Verbundwissenschaft theologische Anthropologie und humanwissenschaftliche Anthropologien insbesondere mit ihren philosophischen, pädagogischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Forschungen in eine korrelative Konstellation, aus der wenigstens Perspektiven für die religionspädagogische Praxis resultieren können. Auf diese Weise formiert sie sich als eine religionspädagogische Anthropologie, die sich einbringt in die gegenwärtigen Debatten um den Menschen. Sei es die Dimension der Körperlichkeit und Leiblichkeit, die nicht nur rationalistische Verkürzungen überwindet, sondern auch kritisch zum grassierenden Selbstperfektionierungswahn in manchen Teilen der Gegenwartskultur steht; sei es die Freiheitstheologie, die die befreienden wie herausfordernden Akzente der biblischen Botschaft markiert und religionspädagogisch wie religionsdidaktisch in einer Sprachschule der Freiheit praktisch werden lassen will und genau darin konträr zu kulturellen, gesellschaftlichen, naturalistischen wie ökonomischen Dementierungen von Freiheit steht; sei es die Theologie der Gottesebenbildlichkeit, die in einem erheblichen Maße für pädagogische Termini wie »Bildsamkeit« und »Bildung« historisch mitbegründend wie anschlussfähig ist und die im Dialog mit der Pädagogik Grundlinien einer emphatischen Bildungstheorie ermöglicht. Deren kritisches Widerstandspotenzial wie kreative Orien-
58 Manfred L. Pirner, Inklusion und Anthropologie – Christlich-pädagogische Perspektiven, in: Theo-Web 2 (2011), 155–167, hier 159. 59 Vgl. Grümme, Menschen bilden, 491–497.
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tierungsfähigkeit wird in Bildungsdiskurs und Bildungspolitik noch lange nicht eingeholt. In all diesen hier exemplarisch genannten Aspekten werden die kritisch-prophetischen Impulse einer religionspädagogischen Anthropologie deutlich, die Religionspädagogik analytisch aufzuklären wie normativ zu orientieren vermag und zugleich ihren Beitrag zum gegenwärtigen Ringen um den Menschen leisten kann. Dr. Bernhard Grümme ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Der Mensch – ein Schlüsselthema des Religionsunterrichts? Ökumenisch-didaktische Grundlegungen und Konkretisierungen am Beispiel der Theosis-Vorstellung Yauheniya Danilovich, Mirjam Schambeck sf und Henrik Simojoki
1Ö kumenische Normalitätskonstruktionen – oder: Warum die religionspädagogische Anthropologie in Deutschland bislang ohne Bezüge zur Orthodoxie auskommt Wenn es einen gemeinsamen Nenner in der bildungswissenschaftlichen1 und religionspädagogischen2 Anthropologiedebatte gibt, dann liegt er wohl in dem hier wie dort entschiedenen und mit wachsendem Differenzierungsgrad vorgenommenen Abschied von einer generalisierenden Rede von dem Menschen. Diese Wende der Anthropologie vom Singular zum Plural verarbeitet die in den letzten Jahrzehnten noch merklich beschleunigten gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Pluralisierungsschübe und entspricht der im anthropologischen Gesamtdiskurs gewachsenen Sensibilität für die geschichtliche und kulturelle Bedingtheit vom Menschsein.3 Dadurch ändert sich auch die Funktion anthropologischer Theoriebildung mit Blick auf (religiöse) Bildung: Während die überkommenen Varianten einer essenzialistischen Menschenbildpädagogik darauf zielten, Bildung, Erziehung und Unterricht an einem normativen Verständnis des Menschen auszurichten, kommt der anthropologischen Reflexion nun die kritische Aufgabe zu, den in der (religions)pädagogischen Theorie und Praxis wirksamen Normalitätskonstruktionen nachzuspüren und im Rahmen einer pluralisierenden Hermeneutik entgegenzuwirken. Dieser Funktionswandel ist mitzudenken, wenn man die Frage nach dem Menschen aus der Perspektive ökumenischer Bildung reflektiert. Wie sehr die religionspädagogische Sicht auf den Menschen immer noch von über Jahrhun1
Vgl. pars pro toto Jörg Zirfas, Pädagogische Anthropologie. Eine Einführung, Paderborn 2021; Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014. 2 Vgl. bes. Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg u. a. 2012; Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014. 3 Vgl. Henrik Simojoki/Thomas Schlag, Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern. Eine Einleitung, in: Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung, Gütersloh 2014, 16–31.
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derte verfestigten Normalitätsannahmen geprägt ist, wird deutlich, wenn man die ökumenisch zu verschränkenden Perspektiven um die Orthodoxie ergänzt. Zunächst einmal führt eine solche Erweiterung des ökumenischen Horizonts vor Augen, dass die für die deutschsprachige Religionspädagogik bis in die jüngste Zeit hinein charakteristische Orthodoxievergessenheit4 auch den anthropologischen Diskurs einschließt. So ist die Orthodoxie in den bisherigen Grundlegungen in Richtung einer religionspädagogischen Anthropologie perspektivisch wie personell bislang kaum vertreten. Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf Lehrpläne und Schulbücher für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht: Da das orthodoxe Christentum hier ohnehin allenfalls punktuell repräsentiert wird,5 überrascht es nicht, dass anthropologische Themeneinheiten in der Regel ganz ohne Bezüge zur Orthodoxie auskommen. Auch in den seltenen Fällen, in denen orthodoxe Perspektiven auf den Menschen in religionsdidaktisch orientierender Absicht thematisiert werden, kann die Darstellung von solchen Normalitätskonstruktionen beeinflusst sein, etwa wenn mit Orthodoxie verbundene Kontexte oder Phänomene in der Ferne verortet werden.6 Dabei ist davon auszugehen, dass die Exklusion, Marginalisierung oder Alterisierung orthodoxer Sichtweisen nicht aus böser Absicht erfolgt, sondern die ihr zugrundeliegende Normalitätskonstruktion widerspiegelt, derzufolge die Orthodoxie im deutschen Kontext eine bei aller Wertschätzung eher vernachlässigbare Größe sei.
4 Vgl. Friedrich Schweitzer/Henrik Simojoki, Orthodoxie als vernachlässigtes Thema und als Zukunftsherausforderung der evangelischen Religionspädagogik in Deutschland, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 71 (2019), 366–378. 5 Vgl. Frank M. Lütze, Orthodoxie als Thema in evangelischen Lehrplänen. Bestandsaufnahme und Optionen, in: Henrik Simojoki/Yauheniya Danilovich/Mirjam Schambeck/Athansios Stogiannidis (Hg.), Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie. Weiterführungen einer ökumenischen Religionsdidaktik, Freiburg i. Br. 2022, 195–203; Agnes Slunitschek, Orthodoxes Christentum und Ökumene – marginale Themen in katholischen Schulbüchern, in: Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, 185–194. 6 Vgl. etwa den Beitrag von Stephan Goertz/Michael Roth, Nach dem Menschen in seiner Lebenswelt fragen: Theologische Anthropologie und Ethik, in: Bernd Schröder/Jan Woppowa (Hg.), Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Ein Handbuch, Tübingen 2021, 151–180. Auf einleitende Verortungen und differenzierte Überlegungen zu »Anthropologie und Ethik im evangelisch-katholischen Verhältnis« folgt ein drittes Kapitel, das den ökumenischen Aufmerksamkeitshorizont auf die Orthodoxie ausweitet. Auffällig ist die gegenüber dem evangelisch-katholischen Hauptkapitel verschobene Rahmung: Während dort der deutsche Kontext fokussiert wird und neben kirchlichen Stellungnahmen auch der anthropologisch-ethische Diskurs der deutschsprachigen Theologie mit eingezeichnet wird, beschränkt sich die Darstellung der Orthodoxie auf die antimodernistische Agenda des Moskauer Patriarchats.
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2 Ökumenische Religionsdidaktik im Kontext der »postmigrantischen Gesellschaft« – oder: Warum die Themen des Religionsunterrichts im Horizont der Orthodoxie neu auszuhandeln sind Bereits die religionsdemografischen Daten zeigen, dass sich die für den religions pädagogischen Diskurs leitende Wahrnehmung eines kontinuierlichen Rückgangs christlicher Schüler:innen ebenfalls nicht ökumenisch generalisieren lässt. Sie trifft zwar auf das (landeskirchlich-)evangelische und das katholische Christentum zu, nicht aber auf die Orthodoxie. Vielmehr ist die Präsenz orthodoxer Kinder und Jugendlicher an deutschen Schulen im Zuge immer neuer Migrationsschübe7 sukzessive gestiegen. Seit 2005 macht sich diesbezüglich vor allem die EU-Freizügigkeitsmigration bemerkbar, bei der orthodox geprägte Länderkontexte wie Rumänien und Bulgarien besonders stark vertreten sind. Auch unter den Asylsuchenden gab es im vergangenen Jahrzehnt einen beträchtlichen Anteil orthodoxer Christ:innen, deren Anteil infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine zuletzt noch einmal angestiegen ist. Auch wenn es nicht leicht ist, die Anzahl orthodoxer Schüler:innen zu beziffern, belegen vorliegende statistische Daten aus einigen Bundesländern einen kontinuierlichen Anstieg: So hat sich deren Zahl beispielsweise in NordrheinWestfalen zwischen 2011 und 2020 mehr als verdoppelt, von 26.556 auf 55.230 bzw. von 1,0 auf 2,3 Prozent der Gesamtschüler:innenschaft.8 Angesichts insbesondere der seit Jahren stabilen EU-Freizügigkeitsmigration ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung in absehbarer Zukunft weiter fortsetzen wird. In Anbetracht der realiter wachsenden, aber in religionsdidaktischer Hinsicht weiterhin »unsichtbaren Präsenz«9 orthodoxer Kinder und Jugendlicher an Schulen in Deutschland ist klar, dass die unter dem Diagnose- und Programm-
7 Vgl. in diesem Zusammenhang: Yauheniya Danilovich, In der Welt, nicht von der Welt (Joh 17,11–18). Diaspora und Sendung aus Sicht der Orthodoxen Kirche, in: Katharina Bracht/ Thomas Söding (Hg.), Diaspora und Sendung. Erfahrungen und Auftrag christlicher Kirchen im pluralen Deutschland, Leipzig 2021, 154–161. 8 Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Statistik-Telegramm 2020/21. Schuleckdaten 2020/21. Zeitreihen 2011/12 bis 2020/21, 100–109, https:// www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/stattelegramm2020.pdf (Zu�griff am 19.11.2022). 9 Yauheniya Danilovich, Unsichtbare Präsenz. Erfahrungen mit orthodoxem Religionsunterricht in Deutschland, in: Joachim Willems (Hg.), Religion in der Schule. Pädagogische Praxis zwischen Diskriminierung und Anerkennung, Bielefeld 2020, 327–343, hier 327.
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begriff einer »postmigrantischen Gesellschaft«10 erhobene Forderung, historisch gewachsene kulturelle Übereinkünfte und gesellschaftliche Regelstrukturen neu auszuhandeln, auch auf das Verhältnis von Religionsunterricht und Orthodoxie zu beziehen ist. An dieser Stelle setzt das interkonfessionelle und internationale Verständigungsprojekt einer ökumenischen Religionsdidaktik an, das bislang in mehreren internationalen Tagungen und zwei Bänden vorangetrieben worden ist. Der erste Band zielt auf die didaktische Grundlegungsebene.11 Es geht darum, in der dialogischen Verschränkung evangelischer, katholischer und orthodoxer Perspektiven Konturen eines gemeinsam verantworteten, differenzsensiblen Grundverständnisses der christlichen Mitverantwortung für religiöse Bildung im europäischen Kontext zu ermitteln. Ausgehend von einem Verständnis ökumenischen Lernens im Horizont der »kleinen Ökumene« christlicher Kirchen ging dieser Band über bisherige Veröffentlichungen auch insoweit hinaus, als nicht nur katholisches und evangelisches Christentum als Dialogpartner ernst genommen wurden, sondern die Orthodoxie von Anfang an miteinbezogen war. Im zweiten Band wird diese Perspektive religionsdidaktisch konkretisiert und noch deutlicher auf die Orthodoxie hin fokussiert.12 In einem eigenen Teil werden vier zentrale Themen und Lernbereiche des Religionsunterrichts im Horizont der Orthodoxie erschlossen: Bibeldidaktik13, ethisches Lernen14, Gender15 und interreligiöses Lernen16.
10 Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, Bielefeld 2021. Vgl. Henrik Simojoki, Im Dazwischen. Zur Liminalität von Religion und Bildung in der postmigrantischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 69 (2017), 26–36. 11 Vgl. Mirjam Schambeck/Henrik Simojoki/Athansios Stogiannidis (Hg.), Auf dem Weg zu einer ökumenischen Religionsdidaktik. Grundlegungen im europäischen Kontext, Freiburg i. Br. 2019. 12 Vgl. Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie. 13 Vgl. Uta Pohl-Patalong, Subjekt und Tradition noch einmal neu denken – Bibeldidaktik in ökumenischer Perspektive, in: Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, Freiburg i. Br. 2022, 207–221. 14 Vgl. Thomas Schlag, Ethisches Lernen und »die feinen Unterschiede« als Themenfeld einer ökumenischen Religionsdidaktik, in: Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, Freiburg i. Br. 2022, 222–238. 15 Vgl. Andrea Lehner-Hartmann, Genderfragen: Ökumenische Spurensuche auf dem Weg in die Zukunft, in: Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, Freiburg i. Br. 2022, 239–254. 16 Vgl. Mevlida Mešanović/Wolfgang Weirer, Interreligiöses Lernen im Kontext ökumenischer Religionsdidaktik – aus interreligiöser Perspektive, in: Simojoki u. a., Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, Freiburg i. Br. 2022, 255–270.
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Der vorliegende Beitrag knüpft daran an, indem er zum einen mit der Theosis-Vorstellung ein anthropologisches Zentralkonzept der orthodoxen Theologie und Frömmigkeit für den Religionsunterricht erkundet. Zum anderen konkretisiert er die postulierte ökumenische und nicht mehr nur konfessionell-kooperative Erarbeitung und didaktische Rahmung der Bildungsgehalte des Religionsunterrichts. Das gemeinsame Christliche wird als Fundament und Zielhorizont der didaktischen Reflexion anerkannt, sodass die unterschied lichen Konfessionen als Ausfaltungen und Konkretisierungen des gemeinsamen Christlichen in den Blick kommen und ihre Besonderheiten im Sinne von Gaben zur Geltung bringen können. Die Pointe der nachfolgenden Auseinandersetzung besteht deshalb darin, dass bei aller Unterschiedenheit in der Akzentsetzung Theosis kein Thema lediglich des orthodoxen Religionsunterrichts ist, sondern auch im evangelischen und katholischen Religionsunterricht einen festen Platz haben sollte. Denn auch wenn ein orthodoxer Religionsunterricht mittlerweile in fünf Bundesländern eingerichtet worden ist,17 besucht die überwiegende Mehrheit der orthodoxen Schüler:innen (sofern sie nicht am Ethikunterricht teilnehmen) das Fachangebot einer der beiden anderen Konfessionen. Von besonderer Tragweite ist diese Perspektive für den für Niedersachsen angestrebten gemeinsam verantworteten Christlichen Religionsunterricht. Ohne dass das eröffnende Positionspapier den Prozess der Fachentwicklung hinreichend erkennen lässt,18 markiert dieser Vorstoß für orthodoxe Schüler:innen potenziell einen Zugewinn an Inklusivität: Während sie bislang mit Gaststatus am evangelischen und katholischen Religionsunterricht teilnehmen, stünde ihnen nun der Weg zu einem Fach offen, dem sie sich von der Bezeichnung her zugehörig fühlen können. Allerdings setzt dies voraus, dass der Christliche Religionsunterricht entsprechend ökumenisch gestaltet wird – unter Mitwirkung der Orthodoxie, die den Implementierungsprozess mittlerweile mit einem eigenen Beirat begleitet.19
17 Vgl. Marina Kiroudi, Orthodoxer Religionsunterricht in Deutschland. Geschichte, Rahmenbedingungen, Perspektiven (Eastern Church Identities 6), Paderborn 2021. 18 Vgl. Gemeinsam verantworteter christlicher Religionsunterricht. Ein Positionspapier der Schulreferentinnen und Schulreferenten der evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer in Niedersachsen, 2021, https://www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/christlicherRU/ cru (Zugriff am 20.11.2022). 19 Vgl. Mirjam Schambeck/Henrik Simojoki/Yauheniya Danilovich, Religionsunterricht und Orthodoxie – Horizonteinschreibungen in eine ökumenische Religionsdidaktik, in: Henrik Simojoki/Yauheniya Danilovich/Mirjam Schambeck/Athanasios Stogiannidis (Hg.), Religionsunterricht im Horizont der Orthodoxie, 367–385, hier 377–380.
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Für die Aufgabe der inhaltlichen Repräsentation kommt der Lehrplanentwicklung eine entscheidende Bedeutung zu, bei der darauf zu achten ist, dass Bildungsgehalte der orthodoxen Tradition hinreichend deutlich eingezeichnet werden. Worum es hier geht: Unter diesen Voraussetzungen ist Theosis kein orthodoxes Sonderthema mehr, sondern ein wichtiger Gegenstand gemeinsamen Lernens von Schüler:innen aus unterschiedlichen christlichen Konfessionsfamilien. Da die orthodoxe Perspektive auf den Theosis-Gedanken nach wie vor die weniger bekannte Lesart ist, das Theologumenon der Gottebenbildlichkeit auszudeuten, werden im Folgenden markante Konturierungen dieses theologischen Konzepts erläutert (3. und 4.), bevor abschließend über die Erschließung der Kreuzikone des San-Damiano-Kreuzes ein Beispiel formuliert wird, wie der Theosis-Gedanke im Horizont einer ökumenischen Religionsdidaktik zur Geltung kommt, die konfessionelle Perspektiven nicht nur aufnimmt, sondern am Beispiel von Überlappungsphänomenen bewusst verschränkt (5.).
3D er Mensch als Ikone Gottes? – oder: Warum es lohnt, Grundgedanken aus der Orthodoxie in ökumenisch-didaktischer Perspektive sichtbar zu machen I Der Theosis-Gedanke ist das zentrale Konzept in der Orthodoxie, die Gottebenbildlichkeit auszudeuten. Insofern werden im Folgenden zunächst wichtige Konturen des Verständnisses von Gottebenbildlichkeit in der Orthodoxie beleuchtet, bevor in einem weiteren Schritt danach gefragt wird, wie der Zuspruch und Anspruch der Gottebenbildlichkeit im konkreten Leben der Menschen aktualisiert werden kann (4.). Zu den zentralen Grundlinien der biblischen Anthropologie gehört die Aussage über den Menschen als Gottes Ebenbild mit dem Verweis auf Gen 1,26–27. So prägend und so zentral die Aussage über die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der Genesis für die christliche Anthropologie ist, so bleibt sie dennoch einer Definition entzogen. Vladimir Lossky verweist darauf, dass das Denken der Väter vermieden habe, die Gottebenbildlichkeit auf einen Teil des menschlichen Wesens zu beschränken. Die Definitionen seien vielmehr vielzählig und mannigfaltig.20 Die Gottebenbildlichkeit bezieht sich auf den ganzen Menschen, inklusive des Leibes. 20 Vgl. Vladimir Lossky, Betrachtungen über die mystische Theologie der Ostkirche, Münster 2009, 135.
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Diese Universalität, die dem Konzept der Gottebenbildlichkeit in Bezug auf den einzelnen Menschen in seiner Vieldimensionalität innewohnt, besteht auch in Bezug auf die Gesamtheit der Menschen. Die orthodoxe Anthropologie unterstreicht, dass ausnahmslos jeder Mensch das Bild Gottes in sich trägt. Die Gottebenbildlichkeit ist unzerstörbar in jedem Menschen vorhanden. Lossky begründet diese Unzerstörbarkeit damit, dass der Mensch als ein persönliches Wesen geschaffen worden ist, das einem persönlichen Gott gegenübersteht: »Gott wendet sich an ihn als eine Person, und der Mensch antwortet ihm. […] Als persönliches Wesen kann der Mensch den Willen Gottes annehmen oder abweisen. Er bleibt eine Person, selbst wenn er sich noch so weit von Gott entfernt und ihm durch seine Natur unähnlich wird: Das heißt, daß das Bild Gottes im Menschen unzerstörbar ist. Er bleibt auch ein persönliches Wesen, wenn er den Willen Gottes erfüllt, wenn er zur vollkommenen Ähnlichkeit seiner Natur mit ihm gelangt.«21 Jeder Mensch ist eine Ikone Gottes. In der orthodoxen Anthropologie geht die Rede von der Ebenbildlichkeit immer in Verbindung mit der Rede von der Gottähnlichkeit einher. Nach Lossky besitzt der Mensch seine Natur auf freie Weise, weil er eine, »nach dem Abbild Gottes geschaffene Person ist«22. Der Mensch kann also Gott ähnlich oder unähnlich werden. Dieser Gedanke wird von Dumitru Staniloae pneumatologisch spezifiziert: Das Wesen des Menschen sei durch den empfangenen Geist Gott ähnlich. Der Mensch empfange ihn, weil er seinem Wesen nach dazu befähigt sei, da Gott selbst den Menschen die bewusste Verbindung mit sich ermögliche.23 Den Hauch Gottes (Odem) versteht Staniloae nicht als die Einpflanzung eines biologischen Lebens, sondern als die Fähigkeit, Gott zu erfassen und mit ihm in Gemeinschaft zu treten.24 Die Gottebenbildlichkeit besteht also in der ontologischen Struktur des Menschen, die darauf abzielt, nach einer Vereinigung mit Gott, nach einer Vereinigung mit der höchsten Gemeinschaft, nämlich derjenigen der göttlichen Personen, sowie nach der Gemeinschaft mit Menschen zu streben. Eine Ähn-
21 Ebd., 144 f. 22 Ebd., 145. 23 Vgl. Dumitru Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, Bd. 1, Zürich; Einsiedeln; Köln; Gütersloh 1985, 354. 24 Vgl. ebd., 355.
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lichkeit besteht also in der Aktivierung dieser Struktur.25 »Darin, daß er Ebenbild ist, liegt auf dem Menschen der göttliche Auftrag, unbedingt nach der Vergöttlichung zu streben«26, so Staniloae. Mit dem Verweis auf Johannes Damaskenos schreibt Lossky, »dass der Mensch ›sich vergöttlichend‹, nach der Vereinigung mit Gott strebend, geschaffen wurde. Die Vollkommenheit der Urnatur drück[e] sich vor allem in dieser Fähigkeit aus, mit Gott eins zu sein, mehr und mehr mit der Fülle Gottes verwachsen zu sein, die die geschaffene Natur durchdringen und verklären sollte.«27 Die Person ist zur Vereinigung mit Gott, zur vollkommenen Angleichung ihrer Natur mit der göttlichen Natur durch Gnade berufen, was in der orthodoxen Theologie mit dem Begriff Vergöttlichung (Θεωσις) bezeichnet wird. Das Ebenbild strebt nach dem Ähnlichwerden Gottes bzw. nach der Vergöttlichung. »Diese maximale Vereinigung mit Gott, das Durchdrungenwerden des Menschen von Gottes Fülle, ohne in ihr aufzugehen, bedeutet zugleich Vergöttlichung des Menschen. Mit Blick auf sie ist dem Menschen die Ebenbildlichkeit mit Gott gegeben, als dessen Streben in Richtung auf sein absolutes Urbild. In ihr findet das Ebenbild seine Erfüllung, indem es Gott in maximaler Weise ähnlich wird.«28 Die Vergöttlichung aktualisiert die Gottebenbildlichkeit des Menschen in einer besonderen Weise. Bei Athansios Stogiannidis wird dies im Sinne der Gnadenlehre expliziert, die in seiner religionspädagogisch geleiteten Auslegung als »naturhaftes Verhältnis mit dem Menschen« im Sinne einer Vereinigung mit der göttlichen »Energie« konzeptualisiert wird.29 Auch wenn die orthodoxe wie die römisch-katholische Theologie die transformative Kraft der göttlichen Gnade stärker akzentuiert als beispielsweise die lutherische Tradition, für die auch der erneuerte Mensch stets in Sünde verstrickt bleibt (simul iustus et peccator), sollte dieser Unterschied nicht zu einem 25 26 27 28 29
Vgl. ebd., 370 f. Ebd., 359. Lossky, Betrachtungen, 146 f. Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, 359. Athanasios Stogiannidis, Leben und Denken. Bildungstheorien zwischen Theosis und Rechtfertigung. Eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen Evangelischer und Orthodoxer Religionspädagogik, Münster u. a. 2003, 385.
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Gegensatz hochstilisiert werden. Denn der Denkfigur der Theosis sind Grenzen zu eigen, die unter anthropologischen Vorzeichen besonders deutlich zutage treten: Der Mensch ist aufgrund seines Geschaffenseins nicht in der Lage, das Wesen Gottes zu schauen. Hier gilt die Prämisse einer radikalen Unerkennbarkeit Gottes. Zugleich wird in der orthodoxen Theologie zwischen dem Wesen Gottes und seinen unerschaffenen Energien unterschieden.30 Der Mensch erkennt Gott durch seine Energien, also durch seine Wirkung; synonym wird hier auch der Begriff der Gnade verwendet. Die Energien sind jedoch nicht vom Wesen Gottes getrennt, sondern sie bezeichnen »eine Existenzweise der Dreieinigkeit außerhalb ihrer unnahbaren Wesenheit«31. Insofern kann auch in diesem Fall von Gotteserkenntnis gesprochen werden, denn Gott ist in seinen Energien nicht weniger als in seinem Wesen präsent. Folglich bedeuten das Erkennen und die Teilhabe durch die Energien das Erkennen von Gott und die Teilhabe an Gott. Die Gottebenbildlichkeit wird auch als Teilhabe an der Heiligen Dreieinigkeit und an den unerschaffenen Energien des Heiligen Geistes bzw. als aktive Gemeinschaft mit Gott durch die Gnade beschrieben.32
4 Das Heilige den Heiligen? – oder: Warum es lohnt, Grundgedanken aus der Orthodoxie in ökumenisch-didaktischer Perspektive sichtbar zu machen II So sehr die Theosis also unterstreicht, dass jeder Mensch in allem, was ihn ausmacht, und alle Menschen, unabhängig von irgendwelchen Zuordnungen wie Geschlecht, Ethnie o. Ä. gottesfähig sind, so stellt sich nach wie vor die Frage, wie die Gottfähigkeit und Gottebenbildlichkeit im Leben eingelöst werden können. Oder, in orthodoxer Terminologie gesprochen, wie der Mensch den Weg des Gottähnlichwerdens gehen kann. Die liturgische Praxis, wie sie in der Orthodoxie gepflegt wird, gibt dazu wichtige Hinweise: In der Göttlichen Liturgie ruft der Priester kurz vor dem Empfang der heiligen Kommunion aus: »Das Heilige den Heiligen«33. Was ist mit einem solchen Aufruf gemeint? 30 31 32 33
Vgl. Lossky, Betrachtungen, 86. Ebd., 90. Vgl. Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, 354. Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD) (Hg.), Die Göttliche Liturgie unseres heiligen Vaters Johannes Chrysostomus, München 2017, 40.
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Die menschliche Natur ist durch die Sünde verfinstert. Sie kennt nicht mehr das wahrhaft Gute und strebt meist danach, was »gegen die Natur« ist. »Was in uns nach dem Abbild Gottes ist, wird so in den Abgrund hineingezogen, behält aber die Freiheit, Gott zu wählen, sich von Neuem ihm zuzuwenden.«34 Das Abbild Gottes im Menschen ermöglicht die Gottähnlichkeit, garantiert sie aber nicht. Lossky betont, dass die Person von der Natur des Menschen nicht getrennt existiere und umgekehrt die Natur des Menschen nicht abstrakt ohne Person gedacht werden könne. Zugleich bezieht sich das Bild Gottes im Menschen nicht auf einen Teil von ihm, sondern auf den gesamten Menschen. Somit »wird jede Unvollkommenheit, jede ›Unähnlichkeit‹ der Natur die Person einschränken und das ›Bild Gottes‹ verdunkeln«, so Lossky.35 Das Bild Gottes ist also nicht zerstörbar, aber durch die (Gottes-)Unähnlichkeit kann es verdunkelt werden. Der Aufruf »Das Heilige den Heiligen« ist also sicherlich nicht als eine Feststellung eines sündenlosen Zustandes derjenigen gemeint, die an der Eucharistie partizipieren wollen oder gar als eine Voraussetzung zur Teilhabe an den Göttlichen Mysterien formuliert. Denn vor der Kommunion kommt das Gebet, in dem die Gläubigen um die Vergebung der Sünden bitten. Der Mensch bleibt also nach wie vor ein Sünder: »Ich glaube, Herr, und bekenne, dass Du in Wahrheit der Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, deren erster ich bin.« Es folgt eine Bitte um die Vergebung der Sünden und darum, den Menschen würdig zu machen, die Kommunion zu empfangen: »und würdige mich, unverurteilt an Deinen allreinen Mysterien teilzuhaben zur Vergebung der Sünden und zum ewigen Leben«.36 Hier wird die Synergiedenkweise in der orthodoxen Tradition deutlich: Es ist immer ein Aufeinander-Zugehen von Mensch und Gott. Der Mensch macht einen Schritt auf Gott zu und bekennt seine Heilsbedürftigkeit. Gott macht den Menschen würdig, er heilt ihn. So steckt im Menschen eine unvorstellbare Ambivalenz: »Gerade in seiner Größe, in seiner Möglichkeit, vergöttlicht zu werden, ist der Mensch zugleich fähig, zu fallen.«37 Auf den Ausruf »Das Heilige den Heiligen« antwortet die Gemeinde: »Einer ist heilig, einer der Herr, Jesus Christus, zur Verherrlichung Gottes des Vaters. Amen.«38 Die Quelle allen Heils ist Gott, der Menschgewordene in Jesus Christus. In Christus sehen wir nicht nur die wahre Ikone Gottes, sondern auch das 34 35 36 37 38
Lossky, Betrachtungen, 146. Ebd., 145. Die Göttliche Liturgie, 41. Lossky, zit. nach Staniloae, Orthodoxe Dogmatik, 374. Die Göttliche Liturgie, 40.
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wahre Bild des (vergöttlichten) Menschen: In einem liturgischen Hymnus zum Fest »Triumph der Orthodoxie«, bei dem an die Wiedereinführung der Bilderverehrung im neunten Jahrhundert gedacht wird, finden wir folgende Aussage: »Das unumschreibbare Wort des Vaters hat durch Seine Fleischwerdung aus Dir, Gottesgebärerin, Sich Selbst umschrieben. Und indem Es das befleckte Bild in seiner Urgestalt wieder herstellte, durchdrang Es dieses mit göttlicher Schönheit. Bekennend aber die Erlösung, bilden wir dies ab in Werk und Wort.«39 Mit den Ikonen wird die Vergöttlichung anschaulicher. Die Ikone eines:einer Heiligen stellt den Menschen in seinem vergöttlichten Zustand dar. Dieser Zustand ist im Leben des Menschen nicht optisch sichtbar. Auf den Ikonen jedoch verwendet man verschiedene Ausdrucksmittel, um darauf hinzuweisen, z. B. einen Nimbus. Auffällig ist, dass sich die Heiligen auf einer Ikone zunächst einander und schließlich Christus ähneln. Hier hilft der christologische Schlüssel weiter: Die Ikonen der Heiligen weisen auf die wahre Quelle ihrer Heiligkeit hin. Denn den Ursprung ihrer Heiligkeit haben sie nicht in sich selbst, sondern in Gott, in Jesus Christus. Zugleich wird die Individualität einer bzw. eines jeden Heiligen sichtbar gemacht. Der Mensch in seiner Individualität löst sich im Göttlichen nicht auf: Es bleiben immer noch die heilige Nino von Georgien, die heilige Xenia von Sankt-Petersburg oder die heilige Euphrosyne von Polazk. An einzelnen Elementen, die einen Bezug zum jeweiligen Leben aufweisen, bleibt die Person erkennbar. Die Ikonen zeigen dabei kein unerreichbares Idealbild, sondern sind ein Zeugnis dafür, dass die Vergöttlichung für jeden Menschen möglich ist. Im ersten Schulbuch für den orthodoxen Religionsunterricht »Mit Christus unterwegs« heißt es am Ende des Kapitels, das den Heiligen gewidmet ist: »Wie Christus, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch euer ganzes Leben heilig werden.«40 Die Perspektive der »Vergöttlichung« (Θεωσις) des Menschen ist also für die orthodoxe Anthropologie bestimmend.41 Demnach wurde der Mensch »nach der Vereinigung mit Gott strebend« erschaffen.42 Die Vergöttlichung wird allgemein als Teilhabe an Gottes Gütern aufgefasst und kann in Anlehnung an 39 Zit. nach Léonide Ouspensky/Vladimir Lossky, Der Sinn der Ikonen, Bern/Olten 1952, 31. 40 Kerstin Keller/Marina Kiroudi/Radomir Kolundzic/Constantin Miron/Zinovia Pantazidou/ Nikolaj Thon, Mit Christus unterwegs 1/2: Das orthodoxe Schulbuch, München 2016, 106. 41 Vgl. Anton C. Vrame, An Overview of Orthodox Christian Religious Education, in: Marian de Souza/Gloria Durka/Kathleen Engebretson/Robert Jackson/Andrew McGrady (Hg.), Inter� national Handbook of the Religious, Moral and Spiritual Dimensions in Education, Berlin 2006, 277–292, hier 287: »Finally, Orthodox Christians are called by God to be transformed into God-like beings, living and knowing as God intends to live. We call this theosis, deification, or divinization.« 42 Lossky, Betrachtungen, 146.
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2 Petr 1,4 (»dass ihr dadurch teilhaftig werdet der göttlichen Natur«) beschrieben werden. Diese Teilhabe setzt die Zusammenwirkung (συνεργία) menschlicher Anstrengungen mit Gottes Gnade voraus. Dem freien Willen des Menschen kommt in der orthodoxen Theologie eine wichtige Rolle zu: »Als persönliches Wesen kann der Mensch den Willen Gottes annehmen oder abweisen. […] Mag also der Mensch das Gute oder das Böse wählen, mag er Gott ähnlich oder unähnlich werden, er besitzt seine Natur auf freie Weise, weil er eine nach dem Abbild Gottes geschaffene Person ist.«43
5 Die Ikone des San-Damiano-Kreuzes – oder: Warum ökumenische »Crossover-Phänomene« in einer ökumenischen Religionsdidaktik besonders ertragreich sind Wie unter 3. und 4. schon erläutert, findet der Theosis-Gedanke einen hervorragenden visuellen und haptischen Ausdruck in den Ikonen. Sie sind zwar streng stilisiert, dennoch ist jede Ikone unverwechselbar. Die Universalität der Gottähnlichkeit aller Menschen wird in ihnen genauso ausgedrückt wie die Unvertretbarkeit jeder und jedes Einzelnen, die sie und er vor Gott haben. Auch wenn Bilder in vielen kulturellen und religiösen Kontexten eine Rolle spielen, so sind sie entscheidend mit der orthodoxen Tradition verbunden. Im Folgenden wird die Auseinandersetzung mit der Ikone des sogenannten San-Damiano-Kreuzes als Weg vorgeschlagen, den Theosis-Gedanken im vielstimmigen Konzert der unterschiedlichen christlichen Konfessionen zugänglich zu machen. Verortet in der franziskanischen Spiritualität und der byzantinischen Tradition entstammend ist es nicht mehr einfach ein katholisches oder orthodoxes »Bild«. Es ist im Laufe der Zeit zu einem »Crossover-Phänomen« geworden, das viele Menschen, auch nichtchristliche, anspricht, zum Verweilen einlädt und ins Nachdenken bringt.
43 Ebd., 144 f.
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Abb. 1: Ikone des San-Damiano-Kreuzes, Bild privat
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Was der Mensch ist, wozu er unterwegs ist und was ihn ausmacht – also die Grundfragen einer theologischen Anthropologie –, werden in dieser Kreuzikone auf einfache und zugleich dichteste Weise zusammengeführt und gedeutet. Dass sowohl die Gottebenbildlichkeit und Gotteswürde des Menschen ernst genommen als auch der Gekreuzigt-Auferweckte als Weg vorgeschlagen werden, diese Zusage an den Menschen immer mehr einzulösen, wird nicht dogmatisch erklärt, sondern sinnenfällig angeboten. Im Schauen auf die Ikone sind die Betrachter:innen eingeladen, sich immer mehr hineinverwandeln zu lassen in die Klarheit und das Ausgestrecktsein des Christus nach oben und zur Seite. In der franziskanischen Tradition spielt diese Ikone deshalb eine so große Rolle, weil sie mit einem entscheidenden Wendepunkt auf dem Weg des Franz von Assisi (1182–1226) verbunden ist.44 Franziskus, dessen Vater über den Tuchhandel reich geworden war, kehrt als gebrochener junger Mann aus dem Krieg mit der Nachbarstadt Perugia zurück. Die früheren Träume, Ritter zu werden und auf der Karriereleiter nach ganz oben zu steigen, verfangen nicht mehr. In Franziskus ist es leer geworden und er streift durch die Ebene vor seiner Vaterstadt Assisi, um nicht gänzlich an seiner Unruhe zu ersticken. Im selben Jahr, 1205, als Franziskus seine erste Bekehrung in der Begegnung mit einem Aussätzigen erlebt, verortet die franziskanische Tradition auch die Begebenheit, die mit dem San-Damiano-Kreuz verbunden ist. Franziskus soll auf seinen Streifzügen durch die Gegend in die halbzerfallene Kirche eingetreten sein und sich durch den Blick auf die Kreuzikone von Christus selbst angesprochen gewusst haben. »Franziskus, geh’ und baue meine Kirche wieder auf, die ganz zu zerfallen droht.«45 Wer Franziskus werden und was ihn ausmachen könnte, wird nicht von gesellschaftlichen oder kirchlichen Konventionen her formuliert, sondern in dieser Anrede des Gekreuzigt-Auferweckten von oben und sozusagen von Angesicht zu Angesicht deutlich. Es ist eine Aufforderung an ihn – ganz klar; aber auch eine, die nicht verhängt wird wie ein Verdikt, sondern auf Antwort ausgelegt ist. Es liegt an Franziskus, darauf zu reagieren oder eben nicht, und auch, zu entscheiden, auf welche Weise er antworten will. Die franziskanische Tradition spielt mit dieser Offenheit, wenn sie erzählt, dass Franziskus den Auftrag 44 Vgl. Martina Kreidler-Kos/Niklaus Kuster, Christus auf Augenhöhe. Das Kreuz von San Damiano, Kevelaer 2009; Volker Leppin, Franziskus von Assisi, Darmstadt 2018; Mirjam Schambeck, Nach Gott fragen zwischen Dunkel und Licht (Franziskanische Akzente 1), Würzburg 2014, 43–45. 45 Die Dreigefährtenlegende des heiligen Franz von Assisi und der Anonymus Perusinus (Franziskanische Schriften 8), Werl 1993, Kap. V., Abs. 13, 96.
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zunächst wörtlich verstanden hat. Er fängt an, zerfallene Kirchen in der Ebene Assisis zu restaurieren: San Damiano und weitere Kirchen, darunter auch Portiunkula. Erst allmählich versteht er, dass das Christuswort tiefer gemeint ist und ihn auffordert, die Kirche allgemein zu reformieren. Dass dies eine von der franziskanischen Tradition im Nachhinein vorgenommene Legitimierung der franziskanischen Bewegung einerseits und ihres reformatorisch-emanzipatorischen Impulses andererseits gewesen ist, liegt nahe. Trotzdem transportiert diese Szenerie und dessen Versinnbildung in der Ikone des San-Damiano-Kreuzes auch darüber hinaus die an den Menschen gerichtete Frage, wer er sein will, was von ihm bleiben soll, wohin er unterwegs und was es wert ist, seinen Blick auf sich zu ziehen. Die Ikone schlägt die Gestalt des Christus als Orientierungs- und Fluchtpunkt vor. Sie zwingt die Betrachter:innen aber nicht, sich diese Perspektive zu eigen zu machen, sondern bietet sie vielmehr an – in aller Freiheit, angesichts einer Vielfalt von Möglichkeiten und auf Antwort wartend. Deutet man diese Ikone vor dem Hintergrund der Biografie des Franz von Assisi, der als reicher und karrieresüchtiger junger Mann in einer tiefen Sinnkrise war, als ihm die Begegnung mit dem Gekreuzigten des San-DamianoKreuzes zugeschrieben wird, können auch im Religionsunterricht anthropologisch grundlegende Einsichten daran angekoppelt werden: dass der Mensch mehr ist als das Haben und Raffen, dass der Mensch nicht erst dann jemand ist, wenn er auf der Karriereleiter oben angekommen ist, dass das in Christus gestaltgewordene Du Gottes Franziskus einen Freiheitsradius eröffnet, den er vorher nicht kannte, und schließlich: dass die Arme Gottes weit ausgestreckt sind, offen für die Betrachter:innen, und es an ihnen liegt, ob und wie sie auf diese Einladung reagieren wollen. Das Kreuz von San Damiano mit den Erzählungen, die daran angelagert sind, versinnbildet diese anthropologischen Grundfragen und formuliert zugleich durch die Zentrierung auf den Gekreuzigt-Auferweckten und die vielen Gestalten rund um ihn ein Deuteangebot. Insofern es aus der byzantinischen Tradition stammt und zugleich in der franziskanischen Spiritualität eine herausragende Rolle spielt, baut es von sich aus Brücken über Konfessionsgrenzen hinweg. Dass die Theosis als Einladung, sich der eigenen Gottwürde bewusst zu werden und sie auch im Leben konkret werden zu lassen, in der Ikone Gestalt gefunden haben, ohne diese deklaratorisch zu verordnen oder apodiktisch und autoritär vorzugeben, macht sie auch in spätmodernen Kontexten interessant. Die essenzialistische Versuchung einer theologischen Anthropologie, die über den historischen Entstehungskontext der Theosis-Idee im zweiten bis siebten Jahrhundert n. Chr. mitschwingt, kann so entschärft werden.
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Jedenfalls könnten Lernprozesse über die Thematisierung dieser Kreuzesikone von vornherein das gemeinsame Christliche in den Blick rücken, von dem aus die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der konfessionellen Stile zwar bewusst, aber nicht einander ausschließend thematisiert wird.46 Gerade an solchen interkonfessionellen Crossover-Phänomenen wird greifbar, dass sich konfessionsgebundene Perspektiven in Bezug auf die Frage nach dem Menschen bereits in der Geschichte vielfältig wechselseitig beeinflusst und inspiriert haben. Eine ökumenische Religionsdidaktik erwächst aus dem Impuls heraus, ihnen dies auch heute zuzutrauen. Dr. Yauheniya Danilovich ist Akademische Rätin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Mirjam Schambeck sf ist Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Henrik Simojoki ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
46 Vgl. Schambeck/Simojoki/Danilovich, Religionsunterricht und Orthodoxie, 367–374, 380– 383.
Interdisziplinäre Perspektiven
Gottebenbildlichkeit im Kontext biblischer Anthropologie und ihre gegenwärtige Orientierungskraft Andreas Wagner
1 Die Gottebenbildlichkeit im Alten Testament (AT) 1.1 Die Rede von der Gottebenbildlichkeit (imago dei) des Menschen ist weit verbreitet und soger vielen nicht in der christlichen Religion beheimateten Menschen geläufig.1 Sie gehört zu den Musterbeispielen von Vorstellungen, die zwar von der Bibel ihren Ausgang nehmen, an die sich aber viele, teils abseitige, Vorstellungen anlagern. Um nur ein frappierendes Beispiel anzuführen: Im Text der Bachkantate BWV 119, »Preise, Jerusalem, den Herrn« findet sich die erstaunliche Wendung: »Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild«.2 Die Beziehung der Gottebenbildlichkeit auf die Obrigkeit hat nichts mit dem Gottebenbildlichkeitskonzept des Alten Testaments zu tun. Gadamer folgend können wir Wirkungsgeschichte nicht von den Texten trennen, sie entfaltet immer Teile des Sinnpotenzials der Ausgangstexte.3 Aber was aus den Texten bzw. mit ihnen gemacht wurde, sollte unterschieden bleiben von den Aussagen der Texte selbst. Ein Schritt zurück zu den Texten kann manchmal regelrecht befreiend wirken, und häufig blicken wir heute gelassener, zum Teil auch mit mehr Kenntnissen und Erkenntnissen ausgestattet als frühere Zeiten, auf biblische Texte und deren Auslegungen zurück und staunen, was daraus alles geworden ist.
1
Nicht zuletzt in der aktuellen Menschenwürdediskussion ist die Gottebenbildlichkeitsvorstellung sehr präsent, vgl. etwa Claudia Welz (Hg.), Ethics of in-visibility. Imago dei, memory, and human dignity in Jewish and Christian thought (Religion in philosophy and theology 77), Tübingen 2015. 2 Nils Holger Petersen, Art. Image of God IX. Music, in: Dale C. Allison/Christine Helmer/Steven L. McKenzie/Thomas Römer/Jens Schröter/Choon-Leong Seow/Barry Dov Walfish/Eric Ziolkowski (Hg.), Encyclopedia of the Bible and its Reception, Bd. 12, Boston 2016, 910–912, hier 911. 3 Vgl. Detlev Diekmann von Bünau, Art. Wirkungsgeschichte (2007), in: WiBiLex https://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/43327/ (Zugriff am 03.12.2022).
Gottebenbildlichkeit
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1.2 Der Bezugsrahmen der Gottebenbildlichkeit im AT ist die Priesterschrift (P).4 Wir greifen hier einen Konsens, was die Zugehörigkeit der Texte über die Gottebenbildlichkeit anbelangt: Die Belege, die hebräisch mit der Kombination von ṣælæm und demût ausgedrückt wird, kommen in Gen 5,1, 9,6 und bes. Gen 1,26– 27 vor und gehören alle zu P.5 P ist einer der wesentlichen Bausteine des Pentateuchs. Diese Zuweisung ermöglicht uns, die Gottebenbildlichkeit konzeptuell im Rahmen der Theologie und Anthropologie von P zu verstehen und auszulegen. Eine konträre Position im Vergleich zu P wäre die viel pessimistischere Anthropologie der Nicht-P (früher »Jahwist«) -Urgeschichte.6 P ist in ihren grundlegenden Teilen (PG) von der Exilserfahrung geprägt.7 587 v. Chr. war das Südreich als das letzte der beiden israelitischen Königreiche erobert, Jerusalem und der Tempel waren zerstört und die Oberschicht Judas ins babylonische Exil verbracht worden. Dort im Exil, jedenfalls mit einiger Wahrscheinlichkeit8, ist P entstanden, am Ende des Exils oder in frühnachexilischer Zeit. P hat nach der Erfahrung des untergegangenen Königtums, nach dem Wirken der für Jahwe eifernden Unheilsprophetie des achten und siebten Jahrhunderts v. Chr., nach der deuteronomischen Bewegung und kurz nach oder noch zeitgleich mit Deuterojesaja einen Gesamtentwurf der Geschichte Gottes mit seinem Volk geschaffen, von der Schöpfung bis zum Tod Mose. In diesem Entwurf wurden Grundaussagen zum Ausdruck gebracht, die die künftige Existenzform »Israels« als ʿedāh, Gemeinde, prägen und leiten sollen. Der Entwurf dieser neuen ʿedāh geschieht in Form einer Geschichtsdarstellung – nicht, um zu sagen, wie es gewesen ist, sondern um den Adressaten von P über Grundwesenheiten des Gott-Mensch-Verhältnisses und des GottWelt-Verhältnisses Orientierung zu geben und diese Beziehungen mit Blick auf die Zukunft zu gestalten. Im Rückblick auf die Geschichte offenbart sich für P die Zukunft. 4
5 6 7 8
Vgl. Andreas Wagner, Göttliche Präsenz im menschlichen »Bild«? Implikationen der Ebenbildlichkeitsvorstellung der Priesterschrift, in: Georgiana Huian/Beatrice Wyss/Rainer HirschLuipold (Hg.), Der Mensch als Bild des unergründlichen Gottes. Von der Theologie zur Anthropologie und zurück, Berlin (i. E.), 1.2 in Anlehnung an Abschnitt 1. Zu P bes. in der Urgeschichte vgl. Jan-Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11 (ATD 1), Göttingen 2018, 10–18; zur älteren Diskussion vgl. Horst Seebass, Genesis I. Urgeschichte (1,1–11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 14–36. Vgl. Andreas Wagner, Die Unfähigkeit des Menschen zur Vervollkommnung als anthropologische Grundkategorie von Nicht-P in Gen 6–8, in: Paragrana 30 (2021), 137–149. In späterer Zeit traten Ergänzungen zu PG hinzu (als PS zusammengefasst). Aus dem Exil würde sich die Betonung von Sabbat und Beschneidung durch PG als Identitymarker für eine neue religiöse Identität gut erklären.
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Andreas Wagner
Drei wichtige Aspekte des Gotteskonzepts von P seien hier hervorgehoben: Im Schöpfungstext von P tritt uns eine Welt vor Augen, die von Gott geschaffen, aber gleichzeitig von Gott getrennt ist. Der Raum der Welt zwischen rāqîa’, der Himmelsfeste, und der Erdscheibe ist der Lebensraum von Pflanzen, Tieren und Menschen. Es gibt dabei nur die irdische, geschaffene Welt, die keine weiteren göttlichen Größen zwischen der Welt und Gott kennt. Wie bei (dem zeitgleichen) Deuterojesaja ist bei P von einem monotheistischen Gottesbild auszugehen. Gott selbst steht also der Welt gegenüber bzw. hat nach P außerhalb der Welt seinen Platz.9 Gott wird allerdings die Möglichkeit zugesprochen, den Menschen in der Welt nah zu sein. Nach der Schöpfung aller Menschen wendet sich Gott insbesondere Israel zu (den Vätern als El Schaddaj, den Israeliten in Ägypten als Jahwe, vgl. Ex 610). Im in Israel etablierten Kult besteht nach P die Möglichkeit, Jahwes Kabod (»Herrlichkeit«) immer wieder zu erfahren (Lev 9,23–24).11 Das Einwirken Gottes in die Welt wäre bei P an der Geschichtsdarstellung weiterzuverfolgen. Wie die Fluterzählung (P) oder die Exoduserzählung (P) zeigen, geht P von der Geschichtsmächtigkeit Gottes aus.
2 Die Gottebenbildlichkeit und das Verhältnis von Mensch und Gott 2.1 Gen 1,26–28 als Kernstelle für die Gottebenbildlichkeit12
26 Dann sprach Gott (Elohim): Wir wollen (einen) ʾādām/(eine Menschheit) machen als etwas wie unser ṣælæm und entsprechend unserer demût. 9 Vgl. Konrad Schmid, Altes Testament, in: Konrad Schmid (Hg.), Schöpfung (Themen der Theologie 4), Tübingen 2012, 71–120, hier 89. 10 Vgl. Anja A. Diesel, »Ich bin Jahwe«. Der Aufstieg der Ich-bin-Jahwe-Aussage zum Schlüsselwort des alttestamentlichen Monotheismus (WMANT 110), Neukirchen-Vluyn 2006, 95–118. 11 Vgl. Ursula Struppe, Die Herrlichkeit Jahwes in der Priesterschrift (ÖBS 9), Klosterneuburg 1988; Thomas Podella, Das Lichtkleid JHWHS. Untersuchungen zur Gestalthaftigkeit Gottes im Alten Testament und seiner altorientalischen Umwelt (FAT 15), Tübingen 1996. 12 Für 2.1 und 2.2 vgl. Andreas Wagner, Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Menschengestaltigkeit Gottes, Gütersloh 2010, 167–181; ders., Menschenverständnis und Gottesverständnis im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2017 passim; ders., God’s Body. The Anthropomorphic God in the Old Testament, London u. a. 2019, 145–157; ders., Göttliche Präsenz im menschlichen »Bild«?, bes. Abschn. 2.
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Und sie [die Menschen] sollen »treten auf/über« (= herrschen über) Ȥ die Fischbrut des Meeres Ȥ und die Vögel des Himmels Ȥ und das Vieh Ȥ und die ganze Erde Ȥ und alles Kriechgetier, das auf der Erde kriecht. 27 Und da schuf (brʾ) Gott (Elohim) den Menschen als etwas wie seinen ṣælæm, als etwas wie seinen ṣælæm hat er ihn erschaffen (brʾ), männlich und weiblich hat er sie (pl.) erschaffen. 28 Und Gott (Elohim) segnete sie und Gott (Elohim) sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und werdet viele und füllt die Erde an und »bekommt unter eure Füsse«/»tretet nieder« (= übt Macht aus über) und »tretet« auf/über (= herrscht über) Ȥ die Fischbrut des Meeres Ȥ und die Vögel des Himmels Ȥ und alles Lebendige, das auf der Erde wimmelt. In der Urgeschichte redet P von Gott mit dem Nomen appellativum »Elohim«; das Nomen proprium »Jahwe« als selbstkundgegebener Eigenname Gottes verwendet P erst in und nach Ex 6.13 Dadurch wird von P zum Ausdruck gebracht, dass es in den Texten vor den Vätern um das Schicksal der ganzen Welt geht, wohingegen in der Nachväterzeit besonders auf Israel (im Gegenüber zu Jahwe) geblickt wird. Im universalen Konzept der Urgeschichte wird von Elohim nun also die Menschheit (᾿ādām) geschaffen.14 Es geht P dabei um die grundlegendste Fassung der Gottesbeziehung in Form von Schöpfungsaussagen, und zwar der Gottesbeziehung aller Menschen zu dem einen Schöpfer. In weiteren Aussagen des Schöpfungstextes werden die Qualität der Mensch-Gott-Beziehung (Ebenbildlichkeit, Segen usw.) wie die Menschheit selbst (männlich und weiblich) 13 Vgl. Diesel, »Ich bin Jahwe«, 95–118. 14 Die auffällige Pluralformulierung hebt die Menschenschöpfung unter den Schöpfungswerken hervor. Beim Pluralis Gottes in V.26 gehe ich von einem Pluralis Majestatis aus, vgl. John C. Beckman, Pluralis Majestatis: Biblical Hebrew, in: Khan, Geoffrey/Shmuel Bolozky/Steven E. Fassberg/Gary A. Rendsburg/Aaron D. Rubin/Ora R. Schwarzwald/Tamar Zewi (Hg.), Encyclopedia of Hebrew Language and Linguistics, Bd. 3. Leiden/Boston 2013, 145–146; anders Gertz, Das erste Buch Mose, 61.
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näher bestimmt, und der Menschheit wird eine Grundaufgabe gegeben (u. a. der Herrschaftsauftrag): Ȥ Die Menschheit soll zu Gott im Verhältnis von ṣælæm und demût stehen, Ȥ die Menschheit soll auf die geschaffenen Lebewesen und die ganze Erde »treten«, will sagen, in einer bestimmten Weise über sie herrschen,15 Ȥ die Menschheit wird geschaffen »männlich und weiblich«, in dieser geschlechtlichen Scheidung und in ihrer Kollektivität ist sie insgesamt ein »Gegenüber« Gottes. 2.2 Die Schlüsselbegriffe der Gottebenbildlichkeit: ṣælæm und demût
2.2.1 ṣælæm. Dieses Leitwort bezieht sich auf handwerklich gemachte, dreidimensionale Bilder, Artefakte in verschiedener materialer Ausführung (mit Abbildungsfunktion).16 Umschrieben ist damit ein Kult- und Repräsentations»Bild«, in der Regel eine Statue, wie wir es aus dem ganzen Alten Orient kennen. »Statuen« als Stellvertretungsbilder kommen sowohl im Bereich der Repräsentationen von Göttern wie auch von Königen vor.17 Die Bezugnahme von P auf diese »Statuenbilder« ist in der exegetischen Diskussion unbestritten. Viel schwieriger ist es, den Bezug genau auszuleuchten. Der Entwurf des Schöpfungstextes von P ist höchst eigenständig. Die Konzeption von P ist dabei nicht von einzelnen, klar bestimmbaren Texten oder Motivzusammenhängen oder Vorstellungen bzw. Traditionen der Nachbarn abhängig: »Vers für Vers zeigt er [der Schöpfungstext von P] seine enge Verbindung mit den […] Vorstellungen des alten Vorderen Orients, wobei es sich weniger um die Rezeption identifizierbarer Einzeltexte handelt als um die Teilhabe an einem breiten Traditionsstrom.«18 An welche Bezüge P bei der Bildvorstellung im Einzelnen anknüpft, ist daher nicht einfach zu sagen. 15 Vgl. Andreas Wagner, Verkörpertes Herrschen. Zum Gebrauch von »treten«/»herrschen« in Gen 1, 26–28, in: Andreas Wagner, Menschenverständnis und Gottesverständnis, Göttingen 2017, 199–214. 16 Vgl. Bernd Janowski, Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. Festschrift für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Bd. 1 (BZAW 345), Berlin/New York 2004, 183–214; ders., Anthropologie des Alten Testaments. Tübingen 2019, 409–410; Wagner, God’s body 2019, 151–153. 17 Vgl. Johannes Renger, Art. »Kultbild«. A. Philologisch, in: Reallexikon der Assyriologie (RAL). Bd. 6, Dietz-Otto Edzard (Hg.), Berlin/New York 1983, 306–315; Angelika Berlejung, Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bildpolemik (OBO 162), Fribourg/Göttingen 1998, passim; Wagner, God’s body, 9–19 und 151–153. 18 Gertz, Das erste Buch Mose, 77.
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Auch ist die »Bildsituation« in der altorientalischen/ägyptischen Umwelt in sich »geschichtet«, schon dort gibt es Übertragungsprozesse: In Ägypten kann der Pharao, von dem es »königliche« Repräsentationsbilder gibt, selbst und gleichzeitig als Statue, als »Bild« Gottes gesehen werden (s. u.). Im Akkadischen kann mit demselben Wort ṣalmu sowohl der König in seiner Statuenfunktion (gegenüber der Bezugsgröße eines Gottes bzw. einer Göttin, s. u.) wie auch das Kultbild bezeichnet werden, das die Statue einer Gottheit im Tempel darstellt.19 Statue und Bezugsgröße (also ein Gott bzw. eine Göttin, ein König/Pharao) haben eine enge Beziehung zueinander, in der die Statue die Bezugsgröße repräsentiert. Indem P in Gen 1,26 die Menschheit (ādām) als ṣælæm versteht, überträgt sie die Repräsentations- bzw. Kultbildvorstellung auf den Menschen bzw. die Menschheit insgesamt: Wie das Repräsentationsbild als Statue – nach ao./ägyptischer Vorstellung – Gott, Göttin oder König repräsentiert (oder der Pharao seinerseits »Bild« Gottes ist), so repräsentiert die Menschheit – nach der Vorstellung von P – Gott. Der Mensch steht in der Welt an Gottes Statt. Der Sinn dieses Übertragungsvorganges durch P wird darin gesehen, dass die Menschheit an Gottes Statt die ihr zugedachten Aufgaben in der Welt übernehmen kann. Es ist dabei festzuhalten, dass es eine enge Beziehung zwischen Mensch und Gott gibt, die keinerlei Vermittlungsinstanz benötigt, und dass diese Beziehung zwischen Gott und jedem Menschen (᾿ādām als Kollektivbezeichnung20) besteht: Jeder Mensch, alle, die als Menschenperson männlichen und weiblichen Anteil an der Menschheit haben, ist Stellvertretungsperson Gottes, wie Vers 27 zeigt; es gibt in dieser Hinsicht keine weiteren Unterschiede oder Abstufungen unter den Menschen. Weil im Schöpfungstext von P alsdann die Aufgaben der Menschheit in der Welt beschrieben und vor allem mit dem »Herrschen« verbunden werden, liegt es nahe, besonders nach den Vorstellungen von Herrschern (Pharao, König) als Statue/Bild eines Gottes zu fragen. In etlichen ägyptischen und akkadischen Texten findet sich dieser Konnex, hier nur zwei exemplarische Auszüge:21
19 Vgl. Renger, Art. »Kultbild«, 307. 20 Vgl. Gen 5,3 (Stammbaumeinleitung), wo vorausgesetzt wird, dass die Gottebenbildlichkeit von Generation zu Generation (genetisch) weitergegeben wird und damit alle (!) Menschen im sukzessive entstehenden Kollektiv durch die Gottebenbildlichkeit bestimmt sind. 21 Für Syrien–Palästina ist auf einen einschlägigen Beleg vom Text der Statue von Tell Fecherije hinzuweisen; vgl. Otto Kaiser/Bernd Janowski/Gernot Wilhelm/Daniel Schwemer (Hg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments (TUAT). Bd. I, Lief. 6, Gütersloh 1985, 632–637.
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Rede des Sonnengottes zum König:22 Dieses Land (sc. Ägypten) habe ich in seiner Länge und Breite geschaffen, […] du beherrschst es[, …] du bewirtschaftest es für mich aus liebendem Herzen, denn du bist mein geliebter Sohn, der aus meinem Leib hervorgegangen ist, mein Abbild (h̲ntj), das ich auf Erden gestellt habe. Aus einem Brief des Beschwörungspriesters Adad-šumu-usur an Assurbanipal:23 [Der] König, der Herr der Länder, die Statue/Bild des [Gottes] Šamaš (ist) er Da bei P der Repräsentationsbild-Bildgedanke allen Menschen zugesprochen wird, und da der Bildgedanke wie beim König/Pharao mit dem »Herrschen« verbunden ist, spricht man in neuerer Forschung häufig von einer »Royalisierung« des/der Menschen bei P: Was in Ägypten und Mesopotamien eine königlich-royale Eigenschaft ist, kommt bei P allen Menschen zu.24 2.2.2 demût. Die Abstraktbildung demût wurde vom Verbum dmh (gleichen) abgeleitet. Dem Sinn des Verbes entsprechend weist die Abstraktbildung demût auf die Tatsache des Gleichens »und unterstreicht [die] Entsprechung zum Vorbild« (vgl. 2. Kön 16,10).25 2.2.3. Die beiden Teile des Doppelausdrucks ṣælæm und demût bilden einen Merismus, von zwei Teilen her wird ein Ganzes ausgedrückt; P entfaltet so den Anspruch auf ein die Totalität der Existenz, des Seins, des Sinns und der Aufgabe umfassendes Menschenkonzept.26
22 Text und Übersetzung nach Boya Ockinga, Die Gottebenbildlichkeit im Alten Ägypten und im Alten Testament (ÄAT 7), Wiesbaden 1984, 21–22. 23 Text und Übersetzung nach Andreas Angerstorfer, Ebenbild eines Gottes in babylonischen und assyrischen Keilschrifttexten, in: Biblische Notizen 88 (1997), 47–58, hier 50–51. 24 Zur Royalisierung siehe Janowski, Statue, 193; vgl. Ernst-Joachim Waschke, Zur Bedeutung der Königsideologie für die Gottesebenbildlichkeit, in: Andreas Wagner (Hg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche Menschenkonzepte und anthropologische Positionen und Methoden (FRLANT 232), Göttingen 2009, 235–254. 25 Ernst Jenni, Art. דמהdmh gleichen, in: Theologisch Handwörterbuch zum Alten Testament I (31984), 452; zur Gott-Mensch-Entsprechung vgl. Wagner, Gottes Körper, passim. 26 Vgl. Wagner, Gottes Körper, 176–177.
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2.2.4. »Aus alldem ergibt sich, dass nach Gen 1,26 f. der Mensch, männlich und weiblich, als eine lebendige Statue Gottes erschaffen worden ist, die ihn in ihrer äußerlichen Gestalt und in ihrem Wesen repräsentiert.«27 Mit dem letzten Punkt, dem Wesen, ist ein unschärferer Begriff im Spiel als bei Gestalt;28 Wesen will das oben Beschriebene so zusammenfassen, dass in der Repräsentation vergleichbare Eigenschaften, Charakterzüge, Möglichkeiten und Aufgaben von Gott und Mensch erfasst sind. Vergleichbare, nicht gleiche! Die Menschheit ist nicht Gott, diese Grenze wird eingehalten, aber die Menschheit repräsentiert Gott. Dem Menschen ist nur möglich, was menschlich möglich ist, die Gott vorbehaltenen Eigenschaften wie »Allmächtigkeit« sind hier außen vor, aber andere Aspekte wie Sinn für Gerechtigkeit, Möglichkeit und Intentionalität zum Handeln, Kommunikation, Bindungs-/Beziehungsorientierung, Verantwortung usw. prägen den Repräsentierten wie auch die Repräsentanten.
3Z ur gegenwärtigen Orientierungskraft der Gottebenbildlichkeit des Menschen 3.1 Wir stehen heute mitten in ökologischen Katstrophenszenarien, die die Wahrnehmung von Welt, Mensch und Lebewesen verändern. Nicht zuletzt Tiere sind als die nächsten Verwandten des Menschen vielfach in den Fokus der Jetztzeit gerückt, im Raum der Theologie etwa unter dem Stichwort »Theologische Zoologie«29. Verstärkt das Konzept von P, in dem P dem Menschen in und mit seiner Gottebenbildlichkeit eine Sonderstellung in der Schöpfung zuspricht, nicht den Abstand zu anderen Teilen der Schöpfung, von Tieren bis zum ganzen Lebensraum der Welt? Die Gefahr besteht. Sie ist bei P aufgehoben in der Verantwortungsaufgabe, die der Menschheit zugesprochen wird; herrschen
27 Gertz, Das erste Buch Mose, 77. 28 Außerdem durchdringen sich Gestalt, Körperteile und »Wesen« nach dem »synthetischen Prinzip« des AO und AT, vgl. Katrin Müller, Andreas Wagner (Hg.), Synthetische Körperauffassung im Hebräischen und den Sprachen der Nachbarkulturen (AOAT 416), Münster 2014, passim. 29 Das Institut für Zoologische Theologie (Münster) zu seiner Aufgabe in Wissenschaft und Forschung: »Die Zeit ist reif, die Ebenbürtigkeit der Tiere auch theologisch zu würdigen. Daher erarbeitet das ITZ ergänzend zur theologischen Anthropologie eine theologische Zoologie. […] Es gilt, Tiere als unsere Mitgeschöpfe zu respektieren und ihren Eigenwert zu erkennen!« Institut für Zoologische Theologie, Wissenschaft und Forschung, Interdisziplinäre und interreligiöse Erforschung des Mensch-Tier-Verhältnisses, https://www.theologische-zoologie.de/ schwerpunkte/wissenschaft-forschung (Zugriff am 19.05.2023).
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bedeutet wie beim König, die Verantwortung und die Fürsorge für die Welt zu übernehmen. Es bedeutet nicht hemmungslose Ausbeutung der Schöpfung. Dieses Missverständnis hat sich leider in der Auslegung des »Herrschaftsauftrages« allzu häufig ergeben,30 ist aber nicht alttestamentlich-biblisch. Schon die LXX verwendet in Gen 1,26.28 das Abstraktum ἄρχω (herrschen) statt des hebräischen treten auf (herrschen)31 und akzentuiert damit anders. Wenn der für P noch sehr präsente Bezug auf das am König orientierte richtige Herrschen (vgl. das Königsgesetz Dtn 17,14–20) verloren geht, dann gerät damit auch das positive Herrschaftsverständnis aus dem Blick. Vor allem von der frühen Neuzeit an (Bacon, Descartes) wurde dann der Herrschaftsauftrag von Gen 1,26.28 im Rahmen eines neuen Naturverständnisses auf die Beherrschung und Ausbeutung der Natur bezogen.32 3.2 Die zuvor beschriebene Hervorhebung der besonderen Qualität aller Menschen (ʾādām), die in der Schöpfungserzählung ausgedrückt und durch den Ebenbildgedanken unterstrichen ist, dient nicht der Abwertung der Schöpfung, der Welt, der Tiere, dem sonstigen belebten und unbelebten Seienden. Sie hebt vielmehr eine besondere Qualität des Menschen hervor: Allein der Mensch hat eine vorgegebene Beziehung, die ihn und nur ihn in ein außergewöhnliches Verhältnis zu Gott setzt.33 Nur der Mensch kann reflektiert von sich sagen: Ich bin Gott-nah/Gott nahe (oder vielleicht sogar gottbeseelt, wenn ich die næfæš als Ausdruck der Repräsentationsbeziehung zwischen Gott und Mensch verstehe). Die Annahmen über Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier, die in der heutigen anthropologischen Diskussion immer wieder aufkommen, kennt P nicht. P denkt die Hervorhebung des ʾādām durch die Gottebenbildlichkeit positiv für die Menschen, nicht abwertend für die Tiere. Auf dieser positiven Sicht beruht nach P unser religiöses Existieren: Nur die Menschen, keine anderen Teile der Schöpfung, sind »Repräsentationsbilder« Gottes. Die Repräsentationsbeziehung drückt die Möglichkeit zum gegenseitigen Verstehen, Kommunizieren und Handeln zwischen Gott und Menschen aus.34 Tiere, Pflanzen und die 30 Vgl. Simone Rappel, Macht euch die Erde untertan. Die ökologische Krise als Folge des Christentums? Abhandlungen zur Sozialethik, Paderborn 1996; Philipp Blom, Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur, München 2022, siehe auch das unter Abschn. 1.1 angeführte Beispiel. 31 Vgl. Wagner, Verkörpertes Herrschen. 32 Vgl. Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik. Berlin/New York 1995, 249–250. 33 Diese Beobachtung ist gerade deshalb wichtig, weil bei P in der Fluterzählung auch die Tiere Anteil am Bösen haben; aber die besondere Ebenbildbeziehung besteht nur zwischen Gott und Mensch. 34 Vgl. Wagner, Gottes Körper, 155–158.
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unbelebte Natur haben einen anderen Ort, eine andere Funktion in der Schöpfung. Wir können ohne diese anderen Schöpfungsteile nicht leben, sie sind nach P geschaffen als Bestandteile der Welt für den Menschen. Der Mensch allein aber hat die Aufgabe der Fürsorge für alle diese weiteren Aspekte der Schöpfung. Keine Frage, dass von hier aus der Weg zu vielen Formen des Engagements für den Erhalt der Schöpfung führt, insbesondere heute, wo wir Gefährdungen der Schöpfung so gut erkannt haben wie kaum eine Generation zuvor. P geht bei der Fürsorgepflicht der Menschen für die Welt von der Möglichkeit des Gelingens dieser Aufgabe aus und bleibt damit in einer hellen und optimistischen Menschensicht, deren Grundlage die ebenbildliche Gottesbeziehung ist. Nach dem Erzählfortgang von P in Gen 5 wird klar, dass diese Qualität von Generation zu Generation weitergegeben wird und auf immer für den Menschen erhalten bleibt (s. Anm. 20). Dieser positive Ton in der biblischen Anthropologie, seine aufbauende und resilienzsteigernde Wirkung, sollte auch heute nicht überhört werden. Nun ist P zwar die literarische Grundlage für den Pentateuch geworden, aber in den Pentateuch bzw. das AT sind weitere Stimmen zur Anthropologie neben P eingegangen. Es gehört zu den größten Leistungen der Texttradierenden des AT, dass sie diese Positionen nicht vereinseitigt haben. Das AT balanciert daher mit Blick auf Grundeinschätzungen des Menschen die wesentlich pessimistischere Sicht von Nicht-P und die von P aus, indem beide Traditionen im Spiel bleiben; am dramatischsten geschieht das durch das Nebeneinander von P und Nicht-P in der Fluterzählung. Die Orientierungskraft dieser Art von Traditionsbildung zu zeigen, wäre allerdings ein neues Thema. 3.3 Mit der an Gen 5 anschließenden Bemerkung ist auf eine weitere, bis heute bedeutsame Facette des Gottebenbildlichkeitsgedanken zu verweisen: Alle Menschen sind auf Dauer – um es mit modernen Worten zu sagen: ontogenetisch wie phylogenetisch – Ebenbilder Gottes mit einer unzerstörbaren Gottesbeziehung. Vielleicht tritt diese Gottesbeziehung im Kollektiv oder im Individuum nicht immer zutage, aber nach Anschauung von P ist sie immer und überall möglich, das ganze Leben lang. Nach P fordert Gott nicht eine immerwährende laut-aggressive Zuwendung zu diesem Faktum. Der Mensch kann in seiner Gottebenbildlichkeit auch schlummern oder die Gottebenbildlichkeit in ihm. Auch durch Passivitätsphasen verliert sich die Gottebenbildlichkeit nicht.35 Sie gehört zu den gottgewollten und gottgeschenkten unverlierbaren Grundeigenschaften der Menschheit. 35 Vgl. Wagner, Göttliche Präsenz, Abschn. 3.
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An dieser Stelle ist es wichtig, zu beachten, dass die Gottebenbildlichkeitsaussage von P in die Urgeschichte platziert ist, in der es um das Schicksal aller Menschen bzw. des Menschen schlechthin geht.36 Will sagen: Über die Möglichkeit der Gottesbeziehung aufgrund des in jedem (!) menschlichen Individuum (!) liegenden »Repräsentationsprinzips« verfügen alle Menschen aller Zeiten während aller Phasen ihrer individuellen Biografie. Sich daran zu erinnern, ist in Zeiten von Traditionsabbruch, Gleichgültigkeit oder Nichtkenntnis biblischer Tradition, biblischer Gottes- und Glaubenskonzeption wichtig, weil es an die jederzeit gegebene Möglichkeit erinnert, wiederaufnehmend, erstmalig, erneuernd oder fortführend eine Gottesbeziehung zu gestalten. Nach P sind alle Menschen daraufhin angelegt: »Wir sind so!« P steht dabei, wie schon angedeutet, kein aggressives Einfordern dieser Möglichkeit zur Gottesbeziehung vor Augen. Die Aufgabe der ’edāh, die P als »bekennende Ebenbild-Gemeinschaft« versteht, lässt sich am ehesten so beschreiben, dass sich in dieser Gemeinschaft durch Leben und (fürsorgendes) Handeln, durch Vollziehen des Kultes und Ablegen von Zeugenschaft (durch Beschneidung und Halten der Tora) die gottgegebenen Möglichkeiten des Menschen entfalten lassen. Wohl spielt bei all dem auch der Erhalt des Wissens über diese Fragen in Form der literarisch bzw. schriftlich fixierten Tradition eine Rolle, die in der Form der (gelesenen und ausgelegten) Verlebendigung wiederum Teil des Kultes sein kann. Neben dem Entwurf von P finden sich im AT andere Neuaufbrüche und Retroperspektiven aus dem Exil bzw. nach dem Ende des Exils (Deuterojesaja, Ezechiel, Esra/Nehemia u. a. m.). Der Entwurf von P (wie die Position aller anderen alttestamentlichen Fundamentalperspektiven) wurde in Einzelzügen mit der Zeit erweitert und ergänzt; Zeitgebundenes trat in späteren Zeiten deutlicher hervor, wurde verändert, zum Teil durch Neukombination mit anderen Traditionen oder durch Texteinträge redaktionell nachgedeutet und einem Reframing unterzogen. Am Gottesbild ergaben sich Änderungen, ebenso sind andere Zeugen- und Bekenntnisformen hinzugetreten. Das Neue Testament hat etwa die Beschneidung als sichtbares Zugehörigkeitszeichen für das Christentum nicht übernommen, aber trotzdem die Tradition von P mit dem Konzept der Gottebenbildlichkeit (Jak 3,9 u. a.), dem Gedanken der Schöpfung und der für alle Menschen möglichen Gottesbeziehung fortgeführt. Wesentliche Elemente der Grundkonzeption von P erweisen sich also in der Fortwirkung über die Zeiten hinweg als tragfähig. Der in und mit P (und Deuterojesaja u. a.) erreichte 36 Der Fokus wird in P erst mit und nach der Moseerzählung auf Israel gelegt und dort nicht auf das Volk, sondern die ’edāh!
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Religionstypus der monotheistischen Bekenntnisreligion bleibt bis in alle Spielarten des Judentums wie des Christentums erhalten und prägt drüber hinaus auch den Islam.37 Mit der Zuspielung des Gedankens, dass wir, wenn wir an die Zeit und Zeitverläufe denken, nicht weiter zurückkommen als zur Schöpfung, mit der Zuspielung des Gedankens, dass in dem Moment, in dem ich Teil der Bekenntnis gemeinschaft werde, mich zugehörig erkläre/fühle oder mich der Zugehörigkeit erinnere, mir die Welt zur Schöpfung wird und ich als Geschöpf zum Ebenbild werde, kommt der bis heute geltende Anspruch von P zum Tragen. 3.4 Mit der Ebenbildlichkeitsvorstellung wird akzentuiert, dass der Mensch, von der Schöpfung her, gottgewollt und unverdient in diese Beziehung/Beziehungsmöglichkeit kommt, dass also die Gabe der Gottebenbildlichkeit Gnade und Geschenk ist, die allerdings Verpflichtungen und Aufgaben mit sich bringt. Die Gottesbeziehung auf Grundlage der Gottebenbildlichkeit muss ausgestaltet, gepflegt und bearbeitet werden – darauf weist vor allem der Erzählkontext der Urgeschichte in P, wo z. B. in der Fluterzählung in dem gerechten und frommen (und toratreuen) Noah die Aufgaben fokussiert sind, die die Menschheit nach der Flut hat. Ebenso wäre der weitere Fortgang der Moseerzählung hier anzuführen. 3.5 Unerwartet ist vielleicht der letzte Grundgedanke, der allerdings doch größtmögliche Orientierungskraft besitzt: Mehrmals habe ich hervorgehoben, dass Gott als Repräsentationsebenbild auf menschlicher Seite ʾādām gegenübersteht. Dieser die Individuen einschließende Kollektivbegriff weist im Kerngefüge des Gottebenbildlichkeitskonzepts nicht nur auf die Gott gegenüberliegende Seite der Menschen, sondern er eröffnet verrückt aktuelle Einsichten über sie: Von dem Gottebenbildlichkeitsgedanken ist nichts und niemand ausgenommen. Alle Menschen sind gleichermaßen Ebenbilder Gottes. Explizit genannt werden die biologischen Grundkategorien »männlich« und »weiblich« (Gen 1,27), aber ebenso ist die Gottebenbildlichkeit unabhängig von jeder Form von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Gesundheit, Krankheit, Beeinträchtigung, Alter und weiteren gesellschaftlichen Strukturkategorien. Es ist eine radikale Form der Gleichheit aller Menschen, der Inklusivität, die hier in dem zweieinhalb Jahrtausende alten Text aufscheint.
37 Vgl. in diesem ganzen Zusammenhang Andreas Wagner, Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments (BZAW 364), Berlin/New York 2006.
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Welche emanzipatorische Kraft steckt in diesem Gedanken, wenn wir uns vorstellen, eine menschliche Gesellschaft und Gemeinschaft wirklich von dieser Gleichheit her zu entwerfen, zu leben und zu gestalten! Die Menschen zu ihren Entwicklungen kommen zu lassen, ohne sie immer wieder auf ihre Unterschiede festzulegen! Alle in ihrer jeweiligen Gottebenbildlichkeit zu achten! Wie wollten wir etwa jemanden aus dieser ebenbildgleichen Gemeinschaft der Verschiedenen ausnehmen? Wem wollten wir den Segen nicht zukommen lassen? Dr. Andreas Wagner ist ordentlicher Professor für Altes Testament und Direktor des Institutes für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern (CH).
Theologische Anthropologie im evangelisch-katholischen Gespräch Bertram Stubenrauch und Martin Hailer
1E ckdaten zur theologischen Anthropologie aus römisch-katholischer Sicht (Bertram Stubenrauch) Ökumene bedeutet, damit das Bemühen um gegenseitiges Verständnis glaubwürdig bleibt, dass konfessionelle Profile erkannt und gewürdigt werden. Viele Themen weisen kaum noch Differenzen auf, andere hingegen tun das nach wie vor. Dazu gehört die Frage nach dem Menschen. Welche Antworten die römisch-katholische Sicht bereithält und welche theologische Mentalität darin liegt, zeigt der folgende Überblick. Er erreicht sein Ziel allerdings in dem Maß, als es gelingt, Zustimmung oder Widerspruch aus der Perspektive anderer Konfessionen hervorzurufen. 1.1 Grundansatz: Menschsein im Licht der Christusnachfolge
Das römisch-katholisch gefärbte Bild vom Menschen ist vor dem Hintergrund der Erlösungsgewissheit ganz von Jesus Christus her belichtet – in dem das Idealbild menschlicher Existenz vor Gott historische Realität geworden ist. Hinsichtlich der Verbindung gläubiger Individuen zu Jesus spielt das Pneuma, Gottes Geist, eine entscheidende Rolle: Das Pneuma hilft, nach Paulus etwa oder dem Johannesevangelium, Leben und Lehre Jesu so zu erinnern, dass sich daran das Bekenntnis zu ihm als dem »Herrn« entzündet.1 Aber der Gottesgeist bietet keine bloße Information zugunsten einer Weltanschauung, sondern erfüllt die Herzen der Gläubigen, die er für die Christusnachfolge zurüstet. Von daher steht aus katholischer Perspektive fest: Selbster lösung oder Werkgerechtigkeit (die Meinung, durch religiöse Tüchtigkeit Gott begehbar zu machen) gibt es nicht. Erwählt vom Vater, berührt durch den Sohn und ermächtigt durch den Geist, wächst der Mensch über sich hinaus, sofern er sich vom Glauben erfassen und leiten lässt. Das Pneuma schenkt, was zur Christusnachfolge befähigt: Glaube, Hoffnung und Liebe.
1
Vgl. 1 Kor 12,3. Joh 16,13–15 u. ö.
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Von daher wird noch einmal sichtbar, dass Erlösung nicht bedeutet, mehr zu wissen oder Neues zu denken. Es geht vielmehr darum, etwas zu sein und auf dieser Grundlage etwas zu werden – ein Mensch nach Jesu Maßstab im Vertrauen auf dessen österliche Gegenwart und Schöpferkraft. Katholische Gläubigkeit setzt also auf die erlösungsbedingte Entwicklungs- und Wandlungsf ähigkeit des Menschen, weiß aber auch um das Auf und Ab jedes Lebensweges, für den Sünde und Tod nach wie vor eine Bedrohung darstellen. Bei alledem kommt der persönlichen Freiheit des Individuums unersetzbare Bedeutung zu. Christusnachfolge lässt sich intensivieren, aber auch verleugnen. Deshalb bleibt die tägliche Lebensführung der Getauften – übrigens immer im Bezugsrahmen des Gottesvolkes, also der Kirche – ein nicht zu vernachlässigender Faktor im katholischen Menschenbild: Ich empfange die Gnade allein von Gott; durch meine Zustimmung aber, durch meine Treue zu den göttlichen Geboten, vor allem aber auf der Basis meiner Christusbeziehung gestaltet mich die Gnade um. Sie lässt bei mir nichts auf sich beruhen. Gnade – das ist katholisch gesehen die nicht erzwingbare, aber biblisch und kirchlich verlässlich verkündete Zuwendung Gottes, die für mein Menschsein Konsequenzen hat: in den Gnadengaben, die gleichsam sehr vielfältig und sehr persönlich wirkende Kraftfelder geistlicher Erfahrung und Ausstrahlung sind. Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, sei bereits an dieser Stelle auf einen Aspekt der biblischen Lehre von der menschlichen Gottebenbildlichkeit verwiesen, und zwar nach der Interpretation des griechisch schreibenden Kirchenvaters Irenäus von Lyon († um 200 n. Chr.): Er unterscheidet gemäß Gen 1,26 zwischen der Ebenbildlichkeit des Menschen vor Gott und der Ähnlichkeit mit ihm. Gottes Ebenbild zu sein, ist ein Geschenk des Schöpfers – an jeden Menschen, ohne Ausnahme und in je gleicher Weise. Die Ähnlichkeit mit Gott aber stellt sich in dem Maß ein, als ein Mensch aus der Dynamik des Heiligen Geistes durch Gottsuche oder Christusnachfolge spirituell und sittlich wächst.2 Hier kann es beträchtliche persönliche Unterschiede geben: Verzögerungen, Verweigerungen, Umwege, Sternstunden. Aus der Hochachtung Gottes herausfallen kann indes niemand und zu keiner Zeit.
2 Vgl. Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien IV,38,1.
Theologische Anthropologie im evangelisch-katholischen Gespräch
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1.2 Exemplarische anthropologische Differenzfelder 1.2.1 Gnade und Freiheit
Nach katholischer Auffassung ist der erste Akt der göttlichen Gnade die Schöpfung. Niemand gibt sich selbst das Sein, niemand verfügt über das Sein. Als Geschöpf verdankt sich der Mensch dem Willen und dem Wort Gottes. Nach Thomas von Aquin, dem großen Lehrer mittelalterlicher Theologie, der nach wie vor als ein Klassiker katholischen Denkens gelten darf, verwirklicht ausschließlich Gott das Sein, und zwar durch sich selbst – ens per se ipsum. Das Geschöpf aber, zumal das mit Geist begabte, hat durch Gott Anteil am Sein – ens per participationem.3 Deshalb bedeutet Gnade zunächst einmal: unbedingte Geltung des Geschöpfs. Der Mensch – und mit ihm die Welt – ist etwas vor Gott; der Mensch ist jemand vor ihm. Gott respektiert den Menschen, lässt ihn im Bezug zu sich einen »Anderen« sein. Deshalb genießt die Geschöpflichkeit Freiheit – geschenkte Freiheit, die gerade so unbedingt anerkannte Freiheit ist und sich durch die Gnade Christi im Heiligen Geist ausdrückt. Sie zeigt sich als Freiheit wovon und als Freiheit wozu: Freiheit von schierer Gesetzlichkeit, Freiheit vom Zwang zur Sünde, Freiheit vom Schrecken des Todes. Und zugleich: Freiheit zur aktiven Wahrnehmung der Freiheit selbst, Freiheit zum Guten und zum Leben.4 Gnade und Freiheit bleiben aufeinander bezogen, aber sie konkurrieren nicht, sonst wäre der Mensch für Gott nur wie ein hingeworfener Stein oder Gott für den Menschen nichts als ein Befehlshaber. Denn das ist das Ziel geschenkter, geschöpflicher und erlöster Freiheit: dass sie ganz aus dem Eigenen heraus in den Willen Gottes einstimmt. Der Stifter menschlicher Freiheit ist auch ihr Vollender. Jenseits von Gott würde die geschenkte Freiheit verkümmern. 1.2.2 Gottebenbildlichkeit Davon war im vorherigen Kapitel bereits die Rede, an dieser Stelle sei präzisiert: Aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit ist der Mensch vor Gott als ein DU aus den geschaffenen Realitäten herausgehoben, ohne je von ihnen unabhängig zu werden. Denn nirgendwo anders als in der Welt scheint ebenbildliche Würde auf. »Die Dinge entstehen aus Gottes Befehl; die Person aus seinem Anruf«, formuliert der Religionsphilosoph Romano Guardini.5 In diesem Sinn kann
3 Vgl. Summa theologiae, I, q. 44, a. 1. 4 Vgl. Georg Kraus, Welt und Mensch. Lehrbuch zur Schöpfungslehre (Grundrisse zur Dogmatik 2), Frankfurt a. M. 1997, 462. 5 Romano Guardini, Welt und Person. Versuche zur christlichen Lehre vom Menschen, Würzburg 21940, 114.
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man auch sagen: »Als ›Bild‹ oder ›Figur‹ Gottes ist jedes menschliche Lebewesen ein Geheimnis, ähnlich unbegreiflich wie der unsichtbare Gott selbst«.6 Gottes Ebenbild zu sein, heißt, dialogisch auf Gott bezogen bleiben. Ebenbildlichkeit ist keine höhere oder höchste »Schicht« im biopsychischen Aufbau des Menschen, sehr wohl aber eine Anlage, die ihn durch und durch bestimmt, veredelt und je neu herausfordert. 1.2.3 Sünde und Gewissen
Als ein Wesen der Freiheit, die geschenkt, nicht autonom ist (sonst wäre sie prinzipiell, nicht unbedingt de facto, Quell absoluter individueller Willkür), ist der Mensch zur Sünde fähig, deren Konsequenz Schuld bedeutet. Sünde ist sehr viel mehr als die Missachtung von Geboten. Sie ignoriert, dass Gott einen Anspruch auf sein Geschöpf hat, und führt, wenn sie keine Gegenwehr erfährt, zur charakterlichen Deformation. Sünde ist gewollte und tatbereite Hinneigung zum Bösen trotz besseren Wissens, und sie vergötzt die Welt. Außerdem ist sie ansteckend; da kein Mensch von ihr frei bleibt, spricht die christliche Tradition von der Erbsünde. Dieser Makel wird allerdings nach katholischer Lehre durch Glaube und Taufe vollständig getilgt. Was bleibt, ist die Hinneigung zum Bösen, die sogenannte Begehrlichkeit, welche nicht zur Sünde wird, solange man ihr widersteht.7 So kann der Mensch schon hier und jetzt zur Heiligung finden. Die Richtschnur dafür findet sich in seinem Gewissen. Dazu lehrt das Zweite Vatikanische Konzil: »Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist«.8 1.2.4 Leib und Seele, Tod und ewiges Leben
Der Mensch ist weder reiner Geist noch ein seelenloses biologisches Gewebe. Er ist eben Mensch und damit höchst vielschichtig – auf leiblicher, emotionaler, intellektueller und gesellschaftlicher Ebene. Leib und Seele gehören zusammen, und jedes Ich vollzieht sich materiell und geistig zugleich, wobei die katho lische Tradition auf den Primat des Geistes setzt. Bestätigt und geheiligt ist das Leib-Seele-Wesen Mensch durch die Inkarnation des Wortes, in Jesus Christus also. Sein Vorbild hat das Christentum davor bewahrt, sich weltvergessen in höhere Sphären zu flüchten. Deshalb muss gelten: »Der Weg der Kirche ist der Mensch« (Papst Johannes Paul II.). 6 Helmut Hoping, Gottes Ebenbild. Theologische Anthropologie und säkulare Vernunft, in: Theologische Quartalschrift 185 (2005), 127–149, hier 131. 7 So eine Entscheidung des Konzils von Trient, Dekret über die Ursünde (1546) Nr. 5. 8 Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) Nr. 16.
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Die Einheit von Leib und Seele wird der katholischen Tradition nach durch den Tod gesprengt. Die Geburt des Eigentlichen? Nein, eine Katastrophe, welcher nur durch die Hoffnung auf die Gemeinschaft der Gestorbenen mit dem auferstandenen Christus beizukommen ist. Mit ihm werden sie aufblühen zum ewigen Leben, wobei am Ende der Zeit auch die Geschichte und der Kosmos im vollendeten Gottesreich ihren tiefsten Sinn erfahren. Zur katholischen Tradition gehört die Überzeugung von der Existenz der menschlichen »Seele« als individueller, übernatürlicher Personkern, der bereits im Augenblick des Todes Gott schauen wird. Die Auffassung, wer stirbt, verliere sich bis zum Jüngsten Tag ganz oder schlafe dem Ewigen entgegen, war nie katholisch. 1.2.5 Anthropologie und Ethik: Beispiel Sterbehilfe Aus dem Grundbescheid, dass der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes immer auch eine unhintergehbare Realität vor Gott darstellt und dass zugleich die Hinwendung zu Gott die vornehmste Vollzugsform seiner Freiheit ist, ergeben sich einige Grundlinien ethischen Verhaltens aus katholischer Perspektive. Da ist zunächst die Akzeptanz der eigenen Geschöpflichkeit in ihrer radikalen Begrenztheit. Aber die Endlichkeit schält den Ernst und die Würde des Augenblicks und damit die Kostbarkeit gelebten Lebens heraus, in dem die Liebe zu Gott und zum Nächsten dominieren soll. Damit eng verbunden zeigt sich der Auftrag des Evangeliums, eigenes und fremdes Leben nach Kräften zu fördern und zu bewahren. Das ist freilich nur im Kontext eines weitgehenden gesellschaftlichen Konsenses möglich, auf den es einzuwirken gilt. Leben braucht Lebensräume. Es braucht Wertschätzung, Begleitung und Schutz. Wenn die Kirche in ihrer Geschichte menschliches Leben oft auch relativiert hat (mit Blick auf die Todesstrafe etwa oder die Lehre vom gerechten Krieg), so ist dies ein Zeichen, wie schlecht das Evangelium gelesen werden kann. Die Botschaft, dass Gott sei und Leben bejaht, muss – trotz berechtigter Abwägungen auf der Basis einer philosophisch diskutierten Ethik – der Grundbescheid in konkreten moralischen Streitfragen sein. Beispiel »aktive Sterbehilfe«: Die Bruchlinien in der Argumentation verlaufen entlang des Vorentscheids, ob es den persönlichen Schöpfergott gibt oder nicht; entsprechend unterschiedlich fallen die Urteile aus. In der Regel wird zugunsten freizügiger Lösungen ein Zuwachs an Humanität ins Spiel gebracht; es entspreche der menschlichen Würde, völlig selbstbestimmt über das eigene Ende zu entscheiden. Aber käme das Humanum jetzt und auf die Dauer nicht sehr viel klarer zur Geltung, wenn die Gesellschaft auf die Bereitstellung von Sterbemechanismen verzichtete und stattdessen Einsame, Alte und Sieche entschiedener und
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liebevoller integrieren würde? »Die Hoffnung unheilbar kranker und sterbender Menschen« richtete sich »dann darauf, an der Hand eines Menschen zu sterben, nicht durch die Hand des Arztes getötet zu werden«.9
2 Über das Menschlein. Evangelische Einsichten zur Anthropologie (Martin Hailer) 2.1 Der Anfang: Staunen
»Du unser Herr, wie herrlich ist dein Name in allem Erdreich! […] Wenn ich ansehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du hast gefestest, was ist das Menschlein, daß du sein gedenkst, der Adamssohn, daß du zuordnest ihm!« (Ps 8,2.4–5).10 Die Rede vom Menschen beginnt biblisch mit dem Staunen über ihn. An eine distanzierte Wissenschaft, die den Homo sapiens sapiens beschriebe und zu anderen Spezies in Relation setzte, um das spezifisch Menschliche herauszuarbeiten, ist nicht gedacht. Vielmehr also Staunen über das So-Sein und Sich-so-Vorfinden. Es arbeitet mit der Kontrastfigur zum großen Walten Gottes im Kosmos und – im weiteren Verlauf von Psalm 8 zu finden – mit Verweis auf die besondere Stellung des »Menschleins«, nicht zuletzt mit Blick auf die ihm zugespielte und zugetraute Verantwortlichkeit für anderes und andere. Der Modus dieser Erkenntnis – eben zu staunen und darüber Gott zu rühmen (Ps 8,10) – ist ihr nicht äußerlich. Sie ist beteiligte Erkenntnis, die also auch den Erkennenden miteinschließt und affiziert. 2.2 Woher etwas über den Menschen wissen?
Wohl jede christliche Rede vom Menschen nimmt hier ihren Ausgang und zeigt sich somit als spezifische Nachbarin mit mancherlei Nähen und Fernen zur Philosophie, die nach einer Einsicht aus berufenem Munde ebenso mit dem Staunen beginnt.11 Der evangelische Dialekt der gemeinsamen christlichen Sprache beansprucht hierbei kein besonderes Wissen, geschweige denn »Sonderlehren«. Wo er vernehmlich eigen akzentuiert, geht es darum, etwas zu betonen, das der ganzen Christenheit gehört, aber nach evangelischer Überzeugung besondere Beachtung verdient. 9 Eberhard Schockenhoff, Was heißt menschenwürdig sterben? in: Ulrich Lüke (Hg.), Tod – Ende des Lebens!? (Grenzfragen 38), Freiburg i. Br. 2014, 177–192, hier 192. 10 Übersetzung nach Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die Schrift, Bd. 4, Heidelberg 1977, 16. 11 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 982b, 11–12.
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Und das beginnt bei der Frage, wo mit und nach dem Staunen über Gottes Gedenken an das Menschlein denn nun Wissen vom Menschen eigentlich herkommen könne. Das ist in der evangelischen Theologie selbst strittig. Eine wichtige ihrer Traditionen betont den Anschluss an eine allgemeine Anthropologie, die vor allem philosophisch und gesellschaftswissenschaftlich ausgearbeitet wird. Nach »dem Wesen des Menschen« kann gefragt werden, sagt sie. Der theologische Anschluss besteht dann darin, die Gottoffenheit und/oder auch Angewiesenheit des allgemein beschriebenen Menschenwesens auf Gott aufzuweisen. Das hat mit einiger Wirkung Wolfhart Pannenberg zu zeigen unternommen, der dafür an klassische anthropologische Konzepte wie die von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner anknüpfte.12 Gegen die Möglichkeit einer allgemeinen Lehre vom Menschen sind allerdings gute Gründe namhaft gemacht worden, vor allem der, dass die Frage nach dem Menschen immer perspektivenabhängig ist und deshalb allgemein nicht beantwortet werden kann. Andere Beiträge zur evangelisch-theologischen Anthropologie gehen deswegen nicht den Weg über eine vorgeblich allgemeine Wesensbestimmung, sondern fragen direkt, was Menschsein vor Gott ausmacht. Das schließt direkt an eine reformatorische Einsicht an: In seiner genauso kurzen wie epochemachenden »Disputatio de Homine« von 1536 lobt Luther zwar die philosophische Kenntnis vom Menschen, hält ihr aber vor, nur vom natürlichen Menschen zu wissen und so weder seinen Ursprung noch sein Ziel in den Blick bekommen zu können. Dazu hilft ausschließlich, den Menschen im Rahmen von Gottes Geschichte mit ihm kennenzulernen: Geschöpf Gottes, durch den Fall in Sünde und Tod geraten, durch Christus gerettet, im Glauben gerechtfertigt und auf das unverstellte, herrliche Leben vor und mit Gott zugehend.13 2.3 Exzentrizität: Das Wesentliche über mich nicht aus mir
Menschen existieren nicht aus sich, weil sie Geschöpfe Gottes sind. Und sie existieren nicht in und für sich, vielmehr wird das Beste, das von ihnen gesagt werden kann, zu ihnen gesagt und ihnen zugebracht. Das ist der Kern der evangelisch wichtigen Rede von der Exzentrizität des Menschseins. 12 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. 13 Vgl. Martin Luther, Disputatio de Homine, WA 39/1, 175–177, deutsch z. B. nach Volker Leppin/Dorothea Sattler (Hg.), Ökumenisches Lesebuch Reformation, Leipzig 2017, 159–162. Eine moderne Durchführung dieses Programms bietet David Kelsey, Eccentric Existence. A Theological Anthropology, 2 Bände, Louisville KT 2009, der trinitarisch gliedert und Menschsein als Leben aus und mit Gott Vater, Geist und Sohn versteht.
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Das ist zunächst eine rechtfertigungstheologische Einsicht: Von sich aus sind Menschen nicht in der Lage, ein Gott wohlgefälliges und ihrem Nächsten zuträgliches Leben zu führen. Weil Gott sich aber ihrer erbarmt und ihnen um Christi willen Gerechtigkeit zuspricht, die sie von sich aus nicht haben, geraten sie in eine ihr Leben neu machende Lage. Mit der Diktion der klassischen Rechtfertigungslehre gesprochen: Das Rechtfertigungsurteil »Du bist gerecht« verdienen Menschen nicht, es wird ihnen ungeschuldet zugesprochen (forensischer Aspekt der Rechtfertigung). Wenn dies geschieht, lässt es sie zugleich nicht unverändert: Wer gerecht gesprochen ist, kann mit sich und anderen anders umgehen (effektiver Aspekt der Rechtfertigung). Das Beste, das von einem Menschen gesagt werden kann, wird ihm zugesagt, und christliche Lebenskunst besteht dann wesentlich darin, dem Urteil Gottes über das eigene Leben mehr zuzutrauen als dem eigenen Selbstbild. Christliches Leben geschieht aus Stellvertretung heraus.14 Zugleich ist mit dem Rechtfertigungsurteil stets im Blick, dass Menschen nicht für sich allein leben, sondern auf Gemeinschaft hin geschaffen sind. Die Gemeinschaft der Kirche als der gerechtfertigten Sünder:innen macht das deutlich und hat – jenseits jedes Triumphalismus – auch eine exemplarische Funktion für die, die ihr nicht angehören. Kritisches Licht fällt von hier auf Anthropologien mit selbstbezüglicher Begründungsstrategie, etwa wenn sie die völlige Selbstdurchsichtigkeit und Suffizienz des Selbstbewusstseins lehren, wie es in Teilen des deutschen Idealismus der Fall war, was auch in manchen gegenwärtigen Ansätzen deutlich ist. Im Gegenzug ergeben sich Nähen zum dialogischen Denken: Martin Buber etwa sagt, dass der Mensch am Du zum Ich wird und dass die Ich-Du-Beziehung letztlich eine Ahnung vom ewigen Du Gottes ist.15 Ähnliches gilt für die anspruchsvolle Phänomenologie der Begegnung im Werk von Emmanuel Levinas: Wer meint, das Personsein eines Menschen über Figuren der bewussten Selbsthabe denken zu können, kommt allenfalls bei einem verdinglichenden »Imperialismus des Ich« heraus,16 nicht aber bei der unvordenklichen Möglichkeit, sich vom Anderen her bestimmen und herausrufen zu lassen. Beide jüdischen Denker zeigen enge und teils sehr erfahrungsnahe Parallelen zum Gedanken der exzentrischen Existenz auf, auch wenn sie nicht christlich vereinnahmt werden sollten. 14 Vgl. Martin Hailer, Stellvertretung. Studien zur theologischen Anthropologie, Göttingen 2018, 231–344. 15 Vgl. Martin Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 51984, 32–64 u. ö. 16 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 42011, 286.
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2.4 Gottebenbildlichkeit, Sünde, Gnade
Menschengeschöpfe sind gottebenbildlich, imago Dei. Der Bezug auf Gen 1,26 und die dortige Begrifflichkeit von צלםzäläm und דמותdemuth hat in der theologischen Tradition dazu geführt, zwischen »Gottähnlichkeit« und »Gottebenbildlichkeit« zu unterscheiden. Vom Bibeltext allein sind diese terminologischen Festlegungen freilich nicht gedeckt. Sie haben, konzeptionell aufgeladen, zu kontroverstheologischen Auseinandersetzungen geführt. Die katholische Lehre nimmt die begriffliche Unterscheidung auf und sagt, dass die Gottähnlichkeit (similitudo) durch den Fall verloren ging, die Gottebenbildlichkeit (imago) aber erhalten blieb. Je nach Auslegung wird imago Dei dabei so verstanden, dass Menschen nicht nichts, sondern durchaus etwas zu ihrem heilsamen Stand vor Gott beitragen können.17 Der reformatorische Einspruch ist hier deutlich: Gottebenbildlich sind Menschen, weil und sofern sie in aktueller Gottesbeziehung stehen.18 Die Sünde – Ursünde wie aktuale Tatsünde – hat hingegen die urständliche Gerechtigkeit insgesamt beschädigt und verdunkelt, sodass die Menschen ihrer verlustig gingen. Auch dies ist ein rechtfertigungstheologisches Argument: Durch Christus allein werden Menschen gerecht, nicht aber durch eine als nach dem Sündenfall noch vorhanden gedachte »Gnadenschicht«. Das Beste, das über Menschen ausgesagt werden kann, erschließt sich nicht in der Introspektion, es wird ihnen zugesagt. Ist evangelische Anthropologie damit eine der unfrohen »Sündenmaximalisierungen«? In der Tat betont sie die auch bei prominenten Theologen vor der Reformation – namentlich: Aurelius Augustinus und Anselm von Canterbury – anzutreffende Betonung des Gewichts der Sünde als tiefgreifender Beziehungsstörung zwischen Gott und Mensch. Es wird aber klar gesehen, dass Sünde überhaupt erst von der Gnade her thematisiert werden kann: Weil es Gott gefällt, Menschen nicht in ihr zu belassen, kann ihre Schwere eingesehen und ihre Überwindung erbeten werden.
17 So im Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient, das die Mitwirkung des von Gott erweckten freien Willens an der Zurüstung zum Gnadenempfang feststellt, vgl. Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg 442014, Randnr. 1554. 18 Pointiert bei Gunther Wenz, Der Mensch als Ebenbild Gottes und als Sünder. Wegmarken und Herausforderungen der Anthropologie aus der Sicht der evangelischen Anthropologie, in: Bertram Stubenrauch/Michael Seewald (Hg.), Das Menschenbild der Konfessionen. Achillesferse der Ökumene?, Freiburg 2015, 90–106, 101.
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2.5 Freiheit als Befreitwerden
Entsprechend wird evangelisch auch über das gleichermaßen große wie umstrittene Thema der geschöpflichen Freiheit gedacht. Dass Menschen Freiheit zukommt, ist eine ganz unproblematische Annahme. Freilich muss differenziert werden. Alltägliche, »weltliche« Freiheit ist selbstverständliche Realität, und welche Umfänge sie hat, kann dann problemlos mit beteiligten Disziplinen wie Psychologie und Rechtswissenschaften ermittelt werden. Freiheit vor Gott aber ist wesentlich verdankte, zugespielte Freiheit. Martin Luther betonte in einer bekannt gewordenen Streitschrift, dass die Idee des Menschen als des Wesens, das sich souverän selbst hat und bestimmt, keine gute sei: Auch wer richtig unterwegs ist, ist eben richtig geleitet und richtig bestimmt.19 Das greift den theologischen Grundgedanken auf, dass Freiheit wesentlich Befreitwerden ist und dieses Befreitwerden Gott zum Subjekt hat: So ist wohl Gottes befreiende Tat an seinem Volk Israel durch den Exodus aus Ägypten zu lesen, und auch die weitergehende Geschichte Gottes mit seinem Volk erschließt sich unschwer als Befreiungsgeschichte. Freiheit, als Befreiung verstanden, hat auch eine öffentliche und politische Dimension. Die Gemeinschaft der Kirche bekennt sich dazu, sich in unfreien und ungerechten Strukturen zu befinden, und lobt Gott dafür, dem nicht ausgeliefert zu sein. In politisch prekärer Situation formulierte die Barmer Theologische Erklärung: »Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.«20 Dass der Impuls von Freiheit als Befreitwerden auch in der neueren Philosophie der Freiheit aufgegriffen und sogar mit Rekurs auf den Exodus diskutiert wird, verändert die theologische Begründungslage nicht, kann aber durchaus als Illustration und Bekräftigung dieses Aspekts verstanden werden.21
19 Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 600–787, hier 635. 20 Barmer Theologische Erklärung (1934), These 2, hier nach Alfred Burgsmüller/Rudolf Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation, NeukirchenVluyn 1983, 35. 21 Vgl. Christoph Menke, Theorie der Befreiung, Berlin 2022, 344–462.
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2.6 Leib und Seele
Evangelische Theologie kennt keine verbindliche Dogmatik der Seele im Sinne einer den Tod überdauernden Größe, findet den Begriff aber durchaus sinnvoll. Menschen als Geschöpfe sind unbestreitbar leiblich, aber sie werden durch Bezug auf ihre Körperlichkeit (Materialität) allein nicht zureichend beschrieben. Wo naturalistische Theorien Letzteres behaupten, ist ihnen der theologische Widerspruch gewiss. Wenn Seele nun nicht die todesüberdauernde Substanz ist, was ist sie dann? In der neueren evangelischen Theologie ist vorgeschlagen worden, die Seele als Integral der menschlichen Persönlichkeit zu verstehen. Nach Christof Gestrich ist sie der Prozess, in dem ein Mensch mit sich identisch werden will, Gerhard Sauter spricht von der Seele als geprägter Lebendigkeit.22 In beiden Sprechweisen wird eine falsche Leib-Seele-Dichotomie vermieden und in beiden Sprechweisen wird deutlich, dass Menschen nicht nur Individuen, sondern wesentlich Beziehungswesen sind: so oder so geprägte Lebendigkeit und als Gemeinschaftswesen zum Identischsein unterwegs, welches von uns aus unabschließbar ist, aber von Gott erhofft werden darf. 2.7 Aus den Streitsachen: Ethik des Lebensendes
Schon dieser Kurzüberblick dürfte deutlich gemacht haben, dass die Menge der Themen, in denen die Anthropologie vorkommt, unüberschaubar groß ist. Die wohl prominenteste gegenwärtige Streitsache ist die Frage des Lebensendes und ob nach der bejahenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom F ebruar 2020 der assistierte Suizid auch ethisch nachvollziehbar oder gar geraten ist. Es gibt evangelische Positionen, die dem zustimmen und in begründeten Fällen Suizidassistenz in Einrichtungen der Diakonie für richtig halten. Ihr Hauptargument ist die Würde der Person und die Achtung vor der Eigenverantwortung des Einzelnen.23 (Ebenfalls evangelische) Gegenstimmen geben zu bedenken, dass der Todeswunsch eines schwer leidenden Menschen gewiss zu achten ist, dass im Vollzug des assistierten Suizids aber von der assistierenden 22 Vgl. Christof Gestrich, Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung, Frankfurt a. M. 2009, 75; Gerhard Sauter, Beseeltes Alter. Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens, Gütersloh 2021, 37. Die Wortverwendung des Letzteren ist theonom: »Seine Lebendigkeit verdankt er [der Mensch, M. H.] dem Anhauch Gottes (Gen 2,7), der sein Leben trägt und prägt« (9 f.). 23 Vgl. Reiner Anselm/Isolde Karle/Ulrich Lilie, Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (11.01.2021), 6.
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Person ein definitives Urteil mitgesprochen wird: Dieses Leben sei nicht mehr lebenswert. Das aber ist kein Urteil, das Menschen zukommt, weil es letztlich dem bejahenden Urteil Gottes widerspricht, das jedem Menschenleben zugesprochen wird.24 Die Einsicht in die Exzentrizität auch des schwer verletzten Menschseins führt dann dazu, der Möglichkeit eines assistierten Suizids in diakonischen Einrichtungen nicht zuzustimmen. Dass ein Menschenleben in furchtbare Not geraten kann, ist unbestritten. Dass vom Staunen über Gottes Umgang mit dem Menschlein aber auch und gerade dann noch etwas vorhanden sei, gehört zur Hoffnung, die eben dieses Staunen mit sich bringt. Dr. Martin Hailer ist Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik, Schwerpunkt Systematische Theologie, an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Dr. Bertram Stubenrauch ist Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität München.
24 Vgl. Günter Thomas, Im Raum der Barmherzigkeit Gottes leben und sterben. Theologische Beobachtungen zum bedingungslosen Recht auf Selbsttötung und den assistierten Suizid, in: theologische beiträge 52 (2021), 173–190; vgl. Ralf Frisch, Jenseits von Eden. Warum die Theologie in Teufels Küche kommt, wenn sie in Sachen assistierter Suizid nicht mehr die Sprache des christlichen Glaubens spricht, in: Theologische Beiträge 52 (2021), 159–172.
Anthropologie – strittig zwischen Christentum und Islam? Muna Tatari und Christian Ströbele
1 I slamische und christliche Anthropologie vor gemeinsamen Herausforderungen »Was ist der Mensch?« In diese Frage schließt Immanuel Kant auch drei weitere Grundfragen menschlicher Vernunft ein: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?«1 Diese Zusammenziehung zeigt an, dass die Befassung mit diesem Fragekomplex weite Ausmaße philosophischen Nachdenkens umfasst. Die Komplexität wird nicht kleiner, versucht man sich über diese Fragen nicht innerhalb der »Grenzen der bloßen Vernunft« zu orientieren, sondern im Horizont religiöser Lebensdeutung. Die Diskussionslage ist umso spannungsvoller, als zentrale Ausgangspunkte theologischer Anthropologie gesellschaftlich strittig geworden sind: Dazu zählt nicht nur überhaupt das Bezogensein auf einen transzendenten Grund der Selbstverständnisse bewussten Lebens. Auch zum Grundverständnis von menschlicher Freiheit und damit zusammenhängend dem Zusammenhang von Individual- und Sozialnatur des Menschen ist ein Grundkonsens kaum mehr auszumachen. Transhumanistische Technikfantasien beschreiben Fortschreibungen des Menschseins, die von einer »symbolischen Verelendung« künden.2 Normative Grundlinien an den Grenzen freien bzw. bewussten Lebens werden neu ausgehandelt, aber auch die Verantwortung gegenüber nichtmenschlichen Geschöpfen wie Tieren und Pflanzen,3 der Umund Mitwelt werden stärker gewichtet, ebenso Leiblichkeit und Vulnerabilität
1 Vgl. Immanuel Kant, Logik-Vorlesungen von 1800, Akademie-Ausgabe (AA), Bd. 9, 25; vgl. auch Immanuel Kant, Brief vom 4.5.1793 an Carl Friedrich Stäudlin, AA 11, 429. Die letzteren drei Fragen zudem prominent im Schlussteil der Kritik der reinen Vernunft, A 805/B 833. 2 So Johannes Hoff, Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i. Br. 2021, 8, mit Bezug auf Bernard Stiegler; zum Themenfeld aus islamischer Sicht vgl. Tuğba Kara, Das islamische Menschenbild vor der Herausforderung des Transhumanismus, Masterarbeit, Fribourg 2022, https://transeducation.de (Zugriff am 26.02.2023). 3 Vgl. Asmaa El Maaroufi/Sonja A. Strube/Deborah Williger (Hg.), Jenseits der Grenzen. Dualistische Denkmuster überwinden (Jahrbuch Theologische Zoologie 3), Münster 2020.
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des Menschen.4 Gesellschaftlich wird gleichzeitig das Religiöse grundsätzlich abgetan, allenfalls als identitätspolitischer Anker aktiviert, um empfundenen Verunsicherungen des Subjekts zu wehren. Wie steht es in dieser Situation um die Vielfältigkeit religiös imprägnierter Menschenbilder – zumal diese zwischen den Religionen schwer auf gemeinsame Nenner zu bringen scheinen? Gerade das christliche und islamische Menschenbild werden nicht selten als gegensätzlich gezeichnet: Das christliche sei am Individuum orientiert, an dessen Freiheitsrechten und Autonomie, während das islamische den Menschen als »determiniert« durch göttliche Allmacht verstehe. Christlicherseits sei der Mensch »ebenbildlich« zu Gott und eingebunden in ein »Beziehungsgeschehen« zwischen Gott und Mensch (wobei besonders die Christologie Göttliches und Menschliches sehr viel stärker verbinde, als dies islamischerseits statthaft wäre, wo die »Kluft« zwischen Gott und Mensch sehr viel größer sei). Christlicherseits sei der Mensch seiner Natur nach »sündhaft« und eines konkreten geschichtlichen Erlösungshandeln Gottes bedürftig, während islamischerseits Ambivalenz und Schuldverstricktheit menschlicher Existenz oftmals in eine grundsätzlich optimistischere Wertung eingeordnet werden. Eine solche Gegenüberstellung hat durchaus Anhalt an bestimmten Motiven und Argumentationslinien der jeweiligen Religionstraditionen. Sie ruht aber auch Engführungen auf und verkennt eine religionsinterne Vielfalt sowohl auf der Ebene religiöser Praxis wie auch theologischer Reflexion. Arbeitshypothese der nachfolgenden Überlegungen ist dagegen, dass zwar in der Tat in verschiedenen Einzelfragen christliche und islamische Anthropologie keineswegs zur Deckung zu bringen sind. Ihre Antwortversuche sind dabei Ausdrucksformen eines Ringens um gemeinsame Grundfragen des Menschseins. Und gerade an den interreligiös strittigen Fragen des Menschseins verorten sich auch innerreligiöse Kontroversen, deren Vielstimmigkeit nicht auf eine Linie hin verengt werden darf.5 Diese Vielstimmigkeit und das Herausgefordertsein sowohl islamisch- wie christlich-theologischer Anthropologien durch die Fragen der Gegenwart geben umso mehr Anlass, diese Fragen kooperativ anzugehen 4 Vgl. Kerstin Schlögl-Flierl/Muna Tatari, Vulnerabilität im christlich-islamischen Dialog, in: Georges Tamer (Hg.), Interreligiöse Diskurse: Perspektiven und Themen. Baden-Baden 2022, 221–245; Aysun Yaşar, Fluch oder Segen? Vulnerabilität aus Sicht muslimischer Theologie, in: Herder Korrespondenz 6 (2016), 39–40. 5 Wenn dennoch in diesem Beitrag kurz in einem Kollektivsingular von bspw. »islamischer Anthropologie« oder »christlichem Menschenbild« gesprochen wird, ist dies als Abkürzung zu lesen für eine Bezugnahme auf die Vielfalt theologisch-anthropologischer Deutungshorizonte des Menschseins im Kontext der jeweiligen Religionskultur und insbesondere der Vielfalt jeweiliger theologischer Stellungnahmen, ohne z. B. eine spezifische »Islamizität« zu präjudizieren.
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und dabei die Einsichten, vielleicht auch Engführungen religiöser Traditionen in ein Wechselgespräch einzubeziehen. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Stattdessen werden exemplarische Schlaglichter auf drei Themenfelder der Anthropologie geworfen, die bevorzugt als kontrovers herausgestellt werden: erstens das Entsprechungsverhältnis zwischen Mensch und Gott, wie es im christlichen Motiv der Gottesebenbildlichkeit gefasst wird; zweitens die Begründung und Implikationen menschlicher Würde; drittens die Grundbestimmung des Menschen zur Freiheit und die Deutung der Ambivalenzen und Verstrickungen des Menschen in Strukturen der Schuld bzw. Sünde. Zwei Vorannahmen für Vergleiche wie die nachfolgenden seien kurz herausgestellt: erstens, dass methodisch zu unterscheiden ist zwischen Religionspraxis und religiöser Primärsprache (wie in heiligen Texten und Gebeten) einerseits und theologischer Rekonstruktion andererseits. Und zweitens, dass seriöse Vergleiche auch dem Status nach Vergleichbares vergleichen sollten, also beispielsweise Religionspraxis mit Religionspraxis, heilige Texte mit heiligen Texten, deren theologische Rekonstruktionen in bestimmten historischen Kontexten mit theologischen Versuchen in vergleichbaren Kontexten, Mainstream-Debatten z. B. mit Mainstream-Debatten und intellektuelle Avantgarde mit ebensolcher.
2 Inwiefern »ist« der Mensch »Bild« Gottes? Auch ein christliches Zentralmotiv wie die biblische, näherhin priesterschriftliche Rede von der Schaffung des Menschen als »Bild« (hebr. ṣӕlӕm, dəmût: Gen 1,26 f.; 5,1; 9,6) Gottes6 hat auf der Ebene theologischer Bezüge seine Bedeutung erst vermittels Interpretation. Die christliche Theologie hat seit ihren Anfängen darum gerungen, dieses Motiv zu deuten. Beispielsweise hat Irenäus von Lyon (um 135 bis um 200) versucht, zu differenzieren zwischen einer bleibenden Ausstattung (als similitudo) des Menschen mit einem freien Willen, der ungezwungen Gottes Einsicht folgt, und einer weitergehenden Entsprechung (als imago), die durch die Sünde verloren sei. Allerdings habe sich in Christus das Urbild Gottes ganz verbunden mit dem Menschen und damit den Weg einer Verähnlichung an Gott eröffnet.7 6 Vgl. Ute Neumann-Gorsolke, Art. Gottebenbildlichkeit (AT), in: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (2017), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19892/ (Zugriff am 27.02.2023) 7 Vgl. Irenäus, Contra Haereses IV, 37, 1.
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Auch wenn diesen Vorschlägen im Einzelnen nicht gefolgt wurde, können sie hier prototypisch stehen für Versuche von sowohl Differenzierungen als auch Dynamisierungen im Verständnis der Gottebenbildlichkeit: Der Mensch ist nicht bereits in jeder Hinsicht gottähnlich, ihm ist aber ein Weg zu je größerer Annäherung aufgegeben. Christliche Spiritualität kann in breitem Ausmaß verstanden werden als Praxis einer Verähnlichung und als Streben nach Gottesnähe bzw. Einheit mit Gott. Die Möglichkeitsbedingungen dessen, wonach diese Sehnsucht verlangt, hat Meister Eckhart (um 1260–1328) systematisch erarbeitet. Ihm zufolge ist der Mensch dann ganz »Bild« Gottes, wenn alle menschliche Orientierung am »Dies-und-Das« der je nur begrenzt wertvollen endlichen Güter und bloß subjektiven Präferenzen entfällt. Ein solcher Zielpunkt setzt einen Weg des »Lassens« voraus, den Eckhart mit Begriffen wie »entbilden« (loslassen von menschengemachten »Bildern«) und »überbilden« (hinaustreten über die Vorstellungsgebundenheit) fasst. Er ist damit nicht nur zu einem Wegbereiter des »Bildungsbegriffs« im Wortschatz des Deutschen geworden.8 Er hat auch ein Moment auf den Punkt gebracht, das den Begriff der Gottebenbildlichkeit immer schon geprägt hat, nämlich, dass es sich dabei nicht um etwas einfachhin »Gegebenes« handelt, sondern um etwas noch zu Verwirklichendes. Dazu macht Eckhart einen Ausgangspunkt im »Seelengrund« des Menschen aus – ein Moment, das den Einzelvollzügen menschlicher Vernunft, den Verbildlichungen und Vergegenständlichungen menschlichen Verstehens vorausliegt und diesen insofern auch entzogen ist. Diese skizzenhafte Illustration an einem Entwurf des 12./13. Jahrhunderts mag hier beispielhaft stehen für den Facettenreichtum an Deutungen des Motivs der »Ebenbildlichkeit« des Menschen, das unterschiedliche Ausdeutung ermöglicht, vielleicht auch erfordert. Entsprechendes gilt auf Seiten islamischer Theologie.9 Diese kennt zwar ein Konzept der »Gottebenbildlichkeit«, was aber nie in dem Maße theologiebildend war wie in den christlichen Theologien. So spricht beispielsweise alĠazzālī (1058–1111) davon, dass der Mensch nach dem Bilde des Barmherzigen geschaffen wurde.10 Grundsätzlich kennzeichnet der Qurʾān den herausgeho 8 Vgl. Paul D. Hellmeier, Bildung im Mittelalter. Albertus Magnus und Meister Eckhart, in: MThZ 67 (2016) 67–82. 9 Vgl. Muna Tatari/Andreas Renz, Stellvertreter Gottes: Würde und Aufgabe des Menschen, in: Volker Meißner/Martin Affolderbach/Hamideh Mohagheghi/Andreas Renz (Hg.), Handbuch christlich-islamischer Dialog, Freiburg i. Br. 2014, 148–159, 150 ff. 10 Vgl. Abū Ḥāmid Muḥammad Al-Ghazālī: Die Nische der Lichter (Miškāt al-anwār). Hamburg 1987, 40 f. Dieser Punkt wird später noch einmal aufgegriffen.
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benen Rang des Menschen: Der Mensch ist »nach der besten Form geschaffen« (95:4 f.), »geehrt« (17:70) und, nachdem »Adam« (der prototypisch für den Menschen steht) Gottes Atem bzw. Geist (rūḥ) (32:7–9; 38:71) sowie die »Namen der Dinge« (2:32) und »das anvertraute Gut« (amāna, 33:72) empfängt, über alle anderen Geschöpfe gestellt (2:37, 18:50, 20:116), insbesondere über die Engel (2:34; 15:29–43). Auch diese Motive haben die verschiedensten Ausdeutungen erfahren:11 Was ist mit der »besten Form« gemeint? Was verbindet sich mit dem »Atem Gottes«? Inwiefern handelt es sich dabei um Bezugspunkte, die dem Menschen »gegeben« oder »aufgegeben« sind? Einerseits ist für eine islamische Theologie der Qurʾān als Bezugspunkt konstitutiv. Andererseits weiß gerade auch die islamische Theologie von Beginn an um die Auslegungsbedürftigkeit des Qurʾāns. Davon berichtet z. B. eine Überlieferung, wonach ʿAlī (der Vetter und Schwiegersohn des Propheten) in einer Kontroverse um die Frage, ob alle politischen Entscheidungen allein auf die Worte Gottes zu stützen seien, »den Qurʾān dazu aufrief, die Menschen über die Gesetze Gottes zu informieren und ihn dabei berührte.« Auf die erstaunte Nachfrage »Was machst Du da? Der Qurʾān kann doch nicht sprechen, er ist doch kein Mensch« erklärte ʿAlī , das genau sei der Punkt: »Der Qurʾān besteht (nur) aus Tinte und Papier, er spricht nicht aus sich selbst heraus. Es sind vielmehr die Menschen, die entsprechend ihrer begrenzten Urteilskraft und Ansichten den Qurʾān zum Sprechen bringen.«12 Der Bezug auf die Instanz menschlicher Auslegung und »Urteilskraft« hat auch die Pointe: Der Mensch selbst – zusammen mit der Orientierung an der Gesellschaft der Menschen im Kampf um deren Würde – ist gleichsam ein »hermeneutischer Schlüssel«13 – auch in Fragen der Deutung von Gott, Schöpfung, Offenbarung. Was den Status des eigentlichen Selbst angeht, so wurde beispielsweise von ibn Sīnā (latinisiert Avicenna, 980–1037) die menschliche Seele (nafs) als ein
11 Vgl. bes. zum Verhältnis von »Geist« und »Seele«: Magdy Elleisy, Die Seele im Islam. Zwischen Theologie und Philosophie, Hamburg 2013. 12 Khaled Abou El-Fadl, Islam and the Challenge of Democracy, Princeton/Oxford 2014, 8; und Khaled Abou El-Fadl, Speaking in God’s Name, Oxford 2001, 23–25 mit Bezug auf die Passagen in den Kommentaren von aš-Šaukānī (1938, 7:166) bzw. al-ʿAsqalānī (1993, 14:303) zu den Hadith-Sammlungen von ibn Taimīya bzw. al-Buchārī’. 13 So z. B. Farid Esack, Qur’an, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity against Oppression, Oxford 1997, 63 ff. und 94 ff.; vgl. auch Muna Tatari, Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Versuch einer islamisch begründeten Positionsbestimmung, Münster 2016, 208 ff.
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»Phänomen der Transformation« verstanden und ihr »Vollzugscharakter« hervorgehoben.14 In diesem Sinne formuliert Milad Karimi: »Im Akt des Glaubens, der durch die koranische Offenbarung erst im vollen Umfang generiert wird, gelingt die Entwicklung der Seele, des Selbst (ḥudī) des Menschen, eine Entwicklung im umfassenden Sinne, um ›die letzte Frucht im Baum des Lebens‹ (Iqbal) sein zu können«.15 Es handelt sich dabei um ein Bild aus der Tradition des Sufismus, der islamischen Mystik,16 das sich verbindet mit dem Zielpunkt im »vollkommenen Menschen« (al-insān al-kāmil), dessen Idealbild mit dem Propheten Muḥammad identifiziert wird.17 Insbesondere ibn ʿArabī (1165–1240) hat dieses Konzept wirkmächtig ausgearbeitet. Dabei versteht er den Menschen (adam) als einen Mikrokosmos, der die göttlichen »Namen« in vollkommenster Form manifestiert, sodass Gott darin einen anderen Ausdruck seiner Selbst findet. Dieses Konzept hat vielfältige Rezeptionen erfahren;18 während es durchaus kritisch zu betrachtende Anknüpfungen gibt, wurde zuletzt z. B. betont, dass es sich mit einem Ziel der Selbstrealisierung verbinden lässt, in welcher der Mensch das in Bezug auf sich und andere angemessene Handeln und seine »intuitive Verbindung mit Gott« verantworte.19 Solche Referenzen aus dem 12./13. Jahrhundert entstammen anderen Voraussetzungen menschlichen Welt- und Selbstverständnisses. Beispielsweise sind sie eingebunden in einen spirituellen und weisheitlich-kosmologischen Rahmen, zu dem heutige Anthropologien nicht einfach in Kontinuität stehen. An dieser Stelle soll damit illustriert werden, dass zumindest Teilaspekte, wie sie christlicherseits mit dem Konzept der Gottesebenbildlichkeit verbunden und 14 Milad Karimi, Zur Frage der Erlösung des Menschen im religiösen Denken des Islam, in: Klaus von Stosch/Aaron Langenfeld (Hg.), Streitfall Erlösung, Paderborn 2015, 5–37, hier 25. 15 Ebd., 26. 16 Vgl. Annemarie Schimmel, Muhammad Iqbal, prophetischer Poet und Philosoph, München 1989, 50. 17 Vgl. dazu John T. Little, Al-Insan al-Kamil. The perfect man according to Ibn al-’Arabi, in: Muslim World 77.1 (1987), 43–54; Fitzroy Morrissey, Sufism and the Perfect Human. From Ibn ’Arabī to al-Jīlī, London 2020; Tatari, Gott und Mensch, 236 ff. 18 Siehe mittelbar auch Reza Hajatpour, Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie, Freiburg i. Br. 2016. 19 Vgl. Nuraan Davids/Yusef Waghid, Ibn al-Arabi’s Idea of Al-insan Al-kamil (the Perfect Human) and Democratic Education, in: Nuraan Davids/Yusef Waghid (Hg.), Democratic Education and Muslim Philosophy. Interfacing Muslim and Communitarian Thought, Wiesbaden 2019, 71–79.
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schöpfungstheologisch fundiert wurden, islamischerseits funktionale Entsprechungen haben – sowohl in theoretischer Hinsicht wie in praktischer, was etwa die Deutung menschlicher Lebensvollzüge als Verähnlichungsbewegung an das göttliche »Urbild« betrifft.
3 Unbedingte Würde und Schöpfungsverantwortung des Menschen In der gegenwärtigen christlichen Anthropologie wird das Motiv der Gottebenbildlichkeit weithin verbunden mit dem Konzept einer unbedingten und unverlierbaren Würde des Menschen. Sie ist gerade auch darin unverfügbar, dass sie letztinstanzlich göttlich und nicht menschlich gesetzt ist. Aber schon im Geflecht der biblischen Narrative ist die Auszeichnung des Menschen keine isolierte Gegebenheit, sondern eng verzahnt mit Momenten sozialer und religiöser Verpflichtung. Dazu zählt bereits die Verbindung von Würde und Herrschaftsauftrag (rdh und kbš in Gen 1,26–28) mit dem Erfordernis der Rechtswahrung (śrr in Jes 32,1; Spr 8,16) und Verantwortungsträgerschaft (z. B. in Ps 8).20 Grundlegend ist dabei das Verständnis menschlichen Hineingenommenseins in einen durch Gott gestifteten Bund und eine Verpflichtung zu dessen Bewahrung. Die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte dieser Ausgangspunkte ist komplex, sie schließt die katholische Soziallehre mit ihren Prinzipien der Personalität, Subsidiarität, Solidarität, Gemeinwohlorientierung und Nachhaltigkeit ebenso ein wie eine erst »verspätete« Bekräftigung moderner Konzepte von Menschenwürde und Menschenrechten.21 Zu den fortdauernden Streitpunkten zählt die Frage, inwieweit dabei von einer christlichen »Grundlegung« gesprochen werden kann,22 wie Menschenwürde, Menschenrechte und wie Individualität und Gemeinschaftsorientierung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden23 und inwieweit der Begriffsgehalt der Gottesebenbildlichkeit in einem religiösen Sinnhorizont hinausgeht über den Gehalt des Begriffs Menschenwürde. Wäh-
20 Vgl. z. B. mehrere Beiträge in Hans-Peter Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, Neukirchen-Vluyn 1998. 21 Vgl. Horst Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Tübingen 32018, Rn. 6 ff. zu Art. 1 Abs. 1. Zu katholisch-theologischen Bezügen etwa Joachim Giers, Theologische Aspekte der Menschenrechtserklärungen in der kirchlichen Verkündigung, in: Münchener Theologische Zeitschrift 29/1 (1978), 36–63. 22 Vgl. dazu kompakt Regula M. Zwahlen, Christliche Akteure und die Erklärung der Menschenrechte (1948), in: Religion und Gesellschaft in Ost und West 12 (2018), 8–10. 23 Vgl. dazu zahlreiche Beiträge in Sarah Shortall/Daniel Steinmetz-Jenkins (Hg.), Christianity and Human Rights Reconsidered, Cambridge 2020.
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rend diese Kontroversen weiterlaufen, zählt zu den teilweise »verspäteten«24, inzwischen aber maßgeblichen Einsichten christlicher Anthropologie auch das Verständnis des menschlichen Herrschaftsauftrags über die Erde (dominium terrae) als eine Treuhänderschaft unter göttlichem Eigentumsvorbehalt25 – mit erheblichen Implikationen für eine Bewahrung dieser Schöpfung. Gerade dieser Punkt ist islamischerseits durchweg betont worden: Die Verantwortung des Menschen, die Schöpfung nach der Vision Gottes von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe zu gestalten, ist geradezu gebündelt im qurʾānischen Begriff des ḫalīfa (vgl. 2:30 ff., 6:165 u. ö.). Man kann diesen als »Stellvertreter« wiedergeben, wenn man dabei den Aufruf mitdenkt, den göttlichen Schöpfungsplan zu ergründen und Gott entsprechend menschlicher Erkenntnisfähigkeit und Möglichkeit »zuzuarbeiten«. Al-Ġazzālī sieht diese Korrespondenz darin begründet, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes, des Barmherzigen, geschaffen wurde. Dabei versteht er die Namen, die Gott »Adam« lehrt (2:30–39), als die 99 Namen Gottes.26 Sie befähigen den Menschen, seine Korrespondenz zu Gott zu entdecken, im menschlichen Gegenüber die göttliche Fülle zu erahnen und entsprechend dieser Korrespondenz verantwortungsvoll und achtsam (taqwā) in der Schöpfung zu handeln. Das »Vertrauenspfand« bzw. »Treuhänderamt« Gottes (amāna, 33:72 f.), das der Mensch annimmt, macht ihn potenziell zu etwas Besonderem in der Schöpfung, und zwar in dem Maße, in dem er sich in dieser Hinsicht seiner selbst bewusst wird. Mit der Eigenschaft als »Stellvertreter« oder »Statthalter« verbindet sich eine Inpflichtnahme (23:115) und gleichzeitig »Würde und Auszeichnung des Menschen«.27 Die gottgegebene Würde jedes Menschen (vgl. 17:70) wird durch grundlegende Werte wie
24 Kritisch z. B. Udo Krolzik, Die Wirkungsgeschichte von Genesis 1,28, in: Günter Altner (Hg.), Handbuch ökologischer Theologie, Stuttgart/Berlin 1989, 149–163. 25 Vgl. z. B. die Entfaltung bei Christian Link, Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 372. Die päpstliche Enzyklika Laudato si’ erinnert u. a. in Nr. 65 an Lev 25,23. Dazu Rainer Kessler, Der Weg zum Leben. Ethik des Alten Testaments, Gütersloh 2017, 236 ff. 26 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī, al-Masid al-asnā fī-šarḥ asmāʾ allāh al-ḥusnā, Kairo 1984; Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Das Elixier der Glückseligkeit, München 1989, 35, 49. 27 Vgl. Andreas Renz, Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes: Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie, Würzburg 2002, 267, 368 u. ö. Zur Begründung der Menschenwürde in Schöpfung und Gott-Mensch-Beziehung Mohamed Talbi, Religionsfreiheit – eine muslimische Perspektive, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 53–71.
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insbesondere den Schutz des Lebens gesichert, die in der islamischen Normenlehre die Leitzwecke (maqāṣid) der Einzelnormen ausmachen.28 Zeitgenössische theologische Entwürfe versuchen auf dieser Basis, eine Öffnung zur philosophisch-säkularen Menschenrechtsdiskussionen herzustellen.29 Sie betonen dabei die Gemeinwohlorientierung im Verhältnis von Mensch und Gesellschaft30 und folgen damit einem Grundtenor des Qurʾāns, der die soziale Verantwortung des Menschen betont, der Muḥammad durch seinen Einsatz für das Wohl der Menschen bestimmt31 und z. B. im Begriff haqq das Ineinander von Recht und Pflicht konzeptualisiert.32 Gerade auch in religiöser Hinsicht steht der Mensch nicht isoliert Gott gegenüber, sondern eingebettet in eine Glaubensgemeinschaft (umma). Diese Einordnung grenzt Solidarität nicht etwa partikular ein, sondern verstärkt die Aufforderung zum Tun des Guten in allgemeiner Ausrichtung. Gerade die Anwendungsfelder, in denen die zeitgenössische islamisch-theologische Ethik neue Perspektiven entwickelt, wie in der Theologie der Befreiung33, der Tier-34 und Umweltethik35, der Migrationsethik36 u. a. m., stellen lohnende Gesprächsfelder dar für ein interreligiöses Gespräch um die Rechte und korrespondierenden Pflichten des Menschen und mittelbar für die Implikationen 28 Vgl. Idris Nassery/Rumee Ahmed/Muna Tatari (Hg.), The Objectives of Islamic Law, London 2016. 29 Vgl. Khaled Abou el-Fadl, The Human Rights Commitment in Modern Islam, in: Joseph Runzo/Nancy M. Martin/Arvind Sharma (Hg.), Human Rights and Responsibilities in the World Religions, Oxford 2003, 301–364. Aus rechtsphilosophischer Perspektive: Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, Berlin 2014. 30 Vgl. z. B. Dževad Hodžić, Verantwortung in der Biotechnologie und das islamische Gemeinwohlprinzip (maṣlaḥa), in: Hansjörg Schmid/Andreas Renz/Abdullah Takım/Bülent Uçar (Hg.), Verantwortung für das Leben. Ethik in Christentum und Islam, Regensburg 2008, 203–210. 31 Vgl. 9:128; zahlreiche weitere Qurʾān- und Hadithreferenzen z. B. bei Cemil Şahinöz, Seelsorge im Islam: Theorie und Praxis in Deutschland, Wiesbaden 2018, 224 ff. 32 Vgl. Fazlur Rahman, Major Themes of the Qurʼān (Bibliotheca Islamica), Minneapolis 1980, 37–64. 33 Vgl. Christian Ströbele/Anja Middelbeck-Varwick/Amir Dziri/Muna Tatari (Hg.), Armut und Gerechtigkeit. Christliche und islamische Perspektiven, Regensburg 2016; Klaus von Stosch/ Muna Tatari (Hg.), Gott und Befreiung. Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum, Paderborn 2012. 34 Vgl. Asmaa El Maaroufi, Ethik des Mitseins. Grundzüge einer islamisch-theologischen Tierethik, Baden-Baden 2021. 35 Vgl. Sara Binay/Mouhanad Khorchide (Hg.), Islamische Umwelttheologie. Ethik, Norm und Praxis, Freiburg 2019. 36 Vgl. Christian Ströbele/Mohammad Gharaibeh/Anja Middelbeck-Varwick/Amir Dziri (Hg.), Migration, Flucht, Vertreibung – Orte islamischer und christlicher Theologie, Regensburg 2018.
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theologischer Anthropologie. Der Anspruch auf Universalität geht dabei einher mit einem notwendigen Verzicht auf eine Besonderung für lediglich partikulare religiöse Fundierungen. Menschenwürde und Menschenrechte sind vielmehr begründungs-, verstärkungs- und entfaltungsoffen, kontextsensitiv und kontexttranszendierend bzw. universell zu konzipieren.
4 Der Freiheitsvollzug und die Ambivalenzen des Menschseins Das Thema der Freiheit des Menschen ist im Einzelnen in christlicher und islamischer Theologie jeweils Gegenstand kontroverser Debatten. Vereinfachende Aufbereitungen haben solche Mehrstimmigkeit des Öfteren unzureichend abgebildet.37 Ähnlich wie christliche Diskussionsbeiträge vor allem des 12. bis 14. Jahrhunderts hat die islamische Theologie Kausalität aus innerweltlichen Ursachen und menschlichem Bewusstsein unterschiedlich beurteilt. Einerseits hat eine der großen theologischen Schulen, die Aša’rīya, einen Weg zwischen vollkommener Willensfreiheit und absoluter Prädestination über das Konzept der willentlichen Aneignung (kasb) der von Gott geschaffenen Handlungen gesucht. Andererseits hat es seit den Anfängen der islamischen Theologie (insb. in der Qadarīya und Mu’tazilīya) immer auch die Ansicht gegeben, dass – wenngleich auch nicht absolut verstandene – Willens- und Handlungsfreiheit reine Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung sind und unabdingbar für das Prinzip der Gerechtigkeit.38 Das vielleicht hauptsächlich kontroverse Thema zwischen christlicher und islamischer Anthropologie ist das Verhältnis zu den Schattenseiten und Abgründen menschlicher Freiheit und Selbsterfahrung: Ist der Mensch, wiewohl ursprünglich gut geschaffen, auf Vollendung und auf das Gute im eminenten Sinne hin geordnet, grundsätzlich in Böses, in Schuld bzw. Sünde verstrickt? Die christliche Tradition hat über längere Zeit die Aufmerksamkeit auf diese Ambivalenzen des Menschseins in Vorstellungen reflektiert, die in der Moderne als problematisch ausgemacht wurden. Dazu zählt nach heutiger mehrheitli-
37 Beispielhaft Johannes Herzgsell, Das Christentum im Konzert der Weltreligionen: ein Beitrag zum interreligiösen Vergleich und Dialog, Regensburg 2011, 183: »Der Islam hebt sehr stark die Allmacht Gottes hervor. Neben Gott verliert alles andere seine Autonomie. Es gibt eigentlich keine Autonomie der Welt und des einzelnen menschlichen Subjekts«, vgl. 184 und 285. 38 Vgl. zum Themenkomplex zahlreiche Beiträge in Ahmad Milad Karimi/Amir Dziri (Hg.), Freiheit im Angesicht Gottes, Freiburg i. Br. 2015; Klaus von Stosch/Aaron Langenfeld (Hg.), Streitfall Erlösung, Paderborn 2015.
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cher Bewertung insbesondere die oftmals allzu biologistisch verstandene Vorstellung einer »Erbsünde«. Insoweit kommt die neuzeitliche christliche Theologie der traditionellen islamischen Ablehnung einer Erbsünde-Konzeption durchaus einige Schritte entgegen. Es verbleibt aber eine unterschiedliche Grundgewichtung: Ist der Mensch grundsätzlich erlösungsbedürftig und erst durch Gottes Zuspruch und Heilshandeln gerechtfertigt? Der große dramatische Rahmen, den die christliche Anthropologie aufspannt zwischen Schöpfung, Fall, Sündenbewusstsein und Erlösung des Menschen findet kein Äquivalent in der islamischen Theologie. Allerdings weiß der Qurʾān durchaus um die Schwäche des Menschen (4:28, 21:37, 70:19 f.).39 Sie konkretisiert sich u. a. in der menschlichen Neigung zum Bösen bzw. zum Unrecht (12:53, 14:34, 33:72; vgl. 7:27–35; 20:115 f.), zur Resignation (30:36), zur Undankbarkeit (14:34) und zum Vergessen. Markant tragen die Engel angesichts des ambivalenten Potenzials der Menschen (2:30–39) Bedenken vor. Gott aber hält fest daran, dass der mit Vernunft und Kreativität begabte Mensch, insofern er seiner gottverbundenen und Gottes sehnsüchtigen Natur (fiṭra, 30:30) folgt, für Gottes Weisung und Rechtleitung empfänglich ist und bleibt. Eine Ursünde als spezifisches Geschehnis kennt der Qurʾān nicht, wohl aber eine mögliche (Selbst-)Erniedrigung des Menschen (95:5), von der ausgenommen wird, wer glaubt und Gutes tut. Gottes Zuwendung korrespondiert demnach mit menschlicher Anstrengung, und Glaube ist ohne ein Tun des Guten, in dem er sich ausdrückt, qurʾānisch nicht zu denken. Wo der Mensch dagegen seiner Schwäche nachgibt, entfernt er sich von Gott – der ihm doch »näher als die eigene Halsschlagader« bleibt (50:16). Mit der innerlichen Abwendung des Menschen von Gott ist nach qurʾānischer Vorstellung gleichzeitig auch das Beziehungssystem (dīn) empfindlich gestört, in das der Mensch eingebunden ist. Solcher Störung und überhaupt menschlichem Unglauben, seinem verschlossenen Herz, seinen geschlossenen Augen (6:110 u. ö.) steht aber immer schon das Erbarmen Gottes gegenüber (12:53), das der Reue und Buße entgegenkommt (2:37, 3:135 f., 5:39.74, 24:31, 39:53. 66,8 u. ö.). Ausgangspunkt ist dabei grundsätzlich ein Vermögen zu Freiheit,40 »Selbsttadel« (75:2) und Einklang mit sich selbst (89:27 f.). Der Mensch hat darin Gottes unverbrüchliches Versprechen, dass Gott als sein Schöpfer, Erhalter und Vollender (rabb) immer wieder Weisung und Orientierung geben wird. Dafür 39 Vgl. Peter Antes, Der Mensch vor Gott im Islam, in: Adel Th. Khoury/Werner Wanzura/Michael Fitzgerald (Hg.), Mensch, Welt, Staat im Islam, Graz/Wien/Köln 1977, 11–30. 40 Vgl. Fazlur Rahman, Themes, 19 f.
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steht »Adam« als Mensch an sich, der immer wieder fallende und immer wieder von Gott aufgerichtete Mensch. Dieses »Immer-Wieder« unterscheidet sich von der Einmaligkeit des Erlösungsereignisses im Christentum. Dieses Oszillieren des Menschen zwischen seinen Möglichkeiten, Gott näherzustehen, als es die Engel tun (5:54), oder auf eine der niedrigsten Ebenen zurückzufallen (95:5 f.), machen sein Dasein aus. Die islamische Konzeption betont so die Prozesshaftigkeit zwischen dem nie absolut gedachten Bösen – auch Kain wird nicht als der absolut Böse dargestellt – und nie absolut Guten; auch der Prophet Muḥammad hat gefehlt. Gott, so legt die qurʾānische Adamserzählung nahe, erwartet keine Perfektion im Sinne eines unfehlbaren Menschen, wohl aber eine eigene Anstrengung (ğihād), Gott so nahe als möglich zu kommen, also das Beste aus sich zu machen und die eigenen destruktiven Impulse nach Kräften zu bändigen.41 Al-Ġazzālī beschreibt diesen ğihād als Weg der Selbsterkenntnis und Selbsterziehung. Diesem tendenziell positiven Menschenbild steht das Leid entgegen, das Menschen sich gegenseitig antun: Auch nach bestem menschlichem Bemühen bleibt augenscheinlich ein Überschuss an unerlöstem Leid, das – spätestens eschatologisch – zurück in Gottes Hand fällt. Vergebung und gegebenenfalls Versöhnung aufgrund von Einsicht und Reue können geschehen, sind aber islamisch nicht ohne die Mitwirkung aller Beteiligten zu denken. Gott vergibt, anders formuliert, nicht am Opfer vorbei.42
5 Ausblick Bei allen jeweiligen Spezifika weisen die christliche und die islamische Anthropologie, wenn nicht gemeinsame, dann doch mindestens vergleichbare Bezugsprobleme und Grundoptionen auf. Dazu zählt die schöpfungstheologische Grundlegung, die den Menschen in eine Spannung zwischen Abhängigkeit von, aber auch wesentlichen Bezogenheit auf Gott einordnet. Damit verbindet sich ein Bewusstsein einer im Endlichen unerschöpflichen Offenheit, aber auch letztlichen Unergründbarkeit und Geheimnishaftigkeit menschlicher Existenz und ihrer Grundvollzüge, etwa als Freiheits-, Abhängigkeits- und Schuldbewusstsein. Damit hängt das Spannungsverhältnis von Individual- und Sozialnatur zusammen. Beide Religionskulturen kennen facettenreiche Widerspiegelun41 Vgl. hierzu besonders Klaus von Stosch/Muna Tatari, Prophetin – Jungfrau – Mutter: Maria im Koran, Freiburg 2021. 42 Vgl. Khaled Abou el-Fadl, Conference of the Books. The Search for Beauty in Islam, Oxford 2001, 107.
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gen der transzendenten Fluchtpunkte, aber auch der Abgründe menschlicher Selbstverständnisse und Handlungsvollzüge. In einer Gegenwart, die zunehmend polarisiert mögliche Zukünfte – und Endpunkte – des Menschseins verhandelt, haben christliche und islamische Theologie und Pädagogik entscheidende Zukunftsaufgaben: Sie müssen nicht nur Bestimmungen des Menschen in ihren eigenen Traditionen unter neuen Verstehensbedingungen rekonstruieren und im Wechselgespräch abgleichen. Sie müssen auch die Zukunftsfragen des Menschseins »side by side« angehen,43 ausgehend von basalen Grundbestimmungen, Bedürfnissen und Sehnsüchten des Menschen, wie sie religiösen und weltanschaulichen Einzeldifferenzen vorausliegen, eingedenk ihrer spezifischen Ressourcen und deren semantischer, kritischer und motivationaler Potenziale. Dr. Muna Tatari ist Professorin für Islamische Systematische Theologie/ Kalamwissenschaft am Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn. Dr. Christian Ströbele ist Leiter des Fachbereichs Interreligiöser Dialog an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart.
43 Vgl. Jonathan Sacks, The Home We Build Together. Recreating Society, London/New York 2007, 173–182; Christian Ströbele/Muna Tatari, Armut und Gerechtigkeit: Einleitende Hinweise, in: Christian Ströbele/Anja Middelbeck-Varwick/Amir Dziri/Muna Tatari (Hg.), Armut und Gerechtigkeit. Christliche und islamische Perspektiven, Regensburg 2016, 11–20.
Die Visionen des Transhumanismus – zwischen Technologisierung, Virtualisierung und Digitalisierung Caroline Helmus
Neil Harbisson war von Geburt an farbenblind. Und doch kann er jetzt ein Farbspektrum wahrnehmen, das über das menschliche Sehvermögen hinausgeht. Harbisson wollte seine Farbenblindheit nicht hinnehmen und entwickelte als Student die Idee, dass Farbwahrnehmung mit mehr als einem Sinn möglich sein müsse.1 Grundlage dafür sind die Licht- und Tonfrequenzen. Da der Sehsinn ausgeschlossen war, wollte er den Prozess der Farbwahrnehmung auf den Hörsinn übertragen. Über Jahre hinweg entwickelte er mit verschiedenen Wissenschaftler:innen, Ärztinnen und Ärzten den sogenannten »Eyeborg«. Bei diesem Gerät handelt es sich um einen Chip, der auf der einen Seite dauerhaft mit seinem Schädelknochen und auf der anderen Seite mit einem Sensor verbunden ist, der vor seiner Stirn endet. Der Sensor nimmt die Farben in Harbissons Umgebung wahr und wandelt sie via Schallwellen in Töne um, die Harbisson über seinen Schädelknochen hören kann.2 Die Farbnuancen werden in Tonfrequenzen und die Farbsättigung in Lautstärke umgewandelt. Seinen rot gestrichenen Wohnungsflur nimmt Harbisson so als tiefe Basswelle wahr. Im Grunde genommen hat er seinen Hörsinn so technisch erweitert, dass er Farben hören kann. Nicht nur weil der Eyeborg dauerhaft mit seinem Schädelknochen verbunden ist, sondern auch weil er es ihm ermöglicht, ein Farbspektrum bis hin zu Ultraviolett und Infrarot wahrzunehmen, bezeichnet sich Harbisson als »Cyborg«, ein kybernetisches Wesen, welches Fähigkeiten hat, die über das menschliche Vermögen hinausgehen. Harbisson ist sicherlich nicht der erste Mensch, der eine technische Veränderung an seinem Körper vornimmt. Doch verweist sein Beispiel auf eine Bewegung, die die technologische Transformation des Menschen in die Mitte ihres Denkens rückt. Die Vision des Transhumanismus ist es, den Menschen mithilfe von Technologie zu verbessern (enhance) und so die Grenzen zu über1 Vgl. Patrick Beuth, Wie aus Menschen Cyborgs werden, in: http://www.zeit.de/digital/internet/2012-08/cyborg-neil-harbisson-biohacking-campus-party (Zugriff am 30.03.2023). 2 Harbisson entwickelte ebenso eine App, die es Außenstehenden ermöglicht, seine Art der Wahrnehmung zu erleben. Die App transformiert die durch die Ausrichtung der Handykamera wahrgenommenen Farben in die entsprechenden Töne um: http://www.eyeborgapp. com (Zugriff am 30.03.2023).
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winden, die dem menschlichen Leben auferlegt sind. Konkret werden hier das Aufheben von Alterungsprozessen sowie die physische, intellektuelle und psychische Leistungssteigerung des Menschen angesprochen, bis hin zu Visionen eines digitalen Lebens im Netz.3 Durch die Zuhilfenahme der Technologie könne der derzeitige evolutionäre Entwicklungsstand der Gattung Mensch und die mögliche Entstehung einer neuen Gattung vorangetrieben werden.4 Was diese Wesensveränderung allerdings genau umfasst und wie sie herbeigeführt werden soll, wird durchaus kontrovers beantwortet. Zur Annäherung (1) wird zunächst in den Transhumanismus und seine Grundthesen eingeführt. (2) Anschließend werden die transhumanistischen Enhancementvisionen mit einem besonderen Fokus auf das Mind-Uploading skizziert. (3) Danach erfolgt der Diskurs über das transhumanistische Menschen- und Körperbild. (4) Zum Schluss sollen einige Herausforderungen, aber auch das Potenzial einer Auseinandersetzung zwischen einem theologischen und einem transhumanistischen Menschenbild skizziert werden. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit anderen Selbst- und Weltbildern ist für theologische Ansätze essenziell, die die anthropologische Wende ernstnehmen. Denn aus der Einsicht in unsere eigene Bedingtheit, aus der Einsicht in die eigene begrenzte Selbst- und Weltsicht, erwächst nicht nur die Verantwortung, sich gegenüber anderen Menschenbildern verhalten zu können und kritisch Position zu beziehen, sondern auch selbstreflexiv zu überdenken, ob Leerstellen innerhalb des eigenen Diskurses aufgezeigt werden können.
1 Die Agenda des Transhumanismus Der Transhumanismus ist eine heterogene Bewegung, die durch den Willen nach einer technologischen Aufwertung des Menschen grundlegend geeint wird.5 Anknüpfend an ein mechanistisches und naturalistisches Menschenbild 3 Vgl. Nick Bostrom, Transhumanist Values. Ethical Issues for the Twenty-First, http://www. nickbostrom.com/ethics/values.pdf, 5 (Zugriff am 19.12.2016); Max More, Transhumanism. Towards a Futurist Philosophy, in: Extropy 6 (1990), 6–12, hier 6 f.; Stefan Lorenz Sorgner, Transhumanismus – »die gefährlichste Idee der Welt«!?, Freiburg/Basel/Wien 2016, 13. 4 Vgl. Nick Bostrom, The Transhumanist FAQ. A General Introduction, http://www.nickbos�trom.com/views/transhumanist.pdf, 4–7 (Zugriff am 13.04.2023); Nick Bostrom, Human Genetic Enhancements. A Transhumanist Perspective, http://www.nickbostrom.com/ethics/ genetic.pdf, 493 f. (Zugriff am 13.04.2023). 5 Vgl. aus transhumanistischer Perspektive: Sorgner, Transhumanismus; vgl. aus philosophischtheologischer Perspektive: Jeanine Thweatt-Bates, Cyborg selves. A theological anthropology of the posthuman. Farnham 2012; Janina Loh, Trans- und Posthumanismus zur Einführung.
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verstehen Transhumanisten den Menschen als ein reines Naturprodukt, welcher aufgrund dieser Verortung verbessert werden kann. Eine entsprechende Aufwertung sei zudem notwendig, weil sich »die Natur« und damit auch der Mensch als Naturprodukt nur unzureichend entwickeln. Die natürliche Evolution sei als solche nicht nur beschränkt und an ihr Ende gelangt, sie entziehe sich auch der menschlichen Kontrolle. Technik sei das entsprechende Emanzipationsmittel, um sich von »Mutter Natur« zu lösen. Die Formung der Natur durch Technik wird dabei zum beherrschenden und antreibenden Moment. Als ein biologisches, natürliches Wesen ist der Mensch ebenfalls degenerativ und begrenzt. Er unterliegt wie die Natur Alterungs- und Verfallsprozessen, die zu einem Missstand führen zwischen biologisch begrenzender Natur und dem technologischen Mehr an Möglichem.6 Transhumanist:innen streben nach diesem Mehr des bisher Möglichen. Ein Mehr an Technik hebt nicht nur die Evolution auf die nächst höhere Entwicklungsstufe, auch der Mensch kann derart seine begrenzende Natur ablegen und sich technologisch aufwerten (enhance). Die transhumanistischen Fantasien reichen dabei so weit, dass sich der Mensch zu einem »Transhuman«, einem Zwischenwesen auf dem Weg hin zum »Posthuman«, entwickeln kann.7 Mit dem »Post-Human« wird das menschliche Dasein schließlich hinter sich gelassen. Max More, einer der führenden transhumanistischen Denker, beschreibt den Posthuman folgendermaßen: »Posthuman zu werden bedeutet, die Grenzen zu überschreiten, die die weniger wünschenswerten Aspekte des ›menschlichen Zustands‹ definieren. Posthumane Wesen würden nicht länger unter Krankheit, Alterung und unvermeidlichem Tod leiden (aber sie werden wahrscheinlich anderen Herausforderungen gegenüberstehen). Sie hätten eine weitaus größere Hamburg 2019; Caroline Helmus, Transhumanismus. Der neue (Unter-)Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die Theologische Anthropologie (ratio fidei, Bd. 72), Regensburg 2020; Oliver Dürr, Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus (Studia Oecumenica Friburgensia; 108), Münster 2021; Anna Puzio, Über-Menschen. Philosophische Auseinandersetzung mit der Anthropologie des Transhumanismus, Bielefeld 2022. 6 Vgl. Helmus, Transhumanismus, 19–126; Puzio, Über-Menschen, 52. 7 Siehe als Beispiele für die heterogenen Konzepte: Hans Moravec, Mind children. The future of robot and human intelligence, Cambridge 1990, 125; Max More, The Philosophy of Transhumanism, in: Max/Natasha Vita-More (Hg.), The Transhumanist Reader. Classical and Contemporary Essays on the Science, Technology, and Philosophy of the Human Future, New York 2013, 3–17, hier 4; Nick Bostrom, Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up, http:// www.nickbostrom.com/posthuman.pdf, 11 (Zugriff am 13.04.2023); Bostrom, FAQ, 6 f.
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körperliche Leistungsfähigkeit und Formfreiheit8 […]. Posthumane hätten auch viel größere kognitive Fähigkeiten und verfeinerte Emotionen (mehr Freude, weniger Wut oder welche Veränderungen auch immer jeder Einzelne bevorzugt).«9 Die technologisch induzierte Erweiterung des Intellekts oder die immerwährende körperliche Gesundheit, das Aufheben von Alterungsprozessen usw. führten also zu einer derart radikalen Veränderung des Menschen, dass dabei von einer völlig neuen Art zu sprechen sei. Die Transformation des Menschen gelingt bereits durch »making many smaller but cumulatively profound augmentations to a biological human«10. Hier werden Enhancementmethoden angesprochen, die direkt am und im menschlichen Körper wirken. Durch das Festhalten am biologischen Körper und seiner technologischen Aufwertung kann man in diesem Fall von einem »Kohlenstoff-basierten […] Transhumanismus«11 sprechen. Zugleich erregt der Transhumanismus gerade durch seine Digitalisierungsfantasien Aufmerksamkeit. Die Idee des Mind-Uploading, also das Hochladen des menschlichen Bewusstseins auf einen Computer, steht vielmehr für die informationstechnologische Umformulierung von Lebensprozessen. Der sogenannte »Silizium-basierte«12 Transhumanismus knüpft entsprechend an Enhancementmethoden an, die scheinbar für eine Überwindung des biologisch verfassten Lebens stehen, indem sie es digitalisieren wollen.
2 Es lebe der Informationsalgorithmus. Digitalisierung und Virtuelle Realität im Transhumanismus Den Menschen aufgrund seiner biologischen Endlichkeit als verbesserungswürdiges Wesen wahrzunehmen, hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Mensch und Technik. Denn durch das normativ abwertende Menschenbild wird zugleich die technophile Verortung durch eine imperativische Handlungsaufforderung ausgedrückt, technologisches Enhancement zu betreiben. Nur so sei eine Emanzipation vom Leid verursachenden und Möglichkeiten hemmenden biologischen Leben möglich. Eine Emanzipation dank Technik. Im Fall des 8 Transhumanist:innen verwenden dafür häufig den Ausdruck der »morphologischen Freiheit« und beschreiben dies als politisches Recht, die Körperform frei wählen zu können. 9 More, Philosophy, 4. Eigene Übersetzung C. H. 10 Bostrom, The Transhumanist FAQ, 5. 11 Sorgner, Transhumanismus, 76. 12 Ebd.
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Transhumanismus kann man damit von einer engen Bestimmung der Selbstoptimierung ausgehen, da diese allein technikbasiert ausgeführt werden soll.13 Jede gegenwärtig technologiebasierte Methode, die eine Steigerung der körperlichen, geistigen und emotionalen Leistungsfähigkeit verspricht,14 wird auch als Möglichkeit begriffen, die transhumanistischen Ziele umzusetzen. Viel diskutiert in diesem Kontext werden Biotechnologie und Nanotechnologie im Generellen, ebenso Genetic Engineering, Stammzelltherapie und Klonverfahren.15 Die Digitalisierungsbestrebungen mancher Transhumanist:innen gehen aber noch einen Schritt weiter, indem sie den Menschen bzw. das menschliche Bewusstsein informationstechnologisch »enhancen« wollen. Handelt es sich dabei um technofuturisches Enhancement, stehen Gedankenexperimente und verschiedene spekulative Szenarien zur Diskussion, die die Idee des sogenannten Mind-Uploading thematisieren. Der Upload-Fantasie liegen zwei zentrale transhumanistische Motive zugrun de: einerseits die Annahme, dass der biologische Körper aufgrund seiner Endlichkeit technologisch überwunden werden muss, andererseits die Zentrierung auf das Bewusstsein und hier insbesondere auf den Intellekt als zu bewahrende, erweiternde und verbessernde menschliche Fähigkeit.16 Die Zusammenführung beider Motive führt zu verschiedenen Szenarien von einer (graduellen) Ersetzung des biologischen Gehirns durch ein künstliches oder zum Transfer des Minds auf ein künstliches Substrat bis hin zu Szenarien, in der virtuellen Realität zu leben.17 Dabei basiert die Idee des Uploads auf dem Gedanken, dass der Mensch bzw. sein Bewusstsein aus Informationsmustern besteht, die algorithmisch rekon struierbar sind und entsprechend digital nachgebildet werden können. Somit wird eine starke »Computational Theory of Mind« beansprucht: »[T]he mind literally is a digital computer […] and that thought literally is a kind of computation«18. Da das menschliche Gehirn funktional äquivalent zu den Prozessen 13 Vgl. Dagmar Fenner, Selbstoptimierung und Enhancement. Ein ethischer Grundriss. Tübingen 2019, 12 f., 19. 14 Vgl. Petra Missomelius, Vom Rausch der Intelligenz oder: Pimp your brain. Aushandlungsprozesse um Enhancement, in: Andreas Beinsteiner/Tanja Kohn (Hg.), Körperphantasien. Technisierung – Optimierung – Transhumanismus, Innsbruck 2016, 121–128, hier 123. 15 Vgl. Bostrom, The Transhumanist FAQ, 7–9. 16 Vgl. Loh, Trans- und Posthumanismus, 99; Helmus, Transhumanismus, 52–53. 17 Vgl. Ray Kurzweil, How to create a mind. The secret of human thought revealed, New York 2013, 116 f.; Hannah Scheidt, The Fleshless Future. A Phenomenological Perspective on Mind Uploading, in: Calvin Mercer/Tracy J. Trothen (Hg.), Religion and Transhumanism. The Unknown Future of Human Enhancement, Westport 2014, 315–328, hier 315–318. 18 Steven Horst, The Computational Theory of Mind, 2020, https://plato.stanford.edu/entries/ computational-mind/ (Zugriff am 13.04.2023).
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eines Computers funktioniere, könne der Mensch dekodiert und entsprechend vollständig simuliert werden.19 Eines der bekanntesten Gedankenexperimente zum Mind-Uploading stammt von Hans Moravec. In seinem Werk »Mind Children« verfolgt er ein Szenario, bei dem das Gehirn buchstäblich aus dem Körper geholt wird.20 Die Person, die sich für das Mind Uploading entschieden hat, unterzieht sich einer Operation durch einen androiden Chirurgen. Dieser führt ein Messinstrument in das Gehirn des Patienten ein, welches mit einem Computer verbunden ist. So sollen der Aufbau des Gehirns erfasst und die neuronalen Strukturen und Signale gesammelt und in ein digitales Programm umgeschrieben werden. Das so vermessene Hirnareal wird betäubt und stillgelegt und die bis dahin geschriebene Software übernimmt als Äquivalent die Funktion. Der Patient kann die Gleichwertigkeit dieser Simulation überprüfen und nach der erfolgreichen Verifizierung wird das Hirnareal entfernt. Dieser Prozess wiederholt sich so lange, bis das ganze Hirn erfasst und ein softwarebasiertes Äquivalent entstanden ist. Ist das Gehirn vollständig erfasst, hat dies auch zur Folge, dass das Gehirn vollständig ausgehöhlt ist. Der Patient bzw. sein Körper lebt noch so lange, wie die Verbindung zwischen Körper, Messinstrument, Hard- und Software besteht. Durch die Abkopplung stirbt der Körper, aber der Patient lebt dank der Computersimulation weiter und kann sich mit einem neuen artifiziellen Körper verbinden. Während Moravec zur Übertragung des Bewusstseins auf einen Computer noch von einem symbiotischen Verhältnis von Mensch und Maschine ausgeht, geht Nick Bostrom einen Gedankenschritt weiter. In seinem Aufsatz »Are You Living in a Computer Simulation« diskutiert er, inwiefern es den Posthumans möglich sei, uns gegenwärtige Menschen wieder virtuell auferstehen zu lassen.21 Um bewusstes, simuliertes Leben zu erschaffen, müssten nur die Prozesse des Hirns strukturell repliziert werden, und durch die kulturell gesammelten Informationen über unsere Gesellschaft könnten wir und unsere jetzige Welt computerbasiert simuliert werden. 19 Vgl. Nick Bostrom, A History of Transhumanist Thought, 2005, https://nickbostrom.com/ papers/history.pdf, 11 (Zugriff am 13.04.2023); ders., Superintelligenz. Szenarien einer kom�menden Revolution, Berlin 2014, 51–59. 20 Vgl. Moravec, Mind Children, 108–110. Moravec geht auch Szenarien durch, bei denen das Hirn beim Digitalisierungsprozess nicht zerstört wird. Vorstellbar sei z. B. ein Gehirnscan oder ein tragbarer Computer, der alle Informationen über Sie und Ihr Leben bis zum Tod aufzeichnen und dann an Ihr Leben anknüpfen kann (vgl. ebd., 110). 21 Vgl. Nick Bostrom, Are you Living in a Computer Simulation, https://www.simulation-argu�ment.com/simulation.pdf, 2 (Zugriff am 13.04.2023).
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Diese beiden Beispiele zeigen ein strukturelles Moment auf, das sich meines Erachtens in allen transhumanistischen Visionen eines siliziumbasierten Daseins wiederfinden lässt: Trotz der Digitalisierung des Bewusstseins und des Versterbens des Körpers wird diesen Uploads zugesprochen, dass sie »leben«.22 Leben ist damit aus der Perspektive des siliziumbasierten Transhumanismus unabhängig von biologischen Prozessen.23 Neben grundsätzlichen philosophischen Diskurspunkten wie der Frage nach der theoretischen und logischen Möglichkeit der personalen Identität vor und nach dem Upload,24 der Diskussion rund um das informationstechnische Verständnis des Geistes,25 ist meines Erachtens insbesondere das den transhumanistischen Visionen zugrundeliegende Menschen- und Körperbild zu beachten. Denn über die Vision des zukünftigen Posthumans erfolgt eine »Umweg-Argumentation«26 nach der »[a]usgehend von ›gegenwärtigen‹ Problemlagen […] auf dem Umweg über Zukunftsdebatten […] Orientierung ›für heute‹ gesucht«27 wird. Über diese Umweg-Argumentation werden Zukunftsvisionen zum Maßstab einer Deutung des gegenwärtigen Lebens. Es stellt sich damit u. a. die Frage, welche Folgen dies für das Menschenbild hat.
3 Das Menschenbild des Transhumanismus Die Auseinandersetzung mit der transhumanistischen Agenda zeigt bereits, dass die Anthropologie unter einem negativen Vorzeichen steht.28 Die schlichte Annahme, dass der Mensch ein biologisches und damit endliches Wesen sei, führt zu einer Abwertung des menschlichen Daseins mit einer gleichzeitigen imperativischen Handlungsaufforderung, technische Verbesserungsstrategien 22 Vgl. Bostrom, The Transhumanist FAQ, 17; James Hughes, Citizen Cyborg. Why democratic societies must respond to the redesigned human of the future, Cambridge, Mass. 2004, 4; Charl Linssen/Pieter Lemmens, Embodiment in Whole-Brain-Emulation and its Implications for Death Anxiety, in: Journal of Evolution & Technology 26 (2016), 1–15, hier 3. 23 Es findet damit eine Reduzierung auf neurologische Prozesse statt sowie eine funktionalistische Umdeutung von Bewusstseinszuständen zu Informationsalgorithmen. 24 Vgl. Loh, Trans- und Posthumanismus, 105. 25 Vgl. Zur Einführung in den Funktionalismus: Friedhelm Decher, Handbuch der Philosophie des Geistes, Darmstadt 2015, 245–248; Dieter Teichert, Einführung in die Philosophie des Geistes, Darmstadt 2010, 89–98; Geert Keil, Die zwei Teilthesen des Funktionalismus, in: Peter Schefe u. a. (Hg.), Informatik und Philosophie, Mannheim 1993, 195–209, hier 198. 26 Armin Grunwald, Umstrittene Zukünfte und rationale Abwägung. Prospektives Folgenwissen in der Technikfolgenabschätzung, in: Theorie und Praxis 16 (2007), 54–63, hier 56. 27 Ebd. 28 Vgl. dazu insgesamt Helmus, Transhumanismus, 85–126.
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anzuwenden. Den Körper als endlichen Körper wahrzunehmen, ist zunächst nicht verwerflich. Die Gleichschaltung der Argumentation, die Natur durch Technik kontrollieren zu wollen und den menschlichen Körper als Naturprodukt zu verstehen, führt aber zu einem normativ aufgeladenen Blick auf den menschlichen Körper, was sich anhand verschiedener Dimensionen aufzeigen lässt: Der biologische Körper wird als gebrochener, als krankhafter, weil endlicher Körper wahrgenommen. Die biologische Bedingtheit wird dabei mit Leiderfahrungen gleichgesetzt und damit der Körper pathologisiert. Auch die im transhumanistischen Sprachjargon häufigen mechanischen Metaphern des Körpers als Auto, Gebäude oder Maschine verdeutlichen die Perspektive auf den Körper als etwas, das der Wartung bedarf, reparaturbedürftig ist, aber gerade deswegen auch verbessert werden kann. Die Regulierbarkeit des Körpers und das Bemessen der Nützlichkeit über seine Funktionalität verweist auf die Betrachtung des Körpers als Maschine. Zur Überwindung der biologischen Gebrechlichkeit verfolgt der Transhumanismus das Diktum der Kontrolle des Biologischen durch Technik. Die Huldigung eines vollkommenen Körpers verleiht ihm dabei einen Produktcharakter und rückt die Perfektion als mögliche Handlungsdimension in den Mittelpunkt.29 Denn wenn der Körper ein Ding, ein Produkt ist, ist er verfügbar und unterliegt Herstellungsprozessen, die modifiziert werden können. Der Körper ist entsprechend etwas zum Subjekt beliebig Hinzukommendes, sein Besitz.30 Im digitalen Dasein manifestiert sich dieses mechanisierte Menschenbild als kontrollierte Biologie in Form von Aufgabe und Beherrschung des Biologischen zugunsten der Technologie. Wird so eine Dichotomie zwischen dem menschlichen Organismus – dem Körper – und dem uploadbaren Bewusstsein als zum Körper hinzukommend geschaffen, zeigt der Transhumanismus damit zugleich Technik als konstitutives Moment des Lebens auf.
4 Resümee Der Transhumanismus betrachtet den Menschen und seinen Körper unter einem Funktions- und Nutzenaspekt, welcher normative und diskriminierende Züge aufweist, sobald man diesem Bild nicht entspricht. Ein Allerweltskörper 29 Vgl. Holger Schulze, Phantasmen der Perfektion. Eine Pathologie des Normalismus, in: Dieter Korczak (Hg.), Ambivalenzerfahrungen, Kröning 2012, 73–82, hier 78 f. 30 Vgl. Thweatt-Bates, Cyborg selves, 77–80; Karin Harrasser, Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen, Bielefeld 2013, 21–23; Loh, Trans- und Posthumanismus, 87; Helmus, Transhumanismus, 115–117.
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zu sein, reicht nicht aus, weil der Transhumanismus danach strebt, über das Menschsein hinauszugehen. So unterliegt er einer »Ideologie der permanenten Selbstoptimierung«31, die sich in einer Wettbewerbslogik als »Ethos der unternehmerischen Selbstverbesserung und der Fitness«32 ausdrückt. Die im Transhumanismus anzutreffende Gefahr einer Absolutsetzung der Körperkritik, die dadurch in eine Gegenwartsflucht oder sogar Leibfeindlichkeit verkommen kann, wird von theologischer Seite meines Erachtens zu Recht kritisiert. Zugleich führt der transhumanistische Technikdiskurs dazu, verstärkt die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Körper zu stellen und den Blick auf das Individuum und seine technische Körperinszenierung als Ausdrucksmittel seines Selbst zu richten.33 Die transhumanistische Radikalität gegenüber dem biologischen Körper führt zu einer Verschiebung der Perspektive. Positiv betrachtet kann man dem Transhumanismus zusprechen, dass er die Vorstellung des Körpers als bios entmystifiziert und den Blick auf die Heterogenität von Körpern lenkt. Dabei wird aber die Frage aufgeworfen, ob der Körperbegriff als rein biologisch induzierter Körper noch hinreichend ist. Denn wenn das menschliche Dasein durch Technik, durch Kultur durchdrungen ist, es also kein natürliches Dasein als solches gibt, ist der (theologisch-)anthropologische Diskurs über den Körper dazu aufgefordert, diesen zu erweitern. Auf dieser Ebene zwingt der Transhumanismus, zu reflektieren, ob Verschmelzungen zwischen Technik und Biologie am Menschen, die Bestimmungen des Körpers als Fleisch, als lebendiger Organismus, nicht begrenzen und somit Praktiken und Körperbilder ausschließen, die bereits gegenwärtig sind. Für den Transhumanismus steht Technik nicht außerhalb des menschlichen Daseins, sie ist nicht nur unbelebtes Objekt, sondern relational eingebunden in die Subjekterfahrung. Cyberbasierte Visionen eines digitalen Daseins gehen noch einen Schritt weiter: Sie weisen Technik als einen Ermöglichungsgrund dieses Daseins aus. Auch gesellschaftlich wird Technik zunehmend nicht als Gegenüber wahrgenommen, sondern durchdringt Prozesse und das Subjekt selbst. Sie durchzieht unser menschliches Dasein. Technik ist für das menschliche Selbstverständnis nichts Nachrangiges, sondern bereits konstitutiv in unser Selbst- und Weltverständnis eingebunden.34 31 Harrasser, Körper 2.0, 48. 32 Ebd., 103. 33 Vgl. exemplarisch Hannelore Bublitz, Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers, in: Robert Gugutzer (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, 341–361, hier 343 f. 34 Vgl. Helmus, Transhumanismus, 284–292, 369–379.
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Mitnichten darf deshalb nur eine negative Kritik über das transhumanistische Menschen- und Körperbild thematisiert werden. Die Kritik der Funktionalisierung, Objektivierung und Diskriminierung wird völlig zu Recht geäußert. Und dies ist auch kein Loblied auf den Transhumanismus oder auf jegliche beliebige Form von technologischer Verbesserung. Es ist der Verweis darauf, dass der Transhumanismus völlig zugespitzt Themen eröffnet, die gesellschaftlich bereits Praxis sind und denen sich die Theologie stellen muss. Festzuhalten ist, dass die voranschreitende Technologisierung der Gesellschaft das Menschenbild beeinflusst. Abseits medizinisch-technologischer Veränderungen des Körpers ist zunehmend beobachtbar, wie das Begehren nach Technik steigt und derart die Subjektwerdung beeinflusst. Die Theologie wird dadurch herausgefordert, sich nicht nur gegenüber technologischen Menschenbildern, wie sie der Transhumanismus repräsentiert, verhalten zu können und kritisch Position zu beziehen. Sie ist auch dazu aufgefordert, sich der voranschreitenden Technologisierung und Digitalisierung der Anthropologie zu stellen und selbstreflexiv zu überdenken, ob dadurch Leerstellen innerhalb ihres eignen Diskurses aufgedeckt werden. Technik und Körper als getrennte Einheiten zu verstehen und nicht in ihrer wechselseitigen Verschränkung und Durchdringung, ist meines Erachtens eine dieser Leerstellen, die mit Blick auf das transhumanistische Menschenbild aufgedeckt werden kann. Theologie muss an einem funktionalisierten und verobjektivierten Menschenbild Kritik üben, darf dabei aber nicht stehen bleiben. Sie muss kritische Anfragen stellen und sich gleichfalls damit auseinandersetzen, ob ein technologisches Selbst- und Weltbild eines dieser loci alieni darstellt, die sie noch nicht berücksichtigt hat, und derart die Möglichkeit bietet, sich den Menschen und der Welt in dieser Zeit zuzuwenden und zu einem tieferen (Selbst-)Verständnis zu gelangen. Dr. Caroline Helmus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität zu Köln.
Freiheit und Determinismus – Anthropologie im Spiegel der Naturwissenschaften Sven Walter
In existenziellen Belangen führt nach wie vor kein Weg vorbei an jenen vier Grundfragen, mit denen Immanuel Kant den Gegenstandsbereich der Philosophie absteckte: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?«. Und schließlich die anthropologische Kernfrage, die für Kant übergeordnete: »Was ist der Mensch?« Die Suche nach der conditio humana vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Spannung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Der janusköpfige Anspruch, die Charakteristika unseres Lebensvollzugs nicht (nur) durch Naturgesetzlichkeiten zu erklären, sondern sie (auch und gerade) durch unsere Eigengesetzlichkeit, unsere Autonomie (gr.: autós = selbst, nómos = Gesetz), zu verstehen, ist der Anthropologie inhärent. Aus diesem doppelten Ehrgeiz erwächst ein recht unseliger Streit um die Deutungshoheit in Sachen Mensch, in dem die Naturwissenschaften allenthalben nichts Geringeres als eine »Revolution unseres Menschenbilds« proklamieren.
1 Zwei Menschenbilder? Die Palette an geisteswissenschaftlichen Wesensbestimmungen des Menschen ist bunt: der Mensch, das vernunftbegabte (Aristoteles), sprechende (Herder), symbolische (Cassirer), liebende (Scheler), bildschöpfende (Jonas), hoffende (Bloch) Tier und vieles mehr. In der einen oder anderen Form wird im geisteswissenschaftlichen Kontext aber immer wieder die Autonomie des Menschen betont: Aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten ist der Mensch, und zwar als wohl einziges Lebewesen, in der Lage, sich seinen Willen selbst zu setzen und sich damit in einen sozialen, kulturhistorischen und juristischen Bezugsrahmen von Verantwortungszuschreibungen zu stellen. Es nimmt keineswegs Wunder, dass ausgerechnet diese Attribute zum Kern unseres Menschseins erkoren wurden: Es gehört zu den elementaren Grunderfahrungen unserer Existenz, dass wir uns zeitweise als verantwortlich, als lobens- und tadelnswert und als unter gewissen Umständen zu entschuldigen erleben.
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Aber obschon unsere Freiheit aus unserer Selbsterfahrung kaum wegzudenken ist, war sie stets umstritten. Da kritischen Geistern immer schon nicht einleuchten wollte, wie sich unsere vorgebliche Selbstbestimmung mit verschiedenen Arten von Fremdbestimmung vertragen soll, sei es mit dem Vorauswissen eines allwissenden Gottes, dem Schicksal, der Prädestination oder einem naturgesetzlichen Determinismus, stand unsere Freiheit gewissermaßen noch nie nicht infrage. Nur waren die entsprechenden Dispute über weite Strecken so scholastisch, dass sie außeruniversitär kaum Widerhall fanden. Entsprechend konnte Kant noch ruhigen Gewissens behaupten, unsere praktische Freiheit1 könne »durch Erfahrung bewiesen werden«2, in der unser Selbstverständnis allen Bedenken trotze: »Selbst der hartnäckigste Skeptiker gesteht, daß, wenn es zum Handeln kömmt, alle sophistische [sic!] Bedenklichkeiten wegen eines allgemein täuschenden Scheins wegfallen müssen. Ebenso muß der entschlossenste Fatalist, der es ist, solange er sich der bloßen Spekulation ergibt, dennoch, sobald es ihm um Weisheit und Pflicht zu tun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre.«3 Insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts sehen sich die Geisteswissenschaften mit dem Anspruch der Naturwissenschaften konfrontiert, die conditio humana neu zu verhandeln. Für Autonomie, Freiheit oder Verantwortung ist in ihrem Bild des Menschen als komplexes materielles Produkt eines natürlichen Ausleseprozesses dem Vernehmen nach nämlich kein Platz. Unser Freiheitserleben, so ihre unmissverständliche Auskunft, ist just das: erlebte Freiheit, der aber keine tatsächliche Freiheit entspricht. Die dabei vorgetragenen Bedenken sind insofern von grundsätzlich anderer Art, als unsere Unfreiheit nicht länger auf einigermaßen verschwurbelte philosophisch-theologische Spitzfindigkeiten gestützt, sondern zur zweifelsfrei erwiesenen empirischen Erkenntnis erhoben wird. Und wenn der Gegner nicht länger die spekulative Metaphysik, sondern die altehrwürdige Naturwissenschaft ist, erscheint Kants Versicherung, wir könnten in der Praxis gar nicht anders, als uns so zu verhalten, als ob wir frei seien, als (zu) schwacher Trost. Wie also ist es um die Freiheit des Menschen 1 Kant zufolge besteht diese darin, dass wir als vernunftbegabte Lebewesen in der Lage sind, »unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden« zu handeln. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Werke in sechs Bänden, Bd. II, Darmstadt 1983, 198, A 802/B 830. 2 Ebd. 3 Immanuel Kant, Rezension zu Johann Heinrich Schulz: Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, in: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Darmstadt 1983, 773–778, insb. 777.
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bestellt, insbesondere im Spiegel der Naturwissenschaften und der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Freiheit und Determinismus?
2 Freiheit und Determinismus Ideengeschichtlich wurde Freiheit immer dann zum Problem, wenn der Mensch gewahr wurde, dass sich seine erlebte Selbstbestimmung augenscheinlich nicht mit einer auf anderem Wege verbrieften Fremdbestimmung vereinbaren lässt. Im Kern dieses »Vereinbarkeitsproblems« steht die Vorstellung, dass ein selbstbestimmtes Handeln »alternative Möglichkeiten« erfordert. Wenn Alex vor der Entscheidung steht, eine Familie zu gründen oder zu promovieren, dann wird diese, ganz gleich, wie sie am Ende ausfällt, offenbar nur dann »aus eigenem freiem Willen« getroffen, wenn Alex auch die andere Entscheidung hätte treffen können. Wenn Alex – warum auch immer (s. Abs. 3–6) – gar nicht anders konnte, dann kann von Selbstbestimmung anscheinend keine Rede sein. Einig sind sich Kritiker unserer Freiheitsgewissheit darin, dass ein solches »Anderskönnen« wohl nicht mit der Vorstellung in Einklang zu bringen ist, dass unsere Entscheidungen durch fremde Faktoren, die sich unserer Kontrolle entziehen, determiniert, also ausnahmslos festgelegt, sind. Uneins sind sie sich darüber, was genau die fremdbestimmenden Faktoren sind, die uns angeblich keine Wahl lassen.
3 Allgemeiner, naturgesetzlicher Determinismus? Zum Problem wurde die Freiheit des Menschen zum ersten Mal in der griechischen Antike, als an die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zwar noch nicht zu denken war, aber das, was sich über den Menschen als Naturwesen sagen ließ, erstmals in Konflikt geriet mit dem, was über ihn als geistbegabtes Wesen gesagt werden sollte. Den Stein ins Rollen brachten die Philosophen Leukipp und Demokrit, indem sie als Erste ein »atomistisches Weltbild« vertraten, wonach letztlich alles aus denselben unzerstörbaren Teilchen (gr. atomos = unteilbar) besteht, die sich auf immer neue Weise verbinden – und zwar nicht durch göttliche Fügung, sondern einzig, indem sie den Naturgesetzen folgen, die alles Werden und Vergehen leiten. Wenn aber alles vollständig auf eherne Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen ist, dann sind unsere Entscheidungen offenbar alternativlos festgelegt und mithin nicht selbstbestimmt.
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Für Leukipp und Demokrit war das kein Problem, denn die Vorstellung von Freiheit als Selbstbestimmung war ihrer Zeit sowieso noch fremd. Deren Notwendigkeit ergab sich erst später, aus jener Art von Individualismus, die im attischen Denken im Kontext des epikureischen Hedonismus Fuß fasste: Wenn der oberste Sinn des Daseins nicht mehr durch den Beitrag zur Polisgemeinschaft gesetzt wird, sondern einzig im Glück des Einzelnen besteht, dann darf das, was sich der Einzelne selbst zum Ziel setzt, keinem unabänderlichen kosmischen Plan folgen. Die einzige Antwort auf die Frage, warum sich jemand dieses oder jenes zum erstrebenswerten Ziel auserkoren hat, kann dann nur noch lauten: »Weil er selbst es kraft seines Geistes so will.« Aus der Kombination eines atomistischen Weltbilds und der Vorstellung, dass die Frage nach dem Schlüssel zu einem gelingenden Leben nur mit Blick auf selbstbestimmte Entscheidungen zu beantworten ist, entstand daher jenes Problem, das die Philosophie heute noch umtreibt:4 Wenn man den Lauf der Dinge ohne Zuhilfenahme göttlicher Weltenlenker oder Ähnlichem erklären möchte, dann muss man offenbar alles einer strengen Naturgesetzlichkeit unterwerfen; dann jedoch kann man dem Menschen nicht mehr zubilligen, bei der Bestimmung seines Willens just dieser Naturgesetzlichkeit enthoben zu sein. Moderner ausgedrückt: In einer deterministischen Welt legen die Gesetze sowie das, was zu einem gegebenen Zeitpunkt der Fall ist, zusammen eindeutig fest, was zu allen anderen Zeitpunkten der Fall ist. Es gibt daher zu jedem Zeitpunkt genau eine mögliche Zukunft und somit keine »alternativen Möglichkeiten« derart, wie sie für Freiheit erforderlich zu sein scheinen. Wie auch immer sich Alex in einer deterministischen Welt entscheidet, die Entscheidung ist die unabänderliche Konsequenz von Geschehnissen in der Vergangenheit und den geltenden Gesetzen, an denen nichts zu ändern war. Und in diesem Sinne ist sie nicht selbst-, sondern fremdbestimmt. Wenn (!) es in unserer Welt im Sinne eines solchen allgemeinen Determinismus deterministisch zugeht, dann ist es um unsere Freiheit allem Dafürhalten nach schlecht bestellt. Daneben spielen gerade im Kontext der Naturwissenschaften jedoch auch bereichsspezifische Determinismen eine Rolle. Diesen geht es nicht darum, dass die Welt in ihrer Gesamtheit festlegt, wie wir uns verhalten, sondern »nur« darum, dass unser Verhalten durch irgendwelche Faktoren bestimmt wird, die wir aber ebenso wenig bewusst kontrollieren können wie die Gesetze und die Vergangenheit – namentlich durch unsere Gene im Bereich der Biologie, durch unser Gehirn im Bereich der Neurowissenschaften und durch unsere Umwelt im Bereich der Psychologie. 4 Vgl. dazu Sven Walter, Grundkurs Willensfreiheit, Münster 2018.
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4 Genetischer Determinismus? Selbst wenn sich unser Verhalten nicht zwangsläufig aus den in unserer Welt geltenden Gesetzen sowie dem ergibt, was in der Vergangenheit geschah, ist keineswegs ausgemacht, dass es (immer, meist, oft oder auch nur manchmal) tatsächlich »bei uns steht«. Im Kontext eines »Biologismus« etwa,5 der beansprucht, alle Facetten des menschlichen Daseins durch biologische Faktoren zu erklären, wird unter dem Schlagwort eines »genetischen Determinismus« manchmal verlautbart, ausschließlich unsere Gene machten uns zu dem, was wir sind, wir seien in unserem Verhalten »vorprogrammiert«.6 Inzwischen ist, u. a. durch Studien an eineiigen, das heißt, genetisch (nahezu) identischen, Zwillingen, die in unterschiedlichen Umfeldern aufwuchsen, klar, dass die Beziehung zwischen unseren Genen und unseren phänotypischen Merkmalen keineswegs eine Einbahnstraße ist. Die Furcht vor einer »Tyrannei der Gene«7 ist also übertrieben. Gleichwohl ist unbestreitbar, dass uns Gene sowie pathologische Veränderungen in den Körperzellen beeinflussen können, sodass die Frage nach unserer Selbstbestimmung, und damit nach der Verantwortung, die wir für unser Verhalten tragen, nicht von der Hand zu weisen ist. Zwei Beispiele: Am 17. Februar 1991 überfiel der 25-jährige Stephen Mobley ein Schnellrestaurant und richtete einen Angestellten mit einem Schuss in den Hinterkopf hin.8 Er wurde verhaftet und gestand, zeigte aber keine Reue, sondern prahlte sogar, nach seiner Entlassung die freigewordene Nachtschicht zu übernehmen. Obwohl er eine privilegierte Kindheit gehabt hatte, plädierten seine Rechtsanwälte auf mildernde Umstände, mit dem Hinweis, seine männlichen Vorfahren hätten seit vier Generationen Verhaltensauffälligkeiten und insbesondere eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft aufgewiesen. Mobleys aggressive Neigungen und sein Mangel an Selbstbeherrschung, so ihre Argumentation, waren vererbt, und er somit für sein daraus resultierendes Fehlverhalten nicht verantwortlich. Der Georgia Supreme Court hingegen sah in der Möglichkeit, dass Mobleys aggressive Neigungen und sein Mangel an Selbstbeherrschung 5 Vgl. dazu Diethard Tautz, »Genetische Unterschiede? Die Irrtümer des Biologismus«, in: Michael Haller/Martin Niggeschmidt (Hg.), Der Mythos vom Niedergang der Intelligenz, Berlin 2012, 127–134. 6 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, Wien 1973; vgl. auch Chris Willmott, Biological Determinism, Free Will and Moral Responsibility, Berlin 2016. 7 Werner Bartens, Die Tyrannei der Gene, München 1999. 8 Vgl. dazu David Goldman, Our Genes, Our Choices, New York 2012, Kap. 4; Mairi Levitt/ Neil Manson, »My genes made me do it? The implications of behavioural genetics for responsibility and blame«, in: Health Care Analysis 15 (2007), 33–40.
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ihm in die Wiege gelegt worden waren, keinen Grund, ihn für sein Fehlverhalten nicht zur Verantwortung zu ziehen. Am 1. März 2005 wurde Stephen Mobley mit einer Giftspritze hingerichtet. Im Jahr 2000 entwickelte ein 40-jähriger, zuvor unauffälliger Familienvater und Schullehrer Interesse an kinderpornografischem Material, begann, Prostituierte aufzusuchen und belästigte schließlich sogar seine minderjährige Stieftochter.9 Er wurde wegen Kindesmissbrauchs verurteilt und entging einer Gefängnisstrafe nur, weil er in eine Behandlung seiner Pädophilie einwilligte. Der Therapieversuch wurde jedoch wegen sexueller Übergriffe auf das Klinikpersonal abgebrochen. Am Vorabend seiner damit unausweichlich gewordenen Haftstrafe suchte er mit starken Kopfschmerzen die Notaufnahme auf, bedrängte aber noch während der Untersuchung die Krankenschwestern. Die Ärzte diagnostizierten einen Tumor in einem Bereich des Gehirns, der an der Verarbeitung moralischen Wissens sowie an der Steuerung des Sozialverhaltens beteiligt ist. Bereits kurz nach der operativen Entfernung dieses Tumors klangen die Symptome ab und die Verhaltensauffälligkeiten verschwanden. Der Mann absolvierte eine Therapie, das Gericht erlies ihm die Gefängnisstrafe und er durfte zu seiner Familie zurückkehren. In beiden Fällen hat sich jemand zweifellos moralisch falsch verhalten. In beiden Fällen soll er aber von der Verantwortung für sein Fehlverhalten entbunden werden, weil es aus Faktoren resultieren soll, die sich seiner Kontrolle entzogen. Interessant ist allerdings, dass beide Fälle juristisch unterschiedlich beurteilt wurden: Während offenbar erwartet wird, dass man die aus erblichen Voranlagen resultierenden Handlungstendenzen steuert, wird eingestanden (oder, je nachdem, wie man es sieht, unterstellt), dass der von einem Gehirntumor ausgeübte »Zwang« so unwiderstehlich sein kann, dass den Betroffenen tatsächlich jene Art von Freiheit fehlt, die erforderlich dafür ist, dass sie für ihr Verhalten moralisch verantwortlich sind und dafür kritisiert oder bestraft werden dürfen. Die Frage, wo und wie genau die Grenze zu ziehen ist zwischen tatsächlich entschuldigenden Zwängen auf der einen Seite und bloßen Erschwernissen, die gefälligst zu überwinden sind, auf der anderen, ist jedoch eine, die alles andere als leicht zu beantworten sein dürfte.
9 Vgl. dazu Jeffrey Burns/Russell Swerdlow, »Right Orbitofrontal Tumor With Pedophilia Symptom and Constructional Apraxia Sign«, in: Archives of Neurology 60 (2003), 437–440.
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5 Neuronaler Determinismus? Statt unseren Genen fällt in den Neurowissenschaften unserem Gehirn die Aufgabe zu, uns als willfährige Spielbälle zu »programmieren«. »Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen«, so konstatiert z. B. Wolf Singer,10 und Gerhard Roth plädiert für eine »Hirnforschung befreit von Illusionen«, die eingesteht: »Wir sind determiniert«.11 Auch hier gilt: Von einer Festlegung im Sinne eines »neuronalen Determinismus« kann keine Rede sein.12 Dennoch bieten auch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften Anlass, sehr genau darüber nachzudenken, wie sich unser Wissen um die neuronalen Grundlagen von Entscheidungsprozessen mit der Vorstellung in Einklang bringen lässt, dass unsere Entscheidungen und die daraus resultierenden Handlungen nachhaltig selbstbestimmt sind. Die bekanntesten »Studien zum freien Willen« sind wohl jene, mit denen Benjamin Libet Anfang der 1980er Jahre Furore machte.13 Libet wollte wissen, wie sich das Bereitschaftspotenzial, eine im Elektroenzephalogramm (EEG) sichtbare Veränderung des kortikalen Gleichspannungspotenzials, die einfachen willentlichen Bewegungen wie dem Beugen eines Fingers oder der Hand vorausgeht, zeitlich zu dem bewussten Entschluss der betreffenden Personen verhält, die entsprechende Bewegung auszuführen. Libet war überzeugt, der bewusste Willensentschluss müsse den Anfang machen, durch ihn erteilten wir unserem Gehirn gleichsam erst den Auftrag, die gewünschte Bewegung auszuführen, woraufhin dann das Bereitschaftspotenzial einsetze und neurophysiologisch alles dafür Erforderliche in die Wege leite. Libets Erwartung wurde enttäuscht. Der bewusste Willensentschluss trat im Mittel rund 200 Millisekunden vor Bewegungsbeginn auf, das Bereitschaftspotenzial hingegen bereits rund 550 Millisekunden, das heißt, es ging dem bewussten Willensentschluss rund eine Drittelsekunde voraus. Unser Gehirn wartet also augenscheinlich nicht unseren bewussten Willensentschluss ab, sondern leitet unsere Handlungen bereits ein, wenn wir uns einer Entscheidung noch gar nicht bewusst sind. In den Augen mancher Neurowissenschaft10 Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest, in: Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt 2004, 30–65. 11 Gerhard Roth, Wir sind determiniert. Hirnforschung befreit von Illusionen., in: Geyer, 218– 222, hier 218. 12 Vgl. dazu Sven Walter, Illusion Freiheit? Grenzen einer empirischen Annäherung an ein philosophisches Problem, Stuttgart 2016, Kap. 4.3 und 8.7. 13 Benjamin Libet, »Unconscious cerebral initiative and the role of unconscious will in voluntary action«, in: Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), 529–566; ders., »Haben wir einen freien Willen?«, in Geyer, Hirnforschung, 268–289. Vgl. auch Walter, Illusion, Kap. 5.
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ler kann das »nur bedeuten, dass unser bewusster Willensimpuls so etwas wie ein Ratifizieren einer Entscheidung ist, die das Gehirn schon getroffen hat«.14 Vergleichbare Befunde lieferten auch Studien des Berliner Neurowissenschaftlers John-Dylan Haynes, in denen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) vorhergesagt werden konnte, welche Entscheidungen Probanden später treffen würden.15 Ähnlich wie bei Libet sollten sie sich zu einem frei gewählten Zeitpunkt entscheiden, einen von zwei Knöpfen zu drücken oder zwei einstellige Zahlen entweder zu addieren oder zu subtrahieren. In der Auswertung der fMRT-Daten waren Gehirnregionen zu erkennen, deren Aktivität mit einer Klassifikationsgenauigkeit von ungefähr sechzig Prozent auf die nachfolgende Entscheidung schließen ließ. Anders als bei Libet treten die fraglichen neuronalen Prozesse allerdings nicht erst 350 Millisekunden, sondern bereits sieben bis zehn Sekunden vor der Bewegung auf – und entsprechend viel vor dem Bewusstwerden der Entscheidung. Studien wie diese mögen dazu angetan sein, manche Vorstellungen von Selbstbestimmung zu hinterfragen oder zu präzisieren. Sie führen uns ins besondere vor Augen, dass unsere bewusste Entscheidung, etwas zu tun, nicht der erstursächliche »Auslöser« unseres Verhaltens ist, der gleichermaßen aus dem Nichts heraus Prozesse in unserem Gehirn überhaupt erst anstößt. Worin auch immer unsere Freiheit bestehen mag, wir sind gewiss nicht Herr über unser Gehirn, die ohne es Entscheidungen treffen, die es dann umzusetzen hat. Was sollte ein bewusster Willensakt sein, wenn nicht etwas, was sich im Gehirn abspielt? Schließlich ist unser Gehirn mit konstitutiv für uns – wir sind, was wir sind, u. a. deshalb, weil in ihm bestimmte physikochemische Prozesse ablaufen.16 Manche Neurowissenschaftler sehen darin den Nachweis, dass wir mit unserer Freiheitsgewissheit einer Illusion unterliegen. Die Frage muss jedoch erlaubt sein, warum wir Verantwortungszuschreibungen revidieren oder gar aufgeben sollten, nur weil Entscheidungsprozesse neuronal realisiert sind. Den Handlungen des in diesem Abschnitt beschriebenen Patienten ging vermutlich ebenso ein Bereitschaftspotenzial voraus wie den entsprechenden Handlungen eines »freiwillig« sexualdelinquent gewordenen Menschen. Indem wir 14 Wolfgang Prinz, »Der Mensch ist nicht frei«, in Geyer, Hirnforschung, 20–26. 15 Vgl. Chun Siong Soon/Anna Hanxi He/Stefan Bode/John-Dylan Haynes, »Predicting free choices for abstract intentions«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 110 (2013), 6217–6222; Chun Siong Soon/Marcel Brass/Hans-Jochen Heinze/John-Dylan Haynes, »Unconscious determinants of free decisions in the human brain«, in: Nature Neuroscience 11 (2008), 543–545; Vgl. auch Walter, Illusion, Kap. 6. 16 Was jedoch ausdrücklich nicht bedeutet, dass wir unser Gehirn sind – wir können den Müll rausbringen und Briefmarken sammeln, unser Gehirn nicht.
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also nur Ersteren, nicht aber Letzteren, von seiner Verantwortung entbinden, gestehen wir daher ein, dass die bloße Tatsache, dass ihre Steuerungsmechanismen neuronal realisiert sind, für sich genommen gerade nicht hinreicht, ihnen eine Selbstbestimmung abzusprechen. Die Vorstellung einer Entschuldigung beinhaltet, dass sie uns von einer Schuld entbindet, die wir andernfalls hätten. Daher setzt die Auffassung, dass uns außergewöhnliche Bedingungen wie etwa ein Gehirntumor entschuldigen können, voraus, dass wir gewöhnlich für unser Verhalten verantwortlich sind – und das auch dann, wenn »alles, was wir tun oder nicht tun, nicht unser ›freies Ich‹ tut, sondern durch Nervenzellen vollbracht wird«17.
6 Psychologischer Determinismus? Für Sigmund Freud bildete die Auffassung eines »psychischen Determinismus«18, wonach das Seelenleben des Menschen in dem Sinne »lückenlos«19 mentalen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, dass die Eigenheiten »unserer psychischen Leistungen […] durch dem Bewußtsein unbekannte Motive determiniert«20 sind, einen der zentralen Grundpfeiler der psychoanalytischen Position. Aber auch wer dem Freud’schen Unbewussten wenig abgewinnen kann, findet in der modernen Sozialpsychologie überzeugende Evidenzen dafür, dass wir uns in einem ganz erstaunlichen Ausmaß über die wahren Motive unseres Handelns täuschen können und auch in ganz alltäglichen Situationen aufrichtige Erklärungen dafür anbieten, warum wir etwas getan haben, die nachweislich unzutreffend sind.21 Auch persönlich, sozial und moralisch gewichtige Entscheidungen, die wir normalerweise als unter unserer bewussten Kontrolle stehend ansehen, werden von zufälligen und marginalen Merkmalen der Situation, in der wir uns befinden, offenbar stärker gesteuert als von dem, was uns an Motiven ins Bewusstsein dringt – und zwar oftmals entgegen unserer bewussten Werte, Absichten usw. Kund:innen eines Einkaufszentrums etwa, die ein öffentliches Münztelefon benutzten und die Wechselgeldklappe nach vergessenen Münzen durchsuch-
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Markowitsch, Warum, 167. Sigmund Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, Berlin 1917, 209. Ebd., 210. Ebd., 197. Vgl. Walter, Illusion, Kap. 11 und 12.
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ten, waren signifikant hilfsbereiter, wenn sie darin zehn Cent gefunden hatten.22 Personen waren eher bereit, an einer Studie teilzunehmen, wenn sie unerwartet einen Keks erhalten hatten.23 Restaurantbesucher:innen geben signifikant mehr Trinkgeld, wenn der oder die Kellner:in rote Kleidung oder einen Haarschmuck trägt oder gutes Wetter ankündigt.24 Solche situationalen Einflüsse, die augenscheinlich einen Gutteil unseres Verhaltens mitbestimmen (wenn auch nicht determinieren), werden von uns in aller Regel nicht als wirksam erkannt und finden in unseren Verhaltenserklärungen entsprechend keine Berücksichtigung.25 Wir täuschen uns daher, wenn wir uns allzu sicher sind, mit unserem bewussten Willen »Herr im Haus« zu sein und mit der untrüglichen Autorität der ersten Person unfehlbar über die wahren Motive hinter unserem Verhalten Bescheid zu wissen. Für unsere Selbstbestimmung ist das zwar nicht grundsätzlich ein Problem, aber sehr wohl dann, wenn wir uns aufgrund situationaler Einflüsse auf eine Art und Weise verhalten, die wir, wüssten wir um die eigentliche Motivation hinter unserem Tun, nicht mehr vorbehaltlos als »unsere« anerkennen könnten. Beispielsweise lässt sich unsere Hilfsbereitschaft systematisch und ohne unser Wissen durch den Geruch von Schokokeksen, frisch geröstetem Kaffee oder Allzweckreiniger manipulieren.26 Insofern wir in solchen Fällen dem zuwiderhandeln, was wir aus Sicht der ersten Person als charakteristisch für uns als Person ansehen (dass wir unseren Mitmenschen nämlich unbesehen solcher eigentlich gänzlich irrelevanten Einflüsse helfen würden), kann man in derartigen Studien eine Bedrohung unserer Freiheit ausmachen. Wir können eine Entscheidung nicht als »frei« oder »selbstbestimmt« deklarieren, als etwas, was »bei uns stand«, wenn wir im Lichte sozialpsychologischer Erkenntnisse im selben Atemzug hinzuzufügen gezwungen sind: »Sie war aber nichts, was ich identifizierend als wahrhaft ›meine‹ anzuerkennen bereit bin, da ich damit unbewusst gegen Prinzipien verstoßen habe, von denen ich möchte, dass sie für mich als Person leitend sind«. 22 Paula Levin/Alice Isen, »Further studies on the effect of feeling good on helping«, in: Sociometry 38 (1975), 141–147. 23 Alice Isen/Paula Levin, »Effect of feeling good on helping: Cookies and kindness«, in: Journal of Personality and Social Psychology 21 (1972), 348–388. 24 Nicolas Guéguen/Céline Jacob, »Clothing color and tipping: Gentlemen patrons give more tips to waitresses with red clothess«, in: Journal of Hospitality & Tourism Research 38 (2014), 275–280; Céline Jacob/Nicolas Guéguen/Christine Delfosse, »She wore something in her hair: the effect of ornamentation on tipping«, in: Journal of Hospitality & Marketing 21 (2012), 414–420; Bruce Rind/David Strohmetz, »Effect of beliefs about future weather conditions on restaurant tipping«, in: Journal of Applied Social Psychology 31(2001), 2160–2164. 25 Vgl. Walter, Illusion, Kap. 11.3. 26 Vgl. Sven Walter/Achim Stephan, »Situated affectivity and mind shaping: Lessons from social psychology«, in: Emotion Review 15 (2023), 3–16.
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7 Fazit und Ausblick Ein wenig mulmig kann es einem im Lichte der beschriebenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse schon werden. Zweifellos: Das eine oder andere überbordende Ego mag einen Knacks bekommen, wenn es sich eingestehen muss, dass es keine uneinnehmbare Inselfestung ganz und gar uneingeschränkter Autonomie und Selbstbestimmung ist. Aber vielleicht hat Aristoteles mit seiner Charakterisierung des Menschen als animal rationale auch zu hohe Selbstansprüche geweckt: Dass wir ein zṓon lógon echón sind, heißt lediglich, dass wir qua Mensch die Gabe der Vernunft besitzen; es heißt keineswegs, dass es in unserer Macht steht, diese Gabe immer umzusetzen, oder dass es in unserer Natur liegt, einzig unserem vernünftigen Willen als alleiniger Triebfeder zu folgen. Wir unterliegen Einschränkungen. Wir verhalten uns nicht immer rational. Wir täuschen uns häufiger über unsere Motive, als uns lieb sein kann. Aber unsere Vernunftbegabtheit qua Mensch versetzt uns in die Lage, uns darüber reflektierend ins Bild zu setzen, und sie ermöglicht es uns, die Situationen, in denen wir handeln, gezielt so zu strukturieren, dass sie unserer Selbstbestimmung zuträglich sind. So wie sich Odysseus von seinen Gefährten an den Mast binden ließ, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen, so können auch wir uns so organisieren, dass es uns leichter fällt, unseren Willen an unserem Urteil darüber auszurichten, was zu tun wir für das Richtige halten. Wer weiß, dass er der mitternächtlichen Plünderung des Süßigkeitenvorrats trotz angestrebter Diät nicht wird widerstehen können, der macht sich ein Stück weit freier, indem er gar nicht erst einen anlegt. Wer sich nicht der psychischen Belastung aussetzen möchte, die mit dem andauernden Abruf von E-Mails und anderer permanenter Informationssucht einhergeht, aber weiß, dass er den Verheißungen seines nigelnagelneuen Smartphones nicht wird widerstehen können, der macht sich freier, indem er sich ein Mobiltelefon zulegt, das nicht internetfähig ist. Und schon das ist deutlich mehr Selbstbestimmung, als andere Tiere an den Tag zu legen fähig sind. Dr. Sven Walter ist Professor für Philosophie des Geistes am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück.
Glauben im Namen der Menschheit. Über die Bindung der Religion an die Humanität Volker Gerhardt
1 Geist als das Verbindende zwischen Menschen und Gott Es ist naheliegend, dass ein Mensch Gott um Beistand, Trost, Ermutigung oder Aufschluss bittet, wenn er sich selbst in Not, in Bedrängnis oder in Erwartung großer Ereignisse wähnt. Dazu kann ihn die Lage veranlassen, in der er sich als Einzelner entweder allein oder mit seinen Nächsten in Familie, Stadt oder Land befindet. Auch die Menschheit als Ganze ist von Anfang bis Ende in den Glauben einbezogen, wie Schöpfungsmythen, Untergangsvisionen und viele Erlösungshoffnungen zeigen. Die Sintflut hat bis heute ihre Schrecken nicht verloren. Das belegt schon das Interesse, dass die Bildtradition des Themas in der Malerei findet. Und die jüngsten Belege finden sich in den Aktivitäten, mit denen junge Menschen unter Titeln wie »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation« auf die ökologische Selbstvernichtung der Menschheit aufmerksam machen. Solange der Mensch ein Bewusstsein von seiner Lage hat, bleibt er mit seinesgleichen vereint. Die geschichtliche Verbreitung von Religionen zeigt an, wie stark der Glauben an Gott und an die Götter mit den Gemeinschaften verbunden ist, in denen Menschen leben. Schon die ersten Denker, von denen uns begrifflich ausgewiesene Einsichten überliefert sind, die sogenannten Vorsokratiker, machen uns bewusst, wie groß das Bedürfnis der Menschen ist, ihren Göttern nicht nur nahe, sondern auch ähnlich zu sein. Denken, Erkennen und Wissen sind nur Beispiele für die vielfältigen Fähigkeiten, die der Mensch sich selbst zuschreibt, wenn er seine Eigenart im Umgang mit der Welt, mit seinesgleichen und mit sich selbst auf einen Begriff bringen will. Der bündelnde Begriff für die den Menschen auszeichnenden Leistungen, die auch das verständige Sprechen der Menschen miteinander ermöglichen, ist Geist (nous/logos). Und nur wenn wir uns vor Augen führen, wie elementar die dem Geist zugeschriebenen Leistungen sind, vermeiden wir das Missverständnis, es gehe um etwas Abgehobenes, der Welt Entrücktes und irgendwie »jenseitiges« Vermögen, mit dem sich der Mensch eine Nähe zu den Göttern zu erschleichen suche. Der Geist ist das vom Menschen benötigte Mittel elementarer Lebensbewältigung, sobald er sich mit seinesgleichen verständigt, Werkzeuge herstellt und im
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größtmöglichen Einverständnis mit anderen handelt. Der Geist gewinnt seine Bedeutung in der sachbezogenen Erkenntnis, ihrer situationsspezifischen Mitteilung sowie in der gemeinschaftlichen Verständigung über Erfolg und Misserfolg eines bestimmten Tuns. Im Geist, den der Mensch nur von sich selbst her kennt (und den er in und mit dieser Kenntnis auch manchen Tieren, Pflanzen und Maschinen zuschreiben kann), wird indes auch das schlechthin entscheidende Merkmal der Götter ausgemacht. Die philosophischen und religiösen Gotteslehren haben, trotz zahlloser Varianten und Spezialisierungen im Einzelnen, ihr Gemeinsames im Zen tralmerkmal der Geistigkeit Gottes. Und obgleich der Mensch vom Geist nur von sich selbst weiß, unterstellt er ihn als das einheitlich durchgängige Merkmal von Menschen und Göttern. So verweist die Natur des Menschen auf Gott, dessen zentrales Wirkungsmoment der Geist ist. Doch so groß die Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Mensch und Gott auch sein mögen, entscheidend bleibt die Betonung des himmelweiten Unterschieds zwischen Menschen und Göttern.
2 Die tiefe Einsicht des Evangeliums Die Gotteslehren, die unter sokratischen Vorzeichen vornehmlich von Platon, Aristoteles und Cicero ausgearbeitet wurden, gestalten die vorsokratische Einsicht in die innere Entsprechung von Gott und Mensch in bewundernswerter Vielfalt und mit großem Gewinn für die Selbsterkenntnis des Menschen. Aber erst die ohne erkennbaren philosophischen Vorlauf auftretende Botschaft Jesu bringt die gar nicht weiter zu verdichtende Nähe zwischen Gott als dem »Vater« und dem Menschen als seinem »Sohn« zu einem jähen, dramatisch gesteigerten Ausdruck. Die Empörung rechtgläubiger Jüdinnen und Juden und der Spott all jener, die es selbst als bekennende Atheist:innen unangemessen finden, dass der vollkommene Gott zu einem seiner unvollkommenen Geschöpfe in ein familiäres Verhältnis tritt, ist verständlich. So legt das Überraschende im plötzlichen Auftritt des Evangeliums den Verdacht nahe, das Christentum sei ein sich fernab von der Philosophie ereignender Rückfall in ein vorantikes, vielleicht sogar naives Verhältnis zur Religion. Doch was man zunächst sagen kann, ist, dass die Lehre Christi in ihrer zen tralen Botschaft von einem kindlichen Vertrauen getragen ist. Und das hat seinen guten Grund darin, dass der Mensch im Verhältnis zu Gott allemal klein und ahnungslos erscheint; nur die Tatsache, dass Gott ihm die Fähigkeit gegeben hat, für sich selbst verantwortlich zu sein und in eigenem Namen zu sprechen,
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kann dem Menschen das Selbstbewusstsein geben, Gott überhaupt gegenübertreten zu können. Und dazu muss der Mensch in der Lage sein, wenn es ihm mit seiner Verantwortung für sein Leben ernst ist. Kindlich mag das auch deshalb erscheinen, weil der prophetische Gründer, Jesus Christus, sich nicht um die Vorurteile seiner gesellschaftlichen Umgebung kümmert; er handelt, als kenne er die traditionellen Grenzlinien nicht, die zwischen den Geschlechtern, den Angehörigen verschiedener Berufsgruppen, unterschiedlichen Stämmen und Völkern oder zwischen dem jüdischen Volk und den römischen Besatzern bestehen. Soweit wir wissen, ist die christliche Botschaft ohne gelehrten Kontakt zur antiken Philosophie entstanden. Vermutlich wussten die ersten Apostel auch nichts von der zwei Lebensalter vor ihnen erstmals von Cicero geforderten Wahrung der Humanität, die vom einzelnen Menschen verlangt, sich als Person und im Bewusstsein seiner menschlichen Würde als Teil der Menschheit zu erweisen. Der Apostel Paulus dürfte der erste Anwalt der christlichen Botschaft gewesen sein, der von dieser philosophischen Erbschaft Kenntnis hatte. Doch in seinen Lebenszeugnissen erfahren wir darüber nichts. Wir wissen nur von gelehrten Römern, dass die Ansicht verbreitet war, die ersten Christen müssten Ciceros Schriften gelesen haben. Ob das so war, entzieht sich meiner Kenntnis. Wovon die mit der jüdischen Überlieferung vertrauten Christen aber gehört haben dürften, ist die schon in den mosaischen Büchern vertretene Aufforderung, sich mitmenschlich zu verhalten und allen notleidenden Menschen eine Hilfe zu sein. So wird bei der Verkündigung der neuen Tafeln Israels gesagt, dass der Gott Israels der »Gott aller Götter« sei, der »Herr aller Herren«, der sein Wort zwar an die Kinder Israel richtet, ihnen aber Gebote gebe, die alle Menschen verpflichtet, wo immer sie leben. Gott fordert alle Gläubigen auf, den »Waisen und Witwen« beizustehen und damit allen, die schutzlos sind. Er verlangt von ihnen, »die Fremden« zu lieben und ihnen »Nahrung und Kleidung« zu geben(Dtn 10,18 f.). Als Schöpfer und Schutzmacht ist Gott ohnehin derjenige, der für alle und alles sorgt. Wo es aber nicht so empfunden wird, hat der Mensch seinesgleichen eine Hilfe und Stütze zu sein. Also erwartet Gott von allen Gläubigen, dass sie ihrerseits ihre Mitmenschen »lieben« und den Notleidenden eine Stütze sind (Dtn 10,18 f.). Die Begründung, mit der Gott seiner Forderung, Anteil am Schicksal der der Hilfsbedürftigen zu nehmen, Nachdruck gibt, ist bemerkenswert: Alle Menschen seien einst »Fremde in Ägypten« gewesen (Dtn 10,19). Das heißt: So unterschiedlich die Lebensläufe auch sein mögen: Alle Menschen haben das gleiche Schicksal. Jede:r kann in Not geraten und dann ist es die Pflicht eines und einer jeden, anderen zu helfen, die im Elend sind. Alle Menschen sind als Kinder Gottes zu
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begreifen und so stehen sie alle wechselseitig in der Pflicht, einander Hilfe zu gewähren, wie Eltern es bei ihren Kindern tun. Hier also gibt es im Judentum eine bis in seine Anfänge zurückreichende philanthropische Tradition. In dieser Hinsicht haben die Christen Cicero gar nicht nötig. Denn die Sorge für die Menschheit ist ein ursprüngliches Gebot, das nicht nur die Juden, sondern auch die dem Evangelium folgenden Christen aus eigener Einsicht zu beachten haben. Wir brauchen daher nur zu ergänzen, dass Ciceros Berufung auf die Humanität keineswegs nur ein literarisches und philosophisches Vorkommnis gewesen ist. Denn seine Worte und sein Schicksal haben den Epochenbruch mit der römischen Republik begleitet und deren Missachtung hat zum imperialen Rückfall in eine vorher für überwunden angesehene neue, imperiale Kaiser- und Königsherrschaft geführt. Und die von Cicero betonte Personalität ist in der ausdrücklichen Individualität der christlichen Lehre bewahrt. Die Folgen dieser Nähe zwischen dem radikalen christlichen Individualismus und dem die sokratisch-platonische Tradition bewahrenden Humanismus treten erst mit der Integration der christlichen Lehre in den imperialen Universalismus des römischen Reiches hervor. In ihren Anfängen war die christliche Botschaft auf das politisch randständige Palaestina beschränkt und hatte dort in ihrer menschlichen Unmittelbarkeit zu ihren frühen Anhängern gefunden. Danach war sie darauf angewiesen, ihre Anhänger durch die Korrespondenz zwischen versprengten Gemeinden zusammenzuhalten. Das ist ihrem lehrhaften Bestand zugutegekommen und hat wiederholt zu exemplarischen Fällen der individuellen Standhaftigkeit im Glauben geführt. Auch dadurch wurde die exemplarische Verbindung zwischen menschlicher Individualität und Gott ergebener Universalität unter Beweis gestellt. Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches gewann die institutionelle Verfassung, die der Kirche noch unter dem Dach des Römischen Reiches gegeben worden war, selbst an politischer Bedeutung. In der Folge hat das Christentum nicht nur den Glauben, sondern auch die Politik in eine Perspektive gerückt, die mit den Jahrhunderten die europäischen Grenzen überschritten und weltweit einen globalen Geltungs- und Wirkungsraum eröffnet hat. Liest man die im Neuen Testament überlieferte Botschaft Jesu, so hat man den Eindruck, dass sein ganz auf den kleinen Horizont Palaestinas bezogenes Reden und Wirken immer schon im Bewusstsein einer weltumspannenden Geltung angelegt sind. Seine Worte und Taten scheinen zwar auf die personale Bedeutung für die Menschen in seiner Nähe beschränkt. Dann aber hat das spezifisch christliche Vertrauen in die Nähe zwischen Mensch und Gott zu einer Zuversicht geführt, die es dem Menschen bis heute möglich macht, die Grenzen zwischen den Völkern, Kulturen und Sprachen zu überschreiten und
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auch im gesellschaftlich-politischen Sinn zu einem Glauben für alle Menschen zu werden. Der Universalismus, der im Glauben an den einen Gott bereits angelegt ist, hat im Zeichen seiner unmittelbaren Nähe zu jedem Menschen, ganz gleich, was er tut, was er kann, welchen Bildungsgrad er hat und zu welchem Geschlecht er gehört, der Rede von der Einheit der Menschheit zur weltgeschichtlichen Anerkennung verholfen. Der initiale Impuls der neuen Religion liegt somit in der Neubestimmung des Verhältnisses des Menschen zu seinesgleichen. Ausschlaggebend ist der Primat der Mitmenschlichkeit in der Erwartung einer persönlichen Beziehung zu seinem nicht einfach nur für »alles«, sondern vornehmlich immer »für den Menschen« zuständigen Gott, den jeder Mensch mit »Du« ansprechen kann. Diese Personalisierung Gottes wird dadurch gesteigert, dass er als »Vater« eines »Menschensohns« angesehen werden kann, zumal der Gott in dieser Beziehung seine absolute Vormachtstellung nicht verliert, wohl aber, in unfassbarer und umso beglückender Paradoxie, den Menschen nicht nur überhaupt, sondern auch persönlich nahekommt. Das Beispiel eines für seinesgleichen sterbenden Individuums geht mit einer radikalen Individualisierung des einzelnen Menschen einher. Sie sieht von allen sozialen und politischen Besonderheiten ab, achtet nicht auf die vorgängige Mitgift und Bildung und ist gleichgültig gegenüber dem die Kulturgeschichte der Menschheit dominierenden Unterschied zwischen den Geschlechtern, zwischen Reichen und Armen sowie zwischen Mächtigen und Schwachen. Von der strikten Prämisse der weltlichen Gleichheit rückt sie später zwar mit Blick auf die Stellung ihrer Priester wieder ab; hier dominieren dann doch wieder Männer, die sich schriftkundig machen und als Leiter ihrer Gemeinden über größeren Einfluss verfügen. Aber da die Lehre immer wieder auf das Beispiel zurückgeht, das der Gründer in seinem Leben und Leiden gegeben hat, bleibt das Kernstück der christlichen Botschaft durchgängig präsent: Es ist der einzelne Mensch, dem in jedem Fall geholfen werden muss, auch wenn er nicht zur Gemeinschaft der Gläubigen gehört. Das wird im Gebot der Hilfeleistung deutlich, für das sowohl das Beispiel des »barmherzigen Samariters« steht wie auch die Erzählung einer über alle politischen und sozialen Schranken hinwegsehenden Heilung eines Knechts des Hauptmanns der römischen Besatzungsmacht. Überdies macht die christliche Botschaft keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern – und die Kinder sind ihr ausdrücklich willkommen. Wem an der Humanität liegt, der muss auch das für bemerkenswert halten. Hinzu kommt, dass es gegenüber denen, die das Wort, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht, weder Zwang noch Gewalt geben darf. Wenn
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jemand nicht aus eigener Einsicht zum Christen werden will, dann muss man ihm seinen abweichenden Willen und Glauben lassen. Wie immer die nachfolgende Praxis der christlichen Kirchen ihren Ursprungsimpuls auch verkannt oder missachtet haben: In seinem Ursprung ist das Christentum auf die strikte Achtung vor der Existenz und dem Willen des einzelnen Menschen, auf die Botschaft einer über alle biologischen, sozialen und politischen Unterschiede der Menschen erhabenen theologischen Bedeutung der Einzelnen und damit auf einen metaphysischen Vorrang der Individualität gerichtet. Dazu passt, dass Jesus wie kein anderer Religionsgründer vor oder nach ihm Nächstenliebe predigt, für die man ja auch durch die Anteilnahme nach dem Tod eines oder einer Nächsten ein Zeichen setzen kann. Hier kündigt sich ein Personalismus reinsten Gewissens an; nur von ihm ist eine Hingabe an das Göttliche zu erwarten, mit der die Menschheit der eigenen Person nicht aufgegeben, sondern bekräftigt wird. Hier schließt der christliche Glauben nahtlos an den Humanismus Ciceros an, der die Würde einer sich selbst treu bleibenden Person zu wahren sucht. Den auch philosophisch gewichtigen Impuls, die Botschaft Jesu auf die Menschheit als Ganzes zu beziehen, gibt Paulus, wenn er die »Freiheit« betont, die jeder Mensch »in Christus«1 hat, wenn er betont, dass es »nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau«, sondern nur noch die Kinder Gottes gibt.2 Hinzu kommt, dass Paulus Gott selbst mit dem »Geist« gleichsetzt und sagen kann, dass der Geist überall dort ist, wo »Freiheit« ist.3 Hier kommt die Auslegung durch den Apostel mit der frühen philosophischen Einsicht in das, was göttlich und zugleich menschlich genannt werden kann, zur Deckung. Auch Platon und Cicero könnten hier keine Einwände machen.
3 Philosophische Karriere und politische Blamage der Menschheit So wie sich zeigen lässt, dass der Begriff der Menschheit schon unter frühgeschichtlichen und antiken Bedingungen eine konstitutive Rolle im Selbstverständnis des Menschen spielt, so unstrittig ist es, dass er die Entfaltung der christlichen Kultur wesentlich förderte. Ohne ihn ergäbe die Botschaft Christi
1 Gal 2,4. 2 Ebd. 3 2. Kor 3,17 (entsprechend auch Röm 8,2).
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keinen Sinn. Das könnte die Vermutung begünstigen, dass er mit der Auflösung der mittelalterlichen Ordnung an Bedeutung verliert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Menschheit als Bezugs- und Berufungsinstanz ist mit dem Aufschwung der neuzeitlichen Dichtung, Wissenschaft und Politik bereits seit dem 14. Jahrhundert so unentbehrlich geworden, dass »Humanismus« alsbald zu einem Programmbegriff der anhebenden Neuzeit wurde. Und was dann in der Aufklärung als philosophischer, rechtlicher und politischer Fortschritt galt, ist wesentlich im Interesse der Menschheit verstanden und auch in ihrem Namen erstritten worden.4 Umso enttäuschender ist, was daraus dann im 19. und 20. Jahrhundert wurde. Die Humanität hat zwar in manchen kulturellen Leistungen ein hoffnungsvolles, durchaus ermutigendes Echo gefunden. Auch in den Bemühungen zur Besserung der sozialen Lage der Bauern und Arbeiter, bei der Gleichstellung der Frauen oder im Ausbau von Schulen und Hochschulen hat sie wichtige Impulse gegeben; in den Kämpfen um eine Demokratisierung der Politik hat sie zentrale Stichworte beigesteuert. Aber in der Realpolitik der europäischen Staaten wurde sie missachtet. Das belegen die Erfahrungen, die mit den seit mehr als zweihundert Jahren rechtlich anerkannten Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit gemacht werden mussten: Diktatorischer Nationalismus, schrankenloser Bellizismus, entfesselter Kolonialismus, menschenverachtender Rassismus und angeblich wissenschaftlich begründeter Totalitarismus traten der Reihe nach und schließlich vereint gegen die endlich wieder politikfähig gewordenen Demokratie an und führten schließlich in ein Jahrhundert mit zwei Weltkriegen. Die immerhin neu geschaffenen Weltorganisationen des Völkerbunds und der Vereinten Nationen, mit zahlreichen anderen multilateralen Institutionen, konnten gegen sie nichts ausrichten. Sie waren auch nicht der Lage, die unablässigen regionalen Kriege zu verhindern, die uns mehrfach an den Rand eines weiteren Weltkriegs geführt haben. Seit dem 24. Februar 2022 stehen wir mit Russlands Aggression gegen die Ukraine erneut vor diesem Abgrund. Das wären an für sich schon Gründe genug, die Berufung auf die Menschheit fallen zu lassen, denn es sind allemal Menschen, die sich hier schuldig machen. Doch zu diesem nahezu lückenlosen Versagen kommt ein kontinuierliches ziviles Verschulden, über das uns die jüngere Natur- und Kulturgeschichte des Menschen mit zunehmender Gewissheit belehrt: Der Mensch blamiert nicht nur seine eigenen, ausdrücklich unter Berufung auf die Menschheit und 4 Vgl. Volker Gerhardt, Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019; ders., Individuum und Menschheit: Eine Philosophie der Demokratie, München 2023.
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den Frieden durchgeführten politischen und kulturellen Aktivitäten: Er richtet auch die Natur zugrunde, aus der er stammt und auf die er durchgängig in allem angewiesen bleibt. Mit dem Übergang ins 21. Jahrhundert kann niemand mehr bestreiten, dass die Menschheit sich den Untergang bereitet, wenn sie nicht vordringlich für Abhilfe sorgt und ihre Lebensweise ändert. Der Mensch weiß, dass die Neuerungen der modernen Lebenswelt längst nicht mehr als das Wohlstand und Glück verheißende Versprechen wahrgenommen werden. Längst überwiegt das Bewusstsein von den Risiken eben der Zivilisation, die noch vor zwei oder drei Generationen als verheißungsvoller Garant der Säkularisierung galt. Heute protestieren junge Menschen unter dem Titel »Extinction Rebellion« gegen die Vernichtung des menschlichen Daseins überhaupt. Andere gehen noch weiter und behaupten, sie gehörten definitiv zur »Letzten Generation«, die am Untergang allenfalls dadurch etwas ändern könne, sich auf Straßen und Rollbahnen festzukleben, während andere mit der symbolischen Zerstörung überlieferter Kunstschätze Aufmerksamkeit erregen. Das rat- und hilflose Unbehagen an der gegenwärtigen Lebensform tritt in ihrer ostentativen Destruktion auch deshalb so deutlich hervor, weil mediale Wirksamkeit hier alles zu sein scheint, was den selbsternannten »letzten Menschen« einfällt. Doch so abwegig die demonstrativen Verzweiflungstaten auch sind: Sie haben recht darin, dass sie die Menschheit als Ganze gefährdet sehen. Es versteht sich in der Tat von selbst, dass sich der in seinem Bestand gefährdete Mensch nur retten kann, indem er der Menschheit die Weiterexistenz ermöglicht. Solange der einzelne Mensch sterblich ist, kann das Leben seiner Kinder und Kindeskinder nur durch den Fortbestand der menschlichen Gattung gesichert werden. Und dieses Ziel wird in den seit dem vergangenen Jahrhundert geführten Debatten nunmehr zum ausdrücklichen Ziel menschlichen Handelns. Es ist eine Koinzidenz von individueller und kollektiver Selbstverantwortung, die nunmehr mit weltgeschichtlichem Anspruch sowohl für das einzelne menschliche Individuum wie auch für die Menschheit als Ganze gefordert wird. Doch, was immer hier vorgeschlagen wird, kann erst in größeren Zeiträumen die erhofften Folgen zeitigen. Expert:innen gehen von mindestens 50 Jahren aus, die benötigt werden, ehe man von einem möglichen Erfolg der vorgeschlagenen Klimamaßnahmen sprechen kann, ein Erfolg, der immerhin als wahrscheinlich gilt, sofern es gelingt, eine effektive Absenkung der durchschnittlichen Jahrestemperatur zu erreichen. Doch trotz aller ins Kommende vorgreifenden Berechnungen bleiben die Zukunftsaussichten auf Mutmaßungen gegründet, die keine gesicherten Konsequenzen versprechen.
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Gleichwohl hoffen wir, dass Wissenschaft und Technik, die das Leben der Menschen bereits so grundlegend geändert haben, nunmehr auch dazu beitragen, die negativen Folgen ihrer historischen Wirksamkeit zu minimieren und rettende Gegenmaßnahmen vorzuschlagen. Und um sie zu ermöglichen, müssen wir weiterhin auf die Wissenschaften setzen. Nur dürfen wir, im Guten wie im Schlechten, nicht zu viel – und vor allen nicht alles – von ihr erwarten. Was von der Wissenschaft gilt, hat auch für die Politik und die Ethik zu gelten, auf die der Mensch in einer solchen Lage so dringend wie nie zuvor angewiesen bleibt. Denn ein vor einem erwarteten Ende widerstandslos hingenommener Verlust der Selbstachtung, ganz gleich ob kollektiv oder individuell, wäre vermutlich schwerer zu ertragen als alles andere. Also bleiben Rechtmäßigkeit, Mitwirkung und Selbstbestimmung die Prinzipien, die gerade unter solchen Bedingungen zu den obersten Geboten gehören. Und sie gründen allesamt auf der Überzeugung von der Unverzichtbarkeit der Menschheit. Es ist offenkundig, dass eine solche alle Menschen unter Handlungsdruck setzende Lage die größten Gefahren mit sich bringt, in eine umfassende Zwangsmaßnahme einzumünden. »Ökokommunismus« oder »Ökototalitarismus« gehören zu den naheliegenden Endzeitprophetien. Gegen sie hilft nur ein entschiedenes Festhalten an den Prinzipien und Verfahren der Demokratie. Aber wenn wir uns fragen, auf welche Gemeinsamkeit wir außer auf Ethik und Politik setzen können, bleibt uns nur die Ermutigung und Tröstung durch den Glauben.
4 Christliche Heilsgewissheit Aussichtslose Lagen hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Und ganz gleich, welche Umstände und Ursachen wir hier nennen können und wie groß das Unglück auch sein mag: Heute kann nicht strittig sein, dass es längst nicht nur um bestimmte Personen, Gruppen und Völker geht, sondern dass die Menschheit als Ganze vor Aufgaben steht, die ohne eine Aussicht auf einen günstigen Ausgang nicht in Angriff genommen werden können. Offenkundig ist auch, dass wir damit nicht vor dem Ertrag der seit zweihundert Jahren perhorreszierten »Säkularisierung« stehen. Die Vielfalt der Religionen auf der Welt überbietet die Zahl der Staaten um ein Mehrfaches. Welches Ausmaß das hat, kann nur geschätzt werden, allein schon deshalb, weil nicht leicht zu sagen ist, was im Weltmaßstab als Religion verstanden werden kann. Nach institutionellen Kriterien kommt man auf nahezu 700 Religionen. Zählt man auch die Gruppierungen hinzu, die sich darüber hinaus nach Konfession,
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Kultus, Lebensform oder Glaubensrichtung verbinden, könnten es weltweit mehr als tausend Religionsgemeinschaften sein. Auch die Zahlen über den Umfang der Anhängerschaft der Religionen schwanken. Zuweilen werden zwei Drittel aller Menschen, nach anderen Zählungen nur etwa deren Hälfte, als »religiös« bezeichnet. Genaue Prognosen sind bei dieser Ausgangslage nicht möglich. Doch ganz gleich, welche Parameter den Daten zugrunde liegen und was aus den vieldeutigen Angaben zu Zahl und Umfang der Religionen folgt – eine Konsequenz kann man mit Gewissheit ziehen: Die Wortführer der sogenannten »Weltreligionen«, die in einem großen Teil der heutigen Staatenwelt weiterhin über einen beachtlichen Einfluss verfügen, stellen eine nicht unerhebliche politische Größe dar, mit der auch in Zukunft zu rechnen ist. Die komplexe Lage gebietet es daher, Religion weiterhin zu den bestimmenden Faktoren in der öffentlichen Meinungsbildung zu rechnen. Hinzu kommt, dass die im 20. Jahrhundert vornehmlich in wissenschaftlichen Kreisen verbreitete Ansicht, die Gesellschaften befänden sich in einem mit Notwendigkeit ablaufenden Prozess der »Säkularisierung«, heute nur noch eine geringe Überzeugungskraft hat. Gewiss hat in einigen Gesellschaften die Bindung an die Kirchen nachgelassen; Kirchenaustritte in Westeuropa nehmen zu. Aber von ihnen auf einen generellen Glaubensverlust zu schließen, ist ein Kurzschluss, der die konkreten Motive nicht gewichtet und die Neigung der Menschen, die Religion mit einer Vielfalt durchaus weltlicher Erwartungen zu verbinden, wird unterschätzt. Der Name Gottes und der Nimbus, der sich allein mit der Tradition seiner Verehrung verbindet, werden auch in Zukunft eine Rolle spielen. Schließlich ist es nicht nur das Wissen, sondern das gesamte Leistungs- und Handlungsspektrum des Menschen, das an der von ihm betriebenen Weltbewältigung beteiligt ist. Und zur Durchschlagskraft dieser Einsicht gehört, dass es eben diese vom Menschen verlangten sensitiven, affektiven, rationalen und sozialen Fähigkeiten sind, mit denen er nicht nur den Aufbau seiner Kultur bewirkt, sondern damit zugleich die Kräfte freisetzt, die den Bestand seiner Lebensform derart gefährden, dass sie die bedingende Naturgrundlage aus dem Gleichgewicht bringen. Folglich muss er auch diese vielfältigen, seine Kultur ergänzenden und bereichernden ästhetischen Kräfte mobilisieren, um das »Insgesamt« seiner Kultur durch deren Entfaltung zu bewahren. An allen diesen technischen, szientifischen und ästhetischen Leistungen sind auch die religiösen Potenzen beteiligt. Die Komplexion unterschiedlicher menschlicher Fähigkeiten, verbunden mit der inzwischen offenkundigen ökologischen Ambivalenz technischer, ökonomischer und kultureller Leistungen,
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hat den Anteil von Ängsten und Hoffnungen derart verstärkt, dass man von einer alltäglichen Wiederkehr des Hoffens und des Glaubens sprechen kann. Mit Blick auf die Frage des religiösen Glaubens aber genügt es festzuhalten, dass es hier nicht um einen Gegensatz von Wissen und Glauben geht. Wissen und Glauben stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingung; wo das eine ist, muss auch das andere sein. Schon wer sich ernsthaft um Wissen bemüht, muss glauben, dass ihm dies gesellschaftliche Chancen, medizinische Aufklärung oder wenigstens eine persönliche Genugtuung verschafft. Und es ist nicht nur der ursprüngliche Gewaltverzicht des Christentums; hinzu kommt die enge, bereits die historische Dynamik der christlichen Botschaft bestimmende Zusammengehörigkeit von Wissen und Glauben, auf die sich die Weltoffenheit der christlichen Botschaft bezieht. Was die vorsokratischen Denker Geist nennen, ist die Fähigkeit, in dem, was der Mensch mit seinesgleichen erkennt und tut, nicht nur eine Bedeutung für ihn, sondern für alle mit ihm bewusst verbundenen Wesen zu erkennen. Für die umfassende Beachtung dessen, was der Mensch mit Bewusstsein tut, steht die aufmerksame Gegenwart der Götter – also jener angenommenen höheren Mächte, von denen man hofft, dass ihnen auch an den Wesen liegt, die sie geschaffen haben. Die nachfolgende Philosophie hat sich mit diesem elementaren Zusammenhang von menschlichen Fähigkeiten und göttlich versicherter Bedeutung befasst, hat die Leistung des Wissens und der Wissenschaft erkundet, ohne zu übersehen, dass der Mensch zum Wissen nicht kommt, wenn er es nicht schätzt. Dazu braucht der Mensch die Liebe zur Weisheit, zu der er findet, wenn er an die Bedeutung glaubt, die das Wissen für ihn hat. Das erlaubt es Platon, im Glauben (pistis) nicht etwa einen Gegensatz, sondern eine notwendige Vorstufe zum Wissen zu erkennen.5 Das Christentum verknüpft dann die grundlegende Liebe zur Menschheit mit dem Vertrauen in eine höchste Macht, die eine Hoffnung auf Erlösung vom Leiden des Daseins ermöglicht. Das ist schon alles, worauf es dieser Religion in ihrer Botschaft ankommt. Mit der Liebe zum Nächsten verlangt sie vom Menschen nur, was jeder tatsächlich erfüllen kann, ohne ihm damit ein glückliches Leben zu versprechen. Im Leben steht er nur unter dem Gebot, sein Bestes zu geben, sodass er hoffen kann, mit der Gewissheit zu sterben, im Tod zu seinem »Heil« zu finden. Dieses »Heil« ist so weit gefasst, dass es alle möglichen theologischen und metaphysischen Erwartungen erfüllen kann, aber auch schon
5 Platon, Politeia, 511e.
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erfüllt ist, wenn es die Wunden heilt, die das Leben dem Menschen schlägt – und hier vornehmlich der Mensch sich und seinen Mitmenschen zufügt. Dr. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie/Rechts- und Sozialphilosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin.
Das Anthropozän als Bedingung von Erziehung und Bildung Christoph Wulf
1 Einführung Eine Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist es, Kenntnisse der Grundbedingungen zu vermitteln, unter denen Erziehung, Bildung und Sozialisation heute stattfinden. Viele dieser Bedingungen lassen sich durch den Begriff Anthropozän kennzeichnen. Anthropozän bezeichnet die Tatsache, dass der Mensch heute zu einer tellurischen Macht geworden ist, die das Schicksal des Planeten wesentlich bestimmt.1 Kaum noch gibt es Gebiete und Bereiche auf der Erde, die nicht vom Menschen beeinflusst und geformt werden. Diese Situation wirft die Frage nach der globalen Verantwortung des Menschen nicht nur für die Menschheit, sondern für alle Formen des Lebens auf.2 Akzeptiert man diese durch vielfältige Forschungen belegte Einsicht, so wird deutlich, dass eine klare Unterscheidung zwischen Natur und Kultur nicht mehr möglich ist. Im Kontext der UNESCO ist daher die Rede von dem gemeinsamen Erbe von Natur und Kultur. Bereits in der UNESCO-Konvention von 1972 werden überragende kulturelle Werke und Naturstätten zum Welterbe gerechnet. Dazu gehören die großen Werke menschlicher Kultur wie der Tadsch Mahal, Machu Picchu, die Akropolis, aber auch Naturstätten wie das Great Barrier Reef und die Nationalparks Iguazú und Ngorongoro. Besonders deutlich wird die Verflechtung von Natur und Kultur beim menschlichen Körper. Bereits vorgeburtlich wird seine Entwicklung durch die
1 Vgl. Christoph Wulf, Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän, Weinheim/Basel 2020; ders., Den Menschen neu denken im Anthropozän, in: Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 29 (1/2020), 13–35; Nathanael Wallenhorst/Christoph Wulf (Hg.), Humains – un dictionnaire d’anthropologie prospective, Paris 2022; dies. (Hg.), Handbook of the Anthropocene, Basingstoke 2023. 2 Vgl. Christoph Wulf, Global Citizenship Education. Bildung zu einer planetarischen Weltgemeinschaft im Anthropozän, in: Vierteljahreszeitschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 97 (2021), 463–480; ders., Emotion and Imagination: Perspectives in educational anthropology, in: International Journal of African Studies 1 (1/2021), 45–53.
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Verbindung physischer und kultureller Faktoren bestimmt.3 Ein Blick auf die Körperkonzeptionen in verschiedenen Kulturen bestätigt diese Erkenntnis.4
2 Phasen des Anthropozäns Der Begriff Anthropozän wurde in einem kurzen Artikel von Crutzen und Stoermer im Jahre 2000 mit der Absicht eingeführt, das gegenwärtige Zeitalter nicht mehr als Holozän zu bezeichnen, sondern als Anthropozän, als Zeitalter des Menschen, da der Mensch zu einer dieses Zeitalter bestimmenden Größe geworden ist.5 Trotz erheblicher Zustimmung wird dieser Vorschlag nach wie vor im Rahmen der internationalen Gesellschaften für Geologie diskutiert. Unabhängig davon, ob die Geologen Anthropozän als Bezeichnung eines neuen Zeitalters akzeptieren oder nicht, der Begriff eignet sich, das Verhältnis zwischen dem Menschen, der Natur und der Welt neu zu bestimmen. Zwar wurden in diesem Zusammenhang auch andere Begriffe wie »Chthulucene«, »Capitalocene« oder »Plutocene« mit guten Argumenten zur Charakterisierung der Gegenwart vorgeschlagen,6 aber aufgrund seines viele Bereiche menschlichen Handelns durchdringenden Charakters und seiner anthropologischen Komplexität erscheint es mir sinnvoll, an »Anthropozän« festzuhalten.7 Dieser Begriff macht deutlich, dass sich das Verhältnis zwischen Natur und Kultur grundlegend verändert hat. Im Anthropozän lassen sich eine Reihe von negativen anthropogenen Entwicklungen identifizieren,8 die die Lebens3 Vgl. Christoph Wulf, Anthropologie. Geschichte – Kultur – Philosophie, Köln 22009; ders., Anthropology. A Continental Perspective, Chicago 2013. 4 Vgl. Christoph Wulf (Hg.), Der Mensch und seine Kultur. Hundert Beiträge zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des menschlichen Lebens, Köln 22010; Axel Michael/Christoph Wulf (Hg.), Images of the Body in India. South Asian and European Perspectives on Rituals and Performativity, London u. a. 2011; Christoph Wulf/Shoko Suzuki/Jörg Zirfas/Ingrid Kellermann/Yoshitaka Inoue/Fumio Ono/Nanae Takenaka, Das Glück der Familie. Ethnografische Studien in Deutschland und Japan, Wiesbaden 2011. 5 Vgl. Paul. J. Crutzen/Eugene F. Stoermer, The Anthropocene, in: Global Change Newsletter 41 (2000), 17–18. 6 Vgl. Donna Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a. M. u. a. 2018; Jason W. Moore (Hg.), Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland 2016; Andrew Yoram Glikson, The Plutocene: Blueprints for a Post-Anthropocene Greenhouse Earth (Modern Approaches in Solid Earth Sciences 13), Cham 2017. 7 Vgl. Wallenhorst/Wulf, Handbook of the Anthropocene. 8 Vgl. Isabel Capeloa Gil/Christoph Wulf (Hg.), Hazardous Future. Disaster, Representation and the Assessment of Risk, Berlin u. a. 2015; Shoko Suzuki/Christoph Wulf (Hg.), Pandemien im Anthropozän/Pandemics in the Anthropocene, in: Paragrana 30 (2/2021), 11–14.
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grundlagen der Menschheit und des Lebens auf dem Planeten gefährden und die daher dringend verändert werden müssen. Dazu gehören unter anderen 1) der Klimawandel, 2) die Zerstörung der Biodiversität, 3) die Destruktion der biogeochemischen Kreisläufe, 4) die Versauerung der Meere, 5) die Umweltverschmutzung bzw. Pollution und 6) der Verbrauch nichterneuerbarer Energien.9 In der Entwicklung des Anthropozäns lassen sich vier Phasen unterscheiden. Eine erste Phase des Anthropozäns begann etwa vor 12.000 Jahren. Damals erfolgten der Rückzug des Eises, die Erwärmung der Erde, die Entwicklung der Landwirtschaft, des Handels und die Ausbreitung des Menschen, des Homo sapiens, über die Erde. Eine zweite Phase begann mit der Entwicklung der Dampfmaschine durch James Watt 1769 und der Industrialisierung. Sie erstreckt sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit gewannen Maschinen an Bedeutung, sodass man von einem Zeitalter der Maschinen sprechen kann. Die Weltbevölkerung wuchs von einer Milliarde auf über sechs Milliarden Menschen und die Weltwirtschaft und der Energiebedarf um das Fünfzigfache. Davon lässt sich eine dritte Phase unterscheiden. Diese umfasst die Zeit seit 1945. Sie ist gekennzeichnet durch die Explosion der ersten Atombombe und die Entwicklung der Kernenergie, durch die gewaltige Beschleunigung des Lebens, die damit verbundene wirtschaftliche Expansion, die Erfindung und globale Verbreitung der neuen Medien, die neuartige Mensch-Maschinen-Verbindung mit der Herstellung von Cyborgs und der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und Robotik.10 Hinzukommen die neuen Möglichkeiten der Genetik, die Natur zu verändern, die Entdeckung der Doppelhelix der DNA, des Klonens, die Erforschung des menschlichen Genoms sowie die Möglichkeiten der Manipulation der menschlichen Gene durch CRISPR-Cas-Methoden.11 Den Beginn einer vierten Phase des Anthropozäns kann man festmachen an der Verabschiedung der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) auf der UN-Generalversammlung in New York. Diese 2015 beschlossene Agenda 2030 betont die Interdependenzen zwischen den Zielen und unterscheidet folgende fünf zentrale Bereiche: people (Armut und Hunger, Leben in Würde, Gleichheit, gesunde Umwelt), planet (Schutz der Ökosysteme), peace (Inklusion, Frieden, Gerechtigkeit), prosperity (Wohlergehen aller Menschen durch wirtschaftliche und technische Entwicklung) und partnership (Kooperation). Die Realisierung 9 Vgl. Wulf, Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän. 10 Vgl. Christoph Wulf, Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz im Anthropozän, in: Bildung und Erziehung 74 (2021), 231–248. 11 Vgl. Jennifer Doudna/Samuel Sternberg, Eingriffe in die Evolution. Die Macht der CRISPRTechnologie und die Frage, wie wir sie nutzen wollen, Berlin 2019.
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dieser Aufgaben soll sich an den Prinzipien Universalität, Unteilbarkeit, Inklusion, Rechenschaftspflicht und Partnerschaftlichkeit orientieren. Wachstum und Fortschritt haben sich negativ auf das Leben auf dem Planeten ausgewirkt und sind auf unüberwindbare Grenzen gestoßen. Gelingt es nicht, die erforderlichen Transformationen zu realisieren, werden die Grundlagen planetaren Lebens zerstört. Wenn vom Anthropozän die Rede ist, müssen daher auch die zahlreichen Bemühungen um eine Korrektur der Fehlentwicklungen einbezogen werden. Viele von ihnen werden als Beiträge zur Entwicklung von Nachhaltigkeit und Global Citizenship entworfen und realisiert.
3 Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021 Die detaillierte Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung soll zur Verwirklichung der Ziele beitragen.12 Mit ihr wird eine Dekade des Handelns auf allen Ebenen vorgelegt. Im Unterschied zu den bisherigen Bemühungen wird hier eine umfassende mehrdimensionale Strategie entwickelt, die viele der bisher erreichten Ergebnisse mitberücksichtigt. Nachhaltige Entwicklung wird als eine zentrale Aufgabe der deutschen Politik begriffen, die es im Rahmen der Europäischen Union und der globalen Staatengemeinschaft zu erfüllen gilt. Dazu werden im ersten Kapitel folgende Transformationsbereiche dargestellt: Ȥ Energiewende und Klimaschutz, Ȥ Kreislaufwirtschaft, Ȥ nachhaltiges Bauen und Verkehrswende, Ȥ nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme, Ȥ schadstofffreie Umwelt, Ȥ menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit. Um hier erfolgreich zu sein, sollen weiterentwickelt werden: die Überwindung des sektoralen Denkens, die Einbeziehung der gesellschaftlichen Akteure, die Kanalisierung der Finanzströme, die Förderung von Forschung, die Innovation und Digitalisierung sowie die internationale Verantwortung und Kooperation. Im zweiten Kapitel wird die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie präzisiert. Genannt werden die zentralen Institutionen, die Strukturen und Zuständigkeiten, die Grundzüge einer Nachhaltigkeitsgovernance mit Prinzipien und Indikatoren der Nachhaltigkeit und die Verfahren des Monitorings, das Maß12 Vgl. Bundesregierung, Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwicklung 2021, Berlin 2021.
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nahmenprogramm zur Nachhaltigkeit, die Bund-Länder-Zusammenarbeit, die Kooperation mit der kommunalen Ebene, die Einbindung gesellschaftlicher Akteure. Ziel ist die Schaffung eines Gemeinschaftswerks »Nachhaltigkeit«. Im dritten Kapitel wird der deutsche Beitrag zur Erreichung der siebzehn Ziele nachhaltiger Entwicklung dargestellt: 1. Armut in allen ihren Formen und überall beenden, 2. den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern, 3. ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern, 4. inklusive, gerechte, hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern, 5. Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen, 6. Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten, 7. Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sichern, 8. dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdiges Arbeiten für alle fördern, 9. eine widerstandsfähige Infrastruktur aufbauen, breitenwirksame und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen, 10. Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern, 11. Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten, 12. nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen, 13. umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen, 14. Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen, 15. Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildungen bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der Biodiversität ein Ende setzen, 16. friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen, 17. Umsetzungsmittel stärken und die Globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung mit neuem Leben füllen.
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4 Bildung für nachhaltige Entwicklung Entwicklung ist nachhaltig, wenn sie die Lebensqualität der gegenwärtigen Generationen sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält.13 Die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Ziele stehen in wechselzeitiger Beziehung mit einer Kultur des Friedens und der Menschenrechte, der kulturellen Vielfalt und der demokratischen Partizipation und Rechtstaatlichkeit. Zur Transformation der Wirtschaft und der Gesellschaft ist eine Kultur nachhaltiger Entwicklung erforderlich. Für deren Entwicklung bedarf es auf Zukunft ausgerichteter Leitbilder, Vorstellungen, Normen und Wissensformen. Bei den Bemühungen um die Realisierung der Transformation zu einer nachhaltigen Weltgesellschaft spielen Erziehung, Bildung und Sozialisation eine zentrale Rolle. Das vierte Ziel der 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung enthält die Vision einer globalen inklusiven, gleichberechtigten, hochwertigen und lebenslangen Bildung. Bildung für nachhaltige Entwicklung sieht die Entwicklung eines zwölfjährigen öffentlichen Schulsystems vor. Die Schulpflicht soll weltweit wenigstens neun Jahre dauern und einen kostenfreien und qualitativ hochwertigen Unterricht in der Primarstufe und in der Sekundarstufe umfassen. Inklusiv meint hier nicht nur die Inklusion von behinderten, sondern auch von marginalisierten Kindern und Jugendlichen. Gleichberechtigung im Zugang und in der Behandlung im Bildungswesen sind die notwendigen Konsequenzen. Besonders für Mädchen und Frauen ist in vielen Regionen der Welt noch viel zu tun. Um das Wissen und die Kreativität der Kinder und Jugendlichen zu fördern, soll die Qualität von Erziehung und Bildung verbessert werden, u. a. durch eine verbesserte Ausbildung der Lehrer:innen. Schließlich gilt es, die Förderung von Erziehung und Bildung nicht nur auf das Schulwesen zu begrenzen. Berufsbildung und lebenslanges Lernen sollen entwickelt und informale und non-formale Bildung gefördert werden. Vier bis sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts oder fünfzehn bis zwanzig Prozent der öffentlichen Ausgaben sollen für Bildung aufgebracht werden.14 Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021 entwickelt die Maßnahmen für Deutschland weiter, die bereits 2017 im Nationalen Aktionsplan der Nationalen 13 Vgl. UNESCO, Education for Sustainable Development Goals. Learning Objectives, Paris 2017. 14 Vgl. Christoph Wulf, Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän; ders., Anthropologie und Nachhaltigkeit. Zwei Visionen und ihre Auswirkungen auf Erziehung und Bildung, in: Gerd-Bodo v. Carlsburg/Annette Miriam Stroß (Hg.), (Un-)pädagogische Visionen für das 21. Jahrhundert, Berlin 2021, 518–529.
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Plattform »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) beschlossen wurde. Der Nationale Aktionsplan wurde von mehr als 300 Vertreter:innen von Bund, Ländern, Kommunen, Zivilgesellschaft und Wissenschaft gemeinsam entwickelt und umfasst 130 kurz-, mittel- und langfristige Ziele, an deren Verwirklichung gearbeitet wird. Mit der KMK zusammen führt das BMZ zahlreiche Projekte in Schule, Hochschule und in der Berufsbildung durch. Auf diese Arbeiten bauen die neuen Maßnahmen auf, die die Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland von 2021 entwickelt. Ein zentrales Arbeitsfeld in Deutschland ist die Bildung, Erziehung und Betreuung in der frühen Kindheit. Hier stellte die Bundesregierung bis 2022 den Ländern und Kommunen 5,5 Milliarden Euro zur Verfügung, mit denen mehr als 450.000 zusätzliche Betreuungsplätze geschaffen wurden. Ein weiteres Arbeitsfeld liegt im Bereich Bildung und Betreuung in der Schule. Hier werden mehr als fünf Milliarden Euro für den Ausbau der Digitalisierung bereitgestellt. Auch der Bereich der Berufsbildung wird nachhaltig gefördert, z. B. mit dem Programm »Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung«. Ebenfalls wichtige Bereiche der Bildung für nachhaltige Entwicklung sind die Hochschulbildung, die Weiterbildung, die non-formale und informelle Bildung, die inklusive Bildung und die technologiespezifische Kompetenzentwicklung (inkl. der Mint-Fächer). Ein zweiter Schwerpunkt liegt in den Maßnahmen durch Deutschland. Genannt werden hier u. a. das Weltaktionsprogramm »Bildung für nachhaltige Entwicklung« und das neue UNESCO-Programm »Education for Sustainable Development for 2030«. Der dritte Schwerpunkt besteht in den Maßnahmen mit Deutschland. Auf der Grundlage der 2015 veröffentlichten Bildungsstrategie des BMZ »Gerechte Chancen auf hochwertige Bildung schaffen« wird die Bedeutung der Berufsbildung für die Bildung für nachhaltige Entwicklung deutlich gemacht, in der Deutschland der international wichtigste Geber ist. Hier ist Afrika der regionale Schwerpunkt. Besonders gefördert wird die Chancengerechtigkeit. Dazu unterstützt das BMZ den Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologien, digitale Bildungsangebote und Entwicklung von Kompetenzen für den digitalen Wandel. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik orientiert sich an dem auf Bildung bezogenen Ziel der SDG. Zu erwähnen sind hier u. a. die Netzwerke der Partnerschulinitiative PASCH »Schulen; Partner der Zukunft«, die UNESCO-Projektschulen, der Freiwilligendienst »kulturweit«, die umfangreichen Stipendienprogramme des DAAD und der politischen Stiftungen. Beachtenswert ist auch die weltweite Zusammenarbeit mit Schulen im Hochschulbereich, einschließlich der Förderung geflüchteter und gefährdeter Wissenschaftler:innen.
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5 Global Citizenship Education Eine an nachhaltiger Entwicklung orientierte Erziehung und Bildung bedarf einer globalen Perspektive, die jedoch nicht dazu führen darf, kulturelle Unterschiede zu übersehen.15 In der Verflechtung von Universellem und Partikularem liegt eine der großen Herausforderungen von Erziehung und Bildung im Anthropozän. Ihr muss auch die Global Citizenship Education gerecht werden, die Erziehung zum »Weltbürgertum«.16 Trotz erheblicher kultureller und sozialer Differenzen zwischen den politischen Systemen der globalen Staatengemeinschaft ist es offensichtlich, dass viele Probleme der Gegenwart die Auswirkungen auf das Leben der einzelnen Menschen haben, nur unter Berücksichtigung der globalen Perspektiven angemessen verstanden und bearbeitet werden können. Global Citizenship Education trägt bei zu dem Gefühl einer Zughörigkeit zu einer großen menschlichen Gemeinschaft. Sie betont dabei besonders die wechselseitige politische, ökonomische, soziale und kulturelle Abhängigkeit und die Wechselwirkungen zwischen dem Lokalen, dem Nationalen und dem Globalen. Die Bestimmung des Begriffs als eines Gefühls der Zugehörigkeit berücksichtigt, dass der Begriff in den verschiedenen Regionen der Welt gleiche und unterschiedliche Elemente bezeichnet.17 Alle Menschen haben Zughörigkeitsgefühle zu Gemeinschaften. Wie sich diese jedoch artikulieren, ist unterschiedlich. Neben biologischen und individuellen Unterschieden spielen historische und kulturelle Differenzen eine wichtige Rolle. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zwischen den Ländern und Regionen, den Staaten und ihren politischen Systemen bestimmt die Qualität und Intensität der Gefühle, also auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Als solches verbindet die Bildung zu einer Weltgemeinschaft Wünsche und Imaginationen, rationale Erkenntnisse und differierende Empfindungen und setzt Handlungs- und Verhaltensenergien frei.18
15 Vgl. Christoph Wulf, Anthropologie kultureller Vielfalt, Bielefeld 2006; ders. (Hg.), Exploring Alterity in a Globalized World, London u. a. 2016. 16 Vgl. Wulf, Global Citizenship Education. 17 Vgl. Wulf, Emotion and Imagination. 18 Vgl. Christoph Wulf, Anthropologie kultureller Vielfalt; ders., Exploring Alterity; ders., Global Citizenship Education; Christoph Wulf/Christine Merkel (Hg.), Globalisierung als Herausforderung der Erziehung. Theorien, Grundlagen, Fallstudien, Münster/New York/München/ Berlin 2002.
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6 Nachhaltigkeit als »große Erzählung« oder »Utopie« Der Nationale Aktionsplan für Bildung für Nachhaltigkeit umfasst den ganzen Bildungsbereich, von der frühkindlichen Bildung über die Schule, die berufliche Bildung, die Hochschule bis hin zum non-formalen und informellen Lernen, die Kommunen. Er entwickelt dazu einen konzeptionellen und politischen Rahmen und begreift sich als Ausgestaltung des UNESCO-Weltaktionsprogramms »Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)«. Mit seiner Hilfe wird der Beitrag des Bildungsbereichs zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie bestimmt. Der Nationale Aktionsplan und die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie machen deutlich, wie im Anthropozän versucht wird, auf die negativen Auswirkungen der Moderne zu reagieren. Die Bemühungen um eine konstruktive Überwindung der negativen Entwicklungen sind Ausdruck des Versuchs, die Zukunft des Planeten konstruktiv zu gestalten und der Zerstörung der Grundlagen des Lebens entgegenzuwirken. Ob und inwieweit dies gelingt, ist eine offene Frage. So wichtig diese Bemühungen sind, die bedrohliche Situation des Anthropozäns durch konstruktives strategisches Handeln zu verbessern, so sehr sind nämlich Zweifel angebracht, ob die erforderlichen Veränderungen wirklich realisiert werden können. Ist nicht die Vision einer nachhaltigen Entwicklung und einer entsprechenden Bildung für Nachhaltigkeit eine »große Erzählung« im Sinne François Lyotards, deren Funktion es ist, darüber hinwegzutäuschen, dass die erforderlichen Veränderungen nicht erreicht werden können?19 Eine solche Vision bietet bereits ein gewisses Maß an Befriedigung. Sie entlastet viele Menschen davon, nachhaltig zu handeln. Zwar versuchen Aktionsplan und Nachhaltigkeitsstrategie die »große Narration« der Nachhaltigkeit in eine Veränderung der Gesellschaft zu überführen. Doch bleibt die Frage offen, inwieweit nicht zahlreiche gesellschaftliche Widersprüche und Widerstände die erforderlichen Maßnahmen verhindern. Für eine Einschätzung, ob die Zielvorstellungen einer nachhaltigen Entwicklung und einer darauf bezogenen Bildung realisierbar sind, kann vielleicht ein Blick auf die großen Utopien der europäischen Geschichte hilfreich sein: Platons »Staat«, Campanellas »Sonnenstaat«, Thomas Morus »Utopia«.20 Die Reihe ließe sich fortsetzen. Allen Utopien liegt die Vorstellung eines idealen
19 Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen: Ein Bericht, Wien 2012. 20 Vgl. Platon, Der Staat, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Reinbek 1958, 67–310; Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat, Köln 2012; Thomas Morus, Utopia, Hamburg 2013.
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Gemeinwesens zugrunde, die zeigt, was möglich wäre, wenn die Menschen nicht so wären, wie sie sind. Alle Utopien schränken die Vielfalt und Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens zugunsten einer als gut angesehenen gesellschaftlichen Ordnung ein. Zwar ist die angestrebte Utopie einer die negativen Auswirkungen des Anthropozäns korrigierenden nachhaltigen Entwicklung vielgestaltiger als alle historischen Utopien. Doch würde nicht ihre Verwirklichung zu problematischen Einschränkungen demokratischer Grundrechte führen? Selbst wenn sich diese Restriktionen durch die Vermeidung von Bedingungen begründen ließen, deren destruktiver Charakter die Zukunft der Menschheit gefährdet, erhebt sich die Frage, bis zu welchem Ausmaß sich solche Einschränkungen gegenüber den Menschenrechten legitimieren ließen? Gerieten nicht solche Ziele in Gefahr, wie es Horkheimers und Adornos angesichts der »Dialektik der Aufklärung« gesehen haben, in das Gegenteil ihrer Intentionalität umzuschlagen.21
7 Ausblick Wie wir gesehen haben, ist Anthropozän ein heuristischer Begriff, dem in der Erziehungswissenschaft je nach Kontext unterschiedliche Bildungsaufgaben zugeordnet werden können. Viele von ihnen lassen sich heute nur in interdisziplinären und internationalen Diskursen bestimmen. So wichtig es ist, dass mit dem Begriff Anthropozän die negativen Auswirkungen der Moderne insbesondere auf die Natur bezeichnet werden, so notwendig ist es, darunter auch die konstruktiven Bemühungen der Menschen zu begreifen, mit denen die destruktiven Entwicklungen durch die Ziele nachhaltiger Entwicklung korrigiert werden sollen. In beiden Fällen wird von der im Anthropozän gegebenen besonderen Verantwortung des Menschen für den Planeten ausgegangen. Ziel ist ein weniger gewalthaltiges Verhältnis des Menschen zur Natur, zu anderen Menschen, zu sich selbst.22 Ein solches impliziert ein verändertes Welt- und Menschenbild. Für seine Realisierung richten sich viele Hoffnungen auf Erziehung und Bildung, die nicht selten zu Überforderungen führen. Auch wenn offen ist, ob es der Menschheit gelingen wird, die erforderlichen Veränderungen der Menschen- und Weltbilder sowie der Lebenspraktiken und Lebenswelten zu realisieren, müssen sich 21 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988. 22 Vgl. Wulf, Bildung als Wissen vom Menschen im Anthropozän.
Das Anthropozän als Bedingung von Erziehung und Bildung
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die Bildungssysteme auf lokaler, nationaler und globaler Ebene diesen Ansprüchen stellen. Dies ist auf vielerlei Wegen möglich, bei denen es darauf ankommt, lokale und globale Elemente miteinander zu verbinden. Dr. Christoph Wulf ist Professor für Anthropologie und Erziehung sowie Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin. Er ist Vizepräsident der Deutschen UNESCOKommission.
Didaktische Konkretionen
Vom Nutzen anthropologischer Streitfragen für den Religionsunterricht – ein Plädoyer Peter Kliemann
Vom Nutzen anthropologischer Streitfragen für den Religionsunterricht – ein Plädoyer? Die Anfrage für das Jahrbuch der Religionspädagogik machte mich sofort neugierig, irritierte aber auch ein wenig, hätte ich es selbst doch kaum so formuliert. Auf jeden Fall fand ich diese Fragestellung sehr anregend; sie hat etwas Herausforderndes, dem ich gern nachgehen will.
1 Vom motivationalen »Nutzen« Inhaltlich scheint das Plädoyer für anthropologische Unterrichtsthemen zunächst einfach. Schüler:innen beschäftigen sich gern mit anthropologischen Themen: Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Gibt es einen freien Willen? Was unterscheidet den Menschen vom Tier oder einer Maschine? Wie gehen wir mit Schuld, Scham, Angst oder auch unseren Träumen und Hoffnungen um? »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?« – das sind auch nach Immanuel Kant die Schlüsselfragen jeder Anthropologie.1 Legt man in dem Kant-Zitat den Akzent auf die Unterfrage »Was soll ich tun?«, erweitert sich das Spektrum der möglichen Themen schnell um das vielfältige und für Schüler:innen attraktive Feld der anthropologisch-ethischen Fragestellungen. Weil der Mensch das einzige Lebewesen ist, das in der Lage ist, zu handeln und Handlungsoptionen differenziert zu reflektieren, geht es bei ethischen Fragen stets auch um anthropologische Implikationen und bei im engeren Sinn anthropologischen Fragen auch um mögliche ethische Konsequenzen. Dass anthropologische und ethische Themen für Schüler:innen in hohem Maße interessant und motivierend sind, belegen empirische Studien deutlich. So zeigt etwa die Repräsentativstudie zu »Jugend – Glaube – Religion«, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens für Schüler:innen der Sekundarstufe II sowohl im Ethik- als auch im Religionsunterricht von besonderem Interesse 1
Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke in sechs Bänden, Darmstadt 41983, A 25.
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ist,2 und in Untersuchungen für die anderen Schulstufen und Schulformen ist das einhellige Ergebnis, dass »ethisch-lebensweltliche Themen für besonders relevant« gehalten werden und »sich alle auf den ersten Plätzen vor den christlich und/oder religiös konnotierten Themen« befinden.3 Anthropologische Fragen kommen dabei dem entgegen, was z. B. Joachim Kunstmann als »Subjektorientierung« beschreibt und einfordert. Subjektorientierung könne »als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der neuesten religionspädagogischen Theoriebildung«4 bezeichnet werden. Ausgangspunkt des Religionsunterrichts seien nicht mehr die Inhalte der christlichen Tradition, sondern die Lebensfragen und Erfahrungen der Subjekte.5 Ob man also von Schüler-, Problem- oder Erfahrungsorientierung spricht oder nach sogenannten Anforderungssituationen und Korrelationsmöglichkeiten sucht, es scheint stets auf dasselbe hinauszulaufen: Anthropologische Themen und Fragestellungen sind mehr als willkommen. Auch wäre in Erinnerung zu rufen, dass im Grunde die gesamte Didaktik in der Nachfolge Wolfgang Klafkis und damit auch die religionspädagogische Elementarisierungsdiskussion darauf beruhen, dass sich Inhalte und die Perspektive des Subjekts wechselseitig erschließen. Könnte man das Plädoyer an dieser Stelle fast abbrechen, so bliebe noch zu fragen, ob im Zusammenhang mit pädagogischen Prozessen, die die Bildung und Selbstfindung von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt rücken, sinnvollerweise von »Nutzen« gesprochen werden kann. Wem sollte ein subjektorientierter Unterricht nutzen außer den Subjekten, um derentwillen er stattfindet? Bildungsprozesse haben ihren Wert in sich selbst; will man den Verdacht einer utilitaristischen Engführung und der Funktionalisierung der Schüler:innen vermeiden, wird man deshalb »Nutzen« nur als Arbeitsbegriff verwenden und ihn in Anführungszeichen setzen.
2
Vgl. Friedrich Schweitzer/Golde Wissner/Annette Bohner/Rebecca Nowack/Matthias Gronover/Reinhold Boschki, Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht, Münster 2018, 103. 3 Susanne Schwarz, SchülerInnenperspektiven und Religionunterricht. Empirische Einblicke – Theoretische Überlegungen, Stuttgart 2019, 296. 4 Joachim Kunstmann, Subjektorientierte Religionspädagogik. Plädoyer für eine zeitgemäße religiöse Bildung, Stuttgart 2018, 11. 5 Für eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Subjektorientierung« vgl. Stefan Altmeyer/Bernhard Grümme/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/ Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion subjektorientiert erschließen. Jahrbuch der Religionspädagogik 38, Göttingen 2022.
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2 Vom »Nutzen« von Streitfragen Richtig ist es sicherlich, anthropologisch-ethische Themen immer auch als »Streitfragen« zu sehen bzw. strittige Punkte nicht zugunsten eines angeblich allgemein Menschlichen zu neutralisieren. Schüler:innen schätzen den Religions- und Ethikunterricht nicht zuletzt als Raum für kontroverse Gespräche und Diskussionen, in denen eigene Meinungen und Standpunkte entfaltet und ausprobiert werden können. Aufgabe der Lehrkraft ist es, diese Gesprächsprozesse zu initiieren und so zu moderieren, dass sie fair ablaufen und nicht im Oberflächlichen oder Zufälligen stecken bleiben. Die Einübung von Gesprächsführung und Diskursfähigkeit ist somit eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der Lehrer:innenbildung. Strittig ist in den Bereichen der Anthropologie und Ethik nahezu alles. Die EKD-Denkschrift »Maße des Menschlichen« formulierte schon 2003: »Was den Menschen ausmacht, ist strittig. Sichere Pfade der Erkenntnis gibt es nicht, weder empirisch noch normativ. Manche Anthropologien haben darauf mit Historisierung reagiert. Was Menschlichkeit bedeutet, könne man nur noch momentan, mit Blick auf eine gegebene Zeit, und regional, mit Blick auf einen gegebenen Ort, bestimmen. Die Debatte über westliche Menschenrechte und ›asiatische Werte‹ weist eine solche Tendenz auf. Was der Mensch sei, bestimme sich also in Beziehung auf jeweils konkret gegebene raum-zeitliche Situationen, das heißt relational. Eine solche geschichtsbewusste Auffassung ist zweifelsfrei ein Fortschritt gegenüber allgemeinen und abstrakten Entwürfen des Menschen und erst recht gegenüber fixen Menschenbildern.«6 Wissenschaftliche Anthropologie gibt es seit Langem nur noch im Plural, Historisierungen und Kontextualisierungen stehen im Vordergrund, die Rede von dem Menschen ist in vielfältiger Weise problematisch geworden. Und auch theologische Anthropologie tut sich zunehmend schwerer, von einem oder der gar dem christlichen Menschenbild zu sprechen.7 Anthropologisch-ethische Themen sind deshalb in hervorragender Weise geeignet, nicht nur der Dimension der elementaren Erfahrungen, sondern auch der der elementaren Wahrheiten, 6 Kirchenamt der EKD (Hg.), Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2003, 48. 7 Vgl. z. B. Wolfgang Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2 2019.
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also der diskursiven Klärung von expliziten und impliziten Wahrheitsansprüchen, Rechnung zu tragen. Dennoch wird Unterricht sich davor hüten, insbesondere in jüngeren Lerngruppen mögliche Differenzen in aller Widersprüchlichkeit zu entfalten. Auch die Dimension der elementaren Zugänge wäre also ernst zu nehmen und beim Themenzuschnitt zu beachten. Verwirrung oder gar der Eindruck der Beliebigkeit können nicht das Ziel des Ethik- oder Religionsunterrichts sein. Es sind vor allem die Lehrkräfte, die sich der Vielfalt der möglichen Sichtweisen bewusst sein und über das entsprechende Fachwissen verfügen müssen. Nur so können sie ihre eigene Position kritisch reflektieren und sie gegebenenfalls auch verantwortlich in den Unterrichtsprozess einbringen. Dass das nicht heißen kann, dass die Kinder und Jugendlichen die Sichtweise der Lehrkraft übernehmen sollen oder gar müssen, sollte inzwischen selbstverständlich sein. Der vor fast 50 Jahren für die politische Bildung entwickelte Beutelsbacher Konsens (Überwältigungsverbot, Gebot der Kontroversität, Prinzip der Schülerorientierung) gilt auch für den Religionsunterricht.8 Zu erwähnen ist im Zusammenhang mit dem Thema Streitfragen der gegenwärtige Trend zu konfessionell-kooperativen Modellen des Religionsunterrichts. Sollen solche Kooperationen nicht nur aus der Not geboren oder gar ein Sparmodell sein, dann lohnt es sich, auf der Ebene der Unterrichtsgestaltung zwar die Gemeinsamkeiten der christlichen Konfessionen stark zu machen, aber im Interesse einer Dialog- und Diskurskultur auch die Unterschiede nicht zu verschweigen. Ob der Mensch von Natur aus religiös ist, welches Verhältnis Vernunft und Glauben haben, ob es »heilige« Menschen gibt, Fragen der Bio- oder Sexualethik und nicht zuletzt des Amts- und Kirchenverständnisses finden in der evangelischen Tradition oft deutlich andere Antworten als in der römischkatholischen.9 Auch sollte im Religionsunterricht immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, dass es neben dem deutschen Katholizismus und dem protestantischen Landeskirchenmodell, weltweit gesehen, ein wesentlich größeres Spektrum und oft auch erfolgreicher erscheinende Varianten des Christentums gibt. Unübersehbar ist darüber hinaus, dass Schüler:innen nicht nur die Einführung in eine Religion wünschen, sondern auch etwas über andere Religionen, Weltanschauungen und Philosophien lernen wollen. Bildungspläne für das Fach Religion werden diesem Anspruch in der Regel noch nicht gerecht. Man 8 Vgl. Siegfried Frech/Dagmar Richter (Hg.), Der Beutelsbacher Konsens. Bedeutung, Wirkung, Kontroversen, Frankfurt a. M. 2017. 9 Vgl. Bernd Schröder/Jan Woppowa (Hg.), Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Ein Handbuch, Tübingen 2021.
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begnügt sich mit interreligiösen oder philosophischen »Fenstern« und macht die dialogische Ausrichtung nicht zum durchgängigen Prinzip. Schließlich wären aber im Kontext einer Fächergruppe auch die Zusammenarbeit und der Diskurs mit anderen Religionen und vor allem auch mit dem Fach Ethik/Philosophie voranzutreiben. Darüber hinaus eignen sich anthropologisch-ethische Themen in besonderer Weise, um den Dialog und den Diskurs mit Fächern auch außerhalb einer Fächergruppe Religion – Ethik – Philosophie zu suchen:10 So legen z. B. bioethische Themen die Zusammenarbeit mit dem Fach Biologie, Menschenrechtsfragen die Kooperation mit den Fächern Gemeinschaftskunde und Geschichte nahe. Zu verstärken und wiederzuentdecken ist in diesem Kontext auch das Lernen in Projekten, bei denen für begrenzte Zeit ganz unterschiedliche Fächer miteinander ins Gespräch gebracht werden. So könnte man etwa unter die Überschrift »Homo ludens« Kolleg:innen der Fächer Bildende Kunst, Musik, Deutsch, Sport, Mathematik oder Informatik in einen Austausch mit den Fächern Religion und Ethik/Philosophie bringen. Da Kooperationen oft mit erheblichem organisatorischem Aufwand verbunden sind, sei auch noch daran erinnert, dass der durch die Coronapandemie ausgelöste Digitalisierungsschub es heute wesentlich leichter macht, andere Perspektiven und auch externe Expertisen mithilfe von Videoschaltungen miteinzubeziehen.
3 Vom »Nachteil« des anthropologischen Ansatzes Liegt das motivationale und diskursive Potenzial eines anthropologischen Ansatzes für den Religionsunterricht auf der Hand, so darf auch der »Nachteil« eines solchen Zugangs nicht verschwiegen werden.11 Biblische, kultur- und kirchengeschichtliche Themen, komplexe theologische und philosophische Fragestellungen, systematische Erarbeitungen anderer Religionen gehören ohne Zweifel auch zur Substanz des Faches Religion. Nicht selten tut man sich jedoch schwer, wenn ein längerer Anlauf oder Atem notwendig ist, den Schüler:innen den »Nutzen« auch dieser Unterrichtsinhalte deutlich zu machen. Neben methodischem Aufwand ist es hier interessanterweise oft wieder ein anthropologisch-lebensweltlicher Bezug, der Kinder und 10 Vgl. dazu Michael Domsgen/Ulrike Witten (Hg.), Religionsunterricht im Plausibilisierungsstress. Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen, Bielefeld 2022. 11 So jedenfalls, wenn man dem Titel von Friedrich Nietzsches einschlägiger Schrift von 1874 folgt: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«.
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Jugendliche dazu bringen kann, sich für längere Zeit auf eine zunächst fremd und sperrig erscheinende Materie einzulassen. Anthropologische Fragen decken also nicht das ganze Spektrum des Religionsunterrichts ab, können aber auch bei auf den ersten Blick nicht anthropologisch zugeschnittenen Inhalten motivationale und diskursfördernde Unterstützung bieten. Bemüht man sich, Anthropologisches und im engeren Sinn Theologisches zusammenzubringen, so wird man gerade aus christlicher Sicht nicht nur die Probleme und Widrigkeiten, sondern auch die Herausforderungen und die Chancen sehen. Liegt doch in dem Paradox, dass Gott Mensch geworden ist, Theologie und Anthropologie also untrennbar zusammengehören, gerade der Kern des Evangeliums: Und dementsprechend war »das Wort vom Kreuz« bekanntlich schon vor 2.000 Jahren, als Paulus seine Briefe schrieb, für die meisten Menschen erst einmal »ein Ärgernis« und »eine Torheit« und nicht von vorneherein »Gottes Weisheit« und eine »Gotteskraft« (vgl. 1 Kor 1,18–25).
4 Plädoyer für einen curricularen Neuansatz Insgesamt gesehen, liegt nichts näher, als die bisherigen Überlegungen mit einem Plädoyer für kompetenzorientierten Religionsunterricht zu verbinden. So schreibt Gabriele Obst in ihrer einschlägigen Publikation: »Kompetenzen zielen auf den Umgang mit alltäglichen oder herausgehobenen Situationen, in denen der Einzelne sich zu konkreten Herausforderungen reflektierend und urteilend verhalten oder in denen er selbst handeln muss, und benennen daher Aspekte einer spezifischen Reflexions- und Handlungsfähigkeit. In solchen Situationen können sich z. B. Fragen stellen, die geklärt oder beantwortet werden sollen, Konflikte zeigen, die zu untersuchen sind, Dilemmata, die ein Urteil provozieren, Fälle, die entwirrt werden sollen, Aufgaben, die zu bearbeiten sind, oder auch Probleme, die gelöst werden müssen. Kompetenzorientierter RU macht solche Handlungssituationen zum didaktischen Ausgangspunkt des Lernens.«12 In diesem Sinne wäre ein Religionsunterricht, der von anthropologisch-ethischen Streitfragen seinen Ausgang nimmt, ein kompetenzorientierter Religionsunterricht und käme der religionsdidaktischen Diskussion der letzten 12 Gabriele Obst, Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2015, 186.
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Jahrzehnte entgegen. Gleich zu Beginn der deutschsprachigen Diskussion zur Kompetenzorientierung legte eine am Comenius-Institut angesiedelte Expertengruppe ein curriculares Modell vor, das konsequent von den Fragen und Interessen der Schüler:innen her dachte und die Inhalte des Religionsunterrichts in vier Gegenstandsbereiche gliederte: Subjektive Religion – Bezugsreligion des Religionsunterrichts (z. B. Christentum evangelischer Prägung) – Andere Religionen und/oder Weltanschauungen – Religion als gesellschaftliches Phänomen.13 Obwohl die Comenius-Expertise in vielerlei Hinsicht durchaus positive Resonanz fand (nicht zuletzt auch im Hinblick auf die sogenannten prozessbezogenen Kompetenzen), geriet der Vorschlag einer von der individuellen Religiosität ausgehenden Bildungsplanarchitektur leider schnell in Vergessenheit. Was sich durchsetzte, war eine eher fachwissenschaftlich ausgerichtete Systematik, die z. B. 2016 in Baden-Württemberg zu folgenden Themenfeldern führte: Mensch – Welt und Verantwortung – Bibel – Gott – Jesus Christus – Kirche und Kirchen – Religionen und Weltanschauungen.14 »Mensch« ist in diesem Rahmen noch ein Thema, aber eben eines neben anderen. Die Beschäftigung mit der Bibel nimmt einen breiten Raum ein, sodass ein Kollege aus Schottland kürzlich bemerkte, das seien doch eher »biblical studies«. Veit-Jakobus Dieterich kommt in einem kritischen Rückblick auf eineinhalb Jahrzehnte kompetenzorientierter Bildungsplanarbeit zu dem Ergebnis, dass das an der theologischen Fachwissenschaft ausgerichtete Konstruktionsmuster tendenziell zu einer »weitgehenden Ausblendung von nicht-religiösen, weltanschaulichen, alltäglichen bzw. nicht-theologischen wissenschaftlichen Dimensionen« geführt hat. »Die grundlegenden Fragen des menschlichen Weltzugangs, des Alltags lebens der Heranwachsenden sowie der Strukturen unserer (Welt-)Gesellschaft« werden demgegenüber vernachlässigt.15 Dieser Befund ist insofern befremdlich, als der Kompetenzansatz ursprünglich mit großem Nachdruck als Subjektorientierung eingeführt wurde; oft wurde geradezu von einem Paradigmenwechsel gesprochen. Überlegt man, warum die fachwissenschaftliche Herangehensweise sich im Religionsunterricht dennoch
13 Vgl. Dietlind Fischer/Volker Elsenbast (Hg.), Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006. 14 Vgl. Land Baden-Württemberg/Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL), Bildungspläne Baden-Württemberg, www.bildungsplaene-bw.de (Zugriff am 10.05.2023). 15 Veit-Jakobus Dieterich, Wie steht es mit der Kompetenzorientierung in den Lehr- und Bildungsplänen für den Religionsunterricht? Eine Standortbestimmung nach eineinhalb Jahrzehnten Curriculumrevision, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 70 (2018), 347–359, hier 358.
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so hartnäckig hält, zeigt sich, dass dabei die Notwendigkeit einer Kooperation mit der römisch-katholischen Kirche eine große Rolle spielte. In den »Kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht« der deutschen Bischofskonferenz von 2004 findet sich folgende Formulierung: »Die Zuordnung von Kompetenzen zu Unterrichtsinhalten erfolgt hier in sechs Gegenstandsbereichen, die das religiöse Grundwissen gliedern: 1. Mensch und Welt 2. Die Frage nach Gott 3. Bibel und Tradition 4. Jesus Christus 5. Kirche 6. Religionen und Weltanschauungen. Die Auswahl der Gegenstandsbereiche verdankt sich sowohl der ›Hierarchie der Wahrheiten‹ (Unitatis redintegratio, Nr. 11) als auch der langjährigen Unterrichtserfahrung in den betreffenden Jahrgangsstufen.«16 Dieses Votum hatte offensichtlich für die Bildungsplanarbeit der beiden großen deutschen Kirchen erhebliche Auswirkungen, und es wäre an der Zeit, dieser Weichenstellung die entsprechenden theologischen und religionsdidaktischen Begründungen folgen zu lassen. Die bloße Behauptung, die zur Diskussion stehende Gliederung sei eben die von der Theologie vorgegebene fachwissenschaftliche Struktur, wird auf Dauer nicht genügen. Dies gilt umso mehr, als dass sich das immer stärker profilierende Nachbarfach Ethik sehr eindeutig auf einen anthropologisch-lebensweltlichen Ansatz setzt. So geht der gymnasiale Bildungsplan Ethik Baden-Württemberg von den Leitbegriffen Freiheit, Gerechtigkeit und Verantwortung aus und kommt von dort aus zu Themenfeldern wie »Ich und Andere«, »Konflikte und Gewalt«, »Mensch und Natur«, »Armut und Reichtum«, »Medien und Wirklichkeiten«, »Glauben und Ethos«, »Ethik und Moral«.17 Stellt man sich einen Elternabend vor, auf dem die Fächer Religion und Ethik ihre Unterrichtsthemen nacheinander vorstellen, ergibt sich für das Fach Religion vermutlich eine immer geringere Plausibilität. Nun unterscheidet sich der Religionsunterricht, jedenfalls als konfessioneller Religionsunterricht, vom Ethikunterricht u. a. dadurch, dass er sich als Anwalt einer bestimmten religiösen Perspektive und Tradition versteht und davon ausgeht, dass gerade diese Perspektive und Tradition Schüler:innen bei ihrer Subjektwerdung und Lebensgestaltung hilfreich und förderlich sein kann. Für das Fach Religion wäre deshalb im Hinblick auf die nächste Bildungsplangenera16 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kirchliche Richtlinien zu den Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5–10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss), Bonn 2004, 16. 17 Vgl. Bildungspläne Baden-Württemberg, www.bildungsplaene-bw.de (Zugriff am 10.05.23).
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tion nach einem Ansatz zu suchen, der seinen Ausgang von anthropologischen Fragestellungen nimmt, diese in den Mittelpunkt des Unterrichts stellt, dann aber auch mit Konsequenz die Verknüpfung und Verzahnung mit Inhalten der christlichen Tradition im Blick hat. Um dies zu konkretisieren, sei abschließend zumindest eine Möglichkeit vorgestellt: Christine Lehmann und Martin Schmidt-Kortenbusch haben in evangelisch-katholischer Kooperation und auf dem Hintergrund jahrzehntelanger Fachberatertätigkeit ein detailliert ausgearbeitetes Modell vorgelegt, das angesichts einer immer weniger religiös sozialisierten Schülerschaft von folgender Diagnose ausgeht: »Die theologisch geprägte Systematik von Lehrplänen und Schulbüchern, die sich in Unterrichtsthemen niederschlägt, könnte […] den Eindruck vermitteln, es gehe um den Erwerb eines kompendienhaften Wissens über das Christentum und weniger um das, was Jugendlichen in Bezug auf ihr Mensch-Sein am Herzen liegt. Aus der bisherigen Systematik ergeben sich weitere Schwierigkeiten: Religionsunterricht muss in Bezug auf seine neue Schülerschaft zunehmend ›religiöse Alphabetisierung‹ betreiben, weil Schüler Begriffe wie Gnade, Sakrament oder Heil nicht mit Inhalt und schon gar nicht mit Erfahrungen füllen können. Es entsteht das Dilemma, dass man, will man wichtige Glaubensaussagen gedanklich tiefgründig durchdringen, sehr viel Zeit benötigt und so an einzelnen Themen ›hängenbleibt‹. Am Ende der Schulzeit droht dann, dass sich zusammenhanglose ›Christentumsfragmente‹ in den Köpfen der Schülerinnen festgesetzt haben, deren Lebensrelevanz den Schülern verschlossen bleibt. Daher verfolgen Curricula und Religionsbücher das Ziel, grundlegende Kompetenzen und entsprechendes Wissen in allen theologischen Teildisziplinen anzubahnen. Wer diese Zielsetzung ernstnimmt, läuft wegen der damit unvermeidlich verbundenen Stofffülle Gefahr, die Verstehensmöglichkeiten der Schülerinnen zugunsten von ›Überblickswissen‹ zu überspringen, was aber der anzustrebenden Kompetenzorientierung zuwiderläuft. Wie kann der Religionsunterricht aus diesem Dilemma herauskommen, d. h. sowohl schülerorientiert zu sein als auch eine seinem Gegenstand angemessene Sachstruktur verfolgen?«18
18 Christine Lehmann/Martin Schmidt-Kortenbusch, Der RU braucht eine Korrelationsdidaktik entlang kontrastierender Grunderfahrungen – ein Beitrag zur Diskussion und Erprobung, in: Braunschweiger Beiträge 150/1 (2017), 4–25, hier 5.
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Christine Lehmann und Martin Schmidt-Kortenbusch gehen in existenzphilosophischer Tradition von zehn menschlichen Grunderfahrungen aus, die sie als Grundthemen und sozusagen »Streitfragen« eines zugleich schüler- wie sachorientierten Religionsunterrichts verstehen: 1. Gemeinschaft, Alleinsein und Einsamkeit, 2. Liebe und Hass, 3. Glück und Leid, 4. Gelingen, Schuld und Scheitern, 5. Interesse, Engagement und Gleichgültigkeit, 6. Hoffnung, Angst und Sinnlosigkeit, 7. Leben und Tod, 8. Wahrheit und Irrtum, 9. Anpassung und Widerstand, 10. Freiheit, Determination und Unterdrückung. Diese Grunderfahrungen sind als Grenzerfahrungen polar bzw. »kontrastierend« formuliert, thematisieren also sowohl positive wie negative Möglichkeiten des Lebens. In einer tabellarischen Übersicht ordnen die beiden Autoren diese »kontrastierenden Grunderfahrungen auf dem Lebensweg« existenziellen »Leitfragen« sowie möglichen Unterrichtseinheiten zu und benennen »zu diskutierende Handlungsoptionen«. Vor allem aber gelingt es der Autorin und dem Autor, die existenziellen Kategorien mit »biblischen und theologischen Grundmotiven« zu verbinden. Hierbei greifen sie auf die von Gerd Theißen herausgearbeiteten 14 Grundmotive biblischen Glaubens zurück.19 Theißen identifiziert in der Bibel das Schöpfungs-, das Weisheits-, das Wunder-, das Entfremdungs-, das Hoffnungs-, das Umkehr, das Exodus-, das Stellvertretungs-, das Einwohnungs-, das Glaubens-, das Agape-, das Positionswechsel-, das Gerichts- und das Rechtfertigungsmotiv und versucht auch seinerseits zu zeigen, »dass es im säkularen Bewusstsein zu all diesen Motiven konvergierende Gedanken gibt«.20 Bezüge zum problemorientierten Religionsunterricht, zur Korrelationsdidaktik und zum Elementarisierungsmodell sind bei diesem Curriculumvorschlag unverkennbar und werden von Lehmann und SchmidtKortenbusch auch ausdrücklich benannt. Bildungsplanarbeit findet in der Regel unter großem Zeitdruck und unter wechselnden administrativen Vorgaben statt, kirchliche Leitlinien und die Vielfalt der Schularten sind zu berücksichtigen, bei der Zusammensetzung von Bildungsplankommissionen scheint Proporz gelegentlich mindestens genauso wichtig zu sein wie fachliche Expertise. Der Entwurf von Lehmann und SchmidtKortenbusch zeigt, dass es sich lohnt, die Diskussion auch ohne unmittelbaren Handlungsdruck und außerhalb der üblichen Strukturen zu führen. Weitere Entwürfe und Vorschläge anderer Autor:innen sollten folgen. Vielleicht könnte man bei der Suche nach einer besseren Bildungsplanarchitektur in Zukunft so 19 Gerd Theißen, Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003. 20 Lehmann/Schmidt-Kortenbusch, RU, 9.
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verfahren, wie es auch sonst bei größeren, komplexen Bauvorhaben üblich ist: Die Ausschreibung eines Architektenwettbewerbs ist manchmal kostengünstiger als traditionelle Gremienarbeit und führt gleichzeitig oft zu originelleren und realistischeren Konstruktionen. Dr. theol. Peter Kliemann war bis zu seinem Ruhestand Professor am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) in Tübingen und leitete dort den Bereich Religion – Ethik – Philosophie und Musik.
Inklusionstheoretische und religionsdidaktische Reflexionen zur Anthropologie Ulrike Witten
1 Hinführung Inklusion und Anthropologie stehen in einem nicht spannungsfreien Verhältnis zueinander. Einerseits kann der Inklusionsdiskurs als durchdrungen von anthropologischen Bezügen angesehen werden, stehen doch Menschen und die Entfaltung ihrer Rechte im Zentrum. Andererseits wurden anthropologische Fragen an den Inklusionsdiskurs aus der Inklusionspädagogik auch zurückgewiesen. Dahinter steckt die Sorge um eine immanente Sonderanthropologie.1 Würde das Recht auf Inklusion anthropologisch begründet, wie es in der Sonderpädagogik üblich war, könnte dies immer so gelesen werden, dass dabei argumentiert würde, Menschen, die vermeintlich von einer gesetzten Norm abweichen, wären auch Menschen – wie es mit Blick auf weibliche Personen oder Menschen mit Beeinträchtigungen getan wurde, was mit dem Begriff der Sonderanthropologie problematisiert wird.2 Im Inklusionsdiskurs wird also versucht, von solchen Begründungsmustern Abstand zu nehmen, die abwertend und diskriminierend verstanden werden können, indem Inklusion in den Menschenrechten gründend angesehen wird: Inklusion gilt als Menschenrecht und muss nicht mit Blick auf den einzelnen Menschen und seine individuellen Lebensumstände erneut begründet werden.3 Da Inklusion also auch als Kritik an einer immanenten Sonderanthropologie 1 Vgl. Bettina Lindmeier/Christian Lindmeier, Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Bd. 1: Grundlagen, Stuttgart 2012, 11. 2 Vgl. Petra Fuchs, Zur Konstruktion von »Körperbehinderung« im Schnittfeld von Orthopädie, Psychologie und Pädagogik, in: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt/Anne (Hg.), Disability History: Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, 114–123; Jens Geldner, Inklusion, das Politische und die Gesellschaft: Zur Aktualisierung des demokratischen Versprechens in Pädagogik und Erziehungswissenschaft, Bielefeld 2020, 41; Markus Dederich, Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik, Stuttgart 2013, 119–121; Claudia Honegger, Die kognitiven Prinzipien der neuen Wissenschaften vom Menschen und die Genese einer weiblichen Sonderanthropologie in Frankreich, in: Theresa Wobbe (Hg.), Die gesellschaftliche Verortung des Geschlechts. Diskurse der Differenz in der deutschen und französischen Soziologie um 1900, Frankfurt a. M. 2011, 93–113. 3 Vgl. Ulrike Witten, Inklusion und Religionspädagogik. Eine wechselseitige Erschließung, Stuttgart 2020, 23–138.
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verstanden werden kann, wäre zu negieren, dass anthropologische Fragen durch den Inklusionsdiskurs in besonderer Weise aufgerufen würden. Das Spannungsfeld kann grob so umrissen werden, dass Inklusion nicht nichtanthropologisch gesehen werden kann. Es ist jedoch nicht mit den Anliegen von Inklusion zu vereinbaren, wenn dabei Sonderanthropologien aufgerufen werden. Ausgehend von einer Entfaltung dieses Spannungsfelds reflektiert der vorliegende Beitrag das Thema Anthropologie inklusionstheoretisch und denkt über religionsdidaktische Konsequenzen nach. Dafür wird Inklusionstheorie als Analyseinstrument genutzt, indem z. B. gefragt wird, inwiefern Vulnerabilität, aber auch Differentsetzungen und Kategorisierungen zum Menschsein dazugehören. Der Beitrag problematisiert damit Zugänge, die ein enges Verständnis von Inklusion nutzen, und problematisiert die mit einem (sonder)anthropologischen Zugang verbundene Gefahr, differentsetzende Lesarten mit zu transportieren und die Diskriminierung nicht im diskriminierenden Kontext, sondern in der diskriminierten Person zu verankern.
2 Das Spannungsfeld von Inklusion und Anthropologie Wie schon einleitend problematisiert wurde, bestehen aus inklusionstheoretischer Perspektive Vorbehalte gegenüber der Annahme, Inklusion sei anthropologisch zu verstehen.4 Dies beinhaltet einerseits die Anfrage, inwiefern durch einen anthropologischen Zugang eine Sonderanthropologie aufgerufen und verfestigt würde. Andererseits geht mit dem bislang vorfindlichen anthropologischen Zugriff tendenziell eher ein Inklusion verengender Fokus auf Menschen mit Beeinträchtigung einher. Ohne schon zu sehr vorgreifen zu wollen, ist ein solcher Zugriff bislang auch religionsdidaktisch verbreitetet, was keinen Einzelfall darstellt. Häufig wird in schulpraktischen Kontexten, in der Öffentlichkeit, aber teils auch in der Religionspädagogik Inklusion vornehmlich als Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigungen verstanden. Diese Engführung hat sich im Zuge der Popularisierung von Inklusion in Folge der UN-BRK ergeben und verweist damit auch auf den »Sitz im Leben« des Inklusionsdiskurses im Feld von Pädagogik bei Behinderung und Beeinträchtigung.5 Einem solchen engen 4 Sehr deutlich macht das Martin Giese, der die Anthropologiekritik in der sogenannten »Behindertenpädagogik« zusammenfasst. Er benennt als Kritikpunkte, dass Anthropologien genutzt wurden, um Menschen auszugrenzen und die Sinnhaftigkeit anthropologischer Zugänge insgesamt in Frage gestellt wird, vgl. Martin Giese, Skizzen zur kulturanthropologischen Begründung einer inklusiven (Fach-)Didaktik, Berlin 2017, 121–122. 5 Vgl. Lindmeier/Lindmeier, Pädagogik.
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Verständnis ist entgegenzuhalten, dass sich Inklusion als menschenrechtlich fundiertes Anliegen versteht, allen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen,6 wobei sich Unterschiede hinsichtlich der Teilhabechancen nicht ungleich als Barrieren auswirken sollen. Mit der Genese des Inklusionsdiskurses eng verbunden sind Diskussionen um den Begriff Behinderung, die eine Sonderanthropologie problematisieren und die im Folgenden kurz nachgezeichnet werden. So problematisiert der Inklusionsdiskurs eine individualtheoretische Sicht von Behinderungen, denn in »individualtheoretischer Sicht gelten Behinderungen oder Beeinträchtigungen als individuelle Defizite, deren Auftreten spezifische Hilfs- bzw. Unterstützungsleistungen erforderlich macht. Dabei wird die einzelne Person über ihre individuelle[n] Normabweichung[en] definiert (eine Person ist behindert bzw. beeinträchtigt). […] Personen- oder merkmalsbezogene sonderpädagogische Gegenstandsbestimmungen versuchen den Gegenstand dieser ›besonderen Pädagogik‹ sonderanthropologisch zu bestimmen«.7 Die Folge einer solchen Sonderanthropologie ist, »dass aus Menschen Behinderte werden«8. Die Behinderung wird im Individuum verortet, womit die Tendenz einhergeht, das Individuum darauf zu reduzieren. Entscheidend ist daher, die »unreflektierte[…] Normativität« der eigenen »pädagogisch-anthropologischen Grundannahmen« zu hinterfragen, denn die »für die ›Pädagogik der Behinderten‹ konstitutive Annahme, dass es eine Norm geben muss, von der aus der Gegenstand der Sonderpädagogik als menschlicher ›Sonderfall‹ erscheint, der sonderpädagogischer Maßnahmen bedarf, wird […] in dem Moment zweifelhaft, in dem diese Norm als kontingent, willkürlich und unbegründet, ja unbegründbar deutlich wird.«9 Inklusionspädagogisch werden daher solche Differentsetzungen problematisiert und Behinderung als durch den Kontext erzeugt angesehen: Menschen sind nicht behindert, sondern werden behindert. Lindmeier und Lindmeier unterscheiden daher von der individualtheoretischen Sichtweise die sozialtheoretische Sichtweise, die in Behinderung eine soziale Zuschreibung sieht, die von 6 Vgl. Christian Lindmeier/Birgit Lütje-Klose, Inklusion als Querschnittsaufgabe in der Erziehungswissenschaft, in: Erziehungswissenschaft, 26.51 (2015), 7–16. 7 Lindmeier/Lindmeier, Pädagogik, 16. 8 Ebd., in Bezug auf Zirfas 1999. 9 Lindmeier/Lindmeier, Pädagogik, 17.
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Stigmatisierungen und essenzialistischen Lesarten begleitet ist. Behinderung ist als »etwas Relatives«10 zu verstehen, »nicht mehr als Zustand, sondern als (Handlungs-)Situation, in der sich eine Person befindet«11. Dies wird von den »Disability Studies« erweitert, die »Behinderung als ein Grundphänomen menschlichen Daseins ansehen« und die Behinderung als soziale Konstruktion untersuchen, die hergestellt wird.12 Damit korrespondiert das menschenrechtliche Modell von Behinderung: »Dieser rechtsbasierende Ansatz ist als Gegenpol zu einer an Bedürftigkeit orientierten Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik zu verstehen, in der Behinderte als Objekte der Sozialpolitik, nicht aber als Bürgerrechtssubjekte gelten. Er entwickelte sich im Zuge der Entwicklung von Antidiskriminierungsgesetzen, die weltweit seit den 1990er Jahren auch die Kategorie der Behinderung einschlossen.«13 Reflektiert man anhand des Durchgangs durch die Entwicklung des Verständnisses von Behinderung die anthropologische Lesart von Inklusion, dann wird deutlich, dass sie in der Gefahr steht, einerseits Inklusion vornehmlich als Anliegen von Menschen mit Beeinträchtigungen anzusehen, und andererseits, dass sich die individualtheoretische vor die menschenrechtliche Lesart von Behinderung schiebt und Behinderung oder Benachteiligung nicht als etwas Hergestelltes angesehen wird, nicht als ein kontingenter Unterschied, der zu dekonstruieren ist, sondern als ein Unterschied, der akzeptiert werden soll. So drückt es sich z. B. im vielzitierten »Es ist normal, verschieden zu sein«14 aus. Eine anthropologische Sichtweise, die die durch Diskriminierung und Differentsetzung machtvoll hergestellten Unterscheidungen nicht auch dekonstruiert, sondern lediglich perpetuiert, stellt also keine inklusive Perspektive dar. Zum eingangs formulierten Spannungsfeld gehört jedoch, dass die mit Inklusion verbundenen Themenfelder von Differentsetzungen eben doch auch eine anthropologische Komponente beinhalten. Allerdings nicht in Bezug auf die Eigenschaften, die Menschen zugeschrieben werden, sondern in Bezug auf den Prozess des Zuschreibens. Dass Menschen vergleichen und dabei unterscheiden, dass sie kategorisieren und Vorurteile haben, gehört zum menschlichen 10 11 12 13 14
Ebd., 26. Ebd., 28. Ebd., 35. Ebd., 37, in Bezug auf Degener. Ulrike Witten, Inklusion und Religionspädagogik. Eine wechselseitige Erschließung, Stuttgart 2020, 152.
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Verhalten dazu. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies nicht auch erlernte Verhaltensweisen sein können, die sich verändern ließen.15 Ein weiterer anthropologischer Anteil von Inklusion kann im utopischen Gehalt16 gesehen werden, womit Fragen nach der Zukunft des Menschseins sowie nach den damit verbundenen Menschenbildern verknüpft sind. Die Hoffnung auf einen neuen Menschen und ein neues menschliches Miteinander sind dem Inklusionsdiskurs durchaus inhärent.17 Zudem liegt in einer Neuinterpretation des anthropologischen Zugangs auch das Potenzial, bisherige Verengungen zu weiten. Was das skizzierte Spannungsfeld für eine religionsdidaktische Reflexion von Anthropologie und Inklusion bedeutet, wird im nächsten Schritt reflektiert.
3E ine inklusionstheoretisch reflektierte Anthropologie in religionsdidaktischer Perspektive Zuerst wird die derzeit bestehende Ausgangslage betrachtet, denn im Zuge der Popularisierung des Inklusionsdiskurses in Folge der Verabschiedung der UNBRK wurde »Inklusion« zum Unterrichtsinhalt im Religionsunterricht,18 sodass sich eine kurze Bestandsaufnahme lohnt, wie Inklusion und Anthropologie derzeit religionsunterrichtlich zur Sprache kommen. Dass Inklusion zum Thema im Religionsunterricht geworden ist, ist zu begrüßen, stellt es doch ein gesamtgesellschaftlich gedachtes Querschnittsthema dar und sollte als solches auch in der Schule inhaltlich verankert sein. Wie eine solche Verankerung inhaltlich 15 Vgl. Vjenka Garms-Homolová, Sozialpsychologie der Informationsverarbeitung über das Selbst und die Mitmenschen. Selbstkonzept, Attributionstheorien, Stereotype und Vorurteile, Berlin 2021, 47–61. 16 Vgl. Andreas Hinz, Inklusion als »Nordstern« und Perspektiven für den Alltag. Überlegungen zu Anliegen, Umformungen und Notwendigkeiten schulischer Inklusion, in: Susanne Peters/ Ulla Widmer-Rockstroh (Hg.), Gemeinsam unterwegs zur inklusiven Schule (Beiträge zur Reform der Grundschule 138), Frankfurt a. M. 2014, 18–31. 17 Vgl. bspw. den auf recht umfangreiche Veränderungen zielenden Index für Inklusion von Bruno Achermann/Donja Amirpur/Maria-Luise Braunsteiner/Heidrun Demo/Elisabeth Plate/Andrea Platte (Hg.), Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung, Weinheim/Basel 2017. 18 Z. B. explizit in den Lehrplänen von Baden-Württemberg, Niedersachsen, dem Saarland und Sachsen-Anhalt. Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (Hg.), Gemeinsamer Bildungsplan der Sekundarstufe I. Evangelische Religionslehre, Stuttgart 2016, 29–30, 35; Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.), Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5–10. Evangelische Religion, Hannover 2016, 19; Ministerium für Bildung und Kultur Saarland (Hg.), Lehrplan Evangelische Religion Gymnasium, Saarbrücken 2017, 15; Ministerium für Bildung Sachsen-Anhalt (Hg.), Fachlehrplan Gymnasium. Evangelischer Religionsunterricht, Magdeburg 2016, 29.
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bereits erfolgt bzw. erfolgen kann, wird zunächst kurz anhand des Ist-Stands in Lehrplänen und Schulbüchern reflektiert, bevor auf mögliche Weiterentwicklungen eingegangen wird. 3.1 Ausgangslage: Inklusion als Thema im Lernbereich »Anthropologie«
Bislang ist das Thema Inklusion fast ausschließlich im Themenfeld »Anthropologie« verankert. Innerhalb dieses Themenfelds sind wiederum engere und weitere Verständnisse festzustellen. So beinhaltet der evangelische Lehrplan der Grundschule in Rheinland-Pfalz unter der »Frage nach dem Menschen« den Inhalt »Von Gott angenommene Geschöpfe« und schlägt als Anregung einzig »Menschen mit Beeinträchtigungen« vor,19 während im Saarland in Klasse 7/8 am Gymnasium eine Weitung auf alle Facetten menschlicher Vielfalt erfolgt, was normativ mit dem Ziel der Gleichberechtigung in den Menschenrechten begründet und durch das Handlungsfeld Geschlechtergerechtigkeit konkretisiert wird.20 Ohne dass hier im Einzelnen auf die Art und Weise eingegangen werden kann, wie das Themenfeld in aktuellen Schulbüchern aufbereitet wird,21 ist jedoch eine große Spannbreite zu beobachten: Es gibt sowohl Materialien, die sehr weiterführende Impulse umfassen, in denen biblische und theologische Aussagen über das Menschsein mit heute aktuellen Fragen in überzeugender Weise verknüpft werden, als auch problematische Bebilderungen und Aussagen über Menschen mit Behinderung, die Behinderung als im Menschen verankert sehen und tendenziell sogar als etwas Negatives deklarieren. Mehrheitlich wird Inklusion dabei als Anliegen von Menschen mit Behinderung verstanden, oder Menschen mit Behinderungen werden als Beispiel genutzt, um die Unteilbarkeit der Menschenwürde zu verdeutlichen. Der Kritikpunkt einer disability-sensiblen Perspektive, Menschen mit Behinderung würden als »billiges Bildmaterial« genutzt,22 findet sich hier also durchaus wieder. Nicht im Blick ist, dass und auf welche Weise Menschen machtvoll Differenzen herstellen. 19 Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur Rheinland-Pfalz, Rahmenplan Grundschule. Teilrahmenplan Evangelische Religion, Mainz 2010, 18. 20 Vgl. Ministerium für Bildung und Kultur Saarland, Lehrplan Evangelische Religion Gymnasium, 15. 21 Es steht in diesem Beitrag nicht der Raum zur Verfügung, um eine detaillierte kritisch-konstruktive Würdigung vorzunehmen. Keinesfalls sind alle Materialien zu diesem Themenbereich problematisch und zum Teil sind auch einige der im Folgenden dargestellten Aspekte mit enthalten. 22 Katharina Kammeyer/Janieta Jesuthasan, Behindern ist heilbar. Dis/ability als hermeneutische Leitkategorie im Umgang mit Krankheit und Gesundheit in biblischen Heilungsgeschichten, in: Mirjam Zimmermann/Constantin Klein/Gerhard Büttner (Hg.), Kind – Krankheit – Re-
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Zudem zeigt sich in den Unterrichtsmaterialien zum Teil eine didaktische Inszenierung, die am Beispiel behinderter Menschen darauf zielt, deren Gleichwürdigkeit herauszustellen. Damit wird unter dem Postulat der Anerkennung doch Gegenläufiges erreicht, weil im Falle bestimmter Menschen, wie z. B. eben behinderter Menschen deren Gleichwürdigkeit zumindest begründungsbedürftig erscheint.23 Das kann als Abwertung wahrgenommen werden, da es sich um begründungsbedürftige Abweichungen von einer unausgesprochenen Norm handelt,24 wodurch ein diffuses Bild einer Sonderanthropologie entsteht. Hier spiegelt sich die oben skizzierte Problematik der individualtheoretischen Sichtweise von Behinderung wider, die im Zuge des Inklusionsdiskurses vermieden werden sollte.25 Insgesamt herrscht sowohl in den Lehrplänen als auch in den Unterrichtsmaterialien ein »enger« Inklusionsbegriff vor, der Behinderung und Benachteiligung im Menschen verortet und nicht als behindernde Barrieren in den Blick nimmt, der Konstruktcharakter wird nicht deutlich. Welche Alternativen wären denkbar und wie könnte dies religionsdidaktisch aussehen?
ligion. Medizinische, psychologische, theologische und religionspädagogische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2013, 194–210. 23 Vgl. bspw. Ulrike Baumann/Friedrich Schweitzer (Hg.), Religionsbuch Oberstufe, Berlin 2014, 226–230, wo die Unaufgebbarkeit von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde am Beispiel der Peter-Singer-Debatte um »behinderte Säuglinge« sowie anhand eines Textes von Ulrich Bach herausgearbeitet werden soll. Vgl. zudem Heidrun Dierk/Petra Freudenberger-Lötz (Hg.), Das Kursbuch Religion 2, Stuttgart 2016; Wolfram Eilerts/Heinz-Günter Kübler (Hg.), Kursbuch Religion Elementar 2, Stuttgart 2018; Wolfram Eilerts/Heinz-Günter Kübler (Hg.), Kursbuch Religion Elementar 3, Stuttgart 2020; Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 1, Stuttgart 2013; Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! Oberstufe, Stuttgart 2016; Ingrid Grill-Ahollinger/Sebastian Görnitz-Rückert (Hg.), Ortswechsel 5/6, München 2013; Sebastian Görnitz-Rückert/Ingrid Grill-Ahollinger (Hg.), Ortswechsel 9/10, München 2015. 24 Vgl. dazu Witten, Inklusion, 126–128. Vgl. auch Vera Uppenkamp, die die differentsetzende Schlagseite der Thematisierung sexueller Vielfalt herausarbeitet. Indem die Anerkennung vielfältigerer Formen von Sexualität, Partnerschaft und Familie im Religionsunterricht theologisch anscheinend begründet werden müssen, erscheinen bestimmte Formen von sexueller Vielfalt als begründungsbedürftige Abweichungen von einer unausgesprochenen Norm, wenn z. B gefragt wird, ob sogenannte »Regenbogenfamilien« auch Familie seien. Vera Uppenkamp, Sexuelle Vielfalt in der Religionspädagogik, in: Thorsten Knauth/Rainer Möller/ Annebelle Pithan (Hg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen (Religious Diversity and Education in Europe 42), Münster 2020, 234–243. 25 Andreas Hinz, Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 9 (2002), 354–361.
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3.2 Perspektiven für die Weiterentwicklung
Um eine Fortschreibung des ableistischen Narrativs der Sonderanthropologie zu verhindern, wäre es sowohl sinnvoll, Inklusion in den anderen Inhaltsbereichen zu thematisieren als auch im Bereich Anthropologie den Gegenstand Inklusion breiter zu fassen. Wie eine inhaltlich vernetzte Thematisierung von Inklusion aussehen kann, wird im Folgenden überlegt. Dabei wird der Ausgangspunkt Anthropologie beibehalten und von dort her eine Vernetzung in die anderen Themenbereiche überlegt. Im Bereich der Anthropologie sind für Inklusion zwei inhaltliche Grundlinien denkbar. Die eine Linie verbindet diejenigen Zugänge, die die menschliche Ähnlichkeit herausstellen. Die zweite thematisiert machtvolle Differentsetzungen als Teil menschlichen Denkens und menschlicher Haltungen, wovon auch Kirche und Theologie nicht ausgeschlossen sind. Unter die erste Linie der Ähnlichkeit fallen die folgenden vernetzten Thematisierungen: Zuerst ist an die bereits religionsunterrichtlich vorfindliche Verknüpfung mit den Menschenrechten zu denken. Inklusionstheorie sieht die UN-BRK in der Tradition der verschiedenen Menschenrechtskonventionen, die jeweils in Bezug auf als vulnerabel identifizierte Gruppen die Geltung der Menschenrechte einfordern – und damit keine Sonderrechte ableiten, sondern betonen, dass auch für diese und jene Gruppe, wie z. B. Frauen (1981) und Kinder (1990), die Menschenrechte gelten und daraus Egalität ableiten. Dass unterrichtlich die Menschenwürde mit der Gottebenbildlichkeit – als eine der zentralen Aussagen über das Menschsein (Gen 1, 26; Ps 8) – verknüpft wird,26 betont ebenfalls die Egalität und stellt die Ähnlichkeit heraus. In Bezug auf das Nachdenken, wie Gott ist, kann die Zuwendung Gottes zu allen Menschen und gerade die Zuwendung zum Menschen in seiner Fragmentarität, im menschlichen Angewiesensein auf Heil, woraus der Mensch sich nicht allein befreien kann, zur Sprache kommen; wie es z. B. in der Urgeschichte zum Ausdruck kommt und wie sie in Jesu Zuwendung zu den am Rande stehenden in besonderer Weise ins Werk gesetzt wurde.27 Indem die Fragmentarität aller Menschen herausgestellt wird, besteht die Chance, eine differentsetzende Sonderanthropologie zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund bestünde auch die Möglichkeit, Diakonie als ekklesiologischen Topos im Kontext von Inklusion so zu thematisieren, dass kein asymmetrisches Verhältnis von Hilfe 26 Vgl. bspw. Hartmut Rupp/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Kursbuch Religion Sekundarstufe II, Stuttgart 2014, 56–62; Husmann/Merkel, Moment mal! Oberstufe, 158–159. 27 Vgl. dazu Christian Gauer/Sabine Grünschläger-Brenneke (Hg.), Die Reli-Reise 1/2, Stuttgart 2012, 7–9, 15–23.
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der Starken gegenüber den Schwachen vertreten und deutlich wird, dass Kirche als eine Gemeinschaft zu denken ist, die ohne die Schwächsten nicht ganz ist.28 Die zweite Linie – die der machtvollen Differentsetzung – ist auf der konkreten Ebene der Unterrichtsmaterialien religionsdidaktisch bislang nicht im Blick und ließe sich durch die folgenden vernetzenden Thematisierungen verfolgen. Als Schnittfeld von Ethik und Anthropologie sind die Unterscheidungen selbst zu thematisieren: Warum unterscheiden Menschen und was wird – oft unausgesprochen – als »normal« und was als »von der Norm abweichend« angesehen? Inwiefern wirkt sich dieses Unterscheiden problematisch aus, weil Diskriminierungen zu Ungerechtigkeiten führen können? Wie können diese Normen verändert werden? Zudem evoziert Inklusion auch Fragen von Gerechtigkeit,29 inwiefern z. B. Fördermaßnahmen, die Menschen zu ihren Menschenrechten verhelfen, in einem meritokratischen System gerecht sein können. Da den Lernenden aus ihrem schulischen Kontext das »Leistungsprinzip« vertraut sein sollte und ihnen mehrheitlich als legitimes Unterscheidungsmerkmal erscheinen dürfte, stellt es sich als ertragreich dar, solche Gerechtigkeitsfragen im Themenfeld Ethik zu verankern. Die machtvollen Differentsetzungen können wiederum im Themenfeld Ekklesiologie vertieft werden, indem in Bezug auf die Kirchengeschichte Marginalisierungs- und Otheringprozesse thematisiert werden.30 Die beiden Linien der Ähnlichkeit und der Thematisierung von Differentsetzung sind verbunden, wenn man einer christologischen Spur nachgeht, wie sie Dominik Gautier und Britta Konz im Zuge ihrer Überlegungen zu einer beschämungsfreien, dominanz- und unterscheidungsideologiekritischen Reli gionspädagogik entwickelt haben.31 Im Kreuz gibt sich »Jesus Christus der Gewalt und der Verspottung hin«, offenbart sich darin und durchkreuzt so menschliche Vorstellungen von Macht und Stärke, was Herrschaftsverhältnisse kritisch in Frage stellt.32 Nach diesen allgemein gehaltenen Überlegungen zur thematischen Anbindung des Themas sollen abschließend didaktische Konkretisierungen für den Primar- und Sekundarstufenbereich skizziert werden. 28 Vgl. Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006. 29 Vgl. Simone Seitz/Nina-Kathrin Finnern/Natascha Korff/Katja Scheid (Hg.), Inklusiv gleich gerecht? Inklusion und Bildungsgerechtigkeit, Bad Heilbrunn 2012. 30 Vgl. Heidrun Dierk, Kirchengeschichtliches Lernen in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Dis/ability History als diversitätssensibler Zugang zur Kirchengeschichte, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 74.3 (2022), 299–310. 31 Vgl. Britta Konz/Dominik Gautier, »Du weißt meine Schmach, Schande und Scham« (Ps 69,20). Dominanzkritische Überlegungen zur inklusiven religiösen Bildung, in: Julia Enxing/Katharina Peetz (Hg.), Contritio. Annäherungen an Schuld, Scham und Reue, Leipzig 2017, 16–25. 32 Ebd., 16–25, hier 22.
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3.3 Konkretisierung: Wie kann eine inklusionstheoretisch reflektierte Anthropologie im Religionsunterricht zur Sprache kommen?
Im Religionsunterricht der Primarstufe reflektieren Kinder ihr Menschsein, denken über sich in ihren jeweiligen sozialen Beziehungen nach, z. B. zu Gleichaltrigen. Es kann eine Sonderanthropologie vermieden werden, indem dabei eher beiläufig die Vielfalt menschlichen Lebens gezeigt33 und auf eine Begründung oder Extra-Herausstellung der Zugehörigkeit bestimmter Personen verzichtet wird. Dabei sind die biblischen Erzählungen, wie sie im Religionsunterricht der Grundschule breiten Raum finden, die Quelle schlechthin, die menschliches Leben in all seinen Facetten, mit allen zugehörigen Emotionen, dem Scheitern, dem Erfolg usw. zum Ausdruck bringen. Auch die Thematisierung der Schöpfungstexte kann unter dem Fokus erfolgen, darauf zu vertrauen, »dass ich wunderbar gemacht bin« (Ps 139, 14). Wissend, dass diese Zusage längst nicht immer der eigenen Selbstwahrnehmung entspricht, können Sätze wie »Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin« – wie insgesamt Psalm 139 – psalmendidaktisch34 vertieft werden. In der Sekundarstufe I steht mit dem Jugendalter und der Entwicklungsaufgabe Pubertät eine Erfahrung im Hintergrund, die nahelegt, dass anthropologische Fragen in dieser Altersstufe breiten Raum einnehmen. Religionsdidaktisch wird dabei der Bezug zur Lebenswelt gesucht, sodass auch Themen wie beispielsweise Partnerschaft und Sexualität oder auch die durch Mediennutzungserfahrungen evozierte Frage nach dem Menschsein im Religionsunterricht verhandelt werden. Eine inklusionstheoretisch reflektierte Anthropologie kann ausgehend von der Fragmentarität menschlichen Seins (eigene) Vulnerabilitäten zur Sprache bringen, aber auch aufzeigen, wo Menschen von Exklusion bedroht sind und das Verwirklichen ihrer Menschenrechte gefährdet ist. Zum Informiertsein über Benachteiligungen gehört auch, Differenz nicht nur zu dekonstruieren, sondern ebenso zu thematisieren, dass in bestimmten Zusammenhängen spezifische Benachteiligungen entstehen, weil z. B. Frauen mit Behinderung einer deutlich höheren Gefährdung ausgesetzt sind, sexualisierte Gewalt zu erleben. Der Vulnerabilitätsthematik ist das menschliche Verhältnisse umstürzende Gottesbild, dass Gott Mensch wird, sich verletzlich macht, dass er in den Schwa33 Wie es bspw. auch die Schulbuch-Reihe Reli-Reise macht, wobei das Spannungsfeld bleibt, in der Bebilderung nicht zu stereotyp zu sein. 34 Vgl. Ingo Baldermann, Art. Psalmendidaktik, in: WiReLex (2015), www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/100042/ (Zugriff am 01.10.2022).
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chen mächtig ist, an die Seite zu stellen, um eine einseitige Lesart von Schwachheit zu vermeiden, was überdies mit eschatologischen Hoffnungen verbunden werden kann. Dem Anliegen, neue Bilder menschlicher Vielfalt in den Religionsunterricht einzubringen, entspricht auch die Thematisierung von Transhumanismus, was im Zuge der Digitalität vermehrt eine Rolle spielt und worüber Neuinterpretationen vom Menschen als »Mängelwesen« möglich sind. Zudem kann in höheren Klassen das Herstellen von Differenz und damit verbundene Effekte zum Thema werden und somit einen Anlass bieten, um die eigenen Kategorien infrage zu stellen. Hierfür können machtvolle Unterscheidungen entlang verschiedener Linien, wie Geschlecht, »Kultur«, Religionszugehörigkeit, race oder auch »Behinderung«, zur Sprache gebracht werden. Gesellschaftliche Diskussionen ums Gendern und Kolonialismus, fachwissenschaftliche Debatten, wie z. B. um die Bibel in gerechter Sprache, aber auch die derzeit mehr und mehr im Religionsunterricht eine Rolle spielende Tierethik, die die grundlegende Differenzlinie Tier–Mensch35 anspricht, können behandelt werden. Dabei sollte die sozioökonomische Situation, die Menschen limitiert, nicht aus dem Blick geraten und in ihren intersektionalen Zusammenhängen betrachtet werden. Denn bei Inklusion geht es nicht nur um die Anerkennung von Vielfalt, sondern auch darum, Benachteiligungen zu beheben. 3.4 Fazit
Das Spannungsfeld von Inklusion und Anthropologie lässt sich nicht auflösen und bleibt als Anfrage stehen – auch an diesen Beitrag und seine religionsdidaktischen Überlegungen. Dass es notwendig ist, das Spannungsfeld zu bearbeiten, wurde anhand der problematischen Verengungen des Feldes Inklusion und Anthropologie im Unterricht aufgezeigt. Hoffentlich konnten überdies Impulse für eine problembewusste inklusionstheoretisch reflektierte Anthropologie gegeben werden. Dr. Ulrike Witten ist Professorin für Evangelische Religionspädagogik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München.
35 Vgl. Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, Berlin 2015.
Hetero und LGBTQIA+. Zur Geschlechtlichkeit des Menschen als Thema des RU Helga Kohler-Spiegel
Vielleicht haben Sie die Bilder der Fußball-WM in Qatar noch im Kopf; bunte Bänder am Oberarm wiesen darauf hin, dass geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung ein Menschenrecht ist. Dies sichtbar zu machen, konnte zu Platzverweis und Ausschluss führen. Fast täglich erreichen uns Nachrichten, wo es in Europa und anderen Ländern der Welt zu Aufruhr kommt, weil sich Menschen nicht in einem eindeutigen Geschlecht und nicht in ausschließlich heterosexuellen Beziehungen zeigen.
1 Es geht um Menschenrechte, es geht um Gesetze Auf der Basis der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« vom 10. Dezember 1948 und dem darin verbürgten Recht auf Selbstbestimmung hält das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1 fest: »(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetz gebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht« (GG 1). In Artikel 2 heißt es weiter: »(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetzt verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« (GG 2)
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Dies ist so ausführlich zitiert, um deutlich zu machen, dass es bei sexueller und geschlechtlicher Selbstbestimmung nicht um eine bestimmte – als frei oder liberal bezeichnete – Position geht, sondern um die Einhaltung des Grundgesetzes, wenn vom »Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« und auf »körperliche Unversehrtheit« die Rede ist. Neben dem Grundgesetz gibt es eine Reihe weiterer Gesetzestexte, die den Schutz sexueller und geschlechtlicher Identität gewährleisten sollen. Exemplarisch genannt seien Schutzgesetze für die sexuelle Selbstbestimmung im Strafgesetzbuch (StGB) und im Jugendschutzgesetz (JuSchG). Zusätzlich verbietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) die Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, sexueller Identität u. a. Für den Schutz geschlechtlicher Selbstbestimmung kommen das Transsexuellengesetz (TSG) sowie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) dazu, um das Recht auf Namensänderung und auf Eheschließung zu gewährleisten. All diese gesetzlichen Bestimmungen dienen dem »Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« und auf »körperliche Unversehrtheit« (GG 2).1
2 Begriffliche Klärung: Geschlechtliche Identität Die Abkürzung LGBTQIA+ steht für »Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer/Questioning, Intersexual, Asexual, and other identities«. Diese etwas sperrige Abkürzung für Lesbische, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queer/ Questioning, Intersexuelle, Asexuelle und andere Identitäten macht die Vielfalt sichtbar – und das, ohne »heterosexuell« ausdrücklich zu nennen. Es gehört zu den Aufgaben des Individuums, geschlechtliche Identität zu entwickeln und sich selbst im Bereich von sex und gender zu verorten. Geschlechtliche Identität setzt sich zusammen aus: »[d]em Körper (biologisches Geschlecht), und der daraus resultierenden Geschlechtsidentität (sich als Mann, Frau oder anders zu fühlen bzw. zu definieren) (psychisches Geschlecht). Weiterhin der Geschlechterrolle, die im Verlauf der psychosexuellen Entwicklung gebildet und durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird, u. a. durch das Postulieren von Zweigeschlechtlichkeit (soziales Geschlecht), sowie der sexuellen Orientierung (Homo-,
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Vgl. Matthias Bahr, Das Recht, als Mensch zu seinem Menschsein zu stehen, in: Katechetische Blätter 145 (2020), 8–14.
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Hetero-, Bi-, ›Asexualität‹) und der Art der Art und Weise des sexuellen Begehrens«2. Menschen, die biologisch nicht dem einen oder anderen Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können, werden als »intersexuell« bezeichnet. Sexuelle Identität nimmt also die sexuelle Anziehungskraft und die Art und Weise in den Blick, wie eine Person ihre Sexualität erlebt und ausdrückt. Geschlechtliche Identität bezieht sich auf das Geschlecht, mit dem sich eine Person identifiziert und das sie als ihr eigenes empfindet, unabhängig von biologischen Geschlechtsmerkmalen oder kulturellen Geschlechterrollen. Geschlechtliche und sexuelle Identität können sich im Laufe des Lebens verändern.
3 Anthropologische Grundfragen und Konzepte Bereits 1991 argumentiert Judith Butler in »Das Unbehagen der Geschlechter«3, dass Geschlecht eine soziale Konstruktion sei und es keinen festen Zusammenhang zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität gebe. Sie betont die performative Natur von Geschlechtsidentität: Geschlechterrollen und -identitäten werden kontinuierlich durch Interaktionen mit anderen und durch eigene Vorstellungen und Erfahrung konstruiert; sie werden konkret hergestellt, aufrechterhalten und erneuert. Die Kritik an binären Geschlechterkategorien geht einher mit vielfältigen, fluiden Identitäten und dem Ringen um Veränderung.4 Die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlecht wird in allen Themenbereichen sichtbar, in der Biologie, in der Medizin, in Soziologie und Psychologie, im juristischen Bereich.5 Forschungen zu Geschlechterrollen und -systemen in verschiedenen Kulturen wollen erfassen, wie LGBTQIA+-Identitäten innerhalb dieser Systeme wahrgenommen werden. Weiter wird nach der Beziehung zwischen Kultur und Identität gefragt, z. B. wie kulturelle Normen und Werte die Wahrnehmung von LGBTQIA+-Identitäten beeinflussen. Ebenso wird untersucht, wie Rituale und 2 Beate Martin/Jörg Nitschke, Sexuelle Bildung in der Schule. Themenorientierte Einführung und Methoden. Stuttgart 2017, 109 f. 3 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, Frankfurt a. M. 1991. 4 Vgl. Judith Butler, Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a. M. 2011. 5 Vgl. exemplarisch Anne Fausto-Sterling, Sexing the Body. Gender Politics and the Construction of Sexuality, New York 2020; Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Lann Hornscheidt/ Kerstin Palm, Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2012.
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Zeremonien in verschiedenen Kulturen verwendet werden, um Geschlechterrollen und -identitäten zu bestimmen und wie diese Rituale die Erfahrungen von Hetero- und LGBTQIA+-Personen beeinflussen können. Zentral dabei sind Forschungen zur Intersektionalität: Wie sind verschiedene Identitäten wie Geschlecht, Sexualität, Rasse und Klasse miteinander verbunden und wie beeinflussen sie die Erfahrungen von LGBTQIA+-Personen? Diese Fragestellungen machen die Heteronormativität sichtbar, das heißt, wie unbemerkt heterosexuelle Identitäten und Beziehungsmodelle die Norm darstellen.
4 Entwicklungspsychologische Perspektive 4.1 Zur geschlechtlichen Entwicklung
Manchmal frage ich mich selbst: Kann ich mich erinnern, wann ich zum ersten Mal realisiert habe, dass ich ein Mädchen bin? Kann ich mich erinnern, ob ich manchmal traurig, enttäuscht oder unsicher war über die eigene geschlechtliche Zugehörigkeit? Kann ich mich erinnern, wie es mir in Kindheit und Jugend ging, meine Art und meinen Ausdruck im Geschlecht zu entwickeln? Die geschlechtliche Entwicklung ist ein langer Prozess, der fünf Stufen durchläuft: Zu Beginn, bei der Befruchtung, wird das genetische oder chromosomale Geschlecht eines Kindes durch die Kombination der Geschlechtschromosomen festgelegt. Ab etwa der siebten Schwangerschaftswoche entwickelt sich das gonadale Geschlecht durch den Beginn der Produktion von Testosteron beim Jungen und von unreifen Eizellen beim Mädchen in den männlichen und weiblichen Keimdrüsen. Ab etwa der achten Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der geschlechtsspezifischen inneren und äußeren Geschlechtsorgane, genannt das somatische Geschlecht. Die vierte Phase, das neuronale Geschlecht, beschreibt die unterschiedliche Hirnentwicklung aufgrund der unterschiedlichen hormonellen Voraussetzungen. Das psychologische oder psychosoziale Geschlecht meint die Beeinflussung und Prägung des Geschlechtsverständnisses durch soziale und kulturelle Einflussfaktoren, Erwartungen und Ansprüche.6
6 Vgl. Norbert Kluge, Der Mensch – ein Sexualwesen von Anfang an, in: Renate-Berenike, Schmidt/Uwe Sielert (Hg.), Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung, Weinheim 2013, 71–79, hier 74–77.
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In allen fünf Stufen der Geschlechtsentwicklung kann es zu Varianten kommen. Das heißt, es kann sein, dass die Entwicklung im chromosomalen und hormonalen Bereich nicht eindeutig ist. Oder äußerlich weibliche Babys können genetisch männlich sein und umgekehrt. Es gibt auch Formen von Intersexualität, die erst im Jugendalter bemerkt werden.7 Operative Eingriffe bereits im Säuglingsalter werden heute abgelehnt und dringend vermieden, um der individuellen Entwicklung Raum und Zeit zu geben. Die Entwicklung der Geschlechtsidentität dauert ein ganzes Leben. Kinder und Jugendliche bei dieser Entwicklung zu begleiten, im Wissen darum, dass Menschen auch im Bereich von Geschlecht und Sexualität so vielfältig sind, ist eine große Herausforderung und wichtige Aufgabe im familiären, pädagogischen und immer auch im religionspädagogischen Bereich.8 4.2 Unsicherheiten im Erleben
»Passen die körperlichen Voraussetzungen, die soziokulturellen Geschlechtsrollenbilder und das subjektiv wahrgenommene Geschlecht, also die Geschlechtsidentität, nicht zusammen – wie dies beispielsweise bei transsexuellen Menschen der Fall ist –, kann es zu […] Störungen in der Identitätsentwicklung kommen.«9 Dies vor allem dann, wenn junge Menschen sich alleingelassen, fremd und verunsichert fühlen zwischen körperlichen Voraussetzungen, soziokulturellen Geschlechtsrollenbilder und dem subjektiv wahrgenommenen Geschlecht. Eine kommunikativ offene Atmosphäre ermöglicht, dass dieses »Sich-anders-Fühlen« ausgedrückt werden und eine Begleitung möglich sein kann. Eine gewisse Unschärfe in den Begrifflichkeiten bleibt; je nach Autor:in werden z. B. »geschlechtliche Identität« und »sexuelle Identität« parallel verwendet. Nach Bodmer (2013) beinhaltet »sexuelle Identität« u. a.:
7 Vgl. Colette Marti/Bruno Wermuth, Sexualerziehung bei Kleinkindern und Prävention von sexueller Gewalt. Eine Broschüre für Eltern und Erziehende von Kindern zwischen 0 und 6 Jahren. Stiftung Kinderschutz Schweiz (Hg.), Bern 2009, 21 f. 8 Vgl. Wolfgang Schneider/Ulman Lindenberger (Hg.), Entwicklungspsychologie. Weinheim/ Basel 2012; Sabine Pauen (Hg.), Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, Berlin/Heidelberg 2016; Helga Kohler-Spiegel, Aufwachsen in einem Raum von Resonanz. Ein entwicklungspsychologischer Zugang, in: Nadja M. Köffler/Petra Steinmair-Pösel/Thomas Sojer/Peter Stöger (Hg.), Bildung und Liebe. Interdisziplinäre Perspektive, Bielefeld 2018, 307–321. 9 Marti/Wermuth, Sexualerziehung, 21.
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Ȥ »die Entscheidung für persönliche Werte, um das eigene Sexualleben zu gestalten, Ȥ das Erlernen eines verantwortungsbewussten Umgangs mit sexuellen Beziehungen, Ȥ ab Pubertät: das Bewusstwerden der eigenen sexuellen Orientierung.«10 Jugendliche beschreiben Unsicherheiten in der Entwicklung geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung, Unsicherheiten infolge von bestärkenden gleichgeschlechtlichen oder verletzenden oder fehlenden Erfahrungen im Bereich von Beziehung und/oder Sexualität. Auch sexuell anziehende gleichgeschlechtliche Fantasien und Erfahrungen können junge Menschen irritieren und verunsichern. Im schulischen Kontext spielt die offen wahrnehmende, nichtwertende Haltung der Lehrpersonen und die Atmosphäre in der Lerngruppe eine entscheidende Rolle, dass junge Menschen sich öffnen können.11
5 Sexuelle und geschlechtliche Identitäten – und die Kirche? Vor allem mit Blick auf die katholische Kirche sprengt das Thema den hier möglichen Rahmen. Deshalb sei exemplarisch auf die Aktion #OutInChurch verwiesen, bei der sich katholische Theolog:innen und Seelsorger:innen öffentlich als LGBTQIA+-Personen geoutet haben. Die Aktion wurde von einem Netzwerk namens »Queer im Bistum« organisiert, mit dem Ziel, die Diskriminierung von LGBTQIA+-Menschen innerhalb der katholischen Kirche anzuprangern und für mehr Akzeptanz und Gleichberechtigung zu kämpfen.12
10 Nancy M. Bodmer, Psychologie der Jugendsexualität. Theorie, Fakten, Interventionen, Bern 2013, 117. 11 Vgl. Helga Kohler-Spiegel, LGBTIQ – Klärungen und Hilfen, in: Katechetische Blätter 145 (2020), 32–35. 12 Siehe https://outinchurch.de/ (Zugriff am 11.05.23). Vgl. Jens Ehebrecht-Zumsande/Bernd Mönkebüscher, #OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst. Ein Manifest und ein bisschen Hoffnung, 2022, https://www.feinschwarz.net/outinchurch/ (Zugriff am 25.01.2022); Bernd Mönkebüscher, Ein Jahr #OutInChurch, 2023, https://www.feinschwarz.net/ein-jahr-outin�church/ (Zugriff am 23.01.2023); Michael Brinkschröder/Jens Ehebrecht-Zumsande/Vero� nika Gräwe/Bernd Mönkebüscher/Gunda Werner (Hg.), #OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst. Freiburg i. Br. 2022; Mirjam Gräve/Hendrik Johannemann/Mara Klein (Hg.), Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Paderborn 2021.
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6 LGBTQIA+ und andere Identitäten: Wie im Religionsunterricht ins Gespräch kommen … Wie ist es möglich, miteinander ins Gespräch zu kommen über geschlechtliche Identität, über sexuelle Orientierung, über Unsicherheit und Irritationen? Immer wieder formulieren junge Menschen z. B.: »Bin ich normal, wenn ich mich von beiden Geschlechtern angezogen fühle?« »Ich fühle mich als Junge von Jungs angezogen. Ich will aber nicht schwul sein! Bin ich jetzt schwul?« Bei all diesen Fragen im Kontext von Religionsunterricht oder außerschulischer Katechese ist zentral: Grenzen wahren. Es hat Gründe, dass diese Themen in der pädagogischen Arbeit (fast) immer von einer männlichen und einer weiblichen Person gemeinsam geleitet und begleitet werden und Gespräche über Sexualität, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität häufig in gleichgeschlechtlichen Gruppen stattfinden. 6.1 Eigene Position reflektieren – inhaltlich und emotional
Das Thema »Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität« erfordert immer wieder, sich selbst damit zu beschäftigen und sich mit Kolleg:innen auszutauschen, was die eigene Haltung, die eigene Sprache und die emotionale Gestimmtheit zu diesen Themen betrifft. Dabei sind eigene Haltungen manchmal auch hinter politisch korrekten Formulierungen spürbar. 6.2 Grundhaltungen
»Diversität«, lateinisch diversitas, wird übersetzt mit »Vielfalt, Vielfältigkeit, Unterschiedlichkeit, Verschiedenheit«. Englisch diversity meint den bewussten Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft.13 Vielfalt ist anregend, sie ermöglicht eine Vielzahl an Ideen, Perspektiven, Lösungsmöglichkeiten und unterstützt die Wandlungsfähigkeit einer Gruppe und Gesellschaft. Vielfalt zu leben und sich in dieser Vielfalt zu bewegen, ist auch anstrengend. Es bedeutet zugleich, Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren, Sprache zu haben für diese Grenzen und an diesen Grenzen. Es bedeutet, mit Spannungen und Ambivalenzen umgehen zu lernen sowie Auseinandersetzungen nicht zu scheuen. Genannt »Ambiguität« wird der Begriff abgeleitet vom Lateinischen ambi13 Vgl. Helga Kohler-Spiegel, Diversität. Mehrdeutigkeit aushalten, Vielfalt leben, in: Wolfgang Beck/Regina Heyder/Dorothea Sattler/Thomas Söding/Agnes Wuckelt (Hg.), Aufbruch statt Rückzug. Die römisch-katholische Kirche in der Öffentlichkeit heute, Freiburg/Basel/Wien 2022, 227–233.
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guitas, übersetzt mit »Zweideutigkeit, Doppeldeutigkeit«, oder vom Verb ambigere mit der Übersetzung »zweifeln, Bedenken tragen, unschlüssig sein, uneins, entzwei sein«. Ambiguitätstoleranz meint also die Fähigkeit, auch Uneindeutiges, Mehrdeutiges, Mehrdeutigkeiten und Widersprüchliches zu ertragen und auszuhalten. Sie meint die Fähigkeit, unbekannten, auch unsicheren, widersprüchlichen Situationen nicht auszuweichen oder ablehnend zu reagieren, sondern sie auszuhalten, weiter zuzuhören. Um Diversität zu leben, braucht es diese Fähigkeit. Nach Else Frenkel-Brunswik ist es die Ambiguitätstoleranz, die ermöglicht, komplexe Sachverhalte und widersprüchliche Gefühle wahrzunehmen und zu gestalten, Konflikte auszuhalten und zugleich Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Lebens zu ertragen. 6.3 Diversitätsaffine theologische Aspekte
Neutestamentlich ist überliefert, dass Jesus die Kategorien des Wahrnehmens, Empfindens und Denkens irritiert hat mit seiner »Vision«, dass die Differenzierung der Welt in ingroup und outgroup aufgelöst ist mit Blick auf JHWH, der/ die die Sonne aufgehen lässt über Gut und Böse (Mt 5,45b). Theologisch gesagt ist der Mensch – exemplarisch in der Überlieferung bei Matthäus – eingeladen, so vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel. Diese Einladung zur »Nachfolge« klingt verrückt: »Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist« (Mt 5, 48, mit Bezug auf Lev 19, 2). Diese radikale Auflösung der Differenzierung, der Ein- und Aufteilung von Welt irritiert bis heute. Im Galaterbrief formuliert Paulus: Die Spielregeln der Welt lauten: Jude – Grieche, Herr – Sklave, Mann – Frau. In der Gruppe der Christ:innen soll dies anders sein: »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus« (Gal 2, 28). Damit verbunden ist die Auflösung eines IngroupOutgroup-Denkens, was für die christliche Botschaft zentral zu sein scheint. 6.4 Religionsdidaktischer Zugang und Praxisimpulse
Der am Beginn des Beitrags gewählte Zugang über die Menschenrechte und die gesetzlichen Grundlagen gilt auch religionsdidaktisch. Die Fragen von Menschsein, von Geschlecht und Identität haben ihren Ausgangspunkt und ihre Perspektive in den Menschen- und Grundrechten.14 14 Vgl. Bahr, Das Recht, 11; vgl. auch Matthias Bahr/Peter Poth, Bildung durch Menschenrechte. Zur Wiedergewinnung des Pädagogischen, in: Katechetische Blätter 143 (2018), 8–12. Vgl. grundlegend zum Thema: Stefan Altmeyer/Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth
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Die Möglichkeiten schulpraktischer Zugänge für den Religionsunterricht sind bei diesem Thema vielfältig und zahlreich. Theologische, ethische und identifikatorische Impulse zur Anthropologie des Menschen allgemein sowie zur sexuellen und geschlechtlichen Identität können aufgegriffen werden. Es kann auf alle Angebote zur Sexualpädagogik und zu altersgemäßem sexualpädagogischem Lernen verwiesen werden. Die Auseinandersetzung mit Diversität, Heterogenität und Ambiguität kann aus theologischer, anthropologischer, ethischer und praktischer Perspektive aufgegriffen werden. Die Anregung zur Auseinandersetzung, zur Diskussion und zur eigenen Meinungsbildung erfolgt selbstverständlich altersspezifisch und methodenadäquat. Zwei Bereiche seien exemplarisch angesprochen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: 6.4.1 Dokumentation und reflektierte Erfahrung
In der Dokumentation »Ich bin Sophia! Leben als Transgender-Kind« von Norbert Lübbers15 geht es um Folgendes: »Sophia ist gerade zehn Jahre alt geworden. Sie sieht aus wie ein Mädchen und fühlt sich als Mädchen. Geboren wurde Sophia aber als Junge. Mit gerade mal vier Jahren beschloss sie, kein Junge mehr zu sein. Sie will nur noch Röcke und Kleider tragen und lässt sich die Haare lang wachsen. Am Anfang dachten ihre Eltern, es sei vielleicht nur eine Phase. Doch Sophia ist sich sicher: ›Ich bin als Junge auf die Welt gekommen, aber ich war immer schon ein Mädchen. Schon seit ich ganz klein bin!‹ Sie reagiert aggressiv, wenn sie mit ihrem alten Namen angesprochen wird.«16 Zu sehen, was dieser Weg für das Transgenderkind selbst bedeutet, für seine Eltern und Geschwister und Anverwandten, für die Schule mit den anderen Kindern, Eltern und Lehrpersonen, für die medizinischen und psychologischen Fachpersonen, dies zu sehen, hilft meines Erachtens, zu verstehen. Dass drei Wochen nach der Ausstrahlung der Dokumentation die Kommentarfunktion wegen der Vielzahl beleidigender Kommentare zum Schutz des Kindes gesperrt werden musste, zeigt die Brisanz des Themas. Naurath/Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik 33: Menschenrechte und Religionsunterricht, Göttingen 2017. 15 Vgl. Norbert Lübbers, Ich bin Sophia! Leben als Transgender-Kind. »Menschen hautnah« vom 30.08.2018, WDR-Doku, 30 Min., https://www.youtube.com/watch?v=4rFSotQ-RSo (Zugriff am 15.10.2019). 16 https://programm.ard.de/TV/Themenschwerpunkte/Dokus--Reportagen/Alle-Dokumentationen/Startseite/?sendung=287211852730362 (Zugriff am 24.05.2023).
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In »Was Transidentität für meine Familie bedeutet« zeigt Daniela K. als Mutter, welchen Weg der Klärung die gesamte Familie gehen muss, wenn die Geschlechtsidentität eines Jugendlichen vom Zuweisungsgeschlecht abweicht. Ein kurzer Einstieg in den Text: »Vor etwa drei Jahren bemerkte ich eine Veränderung unserer damals 14-jährigen Tochter. Sie wurde stiller und zog sich zunehmend mehr zurück. Als ich sie darauf ansprach, hat sie das erst abgetan und dementiert. Ich ließ aber nicht locker und bohrte weiter nach. Erst nach vielen verschiedenen Fragen und möglichen Problemvorschlägen erfuhr ich, dass sich meine Tochter im falschen Körper fühlt. In diesem Moment zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Mir war sofort bewusst, da kommen auf uns alle schwierige Zeiten zu. Erst dann wurde mir klar, was das eigentlich für mein Kind bedeutete.«17 6.4.2 Kinderbücher
Kinderbücher können bei Kindern eingesetzt werden, zugleich sind sie auch Anregung zum Nachdenken und für Gespräche für Jugendliche und Erwachsene. Zur Grundhaltung »Es ist normal, verschieden zu sein« liegen zahlreiche Kinderbücher vor. Oliver Jeffers stellt dies beispielsweise in »Hier sind wir. Anleitung zum Leben auf der Erde« mit Bildern dar: »Es gibt Menschen in allen Formen, Größen und Farben. Wir sehen zwar alle unterschiedlich aus, verhalten uns anders und klingen verschieden […], aber lass dich nicht täuschen: Wir alle sind Menschen.«18 Manche sexualpädagogische und »Regenbogen-Kinderbücher« sind beim ersten Ansehen vielleicht ungewohnt und verwirrend. Sie wollen das eigene Nachdenken anregen und (teilweise oder als Ganzes) den Unterricht und die außerschulische Arbeit unterstützen. Exemplarisch seien genannt: Ȥ Jule Markwald, Das große Regenbogen Märchenbuch, o. J., o. O., gedruckt in Polen. Ȥ Katharina von der Gathen/Agnes Kohl, Klär mich auf. 101 echte Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema. Leipzig 2014. Ȥ Henriette Wich/Anja Grote, Ach, so ist das! Aufklärungsgeschichten für Kindergarten-Kinder. Hamburg 2019.
17 Daniela K., Was Transidentität für meine Familie bedeutet, in: Katechetische Blätter 145 (2020), 36–39, hier 36. 18 Oliver Jeffers, Hier sind wir. Anleitung zum Leben auf der Erde, Zürich 2018, o. S.
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Auch das Themenfeld »Familie und Familienformen« eignet sich für das Gespräch über Diversität, um zu verstehen, was Familie ausmacht und wie vielfältig Familie sein kann. Exemplarisch genannt sei: Ȥ Alexandra Maxeimer/Anke Kuhl, »Alles Familie!« Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten, Leipzig 2014. Einzelne Kinderbücher setzen sich ausdrücklich mit LGBTQIA+ auseinander, meist mit männlicher und weiblicher Homosexualität und gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Sie helfen für das Gespräch mit Kindern. Über die Einbeziehung in die pädagogische Arbeit müssen Lehrpersonen im Einzelfall entscheiden. Exemplarisch: Ȥ Edith Schreiber-Wicke/Carola Holland: Zwei Papas für Tango. Bilderbuch für und über Regenbogenfamilien. Stuttgart 2017. Ȥ Olivia Jones, Keine Angst in Andersrum. Eine Geschichte vom anderen Ufer. Berlin 2015. Ȥ Susanne Scheerer, Zwei Mamas für Oscar. Wie aus einem Wunsch ein Wunder wird. Hamburg 2018.
7 Schluss So verschieden Menschen sind, so verschieden sind sie auch in ihrer Geschlechtlichkeit. Die herausfordernde Aufgabe, geschlechtliche Identität aufzubauen und zu entwickeln, bedarf der Begleitung. Diese Impulse wollen ermutigen, Kinder und Jugendliche auch in dieser Frage nicht allein zu lassen, sondern sich auf die Vielfalt und das Gespräch einzulassen. Dr. Helga Kohler-Spiegel ist Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg in Feldkirch (A).
Künstliche Intelligenz als Thema im Religionsunterricht Simon Kluge
1 Ausgangslage Künstliche Intelligenz (KI) hat Rückenwind: Meldungen zu Chancen und Gefah ren überschlagen sich, sodass Überlegungen zum Einsatz von KI als Technologie im Bildungskontext laut werden. Der vorliegende Beitrag greift ausschließlich die Frage nach der Thematisierung von KI im Religionsunterricht (RU) auf. Historisch verortet liegen die Wurzeln der KI etwa in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.1 Auf einen Gründungsmoment zugespitzt, wird vielfach die Dartmouth-Konferenz 1956 als die »Geburt der künstlichen Intelligenz«2 bezeichnet. Konzepte und algorithmische Grundlagen der KI sind vergleichsweise alt. Hingegen treten die alltagsnahen Umsetzungen als jüngere Erscheinungen zutage, sodass unbeachtet der informatischen Umsetzung KI bereits in der Lebenswirklichkeit vieler Menschen Einzug gehalten hat und alltäglich relevant wird. Der vorliegende Beitrag skizziert einen Routenvorschlag zur thematischen Rundreise, welcher unter den Stichworten Wahrnehmung (I), Deutung (II), Dialog (III) und Urteil (IV ) vier kompetenzorientierte Aussichtspunkte ansteuert. Beginnend mit einer knappen Übersicht als Kartografie des Themenfeldes (2) werden nachfolgend anthropologische Implikationen (3) aufgezeigt, um Anknüpfungspunkte zu markieren. Als religionsdidaktische Konkretionen (4) explizieren (pop-)kulturhermeneutische Zugänge (4.1) ebenso wie ethische Herausforderungen (4.2) zwei gangbare Wege zur KI im RU, die nicht als neue, eigenständige Unterrichtskonzepte zu verstehen sind, sondern auch als einzelne Etappen in bestehende Lernarrangements integriert werden können. KI als Thema kann religionspädagogisch insbesondere aus Sicht der Anthropologie betrachtet und dort bearbeitet werden, weil vielfach »Imitation und Substitution menschlichen Handelns und Denkens durch Künstliche Intelligenz«3 als An- und Herausforderung hervortreten. Künstlich intelligente 1
Eine fundierte und zugleich kompakte Geschichte der KI findet sich bei Stuart Russel/Peter Norvig, Künstliche Intelligenz. Ein moderner Ansatz, Hallbergmoos 32012, 39–52. 2 Ebd., 40. 3 Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 22021, 97.
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Augmentation des Menschen wäre mit Blick auf Transhumanismus eine dritte Option, die zur Disposition steht und ihrerseits Gestaltungs- sowie Diskursräume eröffnet. Wie kann vor diesem Hintergrund KI als Thema im RU aufgegriffen werden?
2 Kartografie des Themenfeldes Je nach Betrachtungswinkel lässt sich das Themenfeld KI unterschiedlichen Bezugswissenschaften zuordnen, und umfasst mehrere Teilmengen: Künstliche Intelligenz ⊃ Maschinelles Lernen ⊃ Neuronale Netze
⊃ Deep Learning.4
Unterrichtsmaterialien werden ebenfalls je nach ursprünglicher Entwicklungsfachrichtung spezifisch einzelnen Teilmengen zugeordnet, sind jedoch für den Überblick zu KI im RU nebeneinander zu betrachten und zu prüfen. Welche niedrigschwelligen Lernangebote zur KI bereits vorliegen, illustriert exemplarisch das Brettspiel »Maschinelles Lernen«5 für Kinder ab fünf Jahren, sodass Lehrende auch ohne vertiefte KI-Expertise darauf zurückgreifen können. Neben den technischen Hintergründen und den persönlichen Nutzungsmöglichkeiten steht gleichrangig die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive mitsamt Frage nach der Wirkung im Dagstuhl-Dreieck, welches zum multiperspektivischen Blick auf KI für die »Bildung in der digital vernetzten Welt«6 einlädt. Im Sinne eines subjektorientierten Zugangs resümiert Kunstmann, die Religionsdidaktik habe vielmehr »Perspektiven zu bearbeiten, nicht (Stoff-)Inhalte«7, sodass auch für die thematische Erarbeitung von KI im RU verschiedene Blickwinkel betrachtet werden sollten. Im Hintergrund philosophischer Abhandlungen zur KI stehen zwei konträre Einschätzungen: »Die Behauptung, dass Maschinen agieren könnten, als ob sie intelligent wären, nennen Philosophen die schwache KI-Hypothese, und die Behauptung, dass Maschinen, die das tun, wirklich denken (und nicht ein4
Alternativ findet sich eine grafische Darstellung bei Philipp Häusser, Natürlich alles künstlich. Was künstliche Intelligenz kann und was (noch) nicht – KI erklärt für alle, München 2021, 49. 5 Maschinelles Lernen [Brettspiel], HABA education, o. J. 6 Vgl. Gesellschaft für Informatik, Dagstuhl-Erklärung. Bildung in der digitalen vernetzten Welt, 2016, https://dagstuhl.gi.de/fileadmin/GI/Hauptseite/Aktuelles/Projekte/Dagstuhl/DagstuhlErklaerung_2016-03-23.pdf (Zugriff am 14.01.2023), hier 3. 7 Joachim Kunstmann, Religionspädagogik, Tübingen 32021, 92. Hervorhebung im Original.
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fach Denken simulieren) die starke KI-Hypothese.«8 Neben den vermeintlich großen philosophischen Fragen zur KI, die teils auf wolkenverhangenen Berggipfeln verhandelt werden, erstreckt sich eine hügelige Weite mit vielen kleineren Erhebungen aus konkreten Algorithmen. Zwei kompakte Reiseführer durch die hügelige Landschaft der Algorithmen »verständlich erklärt«9 offerieren eine sanfte Einstiegstour. Auch wenn der RU beim Thema KI vielfach oberhalb des Meeresspiegels bleibt, lädt der Meerblick zum sprichwörtlichen Deep Dive in die eigenständige KI-Programmierung ein, deren schillernde Unterwasserwelt sich etwa im fächerübergreifenden Unterricht mit der Informatik erschließen lässt.10 Wenn von maschinellem Lernen die Rede ist, können im Detail verschiedene Verfahren zum Einsatz kommen. Für die hier vorliegende Topografie genügt die triadische Unterscheidung zwischen (1) überwachtem, (2) unüberwachtem und (3) verstärkendem Lernen.11 Alle drei Wege benötigen Daten, denen eine besondere Bedeutung zukommt: Sowohl die Vielfalt der Daten als auch ihre passgenaue Aufbereitung vorab bilden Voraussetzungen für die weitere Verwendung in maschinellen Lernprozessen.12 Wie eng KI und Ethik verwoben sind, verraten sowohl ein Blick in ein Standardwerk13 als auch ein Abschlusskapitel »Künstliche Intelligenz und Gesellschaft«14 im kompakten Einführungswerk. Die Aktualität solcher Fragestellungen wird durch fortlaufende Veröffentlichung von Fallbeispielen als »Gewissensbits«15 unterstrichen. Mit Hinweis auf persönliche gesellschaftspolitische Teilhabe plädiert De Florio-Hansen dafür, dass »sich Kinder und Jugend 8 Russel/Norvig, KI, 1176. 9 So lautet der Untertitel der beiden referenzierten Werke. Kristian Kersting/Christoph Lampert/Constantin Rothkopf (Hg.), Wie Maschinen lernen. Künstliche Intelligenz verständlich erklärt, Wiesbaden 2019. Ebenso Annalyn Ng/Kenneth Soo, Data Science – was ist das eigentlich?! Algorithmen des maschinellen Lernens verständlich erklärt, Berlin 2018. 10 Exemplarisch hierfür stehen die beiden Einstiege in die KI-Programmierung mit Python: Ute Schmid/Katharina Weitz/Michael Siebers, Künstliche Intelligenz selber programmieren für Dummies Junior, Weinheim 2019. Ebenso Tariq Rashid, Neuronale Netze selbst programmie ren. Ein verständlicher Einstieg mit Python, Heidelberg 2017. 11 Vgl. Michael Krause/Elena Natterer, Maschinelles Lernen. Wie sich Computer an Probleme anpassen, in: Kristian Kersting/Christoph Lampert/Constantin Rothkopf (Hg.), Wie Maschinen lernen. Künstliche Intelligenz verständlich erklärt, Wiesbaden 2019, 21–27. 12 Ausführlicher dazu Stefan Seegerer/Tilman Michaeli/Ralf Romeike, So lernen Maschinen!, in: LOG IN 193/194 (2020), 27–31. Das begleitende Poster der Autoren ist verfügbar unter https://computingeducation.de/c5cc6feaa24720ab18da2d5a7b53b081/SoLernenMaschinen. pdf (Zugriff am 14.01.2023). 13 Pars pro toto Russell/Norvig, KI, 1175–1202. 14 Kersting/Lampert/Rothkopf, Maschinen, 214–239. 15 Fortlaufend veröffentlicht in der Zeitschrift »Informatik Spektrum«. Ebenso online verfügbar unter https://gewissensbits.gi.de (Zugriff am 14.01.2023).
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liche (sowie ihre Lehrer:innen) mit KI, einem facettenreichen Forschungsgebiet, auseinandersetzen«16. Aufgrund des interdisziplinären Charakters des Themenfeldes KI selbst verbietet sich die Reduktion auf ein einziges Unterrichtsfach, welches ausschließlich mit Fragen rund um KI betraut werden sollte. Insbesondere technische Umsetzungen sowie algorithmische Problemstellungen rufen einen Informatikunterricht auf den Plan, der gegenwärtig erst als Fach etabliert wird, sich jedoch grundsätzlich als innerschulischer Kooperationspartner anbietet.17 Für das Thema KI gilt es, zu prüfen, welche Aspekte innerhalb des RU aufgegriffen und anknüpfend an bestehende Themenkomplexe bearbeitet werden können.
3 Anthropologische Implikationen »Markieren Sie bitte alle Bilder mit einem Hydranten.«18 Oftmals folgen darauf neun bzw. sechzehn Fotos, von denen manche einen Hydranten im Bild zeigen. Mithilfe dieses als Captcha19 bezeichneten Testverfahrens soll geprüft werden, ob bei der darauffolgenden Anwendung ein Mensch als Benutzer:in agiert. Turing hatte noch eine ausschließlich textuelle Kommunikation vor Augen, anhand derer ein Mensch entscheiden sollte, ob das Gegenüber Mensch oder Maschine ist, und überschrieb es als »The Imitation Game«20. Gemessen wird mit dem Maßstab Mensch bzw. gegen die schwache KI-Hypothese.21 KI in der Alltagswelt entdecken bietet vielfältige Einstiegsimpulse. Wahrnehmen (I), an welchen Stellen sie bereits zum Einsatz kommt, wo sie für, mit aber zum Teil auch gegen Menschen verwendet wird, bildet den Startpunkt für anthropologische Implikationen von Künstlicher Intelligenz. Texterkennung per KI durch die Kameralinse des Smartphones zählt ebenso wie die KI-Spracherkennung eines smarten Endgeräts dazu. Die anthropologische Pointe besteht 16 Inez De Florio-Hansen, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Robotik, Münster/New York 2020, 36. 17 Aufgrund der föderalen Unterschiede sowie der schnelllebigen Entwicklung des Informatikunterrichts in Deutschland wird an dieser Stelle auf die fortlaufende Veröffentlichung »Informatik-Monitor« der Gesellschaft für Informatik verwiesen, die den jeweils aktualisierten Stand unter https://informatik-monitor.de (Zugriff am 14.01.2023) dokumentiert. 18 Das gesuchte Objekt bleibt austauschbar. Hydranten, Ampeln, PKWs und weitere Objekte aus dem Straßenverkehr scheinen sich zu häufen. 19 Englisches Akronym für »completely automated public Turing test to tell computers and humans apart«. 20 Alan Turing, Computing Machinery and Intelligence, in: Mind, LIX, 236 (1950), 433–460, hier 433. 21 Russel/Norvig, KI, 1176.
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in der sich möglicherweise wandelnden zwischenmenschlichen Interaktion mit all den KI-Assistent:innen. Neben diesen alltäglich eingebetteten KI-Systemen zieht eine zweite Kategorie besondere Aufmerksamkeit auf sich: künstlich intelligente Roboter jeglicher Couleur. »Das wesentliche Merkmal von embodied KI besteht darin, dass sie über eine sensorische Erfassung ihrer Umwelt verfügt und die mittels der Sensoren gewonnenen Daten zur Steuerung der Maschine verwendet, um auf diese Weise ihren Zweck zu erfüllen.«22 Im Unterschied zu einem klassischen Sensor-Aktor-System – etwa einem Entfernungssensor am Fahrzeug verbunden mit Bremsen, die auslösen, sobald ein vorab definierter Wert des Entfernungssensors unterschritten wird – sind die Wenn-Dann-Bedingungen nicht mehr trivial zu erfassen und vielfach erst Ergebnisse maschineller Lernprozesse.23 Durch die zunehmende Entwicklung und Verbreitung solcher KI-Systeme wird es wahrscheinlicher, dass eben diese auch in Grenzfällen »moralische Entscheidungen«24 treffen müssen, deren Reflexion in den Bereich der Maschinenethik fällt. Drei prominente Themenbereiche treten daraus hervor: (1) Pflegeroboter, (2) autonome Fahrzeuge und (3) autonome Waffensysteme, vulgo Killerroboter.25 Das Problem der Nomenklatur steckt im Detail, da bei missbräuchlicher Nutzung alle drei Robotertypen zu sogenannten Killerrobotern werden können. Nur die dritte Kategorie hat explizit die Tötung von Menschen als Einsatzziel und Betriebsgrund. Alle drei Kategorien eignen sich grundsätzlich zur Thematisierung von KI im RU, jedoch lohnt sich mit Verweis auf den angestrebten unterrichtlichen Tiefgang die Auswahl eines exemplarischen Zugangs. Als praxisnahe Einführung samt Durchsicht ausgewählter Materialien wird im Folgenden vorrangig am Beispiel des autonomen Fahrens eine knappe Konzeptskizze zur weiteren Kolorierung durch die Praktiker:innen dargelegt, die mit minimalen Variationen auch für Pflegeroboter oder autonome Waffensysteme umzusetzen ist. Ausweglose Unfallszenarien mit reduzierten Handlungsalternativen erinnern an das klassische Trolley-Problem und fordern zur unmittelbaren Entscheidung auf: entweder geradeaus weiterfahren und eine Gruppe aus zehn Fußgänger:innen töten oder ausweichen und einen einzelnen Menschen treffen? Dieses und
22 Benedikt Paul Göcke, Art. Künstliche Intelligenz (KI), in: WiReLex (2022), https://www.bi�belwissenschaft.de/stichwort/201052/ (Zugriff am 14.01.2023). 23 Vgl. Seegerer/Michaeli/Romeike, So lernen Maschinen! 24 Catrin Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, Ditzingen 42019, 7. 25 Misselhorn widmet in abgewandelter Reihenfolge jedem Systembereich ein Unterkapitel in ihrem Kapitel III Anwendungsbereiche, vgl. ebd., 136–204.
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weitere Dilemmata präsentiert die webbasierte »Moral Machine«26, welche sich als virtuell-enaktives Tool für den unterrichtlichen Gebrauch anbietet, wenn Lernende darin bestehende Szenarien erkunden oder auch eigene kreative Herausforderungen entwerfen können. Nach welchen Maßstäben entscheiden sie selbst intuitiv? Wie verändert sich ihr Urteil (IV ) nach gemeinsamer Reflexion und Diskussion? Welche Merkmale der Unfallbeteiligten erscheinen ihnen mehr oder weniger schützenswert? Nach welchen Kriterien sollen autonome Fahrzeuge in Zukunft entscheiden? Bei der weltweiten Untersuchung mittels des digitalen Tools kristallisierten sich drei vorrangige Dimensionen zur Entscheidungsfindung heraus, wer oder was schützenswert erscheint: Menschen vor Tieren, eine größtmögliche Anzahl und jüngere vor älteren Menschen.27 Daraus resultiert das verbreitete Bild der Kindergartengruppe, gegen die kein Unfallgegner gefeit ist, welches sich sowohl wissenschaftlich bei Bonnefon als auch popkulturell bei Kling wiederfindet.28 Fragen nach KI führen unweigerlich zur Frage nach dem Menschen, zugespitzt: »[W]ie konstruieren wir ein Bild von uns Menschen?«29 Wo verläuft die Grenze zwischen Mensch und Maschine, und welche Aspekte fließen ineinander über? Zentrale Kategorien für diesen Bereich sind allesamt religionspädagogisch bedeutsam: Umgang mit Gefühlen, (nicht-)menschliche Körperlichkeit, Wissen um die eigene Endlichkeit oder der Umgang mit Erinnerung.30 RU weitet den ethischen Diskursraum für eine »kritische Perspektive auf alle Versuche einer technologischen Vervollkommnung des Menschen«31 und hinterfragt KI auch religiös als »als Steigerung und mögliche Übersteigung des Menschseins«32. Für unterrichtspraktische Erarbeitung von »Unterscheidungsmerkmalen von Mensch und Maschine«33 eignen sich tabellarische Übersichten sowie eine Abbildung zu »Ethische Herausforderungen für die Entwicklung von KI«34. Fokussiert auf das abstrakte und vielschichtige Konzept des Transhumanismus bieten sich gekürzte Textvorlagen an, die auch zum Ende der Sekundarstufe I 26 https://www.moralmachine.net (Zugriff am 14.01.2023). 27 Vgl. Jean-François Bonnefon, The Car That Knew Too Much. Can a Machine Be Moral?, Cambridge 2021, 113. 28 Vgl. ebd., 12. Ebenso Marc-Uwe Kling, Qualityland, Berlin 42017, 156. 29 Petra Grimm/Nadine Hammele, Künstliche Intelligenz: Was bedeutet sie für die Autonomie des Menschen?, in: Petra Grimm, Tobias O. Keber/Oliver Zöllner, Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten, Ditzingen 32019, 153–170, hier 157. Hervorhebung im Original. 30 Vgl. ebd., 161–163. 31 Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelischer Religionsunterricht in der digitalen Welt. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2022, 27. 32 Ebd., 44. 33 Grimm/Hammele, KI, 165–166. 34 Ebd., 168.
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Verwendung finden können.35 Teils (zu) hoch verdichtet wirkt Material zu alltagsnahen Robotern, wenn drei Gesetze nach Asimov, fünf Alltagsszenarien und eine Unfallskizze mit selbstfahrendem Auto auf einer einzelnen Seite Kopiervorlage untergebracht werden.36 Mit dem Ziel des Theologisierens empfiehlt sich eine vorrangig textorientierte Materialsammlung, deren Stärke in der aktuellen Textauswahl und -kürzung besteht.37 Pointierte Postulate zu Kriegs-, Pflege- und Sexrobotern bieten sich zum Abarbeiten im Dialog (III) an: »Nutzen wir die außerordentlichen Chancen, die uns die Robotik bietet und lassen Maschinen das sein, was sie sind: Werkzeuge.«38 Wer aber ist beim Unfall des autonomen Fahrzeugs verantwortlich? Die »Verantwortungszuschreibung«39 an den Menschen oder die Maschine bleibt diskussionsbedürftig.
4 Religionsdidaktische Konkretionen 4.1 (Pop-)Kulturhermeneutische Zugänge
Die Verbindungslinien zwischen Popkultur und Maschinenethik sind nicht arbiträr gewählt, sondern gründen sich auf eine Kurzgeschichtensammlung des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov, dessen drei bzw. später vier Robotergesetzte sich bis heute im Diskurs wiederfinden.40 Aus den Ideen der Popkultur lassen sich aktuelle Fragen gewinnen, die für die weitere Entwicklung der Maschinenethik von entscheidender Bedeutung sind. Für den RU ergibt sich hieraus eine besonders geeignete Situation: Aus der kulturhermeneutischen Aufgabe, »nicht nur die Texte der Überlieferung, sondern auch die Kultur der Gegenwart auszulegen«41, entspringt die Idee, (pop-) kulturelle Artefakte zum Thema KI auf ihre ethischen Gesichtspunkte hin zu untersuchen und zu deuten (II). Menschliche Vorstellungen von KI, daran 35 Vgl. Christoph Dröge, Mensch + Digitalisierung. Religiöse und ethische Grundfragen kontrovers und schülerzentriert, Berlin 2020, 40–42. 36 Vgl. ebd., 39. 37 Vgl. Hartmut Rupp/Gernot Meier/Andreas Wittmann, Digitalisierung und die großen Fragen, Unterrichtsbausteine für die Klassen 9 bis 13, Stuttgart 2021. 38 Clarissa Henning, Nummer 5 lebt! Kriegs-, Pflege- und Sexroboter unter der Lupe, in: Petra Grimm/Tobias O. Keber/Oliver Zöllner, Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten, Ditzingen 32019, 171–187, hier 186. Hervorhebung im Original. 39 Misselhorn, Maschinenethik, 129. 40 Exemplarisch vgl. Russell/Norvig, KI, 1197. 41 Friedrich Schweitzer, Religionspädagogik, Gütersloh 2006, 269.
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geknüpfte Hoffnungen, aber auch zu befürchtende Dystopien können die Lernenden exemplarisch anhand der Artefakte erforschen. »Für eine wenigstens ungefähre Einschätzung eignen sich vor allem populäre Kultur und Medien, da sie einen relativ genauen Spiegel von Bedürfnissen, Auffassungsweisen und gegenwärtigem Lebensgefühl abgeben«42, sodass im Folgenden sechs exem plarische Zugänge die Materialvielfalt illustrieren: Herbert als personifizierte KI in einem autonomen Fahrzeug dreht im (1) Roman »Qualityland« seine Runden und interagiert dialogisch mit seinen Fahrgästen.43 Frei nach Turings Testverfahren steht die Nachahmung vermeintlich menschlicher Verhaltensweisen bei der Fahrzeugführung im Vordergrund, was sich sowohl auf fluchende Kommentare zu anderen, vielfach autonomen Verkehrsteilnehmer:innen als auch auf den eignen Fahrstil auswirkt. Die »Moralischen Implikationen«44 im gleichlautend überschriebenen siebenseitigen Kapitel bieten sich ebenso zur literarischen Annäherung an wie der gesamte Roman zur religionsdidaktischen Erarbeitung einer Ganzschrift. KI in Gestalt von smarten Lautsprechern thematisiert Adam Angst mit ihrem (2) Song »Alexa«45 und schlägt dabei unmittelbar religiöse Töne an. Choral erklingt zum Ende hin: »Höre die Gebete, gebe uns Geleit. Führe uns durch diese schwere Zeit. Alexa, bitte verzeih.«46 Fragen nach dem Verhältnis zwischen smartem Werkzeug und interpersonaler Beziehung mit religioidem Charakter drängen sich auf. Gesprächsbedarf verlangt wortwörtlich der je nach Übersetzung frei verfügbare (3) Comic »We Need to Talk, AI«47, welcher bereits in Auszügen zur thematischen Erarbeitung bzw. als Einstieg oder Vertiefung genutzt werden kann.48 Wie das Miteinander von und die Grenzen zwischen Menschen und Maschine in der nahen Zukunft aussehen könnte, lässt sich interaktiv im (4) Game Detroit: Become Human (2018) erleben.49 Dabei bieten drei Android:innen ihre je individuelle Perspektive auf eine dystopische Zukunft Detroits 2038 samt der darin anzutreffenden Vielfalt von Menschen- und Maschinenbildern. Game 42 43 44 45 46 47
Kunstmann, Religionspädagogik, 374. Kling, Qualityland. Ebd., 153–159. Adam Angst, Alexa [Lied], auf: Neintology, 2018: Grand Hotel van Cleef. Ebd., 2:33–2:52. Julia Schneider/Lena Kadriye Ziyal, We Need to Talk, AI. A Comic Essay on Artificial Intelligence, Berlin 2019. 48 Zur methodischen Umsetzung liegen comicdidaktische Zugänge vor bei Karoline Pohl-Otto, Comics in Schule und Religionsunterricht. Vielfalt adressieren, Kompetenzen fördern, Unterricht verbessern, Göttingen 2022. 49 Vgl. Detroit: Become Human [Software], 2018: Quantic Dream.
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analytische Lernwege eröffnen virtuelle Handlungsräume, um Grundbegriffe der Anthropologie samt ihren Negationen wie Freiheit, Leiblichkeit, Sterblichkeit, Gerechtigkeit oder Leben in Beziehung zu erkunden.50 Für den umfassenden Bereich der (5) bildenden Kunst entstehen gegenwärtig Artefakte, die mithilfe von KI erschaffen wurden und sich zur kritischen Betrachtung eignen. Hierbei stellen sich Fragen nach der kunstschaffenden Person bzw. parallel zur Textproduktion nach Autorschaft, wie es gegenwärtig exemplarisch für ChatGPT51 diskutiert wird. KI-Systemen sind seit Jahrzehnten ein etabliertes Sujet im (6) Film, welches mittlerweile auch jenseits der klassischen Science-Fiction anzutreffen ist. Wie sich etwa Beziehungen zwischen Menschen und eigens für sie individualisierten humanoiden Robotern gestaltet, thematisiert »Ich bin dein Mensch«52. 4.2 Ethische Herausforderungen
»Unfälle sind eine Art Hobby von mir«53, gibt das autonome Fahrzeug Herbert zu verstehen. Für den RU können sie stattdessen Unterrichtsgegenstand werden. Bezogen auf die Maschinenethik identifiziert Misselhorn drei Referenzsysteme als relevant: den »Utilitarismus, die kantische Ethik und die Tugendethik.«54 Alle drei finden im RU Anklang und könnten im Zusammenhang mit KI-Systemen alltagsnah sowie zukunftsrelevant bearbeitet werden, wobei in Sekundarstufe II Auszüge der Maschinenethik arbeitsteilig oder in gekürzter Form verwendet werden können.55 Eine theologisch-anthropologische Reflexion exemplarischer Grundlagentexte zum Bereich Ethik und KI empfiehlt sich nach didaktischer Reduktion für den unterrichtlichen Gebrauch in der Sekundarstufe II.56 Für Lernende der Sekundarstufe I liegt eine Materialzusammenstellung vor, die dezidiert »Robo50 Zur methodischen Erschließung siehe auch Simon Kluge, »Entscheide, wer du bist!« Popkulturelle Menschen- und Maschinenbilder in Detroit: Become Human gameanalytisch erforschen, in: Kristin Merle/Frank Thomas Brinkmann/Simon Luthe (Hg.), Tagungsband A:I:R:R pop.religion 2021, Wiesbaden 2023, im Erscheinen. 51 Vgl. OpenAI, ChatGPT: Optimizing Language Models for Dialogue, https://openai.com/blog/ chatgpt/ (Zugriff am 12.01.2023). 52 Maria Schrader, Ich bin dein Mensch [Spielfilm], Deutschland 2021: Lisa Blumenberg. 53 Kling, Qualityland, 154. 54 Misselhorn, Maschinenethik, 12. 55 Vgl. Misselhorn, Maschinenethik, 54–69. 56 Vgl. Judith Klaiber, Mysterium Humanum als »Rocket Science« für das 21. Jahrhundert. Artificial Intelligence und (theologische) Anthropologie, in: Wolfgang Beck/Ilona Nord/Joachim Valentin (Hg.), Theologie und Digitalität. Ein Kompendium, Freiburg i. Br. 2021, 234–254.
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ter als moralische Akteure«57 untersucht. Mit Referenz zur genannten Trias Aristoteles, Kant und Mill werden verschiedene Robotermodelle gegenübergestellt.58 Neben einigen zumeist technischen Eckpfeilern ist die Entwicklung autonomer Fahrzeuge gegenwärtig (noch) von vielen Fragen begleitet, die in einem Grundsatzartikel zur Sprache gebracht werden, der in Auszügen für die Sekundarstufe II geeignet erscheint.59 Nicht zuletzt stellt der Datenschutz eine signifikante Herausforderung für den Einsatz autonomer Fahrzeuge dar. Im Gegensatz zum Opt-in einer DatingApp können Menschen der Datensammlung autonomer Fahrzeuge nur durch Opt-out vom Straßenverkehr entkommen, sodass ein Problem gesellschaftlicher Teilhabe daraus entstünde.60 Das Erschreckende an der Unfalloptimierung durch KI-Systeme steckt in der mathematisch anmutenden »Kostenfunktion«61. Wenn Menschen gegen Menschen im Wortsinn gerechnet werden, um zu prüfen, welcher Unfallausgang wahrscheinlich am kostengünstigsten ist, werden anthropologische Grenzen tangiert, wenn nicht gar überschritten. Was ist ein Menschenleben in Anbetracht einer unantastbaren Menschenwürde wert – sind diese Rechnungen überhaupt zulässig?! Die zuvor skizzierte gesellschaftlich-kulturelle Perspektive findet sich auch in den Zwischenergebnissen der »Moral Machine« wieder: Im internationalen Vergleich der Daten zeigen sich verschiedene Präferenzen in den zu schützenden Unfallbeteiligten.62 Kann es demnach überhaupt die eine moralische Programmierung für künstlich intelligente Fahrzeuge weltweit geben? In Kurzform präsentieren die Autor:innen ihre Ergebnisse unter dem Titel »How culture changes values«63 und fassen dabei ihre drei ethischen Dimensionen grafisch zusammen, sodass sich diese Darstellungsformen für den unterrichtlichen Gebrauch anbieten.64 Am Ende verheißen autonome Fahrzeuge eine lebensrettende Wirkung mit Blick auf die Unfallopferanzahl – jedoch nicht ohne unbequeme Urteile (IV ), 57 Barbara Brüning, Künstliche Intelligenz + ethische Verantwortung. Ethische und religiöse Grundfragen kontrovers und schülerzentriert, Berlin 2021, 47–57. 58 Vgl. ebd., 51–53. 59 Vgl. Susanne Kuhnert, Mobilität der Zukunft: Automatisiertes und vernetztes Fahren, in: Petra Grimm/Tobias O. Keber/Oliver Zöllner, Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten, Ditzingen 32019, 206–218. 60 Vgl. Misselhorn, Maschinenethik, 200. 61 Ebd., 192. 62 Vgl. Bonnefon, Car, 119–125. 63 Nature Video, Moral Machines: How culture changes values, 2018, https://youtu.be/jPo6b�by-Fcg (Zugriff am 14.01.2023). 64 Vgl. Bonnefon, Car, 113.
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»welche Leben wir retten wollen«65. In diesen Entscheidungen erstreckt sich die ethische Tragweite, die nach politischen Weichenstellungen für zukünftige Trolley-Probleme verlangt.
5 Ausblick und Fazit Im Sinne einer allgemeinbildenden Lebensvorbereitung trägt das hier skizzierte Vorhaben einer thematischen Rundreise zu KI im RU in vierfacher Hinsicht zur Kompetenzentwicklung der Lernenden bei, welche auch in Einzeletappen absolviert werden kann: Den Einstiegspunkt markiert eine detaillierte Wahrnehmung (I) der von KI durchdrungenen Alltagswelt. Als religionspädagogisch verantworteter Lernprozess zielen (pop-)kulturhermeneutische Erkundungen insbesondere auf Deutungen (II) der anthropologischen Dimensionen von KI jenseits der binären Extreme aus Heilsversprechen respektive Armageddon. Dafür sind an geeigneter Stelle mitunter technische Tiefenbohrungen empfehlenswert, um exemplarisch in einen Teilbereich des vielfältigen Themenkomplexes KI einzutauchen. Klassische Bezugspunkte aus Anthropologie und Ethik sowie Standpunkte von KI-Fachvertreter:innen weiten den Horizont und bereichern somit den themenbezogenen Dialog (III) im RU. Nicht die Frage ob, aber sehr wohl wie der Einsatz von KI in Gegenwart und Zukunft aussehen soll, stellt die Lernenden vor unterschiedliche Anforderungssituationen, die nach Entscheidungen verlangen. Das Urteil (IV ) der Lernenden, dessen Begründung in der anthropologischen Reflexion wurzelt, aber nach Positionsbestimmung verlangen, markiert den Abschluss und führt gleichzeitig in die zukünftige Lebenswelt und ihre Mitgestaltung zurück. KI bringt ethische Herausforderungen mit sich, die vielfach anthropologische Grundfragen betreffen. Aus der religionsdidaktisch verantworteten Reflexion heraus werden politische Anforderungen deutlich, die von mündigen Bürger:innen diskutiert, entschieden und mitverantwortet werden. Für ein im Wandel begriffenes Thema wie KI empfiehlt es sich nicht nur religionsdidaktisch, thematische Grundlinien in den Fokus zu nehmen, die langfristig relevant bleiben. Simon Kluge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Didaktik der Informatik am Institut für Informatik und Promovend im Fach Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. 65 Frei aus dem Englischen übertragen nach ebd., 147.
Mensch und Menschenbilder als Thema des jüdischen Religionsunterrichts Mark Krasnov
1 Curriculare Verankerung und grundsätzlicher Kompetenzerwerb Um Religion zu praktizieren, bedarf es mindestens zweier Akteure: eines G’’ttes1 und des Menschen. Zudem ist es eine bekannte Tatsache, dass diese beiden Komponenten in einem besonderen, transzendenten Abhängigkeitsverhältnis zueinanderstehen. Sich im Religionsunterricht folglich nicht nur mit der Theologie – also im engsten Sinne des Wortes der »Lehre von G’’tt« –, sondern zugleich auch mit der »Lehre vom Menschen« zu befassen, ist dem Fach somit genuin. Demzufolge weisen auch die Kerncurricula für den bekenntnisorientierten jüdischen Religionsunterricht unter entsprechender Berücksichtigung der jeweiligen kognitiven Entwicklung der Schüler:innen das Thema »Anthropologie« in allen Schulstufen auf. Auf diese Weise lernen die Heranwachsenden sukzessive den Stellenwert des menschlichen Lebens im Judentum kennen und werden dazu befähigt, Antworten auf existenzielle Fragen nach dem Ursprung des Seins oder dem Sinn des Lebens zu formulieren. Darüber hinaus lernen die Schüler:innen, menschliches Handeln im Kontext von Freiheit, ethisch-moralischer Verantwortung und religiöser Verpflichtung zu beurteilen.2 Hieran wird deutlich, dass das Fach Religion entscheidende identitätsstiftende Funktion hat und den Heranwachsenden helfen soll, sich in einer zunehmend komplizierteren Welt zu orientieren, in verschiedenen Lebenssituationen selbstsicher Entscheidungen zu treffen und selbstbewusst Stellung zu beziehen.3 Aus diesem Grund wird der Lehre vom Menschen im jüdischen Religionsunterricht eine überaus wichtige Bedeutung beigemessen.
1
Es wird der gängigen Konvention gefolgt, die Schreibweisen G’’tt, g’’ttlich usw. zu verwenden, anstatt dieses Wort vollständig auszuschreiben. 2 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Bildungsplan 2016. Jüdische Religionslehre, Stuttgart 2016, 36. 3 Zu den allgemeinbildenden Zielen des jüdischen Religionsunterrichtes vgl. Mark Krasnov, Religionsunterricht in jüdischer Perspektive, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 92–98.
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2 Eine lebensnahe Unterrichtseinheit Im Folgenden soll eine umfangreiche Unterrichtseinheit partiell vorgestellt werden, die aufgrund ihres Ansatzes sowie anhand der ihr innewohnenden Komplexität am geeignetsten in der gymnasialen Oberstufe zu verorten ist. Diese Unterrichtseinheit stellt kein theoretisches Konstrukt (mehr) dar, sondern entstand tatsächlich im Rahmen der eigenen Unterrichtspraxis und hat damit gewissermaßen den »Härtetest« bereits erfolgreich bestanden. Ebenso sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die didaktisch-methodischen Überlegungen der Tatsache Rechnung tragen, dass sich die Schüler:innen der Oberstufe aus ganz verschiedenen Beweggründen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn für eine Teilnahme am jüdischen Religionsunterricht entscheiden bzw. entschieden haben.4 Die vorzustellende Unterrichtseinheit wird mit der Frage eröffnet, wem der menschliche Körper eigentlich gehöre. Auf diese Weise wird gleich zu Beginn der Unterrichtseinheit ein Bezug zur Lebenswelt der Schüler:innen geschaffen, denn schließlich besitzt ja jeder Mensch einen Körper im biologischen Sinne. Demzufolge kann sich jede:r Lernende:r konstruktiv mit der genannten Fragestellung auseinandersetzen. Hierbei äußern die Schüler:innen, dass jeder Mensch seinen Körper als sein individuelles Eigentum betrachte, mit dem jede:r Einzelne:r anstellen könne, was sie bzw. er möchte. Doch schnell werden durch einige Schüler:innen Einwände gegen diese Annahme vorgetragen. Immerhin wisse man aus dem Biologieunterricht, dass der Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen sowie Abmagerungskuren u. a. dem menschlichen Körper sehr wohl schade. Unmittelbar hierauf formulieren die Schüler:innen bereits die nächste (Gegen-)Frage und versuchen zu begreifen, ob Ohrringe, Piercings, Tätowierungen, Schönheitsoperationen oder gar unter die Haut implantierte Mikrochips ebenfalls als körperschädigend zu klassifizieren seien oder als Körperschmuck bzw. im Fall der Chipimplantate als Hilfsmittel angesehen werden dürften und damit vielleicht bzw. eigentlich zulässig wären. Um all diese Fragen zunächst aus traditionell jüdischer Sicht zu beantworten, betrachten die Schüler:innen Gen 1,26. Da der Mensch von G’’tt und dazu noch in seinem Ebenbild geschaffen wurde, so ist auch der menschliche Körper zweifelsohne g’’ttlichen Ursprunges. Dies wiederum erfordert einen g’’ttesfürch4 Zu den aktuellen Herausforderungen im jüdischen Religionsunterricht vgl. Mark Krasnov, Normalität und Vision im und durch den jüdischen Religionsunterricht, in: Abdel-Hafiez Massud/Christian Hild (Hg.), Religionslehrer*innen als Akteure in der multireligiösen Gesellschaft (Religion und Kommunikation in Bildung und Gesellschaft 2), Landau 2022, 146– 168.
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tigen Umgang mit dem menschlichen Körper, weswegen der Mensch gerade nicht alles Beliebige mit seinem Körper anstellen dürfe. Der menschliche Körper sollte vielmehr als eine Art »Leihgabe« betrachtet werden, die dem Menschen für die Dauer seines Lebens auf der Erde geliehen werde und konsequenterweise nach dem Ausscheiden aus dem Leben wieder unversehrt zurückgegeben werden müsse. Damit die Schüler:innen diesen Grundsatz besser verstehen, bietet sich ein modernes Gleichnis an, bei dem der Körper mit einem Buch gleichgesetzt wird, das in der Bibliothek ausgeliehen wird und sich bei der Rückgabe in demselben unversehrten Zustand befinden sollte, wie man es ursprünglich bei der Ausleihe vorgefunden hat.5 Hieran anknüpfend besteht ein weiterer essenzieller Grundsatz im Judentum darin, dass alles Körperliche und Greifbare auf der Welt Ausdruck des Transzendenten sein muss. Dies geschieht, indem das Körperliche auf eine spirituelle Ebene erhoben wird. Ziel hierbei ist es, selbst den profansten körperlichen Handlungen eine religiöse Bedeutung beizumessen. Dieses Dogma wird den Schüler:innen anhand des menschlichen Grundbedürfnisses Essen verdeutlicht. Ein orthopraxer jüdischer Mensch spricht vor jedweder Nahrungsaufnahme eine ּב ָר ָכה/bracháh, ְ einen einsätzigen Segensspruch. Selbstverständlich liegt nahe, dass der Mensch mit einem Segensspruch G’’tt für seine Fürsorge danken möchte. Doch geht es im Judentum beim Thema Essen um viel mehr als um einen bloßen Ausdruck von Dank. Da der menschliche Körper, wie zuvor ausgeführt, eine heilige Leihgabe ist, mit der adäquat und entsprechend respektvoll umgegangen werden muss, ist der Mensch verpflichtet, vor der Nahrungsaufnahme innezuhalten, um bewusst darüber nachzusinnen, welches Lebensmittel sie bzw. er gleich seinem Körper zuführen wird. Aus diesem Grund gibt es im Judentum nicht nur einen universellen Segensspruch vor dem Essen, sondern insgesamt sechs verschiedene ּב ְרכֹות ַהּנֶ ֱהנִ ין/birkóth ִ hanehenín, Segenssprüche des Genusses. Welcher Segensspruch gesprochen werden muss, hängt von der Nahrung ab, die man zu sich nehmen möchte. Bei Gerichten, die aus verschiedenen Zutaten zubereitet werden, ist das mehrheitlich verwendete Lebensmittel entscheidend für die Wahl des richtigen Segensspruches. So unterscheidet man bei den Segenssprüchen zwischen den folgenden Kategorien: a) Brot, b) Gebäck oder Teigwaren aus Weizen, Gerste, Buchweizen, Hafer oder Roggen, c) Baum- und d) Erdfrüchte, 5 Leider bzw. interessanterweise hat sich gezeigt, dass eine Analogie zum CD-/DVD-Verleih für die Schüler:innen in Zeiten moderner Streamingdienste sowie des seit einigen Jahren zunehmenden Trends des gänzlichen Fehlens von DVD-Laufwerken in neu angeschafften Laptops weniger nachvollziehbar ist als zum klassischen Medium Buch.
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e) Wein und Traubensaft sowie f ) alle übrigen Speisen und Getränken, die sich keiner der zuvor genannten Kategorien zuordnen lassen. In dieser Aufzählung fällt auf, dass dem Brot im Judentum eine besondere Stellung zukommt. Da ihm aus soziokulturellen sowie historisch-rituellen Gründen unter allen Lebensmitteln eine bedeutende Rolle zukommt, »trumpft« der Segensspruch auf Brot alle anderen Segenssprüche. Deshalb wird bei Mahlzeiten, zu denen Brot gegessen wird, nur der Segensspruch für dieses Grundnahrungsmittel gesprochen. Zudem ist der Brotgenuss mit einem rituellen Waschen der Hände und natürlich einem entsprechenden Segensspruch verbunden. Des Weiteren darf vom Übergießen der Hände bis zum Verzehr des Brotes nicht gesprochen werden, da das Händewaschen und das Essen als eine rituelle Einheit gelten, die durch nichts außer dem erforderlichen Segensspruch unterbrochen werden darf. Es versteht sich nahezu von selbst, dass der Mensch G’’tt auch nach dem Essen seine Dankbarkeit und Wertschätzung entgegenbringen möchte. Hierfür wird, sofern man Brot gegessen hat, die mehrteilige ּב ְר ַּכת ַה ָּמזֹון/birkáth ִ hamasón gesprochen, das Tischgebet. Wenn man kein Brot verzehrt hat, sondern nur a) Kuchen, Gebäck oder Teigwaren, b) Datteln, Feigen, Granatäpfel, Oliven oder Trauben6 oder c) Wein oder Traubensaft7, wird nach dem Essen bzw. Trinken eine verkürzte Fassung des genannten Tischgebetes gewählt, die sogenannte ּב ָר ָכה ֵמ ֵעין ָׁשלֹוׁש/bracháh ְ me’éjn schalósch (»Segensspruch der drei Sorten«). Sofern man etwas gegessen oder getrunken hat, wonach weder das lange noch das kurze Tischgebet gesagt werden muss (beispielsweise Gemüse, Fleisch, Fisch, alle Getränke u. Ä.), sagt man einen kurzen Segensspruch, den sogenannten ּבֹורא נְ ָפׁשֹות/boré ֵ nefaschóth (»Schöpfer der Wesen«), der aus zwei Sätzen besteht. Diese Ausführungen verdeutlichen noch ein weiteres entscheidendes Kriterium, das im Allgemeinen grundlegend für das menschliche Wesen ist: Indem der Mensch im Zuge all seiner Rationalität in der Lage ist, einen einfachen profanen Akt wie das Essen in etwas Sakrales umzuwandeln, unterscheidet er sich auch maßgeblich vom Tier, welches im Gegensatz zum Menschen unfähig ist, rational zu denken, sondern nur seine animalischen Triebe stillen, G’’tt aber nicht für die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse danken kann.
6 Die fünf Früchte gelten mit Weizen und Gerste als sogenannte ׁש ְב ַעת ַה ִּמינִ ים/schiwáth ִ haminím. Diese »sieben Arten« haben einen besonderen Stellenwert, da sie explizit in der Torah aufgezählt werden (vgl. Dtn 8,8) und bis heute das Land Israel charakterisieren. 7 Für diese beiden Getränke gibt es ebenso wie für Brot aus historisch-rituellen Gründen einen eigenen Segensspruch.
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In diesem Zusammenhang bietet sich eine weitere theologische Auseinandersetzung an, die bei den Schüler:innen zunächst eine gewisse verschämte Verwunderung hervorruft, weil sie schlichtweg niemals angenommen hätten, ein solches Thema im Religionsunterricht zu thematisieren. Es handelt sich nämlich um die mit der Nahrungsaufnahme in unmittelbarer Verbindung stehenden biologischen Grundbedürfnisse der Miktion und Defäkation. So rezitiert ein orthopraxer Mensch nach dem Toilettengang traditionell das sogenannte ֲא ֶׁשר יָ ַצר/aschér jatzár (wörtlich: »der geformt hat«). Die anfängliche Verwunderung der Schüler:innen wandelt sich in Erstaunen, sobald sie selbst im סיּדּור/siddúr ִ (wörtlich: »Ordnung«; Bezeichnung für ein jüdisches Gebetsbuch) nachschlagen und feststellen, dass mit diesem Segensspruch das tägliche Morgengebet eröffnet wird. Genauer gesagt, wird dieser Teil sogar den verschiedenen ִּב ְרכֹות ה ַּׁש ַחר/birkóth ַ hascháchar (wörtlich: »Segenssprüche der Morgendämmerung«) vorgeschaltet, einer Reihe von Segnungen, mit denen der Mensch sich bei G’’tt für die Erneuerung des Tages bedankt. Diese Voranstellung erklärt sich dadurch, dass mit dem ersten Satz nach der allgemeinen Einleitungsformel für Segenssprüche א ֶֶׁשר יָ ַצר ֶאת ָה ָא ָדם ְְּב ָח ְכ ָמה/ ֲ aschér jatzár et ha’adám bechochmáh (wörtlich: »der den Menschen mit Weisheit geformt hat«) eine Anspielung auf die Schöpfung des Menschen erfolgt.8 Der Weisheit kommt somit bei der Schaffung des Menschen eine tragende Rolle zu: Sie gilt einerseits als Geschenk G’’ttes an den Menschen, wird andererseits beim Schöpfungsprozess aber auch von G’’tt selbst verwendet. Letzteres findet seinen Ausdruck in dem ausgeklügelten, sehr wohl durchdachten Zusammenspiel zwischen allen Organen und ihren jeweiligen Funktionen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Segensspruch, der den Schüler:innen ursprünglich nur einseitig als Dank für die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses eingeführt wurde, in eine völlig andere, viel weitreichendere Dimension einordnen. Entsprechend ist auch der nächste Teil dieses Segensspruches zu verstehen, in dem es heißt, dass G’’tt »an ihm [dem Menschen] viele Öffnungen und viele Höhlungen erschaffen hat. Offenbar und bekannt ist es vor dem Thron Deiner Herrlichkeit, dass, wenn eine von ihnen sich öffnet oder eine von ihnen sich schließen würde, es nicht möglich wäre, zu existieren und vor Dir zu stehen.«
8 Die Schöpfung des Menschen wird im Rahmen der hier vorgestellten Unterrichtseinheit ebenfalls noch diskutiert.
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Demzufolge dürfen die erwähnten »Öffnungen« und »Höhlungen« keineswegs nur auf den Toilettengang reduziert werden, sondern deuten auf die menschlichen Organe hin: Augen, Nase (genau genommen die beiden Nasenlöcher), Mund (vielmehr die beiden Lippen), Ohren und Hände. Ein spannender philologischer Exkurs lässt die Schüler:innen erkennen, wie wichtig und ergiebig ein Blick in den hebräischen Originaltext doch ist. Denn die Zweiheit der menschlichen Organe wird in diesem Segensspruch sogar metaphorisch zum Ausdruck gebracht, indem die entsprechenden hebräischen Substantive נְ ָק ִבים/nekawím (»Öffnungen«) und לּולים ִ ח/chalulím ֲ (»Höhlungen«) unter Verwendung des Stilmittels der Geminatio unmittelbar hintereinander verdoppelt werden: נְ ָק ִבים,נְ ָק ִבים/nekawím, nekawím und לּולים ִ ֲח,לּולים ִ ח/ ֲ chalulím, chalulím. Die Unversehrtheit der visuellen, olfaktorischen, gustatorischen, auditiven sowie haptischen Sinneswahrnehmung durch den Menschen ist daher aus traditionell jüdischer Sicht eine unabdingbare Voraussetzung, um die prädestinierte Aufgabe, unter deren Prämisse G’’tt den Menschen geschaffen hat, zu erfüllen und um konsequenterweise G’’ttesdienst im engsten Sinne des Wortes leisten zu können bzw. überhaupt zu dürfen, das heißt, sein gesamtes menschliches Handeln in völliger Hingabe in den Dienst für G’’tt zu stellen. An dieser Stelle bietet es sich an, mit den Schüler:innen die tradierte Bedeutung von Inklusion im Judentum zu erarbeiten. So sind die rituellen Rechte von Menschen mit Behinderung beschränkt. Sie sind bedingt durch ihre körperliche Verfassung sogar von bestimmten religiösen Pflichten entbunden.9 Selbst Nachkommen aus dem Priestergeschlecht sind aufgrund bestimmter körperlicher »Missbildungen« für dienstuntauglich erklärt worden.10 Doch steht der Wert des menschlichen Lebens im Judentum über allem, wodurch seit jeher gilt: »Auch wenn man keine heilpädagogische Betreuung oder medizinische Kenntnisse über behinderte Menschen in biblischen Zeiten belegen kann, so sieht man doch, dass in der sozialen Gesetzgebung […] immer wieder darauf hingewiesen wird, dass behinderte Menschen von ihren Familien, von ihren Gemeinden versorgt werden sollen. Sie müssen getragen werden, sie dürfen nicht ausgestoßen werden; sie sind ein Teil des Ganzen.«11 Allerdings wird im Judentum nicht nur Körperliches auf eine spirituelle Ebene gehoben. Gleichzeitig ist es möglich, Transzendentes für den Menschen greif 9 Vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Bawa Kama, 87, Vorderseite (b Bawa Kama 87a). 10 Vgl. Mischna, Traktat Bechoroth, Kapitel VII. 11 Dagmar Drovs, Heilpädagogik im deutschen Judentum. Eine Spurensicherung 1873–1942. Bernd Schröder (Hg.), Münster 2000, XV.
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bar zu machen. So werden die Feiertage durch das Vorbereiten und Verzehren besonderer Festspeisen begangen. Hierzu gehört beispielsweise das symbolträchtige Abendmahl an Pessach, der sogenannte ס ֶדר/sedér, ֵ oder die zwei חּלֹות/challóth ַ (Hefezöpfe) am Schabbath. Eine weitere Möglichkeit, die rein körperliche Existenz auf eine spirituelle Ebene anzuheben, erfolgt, indem der Mensch als rational denkendes Geschöpf fähig ist, seine körperlichen Begehren und Handlungen zu kontrollieren und zu mäßigen. Hierzu zählen beispielsweise die ּכ ְׁשרּות/kaschrúth ַ (Speisege- und -verbote)12, Fastenzeiten13, der Arbeitsein14 satz sowie Geschlechtsbeziehungen15. Es ist unumstritten, dass der Mensch als Geschöpf G’’ttes gilt. Doch in der Torah sind zwei Schöpfungsberichte manifestiert, die zwar grundsätzlich ähnlich zu sein scheinen, im Detail aber Unterschiede von bedeutendem Ausmaß aufweisen. Die Schüler:innen erarbeiten unter Zuhilfenahme des Kommentars von Raschi16 zu Gen 1,27, wie dieser die Existenz der beiden Schöpfungsberichte erklärt. Raschi bedient sich hierbei einer gängigen hermeneutischen Methode und stellt dem Vers »Männlich und weiblich erschuf er sie« (Gen 1,27) zunächst den Vers »Er nahm eine von seinen Rippen« (Gen 2,21) gegenüber. Daraufhin verweist Raschi auf eine talmudische Überlieferung, der zufolge Adam im ersten Schöpfungsbericht als androgyner Urzwitter mit zwei Gesichtern, das heißt, einem männlichen und einem weiblichen, vier Armen, vier Beinen usw.17 geschaffen und anschließend von G’’tt geteilt worden sei.18 Nach Raschis Auffassung handele es sich in Gen 1,27 um eine egalitäre Version des Schöpfungsberichtes, bei der ein menschliches Urpaar erschaffen worden sei. Da bei Raschi zunächst noch völlig offenbleibt, wie genau der Schöpfungsprozess erfolgt sei, ziehen die Schüler:innen eine weitere Textquelle19 heran. Darin wird mithilfe einer philologischen Analogie zu Ex 26,20 erörtert, dass 12 13 14 15 16
Vgl. Ex 23,19; Ex 34,26; Lev 11,3–8; Dtn 14,3–21. Vgl. Lev 16,29–30; Lev 23,26–32; Num 29,7–11. Vgl. Ex 20,10; Dtn 5,13–14. Vgl. Lev 18,19–23; Lev 20,10–21. Raschi – ein Akronym für Rabbi Schlomo Ben Jitzchak – wirkte im 11. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland. Aufgrund seiner sehr ausführlichen und umfangreichen Kommentare zu Tanach und Talmud ist er bis heute neben Rambam (s. Fußnote 36) einer der bedeutendsten und meist studierten jüdischen Gelehrten. 17 Bei leistungsstarken Lerngruppen kann die talmudische Überlieferung mit dem Mythos über die Kugelmenschen verglichen werden, von dem der Komödiendichter Aristophanes in Platons Dialog »Symposion« berichtet. Diese Urmenschen werden von Zeus im Zuge eines Vergehens ebenfalls in zwei Hälften geteilt. Diese Hälften stellen fortan den unvollständigen Menschen dar, der sich auf der unermüdlichen Suche nach der verlorenen anderen Hälfte befindet. 18 Vgl. Talmud Bawli, Traktat Eruwin, Blatt 18, Vorderseite (b Eruwin 18a). 19 Vgl. Midrasch Bereschith Rabba, Paraschah 8, Pisska 1.
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das im Rahmen des zweiten Schöpfungsberichtes in Gen 2,21 verwendete צ ַלע/ ֶ zéla nicht nur »Rippe«, sondern auch »Seite« bedeuten könne. Demzufolge sei die zeitgleich mit dem Urmann erschaffene Urfrau ursprünglich keinesfalls seine Rippe, sondern lediglich seine andere Seite. Diese Interpretation relativiert natürlich die weitverbreitete, ausschließlich als hierarchisch ausgelegte Schaffung der Urfrau im zweiten Schöpfungsbericht. Ausgehend von der tradierten Aussage »Jeder Mann, der keine Ehefrau habe, ist kein Mensch«20 diskutieren die Schüler:innen, inwieweit eine alleinstehende Person als unvollständiges Geschöpf gilt und – da die Unterrichtseinheit grundsätzlich chronologisch konzipiert ist im Rahmen eines Exkurses – inwiefern die Schöpfung des Menschen gemäß traditioneller jüdischer Auffassung erst mit der Eheschließung, das heißt, durch die Wiedervereinigung von Mann und Frau, als vollständig angesehen werden kann. Um alle Facetten zu beleuchten, die aus traditioneller jüdischer Sicht bei der Schaffung des Menschen mitwirken, sollten die Schüler:innen einen religionsphilosophischen Aspekt vertiefen, den sie im Rahmen dieser Unterrichtseinheit zwar bereits kennengelernt haben, der im Folgenden aber noch von einem anderen Standpunkt aus betrachtet werden soll. Der rabbinischen Lehre zufolge hat jeder Mensch zwei Triebe: יֵ ֶצר ַהּטֹוב/jétzer hatów (»die gute Gesinnung«) und יֵ ֶצר ָה ַרע/jétzer hará (»die böse Gesinnung«). Die »gute Neigung« strebt nach dem Transzendenten und Spirituellen, während die »schlechte Neigung« nach dem Körperlichen und Profanen trachtet. Dieser Dualismus hat daher weitreichende, je nachdem positive oder negative, Folgen für das menschliche Handeln und Sein. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die »gute Gesinnung« erst am Tag der Bat bzw. Bar Mitzwah, dem jüdischen Ritual des Erwachsenwerdens, mit der Person vereint wird. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass die »böse Gesinnung« als erste in den Körper des neugeborenen Menschen eindringt und diesen bis zur religiösen Volljährigkeit im Alter von zwölf bzw. dreizehn Jahren zunächst allein beherrscht. Zur »schlechten Gesinnung« zählen laut jüdischer Tradition aggressive Emotionen, ungezügelte Begierde und körperliches Verlangen, weswegen oftmals eine Gleichsetzung mit dem Sexualtrieb durchaus zulässig ist. Umso interessanter ist es, dass der rabbinische Diskurs die »böse Gesinnung« vielmehr als unerlässliche treibende Kraft für das menschliche Leben charakterisiert und ihm das gewisse Etwas verleiht. So ist es laut rabbinischer Auffassung ohne die
20 Vgl. Gemara zu Talmud Bawli, Traktat Jewamoth, Blatt 63, Vorderseite (b Jewamoth 63a).
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negative Gesinnung nicht möglich, Handel zu treiben, ein Haus zu bauen oder gar Kinder zu erziehen.21 Aus dem ersten Schöpfungsbericht geht hervor, dass G’’tt jedem einzelnen Produkt seines Schöpfungswerkes das Gütesiegel טֹוב/tow (»gut«)22 verleiht. Eine Ausnahme hiervon bildet die Krönung der Schöpfung, weswegen G’’tt die Schaffung des Menschen als טֹוב ְמאֹד/tow me’ód (»sehr gut«)23 einstuft. Während die Qualifikation »gut« selbstverständlich mit der »guten Gesinnung« in Bezug gesetzt werden kann, bezieht sich die Beurteilung »sehr gut« unerwarteterweise auf die »schlechte Gesinnung«. Dies mag auf den ersten Blick als logischer Fehlschluss erscheinen. Doch entgegen dieser ersten Annahme liegt aus traditioneller jüdischer Sichtweise kein Gedankenfehler vor. Um ein Leben zu führen, das mit dem Prädikat »sehr gut« ausgezeichnet werden kann, muss der Mensch stets nach mehr streben und deswegen auch bereit sein, über sich hinauszuwachsen und sich nicht bloß mit dem Status quo abzufinden. Jedes Individuum muss daher in der Lage sein, gegen die Umwelt anzukämpfen. Der Mensch kann aus diesem ständigen Kampf nur sieg- und erfolgreich hervorgehen, sofern er seine aggressiven, egoistischen, nichtaltruistischen und darüber hinaus sogar martialischen Fähigkeiten an den Tag legt und sie immer wieder aufs Neue unter Beweis stellt. Um die »böse Gesinnung« zu bezwingen und zu kontrollieren, stehen dem Menschen mit der Torah und den zahlreichen Ge- und Verboten wichtige Hilfsmittel zur Verfügung. Hierbei gilt insbesondere die Torah als Gegenkraft24 bzw. Heilmittel gegen das Gift der »schlechten Neigung«.25 Wer sich also mit der Torah befasst sowie sein Leben nach ihren Leitsätzen und Handelsmaximen ausrichtet, bleibt davor verschont, Schuldgefühle zu bekommen. Ebenso wenig muss ein solch orthopraxer Mensch befürchten, dass die »schlechte Gesinnung« eines Tages den persönlichen Untergang herbeiführen könne. Passend hierzu vergleicht der Talmud die Torah mit einer Mixtur des Lebens. Dieses Gleichnis wird am Beispiel eines Mannes verdeutlicht, der seinem Sohn mit einem starken Schlag eine Wunde hinzufügte und ihm daraufhin mit den folgenden Worten ein Pflaster reichte: »Solange das Pflaster auf Deiner Wunde ist, iss, was dir schmeckt; trink, was dir schmeckt; bade warm und kalt. Du brauchst nichts zu fürchten. Wenn Du es aber entfernst, so wächst wildes Fleisch
21 22 23 24 25
Vgl. Midrasch Bereschith Rabba, Paraschah 9, Pisska 7. Vgl. Gen 1,4.10.12.18.21.25. Vgl. Gen 1,31. Vgl. Talmud Bawli, Traktat Bawa Batra, Blatt 16, Vorderseite (b Bawa Batra 16a). Vgl. Talmud Bawli, Traktat Kidduschin, Blatt 30, Rückseite (b Kidduschin 30b).
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hervor.«26 Die rabbinische Auslegung manifestiert, dass G’’tt den Menschen bereits bei seiner Schöpfung »verwundete«, indem er ihn mit der »bösen Gesinnung« erschuf. Verbunden mit dem angeführten Gleichnis gilt die Torah demnach als das Pflaster auf der Wunde, welches sie daran hindert, zu eitern, und den Menschen wiederum befähigt, das Leben furchtlos zu genießen. Nur unter Berücksichtigung dieser Ausführungen wird begreiflich, weshalb in der jüdischen Tradition nur derjenige als wahrer Held anzusehen ist, der seine »schlechte Neigung« »unterwirft«, strenge Selbstbeherrschung übt und sich weigert, der Versuchung nachzugeben.27 Niemand ist in der Lage, die »böse Gesinnung« zu töten. Aus diesem Grund findet sich in der rabbinischen Literatur auch keinerlei Hinweis auf die in den späteren mystischen und moralistischen Werken vorherrschende Idee, die »böse Neigung« bezwingen zu können. Ferner lädt eine Beschäftigung mit dem Urpaar Adam und Chawa regelrecht dazu ein, auch Gen 2,9.17 sowie Gen 3,3 genauer unter die Lupe zu nehmen. Hierbei fällt den Schüler:innen sofort auf, dass im Text – entgegen der sonst üblichen Assoziation mit dieser Erzählung – an keiner Stelle expressis verbis ein Apfel erwähnt wird. Stattdessen finden sich nur die allgemeinen Formulierungen עץ ַה ַּד ַעת טֹוב וָ ָרע/etz ֵ hada’áth tow wará (»Baum der Erkenntnis von Gut 28 und Böse«) bzw. ּפ ִרי ָה ֵעץ/pri ְ ha’étz (»die Frucht des Baumes«)29. In diesem Zusammenhang erfahren die Lernenden anhand eines philologischen Exkurses und eines Blickes in die Vulgata, die lateinische Übersetzung des Tanachs, wie sich im christlich-abendländisch geprägten Kulturraum der Apfel als verbotene Frucht durchsetzen konnte. Die Schüler:innen begreifen, dass infolge der zunehmenden Unkenntnis darüber, welche lateinischen Wörter ursprünglich mit kurzen oder langen Vokalen ausgesprochen wurden, zwischen dem lateinischen Adjektiv mălum (»schlecht; böse«) und den lateinischen Substantiven mālum (»Apfel«) bzw. mālus (»Apfelbaum«)30 aufgrund des letztlich identischen Buchstabenbestandes keine Unterscheidung in der Bedeutung mehr vorgenommen werden konnte. Für das in der Torah verwendete Wort ּפ ִרי/pri ְ (»Frucht«)31 ist ein breites Spektrum an unterschiedlichen Obstsorten denkbar. So kann die verbotene Frucht der jüdischen Überlieferung zufolge neben einem – in der Tat – her26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Pirkej Awoth, Perek 4, Mischna 1. 28 Vgl. Gen 2,9.17. 29 Vgl. Gen 3,3. 30 Das lateinische Wort mālum (»Apfel«) ist ein Lehnwort des altgriechischen Begriffes μῆλον/»mḗlon« und wird deswegen mit einem langen ā ausgesprochen. 31 Vgl. Gen 3,3.
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kömmlichen Apfel auch eine Traube, ein Granatapfel, eine Feige, eine Quitte, eine Zitrusfrucht, Johannisbrot, eine Birne, Weizen oder gar ein Pilz sein.32 Es würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen, gleichermaßen auf alle soeben genannten Früchte einzugehen. Es liegt jedoch nahe, dass die verbotene Frucht eine Feige war, da Adam und Chawa sich nach ihrem Vergehen mit einem Feigenblatt bedeckten.33 In diesem Sinne hätten Adam und Chawa das, womit sie sich zum Überschreiten des g’’ttlichen Verbotes verleiten ließen, zum Korrigieren der provozierten Situation angewandt.34 Möglich ist auch, dass es sich um Trauben handelte, aus denen das Urpaar Wein herstellte, durch den Konsum dieses Genussgetränkes alkoholisiert wurde und nicht mehr klar denken konnte.35 Im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit befassen sich die Schüler:innen mit der מ ְצוַ ת ְׁש ִמ ַירת ַהּגּוף/mitzwáth ִ schmiráth hagúf, dem »Gebot der Bewahrung des menschlichen Körpers«. Hierbei erläutern die Lernenden anhand der jüdischen Traditionsliteratur Grundaspekte dieses Gebotes und setzen sich bei dieser Gelegenheit auch mit den einschlägigen Hygiene- und Gesundheitsregeln des bedeutenden Philosophen und Arztes ר ְמ ָּב”ם/Rambam ַ (Maimonides)36 auseinander. Bei dem Gebot schmiráth hagúf handelt es sich um eine religiöse Verpflichtung zwischen Mensch und G’’tt als dem Schöpfer des Menschen. Daraus folgt, dass Leben und Gesundheit wertzuschätzen und als höchstes Gut anzusehen sind. Diese Maxime manifestiert sich selbstverständlich bereits in der Torah. So begründet Gen 1,26a, wie bereits ausgeführt, die grundsätzliche Einstellung zum menschlichen Körper im Judentum. Der Vers weist auf den g’’ttlichen Ursprung des Menschen hin, weshalb der Mensch dazu verpflichtet ist, auf seinen Körper achtzugeben. Lev 11,45 bestimmt Israel als ein »heiliges Volk«, sodass jede Form von »Unreinheit« konsequent abzuwehren bzw. fernzuhalten ist. Ein weiterer Aspekt dieses wichtigen Gebotes findet sich in Dtn 4,15: Der Mensch ist verantwortlich, auf seine Gesundheit zu achten und eventuellen Krankheiten vorzubeugen. 32 Aus anderen antiken, das heißt, altgriechischen und lateinischen, Textstellen geht für den Begriff μῆλον bzw. mālum ein ähnlich umfangreiches Sortenspektrum hervor, welches ebenfalls Äpfel, Quitten, Granatäpfel und Zitronen umfasst. 33 Vgl. Gen 3,7. 34 Vgl. Talmud Bawli, Traktat Brachoth, Blatt 40, Vorderseite (b Brachoth 40a) und Traktat Sanhedrin, Blatt 70, Vorderseite (b Sanhedrin 70b). 35 Vgl. ebd.; Midrasch Bereschith Rabba, Paraschah 15, Pisska 7; ebd., Paraschah 19, Pisska 5. 36 Rambam – ein Akronym für Rabbi Mosche Ben Maimon – wirkte im 12. Jahrhundert in alAndalus und Ägypten. Er gilt aufgrund seiner zahlreichen Werke zu Religion, Philosophie, Medizin und Astronomie bis heute neben Raschi (s. Fußnote 16) ebenfalls als einer der bedeutendsten und meist studierten jüdischen Gelehrten.
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Als Arzt ist Rambam in vielerlei Hinsicht ein wahrer Fachmann in allem, was den menschlichen Körper anbelangt. In seinen medizinischen und religionsphilosophischen Abhandlungen lehnt er es strikt ab, dass man das Erhalten der eigenen Gesundheit und die Heilung von Krankheiten G’’tt überlässt. Zudem formuliert er Prinzipien und Ideen für die allgemeine Gesundheit des Menschen, die er in seinem in arabischer Sprache verfassten Werk كتاب فصول موىس/ kitaw fusul musa festhält. Zu dieser Zusammenstellung von circa 1.500 Aphorismen gehören u. a. Sport, Bewegung bzw. Gymnastik, gute Ernährung (Vermeiden von Übersättigung, da ein G’’ttesdienst im engsten Sinne des Wortes, das heißt, in Form von völliger Hingabe, andernfalls unmöglich ist), acht Stunden Schlaf, Hygiene (u. a. Besuch des Badehauses), Geschlechtsverkehr zur Erhaltung der Gesundheit, gemäßigter Alkoholkonsum, Einhaltung aller Reinheitsgesetze und der ּכ ְׁשרּות/kaschrúth ַ (Speisege- und verbote).37 Die Aufrechterhaltung der körperlichen Gesundheit ist die Voraussetzung dafür, dass Körper und Seele miteinander im Einklang stehen. Je besser der »Zustand der Seele« ist, desto vollkommener kann man G’’tt dienen. Hiervon ausgehend können die Schüler:innen erklären, inwieweit die seelische Harmonie mit G’’tt und das Streben nach Heiligkeit das oberste Ziel des Menschen und des Gebotes schmiráth hagúf ist. Entsprechend weist Rambam ausdrücklich darauf hin, dass das Erhalten dieser Grundsätze in der Regel zu einem langen gesunden Leben führe. In seinem Werk ּתֹורה ָ מ ְׁשנֵ ה/mischné ִ toráh (»Wiederholung der Torah«)38 nennt Rambam wichtige Verbote, die dem obersten Gebot des schmiráth hagúf widersprechen. Hierzu zählt insbesondere, dem Körper zu schaden und daher das eigene Leben zu gefährden sowie sich selbst und andere zu verletzen. Aus diesem Grund ist beispielsweise Suizid im Judentum strengstens verboten. Des Weiteren ist anzumerken, dass es sich bei den in der Torah beschriebenen Konzepten von »rein« und »unrein« keineswegs um Hygienevorschriften im herkömmlichen Sinne handelt. Das primäre Ziel dieser Vorschriften war es, die kultische Reinheit herzustellen, um G’’tt schließlich aufrichtig dienen zu können. So waren die kultischen Reinheitsgesetze von hoher Bedeutung, da man glaubte, dass G’’tt sich nicht mit Unreinheit, Dreck und Gestank verträgt. Daher ist es eine wahre religiöse Verpflichtung, sich selbst stets rein zu halten. Durch diese für die biblische Zeit unübliche Hygiene und Sauberkeit, die aus den Speise- und Reinheitsgesetzen hervorgeht, unterscheidet sich das Judentum erheblich von anderen Religionen und menschlichen Gruppierungen. Vor
37 Vgl. Ex 23,19; Ex 34,26; Lev 11,3–8; Dtn 14,3–21. 38 Dieses Werk ist eine umfassende Sammlung jüdischer Gesetze.
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diesem Hintergrund wird verständlich, wieso die kultischen Reinheitsgebote nicht als Vorreiter moderner Hygienevorschriften angesehen werden können.
3 Zusammenfassung Im Rahmen der vorgestellten Unterrichtseinheit wird den Schüler:innen bewusst, wie wichtig, intensiv und umfassend religionsphilosophische Auslegungen für eine orthopraxe jüdische Lebensführung sind. Anhand der Textarbeit begreifen die Lernenden, wie tiefgründig und mächtig die Aussage jedes einzelnen Satzes der jüdischen Traditionsliteratur ist und wie einzelne Aspekte wiederum mit anderen biblischen und außerbiblischen Kontexten verknüpft sind. Die Schüler:innen befassen sich daher neben dem theologischen Schwerpunkt dieser Unterrichtseinheit ebenso mit biografischen, historischen, kultgesetzlichen sowie soziologischen Hintergründen. Gleichzeitig erfahren die Lernenden, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint oder geschrieben steht. Stattdessen muss alles immer gründlich hinterfragt und stets in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Da nicht in gleicher Weise auf alle Bestandteile dieser Unterrichtsreihe eingegangen werden kann, konnten einige Themenbereiche nicht bzw. nicht in aller Ausführlichkeit thematisiert werden. Hierzu zählen beispielsweise eine vertiefte Auseinandersetzung mit weiteren traditionellen Grundsatzkatalogen zur jüdischen Lebensführung, mit der Verpflichtung der Beschneidung oder mit der expliziten Absage von Menschenopfern. Ebenso wäre eine intensivere Darstellung zu den Themen Tod und Vorstellungen vom Jenseits sicherlich ebenfalls sehr interessant. Mark Krasnov ist Studienrat an der Diltheyschule Wiesbaden und unterrichtet die Fächer Jüdische Religion, Hebräisch, Spanisch, Informatik und Latein. Seit der Scho’ah ist er der erste (und bisher einzige) Lehrer für das Fach Jüdische Religion im staatlichen Schuldienst des Landes Hessen. Zudem engagiert er sich ehrenamtlich in der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
Typisch westlich? Eine Auseinandersetzung mit Menschenbildern aus postkolonialer Sicht Britta Konz
1 Einleitung Kinder in Afrika schöpfen Wasser aus dem Brunnen, leben in verarmten Dörfern, die Eltern sind handlungsunfähig, an Aids verstorben oder auf Entwicklungshilfe angewiesen, ohne die sie keine Zukunft hätten. Wie diese verbreiteten Stereotype zeigen, lagern sich in der »Tiefenschicht« der Narrative über Länder des Globalen Nordens bis heute koloniale Denk- und Deutungsmuster ab. Immer noch wird in Medien und auch in Schulbüchern das verzerrte Bild eines (technisch) rückständigen Afrikas gezeichnet, wohingegen die strukturellen Ursachen globaler Ungleichheit sowie die Unterschiedlichkeit der Länder und Lebensverhältnisse meist ausgeblendet werden.1 Gleichzeitig sind immer mehr Schüler:innen in verschiedenen Kulturen gleichermaßen zu Hause und entfalten ihre Lebensentwürfe vor dem Hintergrund vielfältiger Weltbilder, Wertsysteme, Orientierungs- und Deutungsmuster. Infolge der kulturellen und religiösen Pluralisierungsprozesse kommt es aktuell verstärkt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diskriminierenden Zuschreibungen und einem westlichen Anspruch auf Deutungshoheit. Migrationsbewegungen haben in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit auf die Folgen der Kolonialisierung und Missionierung gelenkt. Migrant:innen konfrontieren den Globalen Norden mit der Tatsache, dass seine Geschichte und seine Politik weitreichende Folgen für Menschen in anderen Teilen der Welt haben. Während lange Zeit die koloniale Vergangenheit Deutschlands vernachlässigt wurde, rückte diese spätestens durch den 100. Jahrestag des 1904 begangenen Völkermordes an den Hereros und Namas, aber auch in Folge der #BlackLives Matter- und #meTwo-Bewegung in den letzten Jahren stärker ins öffentliche Blickfeld. 1 Jan-Hendrik Herbst, Unterrichtsmaterialien als Ort der Ideologieproduktion? Perspektiven kritischer Religionsbuchanalyse in der Gegenwart, in: TheoWeb 21/1 (2020), 115–134, hier 122.
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Auch im schulischen Kontext ist die Einsicht gereift, dass rassismuskritische Perspektiven berücksichtigt werden müssen, Lehrkräfte ihre Haltung und Positionierungen reflektieren sollten und Schulmaterial kritisch gesichtet werden muss, um allen Schüler:innen dieselben Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen.2 In Bezug auf Menschenbilder ist in der Religionspädagogik seit einigen Jahren eine »anthropologische Wende« zu beobachten:3 Die Sensibilisierung für die Heterogenität der Schüler:innenschaft führte zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Fragen der Diversität und Interkulturalität, sowie rassistischen und antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft, die durch schulische Sozialisationsprozesse tradiert werden.4 Dennoch stehen Kirche, Schule und Religionsunterricht am Anfang, was die Aufarbeitung des strukturell eingeschriebenen Rassismus betrifft. Unterrichtsplanung wird immer noch stark an Normbiografien orientiert. BIPoC5 besuchen meist eine Schule, in der die Lehrer:innen (bis auf wenige Ausnahmen) weiß sind, der Lehrplan ist nicht an ihren Erfahrungen ausgerichtet, sie lernen z. B. keine Handlungsstrategien gegen Rassismus, und (Kirchen-)Geschichte kommt zumeist nur aus einer weißen europäischen Perspektive vor.6 Obwohl die Vielfalt des Christentums durch Migration in den Ländern des Globalen Nordens offenkundiger wird und sich der Schwerpunkt des globalen Christentums in die Länder des Globalen Südens verlagert hat, spiegelt sich dies noch »viel zu wenig in der religionspädagogischen Theorie, Praxis und im Bildungsmaterial«7 wider. Wer gehört dazu, wenn wir von uns als Christ:innen sprechen? Wer wird sichtbar und gehört? Welche Bilder werden vom Menschen kolportiert, wenn im Religionsunterricht Gottesbeziehungen, Christusbilder und ethische Themen behandelt werden? Inwiefern kann interreligiöse Bildung zu einem konstruktiven Umgang mit Fremdheit befähigen? Für diese Fragen setzt postkoloniale Theorie wichtige Impulse. Sie beleuchtet (religions- und migrations-)pädago2 Vgl. Nadine Golly, Empowerment im Globalen Lernen, in: Werkstattreihe Globales Lernen 2015. Postkoloniale Perspektiven und pädagogische Praxis (2015), 13–14, hier 14. 3 Thomas Schlag/Henrik Simojoki, Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern. Eine Einleitung, in: dies. (Hg.): Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2015, 16–31, hier 19 u. 23. 4 Vgl. Dominik Gautier, Irritierbarkeit. Eine theologische Überlegung zur kritisch-emanzipatorischen Religionspädagogik, in: Claudia Gärtner/Jan-Hendrik Herbst (Hg.), Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik, Wiesbaden 2020, 403–419, hier 408. 5 BIPoC ist eine Selbstbezeichnung von Schwarzen, Indigenen und People of Color. 6 Vgl. Tupoka Ogette, exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen, Münster 22017, 58. 7 Julia Henningsen, Repräsentationen des Globalen Südens im evangelischen Religionsbuch. Eine Thematische Diskursanalyse vor dem Horizont postkolonialer Theorien, Paderborn 2022, XVIII.
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gische Praxen und Menschenbilder in ihrem eurozentrischen Gewordensein kritisch und zielt damit ins Zentrum der »anthropologischen Prämissen« von Theologie und religiöser Bildung.8 Im Folgenden werden eine Auseinandersetzung mit Menschenbildern aus postkolonialer Sicht angeregt und mögliche religionspädagogische Zugänge zum Thema kartiert. Skizzenhaft in das vielschichtige Diskursfeld postkolonialer Theorie einzuführen, ist jedoch zugleich eine »Mission Impossible« wie Ha9 es beschreibt, zumal weiße Autor:innen des Globalen Nordens nicht den Anspruch erheben sollten, für Marginalisierte zu sprechen. So sei eingangs darauf hingewiesen, dass es sich um einen Versuch handelt, die Anliegen postkolonialer Theorie für die Religionsdidaktik fruchtbar zu machen, der keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und nur einige Grundaspekte der vielschichtigen Debatte aufgreifen kann.
2 Dekonstruktion von Menschenbildern und Zuschreibungspraktiken Postkoloniale Theorie umfasst ein komplexes interdisziplinäres Theoriefeld mit vielfältigen methodologischen Herangehensweisen.10 Sie beschäftigt sich kritisch mit dem Erbe des Kolonialismus und seinen anhaltenden Auswirkungen auf globale Machtdynamiken. Hierzu gehören Themen wie Neokolonialismus, Globalisierung, Kulturimperialismus sowie auch der Kampf um Selbstbestimmung und Dekolonisierung und die Aufarbeitung von Gewalt und Traumata. Postkoloniale Theorie will intervenieren und gewohnte Sehweisen unterbrechen.11 Sie entstand als Reaktion auf eine die akademische Welt beherrschende eurozentrische Perspektive und versucht, das Ungleichgewicht und die stereotypen Darstellungen zu korrigieren, indem sie den Perspektiven und Erfahrungen von Menschen des Globalen Südens, den »voices from the margin«, eine Stimme gibt. In Bezug auf die Frage nach dem Menschen sind besonders die Aspekte »Othering«, »Hybridität«, »Critical Whiteness« und Anfragen an die Nachhal 8 Vgl. Schlag/Simojoki, Religionspädagogik, 16–31. 9 Mit Rekurs auf Henry Schwarz: Kien Nghi Ha, Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen »Rassenbastarde«, Bielefeld 2010, 43–44, hier 54. 10 Vgl. María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 32020, 25–26. 11 Vgl. Felix Hinz/Johannes Meyer-Hamme, Geschichte lernen postkolonial. Schlussfolgerungen aus einer geschichtsdidaktischen Analyse postkolonial orientierter Unterrichtsmaterialien, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15/1 (2016), 131–148, hier 131.
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tigkeitsdebatten hervorzuheben: Das Konzept des »Othering« hat sich – inspiriert von Denker:innen wie Said und Spivak – aus der postkolonialen Theorie heraus entwickelt.12 Es entlarvt Strategien des »Fremdmachens«, bei denen den »anderen« negative Attribute und Eigenschaften zugeschrieben werden, um im Gegenzug ein einheitliches und überlegenes »Wir« herzustellen. Dies ist beispielsweise auch für Interreligiöse Bildungsprozesse bedeutsam, wobei die postkoloniale Othering-Theorie hier bislang selten aufgegriffen wird.13 Im Kolonialismus wurde eine grundlegende Unterscheidung zwischen Menschen (»the west and the rest«14) vollzogen. Die indigene Bevölkerung wurde als »infantil«, »rückständig«, »unzivilisiert« und »unterlegen« dargestellt, das europäische »Wir« dagegen als souverän, überlegen, zivilisiert und aufgeklärt.15 Um Rassentheorien zu belegen, wurden Indigene obsessiv erforscht und zur Schau gestellt, wie z. B. in Hagenbecks Tierpark.16 Theologisch wurde die Idealisierung weißer Menschen auch durch die Verbreitung stereotyper weißer Jesusdarstellungen gestützt, die suggerieren, dass der gottgewordene Mensch selbstverständlich ein Weißer ist.17 Bis heute bildet das Weißsein eine scheinbar »unsichtbare Norm«.18 »Gib mir mal die Hautfarbe«, sagen Kinder und meinen damit den beigen Stift. Erst langsam bilden Unterrichtsmaterialien die Vielfalt menschlicher Hautfarben ab. Tatsächlich erhält Hautfarbe ihre Bedeutung durch (vielfach unbewusste) Zuschreibungen. Im Gegenüber zu denen, die als »anders« und »fremd« klassifiziert werden, können sich Weiße einfach »normal« fühlen, zugehörig zu einer Gruppe von Menschen, denen eine gewisse Überlegenheit innewohnt und die sich in allen Bildern, Filmen, Büchern etc. repräsentiert sehen.19 Damit ist nicht gesagt, dass Weiße nicht auch von anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit betroffen sein können, wie Behinderung, Armut etc. »Cri12 Vgl. Josephine Apraku, Wie erkläre ich Kindern Rassismus? Rassismussensible Begleitung und Empowerment von klein auf, Berlin 32022, 71. 13 Vgl. Janosch Freuding, Fremdheitserfahrungen und Othering. Ordnungen des »Eigenen« und »Fremden« in interreligiöser Bildung, Bielefeld 2022, 20 u. 381. 14 Stuart Hall, The West and the Rest: Discourse and Power, in: David Morley (Hg.), Essential Essays, Volume 2: Identity and Diaspora, New York 2018, 141–184. 15 Vgl. María do Mar Castro Varela, Postkolonialität, in: Paul Mecheril (Hg.), Handbuch Migrationspädagogik, Weinheim 2016, 152–166, hier 155. 16 Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 47. 17 Vgl. Sarah Vecera, Wie ist Jesus weiß geworden? Mein Traum von einer Kirche ohne Rassismus, Ostfildern 2022. 18 Anette Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007, 40. 19 Vgl. Eske Wollrad, Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion, Königstein/Taunus 2005, 86.
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tical Whiteness« fordert jedoch dazu auf, Weißsein zu reflektieren und sich mit Verhaltensweisen und Denkmustern auseinanderzusetzen, die auf rassistische Strukturen zurückzuführen sind, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich um komplexe, tief eingeschriebene gesellschaftliche Strukturen handelt, die nicht ohne Weiteres überwunden werden können. Kritische Stimmen merken an, dass die Reflexion von Privilegien nicht zu einer Form der Beichte oder intellektueller »Nabelschau« verkommen darf, sondern dass es stattdessen um das Knüpfen echter Beziehungen und den Aufbau politischer Bündnisse gehen sollte, mit der Intention, wirklich etwas zu verändern. Postkoloniale Theorie zeigt dabei gleichzeitig auf, dass es den Menschen an sich nicht gibt. Sie rückt die Vielschichtigkeit von Identitäten und Kontaktzonen zwischen Menschen und Kulturen ins Blickfeld. Ein Schlüsselaspekt der postkolonialen Theorie ist das Konzept der »Hybridität«, das von Homi Bhabha geprägt wurde.20 Es beschreibt, dass Kulturkontakte niemals einseitig verlaufen und dabei stets neue kulturelle Formen und Identitätszugehörigkeiten entstehen. Bhabha arbeitete heraus, dass die Unterwerfung der Kolonisierten auch mit Gewalt nie vollständig gelang. Es gab immer subversive Strategien und Handlungsspielräume. Traditionen, Sprachen und Kulturen wurden nicht einfach übernommen, sondern kreativ anverwandelt.21 Auch christlicher Glaube wurde nicht passiv übernommen, sondern mit traditionellen, indigenen Vorstellungen verwoben, was zu einer interkulturellen Vielfalt des Christlichen führte.22 Angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart und der Protestbewegungen von Jugendlichen im Kampf gegen den Klimawandel ist nicht zuletzt auch die postkoloniale Anfrage an ein »typisch westlich« in der aktuellen Debatte um Nachhaltigkeitsfragen relevant für das Thema Menschenbilder. Der im Zuge des Kolonialismus entstandene expansive und auf stetige Beschleunigung und Reichweitenvergrößerung ausgerichtete Lebensstil westlicher Industriegesellschaften kommt an seine Grenzen, ebenso wie die Vorstellung vom Menschen als »Krone der Schöpfung«. Postkoloniale Denker:innen kritisieren die generalisierende Rede von menschlicher Einflussnahme auf Erdsystemzusammenhänge, bei der die unterschiedlichen sozialen Positionierungen und Verantwortungen von Menschen aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden
20 Zur Einführung in Bhabhas Verständnis von Mimikry und Hybridität und Kritik an seinem Ansatz siehe: Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 229–295. 21 Vgl. ebd., 239–247. 22 Vgl. ebd., 63.
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unbeachtet bleiben.23 Auch das Konzept des globalen Lernens wird derzeit in Hinsicht auf die Reproduktion von Machtasymmetrien hinterfragt und konzeptionell weiterentwickelt.24
3 Religionspädagogische Reflexionen und exemplarische Lernwege Im Folgenden soll das irritierende Potenzial postkolonialer Theorie in Bezug auf die Haltung der Lehrenden, die Dekolonisierung von Unterrichtsmaterial und exemplarische Lernwege aufgezeigt werden. 3.1 Dekolonisierung von Lernkulturen
Im Religionsunterricht kann eine »Praxis des Verlernens« angebahnt werden, die Powersharing und Empowerment beinhaltet:25 Powersharing zielt darauf, die Norm des Weißseins und eurozentrische Perspektiven zu durchbrechen. Lehrende sollten sich ihrer »individuellen und strukturellen Positioniertheiten und Privilegien«26 bewusst werden und ihre Wahrnehmung von Schüler:innen reflektieren:27 Ȥ Wer wird bei Lernprozessen bedacht, wer gegebenenfalls übersehen? Ȥ Wie werden Lernende mit Marginalisierungserfahrungen angesprochen, wo wird ihr Wissen produktiv – und nicht paternalistisch – eingebunden? Ȥ Welche pädagogischen Leitbilder, Rahmenbedingungen und Strukturen bestimmen mein Handeln, welche Kompetenzen werden als Standard gesetzt? 23 Vgl. Madeleine Scherrer, Das Anthropozän dekolonialisieren. Perspektiven für die Erziehungswissenschaft, in: Phillip D. Th. Knobloch/Johannes Drerup (Hg.): Bildung in postkolonialen Konstellationen. Erziehungswissenschaftliche Analysen und pädagogische Perspektiven, Bielefeld 2022, 117–138, hier 122. 24 Vgl. Henningsen, Repräsentationen, 37. 25 Vgl. Alisha M. B. Heinemann/María do Mar Castro Varela, Ambivalente Erbschaften. Verlernen erlernen!, in: Büro trafo.K, Strategien für Zwischenräume Ver_Lernen in der Migrationsgesellschaft. Schulheft 65/2017, 28–37, hier 28. 26 Yasmine Chehaia/Birgit Jagusch, Vortext: »Wenn Wissen und Diskurs persönlich wird« und werden sollte, in: dies. (Hg.), Empowerment und Powersharing. Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen, Weinheim 2020, 9–18, hier 12. 27 Zu den folgenden Fragen vgl. Columbia University, Center for Teaching and Learning (Hg.), Guide for Inclusive Teaching at Columbia, https://ctl.columbia.edu/resources-and-technology/resources/inclusive-teaching-guide/ (Zugriff am 03.12.2022); Jens Mätschke, Ablauf Werkstatt, in: Werkheft Werkstattreihe Globales Lernen. Postkoloniale Perspektiven und pädagogische Praxis (2015), 17–20, http://www.epiz-berlin.de/wp-content/uploads/EPZ_Werkheft_2016_web.pdf (Zugriff am 03.12.2022).
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Ferner sollten mögliche stereotype Zuschreibungen und Machtverhältnisse bedacht und unterschiedliche Perspektiven und Repräsentationspraktiken beleuchtet werden, z. B. hinsichtlich dessen, was als Inspiration oder Vorbild dargeboten wird: Ȥ Werden vielfältige Menschenbilder aufgezeigt und die Perspektiven und die Geschichte von Christ:innen weltweit wahrgenommen? Ȥ Wird die Kontextualität westlicher Theologie benannt und Widersprüche z. B. zwischen europäischem Entwicklungsanspruch und rassismuskritischer Arbeit aufgedeckt? Beim Empowerment geht es im Sinne »aufgeklärter Heterogenität« darum, die »Unterschiedlichkeit« (z. B. Religion, Kultur, Lebensstile) der Schüler:innen anzuerkennen, die »Entwicklung positiver Selbstbezüge« von BIPoC zu stärken,28 »Ungleichheit« (z. B. soziale Ungleichheit) dagegen abzubauen.29 Zudem sollten stereotype und rassistische Darstellungen des Menschseins offen (aber nicht moralisierend) in der Klasse angesprochen werden, wenn sie im Lehrinhalt oder in den Kommentaren von Schüler:innen auftauchen.30 3.2 Dekolonisierung des Unterrichtsmaterials
Eine »Praxis des Verlernens« beinhaltet auch eine Dekolonisierung des Unterrichtsmaterials.31 In (Religions-)Schulbüchern finden sich immer noch problematische Darstellungen des Globalen Südens und bis heute wird in Medien das Motiv des Weißen Retters (»White Savior«) verbreitet, der armen Menschen aus dem Globalen Süden hilft, die ohne ihn nicht zurechtkommen.32 Ausgehend von ihrer Studie zu Schulbüchern legt Henningsen sechs Kriterien für die Repräsentation des Globalen Südens im Religionsunterricht vor, die bei Unterrichtsprozessen und dem Einsatz von Bildmaterial zu beachten sind: 1. Heterogenität des Globalen Südens darstellen, 2. Dichotomien vermeiden, das heißt, kein pauschales Gegenüberstellen und
28 Chehaia/Jagusch, Vortext, 12. 29 Vgl. Bernhard Grümme, Aufgeklärte Heterogenität. Auf dem Weg zu einer neuen Denkform in der Religionspädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 70/4 (2018), 409–423. 30 Vgl. Mätschke, Ablauf Werkstatt, 17–20. 31 Vgl. z. B. Kathrin Winkler/Stefan Scholz, Subaltern Thinking in Religious Education? Postcolonial Readings of (German) Schoolbooks, in: British Journal of Religious Education 43/1 (2021), 103–122. 32 Vgl. Herbst, Unterrichtsmaterialien, 103–122.
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abwertendes Vergleichen mit dem Globalen Norden oder seines Religionsverständnisses, (Post-)Kolonialismus und Mission thematisieren und die gemeinsame global vernetzte Geschichte, mit den durch die Kolonialisierung ausgelösten Ungleichheitsverhältnissen und Traumata, Vielstimmigkeit fördern, indem Menschen des Globalen Südens zu Wort kommen und ihre Interessen und Initiativen sichtbar werden, Leerstellen zulassen, insofern manches nicht repräsentierbar ist, wie z. B. Gewalterfahrungen und nichtartikulierbare Traumata, Medien variieren, z. B. weil Kunst Leerstellen »zur Sprache« bringen und Lieder, Gedichte, Filme, Gebete, Berichte von Gläubigen aus dem Globalen Süden oder Fotos die Vielstimmigkeit und Pluralität von Menschen und ihrer Lebensumgebungen erfahrbar machen können.33
Ein Schritt, theologische Menschenbilder für Grundschulkinder vielfältiger sichtbar zu machen, ist die rassismuskritische Kinderbibel, die kürzlich erschienen ist.34 3.3 Exemplarische Lernwege
Postkoloniale Theorie lässt sich nicht in einfache Lernprozesse hinunterbrechen, zumal (religionspädagogisches) Material zur Behandlung postkolonialer Fragen und Themen desiderat ist. So werden im Folgenden exemplarische Lernwege für die Sekundarstufe I und II aufgezeigt, die erste Zugänge zum Thema erschließen können. Im Sinne biografischen Lernens kann bei einer postkolonialen Auseinandersetzung mit dem Menschsein in seinen »ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingtheiten« das Alteritätsbewusstsein geschärft35 und eine Einsicht in das Gewordensein und die Veränderbarkeit von Lebensbedingungen gewonnen werden.36 Bei einer postkolonialen Reflexion von Menschenbildern ist von Lehrer:innen und Schüler:innen u. a. Differenzsensibilität, Alteritätskompetenz und Empathie gefordert. Diese können jedoch nicht bei allen 33 Vgl. Henningsen, Repräsentationen, 283–291. 34 Andrea Karimé, Alle-Kinder-Bibel. Unsere Geschichten mit Gott, Neukirchen-Vluyn 2023. 35 Waltraud Schreiber/Andreas Körber, Bodo von Borries u. a., Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung, Bd. 1, Neuwied 22006, 25–26. 36 Vgl. Hans-Georg Ziebertz, Biografisches Lernen, in: Georg Hilger/Stephan Leimgruber/HansGeorg Ziebertz (Hg.), Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 32013, 374–386, hier 380.
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vorausgesetzt, sondern müssen sensibel angebahnt werden. Vor allem die Kritik an Haltungen und die Infragestellung von Privilegien können Abwehrverhalten hervorrufen,37 so wie auch die mit dem Thema verbundenen Fragen von Macht, Unterdrückung und Gewalt Erfahrungen von Interdependenzen und Abhängigkeiten, »Verletzungen und Kränkungen« aufrufen können.38 Im Sinne des Überwältigungsverbotes muss auch die Gefahr einer Moralisierung bedacht werden. Insofern es postkolonialen und rassismuskritischen Ansätzen darum geht, scheinbar »universelles und neutrales Wissen« zu hinterfragen, können sie nicht »neutral« sein. Dies wird aber »in selbstreflexiver Weise transparent« gemacht und für eine »Kultur der Fehlerfreundlichkeit, aber auch der Kritik« plädiert.39 Mit ihrer »kompetenzorientierten, subjektorientierten, dialogisch-korrelativen Ausrichtung« kann Kinder- und Jugendtheologie (wenn sie kritischmarginalitätssensibel ausgerichtet wird40) Fragen nach dem Menschen im Horizont postkolonialer Theologie entfalten und Themen wie soziale/globale Ungleichheit und Rassismus ansprechen. Durch Bezugnahme auf interkulturelle Theologie können dabei die Vielfältigkeit christlicher Theologien und Bibelinterpretationen sowie die Kontextualität westlicher Perspektiven und Menschenbilder sichtbar gemacht werden.41 Schüler:innen können auch aus den sozialen Medien bereits eine Sensibilität für die Bedeutung von »Gender« und »Race« mitbringen, die aufgegriffen und für postkoloniale religiöse Lernprozesse fruchtbar gemacht werden kann. Insbesondere Kunst hat das Potenzial, Wahrnehmungsgewohnheiten zu irritieren und postkoloniale Lernwege zu erschließen, z. B. durch das Kirchenfenster »Wales Window for Alabama« von Ronald John Petts. Es entstand 1963, als bei einem rassistisch motivierten Bombenanschlag auf die Kirche vier afroamerikanische Mädchen getötet und zwanzig Personen verletzt wurden. Das Fenster zeigt einen leidenden, gekreuzigten schwarzen Christus. Mit dem Zitat aus Mt 25,40 »You do it to me« wird die rassistische Gewalt als Versündigung an Gott selbst gekennzeichnet. Die Christusfigur wehrt mit seiner rechten Hand 37 Vgl. Carsten Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters. Stuttgart 2010, 382. 38 Ebd., 385. 39 Hannah Drath/Jan Woppowa, Rassismuskritik und christliche Religionspädagogik Gründe, Potenziale und Desiderate eines Neuaufbruchs, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 30 (2022), 129–148, hier 147. 40 Vgl. Bernhard Grümme, Mit bildungsfernen Schülern theologisieren. Skizze einer kritischmarginalitätssensiblen Kindertheologie, in: Religionspädagogische Beiträge 70 (2013), 31–42. 41 Vgl. Britta Konz, Postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik im Horizont der Lebenswelten Heranwachsender, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 74/3 (2022), 271–283.
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die Gewalt ab, seine linke Hand öffnet er zur Versöhnung der Menschheit.42 Das Kunstwerk eignet sich für die Arbeit in Sekundarstufe I und II, vertiefend kann in der gymnasialen Oberstufe die Kreuzestheologie Cones eingeführt werden, die das »Symbol des lynching tree und das Symbol des Kreuzes in ein gegenseitiges Interpretationsverhältnis« bringt43 oder auch eine »nicht-idealisierende Auseinandersetzung« angebahnt werden »mit den von Martin Luther King und Malcolm X vertretenen Ansätzen«.44 Mit prophetischen Texten und Befreiungstheologien lässt sich in Sekundarstufe I und II das Potenzial politischer Theologie entdecken,45 die nicht vertröstet, sondern die biblische »Utopie der gegenseitigen Anerkennung, der noch nicht vorstellbaren Teilhabe aller auf Augenhöhe« erschließt.46 Da Schwarze Deutsche immer noch gefragt werden, wo sie eigentlich herkommen, können und sollten im RU auch historische Lernprozesse angebahnt werden über die Geschichte Schwarzer Deutscher (Christ:innen) und indigener Völker Europas und Euroasiens.47 Anfragen an Menschenbilder aus postkolonialer Sicht können Schüler:innen aus den Sekundarstufen beispielsweise durch Serien wie »Dear White People« kennen, sodass man von hier aus auf kirchliche Initiativen wie »Dear White Church« zu sprechen kommen kann.48 Auch die Videos von SAIH, der Solidarity Organization of Students and Academics in Norway können Anstöße für die Dekonstruktion des »typisch westlich« in Bezug auf Menschenbilder geben, weil sie das Stereotyp des »White Saviors«, des weißen westlichen Retters des Globalen Südens, satirisch aufs Korn nehmen: Die Filmclips persiflieren beispielsweise, wie die Initiative »RadiAid« gegründet wird, bei der Menschen
42 Vgl. Britta Konz/Stephanie Lerke, Critical Whiteness? Ronald John Petts: Wales Window for Alabama, in: Britta Konz/Antje Roggenkamp (Hg.), Vielgestaltige Christusansichten. Im Theologisieren Unbeachtetes entdecken (Bibel – Schule – Leben 12), Berlin 2022, 201–209, hier 206. 43 Dominik Gautier, »The Cross and the Lynching Tree«. Die Kreuzestheologie James H. Cones, in: Ökumenische Rundschau 64 (2015), 198–206, hier 201. 44 Vgl. Anke Kaloudis/Serdar Özsoy, Rassismus entgegentreten. Eine Unterrichtseinheit zu Martin Luther King und Malcolm X, in: rpi Impulse 4/2018, 28–29. 45 Vgl. Claudia Gärtner/Jan-Hendrik Herbst (Hg.), Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung, 2020. 46 Michael Nausner, Eine Theologie der Teilhalbe, Leipzig 2020, 304. 47 Vgl. Duygu Özturan, Warum auch bei uns das »i« in BiPoC nicht fehlen darf. Über die indigenen Völker Europas und Euroasiens, 2021, https://renk-magazin.de/warum-auch-bei-unsdas-i-in-bipoc-nicht-fehlen-darf/ (Zugriff am 03.12.2022). 48 »Dear, White Church«, The British POC Experience (https://www.youtube.com/ watch?v=8M5aBzgQljM (Zugriff am 23.2.2022)
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afrikanischer Länder den frierenden Menschen in Norwegen Radiatoren schicken, um ihnen ein bisschen Wärme zu spenden.49 Dr. Britta Konz ist Professorin für Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
49 Africa For Norway, https://www.youtube.com/watch?v=oJLqyuxm96k (Zugriff am 03.12.2022).
Der vulnerable Mensch – der überflüssige Mensch. Menschenbilder im Kontext von Berufsschule Joachim Ruopp
Etwa 2,31 Millionen Schüler:innen besuchten im Schuljahr 2021/22 einen Bildungsgang des beruflichen Schulwesens.1 Nach den Grundschulen2 stellen die beruflichen Schulen daher die größte Schulart dar – eigentlich sind sie ein Schulartenbündel. In der öffentlichen Wahrnehmung gelangen berufliche Schulen oft ins Hintertreffen, weil dieser Bildungsbereich komplex ist – so unterscheiden sich berufliche Schularten hinsichtlich ihrer Zugangsvoraussetzungen und ihrer Abschlüsse und unterliegen einer laufenden Adaption an Erfordernisse der Gesellschaft und des Arbeitsmarkts. Vermutlich sind Berufsschulen vergleichsweise weniger sichtbar. Sie stehen in der Regel nicht in den Zentren der Gemeinden und Städte, und ihre Schüler:innen könnten auch junge Handwerker:innen, Angestellte oder Schüler:innen einer allgemeinbildenden Sekundarstufe II sein. Außerunterrichtliches Schulleben und die Vernetzung mit dem Gemeinwesen sind hier eine besondere Aufgabe, die leicht aus dem Blick gerät. Mit Blick auf religiöse Bildung ist die Unterrichtsversorgung mit Religionsunterricht eine bleibende Herausforderung. Freilich hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Wahrnehmung des sogenannten BRU verbessert, insbesondere hinsichtlich der Entwicklung einer berufsorientierten Religionspädagogik. Ich will im Folgenden das Thema von Vulnerabilität und »sich als überflüssig empfinden« aus der Perspektive des berufsbildenden Schulwesens beleuchten sowie einschlägige Unterrichtsthemen sachanalytisch reflektieren. Dabei geht es um Primärbeobachtungen an beruflichen Schulen und um einen soziologischen bzw. zeitdiagnostischen Blick auf die Schülerschaft. Besonderes Augenmerk lege ich auf das sogenannte Übergangssystem. Bei den Unterrichtsthemen erläutere 1
Vgl. Destatis, Statistisches Bundesamt, Schüler in beruflichen Schulen: Deutschland, Schuljahr, Schulart, 2022, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=21121-0001#abreadcrumb (Zugriff am 07.01.2023). 2 Vgl. Schuljahr 2019/20: 2,9 Millionen; Destatis, Statistisches Bundesamt (Hg.), Pressemitteilung Nr. N 012 vom 17. März 2020, 2020, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemittei�lungen/2020/03/PD20_N012_122.html (Zugriff am 07.01.2023).
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ich die Begriffe des Titels am Beispiel des Religionsunterrichts im Bereich der Pflegeschulen, am Thema Menschenwürde sowie Identitätsbildung.
1 Kontexte von Vulnerabilität Beim Thema Vulnerabilität assoziiert man die von Sigmund Freud beschriebenen Kränkungen der Menschheit.3 Diese Reihe der Kränkungen wurde öfters fortgeschrieben. Zuletzt hat der katholische Theologe Martin Grichting in einem Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung den Begriff der Kränkung mit dem Lebensgefühl nach Corona in Verbindung gebracht. Mindestens die medizinischen Hoffnungen einer zunehmenden technischen Bewältigung von Krankheiten seien angesichts der massiven Einschränkungen der Coronapandemie zerbrochen.4 Der Begriff der Vulnerabilität hat seither deutlich an Bedeutung gewonnen. Allerdings wird häufig übersehen, dass er eine anthropologische Konstante beschreibt. Vulnerabilität betrifft junge, physisch gesunde Menschen genauso, nicht nur eine ausgrenzbare Teilgruppe unserer Gesellschaft. Schüler:innen im beruflichen Schulwesen nehmen Vulnerabilität des Individuums als auch der Gesellschaft besonders wahr, etwa durch ihre Unverzichtbarkeit vor Ort in fast allen gewerblichen Berufen, aber auch in medizinisch-pflegerischen und zahlreichen kaufmännischen Berufen. Immerhin galt der Lebensmittelhandel als systemrelevant. Mit Blick auf die Möglichkeiten digitaler Beschulung sind Berufsschüler:innen als junge Erwachsene nur teilweise durch ihre im Vergleich zu Kindern höhere Digitalkompetenz im Vorteil. Die Erfahrungen aus der Pandemie haben deutlich gemacht, dass gerade berufliche Bildungsgänge mit Schüler:innen, die weitere soziale Belastungen mitbringen (Geflüchtete, Übergangssystem bzw. Berufsvorbereitung mit unsicheren Zukunftsaussichten und andere), während der Schulschließungen oft verloren gegangen sind, sei es aus technischen oder räumlichen Gründen, wenn zu Hause kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht, sei es aus Gründen der Motivation zum Distanzlernen.
3
Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1917), 1–7. 4 Vgl. Martin Grichting, Corona hat die Menschheit gekränkt. Was sagen die Kirchen dazu? – Nichts, 2022, https://www.nzz.ch/feuilleton/corona-hat-die-menschheit-gekraenkt-die-kirche- sagt-dazu-nichts-ld.1663360?reduced=true (Zugriff am 20.10.2022).
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Aus religiöser Perspektive, darauf macht die Vulnerabilitätsforschung um Hildegund Keul5 aufmerksam, sollte Vulnerabilität nicht ausschließlich als Defizit und Schwäche wahrgenommen werden, die es zu vermeiden gilt. Denn wo aus Liebe gehandelt wird, machen sich Menschen selbst verwundbar. Solche anthropologischen und ethischen Kontextualisierungen, wie Keul sie vornimmt, haben Erschließungskraft und ermöglichen neue Deutungen. Ich will dennoch im Folgenden von einem vom Wortsinn herkommendem Verständnis von Vulnerabilität ausgehen.
2 Vulnerable Gruppen Mit Blick auf soziologische Daten zur Vulnerabilität ist die Frage zu stellen, welchen Anteil das berufliche Bildungswesen an den Bildungsangeboten für Menschen mit Behinderungen hat. Der dritte Teilhabebericht der Bundesregierung weist in diesem Zusammenhang einen Anteil von 1,7 Prozent (2017) von Menschen mit Behinderungen an der Gesamtgruppe von 1,3 Millionen Menschen in Ausbildungsverhältnissen auf.6 Die Zahl ist rückläufig. Allerdings übersteigt die Nachfrage das Angebot.7 Vollzeitschulische Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen werden in der Regel an den Berufsbildungswerken angeboten. Diese Werke sind regelmäßig in diakonischer oder anderer gemeinnütziger Trägerschaft. Im Großen und Ganzen wird man allerdings sagen können, dass das Merkmal Behinderung im beruflichen Bildungswesen keine auffallend andere Datenlage produziert als im allgemeinbildenden.8 Erinnert werden sollte aber daran, dass über 90 Prozent aller Behinderungen nicht angeboren sind, sondern durch Unfall oder Krankheit im Lebenslauf entstehen. Durch die Größe beruflicher Schulzentren bedingt bedeutet das, dass es kaum ein Schulzentrum gibt, an dem nicht Erzählungen von erworbenen Behinderungen von Schüler:innen geteilt werden können. 5 Hildegund Keul, Vulnerabilität und Vulneranz in Unsicherheit und Terrorangst – eine theologische Perspektive, in: Hildegund Keul/Thomas Müller (Hg.), Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020, 58–68. 6 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, 2021, https://www.bmas. de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a125-21-teilhabebericht.pdf ?__blob=publicationFile&v=6, 157 (Zugriff am 20.10.2022). 7 Vgl. ebd., 159. 8 Als Überblick siehe den Abriss bei Bernd Schröder, Die Schülerinnen und Schüler im BRU, in: Roland Biewald/Andreas Obermann/Bernd Schröder (Hg.), Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen. Ein Handbuch, Göttingen 2018, 134–163, hier 142 f.
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3 Braucht es mich noch? Digitalisierung und New Work Neben dieser soziologisch-synchronen Perspektive lohnt es sich, Dynamiken und zeitbedingte Entwicklungen und die mit ihnen gestellten Aufgaben zu benennen, um auch aus dieser Sicht Schüler:innen genauer wahrzunehmen. Ich greife aus diesen Dynamiken zwei auch mit Blick auf die Schüler:innen an berufsbildenden Schulen besonders wirkmächtige und miteinander zusammenhängende heraus. Es sind dies die Digitalisierung und die globalisierte Arbeitswelt. Beide Entwicklungen werden vermutlich längerfristig sein. Die dadurch eingetretenen Veränderungen sind so gravierend, dass sie schon seit Jahren auch ästhetisch aufgenommen werden in Utopien bzw. Dystopien. Der digitale Wandel der Arbeitswelt ist im Gang und unumkehrbar. Ob Digitalisierung Arbeitsplätze vernichtet – und damit Zukunftschancen von Berufsschüler:innen schmälert – oder ob vielmehr umgekehrt durch die Digitalisierung neue, attraktivere Berufsbilder entstehen, ist umstritten und vermutlich je nach Land und Betrachtungszeitraum nicht eindeutig beantwortbar. Wahrscheinlicher ist dagegen der strukturelle Wandel der Berufsbilder durch die Digitalisierung, und zwar hin zu höherqualifizierten Berufen mit größeren Anforderungen an Umgang mit Komplexität. Neue Phänomene wie Crowdsourcing entstehen: Beim Crowdsourcing werden digitale Arbeitsleistungen in kleine Pakete zerlegt, damit sie durch einen internationalen »Schwarm« freier Arbeitskräfte erledigt werden können. Zugleich entzieht sich diese Form von Arbeit der sozialen Verrechtlichung. Auch für zahlreiche weitere Beispiele des sogenannten »New Work«9 (Ma schinen nehmen den Menschen stumpfsinnige, gefährliche Arbeit ab; die Ge samtarbeitszeit wird reduziert und Ressourcen für sinnstiftendes soziales Tun werden frei, Hierarchien werden flacher, Arbeitsprozesse fluider, dadurch werden sowohl Produktivität als auch Zufriedenheit erhöht) gilt, dass sie viel öffentliche Beachtung erfahren, aber nur für bestimmte Gruppen bzw. Qualifikationsniveaus Realität werden können. Insofern trifft die Beschreibung zu: »Überall auf der Welt stehen derzeit Millionen von Menschen vor dem Nichts, weil sie infolge der Corona-Pandemie ihre Jobs verloren haben. Was 9 Alicia Lindhoff: So arbeiten wir in Zukunft. Flexibel, digital – und prekär?, 2020, https:// www.fr.de/zukunft/storys/megatrends/arbeit-zukunft-trend-digitalisierung-wandel-newwork-90032832.html (Zugriff am 20.10.2022).
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sich in der Krise einmal mehr gezeigt hat: Gerade jene Berufe, die sinnstiftend sein könnten, weil sie einen unverzichtbaren Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten, sind oft diejenigen, die in der Realität am Weitesten vom ›New Work‹-Ideal entfernt sind: Pflege, Lebensmittelproduktion, Sozialsektor. In vielen dieser Berufsfelder wären die Beschäftigten froh, wenn ebenjene Standards, von denen sich ›New Work‹ lösen will, für sie gelten würden, sei es die 40-Stunden-Woche oder eine Festanstellung.«10 Ob Berufsschüler:innen sich diese Herausforderungen schon in den beruflichen Schulen klarmachen und ob sie gar in der Schule Kompetenzen erwerben, die hilfreich sein können, kann man sich fragen.11 In jedem Fall ist damit ein Bildungsbedürfnis angezeigt. Zwar hat der Berufsschulreligionsunterricht mögliche Ansatzpunkte hierzu (Lebenswegreflexion als Methode, Persönlichkeitsstärkung als Ziel), doch die Bedeutung reicht weit über den BRU hinaus. Vulnerabel und überflüssig zu sein, ist eine Diagnose, die nach Heilung ruft: etwa durch die Stärkung von Resilienz, die Suche nach Sinnstiftung, aber auch durch sozialrechtliche und Gesetzesregelungen.12
4 Wo ist mein Platz? Risikobiografien in der Berufsschule Schaut man aus der Perspektive bestimmter Schularten auf die Schüler:innen im Horizont unseres Themas, dann verbindet man mit Vulnerabilität und Überflüssigsein unmittelbar die Schularten des sogenannten Übergangssystems. »Risikobiografien« sind all jene, die nicht unmittelbar in Ausbildungsberufe einmünden können, und denen man das »Lebensziel Hartz IV«13 nachsagt. Aus berufsbildungspolitischer Sicht erfüllen Schularten des Übergangssystems mehrere Funktionen, etwa die Förderung der Ausbildungsreife, die Ermöglichung
10 Ebd. 11 Unterrichtsmaterialien für den (B)RU dazu liegen vor: Joachim Ruopp/Hanne Schnabel-Henke, Arbeit und Beruf. Luthers Berufsverständnis und Industrie 4.0, in: Entwurf 2/47 (2016), 42–47. 12 Zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure auch im Umfeld von Kirche und Diakonie sind hier engagiert. Als Beispiel nenne ich das Netzwerk »Sozialer Zusammenhalt in digitaler Lebenswelt«: https://www.bagejsa.de/fileadmin/Fachverband/Digitalisierung/1_Netzwerk-Thesenlang.pdf (Zugriff am 20.10.2022). 13 Michael Meyer-Blanck/Andreas Obermann (Hg.), Lebensziel Hartz IV. Jugendliche ohne Ausbildungsberuf im Blickfeld bildungspolitischer und protestantischer Bildungsverantwortung, Münster 2013.
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des Nachholens oder Verbesserns eines Schulabschlusses oder die schulische Vermittlung erster beruflicher Qualifizierung.14 Durch die Migrationsbewegungen der vergangenen zehn Jahre, die verbunden sind mit dem Ausbau passgenauer Schularten, sind der (Erst-)Erwerb und die Verbesserung von Deutschkenntnissen zusätzliches Ziel. Obwohl man heute angesichts des massiven Fachkräftemangels vermuten könnte, dass die Bedeutung des Übergangssystems nachlässt, weil der Arbeitsmarkt agiler seine Bedürfnisse erfüllt, als es das öffentliche Schulwesen kann, ist dem nicht so. Die bereits angesprochene Komplexitätserhöhung von beruflichen Tätigkeiten, mangelnde Sprachkenntnisse sowie weitere strukturelle Hindernisse15 mit Blick auf die Arbeitsmarktintegration erzeugen Probleme, die man euphemistisch auch als »Passungsprobleme« bezeichnen könnte und die jedenfalls berufsschulische Übergangsschularten nicht aussterben lassen. Anerkennung durch einen Beruf, Erfolgserfahrungen und soziale Teilhabe, all das sind prekäre Güter im Übergangssystem. Kein Wunder, dass berufliche Schulen oft ihre engagiertesten Pädagog:innen mit diesen Schularten betrauen. Fragt man danach, wie es besser gehen könnte, muss man zuerst bedenken, was schlechter wäre: nämlich kein Übergangssystem zu haben. Deutschland hat die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa.16 Daher ist es zutreffend, wenn Meyer-Blanck konstatiert: »Die schlechtere Alternative ist eine frühzeitige negative Rollenfindung als arbeitslos, ›unemployed‹, gesellschaftlich nicht verwendungsfähig. Das Mindeste, was das Übergangssystem ermöglicht, ist es, diese Selbstzuschreibung so lange wie möglich zu verhindern. Ein ›Unentschieden‹ ist alle Mal besser als eine Niederlage.«17 Eine Verbesserung des Übergangssystems liegt in der individuellen Begleitung von Lernbiografien. Entsprechende Ansätze sind im Gang. Der Religions14 Vgl. Friederike Frieling/Joachim G. Ulrich, Das Übergangssystem von der Schule in den Beruf. Fakten und Tendenzen, in: Meyer-Blanck/Obermann, Lebensziel Hartz IV, 15–49. 15 Vgl. Zerrin Salikutluk/Jannes Jacobsen, Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten, 2021, https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/501977/arbeitsmarktintegration-vongefluechteten/#node-content-title-4 (Zugriff am 20.10.2022). 16 Vgl. Statista, Europäische Union: Jugendarbeitslosenquoten in den Mitgliedstaaten im März 2023, 2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosig�keit-in-europa/ (Zugriff am 14.05.2023). 17 Michael Meyer-Blanck, Übergänge begleiten: Bilden und Erziehen im Berufsschul-Religionsunterricht (BRU) des Übergangssystems, in: Meyer-Blanck/Obermann, Lebensziel Hartz IV, 103–114, 107.
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unterricht im Übergangssystem hat seine Aufgabe darin, die Selbstachtung der Schüler:innen zu stärken18 und dabei auch den dunklen Tönen, also Misslingenserfahrungen und enttäuschten Hoffnungen Raum zu geben, ohne diese schuldhaft zurechnen zu müssen. Mit Blick auf die Klassen mit Geflüchteten wird von den Religionslehrkräften (sofern in diesen Klassen Religionsunterricht eingerichtet wird!) häufig erwartet, sie mögen dort Kultur vermittelnd oder als Integrationslotsen tätig sein. Diese Erwartung kann der BRU aufnehmen und so gestalten, dass die in der Klasse vorhandenen (inter)religiösen Prägungen und Praxen religionssensibel aufgenommen und nicht abgeblendet werden. Die dadurch möglichen Erfahrungen von Akzeptanz und Anerkennung sind nicht zu unterschätzen.
5 Didaktische Konkretionen: Pflegeberufe An drei unterrichtlichen didaktischen Konkretionen möchte ich zeigen, wo das Markieren von Menschen als überflüssig bzw. die Wahrnehmung von Menschsein als vulnerabel schon immer eine wichtige Rolle im BRU gespielt hat: im Bereich der Pflegeberufe, bei der Frage der Bewertung menschlichen Lebens und beim Zusammenhang zwischen Identitätsbildung und Vulnerabilität. Einen großen Anteil beruflicher Bildung nehmen die Pflegeberufe ein. In Deutschland gibt es 1.266 Pflegeschulen.19 Diese Schulen hatten im Schuljahr 2021/22 über 100.000 Schüler:innen.20 Seit dem Jahr 2020 sind die Ausbildungsberufe Kinderkrankenpflege, Kranken- und Gesundheitspflege sowie Altenpflege unter dem Dach der generalistischen Pflege versammelt.21 18 Einschlägig: Andreas Obermann/Yvonne Kaiser, Du kannst das! Selbstachtung stärken – Kopiervorlagen für das Übergangssystem, Göttingen 2013. 19 Vgl. Destatis, Statistisches Bundesamt, Statistik nach der Pflegeberufe-Ausbildungsfinanzierungsverordnung – 2020, 2021, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Bildung-Forschung-Kultur/Berufliche-Bildung/Publikationen/Downloads-Berufliche-Bildung/pflegeberufe-ausbildungsfinanzierung-vo-5212401207005.html (Zugriff am 31.12.2022). 20 Vgl. Destatis, Statistisches Bundesamt, Schnellmeldungsergebnisse der Schulstatistik zu Schülerinnen und Schülern der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen – Vorläufige Ergebnisse Schuljahr 2021/2022, 2022, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/ Bildung-Forschung-Kultur/Schulen/Publikationen/Downloads-Schulen/schnellmeldungschueler-5211003228005.html (Zugriff am 31.12.2022). 21 Baden-Württemberg hat den Bundesrahmenlehrplan in einem Landeslehrplan konkretisiert und zugleich Fachlehrpläne für ein Fach Evangelische (bzw. Katholische) Religionslehre sowie Religiöse und ethische Kompetenzen herausgegeben. Land Baden-Württemberg, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL), Bildungspläne Baden-Württemberg, Berufsfachschule für Pflege, https://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/Berufsfachschule+fuer+Pflege (Zugriff am 07.01.2023).
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Der Begriff der Vulnerabilität wird in beiden Lehrplänen aufgenommen, im Gesamtlehrplan durch ein einschlägiges psychologisch-medizinisches Modell, in dem Vulnerabilität als eine individuell verschieden ausgeprägte Disposition begriffen wird, die das Entstehen von psychischer Krankheit begünstigt. Demgegenüber spielt der Religionslehrplan den Begriff der Vulnerabilität im Horizont anthropologischer Reflexion ein, sodass Vulnerabilität parallel steht zum Begriff des Lebens als Fragment bzw. des Umgangs mit Schuld22 – der Lehrplan benennt diese Themen in seiner rechten Spalte als exemplarische Fachbegriffe, sodass jedenfalls eine religiös-anthropologische Perspektive deutlich wird. Hier kann man exemplarisch ablesen, in welchem Verhältnis fachbezogene Bildung und der BRU zueinanderstehen können: Auch der BRU hat die berufliche Handlungsfähigkeit im Blick, und er kann pflegerische Fachkenntnisse aufnehmen, vertiefen und ergänzen. Er kann so helfen, präreflexive Bilder vom Menschsein, die bei allen Pflegegebenden vorhanden sind, zu versprachlichen und dem Lernprozess zugänglich zu machen. Dies kann zu einer gesellschaftlich wünschenswerten weiteren Humanisierung des Pflegeprozesses beitragen.
6 Was ist das Leben wert? Eine Erinnerung an den Unterricht in einer Maler- und Lackiererklasse kann ich nicht vergessen: Als ein Schüler von einem Arbeitsunfall erzählt, bei dem ein Kollege vom Gerüst gestürzt ist und leblos abtransportiert wurde, sagen andere: »Der wäre besser gleich gestorben.« Viel zu rasch fällen Menschen Urteile über Lebensqualität und den (Un-)Wert eines menschlichen Lebens. Unterrichtsstunden, die sich mit diesem Thema beschäftigen, werden lebendig und kontrovers. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Euthanasie im Nationalsozialismus – erinnert sei an Karikaturen, bei denen manipulativ die Kosten eines »Erbkranken« mit den Kosten für die Ernährung einer viel köpfigen Familie parallelisiert werden – ist religionsdidaktisch einschlägig und bietet ethische und kirchengeschichtsdidaktische Anknüpfungspunkte sowie Impulse zu sozialem Lernen, wenn man das Thema Behinderung einspielt. Zahlreiche medizinische Fragestellungen erzeugen durch die Dilemmata, die mit ihnen verbunden sind, Entscheidungssituationen, die auch dann akti22 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Landeslehrplan für die Berufsfachschule, Berufsfachschule für Pflege, Evangelische Religionslehre sowie Religiöse und ethische Kompetenzen, 2020, https://www.bildungsplaene-bw.de/site/bildungsplan/get/ documents_E-1296922152/lsbw/Bildungsplaene-BERS/MediaCenter/bfs/RL-REKGenPflege_ev.pdf (Zugriff am 31.12.2022), 31 u. 35.
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vierend sind, wenn der Grad der Schülerorientierung geringer ist. Das gilt etwa für das Thema der In-vitro-Fertilisation und der damit verbundenen Frage des Umgangs mit »überflüssigen« Embryonen. Schließlich ist die Nichtigerklärung des § 217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2020, mit dem eine umfängliche, auch innerkirchliche Debatte zum assistierten Suizid ausgelöst wurde, ein Unterrichtsgegenstand, bei dem die Frage nach dem »überflüssigen« Leben provokativ geweckt werden kann23. Dabei ist didaktisch fruchtbar, dass der Begriff der Menschenwürde auslegungsbedürftig ist: Folgt aus ihr, dass menschliches Leben unter allen Umständen zu erhalten ist, oder vielmehr, dass es zur Würde des Menschen gehört, sich unerträglichen Zuständen entziehen zu können? Anspruchsvoll ist allerdings, das Argument menschlicher Autonomie abzuwägen mit der Sozialität des Menschen, weil Adoleszente entwicklungspsychologisch kaum bereit sind, Abstriche an Autonomiekonzepten zu machen.
7 Wie werde ich sein? Identitätsbildung und Vulnerabilität Weiter entfernt von der Frage nach Vulnerabilität und der Befindlichkeit des Überflüssigseins scheint die Frage nach der Identität zu sein. Ich setze voraus: Identitätsentwicklung ist stets fluide, unruhig und fragmentarisch. Zwar haben die Begriffe Vulnerabilität und Fragment unterschiedliche Bedeutungen in ihren jeweiligen Kontexten. Im Zusammenhang der Reflexion über Menschenbilder treffen sich beide Begriffe aber darin, dass sie unrealistische oder totalitäre Ganzheitsvorstellungen ablehnen. Bei der Entwicklung einer eigenen Identität erleben Schüler:innen nicht nur gleichberechtigte Rollenvorbilder, aus denen man wählen oder an denen man sich orientieren könnte. Vielmehr erfahren junge Menschen oft autoritäre Erwartungshaltungen, sei es durch den Habitus, den Berufe vermitteln können, sei es durch mediale Vorbilder von Schönheit und Perfektion, oder sei es durch familiär und traditionell vermittelte, auch religiös fundierte Verhaltensmuster. Wo sich solche Ansprüche von außen autoritär darstellen, kann Identitätsbildung nicht in einem Raum der Freiheit stattfinden. Im schlimmsten Fall herrscht Gewalt z. B. gegenüber Menschen, die nicht einer heterosexuellen Normativität entsprechen. Ausdrückliche verbale oder körperliche Gewalt gegenüber homosexuellen Menschen, transgeschlechtlichen Menschen oder nichtbinären Geschlechtsidentitäten ist nicht nur ein Phäno23 Vgl. Fragen am Ende des Lebens, Entwurf, 2/53 (2022).
Der vulnerable Mensch – der überflüssige Mensch
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men repressiv-diktatorischer Gesellschaften, sondern auch Bestandteil westlicher Kulturen. Dagegen steht allerdings die innere Vielfalt christlich begründbarer Lebensformen und Menschenbilder sowie die christliche Haltung der Dankbarkeit und Achtung gegenüber dem gegebenen Leben. Setzt man nun Vulnerabilität mit der Identitätsbildung in Beziehung, dann ist Vulnerabilität geradezu eine Auszeichnung des Humanum.24 Schließlich ist der Verweis auf die Fragmentarität der Identitätsbildung auch ein Ausdruck dafür, dass Identitäten ein Versprechen von Sicherheit und Orientierung für die Spanne eines Menschenlebens nicht einlösen können. Die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Frage »Wer bin ich?« entspricht vielmehr der Konstitution des Menschen als sich selbst fraglichem, aber Gott entsprechendem Wesen. In einer im Erscheinen begriffenen unterrichtspraktischen Veröffentlichung25 mit dem quasi-biblischen Titel »Und siehe, es war schön bunt!« nehmen die Autor:innen dieses Anliegen auf. In den einzelnen Unterrichtsmodulen geht es um Geschlechterstereotype, die Zumutung perfekter Körper, um die Frage nach sexueller Identität, nach familiären Lebensentwürfen und das Versprechen von Identitätsbildung durch Arbeit. Allen Entwürfen ist gemeinsam, dass sie biblische Texte und Motive als Medien einspielen und sie reflexiv, gegebenenfalls auch ästhetisch-kreativ bearbeiten. Biblische Texte fungieren als Anstoß zur Urteilsbildung und als Potenzial zu einer veränderten Wirklichkeitssicht, nicht als zu vermittelnder Lerninhalt. Jugendliche und junge Erwachsene stellen ihre Vorstellungen von Identität dar, indem sie Identifikationsangebote wahrnehmen und beurteilen, sie stellen ebensolche Angebote aus ihrer eigenen Biografie dar, und sie konfrontieren einander mit ihren divergierenden Sichten. Im besten Fall brechen Festlegungen auf und Nachdenkprozesse münden in Identitätsfindung: »Ja, so möchte ich sein.« Das Modul 3 »›Was, wenn ich beides bin?‹ – Geschlechtsidentität und Religion« wählt mehrere biografische Narrative, um Nähe zu erzeugen und zu Per spektivwechseln einzuladen. Die Zumutung an Fremdheit etwa beim Thema der Intersexualität ist größer, wenn ein biologisch-medizinischer Zugang gewählt wird, als eine autobiografische Erzählung. Ihr:e Autor:in wird im Verlauf der 24 Keul argumentiert gegen die »Utopie der Unverwundbarkeit«, vgl. Hildegund Keul, Verwundbarkeit – eine unerhörte Macht. Zur Neupositionierung einer Theologie, die bei der Menschwerdung ansetzt, in: Sonja Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg 2015, 261–279, hier 275. 25 Christina Krause/Christine Lanz/Alexandra Wörn/Harald Becker/Joachim Ruopp, »Und siehe, es war schön bunt!«. Menschsein und Identität. Bausteine für den Religionsunterricht an Beruflichen Schulen (RU praktisch – Berufliche Schulen), Göttingen 2023.
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Erarbeitung zum vulnerablen Gegenüber. Oft wird in den Unterrichtsmodulen eine interreligiöse Perspektive aufgesucht, meist die des Islam, etwa bei der ästhetisch-reflexiven Bearbeitung von Marienbildern oder bei der Frage des Zusammenhangs von Körpererfahrung und Kopftuch. Dieses Vorgehen ist nicht nur einer zukunftsfähigen Religionspädagogik geschuldet, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass in zahlreichen Lernorten des beruflichen Schulwesens muslimische Schüler:innen schon lange und selbstverständlich Teilnehmende im konfessionellen Religionsunterricht sind. Der Berufsschulreligionsunterricht und aktuelle anthropologische Konzeptbegriffe wie Vulnerabilität lassen sich leicht aufeinander beziehen. Sie haben Erschließungskraft und ermöglichen die Konzeption evangelisch profilierten Unterrichts, der an menschlichen Grund- und Entscheidungssituationen ansetzt. Das ist gut so, denn eines hat der BRU weiter nötig: die Sorge für gute Unterrichtsqualität26. Zur Akzeptanz des BRU tragen zuerst seine Lehrer:innen als Personen bei, aber auch durch die Validität ihres Unterrichts und das berufsorientierte Profil des Faches. Es ist daher Aufgabe religionspädagogischer Forschung und Theoriebildung, den BRU als schülerorientiert, berufliche Kompetenzen fördernd und religiös profiliert zugleich zu entwickeln. Joachim Ruopp ist Schuldekan der Evangelischen Landeskirche im Kirchenbezirk Tübingen.
26 Vgl. Friedrich Schweitzer/Joachim Ruopp, Der BRU der Zukunft und die Zukunft des BRU, in: Albert Biesinger/Matthias Gronover/Michael Meyer-Blanck/Andreas Obermann/Joachim Ruopp/Friedrich Schweitzer (Hg.), Gott – Bildung – Arbeit, Münster 2013, 33–46, und Friedrich Schweitzer, Religion noch besser unterrichten: Qualität und Qualitätsentwicklung im RU, Göttingen 2020.
Anthropologie mit Kindern zum Thema machen? Gemeindepädagogische Impulse Caroline Teschmer
1 Anthropologie als Frage im Kontext der Gemeindepädagogik 1.1 Zur Frage nach dem Menschen
»Was ist der Mensch?«, fragt sich der Mensch selbst und begibt sich auf die Suche nach einem Bild vom Menschen, welches das Wesen des Menschen zutreffend beschreibt und auch eine konstruktive Orientierung darzustellen vermag. Doch ein in allen wissenschaftlichen Disziplinen universal verbindliches Menschenbild liegt nicht vor, sodass die Frage nach dem Menschen von der jeweiligen Akzentuierung abhängig und demnach »klassisch überholt oder eminent klärungsbedürftig«1 ist. Gerade weil der Mensch nie nur das Objekt seines Fragens und Reflektierens ist, sondern vorrangig stets das fragende Subjekt bleibt und sich der Mensch darin nie einholen kann, bleiben Menschenbilder wissenschaftstheoretisch gesprochen stets zirkulär. Diese Menschenbilder bilden u. a. die Voraussetzung religionspädagogischer und gemeindepädagogischer Praxis. Und es braucht sie zur »konstruktiven Orientierung« – aber ein einheitliches Menschenbild gibt es nicht. Woran also orientieren? Einen Zugang bieten eine anthropologisch ausgerichtete Religionspädagogik und Gemeindepädagogik. Denn diese können analytisch einen Blick auf den individuellen Menschen werfen und das Menschsein fragend und suchend bearbeiten. Dieser analytische Blick auf den Menschen erfolgt nach Monika Fuchs aus drei unterschiedlichen und zugleich überschneidenden Blickwinkeln: 1. Was ist der Mensch? (definitorische Aspekte); 2. Was macht Menschsein aus? (bestimmende Kriterien); 3. Was macht menschliches Leben zu einem guten Leben? (ethisch reflektierende Verknüpfung deskriptiver und normativer Überlegungen). Die Besonderheit der drei Blickwinkel liegt darin, dass der Mensch nicht 1 Thomas Schlag/Henrik Simojoki, Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, in: Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern, Gütersloh 2014, 16–31, hier 16.
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primär in der Außenperspektive der Verobjektivierung bleibt, sondern sich selbst reflektiert und so zum Forschungsgegenstand wird.2 Lange Zeit fand eine Diskussion über den Menschen im Überschneidungsfeld der pädagogischen und theologischen Anthropologie statt. Die Frage der pädagogischen Anthropologie geht dabei auf den bildsamen (homo educandus) zurück, jene der theologischen Anthropologie auf den gottbezogenen (homo dei) Menschen.3 Mittlerweile kann ein interdisziplinärer Diskurs verzeichnet werden. Und nicht nur das: Pädagogische wie theologische Anthropologie laufen in der Disziplin der Religions- und Gemeindepädagogik qua Disziplin zusammen. Anthropologische Überlegungen zielen dabei auf die lebensweltliche Selbstreflexion des Menschen und sind immer in gesellschaftliche Rahmenbedingungen und kulturelle Kontexte eingebettet. Gegenwärtig sind diese u. a. von Prozessen der Individualisierung, Virtualisierung, Ökonomisierung und Pluralisierung gekennzeichnet.4 1.2 »Ein Mensch ist jemand, der lebt« – mit Kindern über den Menschen nachdenken
»Was ist der Mensch?«, fragt die Pfarrerin im Rahmen der Themenreihe »Schöpfung«5 die anwesenden Kinder im Kindergottesdienst. Charlotte (4 Jahre) präsentiert prompt ihre Antwortmöglichkeit: »Also, ein Mensch ist jemand, der zwei Beine hat, zwei Arme, zwei Hände, zwei Füße, einen Bauch, […] einen Kopf, einen Mund, Zähne, Nase, Haare, Augen und das wars. Und ein Mensch ist jemand, der lebt.« 2 Vgl. Monika Fuchs, Mensch, in: Martin Rothgangel/Henrik Simojoki/Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Theologische Schlüsselbegriffe. Subjektorientiert – biblisch – systematisch – didaktisch, Göttingen 2019, 294–305, hier 294; vgl. Bernhard Grümme, Art. Anthropologie, in: WiReLex (2016), https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100185/ (Zugriff am 22.12.2022). 3 Vgl. Hans Schilling, Grundlagen der Religionspädagogik. Zum Verhältnis von Theologie und Erziehungswissenschaft, Düsseldorf 1970, 316. 4 Vgl. ausführlich Caroline Teschmer, Perspektiven einer körpersensiblen Religionspädagogik des Jugendalters, Stuttgart 2023. 5 Das folgende Praxisbeispiel entstand in einer evangelischen Kirchengemeinde im Umfeld von Trier im Rahmen des Kindergottesdienstes. Die Kinder im Alter von vier bis zehn Jahren kennen sich gut und besuchen den Kindergottesdienst regelmäßig und sind bereits für theologische Gespräche sensibilisiert. In den Wochen davor haben sich die Kinder im Kindergottesdienst aktiv mit der Schöpfungsgeschichte beschäftigt. Anlehnend an den vergangenen Sonntag stellt die Pfarrerin den Menschen in den Fokus und formuliert die große anthropologische Frage »Was ist der Mensch?«, nachdem die Kinder die Schöpfungsgeschichte in Grundzügen nacherzählt haben. Die Aussagen der Kinder wurden audiografisch aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Das Datenmaterial wurde fragmentarisch ausgewählt.
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Charlotte beschreibt ihren sichtbaren Körper durch ihre Selbstwahrnehmung. Sie fokussiert den im Spiegel sichtbaren und für sie ganzheitlichen Körper und schreibt diesem eine Lebendigkeit zu, sodass eine Differenzierung zur Vergänglichkeit des Menschen angedeutet wird. Charlotte nimmt zunächst einmal sich selbst als Mensch wahr und orientiert sich an sich selbst. Während der erste Teil ihrer Antwort sehr körperorientiert ist – und man sich fragen müsste, ob jemand mit einem Arm oder einem Beim nun kein Mensch sei –, ist der zweite Satz »Und ein Mensch ist jemand, der lebt« in höchstem Maße inklusiv. Zwischen Maria (6 Jahre) und der Pfarrerin entstand folgendes Gespräch: Maria: Der Mensch ist kein Tier, aber auch keine Pflanze, sondern eine Mischung von beiden. Pfarrerin: Was macht denn den Menschen so besonders? Maria: Dass er über die Natur ein bisschen Gewalt machen kann und er muss halt auch auf die Natur aufpassen. Weil die Tiere und die Pflanzen, die ernähren sich irgendwie ein bisschen gegenseitig, und wenn der Mensch dann eingreift, dann ist das nicht mehr so. Pfarrerin: Und was muss der Mensch machen? Maria: Äh, auf die Natur aufpassen. Pfarrerin: Und wer sagt, dass der Mensch das muss? Maria: Gott. Pfarrerin: Und was hat Gott mit dem Menschen zu tun? Maria: Gott hat dem Menschen die Macht gegeben, über die Natur zu bestimmen. Pfarrerin: Und macht der Mensch das gut? Maria: Nein. Nicht immer. Pfarrerin: Warum macht der Mensch das nicht gut? Maria: Weil wir, wir greifen in die Natur ein. Weil er möchte auch was zu essen und er kann nicht, nicht Tiere essen und er hört nicht auf Gott, weil er braucht Platz für die Tiere, die ihm Milch geben, und deshalb machen wir ganz viele Wälder kaputt. Pfarrerin: Was will Gott? Maria: Dass die Menschen auf die Natur aufpassen und die nicht kaputtmachen. Aber wir machen das Gegenteil. Pfarrerin: Warum hat denn Gott den Menschen überhaupt erschaffen, wenn der Mensch alles falsch macht? Maria: Weil früher waren die Menschen, haben die Menschen auch noch auf Gott gehört, aber jetzt eben nicht mehr.
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Maria betrachtet den Menschen nicht nur eindimensional, sondern fokussiert ihn mehrdimensional. Sie beschreibt einen achtsamen und bewahrenden Umgang mit der Schöpfung, sodass ein Perspektivwechsel sichtbar wird. Das Mädchen bezieht aktuelle gesellschaftspolitische Gedanken mit ein. Explizit werden die Themen Tier-, Pflanzen und Umweltethik genannt, die gegenwärtig von der politischen Agenda nicht mehr wegzudenken sind und somit auch aktuelle Themen des kindlichen Aufwachsens repräsentieren. Maria vollzieht eine Selbstreflexion eingebettet in ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und ihrem kulturellen Kontext. In diesem Zusammenhang kann an eine Didaktik religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung6 angeknüpft werden. In gemeindepädagogischen Kontexten können bereits Kinder an den Transformationsprozessen für eine nachhaltigen Gesellschaft mitwirken, sodass ein umweltethisches Lernen problem-, visions- und partizipationsorientiert ausgerichtet ist.7 Dabei wird jedem Menschen – in der Unabdingbarkeit der u. a. in der Gottesebenbildlichkeit begründeten Würde – die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens zugesprochen. Denn Subjektwerdung im Rahmen der gemeindepädagogischen Arbeit heißt auch, Erfahrungen der Kinder wahrzunehmen und in ihnen aufbrechende Existenz-, Wert- und Sinnfragen zuzulassen. Auf die große Frage der Pfarrerin haben die Kinder spontan eine Antwort. So grenzt Maria das Tier vom Menschen ab und zeigt eine Begrenztheit auf. Durch ihre Aussage zeigt sich, dass unabhängig der strittigen Frage, ob das Tier wie der Mensch als moralisches Verantwortungssubjekt anzusehen ist, der Mensch biologisch betrachtet ein Tier unter Tieren, nach eigenem Verständnis mit Vernunft begabt, somit mit notwendiger Voraussetzung von Moral vom Tier zu unterscheiden ist. Tiere gehören zur Umwelt des Menschen und werden in kultivierter Form in die menschliche Lebenswelt miteinbezogen. Ohne Erwartungen von Gegenseitigkeit kooperieren Menschen und Tiere und teilen sich vorhandene Ressourcen.8 Maria beschreibt eine deutende Wahrnehmung und Reflexion einer Mitgeschöpflichkeit in Vielfalt und stellt Bezüge zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen her, sodass in lebenspraktischer, aber auch in 6 Zur Bildung für nachhaltige Entwicklung siehe ausführlich: Katrin Bederna, Every Day for Future. Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern 22020; Claudia Gärtner, Klima, Corona und das Christentum. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt, Bielefeld 2020. 7 Vgl. Katrin Bederna, Didaktik religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 325–331, hier 325. 8 Vgl. Caroline Teschmer, Kreatürliches Mitgefühl. Tiere im Religionsunterricht als Beitrag zur Werte-Bildung, in: Anne Käfer/Henning Theißen (Hg.), Zu verantwortlichen Händen. Unmündigkeit als Herausforderung für Gerechtigkeitsethik, Leipzig 2018, 127–143, hier 136 ff.
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ethischer Hinsicht eine Kommunikations-, Urteils- und Handlungsfähigkeit in Ansätzen sichtbar wird und sich Akzentuierungen eines Verantwortungsdenkens herauskristallisieren.9 Bei Maria ist auffällig, dass sie immer dann von »wir« spricht und damit die definitorische Ebene verlässt, wenn es darum geht, was der Mensch falsch macht. Die Pfarrerin spricht geschickt mit Maria. Jedoch perpetuiert sie beispielsweise mit der Frage »Und was muss der Mensch machen?« inhärente Setzungen, obwohl das Mädchen bereits gesagt hatte, »er muss halt auf die Natur aufpassen«. Die Pfarrerin bringt das Kind dazu, ihren Gedanken zu entfalten. Doch klingt es eher nach einer Bestätigung dessen, dass der Mensch etwas muss. So fragt die Pfarrerin nach: »Und wer sagt, dass der Mensch das muss?« Damit stellt sie die implizite Anfrage reflexiv infrage und fokussiert das Theologische. Im Vergleich zu den ersten Zeilen wird nicht mehr reflexiv gearbeitet, vielmehr kommt es zu einer Entfaltung, als wäre das, was Maria sagt, sehr klar. Die von der Pfarrerin gestellte Frage »Was will Gott?« ist durchaus gewagt, da die Entfaltung des Kindes inhärent bestärkt wird. Sowohl bei Charlotte als auch bei Maria werden anthropologische Grundthemen der theologischen Rede vom Menschen sichtbar. Fuchs10 markiert in diesem Zusammenhang drei Verhältnisbestimmungen, die sich aus biblischtheologischen sowie systematisch-theologischen Befunden ableiten lassen. Sie zeigen dabei sowohl das Sein als auch ein verantwortliches Handeln des Menschen auf: 1. Geschöpflichkeit und Kreativität: Der Mensch ist Geschöpf und zugleich gestaltend. 2. Gottesebenbildlichkeit und Relationalität: Aufgrund dessen, dass der trinitarische Gott in sich Beziehung ist, ist der Mensch auf Beziehung angewiesen. Diese entfaltet sich als eine Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Umwelt und zu sich selbst. 3. Vergänglichkeit und Fragmentarität: Der Mensch ist ein an Zeit gebundenes, endliches Wesen. Sein und Dasein bleiben immer fragmentarisch. Gemein ist den Verhältnisbestimmungen, dass sie auf den Menschen in seiner Gottesebenbildlichkeit, seiner rationalen Verfasstheit sowie auf seine leibseelische Einheit als Person zielen. Darüber hinaus lässt sich ein erkenntnistheoretischer Zugang der Selbstwahrnehmung und -deutung ausmachen, sodass sich der Mensch als Individuum und Gattungswesen erkennt. Charlotte stellt bei Ihrer Beschreibung die Selbstwahrnehmung in den Fokus. Beide Mädchen nehmen eine definitorische Haltung ein, beschreiben nicht nur, 9 Vgl. Manfred L. Pirner, Schöpfung ohne Tiere? Eine theologisch-religionspädagogische Spurensuche, in: entwurf 3 (2012), 10–13, hier 12. 10 Vgl. Fuchs, Mensch, 297 f.
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was der Mensch ist, sondern geben auch durch bestimmende Kriterien bekannt, was das Menschsein auszeichnet. Indem Maria den Menschen zugleich als geschaffen und gestaltend betrachtet, zeigt sie eine ethisch reflektierende Verknüpfung auf. Hier kann auf den dreifachen Blickwinkel von Fuchs rekurriert werden. Maria geht explizit von einer Gott-Mensch-Beziehung aus. Gott allein schreibt sie die Schöpfungsinitiative zu, demgegenüber dem Menschen die Aufgabe der Bewahrung der Schöpfung. Bei Maria klingt – entfaltet man ihren Gedankengang etwas weiter – die Fragmentarität und auch die Vergänglichkeit des Menschen an, indem der Mensch in die Schöpfung eingreift und somit nicht nur die Natur, sondern gleichsam sich selbst zerstört. Maria zeigt in der Gesamtdarstellung einen Anthropozentrismus auf, der sowohl den Gedanken der Entstehung (creatio prima) als auch der Erhaltung (creatio continua) beinhaltet.
2 Gemeindepädagogische Perspektiven 2.1 Anthropologie im Kindergottesdienst zum Thema machen?
Der Kindergottesdienst stellt im Rahmen der Gemeinde einen Ort des Aufwachsens dar, wobei er sich am kindlichen Erleben und an den Bedürfnissen der Kinder orientiert. Aus religionspädagogischer Perspektive geht es um ein Vertrautwerden mit christlichen Themen. Über einen elementaren Zugang erhalten Kinder neben dem Vertrautwerden mit der Gemeinde die Möglichkeit, sich u. a. mit biblischen Erzählungen, eigenen theologischen und religiösen Gedankenkonstrukten und Antwortmöglichkeiten auf die großen Fragen des Lebens zu beschäftigen.11 Gegenwärtig liegt kein eigenständiger religionspädagogischer Diskurs über Kindergottesdienste vor, sodass die Frage nach religiösen Bildungsprozessen im Kindergottesdienst in den Vordergrund rückt.12 2018 erschien ein erster Bildungsbericht, der gottesdienstliche Angebote mit Kindern empirisch untersuchte und von einem weiten Bildungsbegriff ausgeht und den Menschen in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang wird die Teilnahme am Gottesdienst als Bildungsereignis
11 Vgl. Joachim Kunstmann, Religionspädagogik, Tübingen 32021, 179. 12 Vgl. Bernd Schröder, Gottesdienstliche Angebote mit Kindern – religionspädagogische Beobachtungen, Impulse, Baustellen, in: Kristi Greiner/Bernd Schröder (Hg.), Kirche mit Kindern. Empirische Befunde – Konzepte – Desiderate. Münster 2020, 41–60, hier 42.
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verstanden, das durch die aktive Einbeziehung der Kinder affektive Prozesse hervorruft.13 Bernd Schröder folgt dem weiten Bildungsbegriff und rekurriert auf Bildung als ein ganzheitliches, subjektorientiertes Lernen.14 Britta Baumert hebt aufbauend auf Schröder hervor, dass die Kinder aktiv unter Einbezug der Lebenswelt in den Gottesdienst integriert werden sollten.15 Damit qualifiziert sich der Kindergottesdienst als Ort für die Thematisierung von Anthropologie in einem christlichen Kontext, wobei es Platz für Fragen nach dem Menschen bietet. Somit rückt der Mensch mit seinen Dimensionen, die zum Menschsein gehören, in den Fokus. Es geht folglich darum, strukturelle anthropologische Dimensionen zu rekonstruieren, die als Bedingung und Möglichkeit des Menschen verstanden werden können. Wie sehr die aufgezeigten Fragen von Fuchs bereits den gedanklichen Horizont der Kinder ausmachen, zeigen die Aussagen von Charlotte und Maria. Mit dem Programm der Kindertheologie werden die Perspektiven der Kinder sichtbar. Eine große Chance gemeindepädagogischer Arbeit liegt Michael Domsgen und Christian Mulia folgend in der »unmittelbaren Koppelung von Erleben und Erfahren mit Deuten und Verstehen«16. 2.2 Theologisieren mit Kindern im gemeindepädagogischen Kontext
In den zu Beginn dargelegten Kinderaussagen werden individuelle Anknüpfungspunkte und Ressourcen für ein subjektives gedankliches Experimentieren sichtbar. Die exemplarischen Aussagen der Kinder zeigen zum einen ein äußerliches Bild des Menschen und zum anderen ein ethisch-theologisches. Das Theologisieren mit Kindern im Kontext der Kirche stellt eine Form der gemeindepädagogischen Arbeit dar, bei der explizit von den kreativen Potenzialen der Subjekte ausgegangen wird. Religionspädagogisch wie auch gemeindepädagogisch wird damit eine dreifache Hinwendung zum Subjekt impliziert, indem Kinder als Subjekte ihres Lernens, ihrer Religion und von Theologie wahrgenommen werden. Kinder stellen substanzielle Fragen, die sich durch ihre eigene Aneignung an den großen Fragen des Lebens und durch Suchbe13 Vgl. Comenius-Institut (Hg.), Gottesdienstliche Angebote mit Kindern. Empirische Befunde und Perspektiven, Münster 2018, 5 f. 14 Vgl. Schröder, Gottesdienstliche Angebote, 48. 15 Vgl. Britta Baumert, »Lasst die Kinder zu mir kommen!« (Mk 10,14) – Kindergottesdienste aus religionspädagogischer Perspektive, in: Anzeiger für die Seelsorge 10 (2022), 21–25, hier 22. 16 Michael Domsgen/Christian Mulia, Bildung, Erziehung und Sozialisation im Lebenslauf. Generationsverbindendes und lebenslanges Lernen als gemeindepädagogische Herausforderung, in: Peter Bubmann/Hildrun Keßler/Christian Mulia/Dirk Oesselmann/Nicole Piroth/Martin Steinhäuser (Hg.), Gemeindepädagogik, Berlin/Boston 22019, 149–173, hier 156.
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wegungen charakterisieren, sodass in einem weiten Horizont von einer theologischen Praxis im Sinn der Beschäftigung mit Lebens-, Glaubens- und Sinnfragen gesprochen werden kann.17 Dabei vertritt die Kindertheologie einen weiten Theologiebegriff, der nach Friedrich Schweitzer18 dreifach dimensioniert ist: 1. als Theologie von Kindern – als eigene theologische Reflexion der Kinder; 2. Theologie mit Kindern – als religionspädagogische Praxis gemeinsam mit Kindern und 3. Theologie für Kinder – als nichtdeduktiv verstandene Aufklärung durch Theologie. Im Rahmen des Kindergottesdienstes kann den Kindern für ihre Reflexionsfähigkeit und Deutungskompetenz Raum gegeben werden, sodass die Ermöglichung von Antworten gewährleistet wird.19 Kindertheologie nimmt die Herausforderung auf, religiöse Bildung in altersgerechter Weise so zu konzipieren, dass sowohl die lebensweltlichen Erfahrungen und Fragen wie auch das Potenzial von Kindern, »Theologie zu treiben«, anerkannt und als unverzichtbare Elemente in den Kindergottesdienst integriert werden. Durch die Verbindung von lebensweltlichen und theologischen Perspektiven soll in kirchlichen Bildungsprozessen eine verkündigungsorientierende Belehrungspraxis vermieden werden. Im Rahmen des Ansatzes wird »Theologie« als ein von alltäglichen Erfahrungen durch die Reflexions- und Konstruktionsleistungen der Kinder profilierte Frage- und Suchbewegung nach der Relevanz der Rede von Gott verstanden. Die dabei stark gemachte Kommunikation der Theologieproduktivität umfasst die individuelle Reflexions- und Artikulationspraxis von Kindern (Theologie von), den Dialog zwischen Kindern und Pfarrer:innen (Theologie mit) sowie die professionelle Begleitung der Pfarrer:innen (Theologie für).20 Durch das Theologisieren kommt es zu einer Förderung der religiösen Bildung. Dies geschieht zum einen auf der kognitiven Ebene durch die Ordnung der religiösen Vorstellung, zum anderen auf der emotionalen Ebene durch
17 Vgl. Bert Roebben/Thomas Schlag, Jugendtheologie, Basisannahmen und Konkretisierungsmöglichkeiten für die kirchliche Jugendarbeit, in: Angela Kaupp/Patrik C. Höring (Hg.), Handbuch kirchliche Jugendarbeit, Freiburg i. B. 2019, 444–459, hier 446 f. 18 Vgl. Schweitzer, Friedrich, Was ist und wozu Kindertheologie?, in: Anton A. Bucher/Gerhard Büttner/Petra Freudenberger-Lötz/Martin Schreiner (Hg.), »Im Himmelreich ist keiner sauer«. Kinder als Exegeten (JaBuKi 2), Stuttgart 2003, 9–18, hier 10. 19 Vgl. Elisabeth Naurath, Subjektorientierung und Pluralitätsfähigkeit. Evangelisches Bildungsverständnis heute, in: Bernd Oberdorfer/Eva Matthes (Hg.), Menschenbilder und Lebenswirklichkeiten (Reformation heute 5), Leipzig 2019, 171–185, hier 178. 20 Vgl. Thomas Schlag, Kinder- und Jugendtheologie, in: Ulrich Kropač/Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 232–238, hier 232.
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die Begegnung mit Antwortmöglichkeiten auf die existenziellen Fragen.21 Die anthropologische Kerndimension der individuellen Suche nach Antwortmöglichkeiten, eigene Annäherungen an die großen Fragen des Lebens sind durch Suchbewegungen charakterisiert, die in einem weiten Sinn als theologische Praxis ganz im Sinn einer Beschäftigung mit Gottes- und Sinnfragen betrachtet werden können.22 Deutlich wird, dass der Ansatz der Kindertheologie Impulse einer dezidierten Subjektorientierung verschärft.23 Betont wird dabei vor allem das Recht des Kindes auf Religion und ein eigenständiges theologisches Denken, das zu einem weiten Bildungsbegriff im gemeindepädagogischen Handlungsfeld beiträgt. Kinder leben in ihrem Alltag stets mit der Herausforderung, zwischen Fantasie und Realität zu unterscheiden. Die typischen Gefühle von einem Verbundensein mit der Natur (z. B. Pflanzen, Tiere), Bezugspersonen, aber auch mit himmlischen Wesen sind Ausdruck einer frühen kindlichen Religiosität, der man sich auch mit dem Begriff der Spiritualität nähern kann.24 Religion und Religiosität stellen somit einen konstitutiven Teil des Menschseins dar. Es geht also explizit um elementare Orientierungsbedürfnisse des eigenen Lebens, eine Wahrnehmung, eine Empfindung, einen Ausdruck sowie eine Gestaltung von Wirklichkeit, aber auch um ein »Erahnen von Möglichkeiten, die unsere Erfahrungswelt übersteigen und so Raum geben für Sehnsucht, Hoffnung und Trost«25. Eine große Stärke der Kindertheologie im gemeinpädagogischen Kontext liegt in seiner theologischen und religionspädagogischen Bestimmtheit, indem die Konzentration auf dem Subjekt liegt und es zu einem gemeinsamen Nachdenken kommt. Die Kinder werden in Beziehung wahrgenommen und ihre 21 Vgl. Annike Reiß/Petra Freudenberger-Lötz, Didaktik des Theologisierens mit Kindern, in: Bernhard Grümme/Hartmut Lenhard/Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 133–145, hier 133 f. 22 Vgl. Roebben/Schlag, Jugendtheologie, 446 f. 23 Vgl. vor allem Bernhard Grümme, Kindertheologie. Modethema oder Bereicherung für die RP?, in: RelpB 57 (2006), 103–118, hier 105. 24 Vgl. Elisabeth Naurath, Kindliche religiöse Entwicklung, in: Katrin Bederna/Hildegard König (Hg.), Wohnt Gott in der Kita? Religionssensible Erziehung in Kindertageseinrichtungen. Berlin 2009, 39–49, hier 39; vgl. auch Martin Rothgangel/Sabine Hermission, Schöpfung, in: Martin Rothgangel/Henrik Simojoki/Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Theologische Schlüsselbegriffe. Subjektorientiert – biblisch – systematisch – didaktisch, Göttingen 2019, 368–378, hier 368. 25 Georg Langenhorst/Elisabeth Naurath, Zur Bedeutung (inter-)religiöser Bildung in pluralen Kontexten, in: Saskia Eisenhardt/Katrin S. Kürzinger/Elisabeth Naurath/Uta Pohl-Patalong (Hg.), Religion unterrichten in Vielfalt. Konfessionell – religiös – weltanschaulich, Göttingen 2019, 28–36, hier 30 f.
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Sichtweisen durch Interaktionen rückgekoppelt. Sie werden so als Mitkonstrukteur:innen in ihrem theologischen Denken, Fragen und Suchen berücksichtigt.26 Theologie wird von alltäglichen Erfahrungen hervorgebracht und durch die Reflexions- und Konstruktionsleistung der Kinder als profilierte Frage- und Suchbewegung verstanden.27
3 Anthropologische Themen mit Kindern zum Thema machen! Was im Titel noch als Frage formuliert ist, kann an dieser Stelle mit einem Ausrufezeichen versehen werden. Kinder sind in gemeindepädagogischen Kontexten sehr wohl in der Lage, anthropologische Fragen zu bearbeiten. Gerade die Thematisierung solcher Fragen im Kindergottesdienst ist um der Kinder und ihrer Selbstentfaltung willen nötig. Denn Religion ist eine menschliche Grundhaltung des Fragens nach sich selbst. Im Horizont des biografisch-lebenszyklischen und gesellschaftlichen Wandels wird so eine Vielfalt von Menschenbildern sichtbar, die deutlich macht, dass das Menschsein nicht statisch aufgefasst werden kann, sondern vielfältige Dimensionen des Menschseins aufgezeigt werden können. Normative Fragen des Verhältnisses von Mensch, Tier und Natur können dabei nicht ausgeblendet werden – wenngleich das Subjekt in den Vordergrund rückt und der Mensch in seinem Gottesbezug wahrgenommen wird. Die Heterogenität und Pluralität der Kinder im Kindergottesdienst als Signatur der Gegenwart möchte nicht ein Anderssein der Kinder konstruieren, sondern einen Dialog unter Gesprächspartner:innen mit verschiedenen religiösen und theologischen Hintergründen initiieren.28 Das Theologisieren mit seinem prozesshaften Charakter lebt von kontroversen Diskussionen und davon, dass unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen, für die der Kindergottesdienst einen geeigneten Raum darstellt. Die Verschiedenheit der Kinder kann produktiv genutzt werden und die unterschiedlichen Positionen werden gleichermaßen wertgeschätzt. Religiöse Bildung im gemeindepädagogischen Kon-
26 Vgl. Horst F. Rupp, Didaktik des Perspektivwechsels, Vorüberlegungen zu »Kindertheologie« und »Theologisieren mit Kindern«, in: Christenlehre Religionsunterricht Praxis 57 (2004), 17–21, hier 20; vgl. Naurath, Subjektorientierung, 9 f. 27 Vgl. Schlag, Kinder- und Jugendtheologie, 232. 28 Vgl. Katharina Kammeyer, Theologisieren mit Kindern, in: Eisenhardt u. a., Religion unterrichten in Vielfalt, 127–136, hier 132.
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text29 profitiert dabei von den Antwortmöglichkeiten der Kinder. Es kann ein Erkenntnisgewinn im Hinblick auf eine Gemeindepädagogik hervorgehoben werden, die den Anspruch auf Subjektorientierung erhebt, was erheblich und unbedingt wertzuschätzen ist. Dr. Caroline Teschmer ist Privatdozentin für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg.
29 Anthropologische Themen können innerhalb der gemeindepädagogischen Arbeit in unterschiedlichen Settings bearbeitet werden, z. B. im Rahmen von Schulgottesdiensten: Bilder von Menschen – Instagram yourself; in der Konfirmandenarbeit: Wer bin ich? Was kann ich? Wer will ich sein?; in der Erwachsenenbildung: Politische Dimensionen unserer Bilder vom Menschen? Was ist der Mensch?; in der Altenbildung: Vulnerabilität, Fragmentarität, intergenerationale Weitergabe, weisheitliche Perspektiven auf den Menschen.
Menschsein als Zuspruch und Anspruch – Anthropologie in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Eine kritische Analyse mit Blick auf die Sekundarstufe I Gabriele Otten
1 Lernausgangslage und Anliegen Was verbinden Schüler:innen am Ende der Sekundarstufe I mit dem Thema »Christliches Menschenbild«? Verschiedene Antworten1 überraschen und machen nachdenklich: Glaube an Gott, an Jesus und die Bibel, Gottebenbildlichkeit, Gleichheit aller Menschen, Leben in einer Beziehung zu Gott, Kirchgang zu Weihnachten und Ostern, Beichte, Firmung und Konfirmation, Sünde, Erlösung, Sexualfeindlichkeit und Homophobie, Leben nach den Zehn Geboten, Gebet vor dem Essen, Verzicht auf Alkohol und (manchmal auch) Fleisch, Sympathieträger, Hoffnung, soziale Verantwortung, perfekt sein, Hoffnung, in den Himmel zu kommen, fleißige Bibelleser:innen und »nett, aber langweilig sein«. Die meist holzschnittartigen, formelhaften, oft von oberflächlichem Wissen, das wenig korreliert erscheint, geprägten Antworten wirken nicht so, als trage theologische Anthropologie zur Deutung menschlicher Existenz bei, als werde der ihnen innewohnende Zuspruch und Anspruch deutlich. Sie werfen Fragen auf, so wenig verallgemeinerbar sie vielleicht auch sind: Welche Facetten theologischer Anthropologie spielen im Unterricht eine Rolle – und in welchen inhaltlichen Zusammenhängen werden sie wie thematisiert? Wird den Lernenden transparent (gemacht), was das Spezifikum der religionsunterrichtlichen Thematisierung anthropologisch-ethischer Inhalte ist und – im Hinblick auf andere gesellschaftswissenschaftliche Fächer – welche Sichtweisen auf den Menschen das spezifisch und unterscheidend Christliche ausmachen? Fließen aktuelle Fragestellungen (bspw. die Frage nach der Schöpfungsverantwortung und der oft damit einhergehenden Kritik am biblisch-christlich hergeleiteten Anthropozentrismus oder die Frage nach dem Spezifikum des Menschen angesichts der permanenten Weiterentwicklung im Bereich der Digitalisierung und 1 Diese Befragung erhebt nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Nachdem ich diesen Artikel übernommen hatte, habe ich Kolleg:innen an verschiedenen Schulformen in Westfalen, die an Gymnasien oder Gesamtschulen Evangelische oder Katholische Religionslehre unterrichten, gebeten, ihre Schüler:innen zu fragen und mir die (insgesamt circa 200) Antworten zu schicken.
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künstlichen Intelligenz) in Unterrichtsmaterialien ein? Und wird daran deutlich, dass Facetten biblisch-christlicher Anthropologie eine Relevanz für die Lebenswelt der Lernenden haben können, es sich also lohnt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen? Einige Vorbemerkungen seien gestattet: Nicht alle Aspekte des christlichen Menschenbildes konnten in ihrer Berücksichtigung in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien untersucht werden. Ich habe mich schwerpunktmäßig eher schöpfungstheologisch-alttestamentlich orientiert, gerade weil viele Unterrichtsmaterialien aufgrund der Schwerpunktsetzung in Lehrplänen darauf rekurrieren. Ausgehend von der Bestimmung des Menschen als Beziehungswesen wurden zudem beispielhaft Aspekte untersucht, die sich aus der zunehmenden Digitalisierung ergeben. Perspektiven verschiedener Religionen auf den Menschen wurden hier ausgeklammert. Bei Schulbüchern werden themenbezogen und exemplarisch Auszüge thematisiert; nicht alles, was zu den jeweiligen Aspekten passen könnte, wird jeweils angesprochen, um mehr und verschiedene Konzepte zu würdigen. Die nachfolgenden Gliederungsüberschriften, orientiert an Aussagen und Inhalten des ersten Schöpfungstextes der Genesis, sind nicht ganz trennscharf, viele Unterrichtseinheiten könnten auch mehreren Aspekten zugeordnet werden.
2 Materialien zu vielfältigen Aspekten 2.1 »Gott erschuf den Menschen als sein Bild« (Gen 1,27 2) – der Mensch als Ebenbild Gottes und Geschöpf
Das evangelische Religionsbuch »Moment mal!«3 überzeugt sowohl durch das aufbauende Lernen als auch die (teils multiperspektivische) Einbindung theologischer Aussagen in die Erarbeitungszusammenhänge: Der erste Band beginnt mit dem Kapitel »Wie bin ich gemacht?«. Ausgehend von lebensweltlichen Bezügen und vom Staunen über das Leben als Wunder, wird über die Fragen »Wer sieht mich?« sowie »Wovon erzählen Mythen?« zu den Schöpfungstexten der Genesis (bes. Gen 1,1–2,4a) übergeleitet, um die biblische Bestimmung der Beziehung zwischen Gott, Welt und Mensch zu beschreiben. Eine Zuspitzung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Zuspruch an jeden Men2 Biblische Texte sind, wenn nicht anders angegeben, nach der Einheitsübersetzung von 2016 zitiert. 3 Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 1, Evangelische Religion, Stuttgart/ Leipzig 2020.
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schen erfolgt im Anschluss: Jeder Mensch ist eine Idee Gottes, sein Leben ein Geschenk, jede:r ist gewollt, ein Individuum und Original, ein »Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu«4, jemand, der sich und anderen nichts beweisen muss. Es erfolgt eine Verknüpfung zu Gen 1,27.31 – mit einem Verweis auf einen Lexikonartikel zu »Menschenwürde« als unverlierbares Spezifikum des Menschen und als säkulares Gegenstück zur Gottebenbildlichkeit. »Moment mal! 2«5 thematisiert im Kontext »Was macht mich frei?« bzw. »Wie frei ist der Mensch?« erneut die Gottebenbildlichkeit und fragt nach dem Auftrag des Menschen (Gen 1,26–28 und Gen 2,15–17a). Zugleich wird mit diesem Anspruch an den Menschen auch die Möglichkeit des Schuldigwerdens angesprochen, dass Menschen Böses tun, obwohl sie den Willen zum Guten haben.6 »Moment mal! 3«7 vernetzt das Gelernte mit weiteren Themen und bringt es sehr gelungen zur Anwendung: Was bedeutet es – im Sinne von Zuspruch und Anspruch –, dass Menschen als Ebenbild Gottes gesehen werden? Und wie kann die biblisch-christliche Sichtweise auf den Menschen als Beurteilungskriterium in ethischen Fragen relevant werden? Im zweiten Kapitel »Wie entsteht Toleranz?« wird deutlich, dass Toleranz – im Sinne der Bejahung der Person als gleichwertiges und -berechtigtes Gegenüber – aus der Vorstellung von Gottebenbildlichkeit erwachsen kann.8 Im fünften Kapitel »Wie antworten Christen auf globale Fragen?« wird sehr überzeugend und vom biblisch-christlichen Menschen- und Weltbild her die christliche Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entfaltet und begründet. Explizit wird auf einer Doppelseite auf die (auch theologische Grundlegung und) Bedeutung der Menschenwürde eingegangen, einen Begriff »mit alten Wurzeln«9. Aus ihm werden Menschenrechte, aber auch die Verpflichtung zum globalen Engagement hergeleitet. Sehr gelungen ist auch das achte Kapitel »Was kommt nach dem Tod?«, das die Bedeutung von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde für die Fragen nach Leben, Sterben und Tod beleuchtet, beispielsweise im Kontext des Themas Sterbehilfe: »Sterben als Akt der Freiheit […] eine Frage des Menschenbildes«10. 4 Ebd., 18. 5 Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 2, Evangelische Religion, Stuttgart/ Leipzig 2021. 6 Ebd., 36 f. 7 Bärbel Husmann/Rainer Merkel (Hg.), Moment mal! 3, Evangelische Religion, Stuttgart/ Leipzig 2022. 8 Ebd., 45. 9 Ebd., 101. 10 Ebd., 161.
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Auch das katholische Schulbuch »Leben gestalten« spielt immer wieder den Gedanken der Gottebenbildlichkeit ein, setzt aber – zu wenig heterogenitätssensibel – viel voraus und erklärt zu wenig. »Leben gestalten 2«11 legt in verschiedenen Kontexten ein Verständnis des Menschen als Gottes Ebenbild mit dem damit verbundenen Schöpfungsauftrag zugrunde, erläutert es aber nicht näher – in »Leben gestalten 1«12 wird es begrifflich nur ansatzhaft grundgelegt. Auch beinhaltet es kaum Arbeitsaufträge zur Klärung dieser Grundlagen, etwa in Kapitel 1 »Seinen Weg finden, Missstände kritisieren, die Welt gestalten: Von Propheten lernen«, welches die Lernenden einlädt, Missstände wahrzunehmen und selbst aktiv zu werden – ähnlich wie die Propheten Amos oder Jeremia, deren Motivation mit dem Glauben an Gott bzw. ihrer Berufung durch Gott begründet wird. Die Motivation der Lernenden soll dazu in Beziehung gesetzt werden: »Diskutiert: Welche Rolle kann ›Gott‹ spielen, wenn Menschen heute aktiv werden wollen?«13 Das Wozu dieses Arbeitsauftrags wird nicht deutlich. Auch in Kapitel 8 »Die abrahamitischen Religionen im Trialog« werden gemeinsame Auffassungen im Judentum, Christentum und Islam zum Auftrag des Menschen genannt: »Die Welt wurde von Gott erschaffen. Uns Menschen hat er die Verantwortung für sie übertragen. Um diese Welt müssen wir uns kümmern« und »Dass wir Verantwortung für unsere Handlungen tragen, auch vor Gott, zeigen die Geschichten von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies«14. Wie sollen nichtreligiös sozialisierte Jugendliche die hier beispielhaft aufgeführten Aussagen so verstehen können, dass sie nicht zu Floskeln verkommen? Problematisch ist zudem der Umgang mit biblischen Texten: Oft aus dem Kontext gerissen, auf einzelne Verse reduziert, werden sie zur Stützung theologischer Aussagen genutzt, ohne in ihrem Eigenwert gewürdigt und sachgerecht bearbeitet zu werden. Interessant ist aufgrund der Materialauswahl eine Unterrichtseinheit im Loccumer Pelikan zum Thema Persönlichkeit und Beruf für den Jahrgang 9/10: »Der Mensch in der Arbeitswelt«15. Kerstin Hochhartz verknüpft gelungen Aspekte der Gottebenbildlichkeit und des Angenommenseins durch Gott mit den Bedingungen des Menschen in der (auch digitalen) Arbeitswelt. Wün11 Markus Tomberg (Hg.), Leben gestalten 2, Unterricht für den Katholischen Religionsunterricht 7. und 8. Jahrgangsstufe, Stuttgart/Leipzig 2022. 12 Markus Tomberg (Hg.), Leben gestalten 1, Unterricht für den Katholischen Religionsunterricht 5. und 6. Jahrgangsstufe, Stuttgart/Leipzig 2022. 13 Ebd., 17. 14 Ebd., 179. 15 Kerstin Hochhartz, Der Mensch in der Arbeitswelt. Der Wandel des Menschenbildes im Zuge der Industrialisierung, in: Loccumer Pelikan 3/2022: Anthropologie, 45–49.
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schenswert wären in dem Beitrag allerdings offenere Impulse statt enger und lenkender Fragen, um so eine offenere Auseinandersetzung mit den Materialien und dem möglichen »Mehrwert« theologischer Anthropologie zu ermöglichen. 2.2 »Füllt die Erde und unterwerft sie« (Gen 1,28) – der Herrschaftsauftrag an den Menschen
Mit der Gottebenbildlichkeit verknüpft und daher nicht ganz trennscharf zu fassen, ist der sogenannte Herrschafts- bzw. Unterwerfungsauftrag an den Menschen. In Zeiten des immer dringlicher werdenden Klima- und Umweltschutzes wird (wieder) der Vorwurf laut, dass gerade diese anthropozentrische Sichtweise, wie sie in den Schöpfungstexten der Bibel zu finden sei, zur Klima- und Umweltbedrohung geführt habe.16 Wie greifen Konzepte den biblischen Herrschaftsauftrag und auch diesen Anthropozentrismusvorwurf auf ? Das für die Sekundarstufe I in NRW bisher nur in Teilen erschienene Unterrichtswerk »Mittendrin« erklärt in Band 5/617 in dem Kapitel »Die Welt als Schöpfung sehen« auf der Doppelseite »Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes« zunächst die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung, aber auch seine Angewiesenheit auf Gott und die Welt.18 Danach geht es um den Herrschaftsauftrag »Herrschen bedeutet Schützen«: »In der ersten biblischen Schöpfungsgeschichte ist davon die Rede, dass Gott den Menschen die Erde und alle Lebewesen zur Verantwortung übergibt. Sie sollen sich die Erde ›unterwerfen‹ und sie ›beherrschen‹. Die deutsche Bedeutung des hebräischen Textes kann hierbei allerdings missverstanden werden, da diese beiden deutschen Begriffe eine rücksichtslose und zerstörerische Herrschaft andeuten. Das hebräische Wort kabasch jedoch […]
16 So z. B. in seiner »Universalgeschichte der Unterwerfung der Natur«: Philippp Blom, Die Unterwerfung, München 2022, u. a. 4, 93–104. Zur sachgerechten Exegese von Gen 1,28 vgl. u. a. Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder. Tübingen 2019, 410–415, und Julius Steinberg, Zur Ausbeutung freigegeben? Der alttestamentliche Herrschaftsauftrag über die Schöpfung und die ökologische Krise, in: Thomas Hieke/Konrad Huber (Hg.), Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt. Stuttgart 2020, 28–35. 17 Wolfgang Michalke-Leicht/Clauß Peter Sajak, Mittendrin. Lernlandschaften Religion 5/6, Berlin (Cornelsen) 2022. 18 Ebd., 189.
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stellt im Alten Orient vielmehr eine Geste des Schutzes dar. Sie entspricht der deutschen Redewendung ›über jemanden die Hand halten‹.«19 Die Ausführungen werden veranschaulicht durch die Abbildung eines assyrischen Rollsiegels. »Mittendrin 9/10« (NRW) greift die Bedeutung von Gen 1,28 in einem bibelhermeneutischen Kapitel, das hartnäckige Irrtümer der Bibel thematisiert, im Sinne aufbauenden Lernens erneut auf. Es nimmt den Vorwurf der durch den Herrschaftsauftrag ermöglichten Ausbeutung und Zerstörung auf und versucht, ihn zu entkräften: Der Mensch ist Gottes Stellvertreter auf Erden – im Sinne eines fürsorglichen Hirten, der zu gegebener Zeit Rechenschaft für sein Verhalten ablegen muss.20 Auch der Begriff »Anthropozentrismuskritik« ist in diesem Kontext explizit vorgesehen. Nicht zu empfehlen und in fachlicher wie fachdidaktischer Sicht höchst problematisch ist das Heft »Gottes Schöpfung in unserer Hand«21. Methodische Überlegungen scheinen hier wichtiger zu sein als inhaltliche; es gibt sachliche Fehler, die didaktischen Hinweise sind viel zu oberflächlich. Exemplarisch sei dies erläutert an Materialien zu »Der Mensch – ein Geschöpf Gottes«, die u. a. die Schöpfungsverantwortung aufgreifen. Als Zielangabe wird Folgendes vorangestellt: »Die Schüler können das Sprachbild von der ›Krone der Schöpfung‹ deuten und mit eigenen Worten erklären. Sie können konkrete Beispiele aufzählen, wie Schöpfungsverantwortung heute wahrgenommen werden muss.«22 Nach einem allgemein gehaltenen Einstieg – eigene Gedanken und Sätze zum Thema Verantwortung – werden zwei Arbeitsblätter bearbeitet: Unter »Nicht geerbt, sondern nur geliehen«, soll u. a. begründet werden, warum das Zitat »Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen« dem christlichen Glauben entspricht. Nach der Frage, ob es auch aus der Bibel stammen könnte, wird in einem teils vorgegebenen Merksatz die Schöpfungsverantwortung des Menschen festgehalten.23 Das zweite Arbeitsblatt trägt die Überschrift »Macht euch die Erde untertan«24. Es konstatiert, dass sich viele Menschen mit dem Auftrag schwertun, und bietet zwei Interpretationen an: »Der Mensch herrscht über die Schöp19 Ebd., 192. 20 Bisher liegt das Mittendrin-Kapitel nur als Manuskript vor. 21 Stephan Sigg, Gottes Schöpfung in unserer Hand. Materialien zu Schöpfungslehre und -verantwortung für den Religionsunterricht, Augsburg 42021. 22 Ebd., 38. 23 Ebd., 43. 24 Ebd., 44.
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fung« bzw. »Der Mensch übernimmt Verantwortung«. Die Lernenden sollen beide Fassungen kommentieren und deuten, zu ihrer Argumentation (welcher?) Beispiele hinzuziehen und dann überlegen, »was passieren könnte, wenn Menschen den Auftrag falsch verstehen«. Informationen und Kriterien gibt es nicht – weder für Lernende noch Lehrende. Allerdings wird ein weiteres Arbeitsblatt »Der Mensch ist die Krone der Schöpfung« (Das ist positiv … Das ist gefährlich …) für »jahrgangsältere oder leistungsstarke Klassen« angeboten25 – was zudem bedeutet, dass nach den Ausführungen des Autors nicht alle Lernenden das gesetzte Ziel erreichen könnten. So darf eine Auseinandersetzung mit einer anthropozentrischen Sichtweise nicht aussehen. In nahezu alle neueren Schulbücher und sehr viele Unterrichtsmaterialien hat inzwischen Greta Thunberg Einzug gehalten, oft als moderne Prophetin, immer als jemand, der sich für die Bewahrung der – je nach gewählter Perspek tive – Schöpfung oder Umwelt einsetzt. Hier sollten Unterrichtende prüfen, wie »typisch religionsunterrichtliche« Bezüge eingespielt werden. 2.3 »Sie sollen walten über die Fische des Meeres« (Gen 1,26) – die Beziehung des Menschen zu Tieren als Mitgeschöpfen
»Mitgeschöpf und Mitgeschöpflichkeit sind Begriffe, die die Gleichwertigkeit von Mensch, Tier und Pflanze, aber auch der sie umgebenden Natur beschreiben. Innerhalb dieser Gemeinschaft kommt dem Menschen eine besondere Verantwortung zu.«26 So beginnen die Beiträge in »Religion 5–10« (3/2022), das sich mit dem Thema »Als Gottes Geschöpfe gut zusammenleben?«27 befasst. Es bietet verschiedene, allesamt sehr anregende und verschiedene Lerntypen bedienende Praxisbeiträge für die Stufen 5 bis 10: »Verantwortung für Haustiere«28, »Das Verhältnis von Pflanze, Tier und Mensch in den Weltreligionen«29, »Pilgern als Erfahrung von Schöpfung und Mitgeschöpfen«30, »Fridays 25 Ebd., 38–46. 26 Katrin Bederna, Mitgeschöpfe. Eine religiöse Weltdeutung und ihre ethischen Implikationen, in: Religion 5–10 (3/2022), 4–7, hier 4. 27 Gudrun Neebe/Anke Kaloudis (Hg.), Als Gottes Geschöpfe gut zusammenleben? (Religion 5–10) 3/2022. Das Heft wird ergänzt durch ein Materialheft mit Arbeitsblättern und 32 Bildkarten »Mitgeschöpfe«. 28 Rebecca Marstelle/Laura Philipp, Verantwortung für Haustiere übernehmen. Anthropozentrische Sichtweisen und der biblische Gedanke der Mitgeschöpflichkeit, in: Religion 5–10 (3/2022), 8–11. 29 Aline Seidel, Schöpfungsvorstellungen in den Weltreligionen. Das Verhältnis von Pflanze, Tier und Mensch, in: Religion 5–10 (3/2022), 12–15. 30 Gudrun Neebe, Uwe Schäfer, Auf Schritt und Tritt. Pilgern als Erfahrung von Schöpfung und Mitgeschöpfen, in: Religion 5–10 (3/2022), 16–19.
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for Future, Klimawandel & Co unter der Lupe«31, »Haben Tiere eine Seele?«32 sowie »Darf man Tiere essen?33. In Orientierung an die von Albert Schweitzer geforderte Ehrfurcht vor allem Lebendigen haben die Herausgeberinnen dieses sehr überzeugende Heft konzipiert: Die Erkenntnis Schweizers verpflichte »nicht nur dazu, den Mitgeschöpfen in der Tierwelt und der Natur ein eigenes Existenzrecht zuzusprechen, sondern darüber hinaus den Menschen als »Krone der Schöpfung« zu hinterfragen.34 Der Beitrag »Verantwortung für Haustiere übernehmen« sei näher vorgestellt: Die Unterrichtseinheit von Rebecca Marstelle und Laura Philipp thematisiert35 – ausgehend von eigenen Erfahrungen der Schüler:innen – zunächst die Problematik der Vermenschlichung von Tieren und deren Auswirkungen auf das Wohl der Tiere. An Tierfriedhöfen als Beispiel für die Mensch-Haustier-Beziehung erfolgt eine Konkretisierung. Theologische Perspektiven und die aktuelle Debatte um den Anthropozentrismus werden im Unterrichtsschritt »Mensch und Tier – Geschöpfe Gottes« eingebracht: Der Begriff »Geschöpfe« wird erklärt, eine Nacherzählung von Gen 1,1–18 (leider unter dem falschen Begriff »Schöpfungsbericht«) bringt den Herrschaftsauftrag ins Spiel, verknüpft ihn mit dem Zuspruch und Anspruch der Gottebenbildlichkeit und vergleicht ihn mit den §§ 1 und 2 des deutschen Tierschutzgesetzes. Das angebotene Differenzierungsmaterial36 ist hilfreich: Der angegebene Kinderbibelpodcast erklärt den Herrschaftsauftrag damit, dass der Mensch wie ein guter König sein solle, der sich um alle sorge, für die er Verantwortung trage, und auf sie aufpasse. Dies wird in Beziehung zur Billigungsformel in Gen 1 gesetzt. Als Anwendung des Gelernten identifizieren die Lernenden verschiedene Formen nicht artgerechter Tierhaltung auf einem Arbeitsblatt: Vernachlässigung, Verniedlichung und anthropozentrische Sichtweise. Sie entwickeln Ideen, wie sie Verantwortung übernehmen und Tierschützer:innen sein können. Ein sehr gelungenes und stimmiges Beispiel, das zeigt, wie theologische Sichtweisen auch in jüngeren Lerngruppen in lebensweltlich relevante und aktuelle Fragen eingebracht werden und zu einem Mehrwert führen können, ohne aufgesetzt zu wirken. 31 Florian Schmitz, Nicolai Weigel, Wenn Greta in die Schule kommt. Fridays for Future, Klimawandel & Co unter der Lupe, in: Religion 5–10 (3/2022), 20–23. 32 Anke Kaloudis/Bernd Kappes, Haben Tiere eine Seele? Biblisch-theologische und philosophische Zugänge, in: Religion 5–10 (3/2022), 24–27. 33 Ariane Dihle, Darf man Tiere essen? Ein Dilemma?, in: Religion 5–10 (3/2022), 28–31. 34 Vgl. Gudrun Neebe, Anke Kaloudis, Editorial, in: Religion 5–10 (3/2022), 1. 35 Vgl. Marstelle/Philipp, Verantwortung, 20–23. 36 Vgl. Der Kinderbibel-Podcast, Im Anfang, 2020, https://www.kinderbibel-podcast.de/, (Letzter Zugriff am 11.01.2023).
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2.4 »Männlich und weiblich erschuf er sie« (Gen 1,27) – zur Geschlechtlichkeit des Menschen
Ein Beispiel für eine weitgehend gelungene Thematisierung findet sich in »Religion im Dialog. Klasse 7/8«37. Ansetzend bei Lebenswelten Jugendlicher geht es zunächst um typische Mädchen- und Jungenklischees, eine Auseinandersetzung wird kognitiv aktivierend und vielfältig angestoßen, eine begleitende Lernaufgabe regt an, einen Blogeintrag »Typisch Mädchen, typisch Junge« zu verfassen und diesen nach Erarbeitung des biologisch-evolutionären sowie des gendertheoretischen Erklärungsansatzes zu den Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen zu überarbeiten.38 Danach wird die Perspektive der biblisch-christlichen Überlieferung eingebracht: »Sind Frau und Mann gleich geschaffen?«39 Anhand von Auszügen aus den beiden Schöpfungstexten der Genesis (Gen 1,26 f.; 2,7–18, 21–24) sowie des Schöpfungspsalms Ps 8,5 f. werden ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie eine Auseinandersetzung angeregt: »Jemand behauptet: ›Früher, also auch zu der Zeit, als viele Texte der Bibel entstanden sind, war die Frau dem Mann untergeordnet.‹ Nimm Stellung zu der Frage, ob das auch für Bibelausschnitte aus dem Buch Genesis gilt. Untersuche dazu, welche Stellen im Text dafürsprechen und welche nicht und formuliere anschließend deine eigene Meinung.«40 Abgesehen von den zu unspezifischen Formulierungen »früher« und »zu der Zeit«, die das Missverständnis hervorrufen können, als seien die Texte zu einer gemeinsamen Zeit entstanden, ist das ein interessanter Arbeitsauftrag, der helfen kann, Vorurteile aufzubrechen. (Weniger geeignet und fachlich nicht unproblematisch ist dagegen eine weitere Aufgabe, nämlich die Erschaffung des Menschen zeichnerisch darzustellen, leistet sie doch einem historisierenden, falschen Bibelverständnis Vorschub.) Häufiger kommt es in Schulbüchern vor, dass sie sich – ähnlich wie in Büchern für Sozialwissenschaft oder auch Praktische Philosophie – zu sehr auf die Geschlechtertrennung »Mädchen« und »Junge« konzentrieren, ohne sie in eine spezifisch religionsunterrichtliche bzw. theologische Perspektive 37 Susanne Bürig-Heinze/Josef Fath/Rainer Goltz/Christiane Rösener/Beate Wenzel (Hg.), Religion im Dialog. Klasse 7/8, Göttingen 2020. (Das Buch wurde in evangelischer und katholischer Zusammenarbeit erstellt.) 38 Vgl. ebd., 14 f. 39 Ebd., 16. 40 Ebd., 16.
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einzubetten. Umso besser, wenn es gelingt, die geschlechtliche Perspektive als theologisch begründet in den Unterricht einzubringen. 2.5 Der Mensch in seiner Beziehung zu Gott
In »Religion im Dialog. Klasse 5/6«41 wird innerhalb des ersten Kapitels »Der Mensch und seine Religion« nach den Besonderheiten des Menschen im Unterschied zu den Tieren gefragt (Aufgabe: »Benenne Dinge, die der Mensch kann, die ein Hund nicht kann«42). Als Unterschiede werden die Fähigkeit des Menschen, über sich nachzudenken und große Fragen zu stellen, seine Fantasie, seine Vernunft sowie sein Geschaffensein von Gott aufgeführt. Letzteres gelte für alle Lebewesen, aber der Mensch habe eine besondere Beziehung zu Gott. Entsprechend wird der Glaube als Merkmal des Menschen entfaltet (Homo sapiens als Homo religiosus).43 Eine Vertiefung erfolgt über die Frage: »Wie gut kennt mich eigentlich Gott?« Abgesehen davon, dass die Frage und die angedeutete Beantwortbarkeit Grundsätze der negativen Theologie missachtet, erfolgt die Erschließung anhand von Ps 139,1–6 höchst suggestiv: »Macht es dir eigentlich manchmal Angst, dass Gott dich so gut kennt?« Zudem wird der Charakter des Psalms als Gebet übersehen, das eine persönliche Glaubenserfahrung und -überzeugung widerspiegelt – in bibelhermeneutischer Sicht nicht unproblematisch. Wenn es darum geht, den Menschen in seiner Gottesbeziehung als Betenden wahrzunehmen und dies heterogenitätssensibel – mit nicht nur religiös sozialisierten Schüler:innen – zu thematisieren, geht das meines Erachtens nur über deutlich offenere Fragen, z. B. nach der möglichen Bedeutung einer solchen Glaubensüberzeugung für einen Menschen. 2.6 Der Mensch als Mitmensch – Menschsein im digitalen Zeitalter 2.6.1 Schein und Sein – Social Media
Wie stelle ich mich in sozialen Netzwerken dar, wie gestalte ich – auch digital – die Beziehung zu anderen? Wie wahrhaftig gebe ich Informationen bzw. wie verlässlich sind Informationen, die ich im Internet bekomme? Die Frage, wie viel Realität und wie viel Inszenierung uns in digitalen Kontexten begegnen, wird in zahlreichen Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern aufgegriffen. Auch 41 Susanne Bürig-Heinze/Rainer Goltz/Christiane Rösener/Beate Wenzel (Hg.), Religion im Dialog. Klasse 5/6, Göttingen 2018. 42 Ebd., 10. 43 Vgl. ebd., 11.
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hier ist zu fragen, wie dieses Thema bearbeitet wird und wie Aspekte christlicher Anthropologie und Ethik als Spezifikum des Religionsunterrichts in die Medienbildung eingebracht werden. Das Heft »Liebe_Partnerschaft_Sexualität«44 vom IRP Freiburg bietet einen spannenden Lernimpuls von Josephine Wößner zu den Herausforderungen medialer Selbstdarstellung: »#nofilter: Von der Selbst- und Nächstenliebe«45: Welche Auswirkungen könnte die Darstellung vermeintlicher Perfektion auf das Selbstbild haben? Ausgehend von Starfotos mit und ohne Filter werden die Lernenden zur Reflexion ihres eigenen Filter-Ichs angeregt – auch bezogen auf Fotos von sich selbst in der analogen Welt. Anhand des Gebots der Selbst-, Nächsten- und Gottesliebe (Mk 12,38–31) reflektieren sie, welche Perspektiven sich daraus für den Umgang mit dem eigenen Selbstbild und mit den Nächsten ergeben könnten, bevor sie ihr eigenes #nofilter-Ich erstellen, das anschließend von den Mitschüler:innen über die Methode »Komplimentendusche« kommentiert wird. Hier wird in gelungener Weise die positive, wertschätzende christliche Sicht auf den Menschen als Angebot mit einer Instagram-Kampagne verknüpft. Auch das Heft »Lügen« (2021), ebenfalls vom IRP herausgegeben46, verknüpft gelungen lebensweltliche Bezüge mit biblisch-christlichen Perspektiven. Exemplarisch sei hier der Beitrag vorgestellt: »Auf Teufel komm raus bewerten? Fake oder Fakt?«47. Die Schüler:innen setzen sich u. a. am Beispiel von FakeBewertungen (oder auch Fake-Accounts) mit deren möglichen Auswirkungen auf ihr eigenes Verhalten auseinander, setzen es in Beziehung zu Grundfragen des Lügens und der Schuld, erarbeiten die Bedeutung von Wahrhaftigkeit für das gelingende Zusammenleben und entwickeln aus christlicher Perspektive Handlungsmöglichkeiten, wobei der Bezug auf das achte Gebot und Ausführungen des Theologen Albert Schweitzer nicht »gesetzt«, sondern als mögliche Perspektive angeboten wird. Auch das Heft »Was ist wirklich wahr?« (Religion 5–10, 4/2019) bietet hier spannende Beiträge, u. a. zum »Wahrheitsbegriff in Zeiten der digitalen Selbstkonstruktion«.48 Autor Karsten Müller bietet eine höchst spannende Anforderungssituation – das Social-Media-Projekt von Zilla van den Born, die im 44 Institut für Religionspädagogik (IRP) (Hg.), Liebe_Partnerschaft_Sexualität. Theologische, didaktische und methodische Impulse (I&M), Freiburg 2021. 45 Josephine Wößner, #nofilter. Von der Selbst- und Nächstenliebe, in: IRP, Liebe, 36–41, hier: 36. 46 Institut für Religionspädagogik (IRP) (Hg.), Lügen. Theologische, didaktische und methodische Impulse (I&M), Freiburg 2021. 47 Sabine Baßler, Auf Teufel komm raus bewerten? Fake oder Fakt?, in: IRP, Lügen, 38–45. 48 Karten Müller, Worauf du dich verlassen kannst! Der Wahrheitsbegriff in Zeiten der digitalen Selbstkonstruktion, in: Religion 5–10, 4/2019, 16–19.
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Rahmen ihrer Bachelorarbeit über soziale Netzwerke im Internet fünf Wochen lang eine Asienreise vortäuschte, obwohl sie zu Hause war. In den Unterrichtsschritten geht es lebensweltbezogen um Fragen wie »Was ist Wahrheit?« und »Wozu Wahrheit?«, bevor dann unter »Wer ist Wahrheit?« auf die Verlässlichkeit und Treue Jesu (vgl. Joh 14,6) eingegangen wird und in einer fiktiven Plattform »Faithbook« die Sichtweise biblischer Personen eingebracht wird, die von ihren Erlebnissen mit Jesus berichten. Dieser letzte Schritt allerdings scheint mir zu sehr bemüht um Korrelation – ich hätte die Sorge, dass Schüler:innen hier zu einem »Religionsstunden-Ich« verleitet werden. Auch wäre die Frage nach dem echten Mehrwert dieses Schritts für die Lernenden zu stellen. 2.6.2 Menschsein angesichts der Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz »Menschsein verpflichtet: Menschenwürde – Menschenrechte – Menschenpflichten«, Heft 1/2019 der Zeitschrift »Entwurf« zielt darauf, »die theologische Fundierung der Menschenrechte in der Menschenwürde [zu] bedenken und [zu] überlegen, wie die religionspädagogische Ausformung der Menschenpflichten im Unterricht aussehen kann«49. Dies erfolgt meines Erachtens in gelungener Weise. Exemplarisch sei hier ein Unterrichtsentwurf zum Thema »Computer rechnen, Gehirne verstehen«50 für die Klassen 8 bis 10 genannt. Durch eine sinnvoll didaktisch reduzierte Einführung »Was ist KI?« und eine erste, sehr motivierende Auseinandersetzung mit der Frage, wie künstliche Intelligenz unser Leben verändert bzw. verändern kann, wird ein Problembewusstsein angebahnt.51 Dies wird im zweiten Baustein anhand verschiedener – durchaus problematischer – Nutzungsweisen einer KI-Gesichtserkennung vertieft. Im dritten Baustein geht es um »Regeln für das Leben im Zeitalter 4.0«, als Gesprächsgrundlage über die ethischen Fragestellungen des Umgangs mit Entwicklungen des digitalen Fortschritts dienen sieben stark gekürzte Thesen52 von Gernot Meier. Diese Thesen verknüpfen biblisch-christliche Vorstellungen vom Menschen mit Aussagen des Grundgesetzes und/oder auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und laden die Lernenden ein, sie »hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit für das Zusammenleben der Menschen im digitalen Zeit49 Andreas Reinert, Editorial, in: Entwurf 1/2019, 1. 50 Gernot Meier/Andreas Wittmann, Computer rechnen, Gehirne verstehen. Mit Schülerinnen und Schülern den Nutzen und die Gefahren künstlicher Intelligenz für das Menschsein erörtern, in: Entwurf 1/2019: Menschenwürde – Menschenrechte – Menschenpflichten, 28–37. 51 Vgl. ebd., 33 f.: Arbeitsblätter 2 und 3. 52 Vgl. Gernot Meier, Zehn Thesen für die digitale Revolution, https://www.ekiba.de/detail/ nachricht-seite/id/9688-zehn-thesen-fuer-die-digitale-revolution (Zugriff am 11.01.2023).
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alter« zu ordnen, sie mit dem Dekalog und dem Grundgesetz in Beziehung zu setzen, um gemeinsame Leitlinien guten Zusammenlebens zu entdecken und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, »inwiefern die Thesen eine Leitlinie für Politiker und Computerkonzerne sein können«.53 Ein sehr überzeugender Ansatz: Inhalte christlicher Anthropologie werden relevant im Lernprozess und für die Lebenswelt der Lernenden – ohne dass sie aufgesetzt erscheinen. Die Schüler:innen werden in ihrer ethischen und religiösen Urteilskompetenz ernst genommen. Interessante unterrichtspraktische Beiträge ab Klasse 10, bei denen Aspekte des biblisch-christlichen Menschenbildes meines Erachtens sehr gelungen als Deutungsangebote und Beurteilungskriterien ethisch-anthropologischer Fragen eingebracht werden, bietet auch das Heft »Künstliche Intelligenz und Human Enhancement« der Onlinezeitschrift »Religion unterrichten«54, u. a. bezogen auf ethische Herausforderungen beim Einsatz selbstfahrender Autos55 oder angesichts verschiedener Möglichkeiten des Enhancements von Menschen56.
3 Fazit In den vorgestellten, oft sehr spannenden und motivierenden Unterrichtskonzepten – und sie sind nur eine kleine Auswahl – werden viele aktuelle Aspekte (Klimaschutz, Anthropozentrismuskritik, Verantwortung für die Mitgeschöpfe wie z. B. Tiere, Menschsein im Zeitalter der Digitalisierung u. a.) thematisiert (in Schulbüchern aufgrund der längeren Herstellungszeit und der verschiedenen Genehmigungsverfahren mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung). Auch wenn es überzeugende Beispiele der Thematisierung theologischer Anthropologie gibt, nicht immer gelingt ein stimmiger Brückenschlag zwischen gesellschaftlich relevanten und aktuellen Fragen sowie der Lebenswelten Jugendlicher zu Aspekten des biblisch-christlichen Menschenbildes. Autor:innen berücksichtigen allerdings deutlich selbstverständlicher theologische Perspektiven 53 Meier/Wittmann, Computer rechnen, 37: Arbeitsblatt 6. 54 Gabriele Otten, Jutta Paeßens (Hg.), Künstliche Intelligenz und Human Enhancement, in: Religion unterrichten 2/2022, https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-ent�decken/schule-und-unterricht/religion/sekundarstufe-i/unterrichtsmaterialien/58124/religion-unterrichten-2022-jg-3-heft-2 (Zugriff am 29.06.2022). 55 Vgl. Heike Harbecke, Ethisch-anthropologische Herausforderungen selbstfahrender Autos – mit Gestaltungsaufgabe(n). Bausteine für ein Unterrichtsvorhaben ab der Jahrgangstufe 10, in: Religion unterrichten 2/2022, 44–70. 56 Vgl. Jasmin Hassel, Human Enhancement, Big Data und KI – ethische Herausforderungen im RU. Bausteine für die Jahrgangsstufen 10–12, in: Religion unterrichten 2/2022, 71–100.
Menschsein als Zuspruch und Anspruch
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bei ethisch-anthropologischen Fragen als noch vor einigen Jahren. Allerdings werden Facetten theologischer Anthropologie zum Teil eher »aufgesetzt« als schlüssig und im Sinne einer weiteren, lohnenden Perspektive für die Lernenden eingebracht, Korrelationen werden eher »gesetzt« als angebahnt. Dazu tragen teils sehr enge Arbeitsaufträge bei, die eher Verknüpfungen vorgeben als zum Nachdenken über die Relevanz biblisch-christlicher Anthropologie für die thematisierten Inhalte und deren kriteriengeleitete Bewertung anregen. Problematisch ist sehr oft der Umgang mit den biblischen Bezugstexten – nicht immer gelingt es, die Texte sachgerecht zu würdigen. Im Bereich der biblischen Hermeneutik gibt es in vielen Materialien erheblichen Nachholbedarf. Als problematisch erweist sich zudem eine oft fehlende Heterogenitätssensibilität, die sich darin zeigt, dass viel Sachwissen und Kenntnisse religiöser Sprache vorausgesetzt werden – obwohl Autor:innen es besser wissen müssten. So verkommen spannende Inhalte mitunter zu floskelhaftem Wissen, das sich nicht als relvant erweist. Vielleicht müssten die Fragen nach den Lernvoraussetzungen der Schüler:innen, nach der Zugänglichkeit von Themen sowie nach ihrem »Warum« und »Wozu« noch oder wieder konsequenter gestellt werden. Es bleibt zu hoffen, dass noch stärker zum Tragen kommen kann, was theologische Anthropologie zur Deutung menschlicher Existenz beiträgt. Gabriele Otten, Studiendirektorin, unterrichtet am Gymnasium Martinum in Emsdetten die Fächer Latein und Katholische Religionslehre und ist Fachleiterin für Katholische Religionslehre am Zentrum für Schulpraktische Lehrerausbildung in Rheine (Seminar für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen).
Bilanz
Herausforderung: Mensch – Anstöße für eine religions pädagogische Anthropologie und den Religionsunterricht im Anthropozän Bernd Schröder
»Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?«1 »Am Ende geht’s immer um diese Frage: Was für ein Mensch war ich?«2
Nicht ohne Grund gehört »der Mensch« zu den Themen, die im »Jahrbuch der Religionspädagogik« des Öfteren aufgegriffen werden. Band 33 widmete sich 2017 »Menschenrechte[n] und Religionsunterricht«3, Band 29 im Jahr 2013 »Glück und Lebenskunst«4, Band 20 im Jahr 2004 »Menschen Bilder[n] im Umbruch«5 und Band 39 nun eben der »Herausforderung Mensch«. Vergleicht man den vorliegenden Band mit demjenigen, der vor ziemlich genau zwanzig Jahren erschien, sticht auf den ersten Blick die Konstanz etlicher thematischer Facetten ins Auge: Digitalität/Virtualität, Gender, ökologische Krise und Pluralität der Menschenbilder etwa begegnen hier wie dort. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich mit Blick auf jede dieser Facetten eine qualitative Verdichtung, ja, Dramatisierung der jeweiligen Herausforderung: Der Klimawandel steht mittlerweile als existenzbedrohend für Mensch, Biodiversität und Globus insgesamt vor Augen.6 Die Entwicklungsdynamik digitaler 1 Ps 8,5. 2 Inga Rahmsdorf, Reden wir über Geld. »So gute Kritiken hätte ich als Schauspieler nie bekommen«, 2023, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/reden-wir-ueber-geld-schauspie�ler-trauerredner-1.5774243?reduced=true (Zugriff am 29.05.23) 3 Stefan Altmeyer/Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/Bernd Schröder/ Friedrich Schweitzer (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik 33: Menschenrechte und Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 2017. 4 Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik 29: Glück und Lebenskunst, Neukirchen-Vluyn 2013. 5 Christoph Bizer/Roland Degen/Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Norbert Mette/Folkert Rickers/Friedrich Schweitzer (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik 20: Menschen Bilder im Umbruch – didaktische Impulse, Neukirchen-Vluyn 2004. 6 Aus gegebenem Anlass sei auf den im März 2023 veröffentlichten sechsten Sachstandsbericht (»Assessment Report«) des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), des Weltklimarats, verwiesen: https://www.de-ipcc.de/250.php (Zugriff am 15.05.23). Im sogenannten Synthesebericht heißt es: »Menschliche Aktivitäten haben eindeutig die globale Erwärmung verursacht, vor allem durch die Emission von Treibhausgasen. Dadurch lag die globale Oberflächentemperatur im Zeitraum 2011–2020 um 1,1 ° C höher als der Wert von 1850–1900 […],
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Technik und Programmierkunst lässt vermeintlich unverlierbare Alleinstellungsmerkmale des Menschen zusehends fraglich erscheinen, darunter Kreativität und »Mittelreflexion«. Das Bewusstsein für die Vielgestaltigkeit und Variabilität von sex und gender lässt bislang für »natürlich« erachtete Bahnen der Identitäts- und Beziehungsentwicklung fluide werden. Nicht zuletzt hat sich im Zeichen der Globalisierung und der digital basierten Kommunikation die Pluralität der Menschenbilder quantitativ gesteigert – und insofern auch qualitativ, als im Licht der verschiedenen Lebenswirklichkeiten, erkenntnisleitenden Interessen und kommunikativen Verbindungen die Ausgangspunkte und Referenzmarken jedweder Anthropologie hinterfragt werden können und hinterfragt werden: Postkoloniale Theorien, critical whiteness studies, der Konstruktivismus und andere Denkwege sensibilisieren – so unterschiedlich sie im Einzelnen sind – einvernehmlich für die epistemic injustice (Miranda Fricker), die sich in jeder Anthropologie niederschlägt, auch in einer, die sich auf Offenbarung bezieht oder auf aufklärerischer Vernunft basiert: Menschen sind nicht nur verschieden und erleben diese Verschiedenheit (und darauf bezogene Ungerechtigkeiten ) nicht nur, sondern auch das, was sie voneinander wahrnehmen, wie sie Menschsein gedanklich konzipieren und ethisch, pädagogisch oder politisch in Anschlag bringen, ist von individuellen und kollektiven Mustern durchzogen, die es verhindern, dass Menschen einander und ihrer Mitwelt gerecht werden.7 Dessen unbeschadet »ist offenkundig, dass die […] Leitbilder der Nation, der Religion, der Klasse oder der Rasse untauglich sind, weltoffenen Gesellschaften Ziel und Halt zu geben. […] Da es [jedoch] nicht in Zweifel stehen darf, dass alles, was nötig ist, im Interesse und im Namen der Menschheit zu erfolgen hat, liegt es nahe, das ethische und politische Handeln unter das Ideal der Humanität zu stellen.«8 »Der Mensch braucht heute nicht nur den für die Aufklärung 1,5 ° C [werden] laut bester Schätzung in diesem oder im nächsten Jahrzehnt erreicht […]. Jede noch so kleine Zunahme der globalen Erwärmung wird multiple und gleichzeitig auftretende Gefahren verstärken. Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus. […] Verwundbare Bevölkerungsgruppen, die historisch am wenigsten zum aktuellen Klimawandel beigetragen haben, sind unverhältnismäßig stark betroffen. […] Anpassungsoptionen, die heute machbar und wirksam sind, werden mit zunehmender globaler Erwärmung eingeschränkt und weniger wirksam sein.« 7 Vgl. Miranda Fricker, Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007 (Deutsch: Epistemische Ungerechtigkeit: Macht und die Ethik des Wissens, München 2023); und Ian J. Kidd/José Medina/Gaile Pohlhaus Jr. (Hg.), The Routledge Handbook of Epistemic Injustice, London/New York 2019. 8 Volker Gerhardt, Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019, 12 f.
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geforderten »Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen« [Immanuel Kant]. [Er hat] heute den Mut aufzubringen, ein Mensch zu sein.«9 Die »Herausforderung Mensch« ist somit keineswegs kleiner geworden. Im vorliegenden Band lassen das am unverblümtesten und eindrücklichsten die Statements von Schüler:innen bewusst werden, die ihn eröffnen.
1 Die Frage nach dem Menschen – wo bricht sie auf? Das Thema »Mensch« gehört zu den Klassikern im schulischen Religionsunterricht. In den »Einheitlichen Prüfungsanforderungen« für das Abitur in den Fächern »Evangelische« und »Katholische Religion« stellt »das christliche Bild des Menschen« eine von sechs thematischen Säulen dar; zudem ergeben sich alle Themen aus sechs »Leitfragen, die sich auf das Woher, das Wohin und das Wozu des menschlichen Lebens beziehen«.10 Auch in den Bildungsplänen bzw. Kerncurricula für die Primar- und Sekundarstufe I firmiert »der Mensch« als einer der konstitutiven inhaltsbezogenen Kompetenzbereiche. Jenseits der didaktisch strukturierten Welt des Religionsunterrichts ist die Dominanz des Themas nicht so offensichtlich. In anderen Kontexten, darunter auch in religionspädagogisch relevanten, gilt, was Heinz E. Tödt schon vor Jahren für die sittliche Urteilsfindung geltend gemacht hat: So wie eine bestimmte Problemkonstellation erst einmal als ethische Herausforderung identifiziert werden muss, so gilt es in kulturellen, ethischen oder politischen Konfliktlagen zu erkennen, dass darin anthropologische Einsichten auf dem Spiel stehen.11 In diesem Sinne soll hier zunächst gefragt werden, in welchen religionspädagogisch relevanten Kontexten der Mensch (exemplarisch) zur Frage wird. 1.1 (Auto-)Biografie und Identitätsentwicklung
Antworten von Schüler:innen auf die Frage, was den Menschen ausmacht, zeigen es an: Menschsein scheint ihnen eine ambivalente, einerseits von Vulnerabilität, Fallibilität und Zerstörungspotenzial, andererseits von der Hoffnung auf Glück, Halt und Liebe geprägte Angelegenheit zu sein. Als Zielhorizont ihrer persönlichen Entwicklung können sie nicht mehr ihre individuelle, berufliche 9 Gerhardt, Humanität, 13. 10 KMK: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) Evangelische Religionslehre (2006), 10; KMK: EPA Katholische Religionslehre (2006), 9. 11 7 Heinz Eduard Tödt: Versuch einer Theorie ethischer Urteilsfindung; in: Zeitschrift für evangelische Ethik 21 (1977), 81–93.
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und lebensstilbezogene Lozierung in der Welt ansehen, die sie als bislang gegeben wahrnehmen. Vielmehr versuchen sie sich einzustellen und vorzubereiten auf ein Leben in einer Welt, die als Lebensraum in elementarer Weise bedroht ist, die ihnen in mancher Hinsicht beschränktere, in anderen Hinsichten entgrenzte Möglichkeiten eröffnet und neue Verhaltensmuster erfordert. Zu den klassischen Entwicklungsaufgaben – »Qualifizieren« (Erwerb von Kompetenzen und Übernahme existenzsichernder Tätigkeiten), »(Sich-)Binden« (Ablösung von den Eltern und Aufbau einer Partnerschaft), »Konsumieren« (Selbständigkeit der Verhaltenssteuerung in der Freizeit) und »Partizipieren« (vorläufige Stabilisierung des Werte- und Normsystems)12 – kommt gewissermaßen diejenige einer anthropologischen Vergewisserung hinzu: Es gilt, »als Mensch zum Vorschein [zu] kommen«13 und sich als Teil der Menschheit begreifen bzw. verhalten zu lernen. Anders gesagt: Es gilt, die (stillschweigend wirksamen) Imperative der Singularität14 und der Menschheitssolidarität15 zu verknüpfen. 1.2 Deutungen unserer Gegenwart – exemplarisch im Spiegel des Films
Kunst gilt in mancher Hinsicht als Seismograf anstehender Herausforderungen. Und so kann nicht überraschen, dass insbesondere Filme (und Literatur) explizit anthropologische Grundfragen aufnehmen, sie zum Teil mit bemerkenswerter Reichweite, nicht zuletzt unter Jugendlichen, kommunizieren und Symbolwelten kreieren, die weit über die Kunstszene hinaus rezipiert werden. Ohne den Anspruch, die angeführten Werke erschöpfend auf einen Nenner zu bringen, seien Beispiele genannt: »Ich bin dein Mensch«16 thematisiert die Möglichkeit von Liebesbeziehungen zwischen Mensch und humanoidem Roboter. Die beiden bisherigen Folgen von »Avatar«17 stellen einerseits die Gewalttätigkeit bzw. Rücksichtslosigkeit menschlicher Lebensführung vor Augen und 12 Klaus Hurrelmann/Gudrun Quenzel, Lebensphase Jugend, Weinheim/Basel 2022, 23 ff. 13 Wilfried Engemann, Als Mensch zum Vorschein kommen: anthropologische Implikationen religiöser Praxis, in: Wilfried Engemann (Hg.), Menschsein und Religion: anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums, Göttingen/Wien 2016, 17–42, hier 17. 14 Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 15 Vgl. dazu Martha Nussbaum, Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, Darmstadt 2020. Die »Revision« betrifft das politische Ideal einer Weltgesellschaft, nicht eine »ökumenisch« sensible moralische oder philosophische Position. 16 Maria Schrader, Ich bin dein Mensch [Spielfilm], Deutschland 2021: Letterbox Filmproduktion. 17 James Cameron, Avatar [Spielfilm], USA 2009: Disney; James Cameron, Avatar 2 [Spielfilm], USA 2022: Disney.
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andererseits eine alternative Form humanoider Existenz, die sich durch spirituelle und sogar neuronale Verbundenheit mit der Natur des Planeten Pandora auszeichnet. Einem der Protagonisten gelingt es mithilfe eines künstlichen Körpers, eines sogenannten Avatars, von der einen in die andere Existenzform zu wechseln. »Matrix Ressurections«18, der vierte Teil der »Matrix«-Serie, arbeitet ebenfalls mit dem Nebeneinander einer digitaltechnisch bestimmten und einer »realen« Welt. Eine kleine Gruppe von Menschen um Neo und Trinity, Bezüge zur christlichen Heilsgeschichtserzählung sind offensichtlich, kämpft für deren Erhalt und die Spielräume menschlicher Freiheit. In diesen auf verschiedene Weise dystopischen Settings wird das zu retten gesucht, was den Menschen im Unterschied zu Künstlicher Intelligenz ausmacht: Freiheit, Liebe, nicht-replizierbare Individualität und Verbundenheit mit seiner nichtmenschlichen Umwelt. 1.3 Der Mensch als Normenressource – politische Rahmung ethischer Entscheidungen
In den letzten Jahren war die Legislative in Deutschland wiederholt herausgefordert, einen rechtlichen Rahmen für solche ethischen Entscheidungen zu schaffen, die unverkennbar anthropologische Implikationen haben – etwa im Falle der Infektionsschutzgesetzgebung aus Anlass der Coronapandemie (Schutz für Menschen mit Beeinträchtigungen und besonderer Verletzlichkeit), im Falle der Regelungen zum assistierten Suizid (Grenzen der Selbstbestimmung; Unbedingtheit menschlichen Lebensschutzes), zur Genomeditierung (Menschenwürde, Schutz vor Manipulation, Akzeptanz von Krankheit und Beeinträchtigung), beim Lieferkettengesetz (Achtung der Menschenrechte im wirtschaftlichen Handeln) oder bei Regeln zur Ethik des Umgangs mit künstlicher Intelligenz (Sicherung menschlicher Letztverantwortung). In all diesen Fragen, die gleichermaßen grundsätzlich und komplex sind,19 aber zugleich alle Bürger:innen betreffen (können), geht es u. a. um das Abwägen zwischen dem Schutz dessen, was als unverlierbare Würde des Menschen zu gelten hat, und der Ermöglichung verantwortbarer Freiheitsspielräume. Anthropologie, die sich vor allem speist aus Einsichten der griechisch-römischen Antike, jüdisch-christlicher Tradition und moderner Freiheitsgeschichte, ist die Ressource, auf die dabei als Normenreservoir zurückgegriffen wird. 18 Lana Wachowski, Matrix Ressurections [Spielfilm], USA 2021: Warner Brothers. 19 Dementsprechend hat der »Deutsche Ethikrat« auftragsgemäß jeweils Empfehlungen erarbeitet, die leicht zugänglich sind: Deutscher Ethikrat, Publikationen, https://www.ethikrat.org/ publikationen (Zugriff am 15.05.23).
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1.4 Globalziel der Weltgesellschaft: Nachhaltige Entwicklung
Ähnlich verhält es sich mit der »Agenda 2030« der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals).20 Diese wurde 2015 in Gestalt einer »UN-Resolution« verabschiedet und ist ein Markstein im Prozess der Transformation der Weltgesellschaft und aller nationalen Gesellschaften hin zu nichtfossilem Wirtschaften, Partizipation möglichst aller Menschen und Schutz der nichtmenschlichen Umwelt – ein Prozess, der unmittelbar 1992 mit dem sogenannten Erdgipfel in Rio de Janeiro und (mittelbar) 1972 mit dem Bericht über »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome begann.21 In den 17 Zielen, etwa in demjenigen der »Geschlechtergleichheit«, der Verringerung von »Ungleichheiten« oder des Aufbaus »leistungsfähiger, rechenschaftspflichtiger und inklusiver Institutionen«, spiegeln sich einerseits die Rahmenbedingungen bzw. Herausforderungen des Anthropozäns,22 andererseits verdichten sich darin anthropologische Überzeugungen, die u. a. in den Menschenrechten23 und im Konzept der Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen24 Ausdruck finden. 1.5 Bildung zwischen Recht und Pflicht
Gesellschaften wie die bundesrepublikanische werden nicht selten als Bildungsgesellschaften kategorisiert: In ihnen wird Bildung nicht mehr allein als Recht und Bedürfnis aller Menschen begriffen, sondern als unerlässliches Medium für die volle Teilhabe aller Einzelnen an der Gesellschaft und für die Bearbeitung zunehmend komplexer, dynamischer Herausforderungen. Der Mensch als bildungsbedürftiges und bildungsfähiges Lebewesen wird zusehends als bildungsverpflichtet verstanden – denn anders scheint die technische, wirtschaftliche und kulturelle Weiterentwicklung und der Erhalt von Lebensstandards 20 Vereinte Nationen, Ziele für nachhaltige Entwicklung, 2023, https://unric.org/de/17ziele (Zu�griff am 15.05.23). 21 Vgl. Dennis Meadows/Donella H. Meadows/Erich Zahn/Peter Milling, Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972; Sandrine Dixon-Declève u. a., Earth for All: ein Survivalguide für unseren Planeten – der neue Bericht an den Club of Rome, 50 Jahre nach »Die Grenzen des Wachstums«, München 2022. 22 So Christof Wulf in seinem Beitrag. 23 Die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« wurde zwar 1948, also vor 75 Jahren, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen, sie ist jedoch weder rechtsetzend wirksam noch hat sie transkulturell Konsens, vgl. dazu JRP 33: Menschenrechte und Religionsunterricht. 24 Dazu etwa Martha Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit, Frankfurt 2010, hier v. a. 112– 114; vgl. Peter Dabrock, Befähigungsgerechtigkeit, Gütersloh 2012.
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und -optionen angesichts des Erfordernisses der Nachhaltigkeit nicht sicherzustellen zu sein. Der Aufbau eines inklusiven Bildungswesens, die Realisierung (berufs-) lebenslangen Lernens, die Verdichtung individueller Lernwege u. a. m. verhelfen somit einerseits zur Wahrnehmung individueller Rechte und Möglichkeiten, heben indes andererseits zugleich Anforderungsstandards und generieren Bildungsstress: »Es sind […] unsere Kenntnisse und Kompetenzen und – was am wichtigsten ist – unsere gemeinsamen Werte, unsere intellektuelle und moralische Reife sowie unser Verantwortungsgefühl, die uns befähigen werden, aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen« (Andreas Schleicher).25 Dass diesem Anspruch nicht alle Menschen gerecht werden können, ist zu erwarten – von systemischer (Bildungs-)Ungerechtigkeit als Hinderungsgrund ganz zu schweigen. Anthropologie – das soll dieser kurze Durchgang zeigen – ist keineswegs eine »bloß« theoretische Thematik, sondern ein Feld für Klärungen, die weitreichende Folgen für verschiedene Lebensbereiche zeitigen und auch die Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen mehr oder weniger unmittelbar berühren. Die Kenntnis anthropologischer Konzepte und Theoreme – seien sie religiöser oder nichtreligiöser Signatur – kann helfen, biografische, ethische, existenzielle Entscheidungen zu treffen.
2 Religionspädagogische Anthropologie – ein Feld im Streit um die Auslegung und Gestaltung menschlicher Wirklichkeit Die Frage nach dem Menschen wird in einem Reigen von Wissenschaften aufgeworfen, zu deren Gegenstandsbereich sie gehört: von der Paläoanthropologie über Hirnforschung bis hin zu pädagogischer Anthropologie und Theologie. Anders als interdisziplinär ist Anthropologie kaum mehr zu betreiben.26
25 OECD Lernkompass 2030. Rahmenkonzept des Lernens, Gütersloh u. a. 2020, hier 9. 26 Exemplarisch anschaulich wird das in einem der Auswertungsbände des »Humanprojektes« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: Detlev Ganten/Volker Gerhardt/Jan-Christoph Heilinger/Julian Nida-Rümelin (Hg.), Was ist der Mensch?, Berlin/ Boston 2008; vgl. außerdem Thomas Schlag/Henrik Simojoki (Hg.), »Mensch – Bildung – Religion. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern«, Gütersloh 2014.
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Folgerichtig gab und gibt es Anthropologie nicht in der Einzahl.27 Brisanz steckt darin insofern, als sich die Pluralität der Auffassungen innerhalb einer Gesellschaft – oder innerhalb einer Schule – zur Geltung bringt: als Ungleichzeitigkeit, als Konkurrenz der Leitbilder oder als Widersprüchlichkeit, die das Handeln lähmen oder auch dynamisieren kann. In religionspädagogischen Zusammenhängen sind insbesondere die folgenden anthropologischen Spannungs- und Diskursräume von großem Gewicht. 2.1 Menschsein als Thema ökumenischer Verständigung
Theologische Anthropologie christlicher Provenienz – gleich welcher Konfession und welchen Kontextes – bezieht maßgebliche Impulse aus der biblischen Überlieferung, aus den Schöpfungsberichten der Genesis oder den Psalmen28 ebenso wie aus den Passagen zur Neuwerdung etwa des Galaterbriefes.29 Allerdings ist mit dem Rekurs auf solche Referenztexte keineswegs alles gesagt. Denn zum einen unterliegt deren Auslegung Veränderungen, die durch die Wahl der exegetischen Methode und Hermeneutik, durch die Wahrnehmung der Gegenwart der Exeget:innen u. a. bedingt sein können – am Topos der Gottebenbildlichkeit wird dies deutlich erkennbar.30 Zum anderen aber haben sich recht stabile, (konfessions-)kulturell eingebettete Akzentsetzungen in den theologischen Anthropologien ergeben – diese können angesichts ihrer Dignität und ihrer Implikationen für Lebensführung und -deutung durchaus als »Achillesverse der Ökumene« gelten.31 Deutlich wird dies in der evangelisch-katholischen Zwie-
27 Einen Überblick ermöglichen u. a. Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997; Wolfgang H. Pleger, Handbuch der Anthropologie: die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre, Darmstadt 2018; Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Handbuch pädagogische Anthropologie, Wiesbaden 2014; Klaus Bayertz, Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, München 2014; und Jörg Zirfaß, Pädagogische Anthropologie: eine Einführung, Paderborn 2021. 28 Dazu etwa Christian Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg u. a. 2010; und Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Tes�taments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019. 29 Dazu Eckart Reinmuth, Art. Anthropologie (NT), in: WiBiLex (2010), https://www.bibelwis� senschaft.de/stichwort/49886/ (Zugriff am 16.05.23). 30 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Wagner in diesem Band. 31 Bertram Stubenrauch/Michael Seewald (Hg.), Das Menschenbild der Konfessionen – Achillesverse der Ökumene? Freiburg u. a. 2017.
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sprache etwa an den Topoi »Natur und Gnade«32 oder »Sexualität/Gender«33 und in der Zwiesprache mit orthodoxen Auffassungen am Topos »Theosis«.34 Unbeschadet solcher Differenzen sind theologische Anthropologien indes sehr wohl auch in der Lage, Verbindendes zu identifizieren – so formuliert Thomas Pröpper (in Zwiesprache mit Eberhard Jüngel) als »Grundauskunft« biblischer bzw. christlich-theologischer Anthropologie: »Der Mensch existiert vor Gott (coram Deo) und als Antwort auf Gottes anrufendes Wort«, das heißt, er ist mehr bzw. anderes, als ihm »von ihm selber her […] zukommt«.35 2.2 Menschsein als Thema interreligiösen Dialogs
Ganz ähnlich konstelliert ist die anthropologische Debattenlage im interreligiösen Gespräch zwischen den sogenannten abrahamischen Religionen. Bekanntlich rekurrieren alle drei auf Impulse der Schriftensammlung, die Christ:innen das »Alte« oder »Erste Testament« nennen. Im Judentum wird die Hebräische Bibel (als sogenannte schriftliche Tora) zusammengeschaut mit der Rabbinischen Literatur (als sogenannte mündliche Tora) – und daraus ergibt sich u. a. eine charakteristisch enge Verbindung aus exegetisch-philologischen Beobachtungen, anthropologischen Auffassungen und halachisch geregelter Orthopraxie, also Regeln für den angemessenen Umgang mit dem menschlichen Körper und Geist, mit der Zwiespältigkeit menschlichen Strebens und mit den Mitmenschen.36 In den verschiedenen Konfessionsfamilien des Christentums wird das Alte Testament als Vorstufe, bleibende Basis oder, im freundlichsten Fall, als »Wahrheitsraum« des Neuen Testaments37 gelesen. Theologische Energie wird auf dieser biblischen Grundlage zunächst in die Formulierung der angemessenen 32 Siehe dazu den Beitrag von Bertram Stubenrauch und Martin Hailer in diesem Band. 33 Stephan Goertz/Michael Roth, Nach dem Menschen in seiner Lebenswelt fragen – Theologische Anthropologie und Ethik; Tübingen 2021; Jan Woppowa/Bernd Schröder, Religionsdidaktischer Kommentar, in: Bernd Schröder/Jan Woppowa (Hg.), Theologie für den konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Ein Handbuch, Tübingen 2021, 151–180 und 181–l89. 34 Siehe dazu Yauheniya Danilovich, Mirjam Schambeck und Henrik Simojoki in diesem Band; vgl. zudem Bertram Stubenrauch/Andrej Lorgus, Handwörterbuch Theologische Anthropologie: römisch-katholisch/russisch-orthodox. Eine Gegenüberstellung, Freiburg 2013. 35 Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg u. a. 2011, 61; vgl. zudem die Aufgliederung jenes Grundsatzes in drei elementare »Grundaussagen« , 79–82. 36 Anhand exemplarischer Bestimmungen wird dies vor Augen geführt im Beitrag von Mark Krasnov in diesem Band. 37 Vgl. Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011.
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und in diesem Sinne orthodoxen Anthropologie investiert, mit der allerdings soteriologische, liturgische, ethische und – selten – aszetische Folgerungen aufs Engste verbunden werden.38 Im Islam erfolgt kein unmittelbarer Rückgriff auf Tora, Propheten und Schriften. Vielmehr ist dieser lediglich mittelbar ablesbar an der Rezeption bestimmter Motive in Koran und Hadithen39 – diese sind es, aus denen in den verschiedenen Rechtsschulen und islamisch-theologischen Strömungen insbesondere des klassischen (sunnitischen) Islam anthropologische Konzepte gewonnen werden.40 Folgt man dem Wortlaut und der kontextuell erkennbaren Intention ergeben sich in der Regel kontroverse Auffassungen, dringt man in hermeneutische Tiefenschichten vor, werden bisweilen Parallelen und ähnliche Anliegen christlicher und islamischer Anthropologien erkennbar – etwa mit Blick auf die Beziehung zwischen Gott/Allah und Mensch oder die Schöpfungsverantwortung des Menschen.41 Noch einmal anders stellt sich die Lage dar, wenn christliche Anthropologie ins Verhältnis gesetzt wird, etwa zu buddhistischen Konzepten.42 2.3 Menschsein als Thema im Diskurs zwischen religiöser und nichtreligiöser (philosophischer oder humanwissenschaftlicher) Perspektive
Anders als im ökumenischen oder interreligiösen Gespräch kann das Gespräch zwischen religiösen und nichtreligiösen Anthropologien nicht auf gemeinsam verbindliche Textgrundlagen zurückgreifen, wohl aber auf eine gemeinsame 38 Siehe dazu neben Stubenrauch und Hailer in diesem Band auch Lehrbücher theologischer Anthropologie, etwa das bereits zitierte »Opus magnum« von Thomas Pröpper, Wolfgang Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt (2006) 22019; und Gregor Etzelmüller, Gottes verkörpertes Ebenbild: eine theologische Anthropologie, Tübingen 2021. 39 Als Hilfsmittel zur Findung solcher Bezüge vgl. Wolfgang Reinbold, Koran und Bibel. Ein synoptisches Textbuch für die Praxis, Göttingen 2022. 40 Zu gegenwärtigen Debatten vgl. Mouhanad Khorchide/Milad Karimi (Hg.), Jahrbuch für Islamische Theologie und Religionspädagogik 5: Was ist der Mensch, Freiburg u. a. 2016. 41 Siehe dazu den gemeinsamen Beitrag von Muna Tatari (Sunnitin) und Christian Ströbele (Katholik) in diesem Band sowie Darius Asghar-Zadeh, Menschsein im Angesicht des Absoluten: Theologische Anthropologie in der Perspektive christlich-muslimischer Komparativer Theologie (Beiträge zur komparativen Theologie 29), Paderborn 2017. 42 Vgl. Shizuteru Ueda/Wolf Burba, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gott�heit: Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Freiburg 2010; und – unterrichtspraktisch im Sinne des Hamburger Weges – Susanne von Braunmühl/Kai Eckstein/Horst Gloy/Amin Rochdi/Andreas Gloy/ Oliver Petersen/Erlend Pettersson/Melek Yildiz/Jürgen Moltmann, Pfade zur Menschlichkeit (Interreligiös-Dialogisches Lernen 4), München 2020; sowie Mara Sommerhoff/Britta Kölling, Ich, du, wir – Fragen nach Identität und Religion (Interreligiös-Dialogisches Lernen 7), München 2017.
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Wahrnehmung von Problemlagen und auf die geteilte »anthropologische[.] Wende des Denkens«43. Die Positionen bleiben in der Regel deutlich unterschieden, ohne jedoch sachlich beziehungslos zu sein. Jedenfalls wollen anthropologische Aussagen theologischer Provenienz »kompatibel« sein mit solchen nichtreligiöser Herkunft – und sie können das auch, wenn zum einen beide »die Reichweite ihrer Methoden und Resultate hermeneutisch und wissenschaftstheoretisch reflektieren« und so »ihr heterogenes Wissen friedlich geordnet und schiedlich vereint« präsentieren und zum anderen zumindest die theologische Anthropologie immer wieder versucht, humanwissenschaftliche[.] Befunde im Licht des Glaubens zu interpretieren«44 (so wie analog die Humanwissenschaften gehalten sind, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa zur Genetik, zur Wirkweise der Psyche oder zur Hirnforschung, im Licht ihrer Hypothese von der Freiheit des Menschen zu interpretieren45). Vor diesem Hintergrund ist der Grenzgang, den Volker Gerhardt als Philosoph unternimmt, überaus bemerkenswert. Er schreibt u. a.: »Die Komplexion unterschiedlicher menschlicher Fähigkeiten, verbunden mit der inzwischen offenkundigen ökologischen Ambivalenz technischer, ökonomischer und kultureller Leistungen, hat den Anteil von Ängsten und Hoffnungen derart verstärkt, dass man von einer alltäglichen Wiederkehr des Hoffens und des Glaubens sprechen kann. Mit Blick auf die Frage des religiösen Glaubens […] genügt es festzuhalten, dass es hier nicht um einen Gegensatz von Wissen und Glauben geht. Wissen und Glauben stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingung; wo das eine ist, muss auch das andere sein. Schon wer sich ernsthaft um Wissen bemüht, muss glauben, dass ihm dies gesellschaftliche Chancen, medizinische Aufklärung oder wenigstens eine persönliche Genugtuung verschafft.« Und mit Blick auf die Verwerfungen des Anthropozäns ist zu lesen: »Wenn wir uns fragen, auf welche Gemeinsamkeit wir außer auf Ethik und Politik setzen können, bleibt uns nur die Ermutigung und Tröstung durch den Glauben.«46 An anderer Stelle markiert Volker Gerhardt eindrücklich, dass es bei aller 43 44 45 46
Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 90–104, hier 90. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 109 und 112 (sowie insgesamt 108–116). Siehe Beitrag von Sven Walter in diesem Band. Zitate aus Volker Gerhards Beitrag in diesem Band; vgl. Volker Gerhard, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. Vgl. dazu Roderich Barth/Rochus Leonhardt (Hg.), Die Vernunft des Glaubens. Theologische Beiträge zu Volker Gerhardts Philosophie des Glaubens, Leipzig 2020.
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Verschiedenheit der Perspektiven weiterhin sinnvoll ist, in ethischen, politischen und anderen Streitfragen auf »Humanität« zu setzen – nota bene: Humanität ist dabei kein deskriptiver Begriff, der abbildet, wie sich Menschen faktisch verhalten, sondern ein informativer Begriff, der in Gedanken antizipiert, was sein soll: »Es ist ebendieser Begriff seiner selbst, der dem Menschen die Festigkeit gibt, die er braucht, um seinem eigenen Anspruch an sich und seinesgleichen zu genügen. [Es] ist die Vorstellung von der selbstbewussten Individualität des Menschen, seiner Freiheit und Würde sowie mit dem sie tragenden Begriff der Person, in dem sich Humanität erfüllt. Der begriffliche Kern dieses Humanismus ist, das sich in ihm der Mensch als der begreift, der er in seiner besten Verfassung sein kann.«47 2.4 Menschen und Humanoide/Transhumanismus als Herausforderung jedweder Anthropologie
Klassisches Thema der Anthropologie ist der Mensch bzw. genauer: dessen Selbstreflexion oder Frage nach sich selbst.48 Im Dienst der Klärung dieser Frage stand und steht häufig diejenige nach dem Verhältnis des Menschen zu Tieren und Pflanzen – induziert nicht zuletzt durch die biblischen Schöpfungsberichte, die eine solche Verhältnisbestimmung mit sich bringen. Vergleichsweise neu ist demgegenüber die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Humanoiden, also von ihm selbst geschaffenen, ihm in bestimmten (und zwar zunehmend vielen) Hinsichten ähnlichen Wesen, und die Frage des Transhumanismus, der die menschlichen Möglichkeiten mithilfe von – genetischen, digitalen, prothetischen usw. – Technologien zu erweitern sucht und so »Enhancement« (Verbesserung bzw. Optimierung menschlicher Möglichkeiten) schaffen will, sogenannte Cyborgs (also Menschen, deren Körperfunktionen teilweise maschinell wahrgenommen werden) oder qualitativ neuartige Superintelligenzen. In herkömmlichen theologischen Anthropologien wird man dazu
In ähnlicher Weise finden sich theologische Brückenschläge zu einer gegenwärtigen philosophischen Anthropologie im Hinblick auf Hans Blumenberg, vgl. ders., Beschreibung des Menschen, Frankfurt 2006, und Michael Moxter (Hg.), Erinnerung an das Humane: Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Tübingen 2011. 47 Gerhardt, Humanität, 289 (Kursivsetzung des letzten Satzes im Zitat durch BS). 48 Neben Psalm 8 als locus classicus die eindrückliche Problemexposition bei Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 8–57.
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noch nicht fündig – die faktischen technischen Möglichkeiten scheinen ihrer kritisch-konstruktiven theologischen Kritik noch voraus zu sein.49 2.5 Menschsein als Referenzpunkt und Klärungsbedarf religionspädagogischer Reflexion
Wie die Pädagogik kommt auch die Religionspädagogik nicht ohne Anthropologie aus. Sie ist dieses Umstandes cum grano salis auch stets gewahr gewesen, hat allerdings die für sie leitende Anthropologie – anders als die Katechetik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – nur selten im Anschluss an die dogmatischtheologische oder philosophische Anthropologie entfaltet. Denn diese hat sie nicht zu Unrecht als Anthropologien identifiziert, die allein oder nahezu ausschließlich auf erwachsene – und zudem: vernunftbegabte, gesunde, weiße – Menschen reflektieren und darüber etwa sowohl Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder Noch-nicht-Erwachsene weitgehend aus dem Blick verlieren. Thema religionspädagogischer Anthropologien war und ist demgegenüber (in Entsprechung zu ihrer traditionellen Engführung auf Lernorte wie Kindergarten bzw. Kindertagesstätte oder schulischer Religionsunterricht) das Kind bzw. der/die Jugendliche – allerdings auch das de facto mit engen Grenzen der Wahrnehmung, die bislang etwa kultureller, religiöser, physischer, sexueller Vielfalt kaum Rechnung trugen.50 Material gefüllt wurde und wird diese Anthropologie primär mit empiriebasierten Einsichten in Entwicklungsprozesse und soziale, reflexive und thematische Horizonte junger Menschen, u. a. entwicklungspsychologischer, soziologischer und religionstheoretischer Provenienz, nur vergleichsweise selten mit originär theologischen Einsichten. Sieht man von vereinzelten Ansätzen einer theologischen Anthropologie des Kindes51 und der historischen Rekonstruktion des theologischen Interesses an der Religion des
49 Vgl. dazu den Beitrag von Caroline Helmus in diesem Band und darüber hinaus Caroline Helmus, Transhumanismus – der neue (Unter-)Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die theologische Anthropologie, Regensburg 2020; Oliver Dürr, Homo Novus. Vollendlichkeit im Zeitalter des Transhumanismus. Beiträge zu einer Techniktheologie, Münster 2021; Oliver Dürr, Transhumanismus – Traum oder Alptraum?, Freiburg i. Br. 2023. 50 Demgegenüber: Thorsten Knauth/Rainer Möller/Annebelle Pithan (Hg.), Inklusive Religionspädagogik der Vielfalt. Konzeptionelle Grundlagen und didaktische Konkretionen (Religious Diversity and Education in Europe 42), Münster/New York 2020, v. a. 203–254. 51 Friederike Franziska Spengler, Kindsein als Menschsein. Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie (MThSt 88), Marburg 2005.
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Kindes52 ab, haben erst die Kinder- und Jugendtheologie53, die Grundlegungen einer subjektorientierten Religionspädagogik54 und die Entwürfe einer Theologie der Lebensalter55 die Möglichkeit, die Notwendigkeit und die Aufgaben einer solchen religionspädagogischen Anthropologie ins Bewusstsein gerückt, die ihren Schwerpunkt auf junge Menschen legt, aber von da ausgehend alle Lebensalter einzubeziehen vermag. Eine solche religionspädagogische Anthropologie ist allerdings gut beraten, im Bewusstsein des ihr eigenen erkenntnisleitenden Interesses mit philosophischen und theologischen Anthropologien ins Gespräch zu treten. Das hat vor Jahren Bernhard Grümme unternommen und dabei »Dimensionen« des Menschseins unterschieden, die der Reflexion bedürfen: »Körper – Leib – Seele«, »Endlichkeit«, »Identität«, »Sozialität«, »Freiheit«, »Versagen, Schuld, Sünde«, »Zeit«, »Rationalität« und »Religion«.56 In diesem Band knüpft er daran an und wirbt für eine »alteritätstheoretische begründete«, »handlungstheoretisch grundiert[e]« religionspädagogische Anthropologie, die weder essenzialistisch normiert noch bloß pragmatisch argumentiert, sondern den Religionspädagog:innen einen Raum für die selbstkritische Reflexion ihrer Hintergrundannahmen und Praktiken eröffnet.57
3 Religionsdidaktische Zugänge zur Anthropologie Das Geschäft der Religionspädagogik zeichnet sich durch eine Doppelbewegung aus: Einerseits klärt sie in theoriebildender Absicht etwa Konzepte, Argumentationen, interdisziplinäre Bezüge, Erträge religiöser Bildung, Erziehung 52 Friedrich Schweitzer, Die Religion des Kindes. Zur Problemgeschichte einer religionspädagogischen Grundfrage, Gütersloh 1992. 53 Eine Bündelung ihrer Erträge für eine theologische Anthropologie von Kindern und Jugendlichen steht noch aus; vgl. Hanna Roose/Gerhard Büttner/Thomas Schlag (Hg.), »Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht«: Jugend und Bibel (Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie), Stuttgart 2018. 54 Vgl. Joachim Kunstmann, Religionspädagogik, Tübingen 2021, v. a. § 15; Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2021, § 12; sowie Stefan Altmeyer/Bernhard Grümme/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.): Jahrbuch der Religionspädagogik 38: Religion subjektorientiert erschließen, Göttingen 2022. 55 Siehe etwa Friedrich Schweitzer, Postmoderner Lebenszyklus und Religion. Eine Herausforderung für Kirche und Theologie, Gütersloh 2003; Kathleen A. Cahalan/Bonnie J. MillerMcLemore (Hg.), Calling all Years good: Christian Vocation throughout Life‹s Seasons, Grand Rapids/MI 2017; Christian Grethlein, Lebensalter – eine theologische Theorie, Leipzig 2019. 56 Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg u. a. 2012, 156–496. 57 Vgl. v. a. die Abschnitte 3 und 4 seines Beitrags in diesem Band.
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und Sozialisation, Methoden und Hermeneutik. Andererseits beleuchtet sie in handlungsorientierender Absicht Lehr-Lern-Settings und didaktische Möglichkeiten. Nicht anders verhält es sich beim religionspädagogischen Umgang mit dem Thema Anthropologie – so sind neben theorieorientierten Beiträgen (in den Teilen 2 und 3 dieses Jahrbuches) didaktische Konkretionen (in Teil 4) von konstitutiver Bedeutung. Mit Blick auf solche didaktischen Fragen setzt Peter Kliemann den Grundton: Er markiert das hohe Interesse und die Beteiligungsmotivation vieler Schüler:innen bei der Behandlung anthropologischer Fragen – hier scheinen Personen im Prozess ihrer Subjektwerdung gewahr zu werden: tua res agitur. Und er betont die Chancen der fachübergreifenden Kooperation, die sich bei der Behandlung anthropologischer Streitfragen für den Religionsunterricht eröffnen: konfessionelle Kooperation, Zusammenarbeit mit dem islamischen Religionsunterricht oder dem Ethikunterricht. Schließlich wirbt er sogar für eine neue »Bildungsplanarchitektur«, die ihren Ausgang bei anthropologischen Fragestellungen nimmt (wie es in den oben zitierten EPA im Prinzip bereits angelegt ist).58 Über die Beiträge hinweg lassen sich fünf grundlegende religionsdidaktische Perspektiven erkennen. 3.1 Raum für existenzielle anthropologische Reflexion eröffnen als Aufgabe religiöser Bildung
Die Fülle an Herausforderungen, die das Anthropozän mit sich bringt, unterstreicht, dass es zu den Aufgaben religiöser Bildung gehört – sowohl im schulischen Religionsunterricht als auch an anderen Lernorten –, Raum für die Selbstreflexion der Lernenden auf ihr Menschsein zu bieten, sie also gewissermaßen ihrerseits in die Denkbewegung religionspädagogischer Anthropologie mit hineinzunehmen. Bezogen auf die Schule wird auch in anderen Fächern ähnlich verfahren: im Deutschunterricht, sofern dort einschlägig relevante Poesie oder Prosa interpretiert wird, der Kunstunterricht, in dem Kunstwerke als anthropologisches Interpretament zum Thema gemacht werden, Politikunterricht und Sozialkunde, die Vergesellschaftsformen problematisieren. Der Religionsunterricht, der theologische Denkfiguren zur Anthropologie wie Geschöpflichkeit und Sünde, Freiheit und theonome Reziprozität anbieten kann, bringt eine anthropologische Theorietradition zur Geltung – idealerweise im ideellen oder tatsächlichen Gespräch mit weiteren Ansätzen.
58 Vgl. insbesondere Abschnitt 4 im Beitrag von Peter Kliemann in diesem Band.
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Dergleichen muss keineswegs abstrakt bleiben – im Gegenteil: Durch die Teilnahme von Schüler:innen mit Beeinträchtigungen59 oder die Thematisierung anthropologischer Fragen in Berufsvorbereitungsklassen berufsbildender Schulen60 wird Anthropologie ebenso konkret wie bei Fragen der Geschlechtlichkeit61 und bei der Erörterung ethischer Problemlagen. Ziel ist es, implizite Leitbilder von Menschsein und Humanität zu erkennen, der je eigenen Reflexion zugänglich zu machen und kritisch zu befragen. Das tut mit Blick auf die implizite Männlichkeit anthropologischer Leitbilder genauso not wie im Hinblick auf den Eurozentrismus oder die Weißheit des Menschen, die stillschweigend vorausgesetzt wird.62 Im Kern jedoch geht es darum – auch über unterrichtlich erreichbare Ziele hinaus –, Heranwachsende zu ermutigen, »als Mensch zum Vorschein zu kommen«63. 3.2 Im Rahmen ethischer Bildung normativ wirksame Leitbilder des Menschseins reflektieren
Lebensweltlich wird Anthropologie nicht selten dann zum Thema, wenn ethische Entscheidungen anstehen, die an das rühren, was den Menschen traditionell, intuitiv oder aus der Sicht bestimmter Personengruppen ausmacht: Entscheidungen, die – mit Trutz Rendtorff formuliert – das »Gegebensein des Lebens« (etwa bei Fragen der Sterbehilfe oder der Friedensethik), das »Geben des Lebens« (bei Fragen der Leihmutterschaft oder des Genom-Editing) oder die »Reflexivität des Lebens« (beim Status der Organspende) als die »drei Grundelemente ethischer Lebensführung« tangieren.64 Im Licht der Beiträge dieses Bandes gilt es nicht nur, entsprechende ethische Fragen ihrer Sache nach zu erörtern, Wege der Urteilsbildung zu erproben und etwaige Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen bzw. zur Anwendung zu bringen,65 sondern auch die mitschwingenden anthropologischen Hintergrundannahmen zu identifizieren und zu thematisieren. Sie fungieren nicht selten als normative Ankerpunkte, betreffen aber – mit Heinz Eduard Tödt gesprochen – 59 60 61 62 63 64
Siehe dazu den Beitrag von Ulrike Witten. Siehe dazu den Beitrag von Joachim Ruopp. Siehe dazu den Beitrag von Helga Kohler-Spiegel. Siehe dazu die Anregungen im Beitrag von Britta Konz. Engemann, Als Mensch zum Vorschein kommen. Trutz Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie (1980/81), hg. von Reiner Anselm/Stephan Schleissing, Tübingen 32011. 65 Vgl. Rudolf Englert/Helga Kohler-Spiegel/Elisabeth Naurath/Bernd Schröder/Friedrich Schweitzer (Hg.): Jahrbuch der Religionspädagogik 31: Ethisches Lernen, Neukirchen-Vluyn 2015.
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auch die Reichweite der möglichen »ethisch-kommunikative[n] Verbindlichkeit von Verhaltensoptionen«: Die Ablehnung des assistierten Suizids mag vor dem Hintergrund der geglaubten »Geschöpflichkeit« des Menschen einleuchten, vor dem Hintergrund einer existenzialistischen Position wird sie es vermutlich nicht. In Schulbüchern wird dieser anthropologische Prüfschritt zum Teil angeregt.66 3.3 Eigenarten des Menschseins bedenken in einer Kultur der Digitalität und des Transhumanismus
Einen besonderen Fall sowohl der gebotenen anthropologischen Selbstaufklärung (s. 3.1) als auch der anthropologischen Prüfung ethischer Normen (s. 3.2) stellen Unterrichtseinheiten oder Lernsettings dar, die sich mit Künstlicher Intelligenz (KI), humanoider Robotik oder Transhumanismus befassen – hier rücken Anthropologie und Ethik in besonderem Maße zusammen. Die Phänomene, um die es geht, bedürfen ausführlicher Thematisierung, und zwar sowohl mit Blick auf ihre technisch-digitale Machart und Funktionsweise als auch auf die darin aufbrechenden Fragen der Anthropologie und Ethik. Insofern bietet sich hier fachübergreifender Unterricht von Religion und Informatik an. Angesichts der hohen Entwicklungsdynamik der genannten Phänomene, der Unerprobtheit von Kategorien und Kriterien und der Tentativität und Vorläufigkeit von Urteilen gewinnt hier – und das ist didaktisch gesehen eine Chance – die anthropologische Reflexion den Charakter einer gemeinsamen Suchbewegung von Personen unterschiedlicher Kundigkeit: die einen mit Sinn für Technik und zukünftige Möglichkeiten, die anderen mit Sensorium für Gefahren möglicher Grenzüberschreitungen. Spiele mit digitalen Simulationen, sogenannten Games, unterstützen als Medien eben solche Suchbewegungen, indem Schüler:innen in diesen Multimedia (Medien, die mehrere Sinneskanäle aktivieren und Interaktivität ermöglichen) ihre Teilhabe am Prozess steigern und Szenarien »durchspielen« können.67
66 Siehe dazu den Beitrag von Gabriele Otten. 67 Vgl. dazu die Anregungen von Simon Kluge, der als zweifach examinierter Lehrer für Evangelische Religion und Informatik über die gefragte Doppelexpertise verfügt.
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3.4 Religiös grundierte Menschenbilder und ihren Mehrwert einspielen, ihre Differenzen quellenbasiert erkunden und in der Begegnung überprüfen
Unter pluralen Bedingungen soll Religionsunterricht Identitätsbildung und Verständigungsfähigkeit fördern. Das gilt im Gang durch alle möglichen Themen, nicht zuletzt durch die Anthropologie. Differenzen in der traditionellen Weise, vom Menschen zu reden, ihm Merkmale zuzuschreiben und Muster der Lebensdeutung und -führung daraus abzuleiten, sind sowohl in verschiedenen Konfessionskulturen (hier kommen die evangelische, die katholische und die orthodoxe in den Blick) als auch in ausgewählten Religionskulturen (hier Judentum, Christentum und Islam) so deutlich erkennbar, dass sich eine durchaus textorientierte, primär hermeneutische Befassung damit lohnt: Sie leistet einen Beitrag zum besseren Verstehen von Herkunft, Geltungsansprüchen und Modellen der Lebensführung dieser Kulturen. Allerdings löst sich die traditionell fortgeschriebene konfessions- bzw. religionsspezifische Anthropologie unter spätmodernen Bedingungen tendenziell auf: Innerhalb der Konfessionen und Religionen bildet sich eine Pluralität an Auffassungen heraus; die Herausforderungen des Anthropozäns verlangen nach neuen Antworten; die Striktheit der persönlichen Aneignung religionsgemeinschaftlicher Lehre und Orthopraxie lässt nach. Beiden Phänomenen – der traditionellen Klarheit und der spätmodernen Diffusion – kann Rechnung getragen werden, indem auch komplementäre Formate interkonfessionellen und interreligiösen Lernens genutzt werden: das »Lernen über« anhand des Verstehens traditioneller anthropologischer Lehren und Praktiken und das »Lernen von« im Medium der Begegnung zwischen Lernenden aus unterschiedlichen Konfessionen bzw. Religionen. Darüber gilt es in einem »säkularen Zeitalter« (Charles Taylor) allerdings immer wieder zu fokussieren, worin das besteht, was religiös grundierte Anthropologien in das Gespräch über das Menschsein einzubringen haben, darunter die Hoffnung auf »Unterbrechung von Unbefriedigendem«, »Anerkennung von Fragmentarischem« und »Entschuldung von Unentschuldbarem«.68
68 So der Versuch einer Explikation bei Schröder, Religionspädagogik, 175 f.; vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, Bd. 1, 79–82.
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3.5 Im Zeichen nachhaltiger Entwicklung das Menschheitswohl in den Blick nehmen
Theologische Anthropologie thematisiert herkömmlich zwar Merkmale und theonome Zuschreibungen an die Gattung Mensch, zielt damit jedoch auf das Verstehen der conditio humana der einzelnen Menschen in ihren Beziehungen zu Mitmenschen wie zu anderen Lebewesen. In der Krise des Anthropozäns kommt ergänzend die Thematisierung der Menschheit – ihres Überlebens und Wohlergehens, ihrer Teilhabe- und Verantwortungsmöglichkeiten, ihrer verbindenden Kriterien für Humanität – als Lernfeld hinzu. Das hat eine inhaltliche Seite, das heißt, es erfordert etwa den Blick auf anthropologische Reflexionen in anderen Kulturen, die Bezugnahme auf Rassismus- und Kolonialismuskritik, die Thematisierung einer globalen Menschheitsgeschichte und ihrer Transformation in Richtung Nachhaltigkeit.69 Da rüber hinaus erfordert es eine didaktisch-methodische Seite, das heißt, etwa die Öffnung des Religionsunterrichts für »Globales Lernen«, für die Nutzung digitaler Kommunikationsmöglichkeiten mit Peers in anderen Weltgegenden, die Einbeziehung von Lernarrangements aus dem Repertoire der »Bildung für nachhaltige Entwicklung«.70
4 Ungesagtes und Unabgegoltenes Ohne Zweifel gäbe es von allem hier Angesprochenen mehr zu sagen: von biblischen Impulsen zur Anthropologie, von christlich-theologischer sowie jüdisch- und islamisch-theologischer Anthropologie, von naturwisssenschaftlichen, bildungstheoretischen und philosophischen Beiträgen zum Thema, von der Anthropologie, die religionspädagogische Entwürfe implizieren – und erst recht von didaktisch-methodischen Lernwegen. Die Stärke des Jahrbuchs liegt 69 Vgl. dazu Katrin Bederna, Every day for future: Theologie und religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung, Ostfildern 2019; Claudia Gärtner, Klima, Corona und das Christentum. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt, Bielefeld 2020; Gudrun Spahn-Skrotzki, Klimakrise, externalisierender Lebensstil und Religionspädagogik, Bad Heilbrunn 2022. 70 Unterrichtspraktische Anregungen bieten etwa Gudrun Spahn-Skrotzki, Klimabildung – Leitlinien für alle Schulen und Fächer, Weinheim 2023; Andreas Benk (Hg.), Globales Lernen. Bildung unter dem Leitbild weltweiter Gerechtigkeit. Ostfildern 2019; sowie die über die Homepage des »Netzwerk antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie« (narrt) auffindbare und zum Teil zugängliche Literatur: https://narrt.de/katalog (Zugriff am 16.05.23).
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indes in der Zusammenführung verschiedener Reflexionsstränge eines Themas – und der Verstärkung bestimmter Aufgaben und Linien. Bernhard Grümme charakterisiert den Versuch, »in den gegenwärtigen Transformationsprozessen« eine religionspädagogische Anthropologie zu entwerfen. Und ich ergänze: mit Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Unterricht darüber zu sprechen, was es heißt, ein Mensch zu sein, und Humanität als Ideal anzusehen – als »riskantes Unterfangen«. Das ist es, insofern die Pluralität der anthropologischen Auffassungen und die Reichweite der critical approaches einen schier grenzen- und bodenlosen Raum des Aushandelns eröffnen, und insofern nicht nur Heranwachsende, sondern auch Erwachsene an dieser Verunsicherung teilhaben. Vor diesem Hintergrund kann es entlasten, zu wissen, dass nicht die (theologische) Anthropologie gesucht wird, die jede Ungerechtigkeit aufhebt – im religionspädagogischen Diskurs ebenso wenig wie im Klassenzimmer –, sondern anthropologische Ausgangspunkte, Denkfiguren und transparente Positionen, die allen Beteiligten helfen, sich selbst im Gefüge der Menschheit und der belebten Welt zu verstehen, handlungsfähig zu werden und hoffnungsvoll zu bleiben. Sich in einer konkreten, notwendigerweise partikularen »story« (Dietrich Ritschl) zu beheimaten und zugleich den »Erdkreis und die darauf wohnen« (Ps 24,1) in den Blick zu nehmen, widerspricht sich nicht, sondern gehört zu den Spannungen, die im Anthropozän die Menschheit und jede:r Einzelne auszuhalten und auszutarieren haben. Dr. Bernd Schröder ist Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der (Evangelisch-)Theologischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen.