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German Pages 276 Year 2017
Johannes Traulsen Heiligkeit und Gemeinschaft
Hermaea
Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller
Band 143
Johannes Traulsen
Heiligkeit und Gemeinschaft Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im ‚Väterbuch‘
ISBN 978-3-11-052431-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052580-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052438-3 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Studie wurde 2015 an der Freien Universität Berlin zur Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und aktualisiert. Die Wüsteneremiten, mit denen sich dieses Buch befasst, verstanden sich als Teil einer Kommunität, an der ihr Leben stets orientiert blieb. Nur in Gemeinschaft, das zeigen viele der im Folgenden dargestellten Erzählungen, war Einsicht möglich. Auch meine Auseinandersetzung mit den Wüstenvätern war davon bestimmt, dass ich mich während der einsamen Arbeit am Text immer als Teil einer Gemeinschaft von interessierten und hilfreichen Menschen fühlte, ohne deren Rat, Kritik und Zuspruch der Text nicht hätte werden können, was er nun ist. Die vorliegende Arbeit ist deshalb, das Wortspiel sei mir gestattet, ein Gemeinschaftswerk. Die erste Konzeption dieses Projekts und meine ersten zögerlichen Schritte in Richtung einer wissenschaftlichen Arbeit begleitete Prof. Dr. Ingrid Kasten, der ich zuallererst für die Anregungen und das Vertrauen danken möchte, das sie in mich setzte. Mit der Emeritierung von Ingrid Kasten und meinem Wechsel an ihren Lehrstuhl wurde die Betreuung von Prof. Dr. Jutta Eming übernommen, die mir in den folgenden Jahren stets mit Rat und Hilfe zur Seite stand, die mir aber auch großzügig Zeit und Freiheit bei der Arbeit einräumte. Auch ihr sei herzlich gedankt. Für ebenso kritische wie bereichernde Diskussionen danke ich den Mitgliedern der Promotionskommission, Prof. Dr. Elke Koch, Prof. Dr. Bernd Roling, Prof. Dr. Julia Weitbrecht und Dr. Tilo Renz. Besonders verpflichtet fühle ich mich den Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, die mich in jeder nur erdenklichen Weise unterstützt und begleitet haben. Vor allem danke ich Nina Nowakowski, Dr. Maximilian Benz und Prof. Dr. Julia Weitbrecht, deren Freundschaft und Expertise unverzichtbar waren. Ihnen begegnet zu sein, war nicht nur aus professionellen Gründen ein großes Glück für mich. Für anregende Diskussionen meiner Thesen danke ich den Forschungskolloquien der Freien Universität Berlin und der Humboldt Universität zu Berlin. Ein besonderer Dank gilt außerdem den Mitgliedern des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Netzwerks „Legendarisches Erzählen im Mittelalter. Formen, Funktionen und Kontexte der deutschsprachigen Heiligenerzählung“. Die Diskussionen während der Netzwerktreffen waren ungeheuer bereichernd und haben die vorliegende Arbeit nachhaltig beeinflusst. Für Unterstützung in allen Lebenslagen, hier aber insbesondere für die kritische Lektüre und Diskussion des Textes, danke ich Harriet Traulsen-Haesler und Dr. Ludwig Haesler. Mein Dank gilt außerdem Stephanie Kirschey, die mir zuverlässig bei der Herstellung der Druckfassung zur Seite gestanden hat. Schließlich danke ich Prof. Dr. Christine Lubkoll und Prof. Dr. Stephan Müller für die Aufnahme in die Reihe ‚Hermaea‘ und ihre hilfreichen Hinweise.
VI
Vorwort
Ich hoffe, dass die folgende Darstellung der Wüstenväter nicht nur einen Beitrag zur Fachdiskussion leistet, sondern zudem daran erinnert, dass auch in der Wissenschaft Erkenntnis nur gemeinsam zu erreichen ist.
Inhalt Vorwort
V 1
1
Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
2 2.1 2.2 2.3 2.4
7 Die Wüste – Entsagung und Verheißung Askese in der christlichen Antike 7 Ägyptische Ursprünge? 11 Anachorese und Zönobium 15 Von den Wüstenvätern ins 13. Jahrhundert
3 3.1 3.2 3.3
25 Asketische Literatur in Spätantike und Mittelalter Die ‚Vitaspatrum‘ – Geschichte, Formen und Funktionen 25 Die ‚Vitaspatrum‘ zwischen Latinität und Volkssprache 28 Das ‚Väterbuch‘ als erste deutsche Übersetzung der ‚Vitaspatrum‘ 32 Zur Überlieferung des ‚Väterbuchs‘ 36 Stand der Forschung zum ‚Väterbuch‘ 39
3.4 3.5
18
4
Die Vielfalt der Heiligkeit und die germanistische Legendenforschung 47
5 5.1 5.2 5.3
Minne, Zeit und Ewigkeit: Zur Rahmung des ‚Väterbuchs‘ Gemeinschaft und minne im ‚Väterbuch‘ 57 Erzähler, Einsiedler und die Demut 61 Die ‚Siebenschläferlegende‘ und das Jüngste Gericht
6 6.1 6.2 6.3
76 Der heilige Antonius als Paradigma (‚Antoniusvita‘) Die ‚Vita Antonii‘ und ihre Rezeption im ‚Väterbuch‘ 76 Gemeinschaft und Einsiedelei 81 Einsiedler und Vorbild 92
7 7.1
103 Reise, Wüste, Imagination (‚Historia monachorum‘) Die Wüstenreise als Modus der Erfahrung und des Erzählens 107 Das Wirken des Wüstenheiligen (Johannes von Ägypten) Wüstenvater und Gemeinschaft (Apollonius) 124 Askese und Erzählen (Copres) 134
7.2 7.3 7.4
57
64
112
VIII
Inhalt
8 8.1 8.2 8.3
Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata) 144 Funktionen des Spruchs 149 Einfache Sprüche und das Wissen der Mönche 151 Sprüche der großen Wüstenväter (Arsenius, Macarius, Moyses) 164 Ein Andreasmirakel als Angelpunkt des ‚Väterbuchs‘ 182 Spruch, Übersetzung und Tradierung im Kloster (,Hieronymusmirakel‘) 184
8.4 8.5
9.3 9.4
188 Paarungen und Verwandtschaften (Legenden) Heiligkeit und Vermännlichung (Euphrosyna, Pelagia, Margareta und die Antiochenische Jungfrau) 192 Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten) 214 Heilige Familien (Eustachius und Alexius) 230 Identität und Heiligkeit 245
10
Die Heiligkeit der Gemeinschaft
9 9.1 9.2
246
250 11 Anhang 11.1 Die Federzeichnungen der Straßburger Handschrift 11.2 Abkürzungen 251 11.3 Verwendete Literatur 252 11.4 Sach- und Personenregister 265
250
1 Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft Im 3. Jahrhundert begann an den südöstlichen Rändern des römischen Reichs eine folgenreiche Entwicklung: Einzelne Christen lösten sich aus ihren Familien, verließen ihre Wohnorte und zogen sich als Einsiedler in die Wüste zurück, um ihr Leben mit Askese und Kontemplation ganz dem Gottesdienst zu widmen. Diese spätantike eremitische Bewegung war die Keimzelle des christlichen Mönchtums. Auch wenn sich einige der Eremiten Schweigen auferlegten, waren die meisten von ihnen höchst beredt. Mit der Autorität, die ihnen ihr asketisches Leben eintrug und aufgrund derer sie den Ehrentitel ‚Wüstenväter‘ trugen, prägten sie Sentenzen und Parabeln, die in ihrer Gesamtheit ein Panorama der eremitischen Bewegung und ein Regelwerk für das asketische Leben darstellen. Zusammen mit den Biographien der Wüstenväter wurden ihre Aussprüche in wachsenden Sammlungen schriftlich festgehalten. Das widersprach zwar dem eigentlich schrift- und bildungsfernen Lebensentwurf der Eremiten, ermöglichte aber die Verbreitung ihrer asketischen Ideale. Durch die schriftliche Weitergabe ihrer Biographien und Weisheiten wurden die Eremiten selbst zu Objekten der literarischen Gestaltung. Die Autoren der Einsiedlerviten, allen voran Athanasius von Alexandria und Hieronymus, entwarfen in ihren Texten schon zu deren Lebzeiten die Wüstenväter als Figuren, die für bestimmte Konzepte und Vorstellungen des eremitischen Lebens und der Askese standen. Seit ihren Anfängen sind die Wüstenväter damit auch ein literarisches Phänomen. Die so entstandene Literatur bildete in Europa einen konstitutiven Bestandteil der monastischen Kultur, in der sie aber nicht nur rezipiert, sondern auch immer wieder um- und neugeschrieben wurde. Auf diese Weise entstand ein disparates Konvolut von asketischen Texten, das in unterschiedlichen Zusammensetzungen kursierte und im lateinischen Bereich erst im 17. Jahrhundert von dem Jesuiten Heribert Rosweyde systematisch zusammengefasst wurde.1 In der lateinischen Welt wurden die dem Konvolut angehörigen Texte mit dem mittellateinischen Titel ‚Vitaspatrum‘,2 ‚Leben der Väter‘, bezeichnet.
1 Vgl. Rosweyde, Heribert: Vitae patrum sive historiae eremiticae libri decem. Novissime corrigente et recensente par Jaques-Paul Migne. Paris 1879 (Patrologiae cursus completus / Patrologia Latina 73). 2 Der Gebrauch des Akkusativs statt des Nominativs ist im Mittellateinischen gebräuchlich und ‚Vitaspatrum‘ ist die im Mittelalter übliche Bezeichnung. Vgl. Batlle, Columba M.: Die „Adhortationes Sanctorum Patrum“ („Verba Seniorum“) im lateinischen Mittelalter. Überlieferung, Fort-
2
Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
Die Erinnerung an die Ursprünge der monastischen Kultur in der Wüste wurde zu einer Herausforderung, als ab dem 13. Jahrhundert die Anzahl der Klosterangehörigen wuchs, die kein Latein beherrschten und deshalb nicht mehr in der Lage waren, die ‚Vitaspatrum‘ zu verstehen. Für ein nicht lateinisch gebildetes Publikum entstand um 1280 das ‚Väterbuch‘3 als erste Übersetzung der ‚Vitaspatrum‘ in die deutsche Sprache. Der Text konnte auch in der neuen Sprache seine wichtigen Funktionen erfüllen: Er beleuchtete die Ursprünge des Mönchtums, er vermittelte dessen wichtigste Regeln und Grundsätze und er stellte vorbildliche Figuren vor Augen, an denen man sich orientieren konnte. Auch wenn das ‚Väterbuch‘ im weitesten Sinne eine Übersetzung der ‚Vitaspatrum‘ ist, so sind doch tausend Jahre des Erzählens und Wiedererzählens nicht spurlos an dem Stoff vorbeigegangen. Viten und Weisheiten der Wüstenväter haben, wenn sie im ‚Väterbuch‘ in deutscher Sprache festgehalten werden, drei historische und kulturelle Schwellen überwunden: Zunächst wurde die Kultur der häufig illiteraten Wüsteneremiten von spätantiken Autoren in griechischer und koptischer Sprache literarisch gestaltet. Die Texte wurden dann aus dem Bereich des nordafrikanischen hellenistischen Christentums in den des europäisch-lateinischen Christentums überführt und dort in lateinischer Sprache weiter tradiert. Schließlich hat man sie im 13. Jahrhundert erstmals aus dem Lateinischen in die Volkssprache übertragen und damit für nicht klerikal Gebildete zugänglich gemacht. So ist das ‚Väterbuch‘ des 13. Jahrhunderts Produkt eines umfassenden Transformationsprozesses: Der Text erinnert an die spätantike Eremitenkultur und schreibt sie fort, zugleich aber macht er sie sich zu eigen, variiert und rekonstruiert sie in einem gänzlich neuen Zusammenhang. Eine Analyse des ‚Väterbuchs‘ – mit Blick auf seine Vorlagen – verspricht daher vertiefte Einblicke in mehrere Zusammenhänge, nämlich in die literarische Tradition der Wüstenvätererzählungen, ihre spezifische Ausformung in der Volkssprache und die Wandlungsprozesse, denen sie unterworfen war. Da dem ‚Väterbuch‘ seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts keine größere Studie mehr gewidmet wurde, ist es an der Zeit, die wichtigsten Aspekte dieses Werkes im Licht der aktuellen Forschung neu zu beleuchten.
leben und Wirkung. Münster/Westfalen 1972 (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums 31), S. 7–9 und Hoffmann, Werner J./Williams, Ulla: [Art.] Vitaspatrum. In: VL. 2. Aufl. Bd. 10. Berlin/New York 1999, Sp. 450–466. 3 Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift. Hrsg. von Karl Reissenberger. Berlin 1914 (Deutsche Texte des Mittelalters 22).
Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
3
Das Leben in der monastischen Gemeinschaft prägte in der Vormoderne ein Aufgehobensein in doppelter Hinsicht: Während die meisten Lebensformen einen kontinuierlichen Identitätsentwurf mit sich brachten, indem etwa die Standeszugehörigkeit ererbt wurde, verlangte das monastische Leben einen Identitätswandel: Man wurde nicht als Einsiedler, Mönch oder Nonne geboren, sondern man trat in dieses Leben ein. Einerseits hob der Übertritt, zumindest formal, die vorherige Identität mit ihren Privilegien und Einschränkungen auf. Andererseits war der neue Ordensangehörige aufgehoben in einer neuen Gemeinschaft mit seinen Brüdern und Schwestern, mit Christus und den Heiligen. Damit war die Entscheidung zum monastischen Rückzug keinesfalls nur eine Entscheidung gegen die Standes- oder Familiengemeinschaft. Die Asketinnen und Asketen verließen ihre ursprünglichen Zusammenhänge und kamen in der Wüste oder im Kloster zu einer neuen Gemeinschaft zusammen, deren gemeinsames Ziel der Gottesdienst war. Entsprechend spielt die monastische Literatur alle möglichen Verhältnisse von Identität, Askese und Gesellschaft durch. Die Exemplarizität der Figuren, die in den Texten als Leitbilder vor Augen gestellt werden, drückt sich auch darin aus, dass sie als Heilige verehrt werden. Doch erscheinen sie nicht als einsame Glaubenshelden, sondern sie verstehen sich, wie die Klosterangehörigen, als Teil einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Die große Bedeutung der Gemeinschaft prägt auch die Entwürfe von Heiligkeit selbst. Bereits in der frühen ‚Augustinusregel‘ bezeichnet communio nicht nur das Leben in einer sozialen und wirtschaftlichen Einheit, sondern die Gemeinschaft der Mönche setzt der Regel zufolge das Leben der urchristlichen Kirchengemeinde fort und ist Bedingung der Gottesnähe.4 Entsprechend erscheint auch die monastische Heiligkeit als Gemeinschaftsprodukt:5 Sie beruht auf dem Wirken des Einzelnen für die Gemeinschaft und sie ist für jeden durch die Teilhabe an der Gemeinschaft
4 Vgl. Schreiner, Klaus: Communio – Semantik, Spiritualität und Wirkungsgeschichte einer in der Augustinerregel verankerten Lebensform. In: K. S.: Gemeinsam Leben. Spiritualität, Lebensund Verfassungsformen klösterlicher Gemeinschaften in Kirche und Gesellschaft des Mittel alters. Hrsg. von Gerd Melville. Berlin u. a. 2013 (Vita regularis – Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 53), S. 203–241 (Erstveröffentlichung 2009); hier S. 213–223. 5 Julia Weitbrecht verwendet dafür den Begrif der „sozialen Heiligung“: Weitbrecht, Julia: Keuschheit, Ehe und Eheflucht in legendarischen Texten: ‚Vita Malchi‘, ‚Alexius‘, ‚Gute Frau‘. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/ Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 131–154; hier S. 135. Zum selben Komplex Weitbrecht, Julia: Die werlt lâzen durch got. Reise und ‚soziale Heiligung‘ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans. In: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation. Hrsg. von Burkhard Hasebrink/Susanne Bernhardt/Imke Früh. Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 62–79.
4
Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
zugänglich. Obwohl die monastischen Heiligen sich in ihren Lebensberichten vielfach begegnen, voneinander lernen und füreinander einstehen, hat sich die jüngere germanistische Legendenforschung vor allem auf den Heiligen als einzelne Figur konzentriert. Doch die Betonung der Singularität des oder der Heiligen unterschlägt, dass auch die literarische Inszenierung heiliger Figuren, etwa im ‚Väterbuch‘, deutlich von einem Gemeinschaftsgedanken geprägt ist. Entsprechend werden die folgenden Untersuchungen sich besonders auf das Verhältnis von Heiligkeit und Gemeinschaft konzentrieren. Damit wird nicht nur ein abgeschlossener Bereich innerhalb der vormodernen Literatur beleuchtet, denn die asketische Literatur war im Mittelalter weitläufig bekannt, wovon die umfangreiche Überlieferung zeugt. Es ist außerdem davon auszugehen, dass sie auch den Verfassern der weltlichen mittelhochdeutschen Literatur vertraut war, denn die literarische Tradition der ‚Vitaspatrum‘ hat auch in der höfischen Literatur Spuren hinterlassen.6 Sie werden zum Beispiel dort erkennbar, wo sich Entsagung und Bewährung verbinden, wo sich neue spiritualisierte Gemeinschaften gegenüber weltlichen Zusammenhängen konstituieren und wo Lehrer-Schüler-Verhältnisse von Bedeutung sind. Strukturanalogien zu den ‚Vitaspatrum‘ sind immer dort erkennbar, wo das Vitenschema prägend ist, wo Spruch und Exempel als literarische Formen auftauchen oder wo der Lehrdialog aufgegriffen wird. Betrachtet man diese Prämissen nur mit Blick auf die sogenannte mittelhochdeutsche Klassik, lassen sich auf den ersten Blick sowohl bei Hartmann von Aue als auch bei Gottfried von Straßburg und natürlich bei Wolfram von Eschenbach entsprechende Motiv- und Strukturparallelen feststellen.7 Es ist deshalb zu hoffen, dass die folgenden Ausführungen auch über ihren Gegenstand hinaus etwas zur Erforschung der deutschen Literatur des Mittelalters beitragen können. Der Untersuchung des ‚Väterbuchs‘ gehen im Folgenden eine Reihe von Vor überlegungen voran, die den Text kulturell, literarhistorisch und forschungsgeschichtlich einordnen. Dabei wird zunächst auf die Geschichte und die Prinzipien der christlichen Wüstenaskese eingegangen (Kap. 2). Danach werden die literarischen Strömungen dargestellt, die daraus entstanden und die sich zur
6 Auf die Austauschprozesse zwischen legendarischem und weltlichem Erzählen verweist bereits Wehrli, Max: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Worte und Werte. Hrsg. von Gustav Erdmann. Berlin 1961, S. 428–443; hier S. 428 f. 7 Vgl. Wehrli (1961), S. 439–442. Zwar teilweise, aber nicht immer im Rekurs auf die benannten Traditionen argumentieren so etwa Mertens, Volker: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. München 1978 und Münkler, Marina: Buße und Bußhilfe. Modelle von Askese in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 86 (2010), S. 131–159, die sich mit dem ‚Parzival‘ befasst.
Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
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europäischen Tradition der ‚Vitaspatrum‘ verdichteten. Auf diese Weise soll die Traditionslinie erkennbar werden, an deren vorläufiger Spitze das ‚Väterbuch‘ als erste deutsche Übertragung der ‚Vitaspatrum‘ im späten 13. Jahrhundert steht (Kap. 3). Der Text wird dabei als eine Form legendarischen Erzählens betrachtet, wodurch sich auch Vergleichsmomente mit anderen religiösen Texten ergeben und Anschlussmöglichkeiten an die aktuelle altgermanistische Forschung gegeben sind. Um diese auszuloten, wird nicht nur auf den Stand der Forschung zum ‚Väterbuch‘, sondern auch die Legendenforschung im Allgemeinen eingegangen (Kap. 4). Der erste Teil der Textanalyse erschließt programmatische Teile des ‚Väterbuchs‘ (Kap. 5). Er behandelt Pro- und Epilog sowie die heilsgeschichtliche Rahmung des Textes, zu der auch eine ‚Siebenschläferlegende‘ und eine Erzählung vom Jüngsten Gericht gehören. Die programmatischen Passagen stellen die den Text prägenden Vorstellungen von Zeit und Geschichte dar und verdeut lichen, in welchem Verhältnis das ‚Väterbuch‘ zu seinem Gegenstand, den Wüstenvätern, steht. Die folgenden Kapitel entsprechen der Gliederung des ‚Väterbuchs‘ und untersuchen jeweils exemplarische Passagen. Zunächst wird die am Anfang des ‚Väterbuchs‘ stehende ‚Antoniusvita‘ behandelt (Kap. 6). An der Vita werden paradigmatische Prinzipien der Eremitenbewegung und ihrer literarischen Darstellung aufgezeigt. Zudem hat die ‚Antoniusvita‘ im ‚Väterbuch‘ den Charakter einer Gründungserzählung, in der zentrale Aspekte der Einsiedelei (Desozialisierung, Askese, Versuchung, Gemeinschaft) diskutiert werden. Das folgende Kapitel widmet sich dem zweiten Teil des ‚Väterbuchs‘ (Kap. 7). In diesem Teil steht die Wüste als Handlungsraum und zentrale Denkfigur im Fokus. Als Modus der Erfahrung und als strukturierendes Prinzip der Narration erscheint die Reise beziehungsweise die Reiseerzählung. In der Textanalyse werden drei unterschiedliche Episoden in den Blick genommen. Es werden Fragen der Wissensvermittlung, des Verhältnisses von innerer Haltung und äußerer Lebensform, der Gemeinschaft und der Form und Funktion von Erzählungen verhandelt. Das anschließende Kapitel nimmt die zahlreichen Sprüche im ‚Väterbuch‘ in den Blick (Kap. 8). Sie sind bislang am wenigsten untersucht worden. Ausgehend von Überlegungen zur literarischen Form des Spruchs werden die Sprüche und Mikronarrative so weit wie möglich systematisiert und gruppiert. Die Analyse richtet sich auf besonders markante Komplexe und Einzelsprüche, die sowohl inhaltlich als auch formal auf ihre Funktion und Bedeutung für den Gesamttext hin betrachtet werden. Dabei werden besonders die Regelhaftigkeit der Sprüche und ihre Rolle bei der Konstitution einer monastischen Lebensform in den Blick genommen.
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Aufgehoben – Leben in der monastischen Gemeinschaft
Das letzte Analysekapitel behandelt die längeren Legenden im letzten Teil des ‚Väterbuchs‘ (Kap. 9). Die auf den ersten Blick heterogen erscheinenden Texte sind durch das Thema des Identitätswechsels und den damit zusammenhängenden Gemeinschaftsbezug miteinander verbunden. Sie alle befassen sich mit verschiedenen Konfigurationen des Zusammenlebens, wobei Familienbeziehungen eine besondere Rolle zukommt. Am Ende folgt ein kurzer, die Arbeit zusammenfassender und perspektivierender Abschnitt.
2 Die Wüste – Entsagung und Verheißung 2.1 Askese in der christlichen Antike Zwischen den Wüsteneremiten und ihrer deutschsprachigen Darstellung im 13. Jahrhundert sind tiefgreifende Transformationssprozesse vonstattengegangen. Der Begriff der ‚Transformation‘ betont dabei die Verwandlung, die sich an einem Stoff durch die Rezeption zu unterschiedlichen Zeiten vollzieht (lat. formare = formen, bilden, gestalten). Er eignet sich daher für einen Gegenstand wie das ‚Väterbuch‘, das von einer spätantiken Tradition ebenso bestimmt ist wie von seiner mittelalterlichen volkssprachlichen Form, in besonderer Weise. Es ist nicht von einem statischen Inhalt auszugehen, der rezipiert und unter Umständen angepasst wird, sondern vielmehr wird „im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert.“8 Diese Wechselseitigkeit der Verwandlungsprozesse kann für das ‚Väterbuch‘ so verstanden werden, dass die frühchristliche Eremitenkultur nicht nur dargestellt, sondern als eigener Ursprung von Ordensangehörigen im 13. Jahrhundert allererst konstruiert wird. Der Transformationsprozess, der sich anhand des ‚Väterbuchs‘ beschreiben lässt, ist so einerseits als „Übersetzung“9 fassbar, denn er rekombiniert die Inhalte der Wüstenväterkultur in der monastischen Kultur des 13. Jahrhunderts. Andererseits lassen sich in der Mikroanalyse aber auch „Hybridisierungen“10 der jeweiligen kulturellen Inhalte aufzeigen. Die Untersuchung nimmt also, wenngleich das nicht ihr einziges Anliegen ist, die „Prozesse, Ereignisse und Kontingenzen des historischen Wandels“11 in den Blick, wie Hartmut Böhme es als Aufgabe der Transformationsforschung formuliert hat. Entsprechend werden im Folgenden zunächst die historischen Dimensionen der Wüstenväterkultur, der ‚Vitaspatrum‘ und des ‚Väterbuchs‘ entfaltet. Die christlichen Asketen in der Spätantike fanden in den Schriften des Neuen Testaments vielfältige Anschlussmöglichkeiten. Zwar hat Jesus von Nazareth weder asketisch gelebt noch Askese zu einer Voraussetzung seiner Nachfolge gemacht,
8 Bergemann, Lutz u. a.: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hrsg. von Lutz Bergemann u. a. München 2011, S. 39–56; hier S. 39. 9 Bergemann u. a. (2011), S. 53. 10 Bergemann u. a. (2011), S. 50. 11 Böhme, Hartmut: Einladung zur Transformation. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hrsg. von Lutz Bergemann u. a. München 2011, S. 7–37; hier S. 10.
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Die Wüste – Entsagung und Verheißung
doch lassen Christi Leben und Lehren eine Reihe asketischer Deutungsmöglichkeiten zu.12 Die ‚Sendboten‘ wurden ausgeschickt, um als Wanderprediger die christliche Lehre zu verbreiten, und die Worte Jesu bei der Aussendung der Zweiundsiebzig lauten: „Geht hin! Siehe, ich sende euch wie Lämmer mitten unter Wölfe. Tragt weder Börse noch Tasche noch Sandalen und grüßt niemand auf dem Weg!“ (Lk 10,3–5)13. Der Verzicht auf Geld und Schuhe konnte als asketisches Lebensprinzip, die Aussendung der Apostel als Konstitution einer asketischen Lebensform verstanden werden, die der Aufforderung: „Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach!“ (Mt 16,24) entsprach. Entscheidend war auch, „daß das Evangelium von Anfang an in eine Welt hineingesprochen wurde, der asketisches Leben bekannt war […].“14 Sowohl im Judentum als auch in der hellenistischen Kultur existierten bereits asketische Konzepte.15 Bereits im Lauf des 2. und 3. Jahrhunderts hatte sich eine asketische Kultur entwickelt, deren Angehörige in eheloser Enthaltsamkeit innerhalb der christlichen Gemeinden lebten und dort hohes Ansehen genossen. Auf diese Kontinuität älterer Ideale durch das Neue Testament und dessen Entwurf des apostolischen Lebens konnten die Eremiten im 4. Jahrhundert Bezug nehmen.16 Damit muss der eremitische Aufbruch im 3. Jahrhundert nicht ausschließlich in eine historische Linie mit den frühchristlichen Märtyrern gestellt werden, wie es die Historiographie und die Bezeichnung der Askese als ‚weißes Martyrium‘ vorgeben.17 Vielmehr wird eine Kontinuität asketischer
12 Vgl. Frank, Karl Suso: Grundzüge der Geschichte des christlichen Mönchtums. 6. bibliograph. akt. Aufl. Darmstadt 2010 (Grundzüge 25), S. 1 und Frank, Karl Suso: Mönche im frühchristlichen Ägypten (Historia Monachorum in Aegypto). Aus dem Griech. übers., eingel. u. erkl. von Karl Suso Frank OFM. Düsseldorf 1967 (Alte Quellen neuer Kraft), S. 12–22. 13 Hier und im Folgenden werden deutsche Übersetzungen von Bibelstellen wiedergegeben nach der Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz. 4. Aufl. Witten 2013. 14 Frank (2010), S. 1 f. 15 Vgl. Frank (2010), S. 2 f. Gleichzeitig rezipiert die christliche asketische Literatur in der Spät antike nicht nur vorgängige Entwürfe, sondern steht auch im interreligiösen Austausch, wie etwa Bar-Asher Siegal, Michal: Saying of the Desert Fathers, Sayings of the Rabbinic Fathers: Avot deRabbi Natan and the Apophthegmata Patrum. In: ZAC 20 (2016), S. 243–259 zeigt. 16 Vgl. dazu Baus, Karl: Von der Urgemeinde zur frühchristlichen Großkirche. Einleitung in die Kirchengeschichte von Hubert Jedin. Unveränderter Neudruck d. 3. Aufl. Freiburg u. a. 1973 (Handbuch der Kirchengeschichte 1), S. 336–340. 17 Ebenso argumentiert auch Largier, Niklaus: Das Theater der Askese. Gewalt, Affekt und Imagination. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 207–222, besonders S. 210–212.
Askese in der christlichen Antike
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Lebensentwürfe erkennbar, die im Leben der christlichen Einsiedler mündete.18 Parallel zu bereits bestehenden Askeseformen innerhalb von Ansiedlungen wurde die christliche Askese theoretisch von Autoren wie Tertullian, Cyprian und Origenes entworfen. Davon ausgehend entwickelten sich die eigentlich monastischen Formen christlicher Askese außerhalb von Siedlungen19 und mit ihr die asketische Literatur.20 Der Begriff ‚Askese‘ geht auf das griechische Wort ἄσκησις zurück, das ‚Bearbeitung‘ oder ‚Übung‘ bedeutet. Askese meint also in seiner historischen Bedeutung nicht nur den Verzicht etwa auf das Essen, sondern bezeichnet vielmehr allgemein ein Handeln, das durch Wiederholung oder Andauern eine Wirkung an dem hervorruft, der es ausübt.21 Die Formen der Askese sind variabel und werden je spezifisch ausgestaltet. Wie das Tabu richtet sich die Askese in besonderer Weise auf zentrale kulturelle Phänomene, etwa die Nahrungsaufnahme und die Sexualität.22 Da die Askese immer einen Prozess darstellt, wird auch die Heiligkeit des Asketen zu einem Phänomen, das nicht von Anfang an vorhanden ist oder sich plötzlich manifestiert, sondern das sich sukzessive entwickelt und entfaltet. Damit ergibt sich in den Asketenerzählungen eine Vielfalt von Möglichkeiten, Heiligkeit narrativ zu konstruieren, und die Bandbreite an typischen Motiven und Strukturen ist bei der Asketenlegende deshalb deutlich größer als bei Märtyrerlegenden. Ulrich Ernst hat für die christliche Kultur eine ganze Reihe von Askesetypen aufgeführt, und zwar nicht nur solche, die nach Verzichtslogiken funktionieren. So nennt er einerseits die „Nahrungsaskese, die ein ständiges oder temporär limitiertes Fasten bzw. die Vermeidung bestimmter Speisen und Getränke impliziert“23, anderseits aber auch „die Arbeitsaskese, aufgrund derer
18 Vgl. Lilienfeld, Fairy von: [Art.] Mönchtum II. In: TRE. Bd. 23. Berlin/New York 1994, S. 150– 193; hier S. 160; Mildenberger, Friedrich: [Art.] Apostel/Apostolat/Apostolizität III. In: TRE. Bd. 3. Berlin/New York 1995, S. 466–477; hier S. 473. 19 Vgl. Frank (2010), S. 15. 20 Vgl. zur asketischen Praxis der frühen Mönche und ihrer literarischen Rezeption auch Markschies, Christoph: Körper und Körperlichkeit im antiken Mönchtum. In: Die Christen und der Körper. Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Spätantike. Hrsg. von Barbara Feichtinger/ Helmut Seng. München/Leipzig 2004 (Beiträge zur Altertumskunde 184), S. 189–212. 21 Vgl. Röcke, Werner/Weitbrecht, Julia: Einleitung. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 1–8. 22 Vgl. Gendolla, Peter: Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der „Versuchung des heiligen Antonius“. Heidelberg 1991 (Reihe Siegen, Germanistische Abt. 99), S. 23. 23 Ernst, Ulrich: Der Körper des Asketen. Zur Theatralik von „Heiligkeit“ in legendarischen Texten von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher
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Die Wüste – Entsagung und Verheißung
sich z. B. Wüstenväter besonders schwere Arbeiten auferlegten [...].“24 Der Körper des Asketen, dem in beiden Fällen eine große Bedeutung zukommt, erscheint bei den Wüstenvätern als ambivalent. Er kann sowohl Ort der dämonischen Heimsuchung und teuflischen Versuchung als auch gottgegebenes Werkzeug für das asketische Leben sein.25 Der Rückzug in die Wüste bringt ein ganzes Set von Askesepraktiken mit sich, denn die Wüste ist ein Ort, an dem „extreme physikalische, biologische und soziale Reduktion“26 erfahren wird. In der Wüste sind die Asketen mit der Knappheit von Nahrung und sauberem Trinkwasser, mit dem Verzicht auf zivilisatorische Annehmlichkeiten, mit harter Arbeit, mit dem Verzicht auf bestimmte soziale Kontakte und mit dem Fehlen von Schutz vor äußeren Gefahren konfrontiert. Gleichzeitig stellt die Wüste keinesfalls einen Ort der Vereinzelung dar. Vielmehr bildet sie den Raum, in dessen zivilisatorischer Leere sich neue Gemeinschaften konstituieren können. Dass sich die Eremiten zusammentun, ist aber auch lebenspraktischen Notwendigkeiten geschuldet, denn allein ist in der Wüste kaum ein Überleben möglich. Damit erscheint der Gang in die Wüste nicht nur als Teil der Askese, sondern auch als Bewegung zwischen sozialen Räumen. Zum einen bedeutet er den Rückzug aus alten weltlichen Zusammenhängen, die Aufgabe von Besitz, Verwandtschaft und Stand, zum anderen ermöglicht er eine Inklusion in die neue Gemeinschaft der Eremiten, die gemeinsam dem Raum der Wüste gegenüberstehen und sich auf diese Weise gemeinsam Gott zu nähern versuchen. Eremitisches Leben bedeutet Teilhabe an einer Gemeinschaft religiösen Lebens. Die asketische Heiligkeit der Wüstenväter ist partizipativ, zu ihr hat jede und jeder Zugang. Darin unterscheidet sie sich vom Martyrium, das auf die Passion bezogen ist. Stattdessen orientieren sich die Eremiten an der Gemeinschaft der Apostel und der Heiligen. Vereinzelung und Rückzug aus sozialen Zusammenhängen einerseits und neue Gemeinschaftlichkeit in der Wüste andererseits prägen die Tradition der Wüstenvätererzählungen und sind Erzählanlass bis hin zum ‚Väterbuch‘ im 13. Jahrhundert.
Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999). Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 275–307; hier S. 276. 24 Ernst (2002), S. 277. 25 Vgl. dazu auch Müller, Barbara: Der Weg des Weinens. Die Tradition des ‚Penthos‘ in den Apophthegmata Patrum. Göttingen 2000 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 77), S. 66–75. 26 Keller, Hildegard Elisabeth: Wüste. Ein Topos der Askese. In: Askese und Identität in Spät antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 191–206; hier S. 191.
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2.2 Ägyptische Ursprünge? Die christliche Eremitenbewegung entstand im späten 3. Jahrhundert an der südöstlichen Peripherie des römischen Reiches. Die archäologische Forschung hat Spuren der ersten Einsiedler in Ägypten, Palästina, Mesopotamien, Kleinasien, auf der Sinai-Halbinsel und bei Gaza gefunden.27 Wichtige Impulse für die asketische Bewegung gingen von Alexandria aus, dessen politischer, wirtschaft licher, religiöser und bildungsgeschichtlicher Status die neue Kultur beförderte.28 Ägypten war jedoch nicht die einzige Region, in der sich das Eremitentum ‚ereignete‘. Erst die nachträglichen literarischen Berichte, insbesondere in der lateinischen Kultur, konzentrieren sich auf die ägyptische Wüste29 und die Leitfigur des heiligen Antonius, dessen von Athanasius von Alexandria30 verfasste Lebensbeschreibung zum Paradigma der christlichen Heiligenviten wurde. Die ägyptische Wüste ist als Handlungsraum der asketischen Literatur immer auch eine imaginäre Landschaft, die nicht nur eine Bedingung der Askese ist, sondern die in sich den spirituellen Entwurf abbildet und die gegenüber der Wüste, in der die Wüstenväter lebten, immer schon transzendiert ist.31 Topographie, Flora und Fauna der Wüste sind Teil der literarischen Inszenierung, denn
27 Die Untersuchungen haben damit den Ursprung des Einsiedlertums in Ägypten infrage gestellt. Vgl. Lilienfeld (1994), S. 158. 28 Vgl. für eine allgemeine Einführung in Kultur und Literatur der monastischen Bewegung in Ägypten Harmless, William S. J.: Desert Christians. An Introduction to the Literature of Early Monasticism. New York 2004; hier besonders S. 4 f. 29 Vgl. Stewart, Columba: Monasticism. In: The Early Christian World I. Hrsg. von Philip F. Esler. London 2000, S. 344–366; hier S. 348–353 zum ägyptischen Mönchtum. Bezüglich der problematischen Emphase des ägyptischen Mönchtums in der europäischen Rezeption formuliert Louth, Andrew: The Literature of the Monastic Movement. In: The Cambridge History of Early Christian Literature. Hrsg. von Frances Young/Lewis Ayres/Andrew Louth. Cambridge 2004, S. 373–381; hier S. 373 nachdrücklich: „The very notion oft the ‚literature oft he monastic movement‘ runs the risk of accepting uncritically the propaganda that this literature constituted. The traditional story oft the rise of monasticism as a fourth-century phenomenon, associated par excellence with the Egyptian desert, is a Catholic legend, which, unlike many others, was reinforced, rather than questioned, by Protestant scholarship.“ Nichtsdestoweniger ist es natürlich diese vom hellenistischen Ägypten ausgehende und ins Lateinische übertragene Literatur, die im mitteleuropäischen Mittelalter rezipiert wird und deshalb auch für diese Studie von Bedeutung ist. 30 Die Rolle der Patriarchen von Alexandria und ihr Einfluss auf die Entwicklung des Christentums und die monastische Bewegung ist ein faszinierender Gegenstand, den zu behandeln hier der Platz fehlt. Vgl. dazu aber Harmless (2004), S. 25–54. 31 Vgl. Goehring, James E.: The Dark Side of the Landscape. Ideology and Power in the Christian Myth of the Desert. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 33 (2003), S. 437–351; hier S. 438.
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die Lebensweise der Eremiten war eng an die besonderen geographischen Gegebenheiten gebunden. Sie haben sowohl proto-naturwissenschaftlichen Charakter als auch Anteil an der Vermittlung von religiösem Wissen. Dabei wurde die Gegend, in der sich die ersten Eremiten niederlassen, zwar als ‚Wüste‘ bezeichnet, sie entspricht aber nicht der Vorstellung einer Sandwüste. Aus diesem Grund folgen hier in einem kurzen Exkurs einige grundlegende Informationen zu der Region und ihrer Geschichte. Die römische Provinz Thebais, die einen wesentlichen Handlungsraum der Eremitenviten darstellt, war eine der vier römischen Provinzen Ägyptens. Sie erstreckte sich auf dem heutigen Staatsgebiet Ägyptens etwa zwischen dem 28. und dem 24. Grad nördlicher Breite sowie dem 28. Grad westlicher Länge und dem Roten Meer. Die Provinz Thebais lag in der subtropischen Klimazone. Nördlich von ihr befand sich ab dem 4. Jahrhundert die Provinz Arcadia aegypti mit ihrer Hauptstadt Oxyrhynchos. Südlich grenzte die Thebais an die nubische Wüste im heutigen Sudan und an das Aksumische Reich. Westlich lag die Ostsahara oder Libysche Wüste, östlich das Rote Meer. Die zum größten Teil aus Wüste bestehende Provinz Thebais wurde in der Mitte von dem fruchtbaren Niltal durchzogen, das zugleich zwei unterschiedliche Landschaftsformationen scheidet.32 Die westlich des Nils liegende Libysche Wüste gehört zu den trockensten Wüsten der Welt. Sie erhebt sich im Bereich der ehemaligen Thebais auf Höhen von 200 bis 500 Metern über dem Meeresspiegel. Wenngleich die Libysche Wüste nur 17 % der gesamten Sahara ausmacht und ihr Klima weitgehend lebensfeindlich ist, stellt sie doch den kulturhistorisch bedeutsamsten Teil der großen Wüste dar. Kein anderer Teil der Sahara hat so viele Hochkulturen gesehen und wurde zu allen Zeiten so intensiv bereist. Östlich des Nils liegt die Arabische Wüste, die ebenfalls Teil der Sahara ist, aber eine andere Landschaftsformation aufweist. Die Arabische Wüste ist keine Sandwüste,33 sondern besteht aus großen Basaltund Granitformationen. Sie erhebt sich auf 200 bis 1000 Meter über den Meeresspiegel. Einzelne Gipfel, wie der Gebel Shayeb El-Banat im äußersten Süden der ehemaligen Provinz Thebais, erreichen über 2000 Meter. Alle wichtigen Städte der Thebais lagen an den Ufern des Nils. Im Mittelpunkt der Provinz lagen Ptolemais Hermeiou und das historische Theben. Im Norden befand sich Hermopolis magna und im Süden Syène, das heutige Assuan. Die Topographie der Thebais erklärt, wie die besondere Entwicklung der Eremitenbewegung in der Region überhaupt möglich war. Für den Rückzug in
32 Vgl. zu Topographie und Klima der Thebais auch Bagnall, Rodger S.: Egypt in Late Antiquity. Princeton 1993, S. 15–23. 33 Allerdings ist auch die Libysche Wüste das nur zum Teil.
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die Wüste war meist keine tage- oder gar wochenlange Reise nötig, sondern es genügte, sich nur wenige Kilometer vom Nil zu entfernen, um eine gänzlich lebensfeindliche und menschenleere Umgebung zu erreichen. Die relative Nähe zur Zivilisation machte es möglich, dass die Eremiten sich mit Nahrung und Wasser versorgen konnten. Für Reisende, die nicht nur kleine Strecken zurücklegten, war die Thebais jedoch fast überall eine Herausforderung: Die Libysche Wüste westlich des Nils ist außerordentlich trocken, die Arabische Wüste östlich des Nils ist felsig und unwegsam. Die Täler des Nils sind zwar fruchtbar und wasserreich, doch stellte der längste Fluss der Erde auch ein nicht leicht zu überquerendes Hindernis für Reisende dar. Die Ufer sind von Krokodilen und anderen wilden Tieren bevölkert. Ägyptens politischer Status war durch sein Verhältnis zu Rom bestimmt, das aus der Region große Mengen agrarischer Güter bezog.34 Im 3. Jahrhundert wurde die römische Herrschaft über Ägypten von innen und außen immer wieder bedroht. 292 kam es zum Aufstand in Oberägypten, dem sich 294 auch Alexandria anschloss und der ein Jahr später von Diocletian mit militärischen Mitteln niedergeworfen wurde. Gleichzeitig waren in Ägypten christliche Gemeinden entstanden, die bis zur Konstantinischen Wende Verfolgungen durch die Römer ausgesetzt waren. Es bestand also in Ägypten, besonders in und um Alexandria am Ende des 3. Jahrhunderts, eine Spannung zwischen der Bevölkerung und der römischen Verwaltung, welche versuchte, die Kontrolle über die Region zu behalten und für einen ungehinderten Fluss der Getreideabgaben zu sorgen.35 In der Bevölkerung entstand das Bedürfnis, sich den repressiven Verhältnissen zu entziehen.36 Zugleich lässt sich im Widerstand gegen Rom auch ein Schwinden von dessen kultureller Deutungshoheit erkennen. Die Spannung verstärkte sich dort, wo die nichtchristlichen Römer auf christliche Bewohner Ägyptens trafen. Alexandria war ein Ort, dessen Bildungsgeschichte über die römische Kultur hinausreichte. Die Stadt war bereits ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der hellenistischen Welt gewesen,37 hatte zeitweilig eine der größten jüdischen
34 Vgl. Harmless (2004), S. 8. 35 Peter Gendolla führt zudem die Repressionen an, die die ägyptischen Bauern und Handwerker durch die römische Herrschaft erleiden mussten. Vgl. Gendolla (1991), S. 14–15. 36 Hans Conrad Zander spricht etwas tendenziös von den „Steuerflüchtlingen in der Wüste“. Zander, Hans Conrad: Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüsten väter. Gütersloh 2011, S. 72. 37 Seit der Eroberung durch Alexander im Jahr 332 vor Christus, in deren Zuge auch Alexandria gegründet wurde, hatte Ägypten dreihundert Jahre unter der Herrschaft der Ptolemäer gestanden, bevor Octavian 30 vor Christus Marcus Antonius und Kleopatra VII. niederwarf und Ägypten unter römische Kontrolle brachte. Vgl. dazu Harmless (2004), S. 9.
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Gemeinden der Welt beherbergt38 und schon um 60 v. Chr. hatte die Stadt etwa eine Millionen Einwohner.39 Die Vielfalt der Kulturen brachte auch eine Vielfalt der Sprachen mit sich: In Ägypten und besonders in Alexandria wurden neben der koptischen Volkssprache von vielen Einwohnern Griechisch und Latein gesprochen und geschrieben,40 was eine wesentliche Voraussetzung für die spätere Verbreitung der christlich-asketischen Kultur war. Die asketischen Strömungen des Hellenismus, welche die Philosophenschulen vielfach bestimmten,41 waren auch in Alexandria präsent und es existierten bereits Formen christlicher Askese; einzelne Christen zogen sich in Zellen innerhalb der Städte zurück, um ein asketisches Leben zu führen.42 Sie stellten die Vorbilder für die Wüstenväter dar. Im 2. Jahrhundert war in Alexandria zudem die erste christliche Katechetenschule nach dem Vorbild der Philosophenschulen entstanden.43 Auch im 3. Jahrhundert gingen von Alexandria wichtige kulturelle Impulse, besonders für das Christentum, aus. Am Anfang des 3. Jahrhunderts hatten Clemens Alexandrinus und Origenes in der Stadt gelebt und gewirkt. Die Stadt bot also neuen religiösen Entwürfen ein geistiges Umfeld für deren theoretische Entwicklung, weil sie Treffpunkt verschiedener philosophischer und religiöser Strömungen, Archiv kulturellen Wissens und ein Ort intellektueller Entfaltung und Debatte war.44 Nicht zuletzt wurden in Alexandria große Teile der ‚Septuaginta‘-Übersetzung angefertigt.45
38 Zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in Ägypten vgl. Schulman, Alan Richard u. a.: [Art.] Egypt. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Aufl. Bd. 6. Detroit 2007, S. 222–236; hier besonders S. 226– 230. 39 Vgl. Müller, Caspar Detlef: [Art.] Alexandrien I. In: TRE. Bd. 2. Berlin/New York 1978, S. 248– 261; hier S. 249. 40 Vgl. Harmless (2004), S. 10 f. 41 Vgl. Lilienfeld (1994), S. 158. 42 Vgl. dazu Dossey, Leslie: The Social Space of North African Asceticism. In: Western Monasticism ante litteram. The Spaces of Monastic Observance in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Hrsg. von Hendrik Dey/Elizabeth Fentress. Turnhout 2011, S. 137–157; hier S. 137 f. 43 Vgl. Müller (1978), S. 253 f. 44 Zum besonderen Verhältnis der entstehenden monastischen Bewegung und der ägyptischen Kirche vgl. Martin, Annick: Les relations entre le monachisme Égyptien et l’institution ecclésiastique au IVème siècle. In: Foundations of Power and Conflicts of Authority in Late-Antique Monasticism. Proceedings of the International Seminar Turin, December 2–4, 2004. Hrsg. von Alberto Camplani/Giovanni Filoramo. Leuven u. a. 2004 (Orientalia Lovaniensia analecta 157), S. 13–46, die auf S. 14 zum Beispiel darauf hinweist, dass die Seelsorge der Wüsteneremiten nicht von kirchlichen Vertretern, sondern von den jeweiligen spirituellen Leitern, den ‚Vätern‘ übernommen wurde und dass insofern immer eine Spannung zwischen der Institution der Kirche und den charismatischen Wüstenväter bestand. 45 Vgl. Müller (1978), S. 252.
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Die in der Katechetenschule von Alexandria gelehrte christliche Theologie, die asketischen Ideale der hellenistisch-römischen Philosophie und die asketischen Traditionen des hellenistisch-ptolemäischen Polytheismus bildeten das Substrat, in dem die neuen christlichen Konzeptionen von Askese wurzelten. Dabei war eine ganze Reihe der genannten Aspekte nicht auf Alexandria beschränkt, sondern betraf die gesamte südöstliche Peripherie des römischen Reiches, doch blieben Alexandria und das ägyptische Mönchtum der wichtigste Bezugspunkt für das europäische Mönchtum. Die literarischen Zeugnisse heben fünf Protagonisten der ägyptischen Eremitenbewegung hervor:46 Antonius der Große gilt als ‚erster‘ Wüsteneremit, Pachomius als Gründer des zönobitischen Mönchtums, Macarius der Große gründete die wichtige eremitische Niederlassung südöstlich von Alexandria in der sketischen Wüste, Ammon bildete die bekannten Niederlassungen Kellia und Nitria, Macarius von Alexandria wurde als Leiter von Kellia bekannt. Die Identifikation und Gestaltung von Leitfiguren für die entstehende Kultur geschah vor allem durch Verfasser der asketischen Literatur, wie Athanasius von Alexandria und Hieronymus. Sie inserierten zugleich theoretische Entwürfe von Askese, die auf ältere Konzepte zurückgriffen und im Folgenden konkretisiert und weiterent wickelt wurden.
2.3 Anachorese und Zönobium Die Begriffe, mit denen die Einsiedler und ihre Lebensform bezeichnet wurden, können einen Eindruck der historischen Spannungen vermitteln, in denen sich die asketische Bewegung im 4. Jahrhundert befand. Grundlegend ist das Konzept des Anachoretentums. Der Begriff leitet sich aus dem altgriechischen Verb ἀναχωρέω ab und bedeutet „sich zurückziehen“47. Er bezeichnet damit einen individuellen Prozess der Desozialisierung, der aber nicht Vereinzelung meinen muss. Schon der heilige Antonius versammelte bald nach seinem Rückzug aus der weltlichen Gesellschaft eine Anhängerschar um sich. Die Pragmatik gebot es, dass sich die Anachoreten in der Wüste absicherten, indem sie sich zu Kolonien zusammenschlossen.48 Deren Angehörige lebten zwar gemeinsam, vollzogen aber ihre je eigene religiöse Praxis. Diesem Leben wohnte ein selbstbestimm-
46 Vgl. Harmless (2004), S. 18. 47 Vgl. Lilienfeld (1994), S. 152. 48 Gleichzeitig existierten aber auch vielfältige Zwischenformen. So hat es in der Nitrischen Wüste Einsiedler gegeben, die unter der Woche allein lebten, sonntags aber zum Gottesdienst
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ter Aspekt inne, denn der Einzelne folgte seinem eigenen Tagesablauf. Geregelt wurde das Zusammenleben nur vom ‚Wort‘ eines anerkannten Vaters, den man um Hilfe und Rat bat. Die Sammlung dieser ‚Worte‘ oder ‚Apophthegmata‘ fließen als Sammlungen in die Tradition der Wüstenväterliteratur ein.49 Ein solches Konzept systematischer Unordnung individueller Glaubenspraktiken ist in ein institutionalisiertes Religionswesen kaum integrierbar.50 Wenn auf die ersten rein anachoretischen Entwürfe des Wüstenlebens später zunehmend Modelle folgten, die einen gemeinschaftlichen Glaubensvollzug vorschrieben, so lässt sich das auch als Versuch der Reintegration eines zur Entgrenzung drängenden Phänomens verstehen.51 Bereits im 3. Jahrhundert wurde die griechische Bezeichnung μοναχός für die Anachoreten gebraucht, auch die Antoniusvita des Athanasius verwendet sie. Der Begriff war schon vor den Wüstenvätern üblich und bezeichnete den unverheirateten Menschen beiderlei Geschlechts, meinte also das Alleinsein im Sinne von familiärer Ungebundenheit und Keuschheit.52 Aus μοναχός entwickelte sich der allgemeinere Begriff Mönch. Μοναχός meinte im Zusammenhang der Einsiedlerbewegung des 3. und 4. Jahrhunderts die Abwendung von weltlichen Bindungen und Zusammenhängen und die Hinwendung zu einer neuen Lebensform, die durch andauernden Gottesdienst bestimmt wurde. Die Asketen zogen sich zu diesem Zweck zurück und wurden Eremiten, Bewohner der ἔρημος, der Wüste. Mit der Übertragung des Konzepts in den westlichen Kulturraum wurde daraus allgemeiner der Bewohner der Einöde und im Deutschen der Einsiedler. Das Leben der Anachoreten war von religiöser Übung, von ἄσκησις bestimmt, die auf das Abstreifen des Weltlichen zugunsten der Gottesannäherung zielte. Insofern waren Anachoreten immer auch Asketen. Der Gegenentwurf zum anachoretischen Mönchtum war nicht die Vereinzelung, sondern das zönobitische Leben einer Gemeinschaft, das in der gleichförmigen religiösen Praxis aller Angehörigen einer Gemeinschaft bestand. Die
zusammenkamen. Vgl. Bretel, Paul: Les ermites et les moines dans la littérature française du Moyen Age (1150–1250). Paris 1995, S. 116 f. 49 Vgl. Frank (2010), S. 21 f. 50 Wobei die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der charismatischen Wüstenväter zur In stitution Kirche ein eigenes Buch füllen könnte. Die Darstellung dieses Verhältnisses ist nicht zuletzt davon abhängig, in welchen politischen Konstellationen die Texte jeweils stehen. So stellt Athanasius den anachoretisch lebenden heiligen Antonius als in jeder Hinsicht orthodox dar, weil eines seiner zentralen Anliegen die Abwehr des Arianismus ist. Vgl. Gemeinhardt, Peter: Antonius. Der erste Mönch. Leben – Lehre – Legende. München 2013, S. 77–83. 51 Vgl. Gendolla (1991), S. 51. 52 Vgl. Lilienfeld (1994), S. 152.
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Bezeichnung Zönobiten geht auf die griechischen Begriffe κοινός und βίος zurück und meinte also das Leben in Gemeinschaft. Das zönobitische Leben war durch kodifizierte Regeln organisiert. Die Unterwerfung unter die Ordnung wurde zum konstitutiven Bestandteil des Mönchseins. Gemeinsames Leben bedeutete dabei die gemeinsame (nach außen abgeschlossene) Wohnung, gemeinsame Arbeit und gemeinsames Gebet.53 Arbeit und Gebet hatten die Anachoreten jeder für sich praktiziert. Es standen sich also nicht Einsiedler und Gemeinschaften, sondern ein anachoretisches Mönchtum und ein zönobitisches Mönchtum gegenüber. Sie unterschieden sich zwar voneinander darin, dass die Gemeinschaft eine unterschiedliche Funktion in der religiösen Praxis hatte,54 doch können sich beide in einem gemeinschaftsförmigen Leben realisieren.55 Der zentrale Gründungstext der zönobitischen Gesellschaften ist die erste Ordensregel, deren Abfassung dem heiligen Pachomius zugeschrieben wird. Die Pachomiusregel, die der Heilige der Legende nach von einem Engel empfangen haben soll, wird in der um 420 verfassten ‚Historia Lausiaca‘ des Palladius von Helenopolis wiedergegeben. Sie stellt eine strenge Ordnung des Lebens in der Gemeinschaft dar. Mit der strengen Regelung und der hinzutretenden Konzentration der Entscheidungsgewalt bei einem Leiter, dem Abt, veränderte sich der Charakter der Gemeinschaften fundamental, denn in hierarchisch strukturierten sozialen Zusammenhängen wird Arbeitsteilung möglich. Die eremitischen Gemeinschaf-
53 Vgl. Lilienfeld (1994), S. 161. 54 So führt auch Ranke-Heinemann, Uta: Das frühe Mönchtum. Seine Motive nach den Selbstzeugnissen. Essen 1964, S. 46 aus: „Es handelt sich um einen Unterschied der Gestaltung, nicht aber des Prinzips. So bedeuten der praktische Gehorsam der Coenobiten und die Unterwerfung des eigenen Willens unter den Vorsteher des Coenobiums nur einen konkreten Ausdruck der auch im Anachoretentum intendierten Selbstverleugnung. Dazu fehlt solcher praktische Gehorsam auch im Anachoretentum keineswegs. Das Moment der geistigen Vaterschaft ist auch dort lebendig.“ 55 Entsprechend argumentiert auch Rousseau, Philip: The Desert Fathers and their Broader Audience. In: Foundations of Power and Conflicts of Authority in Late-Antique Monasticism. Proceedings of the International Seminar Turin, December 2–4, 2004. Hrsg. von Alberto Camplani/ Giovanni Filoramo. Leuven u. a. 2004 (Orientalia Lovaniensia analecta 157), S. 89–108; hier S. 91: „I am not talking about the possible contrast between a rootless and a settled, a solitary and a coenobitic life. Nor am I asking whether one style of asceticism was prior to or merely contemporaneous with another. We are faced, rather, with genuine uncertainty about an ascetic’s obligation towards other people; about the way to exploid (if exploit them one might) the opportunities that proximity provided. If we opt for commitment modified only by fear, we shall expect to find, even among the cautious, the notion of being part of a wider spiritual economy (with exhortation, pedagogy, and example at its heart).“
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ten wurden mit der Einführung des pachomianischen Systems zu Organisationen, die das Leben ihrer Mitglieder weitgehend bestimmten und kontrollierten. Nicht zuletzt konnten sie so zu äußerst erfolgreichen ökonomischen Einheiten werden, was ein ausgedehntes karitatives Engagement ermöglichte, die Gemeinschaften aber vom Ideal der monastischen Selbstbeschränkung und Armut tendenziell entfernen konnte.56
2.4 Von den Wüstenvätern ins 13. Jahrhundert Es ist umstritten, inwieweit das abendländische Mönchtum, das um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Westeuropa zu entstehen begann, ein Import aus dem Osten oder eine eigenständige Entwicklung war.57 Ganz sicher aber stellten die Anachoretengemeinschaften und die bereits existierenden zönobitischen Gemeinschaften im Osten einen Bezugspunkt für die ersten westlichen Mönche dar. Anders als im Orient begann das westliche Mönchtum aber nicht als Massenphänomen, sondern als Elitenkultur. Die ersten Gläubigen, die sich in Europa aus der Welt zurückzogen, um ein asketisches Leben zu führen, entstammten dem römischen Adel. Sie zogen sich aufs Land zurück und studierten die Geschichten der Wüstenväter in den lateinischen Übersetzungen, die mittlerweile vorlagen: Die ‚Vita Antonii‘ in der lateinischen Fassung des Evagrius, die Pachomiusregel und die monastischen Schriften und Viten, die Hieronymus übersetzt und verfasst hatte, die ‚Historia monachorum in Aegypto‘ des Rufinus von Aquileia sowie die lateinischen Übersetzungen der Apophthegmata.58 Hieronymus selbst war während seines Aufenthalts in Rom von 382 bis 384 als Lehrer und Vorbild maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Eine besondere Rolle spielten dabei Frauen aus der römischen Oberschicht, wie die Witwe Marcella und Paula die Ältere,59 deren Lebensbeschreibungen ihrerseits später in die ‚Vitaspatrum‘-Sammlungen aufgenommen wurden. Als einige römische Asketen beschlossen, dauerhaft die neue Lebensform beizubehalten, wurden aus Wohnhäusern die ersten Stadtklöster
56 Vgl. Lilienfeld (1994), S. 162. 57 Vgl. Frank (2010), S. 35. 58 Vgl. zur spätantiken monastischen Kultur in Italien und Gallien Stewart (2000); hier S. 359– 363. 59 Vgl. zur Rolle der aristokratischen Familien im Zusammenhang der Christianisierung Roms Brown, Peter: Aspects of the Christianization of the Roman Aristocracy. In: JRS 51 (1961), S. 1–11. Besonders zur Rolle der Frauen in der Rezeption der asketischen Ideale vgl. das entsprechende Kapitel bei Fürst, Alfons: Hieronymus. Askese und Wissenschaft. Freiburg i. Br. 2016, S. 54–58.
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des Westens.60 Von Rom ausgehend entwickelte sich die Klosterkultur ab dem späten 4. Jahrhundert in ganz Italien und darüber hinaus, wobei unterschiedliche Formen je nach Ort und Funktion entstanden. Zur selben Zeit entstand als erste westliche Mönchsregel die in verschiedenen Fassungen existierende ‚Augustinusregel‘.61 Außerordentlich fruchtbar war die monastische Idee in Gallien, wo sie ebenfalls von aristokratischen Kreisen rezipiert wurde. Sie fanden in der Figur des Bischofs Martin von Tours und seiner durch Sulpicius Severus gestalteten Vita ein Vor- und Leitbild,62 das einen westlichen Gegenentwurf zu den östlichen Eremitenviten darstellte.63 Neben dem heiligen Martin war Johannes Cassianus eine zentrale Vermittlungsfigur für die Übertragung des asketischen Ideals nach Zentral-, West- und Nordeuropa.64 Ebenfalls nachhaltig wirkte das monastische Ideal auf den irischen Inseln, wo die Mönche das strenge Ideal der asketischen Heimatlosigkeit (peregrinatio) pflegten. Die schnelle Ausbreitung des Mönchtums in Europa im 4. und 5. Jahrhundert brachte eine Vielzahl von Regelwerken hervor.65 Eine dieser Regeln gelangte zu allgemeiner Bedeutung, nämlich die im 6. Jahrhundert für eine Klostergemeinschaft im mittelitalienischen Monte Cassino abgefasste Regel Benedikts von Nursia, die im Mittelalter zur Grundlage vieler Ordensregeln werden sollte. Da die Entwicklungen innerhalb des europäischen Ordenswesens hier kaum angemessen zu erfassen sind, bietet es sich an dieser Stelle an, einen zeitlichen Sprung in das 12. Jahrhundert zu machen und mit der Entstehung der Ritterorden wieder einzusetzen. Sie haben gegenüber den traditionellen Orden eine neue Funktion, was vielfältige Variationen der monastischen Regeln und Strukturen mit sich bringt. Die Neugründung von christlichen Orden beinhaltet immer auch eine Revision des Hergebrachten und eine Rückbesinnung auf die Tradition monastischer Lebensführung, weshalb Neubeginn und Fortschreibung dabei immer zusammenfielen:
60 Vgl. Frank (2010), S. 37. 61 Vgl. dazu Schreiner (2013). 62 Vgl. Frank (2010), S. 43; Sulpicius Severus: Vita sancti Martini. Lat. u. dt. Übers., Anm. und Nachw. v. Gerlinde Huber-Rebenich. Stuttgart 2010. 63 Vgl. Gemeinhardt, Peter: Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart. München 2010, S. 34–36. 64 Vgl. Stewart (2000), S. 361–363. 65 Unbeachtet bleiben muss hier der theologische Einfluss von Tertullian und Augustinus auf die entstehende europäische monastische Kultur. Vgl. für eine kurze Einführung Stewart (2000), S. 363 f.
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Durch die Geschichte des Mönchtums hindurch empfinden die Mönche selbst eine permanente Identität ihres gemeinten Daseins, und auch für das beobachtende Auge des Historikers kommt diese Identität in allen Wandlungen der Mönchsgeschichte immer wieder zum Vorschein, eine Identität, die als biblisch und evangeliumsgemäß von ihnen verstanden wurde und die m. E. auch ihre historischen Wurzeln in der Lebensform Jesu und seiner Jünger hat […]. So bedeutet jede Reform und Neugründung im Grunde eine Rückkehr zur ersten und eigentlichen Identität.66
Auch die Entstehung der Ritterorden im Mittelalter war auf diese Weise durch Kontinuität und Wandel geprägt. Der Deutsche Orden wurde nach den Templern und den Johannitern als dritter großer Ritterorden in Palästina gegründet. Er ging aus einem um 1190 gegründeten Hospital in Akkon hervor. Die Ordensregel, die im 13. Jahrhunderts entstand, greift zur Legitimierung des Ordens auf Abrahams Kampf um Lots Befreiung und dessen Bestätigung durch Melchisedech67 zurück.68 Schon damals, so die Regel, hûb sich ritterschaft von den gloubegen wider die ungeloubegen.69 Der Kampf gegen die ‚Ungläubigen‘ ist damit wie bei den Templern von Anfang an ein Grundprinzip des Ordens.70 Der Deutsche Orden folgt laut der Regel auch den Makkabäern nach,
66 Lilienfeld (1994), S. 151. 67 In der entsprechenden Passage des Alten Testaments ist die kriegerische Grundstimmung unübersehbar. Vgl. 1. Mose 14,14–20: „Und als Abraham hörte, dass sein Bruder gefangen weggeführt war, ließ er seine bewährten Männer, die in seinem Haus geborenen Sklaven, ausrücken, 318 Mann, und jagte ihnen nach bis Dan. Und nachts teilte er sich und fiel über sie her, er und seine Knechte, und schlug sie und jagte ihnen nach bis nach Hoba, das links von Damaskus liegt. Und er brachte die ganze Habe zurück; und auch Lot, seinen Neffen, und dessen Habe brachte er zurück und auch die Frauen und das Volk. Und als er zurückkehrte, nachdem er Kedor-Laomer und die Könige, die mit ihm gewesen, geschlagen hatte, zog der König von Sodom aus, ihm entgegen, in das Tal Schawe, das ist das Königstal. Und Melchisedek, König von Salem, brachte Brot und Wein heraus; und er war Priester Gottes, des Höchsten. Und segnete ihn und sprach: Gesegnet sei Abraham von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde geschaffen hat! Und gesegnet sei Gott, der Höchste, der deine Bedränger in deine Hand ausgeliefert hat!“ 68 Und konkretisiert damit, auch aber nicht nur im Anschluss an Bernhard von Clairveaux, die Idee der milita Christi auf das tatsächliche Waffenhandwerk der Ritterschaft hin, wie es so oder so ähnlich auch in den anderen Ritterorden geschah. Vgl. Elm, Kaspar: Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden des Mittelalters. Forschungsstand und Forschungsprobleme. In: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter. Hrsg. von Zenon Hubert Nowak. Torun 1993, S. 7–44; hier S. 14–16. 69 Ordo Fratrum Domus Hospitalis Sanctae Mariae Teutonicorum in Jerusalem. Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften. Nachdr. der Ausg. Halle a. d. S. 1890. Hrsg. von Max Perlbach. Hildesheim u. a. 1975, S. 23. 70 Vgl. zur Stellung der alttestamentlichen Literatur innerhalb des Deutschen Ordens Neecke, Michael: Strategien der Identitätsstiftung. Zur Rolle der Bibelepik im Deutschen Orden (13./14. Jahr-
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die durch ir ê unde umme den gelouben striten mit den heiden, die sie twingen wolden, daz sie Gotes verlougeten, unde mit sîner helfe sie sô gar uberwunden unde vertilgeten, daz sie die heiligen stete wider gereinegeten, die sie hêten geunreint, unde den vride macheten wider dem lande.71
Doch der Orden hatte nicht nur kämpfende Brüder, sondern neben den Rittern, die vertiligent die viende des glouben mit einer starken hant, gab es auch entphêhere der geste unde der pilgerîne72 und Brüder, die von miltekeite den siechen, die in dem spîtale ligent, dienent in eime brinnendigem geiste.73 Für alle diese Aufgaben waren vor allem nicht klerikal gebildete Ordensangehörige zuständig. Deren geistliche Betreuung unternahmen die pfaffen, die eine werde unde eine nuzze stat hânt, daz sie in der cît des vrides alsô glestern mitten unde in umme loufen unde mane die leigen brûdere, daz sie ir regelen vaste halden unde daz sie in Gotes dienest tûn und sî berihten mit den sacramenten.74
Das Zitat macht deutlich, dass die monastischen Konventionen im Deutschen Orden an dessen militärische Tätigkeit angepasst waren, denn in Kriegszeiten hatten die Kleriker des Ordens nicht mehr die Aufgaben der geistlichen Bildung und Mahnung, sondern sollten die Kampfkraft der Krieger stärken, indem sie sie an die Passion Christi erinnerten.75 Auch die Aufnahmeregeln waren weniger streng geregelt als in anderen Orden, praktische Aspekte wie etwa Speisevorschriften wurden an die Anforderung einer militärischen Organisation angepasst. Edith Feistner hat darauf hingewiesen, dass der Zustand des Krieges innerhalb der Statuten dem karitativen Wirken übergeordnet sind, und daraus die These abgeleitet, dass der Glaubenskrieg ein entscheidendes Identitätsmerkmal der Angehörigen des Ordens war, auch als die Unternehmungen im Heiligen Land längst geendet hatten.76 Der Orden „verallgemeinert […] den akuten krie-
hundert). In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. Hrsg. von Jaroslaw Wenta/Sieglinde Hartmann/Giesela Vollmann-Profe. Torun 2008 (Sacra Bella Septentrionalia 1; Publikacje Centrum Mediewistycznego Wydziału Nauk Historycznych UMK 1), S. 461–472; hier S. 463. 71 Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 25. 72 Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 25. 73 Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 25. 74 Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 26. 75 Vgl. Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 26. 76 Vgl. Feistner, Edith/Neecke, Michael/Vollmann-Profe, Gisela: Krieg im Visier. Bibelepik und Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung. Tübingen 2007 (Hermaea N.F. 114), S. 28.
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gerischen Konfliktfall vom Ausnahmezustand zum Normalzustand“,77 und zwar indem er sich besonders auf die alttestamentarischen Bibelstellen bezog, die den Kampf gegen ‚Ungläubige‘ zum Gegenstand haben.78 Ab 1210 wurde der Deutsche Orden, nicht zuletzt durch die intensiven Kontakte zu Friedrich II., im deutschsprachigen Raum immer einflussreicher. Durch den Beitritt und die Unterstützung zahlreicher deutscher Adliger gewann der Orden im 13. Jahrhundert an Landbesitz, der ihm auch ökonomisches Gewicht verlieh. Ebenso wuchsen die Besitzungen in Palästina von Akkon aus stetig durch Kauf und Schenkungen. 1228 brach Friedrich II. zum sechsten Kreuzzug auf und erhandelte 1229 den Frieden von Jaffa, durch den Jerusalem in seine Hände überging. Der Deutsche Orden war ein wesentlicher Faktor der militärischen Stärke Friedrichs II. in Palästina und konnte so seinerseits von dessen Wohlwollen profitieren. 1244 fiel allerdings das nur schwach befestigte Jerusalem an die ägyptischen Ayyubiden und konnte nicht zurückerobert werden. Ab den 1260er Jahren waren die Kreuzfahrerbastionen in Palästina zunehmend bedroht und mit dem Fall von Akkon 1291 war das militärische Engagement der Kreuzritter und des Deutschen Ordens in Palästina praktisch beendet. Der Deutsche Orden hatte jedoch bereits lange zuvor begonnen, weitere Territorien außerhalb des Heiligen Landes für sich zu gewinnen. Von 1211–1225 verfügte der Orden über ein zusammenhängendes Herrschaftsgebiet im Burzenland (heute Rumänien), das ihm von dem dort herrschenden ungarischen König Andreas II. jedoch wieder entzogen wurde. 1226 erbat der polnische Herzog Konrad I. von Masowien die Hilfe des Ordens im Kampf um das Kulmerland gegen die nichtchristlichen Prußen. Der Orden, durch das Desaster in Ungarn vorsichtig geworden, griff jedoch nicht sofort ein, sondern sicherte zunächst seine eigenen Ansprüche ab. Er erwirkte bei Friedrich II. die Goldbulle von Rimini, mit der dem Orden die Herrschaft über das noch zu erobernde Gebiet der Prußen zugesprochen wurde. Im Zusammenhang mit der Goldbulle von Rimini stehen der Vertrag von Kruschwitz, in dem Konrad von Masowien die Ansprüche des Ordens anerkennt, und die Bulle von Rieti, mit welcher der Anspruch von Papst Gregor IX. bestätigt wird. Ab 1231 eroberte der Orden einige Gebiete nördlich der Weichsel, konnte sich aber nur unter größten Schwierigkeiten gegen die Prußen durchsetzen.
77 Feistner/Neecke/Vollmann-Profe (2007), S. 30. 78 Feistner/Neecke/Vollmann-Profe (2007), S. 35 weisen auch darauf hin, dass sich die Statuten ausschließlich auf das Alte Testament beziehen, und argumentieren, dass die „komplette Aussparung des Neuen Testaments als Bezugsbasis für eine typologiegestützte Identitätsbildung“ ein „durchaus logischer Befund“ sei.
Von den Wüstenvätern ins 13. Jahrhundert
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1249 musste ein zeitweiliger Frieden geschlossen werden, der den Prußen weitreichende Freiheitsrechte zubilligte. Doch bereits 1245 hatte Innozenz IV. einen ‚immerwährenden Kreuzzug‘ gegen die Prußen proklamiert, sodass der Orden auf einen steten Zustrom von christlichen Kämpfern bauen konnte. 1285 war die Eroberung der von den Prußen beherrschten Gebiete weitgehend abgeschlossen. Die Prußen selbst wurden vertrieben oder nahmen auf unterschiedlichen Wegen den christlichen Glauben an. In nicht unwesentlichem Maße konnten sich die Eliten der prußischen Gesellschaft auch unter der Herrschaft des Deutschen Ordens halten. Während dieser Zeit unterhielt der Orden auch einträgliche Provinzen (Balleien) innerhalb des deutschen Königreiches. 1285 verfügte der Orden über ein Netzwerk von Niederlassungen, das von Akkon bis an den Pregel reichte. Er hatte ein sicheres Zentrum im deutschen Königreich und ein eigenes Herrschaftsgebiet auf dem ehemaligen Gebiet der Prußen. Dies ist die historisch-politische Situation, in der das ‚Väterbuch‘ und das ‚Passional‘ desselben Autors verfasst wurden. Selbst wenn dabei das ‚Väterbuch‘ nicht aus dem Orden heraus entstanden sein sollte, so wurde es doch in ihm häufig rezipiert. Die Macht des Ordens ist jedoch keine hinreichende Begründung für die Menge der volkssprachlichen Literatur, die im 13. Jahrhundert in seinen Niederlassungen gelesen wurde. Vielmehr ist dafür die spezifische soziale Struktur des Ordens verantwortlich. Die vielfältigen militärischen Unternehmungen des Deutschen Ordens sorgten dafür, dass seine Funktionsstellen von laikalen Adligen besetzt waren. Zwar gehörten dem Orden auch Kleriker an, doch überwog die Zahl der Laien diese bei weitem. Der Laienstatus lässt sich in diesem Zusammenhang vor allem als ein Wissensdefizit verstehen. Die Angehörigen des Ordens verfügten zum großen Teil nicht über das nötige religiöse Wissen und zudem nicht über die notwendigen Lateinkenntnisse, um selbstständigen Zugang zu diesem Wissen zu haben. Damit fehlte ihnen nicht nur die Grundlage zur Mission und zur eigenständigen religiösen Praxis, sondern auch zum Verständnis der von ihnen angestrebten Lebensform: Die Angehörigen der Ritterorden waren ebenso wie alle anderen Mönche zur Keuschheit und zum ritualisierten Leben verpflichtet. Hieraus lässt sich unmittelbar begreifen, warum der Orden eine solche Menge von Bibel- und Legendendichtung hervorgebracht hat.79 Es ist anzunehmen, dass die produzierte Literatur besonders der religiösen Belehrung der Ordensangehörigen diente. Auch Edith Feistner unterstreicht die
79 Vgl. zu diesem Komplex Masser, Achim: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters. Berlin 1976 (Grundlagen der Germanistik 19), S. 70–82 und besonders zu ‚Väterbuch‘ und ‚Pas sional‘ S. 187–192.
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Dominanz der Laien im Deutschen Orden und verweist auf die untergeordnete Rolle der Priesterbrüder: Der Deutsche Orden ist aber, bedingt durch seine militärischen Zielsetzungen, ein ganz und gar von Laien kontrollierter Orden, stellt also, was laikale Autorität angeht, alle anderen Orden außerhalb des Spektrums der Ritterorden sogar weit in den Schatten. Priesterbrüder gehörten im Deutschen Orden nicht zur ‚upper class‘. Sie unterstanden der Kontrolle eines Laien, des Hochmeisters, der aufgrund seiner Machtbefugnisse faktisch auch über das religiöse Leben im Orden bestimmte, obwohl er keine liturgischen Handlungen vornehmen konnte.80
Im Innern des Ordens bestand also ein Bedarf an Literatur in der Volkssprache zur Unterweisung der Laien.81 Das ‚Väterbuch‘ vermochte diesen Bedarf in besonderer Weise zu befriedigen, weil es sowohl biblische Grundlagen als auch die für die monastische Kultur relevanten Werte und Regeln vermittelte.82
80 Feistner/Neecke/Vollmann-Profe (2007), S. 18. 81 Vgl. Klein, Klaus: Vitaspatrum. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zu den Prosaübersetzungen im deutschen Mittelalter, Diss. masch. Marburg 1985, S. 320 f. In den Statuten des Deutschen Ordens ist die Lesung während der Mahlzeiten festgeschrieben: Vgl. Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 41 und die Ausführungen bei Gärtner, Kurt: Marienverehrung und Marienepik im Deutschen Orden. In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. Hrsg. von Jaroslaw Wenta/Sieglinde Hartmann/ Giesela Vollmann-Profe. Torun 2008 (Sacra Bella Septentrionalia 1; Publikacje Centrum Mediewistycznego Wydziału Nauk Historycznych UMK 1), S. 395–410; hier S. 398–400. 82 Wobei auf die mögliche Zuordnung des ‚Väterbuchs‘ zum Deutschen Orden noch gesondert eingegangen wird.
3 Asketische Literatur in Spätantike und Mittelalter 3.1 Die ‚Vitaspatrum‘ – Geschichte, Formen und Funktionen Die Bezeichnung ‚Vitaspatrum‘ taucht erstmals im 5. Jahrhundert bei Gennadius von Massilia auf.83 Da die Rezeption der ‚Vitaspatrum‘ später in vielen Ordensregeln verbindlich vorgeschrieben wurde, konnten sie als stabiles Medium des Wissensbestandes fungieren, der sich seit der Zeit der ersten Eremiten über Askese und gemeinschaftliches Leben angesammelt hatte. Die ‚Vitaspatrum‘ sind Schlüsseltexte für die Klosterkultur, denn sie „vermitteln das Wissen um die Ursprünge des Mönchtums und fungieren als Summa monastischer Spiritualität.“84 Besonders in den Aussprüchen der Wüstenväter finden sich zudem Regeln und Lehren für viele Aspekte des monastischen Lebens, sie beziehen sich zum Beispiel auf Formen der Askese, auf den Umgang der Brüder miteinander oder auf die Haltung gegenüber Verehrern. Die Texte waren ein Stützpfeiler der monastischen Kultur und trugen zu ihrer Kontinuität seit dem 4. Jahrhundert bis zur Reformation85 und darüber hinaus bei. Fast jede mittelalterliche Klosterbibliothek führte ein Exemplar der ‚Vitaspatrum‘.86 Im Spätmittelalter scheinen die ‚Vitaspatrum‘ zunehmend den Raum des Klosters verlassen zu haben und wurden in Predigt, Katechese und im
83 Vgl. Batlle (1972), S. 1. 84 Klein (1985), S. 320. Für den geschichtswissenschaftlichen Zugang ist diese Konstellation gleichwohl nicht unproblematisch, denn der Blick auf die historische Kultur wird durch ihre stets wiederholte Inanspruchnahme und Transformation nachfolgender Generationen verstellt. Vgl. dazu Stewart (2000), S. 344–346. 85 Allerdings traf auch die ‚Vitaspatrum‘, wie die Legenden im Allgemeinen, der Zorn Luthers, der sie als eitel schermesser, ia die schedlichste gifft auff erden widder den glauben und Christus erkendnis niederstampft. Er räumt aber ein, dass zuweilen eine gute Historia darin zu finden sei. Zitiert nach Klein, Klaus: Frühchristliche Eremiten im Spätmittelalter und in der Reforma tionszeit. Zur Überlieferung und Rezeption der deutschen ‚Vitaspatrum‘-Prosa. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 5), S. 686–696; hier S. 693. Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Schnyder, André: Legendenpolemik und Legendenkritik in der Reformation. In: ARG 70 (1979), S. 122–140 und Ziegeler, Hans-Joachim: Wahrheiten, Lügen, Fiktionen. Zu Martin Luthers ‚Lügend von S. Johanne Chrysostomo‘ und zum Status literarischer Gattungen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 237–262; besonders S. 246–250. 86 Vgl. Klein (1984), S. 684.
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Asketische Literatur in Spätantike und Mittelalter
Zusammenhang der Laienfrömmigkeit verwendet.87 Zudem waren Sie als Quelle für die Mystik von Bedeutung.88 Die ‚Vitaspatrum‘ waren bereits „im Mittelalter eine in ihrem Corpus variierende Sammlung von Texten verschiedener Gattungen und Provenienzen […], die thematisch miteinander verbunden waren“.89 Die zentrale Stellung der Texte in der monastischen Kultur des Westens lässt sich aus der Breite der Überlieferung einerseits90 und aus den Testimonien andererseits schließen, deren einschlägigstes wohl die Regel Benedikts von Nursia ist,91 in welcher die Lektüre der ‚Vitaspatrum‘ nachdrücklich empfohlen wird: Si tempus fuerit prandii, mox surrexerint a cena, sedeant omnes in unum, et legat unus Collationes vel Vitas Patrum aut certe aliud quod aedificet audientes. An Tagen, an denen ein Mittagessen stattfand, setzen sich alle zusammen, sobald sie vom Abendtisch aufgestanden sind; dann sollen die ‚Unterredungen‘ [gemeint sind die ,Colla tiones Cassiani‘; J. T.] oder die ‚Vitas Patrum‘ oder sonst etwas gelesen werden, was die Hörer erbaut.92
Johannes Cassianus, dessen Schriften ebenfalls eine bedeutende Rolle bei der Konzeptualisierung und Vermittlung monastischer Spiritualität spielten, bezeichnete die Wüstenasketen seinerseits als wichtigste Vorbilder der monastischen Kultur.93 Dabei sind die Texte, das hat besonders die Geschichtswissen-
87 Vgl. Klein (1984), S. 690 f. 88 So berichtet etwa Heinrich Seuses Vita davon, er habe seinen Kopf auf das altveter bůch gebettet: Seuse, Heinrich: Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907, S. 17 (ich danke Beatrice Trînca für den Hinweis auf diese Stelle). Vgl. zu diesem Komplex außerdem Haferland, Harald: Heinrich Seuse und die Apophthegmata patrum. Psychodynamiken der Askese. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/ Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010, S. 223–250; hier S. 233–243. 89 Die „Alemannischen Vitaspatrum“. Untersuchungen und Edition. Hrsg. von Ulla Williams. Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 45), S. 3. 90 Zur Überlieferung der ‚Vitaspatrum‘ vgl. Batlle (1972). 91 Aber bereits Cassiodorus und Gregorius von Tours hatten ihre Lektüre empfohlen. Vgl. Klein (1984), S. 686 f. 92 Zitiert und übersetzt nach: Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige Text der Regel lat.-dt. Übers. u. erkl. von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln. 4. Aufl. Zürich 1993, S. 221 f. Vgl. auch den Kommentar auf S. 223. 93 Vgl. Alemannische Vitaspatrum (Williams), S. 5. Williams bezieht sich auf ‚De institutis coenobiorum‘ und die ‚Collationes‘. Vgl. zur Rezeption und Funktion der ‚Vitaspatrum‘ besonders innerhalb des Dominkanerordens auch Boureau, Alain: Vitae fratrum, Vitae patrum. L’Ordre dominicain et le modèle des Pères du désert au XIIIe siècle. In: MEFRM 99 (1987), S. 79–100.
Die ‚Vitaspatrum‘ – Geschichte, Formen und Funktionen
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schaft immer wieder betont, von Anfang an literarisch gestaltet und entfalteten auch eine literarische Rezeptionsgeschichte.94 Die sogenannten ‚Mönchsviten‘ stellen den ältesten Kern der ‚Vitaspatrum‘ dar.95 Sie bilden ein neues, nun biographisches Paradigma der Heiligenerzählung heraus und berichten vom Leben der Erzeremiten und Gründerfiguren. Die älteste ist die ‚Antoniusvita‘, die zunächst von Athanasius von Alexandria in griechischer Sprache um 360 verfasst und bald darauf von Evagrius von Antiochia ins Lateinische übersetzt wurde.96 Zwischen 370 und 390 kommen die von Hieronymus verfassten ‚Paulus-‘, ‚Hilarion-‘ und ‚Malchusviten‘ hinzu. Allerdings hat nur die ‚Paulusvita‘ in gekürzter Form Eingang in das ‚Väterbuch‘ gefunden. In den nächsten Jahrhunderten wurden die ‚Vitaspatrum‘ um weitere Viten von berühmten Asketen (z. B. Symeon der Stylit), Gründerfiguren (z. B. Pachomius) und Büßerinnen (z. B. Pelagia, Maria von Ägypten) ergänzt. Letztere finden sich im Legendenteil des ‚Väterbuchs‘. Ebenfalls bereits im 4. Jahrhundert entstand die von Rufinus von Aquileia ins Lateinische übersetzte und überarbeitete ‚Historia monachorum‘ (der ‚Reiseteil‘ im ‚Väterbuch‘). Hingegen wurde die ebenfalls wichtige ‚Historia Lausiaca‘ des Palladius wohl erst im 6. Jahrhundert ins Lateinische übertragen. Im 6. und 7. Jahrhundert wurden zudem die großen Spruchsamm-
94 Vgl. Goehring, James E.: The Encroaching Desert. Literary Production and Ascetic Space in Early Christian Egypt. In: JECS 1 (1993), S. 281–296; hier S. 281 f. Zum literarischen Fortleben etwa der Antoniusvita in Sulpicius’ ‚Vita Martini‘ oder dem ‚Franziskusleben‘ Bonaventuras vgl. Roest, Bert: The Franciscan Hermit. Seeker, Prisoner, Refugee. In: Church History and Religious Culture 86 (2006), S. 163–189; hier S. 169 f und 174. 95 Vgl. Williams, Ulla: [Art.] Vitas patrum. In: LexMa. Bd. 8. Stuttgart 1977–1999, Sp. 1766–1768. 96 Es ist hier nicht möglich, die Entstehungs- und Übertragungsgeschichte der ‚Vita Antonii‘ hinreichend zu beleuchten. Manches von dem, was Athanasius zugeschrieben wird, geht auf seinen Übersetzer Evagrius zurück. Pascal Bertrand, der sich mit der Übertragung des Textes intensiv befasst, macht den Einfluss des Evagrius bereits in einer kurzen Passage deutlich: „Viel mehr als Athanasius möchte Evagrius den Teufel als Herrscher der Dämonen und als Organisator der dämonischen Intrigen darstellen. Daneben konkretisiert er die von Athanasius vage gehaltenen Bezeichnungen von Engeln und Dämonen. In der Nachahmung der antiochenischen Schule betont Evagrius den Triumph des Kreuzes: durch seinen Kreuzestod hat Christus die Macht des Teufels und der Dämonen gebrochen.“ Bertrand, Pascal: Die Evagriusübersetzung der Vita Antonii: Rezeption – Überlieferung – Edition. Unter besonderer Berücksichtigung der Vitas Patrum-Tradition. Diss. masch. Utrecht 2006, S. 30. Ein besonders markantes Beispiel für die Übertragungspraxis des Evagrius liegt im Fall von Antonius’ Tod vor. Während Athanasius dem Toten nur ein heiteres Gesicht zuschreibt, begründet Evagrius diese Heiterkeit mit der Anwesenheit von Engeln und spinnt so einen Verweis auf das Konzept der Vita angelica ein. Vgl. Steidle, Basilius: „Homo Dei Antonius“. Zum Bild des „Mannes Gottes“ im alten Mönchtum. In: Basilius Steidle (1903–1982). Beiträge zum alten Mönchtum und zur Benediktusregel. Hrsg. von Ursmar Engelmann. Sigmaringen 1986, S. 54–106 (Erstpublikation 1956); hier S. 79.
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Asketische Literatur in Spätantike und Mittelalter
lungen ‚Adhortationes sanctorum patrum‘, ‚Liber geronticon‘, ‚Commonitiones sanctorum patrum‘ und ‚Sententiae patrum Aegyptiorum‘ zusammengestellt.97 Nach wie vor besteht Unklarheit darüber, wann die ‚Vitaspatrum‘ erstmals als Gesamtwerk kompiliert wurden. Jedenfalls existieren keine Textzeugen, die vor dem 8. Jahrhundert verfasst wurden.98 Die ‚Vitaspatrum‘ zeichnen sich, insbesondere was die Sprüche angeht, durch eine hohe Variabilität aus. Wie Klaus Klein konstatiert, wäre es noch zu untersuchen, „inwieweit sich das Werk durch seine offene Struktur veränderten Gebrauchsbedingungen anpassen kann.“99 Die vorliegende Arbeit versteht sich als Versuch in dieser Richtung.
3.2 Die ‚Vitaspatrum‘ zwischen Latinität und Volkssprache Die Tradition legendarischen Erzählens wird im deutschsprachigen Raum über die lateinische Sprache vermittelt. Nur in wenigen Fällen bilden altfranzösische Vorlagen wie bei der weltlichen Literatur die Grundlage für die deutschen Übersetzungen. Maximilian Benz hat zuletzt nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Legendenforschung in der germanistischen Mediävistik viel zu häufig ihre Gegenstände ohne Rekurs auf die lateinischen Vorlagen untersucht und dabei unterschlägt, „dass das Mittelalter im Westen ein lateinisches war.“100 Ausgehend von der Bildungssprache Latein ist versucht worden, die Entwicklung der Gattung an eine soziokulturelle Bewegung zu binden.101 So schlägt Edith Feistner vor, von einer prinzipiellen Dichotomie in der mittelalterlichen Gesellschaft auszugehen:
97 Die verschiedenen Teile der ‚Vitaspatrum‘ gleichen sich nicht immer in der Bewertung einzelner Figuren. So finden sich etwa in den Sprüchesammlungen zahlreiche Logien des Wüstenvaters Poimen, dieser taucht aber in den anderen Teilen der Sammlung kaum je auf. Vgl. Frank, Karl Suso: Abbas Poimen. Versuch über die Apophthegmata Patrum. In: MThZ 40 (1989), S. 337– 347; hier S. 337 f. 98 Vgl. Alemannische Vitaspatrum (Williams), S. 6. 99 Klein (1984), S. 688. Martin Hinterberger spricht von „monastischen Florilegien“, die in jeder Handschrift individuell kompiliert wurden. Vgl. Hinterberger, Martin: Probleme der Texterstellung der Apophthegmata Patrum. In: JOB 46 (1997), S. 25–43; hier S. 26. 100 Benz, Maximilian: Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter. Berlin/Boston 2013 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 78), S. 12. 101 Vgl. Vollmann-Profe, Gisela/Vollmann, Benedikt Konrad: Die unruhige Generation. Deutsche und lateinische Literatur in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. In: Deutsche Texte der Salierzeit – Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert. Hrsg. von Stephan Müller/Jens Schneider. München 2010 (MittelalterStudien 20), S. 11–27.
Die ‚Vitaspatrum‘ zwischen Latinität und Volkssprache
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Es standen einander zwei Kultur- und Bildungstraditionen gegenüber, nämlich die lateinisch-schriftliche der Klerikerelite und die volkssprachlich-mündliche der überwältigenden Mehrheit aller Nicht-Kleriker einschließlich der adligen Führungsschicht.102
Die Legendenliteratur habe dementsprechend bis ins 13. Jahrhundert hinein gänzlich in den Händen von Klerikern gelegen. Mit dem zunehmenden Streben der weltlichen Eliten nach Bildung und durch die Entstehung der neuen Orden im Hochmittelalter änderte sich nach Feistner zwar nichts am prinzipiellen Vormachtsanspruch der Kleriker im Bereich der Bildung, aber die Erfüllung der seelsorgerischen und erzieherischen Aufgabe gegenüber den Laien verlagerte sich vielfach ins Feld der volkssprachlichen Literatur. Die Legende wurde in diesem Zusammenhang zu einem wichtigen Werkzeug: Sie war zwar im Gegensatz zur Bibel nicht direkter Ausdruck der Heilsbotschaft selbst, galt aber immerhin als Fortsetzung und Bestätigung der biblischen Heilsgeschichte und insofern als brauchbares Verkündigungsmittel. Die Legende hatte die Autorität klerikaler Tradition auf ihrer Seite und bot sich zugleich für die zur Kommunikation mit Laien als wichtig erkannte Strategie an, alles Abstrakte augen- und sinnenfällig zu machen. […] V. a. aber ließ die Legende im Unterschied zur als gottinspiriert betrachteten und kanonisch gebundenen Hl. Schrift einen breiten situations- bzw. intentionsadäquaten Vermittlungsspielraum offen […].103
Feistner hat an anderer Stelle den Blick auf den Zusammenhang von Gattung und „Wirklichkeitskonzept“, das sie dann wiederum eng an den „Sitz im Leben bindet“, gelenkt.104 Sie arbeitet in ihren Überlegungen heraus, dass die volkssprachliche Legende auf einen anderen diskursiven Zusammenhang als die lateinische Legende hin angelegt ist. Zugespitzt lässt sich die These so zusammenfassen, dass Kleriker unter sich im Medium der lateinischen Legende Selbstdarstellung und intellektuelle Spiele betrieben,105 während die volkssprachliche Legende simpler gestrickt und darauf ausgelegt wurde, „den Gebet-WunderMechanismus regelrecht einzuhämmern“.106 Feistner führt aufgrund dieser Überlegungen eine weitere Differenzierung zweier Typen ein und zwar die zwischen
102 Feistner, Edith: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20), S. 51. 103 Feistner (1995), S. 63 f. 104 Vgl. Feistner, Edith: Legende, Märchen, Legendenmärchen. Zur Interdependenz von Gattungspragmatik und Gattungsmischung. In: ZfdA 130 (2001), S. 253–269. 105 Vgl. Feistner (1995), S. 70–72. 106 Feistner (1995), S. 83.
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Asketische Literatur in Spätantike und Mittelalter
‚kollegialer‘ (Kleriker – Kleriker) und ‚hierarchischer‘ Legendenkommunikation (Kleriker – Laie).107 Feistners Überlegungen waren nicht ohne Vorläufer. Schon Hans Ulrich Gumbrecht hatte 1979 im Anschluss an Hugo Kuhn mit seinem Aufsatz zum „Faszinationstyp Hagiographie“108 versucht, die Auseinandersetzung mit der Legende in kritischer Abgrenzung zu André Jolles um eine sozialhistorische Dimension zu erweitern. Kuhn und Gumbrecht verwenden dazu den Begriff des „Faszinationstyp[s]“109, um den der Gattung zu ersetzen. Damit verschiebt sich die Perspektive, denn es geht nun nicht mehr nur um das Wie der Darstellung. Vielmehr wird eine Wechselseitigkeit von Form und Funktion angenommen. Gumbrecht geht davon aus, dass hagiographische Texte allesamt auf eine Frage, nämlich die nach der Erlangung individuellen Glückes antworten. Weiterhin setzt er voraus, dass die literarische Fassung dieser Antwort eine je spezifische Funktion hat. Schließlich bindet er beides zusammen, indem er annimmt, dass „die Antwort auf die Glücksfrage, die historisch-spezifische Funktion und der soziale Ort die Struktur von Texten und Typen“110 prägen. Für Gumbrecht bildet so der Faszinationstyp das überhistorische tertium, durch das ein diachroner Vergleich affiner kultureller Phänomene unterschiedlicher Provenienz allererst möglich wird,111 und er bietet damit einen offenen Begriff des Legendarischen. Ist auch die Annahme der „Glücksfrage“ als konstitutivem Moment diskutabel, so ergibt sich doch aus Gumbrechts Ansatz ein produktives Verfahren, dem sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet sieht. Demnach ist eine Bestimmung des jeweils ‚Hagiographischen‘ und ‚Legendarischen‘ immer nur am Gegenstand selbst möglich und zwar, indem man daran die Wechselwirkungen von Idee, Funktion und Struktur ins Verhältnis setzt. Gerade für die Auseinandersetzung mit dem ‚Väterbuch‘ scheint ein offenerer Zugang weiterführend zu sein. Es ist dann aber gerade nicht, wie Feistner es tut, von einem scharfen Gegensatz von klerikaler und laikaler Kultur auszugehen, der sich in die Texte einschreibt. In den folgenden Überlegungen spricht die Anbindung des Textes an den Deutschen Orden gerade für eine Offenheit des Legendarischen und eine entsprechende methodische Herangehensweise: Weil
107 Vgl. zur altgermnistischen Legendenforschung auch Kap. 4 dieser Arbeit. 108 Gumbrecht, Hans Ulrich: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 37–84. 109 Gumbrecht (1979), S. 43. 110 Gumbrecht (1979), S. 51. 111 Vgl. Gumbrecht (1979), S. 47.
Die ‚Vitaspatrum‘ zwischen Latinität und Volkssprache
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die Mitglieder sowohl Nichtlateiner sein als auch zur Funktionselite des Ordens gehören konnten, sind eine Vielzahl von Graduierungen zwischen Katechese und Selbstvergewisserung und unterschiedlich konzeptualisierte intertextuelle Bezüge zur lateinischen Literatur denkbar.112 Unter diesem Gesichtspunkt ist auch von den Vergleichen mit den lateinischen Vorlagen mehr zu erwarten als eine Identifikation des volkssprachlichen Textes als ‚Hammer‘ für den GebetWunder-Mechanismus. Es gab eine breite volkssprachliche Rezeption der lateinischen ‚Vitaspatrum‘.113 Im deutschsprachigen Raum setzte sie mit dem versifizierten ‚Väterbuch‘ im 13. Jahrhundert ein und erlebte ihre Hochphase in den Prosaübersetzungen des 14. und 15. Jahrhunderts, den ‚Südniederländischen Vitaspatrum‘, den sogenannten ‚Alemannischen Vitaspatrum‘ und der Kölner ‚Vitaspatrum‘-Sammlung,114 die trotz ihrer großen Popularität im Mittelalter von der germanistischen Forschung nur wenig beachtet wurden. Die Verbreitung der volkssprachlichen ‚Vitaspatrum‘ beschränkte sich zunächst auf den monastischen Bereich und dort vor allem auf Orte, an denen Laienbrüder und Nonnen lebten.115 Auch im niederländischen und skandinavischen Sprachraum entstanden ab 1300 eigenständige Übersetzungen. Im englischen Sprachraum wurden zwar Einzeltexte aus dem Lateinischen in die Volkssprache übertragen, die erste umfangreiche englische Zusammenstellung ist jedoch die Anfang des 15. Jahrhunderts entstandene Übersetzung einer fran-
112 Zumal, wie Arno Mentzel-Reuters betont, auch die im Deutschen Orden produzierte und rezipierte Literatur nur zu einem kleinen Teil und vor allem im frühen 14. Jahrhundert nicht in lateinischer Sprache abgefasst war. Vgl. Mentzel-Reuters, Arno: „Deutschordensliteratur“ im literarischen Kontext. In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben. Hrsg. von Jaroslaw Wenta/Sieglinde Hartmann/Giesela Vollmann-Profe. Torun 2008 (Sacra Bella Septentrionalia 1; Publikacje Centrum Mediewistycznego Wydziału Nauk Historycznych UMK 1), S. 255–268; hier S. 356 f. 113 Natürlich bringen Übersetzungen in die Volkssprachen im Mittelalter stets auch Veränderungen und Anverwandlungen mit sich. Vgl. zu diesem Thema z. B. Weitbrecht, Julia: Übersetzung in neue Sinnzusammenhänge. Konversion in Pseudoklementinen und Kaiserchronik. In: Übersetzung und Transformation. Hrsg. von Hartmut Böhme/Christof Rapp/Wolfgang Rösler. Berlin/New York 2007 (Transformationen der Antike 1), S. 121–136; hier S. 121–123 und die dort verzeichnete weiterführende Literatur. 114 Vgl. Alemannische Vitaspatrum (Williams), S. 7 und Hoffmann, Werner J.: Die ripuarische und niederdeutsche „Vitaspatrum“-Überlieferung im 15. Jahrhundert. In: Niederdeutsches Jahrbuch 116 (1993), S. 72–108; hier S. 76 (dort auch zur niederdeutschen Rezeption). Ab dem 15. Jahrhundert enstehen zudem zahlreiche Druckfassungen. Vgl. dazu Klein (1984), S. 689 f. 115 Vgl. Klein (1984), S. 689.
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zösischen Vorlage.116 Die erste volkssprachliche Fassung eines Teils der ‚Vitaspatrum‘ in Frankreich ist eine Bearbeitung der Legende Marias von Ägypten,117 die auf das Ende des 12. Jahrhunderts datiert wird, für die aber kein unmittelbarer Zusammenhang mit einer lateinischen Vorlage nachgewiesen werden konnte.118 Nach 1200 wurden weitere Teile der ‚Vitaspatrum‘ übertragen. Zunächst verfasste der anglo-normannische Autor Henri d’Arci eine versifizierte Übersetzung eines Teils der Apophthegmata.119 Im 13. Jahrhundert wurden außerdem neben versifizierten Einzellegenden120 mehrere Prosaübersetzungen der ‚Vies des Pères‘ verfasst. In Italien und Spanien wurden erst ab dem 14. Jahrhundert Übertragungen angefertigt. Ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen europäischen volkssprachlichen Übertragungen ist bislang nicht beschrieben worden, er ist in Anbetracht der durchgängig verfügbaren lateinischen Vorlagen auch relativ unwahrscheinlich.
3.3 Das ‚Väterbuch‘ als erste deutsche Übersetzung der ‚Vitaspatrum‘ Das ‚Väterbuch‘ stellt die erste Übertragung der ‚Vitaspatrum‘ in die deutsche Sprache dar, wobei der Übersetzer vielfach in den Text eingegriffen hat. Die knapp 42000 Verse des deutschen Textes greifen vier große Teile der ‚Vitaspatrum‘ auf und ergänzen diese um eigene Passagen.121 Die einzelnen Teile gehen auf unter-
116 Zur Rezeption der ‚Vitaspatrum‘ in Großbritannien vgl. Wolpers, Theodor: Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Tübingen 1964 (Anglia 10), S. 43–136 und Hanna, Ralph, III: The Middle English Vitae Patrum Collection. In: MS 49 (1987), S. 411–435. 117 Ediert in dem Band La vie de sainte Marie l’Égyptienne. Versions en ancien et en moyen française. Hrsg. von Peter F. Dembrowski. Genf 1977 (Publications Romanes et Françaises 144). 118 Vgl. Robertson, Duncan: The Medieval Saints’ Lives. Spiritual Renewal and Old French Literature. Nicholasville, Kentucky 1995 (The Edward C. Armstrong Monographs on Medieval Literature 8), S. 106. 119 Vgl. Henri d’Arci’s Vitas patrum. A Thirteenth-century Anglo-Norman Rimed Translation of the Verba Seniorum. Hrsg. von Basilides Andrew O’Connor. New York 1949 (Studies in Romance Languages and Literatures 29, Catholic University of America). 120 Vgl. Robertson (1995), S. 128 f. 121 Die Anordnung der einzelnen Teile der ‚Vitaspatrum‘ in Rosweydes Edition entsprechen in ihrer Anordnung häufig nicht der Vorlage, von der der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ ausging. Glücklicherweise hat Hohmann, Karl: Beiträge zum Väterbuch. Halle 1909 (Hermaea 7) die Quellen des ‚Väterbuchs‘ mit Blick auf Rosweydes Edition systematisch aufgearbeitet, sodass das Auffinden der entsprechenden Passagen im lateinischen Text meist unproblematisch ist, wenn aus
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schiedliche Quellen oder Quellengruppen zurück, darüber hinaus lassen sich gattungstypologische Differenzen und Variationen der narrativen Anlage ausmachen. So erscheint auch das ‚Väterbuch‘ eher als ein heterogenes Gesamtwerk, das aber stärker synthetisiert ist als viele Fassungen der lateinischen ‚Vitaspatrum‘, wozu die besonders in Pro- und Epilogen hervortretende Erzählinstanz beiträgt. Es ist ein allgemeines Bemühen erkennbar, ein geschlossenes Gesamtwerk zu schaffen, das durch Erzählerkommentare, narrative Klammern und systematisierende Anordnungsprinzipien zusammengehalten wird.122 Das ‚Väterbuch‘ beginnt mit der, ursprünglich auf Athanasius von Alexandria zurückgehenden, Vita des heiligen Antonius, der zum Begründer der Eremitenkultur stilisiert wird. Hierin weicht das ‚Väterbuch‘ von der ‚Vitaspatrum‘-Tradition ab, in der gewöhnlich Hieronymus’ Vita Paulus’ des Einsiedlers an erster Stelle steht. Den zweiten Teil des ‚Väterbuchs‘ bildet eine Übersetzung von Rufinus’ ‚Historia monachorum‘. Dieser Teil dokumentiert die Ausbreitung der Eremiten in Ägypten und ist als Reiseerzählung angelegt, er wird im Folgenden als ‚Reiseteil‘ bezeichnet. Der dritte Teil des ‚Väterbuchs‘ ist der bei Weitem unübersichtlichste, denn er stellt eine Kompilation und Übertragung der in den ‚Vitaspatrum‘ überlieferten Weisheiten dar und besteht daher aus Hunderten von Textpartikeln, die oft nur wenige Verse umfassen. Häufig geben sie Sprüche der Wüstenväter wieder, die oft kleine Erzählungen vom Leben einzelner Einsiedler oder
den ‚Vitaspatrum‘ geschöpft wurde. Leider stimmen Hohmanns Angaben immer dort nicht, wo zwar ein entsprechender Text in den ‚Vitaspatrum‘ existiert, dieser aber nicht als Vorlage für das ‚Väterbuch‘ diente. Besonders im letzten Teil des ‚Väterbuchs‘ meint Hohmann häufig die ‚Vitaspatrum‘ als Quelle ausmachen zu können, wo sich andere Texte als Vorlage nachweisen lassen. Im Folgenden wird jeweils auf den lateinischen Text bei Rosweyde verwiesen, so er nicht in einer neueren Edition vorliegt, und zudem auf dessen deutsche Übersetzungen, um einen möglichst unmittelbaren Zugang zu eröffnen: Am leichtesten greifbar ist die ältere Gesamtübersetzung von Sintzel: Leben der Väter. Oder: Lehren und Thaten der vorzüglichen Heiligen aus den ersten Zeiten des Ordensstandes in der katholischen Kirche. Ein höchst lehrreiches Erbauungsbuch für alle christlichen Seelen in und außer den Klöstern. Auch ein nützliches Seitenstück zu jeder Legende. Nach dem Lateinischen des ehrwürdigen Vaters Heribert Rosweid, aus der Gesellschaft Jesu, deutsch bearbeitet von Michael Sintzel. Augsburg 1840 u. 1847. Für die ‚Historia monachorum‘ liegt eine aktuelle deutsche Übersetzung vor: Tyrannius Rufinus: Historia monachorum. Hrsg. von Eva Schulz-Flügel. Beuron 2014 (Weisungen der Väter 19). 122 Diese Eigenschaft teilt das ‚Väterbuch‘ mit dem später verfassten ‚Passional‘, wie man den Ausführungen von Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘. Berlin/Boston 2015 (Literatur – Theorie – Geschichte 10), S. 38–45 und S. 51 f. entnehmen kann. Ausgehend von dieser Ähnlichkeit der beiden Werke in der Anlage wäre vielleicht doch noch einmal zu fragen, ob sich nicht trotz der unterschiedlichen Quellen und Formen legendarischen Erzählens in beiden Werken Aspekte einer gemeinsamen Poetik beschreiben lassen.
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Exempel und Parabeln enthalten. Dieser Teil wird im Folgenden als ‚Sprücheteil‘ bezeichnet. Der letzte Teil des ‚Väterbuchs‘ besteht aus längeren Legenden, die mehrheitlich von Einsiedlerinnen handeln. Sie haben nicht mehr unbedingt die Wüstenaskese zum Gegenstand, sondern thematisieren auch andere Formen der Einsiedelei. Ihnen ist eine Darstellung des Jüngsten Gerichts beigefügt, die allerdings systematisch eher der heilsgeschichtlichen Rahmung des Gesamttextes zuzurechnen ist. Aufgrund der stärkeren Narrativierung und inneren Geschlossenheit wird dieser Abschnitt mangels eines besseren Begriffs als ‚Legendenteil‘ bezeichnet. Die Überlieferungslage der lateinischen ‚Vitaspatrum‘ ist kompliziert (allein vom zweiten Buch existieren über 400 Handschriften).123 Die Variabilität der Texte stellt auch ein großes Problem für neue Editionsvorhaben dar. Die Überlieferung der lateinischen ‚Historia monachorum‘, welche die Vorlage für den Reiseteil darstellt, hat Eva Schulz-Flügel umfassend aufgearbeitet.124 Ausgehend von Schulz-Flügels Ausführungen lässt sich eine genauere Bestimmung der möglichen Quellen des ‚Väterbuchs‘ vornehmen. Bei Rosweyde stehen die entsprechenden Passagen in Buch III und IV, die beide Rufinus von Aquileia zugeschrieben werden. Schulz-Flügel zufolge lassen sich die Handschriften der ‚Historia monachorum‘, deren älteste auf das 8. Jahrhundert zu datieren sind, in acht Gruppen einteilen, die aus ganz Europa stammen. Die Anordnung der einzelnen Passagen im ‚Reiseteil‘ des ‚Väterbuchs‘ stimmen mit der ‚Vitaspatrum‘-Handschriftengruppe ε überein, wobei ε eine der beiden Handschriftengruppen ist, die relativ deutlich von der restlichen Überlieferung abweichen.125 Dieser Befund passt zu einer Aussage Carl Frankes, der bereits in seiner Ausgabe des ‚Väterbuchs‘ von 1880 darauf hinweist, dass sich die Anordnung der einzelnen Teile der ‚Historia monachorum‘ mit den in Leipzig befindlichen Handschriften MS 805 und 1329 sowie mit der Wiener Handschrift 4410 (Univ. 817) deckt,126 welche
123 Umfassend aufgearbeitet ist sie bei Batlle (1972). Die Variabilität der Texte stellt auch ein großes Problem für neue Editionsvorhaben dar. Ein solches hat für die Apophthegmata z. B. Guy, Jean-Claude: Les apophtegmes des Pères. Collection systématique. 3 Bde. Paris 1993, 2003 und 2005 (Sources chrétiennes 387, 474, 498) unternommen. Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung bei Hinterberger (1997), S. 28–43, der zu dem Ergebnis kommt, dass Guys Edition nicht die Kriterien einer „kritische Edition im strengen Sinn“ (S. 42) erfüllt. 124 Vgl. Rufinus Aquileiensis: Historia monachorum sive de vita sanctorum patrum. Hrsg. von Eva Schulz-Flügel. Berlin/New York 1990 (Patristische Texte und Studien 34), S. 90–237. 125 Vgl. Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 106. 126 Vgl. Das Veterbûch. Erste lieferung: Einleitung. Antonius. Johannes. Hrsg. von Carl Franke. Paderborn 1880, S. 3 f.
Das ‚Väterbuch‘ als erste deutsche Übersetzung der ‚Vitaspatrum‘
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Schulz-Flügel in die Gruppe ε einordnet.127 Für den ‚Sprücheteil‘ haben Werner J. Hoffmann und Ulla Williams eine gemeinsame lateinische Vorlage mit der im 15. Jahrhundert entstandenen Kölner ‚Vitaspatrum‘-Sammlung angenommen,128 doch scheint das ‚Väterbuch‘ auch davon in den ersten (programmatischen) Sprüchen abzuweichen. Bis auf Weiteres muss davon ausgegangen werden, dass der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ frei aus seiner Vorlage ausgewählt und neu geordnet, teilweise aber auch auf andere Quellen zurückgegriffen hat. Das gilt besonders für den ‚Legendenteil‘, in dem mehrere Legenden offensichtlich auf der ‚Legenda aurea‘ und weiteren Vorlagen beruhen. Für die Legende Marias von Ägypten etwa hat Konrad Kunze bereits darauf hingewiesen, dass die ‚Legenda aurea‘ nicht die alleinige Quelle sein kann. Auch die Erzählung vom Jüngsten Gericht ist eine eigenständige Kompilation aus verschiedenen Quellen. Der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ konnte also offensichtlich auf ein größeres Repertoire an lateinischen und deutschen Vorlagen zurückgreifen. Außer bei den Passagen, die eindeutig selbstständige Dichtungen sind, muss im Folgenden immer dann besonders umsichtig vorgegangen werden, wenn vermeintliche Eigenarten des ‚Väterbuchs‘ beschrieben werden, die unter Umständen auch auf die Vorlage zurückgehen könnten. Das gilt besonders auch dann, wenn die Anordnung der einzelnen Textteile in den Blick genommen wird. Es bleibt aber nicht aus, dass viele der folgenden Überlegungen sich ebenso auf die lateinischen Texte beziehen könnten. Auch die zentrale These der vorliegenden Arbeit, die Konstruktionen von Heiligkeit im ‚Väterbuch‘ seien durch Vorstellungen von Heilspartizipation und Gemeinschaftlichkeit bestimmt, lässt sich gewiss nicht auf den mitteldeutschen Text beschränken. Wie zu zeigen sein wird, ergeben sich aber immer wieder Punkte, an denen die Besonderheiten des Textes zum Vorschein gebracht werden können. In seinem Aufbau unterscheidet sich das ‚Väterbuch‘ deutlich vom ‚Passional‘, der zweiten großen Legendensammlung des selben Verfassers.129 Dort bilden die einzelnen Legenden wie in der ‚Legenda aurea‘ jeweils unabhängige nar-
127 Vgl. Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 103. 128 Vgl. Hoffmann/Williams (1999), Sp. 461. 129 Teil I und II des ‚Passionals‘ liegen in einer neuen kritischen Edition vor: Passional, 2 Bde. Hrsg. von Annegret Haase/Martin Schubert/Jürgen Wolf. Berlin/Boston 2013 (Deutsche Texte des Mittelalters 91,1+2). Für die vorliegende Arbeit ist allerdings der dritte Teil wichtiger, da er die Heiligenlegenden enthält. Vgl. Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg/Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32). Glücklicherweise liegt mit Hammer (2015) auch eine umfassende aktuelle Studie zum ‚Passional‘ vor, auf die hier immer wieder zurückgegriffen wurde.
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rative Einheiten. Innerhalb der Hauptabschnitte des ‚Väterbuchs‘ hingegen sind die einzelnen Heiligenerzählungen auf vielfältige Weise miteinander verbunden und verschränkt. Zudem ist das ‚Väterbuch‘ durch Prolog und Epilog gerahmt. Sie binden die Wüstenväterbewegung sowie die Produktion und Rezeption des Werks in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ein. Zu dieser Rahmung gehören auch eine ‚Siebenschläferlegende‘ und die Passage zum Jüngsten Gericht. Die vier großen Teile des ‚Väterbuchs‘ sind zusätzlich intern durch je eigene Pro- und Epiloge sowie Erzählerkommentare miteinander verbunden.
3.4 Zur Überlieferung des ‚Väterbuchs‘ Vom ‚Väterbuch‘ sind drei Handschriften mit weitgehend vollständiger und vier mit umfangreicher Textüberlieferung bekannt.130 Weitgehend vollständig sind die Leipziger (A; ms. 816; Anfang 14. Jh.), Straßburger (S; ms. 2326; 1406) und Hildesheimer Handschrift (K; Best. 52, Nr. 210/II; Ende 14. Jh.). Umfangreiche Auszüge des ‚Väterbuchs‘ überliefern die Hamburger Handschrift (Q; Cod. 213 in scrin.; 1. Hälfte 14. Jh.), die verschollene, aber für die Edition noch verwendete Königsberger Handschrift (F; Hs. 900; 14./15. Jh.),131 die Klosterneuburger Handschrift (M; Stiftsbibliothek Cod. 585; Entstehungszeit unklar) und die Wiener Handschrift (L; Österreichische Nationalbibliothek Cod. 2779; 1. Hälfte 14. Jh.). Dazu kommt eine Reihe von Fragmenten. Karl Reissenberger machte in seiner Edition des ‚Väterbuchs‘ die Leipziger Handschrift (A) zur Leithandschrift, ergänzte sie aus der Hildesheimer Handschrift (K) und schloss verbleibende Lücken (besonders die letzten zweitausend Verse) mit dem Text aus der Straßburger Handschrift (S).132 Reissenbergers Vorgehen wurde durch später gefundene Fragmente gerechtfertigt, denn sie zeigen große Übereinstimmungen mit den vollständigen Handschriften. So konstatiert
130 Die gesamte Überlieferungslage ist dargestellt bei Klein, Klaus: Die Überlieferung des ‚Väterbuchs‘. In: Neue Studien zur Literatur im Deutschen Orden. Hrsg. von Arno Mentzel-Reuters/ Bernhart Jähnig. Stuttgart 2014 (Beihefte zur ZfdA 19), S. 117–126. Klein führt auch neue Siglen ein, um den gesamten Bestand erfassen zu können. Soweit nötig, werden diese Siglen hier verwendet. 131 Vgl. Zapf, Volker: [Art.] Passional u. Väterbuch. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Bd. 1: Das geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Berlin/New York 2011, Sp. 902–911; hier Sp. 909. 132 Vgl. Das Väterbuch (Reissenberger), S. XVI.
Zur Überlieferung des ‚Väterbuchs‘
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etwa Ralf Plate 1998 für den Text des Breslauer Fragments E133 eine „so große Übereinstimmung mit jenem der Hs. A [...], daß ein Abdruck von E hier nicht nötig ist.“134 Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Edition einen Text wiedergibt, der recht nahe an dem im Mittelalter weiträumig bekannten Text liegt.135 Es unterscheidet sich in den Handschriften allerdings die Anordnung der Legenden am Ende des ‚Väterbuchs‘. Dem Wunsch Reissenbergers136 und Hans-Georg Riecherts137 nach einer umfassenden Aufarbeitung der Überlieferungslage hat Klaus Klein 1985138 und 2014 entsprochen. In seiner 2014 erschienenen Sichtung der gesamten Überlieferung kommt er zu dem Befund, dass der Schwerpunkt der Überlieferung, anders als beim ‚Passional‘, in Südwestdeutschland liegt. Diese Feststellung ist mit Blick auf die Zuordnung des Textes zum Deutschen Orden nicht unproblematisch, weil dessen Niederlassungen schwerpunktmäßig im Nordosten lagen. Klein betont aber auch, dass die Überlieferungslage des ‚Väterbuchs‘ deutlich schlechter ist als die des ‚Passionals‘,139 sodass eindeutige Aussagen über den Entstehungsraum schwierig sind. Die Schreibsprachen der Textzeugen sprechen außerdem für eine Verbreitung im ganzen deutschsprachigen Raum. Zudem sind immerhin einige der ältesten Textzeugen in ostmitteldeutscher Sprache abgefasst (A und Fragment 22), was wiederum auf eine Entstehung im Zusammenhang des Deutschen Ordens hindeuten könnte. Eine sichere Zuordnung lässt sich aus der Überlieferung aber nicht gewinnen.
133 Fragment 4 bei Klein (2014). 134 Plate, Ralf: Zum Breslauer ‚Väterbuch‘-Fragment E. In: ZfdA 127 (1998), S. 295–298; hier S. 297. 135 Wobei allerdings am häufigsten nur einzelne Teile überliefert sind. 136 Vgl. Das Väterbuch (Reissenberger), S. XVI. 137 Vgl. Richert, Hans-Georg: Über einige Fragmente geistlicher deutscher Dichtung. In: PBB 91 (1969), S. 302–312; hier S. 310. Ich verzichte hier auf eine weitergehende Darstellung, weil sie für die folgende Arbeit irrelevant ist. Verwiesen sei allerdings auf die Ausführungen von Hartmut Beckers, der die Überlieferungsdarstellung Hohmanns mit den bis 1974 neuentdeckten Handschriften ergänzt: Vgl. Beckers, Harmut: Kölner Bruchstücke der ‚Crone‘ Heinrichs von dem Türlin und des ‚Väterbuchs‘. In: ZfdA 103 (1974), S. 125–140; hier S. 135, Anm. 11. Seither wurden neue Textzeugen von Williams-Krapp, Werner: Neue Textzeugen des „Barlaam“ Rudolfs von Ems und des „Väterbuchs“. In: ZfdA 108 (1979), S. 219–233, von Bertelsmeier-Kierst, Christa: Tiroler „Findlinge“. In: ZfdA 123 (1994), S. 334–340, von Plate (1998), von Klein, Klaus: Zum Budapester Bruchstück des ‚Väterbuchs‘. In: ZfdA 129 (2000), S. 184–186 und von Busch, Nathanael: Zur Regensburger ‚Väterbuch‘-Handschrift. Mit einem neu aufgefundenen Fragement aus dem Bayr. Hauptstaatsarchiv München. In: ZfdA (2007), S. 356–358 beschrieben. 138 Vgl. Klein (1985), S. 337–350. 139 Vgl. Klein (2014), S. 120.
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Die drei vollständigen Handschriften sind als Einzeltexte überliefert,140 ebenso Q. In F war der Text mit einer Alexiuslegende kombiniert, was nicht weiter verwundert, da auch im ‚Väterbuch‘ eine solche zu finden ist. Interessanter ist der Überlieferungszusammenhang in M und L, wobei sie allerdings nur kurze Ausschnitte des ‚Väterbuchs‘ enthalten. L enthält nur die ‚Siebenschläferlegende‘, M dieselbe und zusätzlich das ‚Andreasmirakel‘. In M steht der ‚Väterbuch‘-Text im Zusammenhang einer Textsammlung, die an ein Predigthandbuch denken lässt. Die Handschrift enthält außer dem ‚Väterbuch‘ eine Dekalogerklärung, eine Übersetzung von Bonaventuras ‚Soliloquium‘, ein Mariengebet, einen Beichtspiegel und Predigten Bertholds von Regensburg. Hier sind die ‚Väterbuch‘-Auszüge also eindeutig in einen geistlichen Zusammenhang eingebettet. Ganz anders sieht es in L aus. Hier ist der ‚Väterbuch‘-Auszug Teil einer Handschrift mit chronikalen und höfischen Texten, wie der ‚Kaiserchronik‘, dem ‚Iwein‘ und der ‚Crône‘. Allerdings ist die Passage aus dem ‚Väterbuch‘ ebenso wie zwei religiöse Erzählungen des Strickers nachträglich eingetragen. Festzuhalten ist also einerseits eine relative Stabilität des Textes. Sie ermöglicht es, Aussagen über kompositorische Aspekte zu machen. Andererseits wird deutlich, dass Teile des ‚Väterbuchs‘ sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Zusammenhängen anschlussfähig waren.141 Zudem beschränkte sich seine Rezeption ganz offenbar nicht auf den monastischen Zusammenhang, wofür die Aufnahme von Texten aus dem ‚Väterbuch‘ in weltgeistliche und weltliche Sammelhandschriften spricht. Der Text ist jedoch anders konfiguriert als die höfisierten Legenden etwa von Hartmann, Reinbot und Rudolf. Mit Blick auf das ‚Väterbuch‘ fällt unter dem Aspekt der Hybridisierung zunächst die Form ins Auge, denn die lateinische Prosa der ‚Vitaspatrum‘ verwandelt der Verfasser in deutsche Verse
140 A enthält allerdings auf den letzten Seiten einige von späterer Hand nachgetragene Hymnen und Sentenzen. 141 Vgl. zu den vielfältigen Verbindungen weltlichen und legendarischen Erzählens besonders die Arbeiten von Stephanie Seidl und Andreas Hammer: Hammer, Andreas/Seidl, Stephanie: Einleitung. In: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hrsg. von Andreas Hammer/Stephanie Seidl. Heidelberg 2011, S. IX–XIX; Hammer, Andreas: Der heilige Drachentöter. Transformationen eines Strukturmusters. In: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hrsg. von Andreas Hammer/Stephanie Seidl. Heidelberg 2012 (GRM-Beiheft 42), S. 143–179; Seidl, Stephanie: Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin/Boston 2012 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 141). Vgl. dazu auch Lembke, Astrid: Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung. Berlin 2008. Aus anderer Perspektive nähert sich dem Phänomen auch Eming, Jutta: Judas als Held. Formen des Erzählens in mittelalterlichen Judaslegenden. In: ZfdPh 120 (2001), S. 394–412.
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und nähert den Text schon damit der weltlichen Literatur an. Die versifizierte Form macht es zudem möglich, dass der Text in der Passage zum Jüngsten Gericht in einen hymnischen Duktus übergeht und so ein performatives Moment entwickelt. Hybride Zusammenhänge schaffen auch die eingesponnenen weltlichen Motive und narrativen Muster. So ergibt der Vergleich von volkssprachlichem Text und lateinischer Vorlage häufig, dass im ‚Väterbuch‘ dort amplifiziert wurde, wo Anschlussmöglichkeiten für den an weltlicher Literatur geschulten Rezipienten bestanden, etwa bei der Darstellung von Emotionen wie minne und bei Motiven, die auch in der weltlichen Literatur vorkommen, wie etwa Drachen oder das Reisen. Gleichzeitig wird häufig Komplexität reduziert, wenn der lateinische Text sich auf theologische Diskurse bezieht, die den Rezipienten nicht ohne Weiteres zugänglich sind.
3.5 Stand der Forschung zum ‚Väterbuch‘ Neuere Forschungsarbeiten zum ‚Väterbuch‘ sind rar, und größere Gesamtdarstellungen stammen durchweg aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Bis auf wenige Ausnahmen ist es um den Text nach Veröffentlichung der Dissertation Hohmanns (1909),142 die sich ganz dem ‚Väterbuch‘ widmet, und der Edition Karl Reissenbergers (1914)143 still geworden. Einzig Cornelia Herberichs hat in einem 2014 erschienenen Aufsatz zum ‚Väterbuch‘ eine Neuperspektivierung unternommen. Ausgehend von den Überlegungen Peter Strohschneiders konstatiert sie ein „Glaubwürdigkeitsproblem“144 der Legenden im ‚Väterbuch‘ und eine Tendenz des Textes, diesem mit Strategien der narrativen Auratisierung des Erzählers zu begegnen. Immer wieder hat die Forschung auf die Emphase der Gemeinschaft im ‚Väterbuch‘ hingewiesen, die in der vorliegenden Arbeit zur Leitkategorie erhoben wurde. Schon Haupt betont die Adressierung des Textes an die Gemeinschaft.145
142 Hohmann (1909). 143 Das Väterbuch (Reissenberger). 144 Herberichs, Cornelia: ‚Der Erzähler ist uns keineswegs durchaus gegenwärtig‘. Zu Benjamins Aura-Konzept in narratologischer Perspektive und zur Auratisierung legendarischen Erzählens im Väterbuch. In: Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin. Hrsg. von Ulrich Johannes Beil u. a. Zürich 2014 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 27), S. 85–115; hier S. 100. 145 Vgl. Haupt, Joseph: Über das mitteldeutsche Buch der Väter. In: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 69 (1871), S. 71–146; hier S. 76.
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Seine Argumentation bezieht sich allerdings vor allem auf die ‚Antoniusvita‘ am Beginn des Textes.146 Auch Reissenberger erwähnt entsprechende Stellen.147 Wiederum taucht der Begriff Gemeinschaft im Verfasserlexikoneintrag von Konrad Kunze und Dorothea Borchardt auf.148 Sie betonen besonders die Anpassung der Übersetzung an den Deutschen Orden, die sie in der Verwendung des Begriffs der gemeinschaft (V. 165) repräsentiert sehen.149 Keiner der Beiträge arbeitet den Befund jedoch zu einer Lesart des Gesamttextes aus. Die weiteren Themenkreise, mit denen sich die Forschung befasst hat, betreffen den Verfasser des Werks, dessen Herkunft und die Zeit der Abfassung, das Verhältnis zum Deutschen Orden, die Eigenständigkeit und die Quellen des ‚Väterbuchs‘ und neuerdings den Status des Erzählens. Im Folgenden wird auf die wichtigsten Arbeiten und Positionen eingegangen, nicht aber auf Studien zu einzelnen Legenden. Sie werden, soweit sie relevant sind, im jeweiligen Abschnitt der Textanalyse besprochen. Bereits in den 1840er Jahren stellte Franz Pfeiffer die These auf, dass das ‚Passional‘ und das ‚Väterbuch‘ auf denselben Verfasser zurückgehen.150 Das ‚Passional‘ versammelt in drei Büchern die Leben Jesu und Marias, Apostel- und Heiligenlegenden in deutscher Sprache. ‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘ enthalten damit zusammen einen großen Teil der bekannten legendarischen Erzählungen. Die These von der Identität des Verfassers ist heute Konsens, wenn auch, wie Martin Schubert jüngst noch einmal betont hat, ein endgültiger Beweis durch einen umfassenden Vergleich der Sprache in den beiden Werken noch immer aussteht.151 Als Herkunftsraum hat Karl Hohmann für das ‚Väterbuch‘ „eine westlichere Gegend des mitteldeutschen Sprachgebietes [als Schlesien; J. T.] oder auch das Deutschordensland“152 identifiziert. Schubert hat für das ‚Passional‘ eine genaue Bestimmung der Sprache versucht und kommt zu dem Ergebnis, dass sie all-
146 Vgl. Haupt (1871), S. 80 f. 147 Vgl. Das Väterbuch (Reissenberger), S. V. 148 Eine im Verfasserlexikonartikel von 1999 angekündigte Dissertation zum ‚Väterbuch‘ von Dorothea Borchardt (Borchardt, Dorothea/Kunze, Konrad: [Art.] Väterbuch. In: VL. 2. Aufl. Bd. 10. Berlin/New York 1999, Sp. 164–170; hier Sp. 170) ist bis heute leider nicht erschienen. 149 Vgl. Borchardt/Kunze (1999); hier Sp. 165. 150 Vgl. Marienlegenden. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1846, S. XIV. 151 Vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XXVII–XXIX. Martin Schubert schreibt in seinem Vorwort zur Ausgabe die Verfasserschaft einzelner Teile der Einleitung den einzelnen Herausgebern zu (S. X). Ich verzichte der Übersichtlichkeit zuliebe in den Stellenangaben auf diese Differenzierung, beziehe mich aber im Haupttext namentlich auf den jeweiligen Verfasser. 152 Hohmann (1909), S. 74.
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gemeine Merkmale des Ostmitteldeutschen trägt, sich aber am Oberdeutschen orientiert und niederdeutsche Einflüsse aufweist. Wie schon für Hohmann 1909 bleibt damit auch für Schubert 2014 eine Entstehung der Texte im Ordensgebiet möglich, aber nicht beweisbar.153 Einigkeit herrscht darüber, dass der Verfasser das ‚Väterbuch‘ vor dem ‚Passional‘ begonnen hat. Begründet wurde diese Annahme von der älteren Forschung gelegentlich mit einer künstlerischen Entwicklung des Verfassers. Karl Hohmann etwa argumentiert: Was die Technik weiter anlangt, so ist oben schon über die lyrischen Stellen in unseren Legendarien [‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘; J. T.] gehandelt worden. Diese Eigentümlichkeit unseres Dichters hat sich erst allmählich entwickelt und ausgebildet. Im ganzen Väter buche findet sich nur zuletzt beim Jüngsten Gericht eine lyrische Partie, dagegen können wir im Passionalbuche eine ganze Reihe lyrischer Gebilde nachweisen. Sollte dies nicht das Zeichen einer fortschreitenden Technik, eines wachsenden dichterischen Könnens sein!154
Hohmann geht in seiner Begründung der Werkabfolge von der Idee eines Dichtersubjekts aus, dessen künstlerische Fähigkeiten sich im Lauf seines Lebens entwickeln. Diesen Dichter würde dort, „wo der Natur der Sache nach eine gehobene Sprache erfordert“ ist, die „Begeisterung [...] unwillkürlich aus der epischen zur lyrischen Form“155 reißen. Doch hat dieses Argument an Glaubwürdigkeit verloren. Die unterschiedlichen Schreibformen scheinen aus heutiger Perspektive eher auf Gattungskonventionen als auf die Person des Dichters zu verweisen. So mag sich etwa aus der Tradition der Marienverehrung für die Marienlegenden im ‚Passional‘ eher ein hymnischer Ton ergeben als aus der auf den Typus des lehrhaften Spruchs ausgerichteten Tradition der Wüstenväterliteratur, in der das ‚Väterbuch‘ steht. Immer noch überzeugend ist Hohmanns Überlegung, dass im ‚Passional‘ einige Erzählungen aus der ‚Legenda aurea‘ (er weist besonders auf das Mirakel vom Heiligen Andreas hin, Gleiches könnte aber auch für die ‚Siebenschläferlegende‘ gelten) ausgespart sind, die zwar in den ‚Passionals‘-Zusammenhang gepasst hätten, aber bereits im ‚Väterbuch‘ stehen und deshalb im ‚Passional‘ nicht wiederholt worden seien.156 Martin Schubert hat neuerdings den Vorschlag gemacht,
153 Vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XXXII–XXXIV u. CCII. 154 Hohmann (1909), S. 84. 155 Hohmann (1909), S. 72. Hierbei handelt es sich um die Textpassage auf die Hohmann in der zuvor zitierten Passage verweist. 156 Vgl. Hohmann (1909), S. 83.
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dass einzelne Teile der Werke als eigenständige Stücke geschrieben worden und erst später zu einem Gesamtwerk zusammengefügt worden sein könnten.157 Auch wenn sich nicht alle Fragen nach dem Verfasser und dem Verhältnis der beiden Werke eindeutig beantworten lassen, ergeben sich doch belastbare Annahmen: Ob ‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘ teilweise parallel verfasst wurden, ist nicht eindeutig zu beantworten. Klar ist aber, dass beide Werke gemeinsam einen wesentlichen Teil der Tradition legendarischen Erzählens enthalten sollten. Keinesfalls ist der Verfasser ein literarischer ‚Anfänger‘. Dazu zeigt auch das wahrscheinlich ältere ‚Väterbuch‘ an zu vielen Stellen eine vertiefte Einsicht in die lateinische und deutsche Literatur und eine zu große Virtuosität in der literarischen Gestaltung. Das ‚Väterbuch‘ geht in seinem Gegenstand und seiner Anlage auf die lateinische Tradition der ‚Vitaspatrum‘ zurück. Insofern existiert ein dominanter Prätext, was die Frage nach dem Verhältnis zu den Vorlagen und der Eigenständigkeit des Werkes aufgeworfen hat. Es ist die große Leistung Joseph Haupts, erstmals einen Vergleich des ‚Väterbuchs‘ mit den ‚Vitaspatrum‘ vorgenommen zu haben. Haupt meint, eine bemerkenswerte Eigenständigkeit des deutschen Übersetzers beobachten zu können: „Er übersetzt nicht, wie man eben im Mittelalter übersetzt hat, sondern sucht aus den gegebenen Erzählungen in sich abgeschlossene ‚Maeren‘ zu bilden.“158 Franke hingegen sieht die Eigenständigkeit des Verfassers nur in der Ausführung der Erzählungen: Inhalt und reihenfolge auch der kleinsten ereignisse sind im Veterbûche ganz dieselben wie in Vitaspatrum. Nur ist der verfasser kein blosser übersetzer sondern ein dichter im besten sinne des wortes. Er versteht es seinen stoff poetisch zu beleben. In seinen schilderungen, namentlich da, wo es gilt, stimmungen des gemütes zu malen, erhebt er sich oft weit über die quelle und verleiht nicht selten den einzelnen handlungen erst psychologische motivirung und vermittelung.159
157 Vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XXIX. Der Versuch Marianne Gouels, das ‚Väterbuch‘ Anselm von Meißen als Verfasser zuzuschreiben, darf guten Gewissens ignoriert werden, denn sie stützt ihre Argumentation auf eine falsche Datierung der Regensburger Fragmente. Vgl. Gouel, Marianne: Das mitteldeutsche ‚Väterbuch‘. Ein Missionsbuch des ostdeutschen Raumes? In: Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. von Carola L. Gottzmann/Petra Hörner. Frankfurt a. M. 1998, S. 39–78, hier S. 44. Zur Datierung der entsprechenden Handschrift vgl. Schneider, Karin: Die Fragmente mittelalterlicher deutscher Versdichtung der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 5249/1–79. Stuttgart 1996 (Beihefte der ZfdA 1), S. 36 und Busch (2007), S. 158. 158 Haupt (1871), S. 4. 159 Das Veterbûch (Franke), S. 10. Vgl. dazu auch Frankes Einlassungen zum Stil von ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ auf den S. 75–85.
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Hohmann hingegen kommt zu weitreichenderen Ergebnissen. Sein umfassender Vergleich des ‚Väterbuchs‘ mit den ‚Vitaspatrum‘ ergibt, dass sie nicht die alleinige Vorlage für das ‚Väterbuch‘ waren, sondern dass der Verfasser zudem auf die ‚Legenda aurea‘ zurückgegriffen hat.160 Außerdem sei der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ recht frei mit der Anordnung seiner Vorlagen umgegangen. Hohmann begründet seine These mit einer Darstellung der Quellen, aus denen das ‚Väterbuch‘ schöpft. Karl Helm und Walther Ziesmer weisen darauf hin, dass auch Einflüsse der Werke Rudolfs von Ems und Konrads von Würzburg ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ prägen.161 Für einzelne Erzählungen im Legendenteil ist zudem gezeigt worden, dass noch weitere volkssprachliche und lateinische Quellen verwendet wurden. Unter dem Dach des Würzburg-Eichstätter SFB 226 „Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter“ befasste sich ab 1989 ein Projekt mit den spätmittelalterlichen Prosafassungen der ‚Vitaspatrum‘. Die Grundzüge des Würzburger ‚Vitaspatrum‘-Projekts entwerfen Konrad Kunze, Ulla Williams und Philipp Kaiser in einem 1989 verfassten Aufsatz.162 Die Arbeiten, die im Zusammenhang dieses Projektes entstanden, streifen das ‚Väterbuch‘ immer wieder. Nie aber rückt es in den Mittelpunkt des Interesses. Aus der Versform und dem Erwartungshorizont des Textes schließen Kunze, Williams und Kaiser, dass das ‚Väterbuch‘ „souverän die Altväterspiritualität mit dem aristokratischen Selbstverständnis des Ritterordens“163 vermittle, ohne diese These weiter zu belegen oder zu verfolgen. Für die vorliegende Arbeit sind diese Ergebnisse der Forschung nicht ohne Schwierigkeiten. Existiert doch einerseits mit den ‚Vitaspatrum‘ eine wichtige Quelle, die immer wieder kontrolliert werden muss, ehe Aussagen über eigenständige Aspekte des ‚Väterbuchs‘ gemacht werden können. Andererseits kann dort, wo die Quelle unklar bleibt, nicht automatisch von einer idiosynkratischen Entwicklung ausgegangen werden. Der Vergleich mit den im deutschen Mittelalter geläufigen Fassungen der ‚Vitaspatrum‘ zeigt aber immerhin eindeutig, dass der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ im Stande war, informiert und selbständig mit seinem Material umzugehen, und so lassen sich in Rahmungen, Anordnungen,
160 Vgl. Hohmann (1909), S. 39. 161 Vgl. Helm, Karl/Ziesmer, Walther: Die Literatur des Deutschen Ritterordens. Gießen 1951, S. 64. 162 Vgl. Kunze, Konrad/Williams, Ulla/Kaiser, Philipp: Information und innere Formung. Zur Rezeption der Vitas patrum. In: Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter. Perspektiven ihrer Erforschung. Kolloquium 5.–7. Dezember 1987. Hrsg. von Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1987, S. 123–142. 163 Kunze/Williams/Kaiser (1987), S. 130.
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Auslassungen und Zufügungen sehr wohl eigenständige und programmatische Aspekte des ‚Väterbuchs‘ herausarbeiten. Wenig einhellig waren und sind die Meinungen zur Beziehung des Verfassers und seiner Werke zum Deutschen Orden.164 1861 verwies Emil Steffenhagen darauf, dass das ‚Väterbuch‘ häufig zum Bestand der Bibliotheken des Ritterordens zählte.165 Klaus Klein hat diese Behauptung allerdings 2014 mit Hinweis auf die wenigen Textzeugen und deren Provenienz relativiert. Die Untersuchungen, die in der Folge Steffenhagens die These von der Herkunft des ‚Väterbuchs‘ aus dem Deutschen Orden belegen wollten, bezogen sich dabei allerdings nicht nur auf die Überlieferungslage. Als Belege wurden zusätzlich die gemeinsame Überlieferung mit Werken, die eindeutig zum Deutschen Orden gehören, und die Verwendung spezifischer Begriffe gewertet, die nur im Deutschen Orden gebräuchlich waren.166 Aus Hans-Georg Richerts Sicht lassen sich sichere Aussagen nur aus solchen Wortschatzvergleichen gewinnen, die nicht die ganze sogenannte Deutschordensdichtung heranziehen, da Ähnlichkeiten auch auf die Rezeption von ‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘ zurückgehen könnten. Zum Vergleich eignen sich daher nur Werke, deren Entstehung zeitlich vor ‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘ liegen. Das schränkt die Menge der Vergleichstexte auf zwei, nämlich die ‚Statuten‘167 des Ordens und die ‚Judith‘168 ein. Hier aber erkennt Richert einschlägige Übereinstimmungen, sodass er konstatieren kann,
164 Ich verzichte hier darauf, auf die längliche Debatte um das Für und Wider einer eigenen literarischen Tradition innerhalb des Deutschen Ordens und den Begriff der ‚Deutschordensdichtung‘ einzugehen. Vgl. dazu nur exemplarisch Peters, Jelko: Zum Begriff „Deutschordensdichtung“. Geschichte und Kritik. In: Jahrbuch des BKGE 3 (1995), S. 7–38 und Löser, Freimut: Literatur im Deutschen Orden. Vorüberlegungen zu ihrer Geschichte. In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen. Leben und Nachleben. Hrsg. von Jaroslaw Wenta/Sieglinde Hartmann/Giesela Vollmann-Profe. Torun 2008 (Sacra Bella Septentrionalia 1; Publikacje Centrum Mediewistycznego Wydziału Nauk Historycznych UMK 1), S. 331–354. 165 Vgl. Steffenhagen, Emil: Zur Geschichte der Deutschen Poesie in Preußen im 14. Jahrhundert. In: Neue Preußische Provinzial-Blätter, 3. Folge 8 (1861), S. 213–224; hier S. 222 f. 166 Vgl. z. B. Haupt (1871), S. 128. Vgl. zu den literarischen Verarbeitungen des Alten Testaments im Deutschen Orden Buschinger, Danielle: Deutschordensdichtung. In: Études de linguistique et de littérature en l’honneur d’André Crépin. Hrsg. von Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 5/Wodan 20), S. 61–91; hier S. 63–78. 167 Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach). Die Edition vereinigt die fast zeitgleich entstandenen Ordensregeln in lateinischer, altfranzösischer, mittelniederländischer und mitteldeutscher Sprache. Im Folgenden werden die Passagen jeweils in der mitteldeutschen Fassung wiedergegeben. 168 Judith. Aus der Stuttgarter Handschrift HB XIII 11. Hrsg. von Hans-Georg Richert. 2. Aufl. Tübingen 1969 (ATB 18).
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daß Vät/Pass nicht erst sekundär, d. h. also im Sinne eines Aneignungsvorgangs, eine enge Verbindung mit dem DO [Deutschen Orden; J. T.] eingehen, sondern daß diese Verbindung ursprünglicheren Charakters ist, d. h. daß der Dichter sich sprachlicher Möglichkeiten bediente, die ihm durch die Sphäre des potentiellen Hörerkreises, mit Hinblick auf den er zu seinem Werk veranlasst worden war [...], bis zu einem gewissen, in jedem Falle wahrnehmbaren Grade an die Hand gegeben war.169
Die syntaktische Komplexität spiegelt die Vorsicht, mit der Richert Aussagen über seinen Gegenstand macht. Immerhin aber meint Richert die Sprache von ‚Passional‘ und ‚Väterbuch‘ als Ostmitteldeutsch und die Herkunftsregion als das nördliche Ostmitteldeutschland identifizieren zu können.170 All das weist auf das preußische Ordensland als Entstehungsraum hin. Und schließlich hält Richert doch fest: „[D]er Passionaldichter [und damit auch der Dichter des ‚Väterbuchs‘; J. T.] schrieb innerhalb des Deutschen Ordens; daß er ein Priester dieser Gemeinschaft war, ist nach allem wohl die nächstliegende Folgerung [...].“171 Für Martin Schubert und Jürgen Wolf bleibt die Anbindung an den Deutschen Orden prekär. Viele der dafür vorgebrachten Argumente lassen sich ihrer Meinung nach entkräften.172 Zudem fehle im ‚Passional‘ die im Deutschen Orden verehrte Heilige Barbara. Insgesamt kommt Schubert zu folgender Erkenntnis: Letztendlich zeigt das Passional Entsprechungen zur Denkwelt des Deutschen Ordens sowie zu derjenigen der Franziskaner. Für jede Zuordnung bleiben Reibungen vorhanden, die nur durch Hilfskonstruktionen zu lösen sind. Vielleicht ist es eine Lösung, die geistliche Herkunft des Verfassers von der Protektion und Auftraggeberschaft zu trennen.173
Wolf geht für das ‚Väterbuch‘ noch weiter. In Anbetracht von Kleins Überlegungen zur Hauptüberlieferung im süddeutschen Raum konstatiert er: „die einfache Gleichung Väterbuch = Deutscher Orden geht jedenfalls so nicht auf.“ Das Werk wurde seiner Meinung nach zwar im Orden rezipiert, aber nicht von diesem initiiert.174 Wie auch immer das Verhältnis von Verfasser, Auftraggeber und Rezipienten gewesen sein mag, bleibt doch unbestritten, dass es bereits bei der Werkentstehung oder kurz danach eine enge Verbindung zwischen dem ‚Väterbuch‘ und
169 Richert, Hans-Georg: Wege und Formen der Passionalüberlieferung. Tübingen 1978 (Hermaea N. F. 40), S. 174. 170 Vgl. Richert (1978), S. 225. 171 Richert (1978), S. 226. 172 Vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XXXV f. 173 Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XLIII. 174 Vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. CLIII.
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dem Deutschen Orden gab.175 Gerade die marianischen Passagen sprechen dafür, dass der Text, sei es bei der Entstehung oder einer zeitnahen Bearbeitung, auf die Bedürfnisse des Ordens zugeschnitten wurde. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit werden deshalb auf eine Rezeptionssituation innerhalb des Deutschen Ordens176 bezogen und scheinen sich in diese auch gut einzufügen, doch ist grundsätzlich auch eine Situierung in einem anderen Orden mit hohem Laienanteil denkbar.
175 Ähnlich auch Hammer (2015), S. 25, Anm. 76 und S. 46. 176 Vgl. einführend dazu Buschinger (1993), hier S. 61–63.
4 Die Vielfalt der Heiligkeit und die germanistische Legendenforschung Es gibt viele Wege zur Heiligkeit. Für die vormodernen Hagiographen war diese Pluralität kein Problem und so schreibt etwa Jacobus de Voragine in seiner ‚Legenda aurea‘, der wirkmächtigsten Legendensammlung des lateinischen Mittelalters, über den heiligen Hieronymus: Fuit [Hieronymus; J. T.] enim sanctus, id est firmus vel mundus vel sanguine tinctus, vel usui sacro deputatus. Denn er war heilig, das heißt fest, oder rein, oder in Blut getaucht, oder zu heiligem Gebrauch bestimmt.177
Jacobus benennt vier Gründe der Heiligkeit des Hieronymus und erläutert sie unmittelbar im Anschluss. Hieronymus sei langmütig und dauerhaft in seinen guten Taten, reinen Herzens durch seine Lauterkeit, in Blut getaucht durch die Betrachtung der Passion Christi und durch seine Schriftauslegungen zu heiligem Gebrauch bestimmt gewesen.178 Beziehen sich diese vier Gründe der Heiligkeit hier auch auf dieselbe Figur, so implizieren sie doch zugleich ganz unterschiedliche Formen der Heiligung und gehen auf unterschiedliche Handlungen des Heiligen zurück: Langmut und Duldsamkeit erweisen sich in anderen Situationen als die gute Tat aus Nächstenliebe oder die inspirierte Schriftauslegung. Während die religionswissenschaftliche Forschung lange versucht hat, das Heilige ontologisch zu fassen,179 ist man in der letzten Zeit von Generalisierungen eher abgerückt.180 Statt nach einer Bestimmung des Heiligen bzw. von Heiligkeit zu suchen, hat sich die Forschung in letzter Zeit eher der Frage zugewandt,
177 Jacobus de Voragine: Goldene Legende. Hrsg. von Bruno W. Häuptli. Freiburg i. Br. 2014, Bd. 2, S. 1906 f. 178 Vgl. Legenda aurea (Häuptli), Bd. 2, S. 1906 f. 179 Bis in die Gegenwart wurden z. B. die 1917 erstmals erschienenen Überlegungen von Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München 2004 rezipiert, der das Heilige als das unfassbare Andere bestimmt, dessen Wesen sich einzig in Furcht und Faszination des es wahrnehmenden Subjekts spiegelt. 180 Zum Begriff der Heiligkeit vgl. Evans, Matthew T.: The Sacred. Differentiating, Clarifying and Extending Concepts. In: RRR 45 (2003), S. 32–47. Einen Überblick über die Ansätze zur Bestimmung von Heiligkeit bietet Colpe, Carsten: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen. Frankfurt a. M. 1990, S. 19–49. Colpe selbst optiert für einen erfahrungsorientierten Ansatz, der für literaturwissenschaftliche Studien naturgemäß problematisch ist. Hier muss der Fokus vielmehr auf literarischen Konstruktionen liegen. Für einen Überblick Zu
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[a]n welchem Ort, zu welcher Zeit und in welchen sozialen, politischen, ökonomischen, institutionellen, kulturellen und mentalen Kontexten […] von welchen Personen welches Ideal von Heiligkeit formuliert oder welche Wirklichkeit von Heiligung praktiziert [wird].181
Auch für die literaturwissenschaftliche Legendenforschung hat sich die Frage nach dem Heiligen als ein Problem erwiesen,182 denn sie suchte häufig zur gattungstypologischen Bestimmung der Legende Heiligkeit als ein externes Kriterium zu definieren, das aber als literarische Form von den Texten allererst hervorgebracht wird. Die verschiedenen Anläufe zu einer solchen Definition haben sich allesamt als problematisch erwiesen. Das gilt aber auch für Ansätze, welche die Gattung aus einer Denkfigur abzuleiten suchen (Jolles),183 für solche, die die Gattung an die Darstellung der heiligen Person binden (Rosenfeld),184 für solche, die von einer Bindung an eine bestimmte Funktion (etwa Erbauung) ausgehen (Schulmeister),185 für solche, die ein (biographisches) Syntagma absolut setzen (Brinker)186 und auch für solche, die mit mehreren parallelen Strukturmodellen
Heiligkeit im Mittelalter vgl. Hamm, Berndt: Heiligkeit im Mittelalter. Theoretische Annäherung an ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Nine Miedema/Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 627–645. 181 Hamm (2003), S. 633. 182 Dieses Problem potenziert sich eher noch, wenn von einem weiten Legendenbegriff aus diachrone und interkulturelle Vergleiche vorgenommen werden, um bestimmte, vermeintlich anthropologische Phänomene zu beschreiben, wie es schon bei Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 1958 und Gumbrecht (1979) geschieht. Im Zentrum steht ein so weiter Legendenbegriff bei Ecker, HansPeter: Legenden. Geschichte, Theorie, Pragmatik. Passau 2003, aber auch die Ausführungen von Kraß, Andreas/Frank, Thomas: Sündenbock und Opferlamm. Der Märtyrer aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums. Hrsg. von Andreas Kraß/Thomas Frank. Frankfurt a. M. 2008, S. 7–21; hier S. 15 zur Poetik des Martyriums und der Erotik des Märtyrers gehen in diese Richtung. 183 Vgl. Jolles (1958). Einen ähnlichen Ansatz versucht Ringler, Siegfried: Zur Gattung Legende. Versuch einer Strukturbestimmung der christlichen Heiligenlegende des Mittelalters. In: Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters. Kurt Ruh zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Kesting. München 1975 (Würzburger Prosastudien 2/Medium aevum 31), S. 255–270. 184 Vgl. Rosenfeld, Hellmut: Legende. Stuttgart 1982 (Sammlung Metzler 9; Realien zur Literatur: Abt. E, Poetik). 185 Vgl. Schulmeister, Rolf: Aedificatio und imitatio. Studien zu einer intentionalen Poetik der Legende und Kunstlegende. Hamburg 1971. Zum Begriff der „Erbauung“, seiner pietistischen Konnotation und deren Kritik vgl. ebd. S. 15–42. 186 Vgl. Brinker, Klaus: Formen der Heiligkeit. Studien zur Gestalt d. Heiligen in mhd. Legendenepen d. 12. u. 13. Jh. Univ. Diss. Bonn 1968, S. 12 f.
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und diskursiven Zusammenhängen argumentieren (Feistner).187 Die literaturwissenschaftliche Legendenforschung stand schon immer vor dem Problem, mit einem sehr disparaten Textkorpus konfrontiert zu sein. Jeder Versuch der gattungstypologischen Einhegung hat zu Aporien und blinden Flecken geführt und es steht infrage, ob die Legende als literarische Gattung überhaupt fassbar ist. Selbst historische Differenzierungen, wie das Gegenüber von ‚rotem‘ (blutigem) und ‚weißem‘ (asketischem) Martyrium und der Gegensatz von Märtyrer und Bekenner (confessor),188 greifen selten, wenn sie auf Gattungsmerkmale bezogen werden sollen. Manchen Märtyrern wird eine asketische Haltung zugeschrieben und auch die Askese kann im Leiden als imitatio der Passion Christi inszeniert werden.189 Zwar lassen sich die Bekenner mit Blick auf den Tod der Figuren von den Märtyrern abgrenzen, doch bei genauer Betrachtung bestehen innerhalb der Bekennergruppe, also etwa zwischen Inklusen, heiligen Jungfrauen, Eremiten, Ordensgründern und heiligen Bischöfen, doch große Unterschiede, sowohl was die Figurenkonstruktion als auch was die Darstellungsmerkmale im Allgemeinen angeht. Die Vielfalt von Heiligkeit und Heiligung spiegelt sich in einer Diversität ihrer literarischen Darstellungen.190 Entsprechend wurden aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in den letzten Jahren vermehrt narrative, performative und mediale Aspekte der Konstruktion von Heiligkeit ebenso in den Blick genommen, wie die Bedeutung von Körper, Identität und Geschlecht der Heili-
187 Vgl. Feistner (1995). 188 Die Differenzierung und Verbindung von Martyrium und Askese findet sich wohl am prominentesten bei Gregor dem Großen: Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übers. von Joseph Funk. Kempten/München 1933 (Bibliothek der Kirchenväter 2. Reihe, Bd. 3), S. 157: „Es gibt [...] zwei Arten von Martyrium, ein verborgenes und ein öffentliches. Denn wenn auch äußerlich keine Verfolgung vorhanden ist, so ist doch das Verdienst des Martyriums im Verborgenen da, wenn die Seele zu leiden verlangt.“ 189 So lehnt etwa die Märtyrerin Katharina von Alexandrien in den verschiedenen Fassungen der Legende nicht nur ihre Verheiratung, sondern auch ihren gesamten weltlichen Besitz ab, während die Dämonenheimsuchungen des heiligen Antonius durchaus Züge eines Martyriums annehmen. 190 So argumentiert zwar schon Wyss, Ulrich: Legenden. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 40–60; hier S. 40, der feststellt: „Es gibt keine literarische Ausprägung des Legendenerzählens, die kanonische Geltung beanspruchen könnte, sondern nur mehr oder weniger gelungene Versuche, mit den Mitteln der Literatur auch von dem Heiligen und den Heiligen zu erzählen.“ Doch indem Wyss dabei einen einseitigen Transfer der ‚Mittel der Literatur‘ zum Zweck des ‚Legendenerzählens‘ konstatiert, setzt er die Vorstellung geschlossener literarischer Gattungen (bzw. ‚Ausprägungen‘) absolut, was für die Legendendichtung unzutreffend ist, denn legendarisches Erzählen erweist sich als solches gerade in der Möglichkeit zur Kombination und Rekombination kleinerer stabiler Erzähleinheiten oder -optionen zu einer Vielfalt von Formen.
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gen. Doch trotz dieser Vielfalt an Zugängen wurde und wird im altgermanistischen Forschungsdiskurs weiterhin – und teilweise durchaus unbewusst – an die Legendenforschung der 1970er bis 1990er Jahren angeknüpft. Diese adressierte die Legenden in einem tendenziell säkularisierenden Zugriff nicht als religiöse, sondern als genuin literarische Texte, was nicht selten zu Werturteilen führte, die wenig dazu beitrugen, ein differenziertes und historisch adäquates Bild legendarischer Literatur zu gewinnen. So hielt etwa Ulrich Wyss viele Legenden für „unerfreulich“191 und gab Hegel recht, der in Wyss Augen „der Legende die humane – und das heißt eben auch: die epische – Substantialität absprach“ und ihr das „zukunftsreiche Genus des Romans“192 gegenüberstellte. Tatsächlich sind viele Legenden im Hinblick auf ihre narrative Komplexität oder ihre sprachlichen Mittel eher einfach gehalten, doch folgt diese Schlichtheit weder aus literarischem Unvermögen der Legendenautoren noch sind die Texte als minderwertige Literatur adäquat beschrieben. Vielmehr ist die Form legendarischer Texte von ihren kulturellen Funktionen und Einbettungen bestimmt. Entsprechend entfalten Legenden Komplexität häufig nicht auf der Strukturebene des Einzeltextes, sondern zum Beispiel in ihrem Umgang mit biblischen und theologischen Konzepten oder in ihrer Bezugnahme auf Traditions-, Kult- und Sammlungszusammenhänge. Für die altgermanistische Legendenforschung offenbaren Wyss’ Studien daher eine ebenso problematische wie folgenreiche Setzung: Das epische bzw. romanhafte Erzählen um 1200 wurde (und wird) zum Fixpunkt für die Erforschung legendarischer Texte gemacht. Legenden wurden daher vielfach nicht vor dem Hintergrund der ihnen eigenen, vor allem lateinischen, Tradition analysiert,193 sondern häufig ausgehend von weltlichen volkssprachigen Erzähltraditionen und im Hinblick auf ihre Poetizität untersucht. Entsprechend Max Wehrlis Diktum, die Legende sei „der Raum, in welchem sich, auf mannigfaltige Weise, die Verbindung geistlich-dogmatischen Wissens mit der Anschaulichkeit
191 Wyss (1984), S. 41. 192 Wyss (1984), S. 49. 193 Eine Ausnahme bilden z. B. die Überlegungen zum Gregoriusstoff von Mertens (1978). Auch die lateinische Literatur stand allerdings im Austausch mit anderen Gattungen. Nicht zuletzt eignet sich legendarisches Erzählen oft genug antike Erzählformen (etwa die Reiseerzählung) an. Vgl. Wehrli (1961), S. 432 f. Aus motivgeschichtlicher Sicht vgl. die Untersuchungen von Günter, Heinrich: Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligen-Geschichte. Freiburg i. Br. 1949. Der Rezeption des hellenistischen Romans widmet sich Vollmann, Benedikt Konrad: Die geheime Wirklichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 17–25 am Beispiel der ‚Eustachiuslegende‘.
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weltlich-fabulöser Übung vollzieht,“194 gewann die germanistische Mediävistik ihren Legendenbegriff zudem häufig im Rekurs auf Verslegenden, die von höfischen Autoren des Hochmittelalters stammen (Veldekes ‚Servatius‘, Hartmanns ‚Gregorius‘, Rudolfs ‚Barlaam und Josaphat‘, Reinbots ‚Georg‘, die Legenden Konrads von Würzburg).195 Die Ausrichtung auf diese Texte führte zu einer merklichen Verzerrung, da sie, nimmt man besonders die sie prägenden weltlichen und höfischen Erzähltraditionen in den Blick, kaum als exemplarisch für das gesamte Feld legendarischen Erzählen erscheinen. Die in diesem Zusammenhang besonders intensiv beforschten Aspekte, wie zum Beispiel der Zusammenhang von Heldenbild beziehungsweise Ritterschaft und Heiligem,196 sind mit Blick auf die lateinischen Traditionen legendarischen Erzählens und deren Heiligungsformen eher eine Randerscheinung.197 Die vorliegende Arbeit erschließt mit der deutschen ‚Vitaspatrum‘-Bearbeitung des ‚Väterbuchs‘ einen bestimmten Bereich der legendarischen Literatur, ohne sich auf eine oder mehrere Einzellegenden zu konzentrieren. Dabei wird besonders auf die literaturgeschichtliche und kulturelle Einbettung eingegangen, indem der deutsche Text im Hinblick auf seine Vorlagen, seinen inneren Zusammenhang und seine Funktion für monastische Lebens-, Spiritualitäts- und Heiligkeitsentwürfen untersucht wird. Indem hier am Beispiel des ‚Väterbuchs‘ ein Beitrag zur Einbindung legendarischer Texte in religiöse Kontexte geleistet wird, eröffnen sich andere Perspektiven auf Legenden als die eher säkularisierenden Lesarten, die auch in jüngerer Zeit, insbesondere seit Anfang der 2000er Jahre in Folge der Arbeiten Peter Strohschneiders, entstanden sind.198 Strohschneider
194 Wehrli (1961), S. 428. 195 So z. B. Brinker (1968) und Wyss, Ulrich: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik. Erlangen 1973 (Erlanger Studien 1). 196 Angelegt ist diese Perspektive bereits bei Wehrli (1961), S. 435. 197 In der älteren Legendenforschung eher marginalisiert wurden hingegen so wichtige Komplexe legendarischer Literatur wie die Jenseitsreise, der sich in jüngster Zeit die Studien von Benz (2013) und Weitbrecht, Julia: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte) gewidmet haben. 198 Vgl. besonders Strohschneider, Peter: Inzest-Heiligkeit. Krise und Unterschiede in Hartmanns ‚Gregorius‘. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 105–133; Strohschneider, Peter: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg „Alexius“. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von Gerd Melville/Hans Vorländer. Köln u. a. 2002, S. 109–147 und Strohschneider, Peter: Text-Reliquie. Über Schriftgebrauch und Textpraxis im Hochmittelalter. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille
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geht in Anlehnung an Niklas Luhmann davon aus, dass das Unvertraute und Unverfügbare in Transzendenzreligionen wie dem Christentum als Transzendenz beziehungsweise als das Heilige markiert werde. Entsprechend sei „die Rede vom Heiligen stets ein Einschließen des unvertrauten Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenes ins Vertraute.“199 Das Heilige erscheint daher nach Strohschneider immer als vom Profanen (und damit auch vom Leser einer Legende) distanziertes Phänomen (es ist „eine Distanzkategorie“200). Diese Distanziertheit des Heiligen werde für die Legende anders als für die Reliquien201 zum Problem und müsse bewältigt werden.202 Strohschneider geht von einem „Geltungsgefälle“203 zwischen Reliquie und Legende aus: Während die Reliquien ihre Bedeutung daraus schöpften, dass sie einst Teil des heiligen Körpers oder mit diesem in Berührung waren, sei das Erzählen ein profaner Akt und deshalb seinem Gegenstand, dem unverfügbaren Heiligen, unähnlich. Diesem Geltungsdefizit müsse mit bestimmten literarischen Formen begegnet werden. Indem Strohschneider auf diese Weise das genuin Literarische der Legenden betont und die spezifischen
Krämer. München 2004, S. 249–267. Wie Strohschneider geht auch Kiening, Christian: Gewalt und Heiligkeit. Mittelalterliche Literatur in anthropologischer Perspektive. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hrsg. von Wolfgang Braungart/Klaus Ridder/Friedmar Apel. Bielefeld 2004 (Bielefelder Schriften zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 19–39 von soziologischen Theorien aus, um Legenden in ihrer kommunikativen Funktion zu bestimmen. Der Ansatz war aber nicht in gleicher Weise forschungsdiskursbestimmend wie Strohschneiders Arbeiten. 199 Vgl. Strohschneider (2000), S. 105. Ähnlich argumentiert z. B. auch Röcke, Werner: Das Alte im Neuen. Paradoxe Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Julia Weitbrecht/Werner Röcke. 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 157–174; hier S. 158: „Legenden realisieren den wechselseitigen Bezug des an und für sich Inkompatiblen. Sie verbinden das Heilige mit dem Profanen, die – so behauptete jedenfalls noch Émile Durkheim – prinzipiell voneinander getrennt sind; sie überwinden oder besser gesagt: verflüssigen, zumindest für die Zeit der Lektüre oder ‚Aufführung‘ der Legende, die Grenze zwischen Heiligem und Profanem und schaffen auf diese Weise einen Erzählraum, in welchem die Verschränkung von Heiligem und Profanem vollzogen wird.“ 200 Strohschneider (2000), S. 105. 201 Vgl. Strohschneider (2002), besonders S. 113 und Strohschneider (2004). 202 Diese Grundannahme variiert Strohschneider mit unterschiedlichen Zugängen. So zum Beispiel auch noch einmal im Rekurs auf den Gegensatz von Institution und Charisma und die Jungfrauenlegende: Strohschneider, Peter: Religiöses Charisma und institutionelle Ordnungen in der Ursula-Legende. In: Institution und Charisma. Hrsg. von Franz-Joseph Felten/Annette Kehnel/ Stefan Weinfurter. Köln 2009, S. 571–611; hier S. 580: „Virginität codiert die Unberührbarkeit der Heiligen, ihre Unverfügbarkeit.“ 203 Strohschneider (2002), S. 117.
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literarischen Formen fokussiert, überführt er den religiösen Aspekt der Legende in einen Bereich, für den die Literaturwissenschaft ihrerseits eine Geltung ihrer ureigenen Methoden und Theorien annehmen darf, was vielleicht nicht zuletzt zu dem großen Erfolg seines Ansatzes beigetragen hat. Doch es bleibt fraglich, ob die Prämissen zutreffend sind. Strohschneiders Analysen gehen davon aus, dass das Heilige unverfügbar ist, doch kann dies gerade für mittelalterliche und insbesondere für monastische Zusammenhänge nicht ohne Weiteres angenommen werden.204 Die oben beschriebene Pluralität der Formen und Funktionen von Heiligkeit deutet eher darauf hin, dass Unverfügbarkeit nur eine mögliche Form seiner Inszenierung, verbunden mit bestimmten Funktionen ist. Für eine prinzipielle Offenheit gegenüber der Vielfalt des Legendarischen plädiert auch Andreas Hammer in seiner 2015 erschienen Studie „Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘“, die schon aufgrund des Gegenstandes von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist. Hammer betont die „vollkommen heterogenen Erzählverfahren der Legende“205 und begegnet diesen methodisch mit exemplarischen Analysen möglichst vielfältiger Legenden, wobei er sich auf narrative Aspekte konzentriert. Dabei geht er aber in Anlehnung an Strohschneider weiterhin von Heiligkeit als Distanzkategorie aus, was eine a priori vorhandene Spannung impliziert: Der Einbruch der Transzendenz in die Immanenz ist in jedem Fall gerade nicht als Entwicklung darstellbar, andererseits aber muss die narrative Präsentation der Vita diese providentiell vorbestimmte, final ausgerichtete Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen als prozesshafte Ereignisfolge darstellen, um sie mit einer zumindest oberflächlich an kausalen Motivationen angelehnten Handlungslogik zu vereinbaren.206
Entsprechend sind nach Hammer auch „Finalität und Vorbestimmung [...] für Legendenerzählungen als strukturbildende Faktoren erkennbar.“207 Diese Annahme scheint für einen monastischen Zusammenhang und die hier diskutierten Texte zumindest fragwürdig zu sein, denn asketische Heiligkeit ist, wie im
204 Unmittelbar mit dem Heiligen als ‚Distanzkategorie‘ setzt sich Koch, Elke: Zwischenstufen. Überlegungen zur Transzendenzproblematik in geistlichen Spielen. In: Paragrana 21 (2012), S. 77–92; hier S. 90 auseinander. Kritisch zur ‚Bewältigung‘ der Unverfügbarkeit des Heiligen im legendarischen Text verhält sich auch Susanne Köbele, die hervorhebt: „Die Legende erzeugt und umgeht ihr immanentes Erzählrisiko.“ Köbele, Susanne: Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134 (2012), S. 365–404; hier S. 378, allerdings steht für Köbele das Primat der Literarizität für die Legende nicht infrage. 205 Hammer (2015), S. 19. 206 Hammer (2015), S. 5. 207 Hammer (2015), S. 359.
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Folgenden noch zu zeigen sein wird, prozesshaft gedacht, wie die Askese selbst als Prozess zu verstehen ist. Zudem sind Heiligkeitsentwürfe, die auf Teilhabe und Gemeinschaft angelegt sind, weniger stark final angelegt, weil sie nicht den einzelnen Heiligen, sondern die Gemeinschaft in den Blick nehmen. Heiligkeit ist in diesem Zusammenhang insofern auch nicht immer als ambigue208 zu verstehen. Hier werden andere Prinzipien wirksam als eine stets unterliegende Spannung „von Inklusion und Exklusion, von Stigma und Charisma und, darauf aufbauend, von Sünde und Gnade.“209 Angehörige monastischer Gemeinschaften können, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, in legendarischen Texten als den Aposteln oder gar Christus nahe inszeniert werden und ihre Lebensform steht im Prinzip jedem Rezipienten offen. Auch in der literarischen Umsetzung wird nicht die Distanz zwischen Profanem und Heiligem betont, sondern vielmehr wird – entsprechend der historischen Vorstellung, dass monastische Lebensformen ein den Himmlischen analoges Leben darstellen210 – die Möglichkeit zur Teilhabe am Heiligen inszeniert. Legendarisches Erzählen muss entsprechend nicht auf ein differenzlogisches Modell reduziert werden. Im ‚Väterbuch‘ zeigt sich, dass durchaus nicht alle legendarischen Texte um eine Überbrückung der Distanz zwischen Immanenz und Transzendenz ringen. Vielmehr lässt sich mit Blick auf den Zusammenhang von legendarischem Erzählen und religiösem Leben auch zeigen, dass Heiligkeit als Näheverhältnis und Gemeinschaftsprinzip verstanden wurde, in dem Differenzverhältnisse eben nicht aufgelöst werden, wie Strohschneider es etwa für den ‚Gregorius‘ annimmt.211 Die Bezüge vieler legendarischer Texte zur Theologie, zur religiösen Praxis (etwa der Liturgie, aber auch der kultischen Heiligenverehrung) oder zu religiösen Lebensformen standen nicht im Vordergrund der jüngeren altgermanistischen Legendenforschung. Dabei sind die religiöse Funktionalisierung und die Einbindung legendarischer Texte in religiöses Handeln tatsächlich von grundsätz licher Bedeutung für die mittelalterliche Legendarik.212 Entsprechend weist etwa Elke Koch im Rekurs auf die Vorstellung der Unverfügbarkeit als grundsätzliche Herausforderung der literarischen Inszenierung vom Heiligen darauf hin, dass Heiligkeit in geistlichen Spielen keinesfalls immer in Distanzverhältnisse gestellt
208 Vgl. Hammer (2015), S. 10 f. 209 Hammer (2015), S. 24. 210 Vgl. Stewart, Columba: Monastic Space and Time. In: Western Monasticism ante litteram. The Spaces of Monastic Observance in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Hrsg. von Hendrik Dey/Elizabeth Fentress. Turnhout 2011, S. 43–51; hier S. 48 f. 211 Vgl. Strohschneider (2000), S. 133. 212 Vgl. Koch, Elke: Legende. In: Handbuch Literatur und Religion. Hrsg. von Daniel Weidner. Stuttgart 2016, S. 245–249; hier S. 246 f.
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wird, sondern vielmehr auch Zugänglichkeit und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet.213 Was das Spiel (auch) auf der Ebene der Performanz leistet, können nichttheatrale Texte, das sollen die folgenden Ausführungen zeigen, durch vielfältige textuelle Strategien auf der Handlungs- wie auf der Darstellungsebene erreichen. Doch der Verweis auf das geistliche Spiel macht zugleich deutlich, dass sich die literarische Inszenierung des Heiligen allein kaum zur Bestimmung einer literarischen Gattung der Legende eignet. Legendarisches Erzählen aber, so könnte man formulieren, liegt überall dort vor, wo Heiligkeit narrativ thematisiert, inszeniert oder konstruiert wird. Damit ist weder eine Aussage über das Wesen von Heiligkeit allgemein gemacht, noch über spezifische Formen oder gar eine Typologie der Legende. Versteht man aber das ‚Väterbuch‘ und auch andere Formen der ‚Vitaspatrum‘ in diesem Sinne als legendarische Texte, eröffnet sich damit die Möglichkeit, sehr unterschiedliche ‚Heiligkeiten‘ innerhalb eines Zusammenhanges zu beschreiben. Wenn sich auch kein gemeinsames Gattungskriterium bestimmen lässt, lassen sich davon ausgehend doch im Feld religiösen Erzählens unterhalb der Gattungstypologie bestimmte legendarische Erzähloptionen ausmachen, die vielfach aufgegriffen und in unterschiedlichen Zusammenhängen je spezifisch kombiniert werden können: Die christliche Legende ist durch ein Erzählschema bestimmt, das Heiligkeit zum Ziel [...] hat. Dieses Erzählschema ist mit der großen Zahl von Legenden durch eine Vielfalt von Formen (biographisch, episodisch, eingebettet) und Themen gefüllt worden, die sich nicht allein auf religiöse Lehrinhalte beziehen, sondern literarische Weltbearbeitung in einem breiten Spektrum realisieren.214
Es bietet sich also an, sowohl auf eine vorgängige Bestimmung (oder Problematisierung) des Heiligen als auch auf eine Gattungsdefinition zu verzichten und stattdessen flexible Erzähloptionen unterhalb gattungstypologischer Bestimmungen anzunehmen, die innerhalb verschiedenster Texte variabel kombiniert werden können, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass Optionen oder Optionsverbindungen in bestimmten Zusammenhängen vermehrt auftreten und so ihrerseits Textgruppen konstituieren können.215 Nicht zuletzt öffnet ein solcher Zugang den
213 Vgl. Koch (2012), S. 90. 214 Koch (2016), S. 247. 215 Diese Überlegungen gehen nicht zuletzt auf die Diskussionen im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Nachwuchsnetzwerk „Legendarisches Erzählen im Mittel alter. Formen, Funktionen und Kontexte der deutschsprachigen Heiligenerzählung“ zurück und ich kann den Angehörigen dieses Netzwerkes, Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl und Julia Weitbrecht, nicht genug für den intensiven Austausch und die vielfältigen Anregungen danken.
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Blick auch für Texte, die vielfältige literarische Formen integrieren und die nicht nur narrative Anteile enthalten. Schon deshalb ist das beschriebene Vorgehen für eine Auseinandersetzung mit der ‚Vitaspatrum‘-Tradition, die ja unter anderem auch die großen Spruchsammlungen integriert, vielversprechend. Mit der Konzentration auf die ‚Vitaspatrum‘-Tradition wird nicht nur ein verhältnismäßig wenig beachteter Zweig der mittelalterlichen deutschen Literatur erschlossen. Vielmehr ergeben sich auch neue Perspektiven für einige von der altgermanistischen Legendenforschung bislang präferierten Texte: Strohschneider und einige der ihm folgenden Untersuchungen haben ihre Thesen an der Legende des heiligen Alexius entwickelt,216 doch auch die ‚Alexiuslegende‘ ist bemerkenswerterweise Teil der ‚Vitaspatrum‘ und es ist zu fragen, welche Implikationen sich auch für diesen Text in Anbetracht seines Traditionszusammenhanges und seiner kulturellen Einbettung ergeben. Doch nicht die Konzentration auf die Erzählung von einem Heiligen, sondern die Hinwendung zu verschiedenen legendarischen Texten verspricht, der Vielfalt legendarischen Erzählens und der damit verbundenen vielfältigen Heiligkeitsentwürfe gerecht zu werden, weshalb sich das ‚Väterbuch‘, als Verbund einer großen Zahl von legendarischen Einzeltexten, als Gegenstand dieser Untersuchung besonders eignet, wobei dabei aber der Blick notwendigerweise auf einen bestimmten literarischen Traditionszusammenhang und einen begrenzten kulturellen Rahmen beschränkt bleibt.
216 Vgl. z. B. Egidi, Margreth: Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFGSymposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 607–657, Herberichs (2014).
5 Minne, Zeit und Ewigkeit: Zur Rahmung des ‚Väterbuchs‘ 5.1 Gemeinschaft und minne im ‚Väterbuch‘ Auch wenn die christlichen Einsiedler über lange Zeiträume allein lebten, war ihre Einsamkeit doch kein Ausdruck eines anti-sozialen Lebensentwurfs. Die Eremiten gingen in die Wüste, weil sie die Kontemplation und damit Nähe zu Gott suchten. Mit ihrem Rückzug lösten sie sich zwar aus ihren weltlichen Bezügen, doch nicht um völlig bindungslos zu existieren. Vielmehr war die Abkehr von der Welt die Bedingung für die Aufnahme neuer Beziehungen zu Gott und den Heiligen, aber auch zu anderen Einsiedlern. In der Wüste taten sich die Eremiten schon aus pragmatischen Gründen mit Gleichgesinnten zusammen. Sie zogen Nachfolger, Bewunderer und Bittsteller an. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft war auch ein zentrales Thema der Wüstenväter und ihrer literarischen Zeugnisse. Dabei ging es nicht nur um pragmatische Aspekte des Zusammenlebens, sondern die Gottesnähe wurde häufig als etwas nur gemeinsam Erreichbares begriffen. Auch im ‚Väterbuch‘ wird Gemeinschaft vielfach thematisiert: Es wird von Vergemeinschaftungsprozessen erzählt, in Lehrsprüchen werden das Zusammenleben und dessen Regeln thematisiert und immer wieder wird Gemeinschaft heilsgeschichtlich semantisiert und transzendiert. Die Heiligkeitsentwürfe zielen häufig nicht auf die Hervorhebung des Einzelnen, sondern vielmehr auf Integration und Teilhabe aller. Dieser Befund widerspricht allerdings der These Edith Feistners, bei den Eremitenlegenden gehe „es [...] um einen einzigen Lebensabschnitt: eben um den Rückzug aus der Welt.“217 Im ‚Väterbuch‘ trifft diese Aussage auf kaum eine Erzählung wirklich zu, und auch dass „das Einsiedlerleben per se gerade durch die Abgeschiedenheit von der Gesellschaft bestimmt“ ist und dass man bei den Anachoretenlegenden von „verborgener Heiligkeit“218 sprechen kann, wird einer Reihe von Texten ebenfalls nicht gerecht. Im Folgenden wird die hier verfolgte These, dass Gemeinschaft ein zentraler Aspekt der Lebens- und Heiligkeitsentwürfe ist, zunächst anhand von Prolog und Epilog des ‚Väterbuchs‘ sowie der ‚Siebenschläferlegende‘ und der Erzählung vom Jüngsten Gericht erprobt. Diese vier Passagen eignen sich für die Analyse
217 Feistner (1995), S. 36. 218 Beides Feistner (1995), S. 177.
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des spirituellen Entwurfs des ‚Väterbuchs‘ besonders, weil sie programmatischen Charakter haben und der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ sie nicht den ‚Vitaspatrum‘ entnommen, sondern selbstständig verfasst beziehungsweise kompiliert hat. Bereits im Prolog des ‚Väterbuchs‘ erscheint die Einsiedelei als gemeinschaftlicher Lebensentwurf. Es wird betont, dass die Eremiten mit einander entsampt / ubeten daz Gotes ampt (V. 191 f.). Diese Emphase der Gemeinschaftlichkeit hat schon die frühe Forschung bemerkt und damit die Spur gelegt, der die hier vorliegende Untersuchung folgt.219 Das gedankliche Zentrum des Prologs ist eine Meditation über die minne und damit eine in der volkssprachlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts hochkomplexe und ideologisch vielfach vereinnahmte Emotion.220 Im ‚Väterbuch‘ konstituiert die minne die Gemeinschaft von Vater, Sohn und Heiligem Geist in der Trinität und steht am Ursprung der christlichen Heilsgeschichte (V. 15–30). Im weiteren Verlauf des Prologs erscheint die minne als treibende Kraft des geschichtlichen Prozesses. So setzt sie auch die Passion Christi in Gang und wird damit zum Teil der Logik des Gnadenopfers: Mit dem Gotes sun ranc Di minne, unz daz si in betwanc Daz er her nider keme, Die menscheit an sich neme. Do si in des uber want, An daz cruce si in bant, Dar an er durch ir willen starb. (V. 57–63)
219 Vgl. z. B. Haupt (1871), S. 8 und Borchardt/Kunze (1999), S. 167. 220 Das Wort minne referiert im Allgemeinen auf verschiedene Formen von Gemeinschaft und Kontakt. Die fortwährende theologische Debatte über die Bedeutung von Liebe beeinflusst ihre literarischen Entwürfe, doch besteht auch in der religiösen Literatur kein einfaches Abbildungsverhältnis. Seit dem 8. Jahrhundert bezeichnet der Begriff minne in der deutschen Literatur die Gottes- und Nächstenliebe, die Gnade und im monastischen Zusammenhang die Brüderlichkeit. Erst ab dem 11. Jahrhundert wird minne zur Bezeichnung erotischer zwischenmenschlicher Beziehungen gebraucht, wurde ab dieser Zeit zu einem Schlüsselbegriff der entstehenden weltlichen Literatur, ohne dabei jedoch seine Bedeutung im religiösen Zusammenhang zu verlieren. Zur historischen Semantik des Begriffs und deren Entwicklung vgl. Wiercinski, Dorothea: Minne. Herkunft und Anwendungsgeschichten eines Wortes. Köln/Graz 1964 (Niederdeutsche Studien 11). Allgemein zur Liebe in der Theologie der Spätantike und des Mittelalters vgl. Marval, Pierre: [Art.] Liebe V. In: TRE. Bd. 21. Berlin/New York 1991, S. 146–152. Das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe im Mittelalter wird besonders auf den Seiten 149–152 thematisiert. Bereits in der lateinischen Kultur sind die Begriffe amor, caritas und cupiditas und damit die verschiedenen Semantiken von Liebe nicht scharf voneinander geschieden, sondern stehen in wechselseitigen Austauschverhältnissen. Vgl. dazu Schnell, Rüdiger: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern/München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 19 f.
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Die minne zwingt Christus, Mensch zu werden und sich selbst zu opfern. Durch Christus können die Menschen an der göttlichen minne partizipieren, denn mit dem Opfer wird es möglich, daz wir uns Gote nahen / und gentzlich in die minne komen (V. 88 f.). Damit ist die minne nicht nur das Bindeglied der Trinität, sondern sie eröffnet zugleich auch den Menschen den Zugang zu Gott. Die minne erscheint so im Prolog als Möglichkeit zur Heiligung und die Heiligung selbst als ein Akt der Vergemeinschaftung mit Gott. Zugleich geht der Prolog nicht vom einzelnen Sprecher, sondern immer vom ‚wir‘ einer religiösen Gemeinschaft aus. Diese deutliche Betonung des Gemeinschaftsaspekts verstärkt sich weiter, wenn man die Semantik des Begriffs minne einbezieht, der sowohl die Liebe zu Gott als auch die Liebe zum Nächsten, im Zusammenhang des Klosters die Liebe zu den Mitbrüdern beziehungsweise -schwestern meinen kann. Das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Literatur ist das Thema der folgenden Verse des Prologs. Es sei die Gewohnheit vieler Menschen, dass einer eine Geschichte erzähle, wenn sie beim Feuer zusammensäßen. Bemerkenswerterweise ist damit weniger die typische Rezeptionssituation bei der lectio, der Tischlesung im Kloster angesprochen, als vielmehr ein unterhaltsames Hören von Erzählungen am Feuer, das vielleicht eher mit weltlichen Zusammenhängen assoziiert war. Vom Leben des jeweiligen Hörers hinge es ab, welche Erzählungen für ihn besonders bedeutsam seien. Deshalb würden die, die itel sin (V. 143) dort besonders zuhören, swa man in seit von itelkeit [...] (V. 144). Hingegen Da bi der seligen rote Horet ir gerne sagen von Gote Und von der guten lute leben, Den Gote gnade hat gegeben. (V. 145–148)
Die Rezeption von Erzählungen wird hier als ein gemeinschaftliches Phänomen dargestellt. Darüber hinaus deutet der Text auf den Zusammenhang von Erzählung und den Werten der Rezeptionsgemeinschaft hin. Die itel sin, das heißt diejenigen, deren Trachten auf das Weltliche ausgerichtet ist, interessieren sich nur für das Weltliche, während die Gottesfürchtigen von Gott und den Heiligen hören wollen. Der Prolog formuliert also einen scharfen Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher Literatur. Diese Dichotomisierung ist im Mittelalter topisch, allerdings findet sie sich häufig dort, wo geistliche und weltliche Erzähltraditionen miteinander verwoben werden, etwa in Hartmanns von Aue ‚Gregorius‘ oder Rudolfs von Ems ‚Barlaam und Josaphat‘, also immer dort, wo offenbar die Notwendigkeit bestand, die Überbietung der weltlichen durch die geistlichen Inhalte eigens zu betonen. Im Fall des ‚Väterbuchs‘ lässt sich die Passage als ein Reflex des erwarteten Rezeptionshorizontes verstehen. Offenbar richtet sich der Text an Hörer, die
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mit weltlicher Literatur sozialisiert worden sind. Sie hätten dann einst von itelkeit erzählen gehört, sind aber nun Teil der seligen rote, was auch daran deutlich wird, dass der Erzähler sie direkt mit ir (V. 146) anspricht. Auch er selbst müsse aber bekennen, daz ich der iteln einer bin (V. 151) und diese Aussage sei keineswegs nur eine Demutsformel, sondern an warer schult begrife ich mich, / daz ich bin uz der iteln rote [...] (V. 154 f.). Indem auch er seine weltliche Vergangenheit bekundet, setzt sich der Erzähler in dieselbe Situation wie seine Zuhörer. Das Erzählen soll seine Buße für das Vergangene sein. Das Spannungsfeld zwischen weltlicher und geistlicher Kultur, in dem das ‚Väterbuch‘ steht, wird bereits in diesen ersten Versen thematisiert. Produktion, Rezeption und Performanz treten dabei in ein komplexes Verhältnis: Ob ir welt wesen stille, Uch guter mere sagen wil, Der ich doch keinez machen wil. Ein bůch, der v e t e r b ů c h genant, In daz han ich den sin gewant Und wil dar uz ze dute lesen, Daz mich nutze duncket wesen Zu horen der gemeinschaft. (V. 158–165; Herv. i. Org.)
Mit der topischen Bitte um Ruhe ist die Erzählsituation konstituiert, in der das folgende Werk vorgetragen wird, dabei will der Verfasser die Geschichten jedoch nicht erdichten. Diese Aussage deutet in zwei Richtungen: Erstens kann sie als ein Ausdruck der Quellentreue verstanden werden. Zweitens betont sie die Geschichtlichkeit des Erzählten. Damit sind die Erzählungen nicht nur lehrhaft, sondern stellen auch die Ursprünge der monastischen Kultur in der Wüste dar und machen sie durch die deutsche Sprache den Hörern zugänglich. Als eigene Leistung stellt der Erzähler die Auswahl dar, welche er unter dem Vorhandenen getroffen hat. Er erzählt aus der größeren ‚Vitaspatrum‘-Tradition, was ihm für seine Gemeinschaft gut und nützlich zu sein scheint. Damit wird die Ausrichtung des Werkes auf eine bestimmte Gemeinschaft noch einmal besonders hervorgehoben und zugleich die Befähigung des Verfassers ausgestellt, der nicht nur als Übersetzer wirkt, sondern auch wählt und kompiliert. Dabei bestimmen Gottes Leitung und das Wissen um das, was die Gemeinschaft benötigt, die Auswahl der Texte. Dass dies keinesfalls als Bescheidenheit ausgelegt werden muss, lassen die letzten Verse des Prologs erkennen. Der Erzähler verweist nämlich auf die Übertragung des Stoffes aus dem Griechischen: Durch Got, durch bezzerungen / wart ez do zu latine braht (V. 232 f.) – ein Prozess, der lange gedauert und mehrere Kapazitäten der Kirchengeschichte beschäftigt hat – und setzt sich und seine Übersetzung damit gleich: Des selben ist ouch mir gedaht (V. 234).
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5.2 Erzähler, Einsiedler und die Demut Dort, wo der Prolog die Abfassung des ‚Väterbuchs‘ selbst thematisiert, kehrt der Erzähler zur Ich-Form zurück. Dabei verbindet er den Prozess des Erzählens mit dem Gang der Eremiten in die Wüste, indem er das Erzählen selbst als Reise darstellt. Der Prolog präfiguriert damit die Reiseerzählung als eine narrative Form, die mit dem ‚Reiseteil‘ einen großen Abschnitt des ‚Väterbuchs‘ bestimmen wird: [Ich] wil uch sagen Wie hie vor in manigen tagen Der heilige geist geworben hat Und wie sin tugenliche rat An genugen luten wunther bar, Also daz si von herzen gar Got sůchten hie zu stunden, Untz daz si in funden. Ey, herreGot, nu leite mich An dirre vart, die ich durch dich Han hie begonst. (V. 97–107)
Wie die Eremiten unternimmt der Erzähler eine vart, die auf Leitung und Wohlwollen Gottes angewiesen ist. Sein Schreiben dient damit nicht nur der chronikalen Aufzeichnung, sondern ist zugleich selbst eine Form des Gottesdienstes, deren performativer Aspekt in der Metapher vom Erzählen als Reisen greifbar wird. Der Gedanke der Nachfolge im Erzählen wird in Anbetracht der Demutsforderung wieder zurückgenommen. Der Erzähler imaginiert sich am Schluss einer der Legenden im letzten Teil des ‚Väterbuchs‘ nicht als nachfolgend, sondern in einer Gruppe von Zurückbleibenden, während die Figuren, von denen er erzählt hat, ins Himmelreich eingehen: Sie vliegen uf, wir bliben hie. Wir sin betrubet, so lachen sie Von ehaften sachen. (V. 33359–33361)
Daraufhin ruft der Erzähler aus: Owe daz wir also verzagen / und nach in nicht wandern! (V. 33382 f.) und stellt das eigene Nachfolgen damit ebenso infrage, wie das seiner Zuhörerschaft. Da er aber über niemand anderen etwas sagen könne, beklagt der Erzähler seinen eigenen Zustand. Er spürt den Hauch des Todes und angesichts dessen spricht er über das, was Gott den Seinen zuteilt und wie damit zu wirtschaften ist:
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Waz sal deme ouch ein sweiztuch, Want er hat des gemachez such? Min vernumft ist myn pfunt, Deme anders leider cleine ist kunt Danne von der erden rat, In der ez gelegen hat. (V. 33429–33434)
Hier stellt sich der Schreiber in ein Verhältnis zu seinen Figuren, den Wüstenasketen: Während sie mit ihrem Körper in täglicher Übung für ihr Seelenheil arbeiten, bleiben dem Schreiber nur seine geistigen Fähigkeiten. Handelt es sich hier auch um einen Bescheidenheitstopos, so lässt sich in dieser Auseinandersetzung doch ein zentrales Problem im Verhältnis von Askese und Vermittlung erkennen: Das credo der Wüstenväter lautet, dass körperliche Arbeit und Demut im Sprechen anzustreben sind. Der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ tut das Gegenteil, wenn er sich in der Bequemlichkeit von Kloster und Skriptorium nur seinen Texten widmet. Nun aber hat er die Vorboten des Todes vor Augen: Seine grawen har (V. 33466) und siechtage (V. 33479) lassen ihn annehmen, dass ihm Gott nur noch wenig Zeit lässt, für sein Seelenheil zu sorgen.221 Im Epilog des ‚Väterbuchs‘ wird dieser Aspekt wieder aufgegriffen. Hier unterstreicht der Erzähler zunächst noch einmal die Funktion der Wüstenväter als personae imitabiles, und zwar nicht nur für deren Zeitgenossen, sondern auch noch in der Gegenwart des Erzählens: Man sol durch pessrung sagen Wie Got vor in mangen tagen Übt seiner tugent geben An der guten lawt leben, Auf das auch noch hewt Sumlich lawt Sich nach irm pild stellen, Zu tugent sich gesellen. (V. 41437–41444)222
221 Es ist eben jene Passage, die häufig bemüht worden ist, um das zeitliche Verhältnis von ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ zu bestimmen, da der Schreiber scheinbar über seinen unmittelbar bevorstehenden Tod spricht. In Anbetracht des hohen Grades der literarischen Gestaltung der Passagen, in denen der Erzähler über sich selbst spricht, ist hier aber ebenso eine Inszenierungsstrategie denkbar, die nichts mit dem ‚realen‘ Verfasser zu tun hat. 222 Die veränderte Orthographie gegenüber den früheren Zitaten erklärt sich aus der Tatsache, dass diese letzten Verse des ‚Väterbuchs‘ ausschließlich in der Straßburger Handschrift (S) von 1406 überliefert sind, die eine veränderte Schreibweise aufweist.
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Das Erzählen ist dabei Teil der Erfüllung des göttlichen Heilsplans, der sich am Leben der Wüstenväter offenbart hat. Durch die Erzählung können sich die Menschen auch heute noch an den Wüstenvätern orientieren und lernen mynnen Gotz gepot (V. 41489). Die Notwendigkeit dieser Vorbildfunktion besteht für den Erzähler nicht zuletzt, weil er die Geschichte seit den Wüstenvätern als einen Verfall begreift: Nu secht durch Got wie tugent chalt / wir arm sein in disen tagen! (V. 41458 f.). Wo die Gründe für diesen Verfall zu suchen sind, implizieren die folgenden Verse, in denen der Erzähler seinen Text von den weltlichen Erzählungen abgrenzt. Das ‚Väterbuch‘ handle Nicht von valscher lieb chraft Nicht von ritters honschaft, Nicht von abentewr. (V. 41473–41475)
Der Verfasser schreibt in der Volkssprache und setzt sich damit, auch wenn die zitierte Passage topisch sein mag,223 a priori dem Verdacht aus, weltliche Inhalte zu propagieren. Er dichtet aber für ein Publikum, das mit weltlicher Literatur sozialisiert wurde und dem immer wieder deutlich gemacht werden muss, dass die Rezeptionshaltung gegenüber dem ‚Väterbuch‘ sich trotz dessen Volkssprachlichkeit von der weltlichen Literatur unterscheiden muss. Aus dieser schwierigen Konstellation erklärt sich die scharfe Abweisung alles Weltlichen durch den Erzähler.224 Der Epilog geht über diese allgemeine Einlassung bezüglich des Textverständnisses hinaus, indem er die Erzählinstanz selbst in Beziehung zum Erzählten setzt. Der Text mündet in ein Gebet, in dem der Erzähler um Rettung vor der Hölle bittet. Zugleich wird auch das Erzählen thematisiert: Nu hail, herr, meinen munt, Wa er gen dir ist worden wunt, Das er des werd wol gesunt! Behüt meiner synne pfunt, Das mich der valsch hell hunt Icht bestrikch in seinem punt. (V. 41515–41520)
223 Vgl. Neecke (2008), S. 461 f. 224 Vgl. zu diesem Komplex auch Traulsen, Johannes: Wüsten, Drachen, Heldentaten. Das Abenteuerliche im mitteldeutschen Väterbuch des 13. Jahrhunderts. In: Aventiure und Eskapade. Erzählstrategien des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne. Hrsg. von Jutta Eming/Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen 2016 (TRAST 7), S. 35–48.
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Die Passage eröffnet einen Einblick in das zentrale Spannungsverhältnis, in dem die Erzähltradition der ‚Vitaspatrum‘ steht. Der Prolog hat den Akt des Erzählens als Gottesdienst ausgewiesen. Der Epilog macht aber offenbar, dass das Erzählen den Erzähler verletzt und verletzlich gemacht hat. Im Zusammenhang mit der Bitte um Schutz vor dem Teufel lässt sich die Verletzung des Mundes als eine durch den Akt des Erzählens entstandene Bedrohung des Seelenheils verstehen. Welche Logik hinter dieser paradoxen Gleichzeitigkeit von Heil und Bedrohung durch das Erzählen steckt, verdeutlichen die nächsten Verse. Der Erzähler bittet: Herr, guter Got, nu prich Mein cranches herz, daz ich Alle meins lebens strich Gewenden mug daran mich Das mein hertz ender sich, Vertret gar der werlt plikch! (V. 41523–41528)
Die Bitte um Heilung wird hier als Demutsformel offenbar. Mit dem Erzählen geht die Aufmerksamkeit der Welt einher, welche die Demut des Erzählers gefährdet. Damit aber stellt sich der Erzähler in dasselbe Dilemma, in dem die Wüstenväter stehen und das in Symeon Stylites (der allerdings nicht im ‚Väterbuch‘ vorkommt) seinen bildmächtigsten Ausdruck gefunden hat: Um der Verehrung der Menschen zu entgehen, flüchtet Symeon auf eine Säule, wo er zwar ungestörter ist, aber von seinen Bewunderern umso besser gesehen und verehrt werden kann. Wer demütig handelt, dessen Demut wird durch die Wertschätzung der anderen bedroht. Die Askese und das Erzählen von der Askese gleichen sich darin, dass sie beide durch ihre Sichtbarkeit das Seelenheil des Asketen beziehungsweise Erzählers gefährden. Der Mund lobt Gott und wird davon zugleich verletzt. Die Lösung des Problems ist, wie bei den Eremiten, die Flucht vor den Blicken der Welt. Erzähler und Figuren erweisen sich so als Teilhaber einer Gemeinschaft, die durch ihre asketischen Ideale bestimmt ist.
5.3 Die ‚Siebenschläferlegende‘ und das Jüngste Gericht Der Prolog bettet den Gesamttext auch in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ein. Gemeinsam mit der ‚Siebenschläferlegende‘, der Darstellung des Jüngsten Gerichts und dem Epilog rahmt er den das ‚Väterbuch‘, das wie die Heilsgeschichte mit der Schöpfung beginnt und mit dem Weltgericht endet. Der Text weist damit drei zeitliche Ebenen auf: Er operiert auf der Handlungsebene in der Zeit der Wüsteneremiten, die den Aposteln nachfolgen. Er verortet sich auf
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der Erzählebene im 13. Jahrhundert und spannt diese beiden Zeiten zugleich in eine heilsgeschichtliche Überzeitlichkeit ein, indem er Schöpfung und Jüngstes Gericht am Anfang und am Ende erzählt.225 Im Zusammenhang mit der zeitlichen Organisation des Textes ist die ‚Siebenschläferlegende‘ bemerkenswert, die im letzten (Legenden-)Teil des ‚Väterbuchs‘ steht.226 Sie fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Rahmen. Erstens handelt es sich um eine Märtyrerlegende, was ungewöhnlich im ‚Väterbuch‘ ist, zweitens entstammt sie nicht den ‚Vitaspatrum‘, sondern wahrscheinlich der ‚Legenda aurea‘, und drittens passt sie thematisch nicht zu den anderen Erzählungen im Legendenteil. Während alle anderen Legenden jeweils soziale Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Konstruktionen von Heiligkeit rücken, tut die ‚Siebenschläferlegende‘ das nicht. Stattdessen wird darin Überzeitlichkeit als Aspekt von Heiligkeit beziehungsweise Heilsgeschichte inszeniert. Aus diesem Grund wurde die ‚Siebenschläferlegende‘ aus den Ausführungen zum ‚Legendenteil‘ ausgegliedert und wird hier besprochen. Die Legende ist mit wenigen Worten nacherzählt. Unter dem Christenverfolger Decius leben in Ephesus sieben junge Christen. Vor den Nachstellungen flüchten die Sieben in eine Höhle nahe der Stadt. Einer der Flüchtigen geht regelmäßig in die Stadt, um Brot für die Versteckten zu holen. Eines Abends schlafen die Sieben ein und werden, während sie noch schlafen, beim Herrscher denunziert. Decius lässt daraufhin den Eingang der Höhle vermauern. Zwei der Begleiter des Decius hinterlassen jedoch in der Mauer einen Brief, der die Geschichte der Sieben erzählt und die Zeit ihrer Einmauerung nennt. 375 Jahre später ist Ephesus eine prosperierende christliche Stadt. Doch der nun christliche Kaiser hat mit häretischen Bewegungen zu kämpfen. Auf sein flehentliches Gebet hin sorgt Gott für die Entdeckung und Öffnung der Höhle. Die Sieben erwachen, als hätten sie nur eine Nacht geschlafen, und schicken wie üblich einen der ihren in die Stadt, um Brot zu kaufen und zu hören, was dort vor sich geht. Als er die Stadt erreicht, findet er sie verändert. Vor allem pflegt man überall christliche Sitten. Als der Ausgesandte sein Brot bezahlen will, fallen seine Münzen auf, denn sie sind inzwischen von hohem Wert. Man verlangt daraufhin von ihm, die Herkunft
225 Zu mittelalterlichen Zeitvorstellungen vgl. Angenendt, Arnold: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 2009, S. 213–234. 226 Zu den Fassungen der ‚Siebenschläferlegende‘ vgl. Koch, John: Die Siebenschläferlegende. Ihr Ursprung und ihre Verbreitung. Eine mythologisch-literaturgeschichtliche Studie. Leipzig 1883, besonders S. 81–122 und S. 153–183. Außerdem Demoulin, Hubert: Épiménide de Créte. Brüssel 1901 (Bibliotheque de la Faculté de Philosophie & Lettres de l’Université de Liège XII), S. 95–100.
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seiner Münzen zu verraten. Weil er das nicht tut, wird er als Dieb gefangengenommen. Er wird vor Richter und Bischof gebracht, die ihn nach seiner Herkunft befragen. Er beteuert, in Ephesus geboren zu sein, kann jedoch keinen seiner Freunde und Verwandten finden und weist auf seine Gefährten in der Höhle hin. Dort werden sie und der Brief gefunden. Der Bischof lässt dem Kaiser von dem Wunder berichten, woraufhin dieser herbeieilt. Er erkennt die wunderbar Unversehrten als göttliches Zeichen und fällt vor ihnen auf die Knie. Daraufhin schlafen die Sieben wieder und diesmal endgültig ein. Der Kaiser lässt die Höhle als ihr Grabmal prachtvoll ausstatten. Der Text macht, wie auch schon frühere Fassungen der Legende, die Bedeutung der Handlung explizit. Die Häretiker, mit denen der christliche Kaiser zu kämpfen hat, behaupten, daz nicht urstende / an den luten were (V. 38386 f.). Als Reaktion auf diesen Zweifel an der Auferstehung lässt Gott die Sieben wieder erwachen und sie werden damit zu Signifikanten des Heilsgeschehens: In der Gegenwart der Heiligen konvergieren vergangene und künftige Momente der Heilsgeschichte, in denen die leibliche Auferstehung der Toten sich ereignet. Die Erweckung der Schläfer erscheint als Post- und Präfiguration zugleich und macht das Heilshandeln Christi evident, indem es jetzt und hier im Sichtbaren wiedererkennbar wird.227
Doch geht das ‚Väterbuch‘ noch darüber hinaus, indem es (anders als etwa die ‚Legenda aurea‘) mit einer Anrufung Gottes endet: Nu hilf uns, guter Got, daz wir An der lesten zit vor dir Sunder vrochte ungeschant Bestan zu diner rechten hant, Da wir daz mynnchlich wort Von dir mugen hörn dort, Aller sald ein urchund: ‚Wol dan, mein liben frewnd, Und frewt ew ewichlich In meines vater reich!‘ (V. 39025–39034)
227 Koch, Elke: Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik). In: Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Susanne Köbele/Coralie Rippl. Würzburg 2015, S. 75–99; hier S. 86 f.
Die ‚Siebenschläferlegende‘ und das Jüngste Gericht
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Die Verse lassen die ‚Siebenschläferlegende‘ als Transformationsstelle der zeitlichen Ströme erscheinen. Hier werden Erzählzeit, erzählte Zeit und Letztzeit miteinander verschaltet. Der Erzähler erbittet anschließend an die Legende in der Gegenwart der Erzählung Christi Hilfe im Hinblick auf das zukünftige Gericht. Das Gerichtsurteil ist durch die wörtliche Wiedergabe der erlösenden Worte des Heilandes ebenfalls präsent. Hinzu kommt, dass, wie Elke Koch ausgeführt hat, auch durch die ‚Dyschronie‘ von Schläfern und Nichtschläfern eine narrative Inszenierung von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen möglich wird.228 Zwei unterschiedliche Zeiten, nämlich die der Schläfer und die der Nichtschläfer, können vermittelt durch die Figuren im selben Augenblick der Erzählung präsent sein und damit Gleichzeitigkeit erzeugen: Die Schlafenden erwachen, als hätten sie nur eine Nacht geschlafen, während die reale Zeit derweil Generation auf Generation hat folgen lassen. Letztlich wird deutlich, dass in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer schon und immer weiter das Ende aller Zeit präsent ist. Und in Anbetracht des Letztgültigen kollabieren die zeitlichen Differenzen. Diese Konstruktion gewinnt im Zusammenhang des ‚Väterbuchs‘ eine weitere Dimension, denn durch ihren Rückzug in die Höhle überleben die sieben Schläfer von der Zeit der Christenverfolgung bis in die nachfolgende Zeit, in der auch die eremitische Bewegung beginnt. In der literarischen Inszenierung spielt dabei das Schriftzeichen eine zentrale Rolle. Während die Welt sich verändert, bleibt die Zeit der sieben Schläfer in der Prägung der Münzen und dem Brief gegenwärtig. In der Schriftlichkeit gleichen Münzen und Brief der Erzählung selbst und so kann sich auch eine programmatische Sinndimension für den Gesamttext entfalten: Analog zu den sieben Schläfern überdauern die Wüstenväter im Text die Zeiten bis zur Rezeption im Deutschen Orden und sind für dessen Angehörige präsent. Nicht von ungefähr schließt der Erzähler hier mit dem mynnchlich wort (V. 39029) wieder an den Diskurs über die minne im Prolog an und schlägt damit einen Bogen über den ganzen Text. So fasst die ‚Siebenschläferlegende‘ in ihrer zeitlichen Anlage, was das ‚Väterbuch‘ im Großen betreibt: Das Eingesponnensein der Wüstenväter und der Ordensbrüder in eine Heilszeit, deren Ende immer schon gegenwärtig ist und das sich in der Erzählung vom Jüngsten Gericht konkretisiert. Der Bericht vom Jüngsten Gericht leitet den Abschluss des ‚Väterbuchs‘ ein. Er folgt auf die Heiligenlegenden des Legendenteils, unterscheidet sich jedoch von diesen insofern, als keine einzelne Figur im Mittelpunkt steht. Ebenso wie der Prolog setzt der Bericht zunächst mit einem Rückgriff auf die Erschaffung der Welt ein: Got, der himel und erden / zum ersten lies werden (V. 40051 f.). Auf diese
228 Vgl. Koch (2015), S. 87.
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Weise wird unmittelbar deutlich, dass hier ein neuer Abschnitt nach dem Legendenteil beginnt und dass an den Prolog angeschlossen wird. Schon bei den alexandrinischen Kirchenvätern gewinnt die Vorstellung des Jüngsten Gerichts gegenüber früheren Entwürfen229 eine spezifische Prägung, der ein didaktischer Gedanke innewohnt. So fasst Origenes das Gericht als Drohung auf, die den Menschen vor Augen gestellt wird, um ihre Besserung zu bewirkten. In diesem Sinn argumentiert auch Athanasius von Alexandria, der Verfasser der ‚Antoniusvita‘, am Ende seiner Schrift ‚De incarnatione verbi‘: Denn so wie, wenn jemand das Licht der Sonne sehen will, er gewiss sein Auge abwischt und reinigt, und er sich so säubert, dass er nahezu gleich ist mit demjenigen, nach dem er verlangt, damit sein Auge, in der Weise Licht geworden, das Licht der Sonne sieht, oder wenn jemand eine Stadt oder ein Land sehen will, er sich gewiss zu dem Ort begibt, um ihn zu besehen, […] so muss auch derjenige, der die Gedanken der von Gott inspirierten Männer erfassen will, erst mit seiner Lebensweise seine Seele waschen und reinigen, und gerade zu den heiligen Männern gelangen, in der Nachfolge ihrer Handlungen, damit er, durch den gleichen Lebenswandel mit ihnen verbunden, erkennt, was auch ihnen von Gott offenbart worden ist, […] und weiterhin, weil er mit ihnen zusammengefügt worden ist, der Gefahr der Sünder und ihrem Feuer am Tage des Urteils entrinnt, und das, was für die Heiligen im Himmelreich beiseitegelegt ist, ‚was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat und in keinem Herzen der Menschen aufgekommen ist‘ (1. Kor. 2,9), alles, was den tugendhaft Lebenden bereitet worden ist, empfängt, […] und für diejenigen, die Gott den Vater lieben […], in Jesus
229 Auf die Entwicklung der Entwürfe vom Jüngsten Gericht kann hier in keiner Weise angemessen eingegangen werden. Mit der Vorstellung des endgültigen Gottesgerichts am Ende aller Zeiten referiert das ‚Väterbuch‘ auf bereits in alttestamentlicher Zeit vorhandene Konzepte. Im Zusammenhang der alttestamentlichen Prophetie wird das göttliche Richten in der Androhung eines zukünftigen Gerichts verdichtet (vgl. z. B. Hesekiel 7,1). Gleichzeitig steht die Idee des Gerichts mit den entsprechenden juridischen Formalia in einem Gegensatz zum zornigen Strafhandeln Gottes. Ebenfalls bereits bei den Propheten findet sich die Idee des Strafgerichts Gottes an den Feinden Israels. Die Vorstellung eines apokalyptischen Endgerichts über alle Menschen entwickelt sich in der prophetisch-eschatologischen und apokalyptischen Literatur. Mit dem Neuen Testament konkretisiert sich die Erwartung des endgültigen Gerichts, der mit der Bußtaufe begegnet werden kann. Zudem existiert die Drohung des Gerichts zwar weiter, doch ist in der Lehre Christi das Wirken Gottes nicht mehr durch zorniges Strafen, sondern durch die Bereitschaft zur Gnade bestimmt. Zugleich wird die Ablehnung des Gnadengeschenks zur Begründung der Verurteilung vor dem Gericht. Es lässt sich aber auch im Neuen Testament noch keine einheitliche Typologie der Gerichtsvorstellungen fassen, so können zum Beispiel sowohl Christus als auch Gott in die Position des Richters gesetzt werden. Eine prinzipielle Sonderrolle spielen die Gerichtsvorstellungen im Johannesevangelium, denn dort wird das gesamte Erlösungswerk Christi mit der Tätigkeit als Richter verbunden (Joh 9,39: „Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen.“).
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Christus unserem Herrn, durch wen und mit wem dem Vater selbst mit dem Sohn selbst im Heiligen Geist, Preis, Kraft und Ehre bin in alle Ewigkeit sei. Amen.230
Das Jüngste Gericht erscheint zwar als Drohung, viel dominanter jedoch ist die Verheißung für all jene, die ihr weltliches Leben abwaschen,231 sich den Heiligen annähern und den Lebenswandel der Gottgelehrten annehmen, das heißt, auch all jenen, die sich an den Wüstenvätern orientieren. In dieser Tradition steht das ‚Väterbuch‘. Sie bestimmt die Darstellung der heilsgeschichtlichen Ereignisse, die dem Gericht vorausgehen und begründet im Allgemeinen die Aufnahme der Gerichtserzählung. Im Anschluss an den Rekurs auf die Erschaffung der Welt durchschreitet die Erzählung im ‚Väterbuch‘ schnell die Heilsgeschichte bis zur Geburt Christi. Der Passion ist ein längerer Abschnitt gewidmet, in dem die Verwandlung des Erzählduktus gegenüber den vorhergehenden Legenden deutlich wird. So wie Christus gequält und ans Kreuz geschlagen worden ist, Alsus hanget er vor dir! Mensch, siech an, gelaubes mir, Des mag nicht werden rat: Was er durch dich geliten hat, Das wil er vordern mit chlag An dem grewlichen tag. (V. 40139–40144)
Der Erzähler richtet sich direkt mahnend an den Rezipienten. Zudem wird eine temporale Vielschichtigkeit entwickelt, in der sich die zeitenüberspannende Logik der Heilsgeschichte offenbart. Mit dem Ausruf „So hängt er vor dir!“ wird die Gegenwärtigkeit des Passionsgeschehens beim Anblick des Kreuzzeichens deutlich. Durch die Nennung dessen, „was er durch dich gelitten hat“, sind die persönlichen Sünden, zugleich aber auch das alttestamentliche Geschehen und der Sündenfall präsent. All das läuft auf den „furchtbaren Tag“, den Tag des Jüngsten Gerichts zu. Der Text zieht in seiner Inszenierung also weitere (alttestamentliche) und nähere (neutestamentliche) Vergangenheit, die Gegenwart der Rezeption und die Zukunft des Gerichtstages zusammen. Ihre Einheit in der
230 Athanasius: De incarnatione verbi. Einl., Übers. u. Komm. v. Eginhard P. Meijering. Amsterdam 1989, S. 371 f. 231 Das Bild vom Waschen der Seele geht bereits auf Platon zurück und taucht im ‚Väterbuch‘ an prominenter Stelle wieder auf, nämlich im Zusammenhang der Aufforderung, sich die Lehren der Wüstenväter zu Herzen zu nehmen. Vgl. dazu Abschn. 8.1 dieser Arbeit.
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Narration repräsentiert die Einheit der Heilsgeschichte, in die der Text und seine Rezeption eingebettet sind.232 Der Text schildert dann, der Topik der Erzählungen über das Jüngste Gericht folgend, das Kommen des Antichrist und bezieht sich dabei explizit auf die ‚Revelationes‘ des Pseudo-Methodius (V. 40227). Aus einer Übersetzung des Hieronymus aus dem Hebräischen (V. 40304) stammt die Lehre von den fünfzehn Zeichen, die dem Posaunenschall, der Auferstehung der Toten und dem Gericht unmittelbar vorausgehen. Vor dem Gericht werden zunächst die Guten in zwei Gruppen gespalten. Diejenigen, die sich der Sünden enthalten und Almosen gegeben haben, werden von Gott geehrt. Diejenigen aber, die ihren Besitz aufgegeben, das Kreuz aufgenommen haben und Christus nachgefolgt sind, werden zu Richtern über die Verworfenen gemacht (V. 40506–40508). Damit betrifft das Jüngste Gericht zwar alle Menschen, die Wüstenväter und ihre Nachfolger werden jedoch in besonderer Weise gegenüber den ‚gewöhnlichen‘ Gläubigen ausgezeichnet. Die schlechten Menschen werden vom Teufel gefordert und in die Hölle verbracht. Die guten werden Teil der mynnchliche[n] schar (V. 40728). Zu dieser Schar gesellen sich auch Franziskus und Dominikus samt der Angehörigen ihrer Orden, die sich jeweils zusammen aufstellen. Die Gemeinschaft der Orden wird so ins Jenseits und in die Ewigkeit übertragen. Das gilt natürlich auch für den dritten Orden, an dessen Angehörige sich der Text richtet: Ein rot soltu noch schawen Bei der schonen junchfrawen, Gotes muter, Marien: Di mit herzen freien Di werlt hin varn liessen Und Marie ritter hiessen; Ir liebes chind si rachen, Durch irn willen prachen Ritterlich si manig sper. Ein plutig tod was ir ger, Den ir genug auch funden Mit vil tieffen wunden. Nicht haupmannes hat die rot, Auf den si jehen mugen nach Got, Wan die lieben juncfrawen, Bei der machtu si schawen. (V. 40757–40772)
232 Vgl. Hammer (2015), S. 107–115, der für das ‚Passional‘ Passagen, die in ähnlicher Weise an die Rezipienten gerichtet sind, als Anregungen zur compassio beschreibt.
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Die Textstelle galt lange Zeit in der Forschung als Beleg für den Bezug zum Deutschen Orden. Schubert argumentiert hingegen, „dass als besondere Marienverehrer erst Franziskus und Dominikus, dann Antonius, Johannes, Bernhard und Augustinus genannt werden, abschließend dann die Marie ritter. Diese sind nur durch die Endstellung hervorgehoben.“233 Allerdings kann diese Aussage bei genauer Betrachtung der entsprechenden Passage (V. 40735–40776) nicht überzeugen. Zunächst werden die Genannten nicht mit Maria in Verbindung gebracht. Nur die letzte Gruppe ist mit der Gottesmutter assoziiert. Weiterhin ist diese Gruppe nicht nur durch die Endstellung, sondern außerdem durch die Länge ihrer Beschreibung hervorgehoben. Schließlich fällt die Aussage auf, dass diese Gruppe keinen Hauptmann habe, sondern nur Maria angehöre.234 Das trifft nur auf den Deutschen Orden und nicht auf die ebenfalls genannten Franziskaner und Dominikaner zu.235 Die Textstelle stellt einen strukturellen Zusammenhang zwischen den Angehörigen des Deutschen Ordens und den Wüstenvätern her, indem sie die oben beschriebene Zweitteilung in ‚gute‘ Gläubige und ‚bessere‘ Wüstenväter in einer Zweiteilung der Orden wiederholt. Während sich die Mönche der Bettelorden jeweils hinter ihren Ordensgründern versammeln, versammelt sich die dritte Gemeinschaft hinter Maria und wird durch das Charisma der Gottesmutter in besonderer Weise ausgezeichnet. In der Gegenüberstellung mit Franziskus und Dominikus, also den beiden wichtigsten Vertretern der ‚neuen‘ Orden, tritt zudem die Gewaltfähigkeit der Ordensritter hervor. Der ritterliche Kampf wird für den geistlichen Bereich legitimiert, indem der Text ihn als Rache für den Tod Christi darstellt. Damit entspricht das ‚Väterbuch‘ der traditionellen Begründung der Ritterorden. Schon Bernhard von Clairveaux hatte in seinem bekannten ‚Liber ad milites templi de laude novae militiae‘ von Christi vindex gesprochen. Das Lanzenbrechen im ‚Väterbuch‘, das sich als symbolische Verdichtung weltlich-ritterlichen Handelns
233 Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. XXXVI. 234 Zur Bedeutung von Maria innerhalb des Deutschen Ordens vgl. Gärtner (2008), S. 395–397. 235 Als alleinigen Grund für die Zuschreibung zum Deutschen Orden wäre die Textpassage sicher nicht ausreichend. Aber es treten weitere formale Argumente, nämlich die ostmitteldeutsche Färbung der Sprache, die Ähnlichkeit der Sprache mit anderen Werken der im Deutschen Orden entstandenen Literatur, weitere inhaltliche Aspekte und die breite Rezeption innerhalb des Deutschen Ordens hinzu, und so ist ein enger Zusammenhang zwischen dem Werk und dem Orden sehr wahrscheinlich. Dieser muss allerdings nicht unbedingt in einer Zugehörigkeit des Verfassers zum Orden bestanden haben. Nicht zuletzt könnte die zitierte Passage auch eine bald nach der Abfassung erfolgte Zufügung sein.
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verstehen lässt,236 geschieht hier zusätzlich auf Wunsch der Gottesmutter hin. Mit der Erwähnung des ‚blutigen Todes‘ ist neben der Rolle der Ritter als Verteidiger auch ein Opfermotiv eingeschlossen. Der Rahmen des Jüngsten Gerichts wird genutzt, um die Gemeinschaftsideologie des Ordens zu vermitteln. Seine Angehörigen erscheinen per se als Teil der Geretteten und zudem unter den Geretteten als besonders ausgezeichnet, weil sie mit der Tugend der Wüstenväter assoziiert und in einen Zusammenhang mit Maria gestellt werden. Das Gericht gipfelt in der endgültigen Teilung der Menschen in Verdammte und Gerettete, zu deren Begründung Christus seine Stigmata, sper, chrautz, nagel und chron, / die saul und di pesem reis (V. 40852 f.) vorzeigt. Christus spricht zu den Geretteten und den Verdammten und im Anschluss wird das Schicksal beider Gruppen geschildert. Hierbei weist der Text eine Besonderheit auf, denn er wechselt in eine stärker rhythmisierte und eher lyrische Sprache: Der guten rot Vert mit Got In aller frawden er; Der armen her sunder wer Slecht man ymmer mer. Der guten chraft Ist behaft An den aller hochsten; Der posen leben Ist vergeben Mit dem allerposten. (V. 40989–41000)
Aus der Schilderung des Gerichts geht der Text in einen rituellen Modus über, in dem die himmlischen Freuden und die höllischen Qualen meditiert werden. Es geht hier nun weniger um Information als vielmehr um Emotionalisierung, die durch die rhythmisierte Sprache bis Vers 41078 eingeleitet wird. Der Einleitungsabschnitt wird entsprechend durch einen Aufruf zur affektiven Rezeption in den nächsten Abschnitt übergeleitet:
236 Wobei das Turnieren den Ordensrittern allerdings verboten war. Vgl. dazu Urban, William: The Teutonic Knights. A Military History. London/St. Paul MN 2003, S. 146 f.
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Eya, mensch, wain und chlag [...] Tü auf dein gemüt, Tu auf, daz diser smertz Dein hert, stainen hertz Nach recht mug erraichen. (V. 41079–41085)
Erneut wird hier die Narration an die Gegenwart der Rezeption gebunden, indem der Erzähler die Rezipienten unmittelbar anspricht. An die Überleitung schließt sich eine lange Schilderung der Hölle an, in welcher der emotionalisierende Effekt von Sprachbildern übernommen wird, die aus dem Wortfeld von Folter und Zerstörung stammen. Die Verdammten werden mit veintlichen swerten (V. 41094) und cholben (V. 41095) zusammengetrieben. Sie wainen, schreien und chlagen (V. 41097). Fewr, pech und swebel (V. 41100) regnet auf sie nieder. Im Folgenden werden die Sünder und die Reinen immer wieder direkt adressiert. Für die Geretteten mündet diese Rede in die unmittelbare Berührung durch Christus, denn Er wil selb streichen (Sus tut di schrift von im erchant) Uber dein awgen mit der hant Und ab di zaher wischen. Sus wil er dich ervrischen Mit solicher lieb, in solchir gunst. O di seldenrich prunst, Des hertzen und der awgen flut, Die erarnet haben daz gut Das si Crist selb wischen wil! (V. 41250–41259)
Das Berührtwerden durch Christus wird in einen engen Zusammenhang mit dem Berührtsein als emotionalem Zustand gesetzt. Das Weinen geht dabei der Gunst Christi unmittelbar voraus und steht in engem Zusammenhang mit ihr. Die Berührung durch den heiligen Körper des Erlösers führt selbst zur Heiligung des Berührten und seiner Emotionen. Heiligung meint in diesem Zusammenhang vor allem einen Zugang zur himmlischen gesellschaft (V. 41268), zu der außer Christus auch die Erzengel und engelischen Chöre, die Erzväter und Propheten, die Apostel, die starkchen martrer (V. 41293), die liechten lerär (V. 41294), die gezirten pischof (V. 41295) und die chauschen junchfrawen (V. 41298) gehören. Heiligung läuft in der vorgestellten Jenseitskonzeption auf einen Zustand der Gemeinschaftlichkeit hinaus, der durch Christus hergestellt wird. Hier schlägt die Erzählung den Bogen
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zurück zum Prolog, denn das Fließen der Tränen und die Gemeinschaft mit Christus in der Ewigkeit werden im ‚Fluss der minne‘ zusammengeführt: Di mynn mynnde pach Flewsset durch aller hertzen graben Und gibt in als reich ein laben Dem nymmer such volget na. (V. 41352–41355)
Das Motiv des ‚Minneflusses‘ verbindet die Darstellung hier im Übrigen auch mit dem Prolog des dritten Buch des ‚Passionals‘, in dem der die Hölle durchströmende Minnefluss die zentrale Metapher darstellt.237 Mit dem gemeinsamen sanctus-Ruf der Geretteten mit den Engeln und der Bitte um Erbarmen endet die Erzählung vom Jüngsten Gericht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rahmung der Erzählungen im ‚Väterbuch‘ durch Prolog, Epilog und Erzählung vom Jüngsten Gericht eine ganze Reihe konzeptioneller Aspekte erkennen lässt. Sie sind umso bedeutender, als eben diese drei Teile allein auf die Tätigkeit des Verfassers zurückgehen und keine direkten Übertragungen von Vorlagen sind. Der Prolog kreist um zwei gedankliche Zentren. Erstens bestimmt er mit der minne eine spezifische emotionale Haltung als Medium der Kommunikation zwischen den Menschen und Gott. Minne ist dabei zugleich der ‚Leim‘, der die göttliche Trinität zusammenhält. Die minne ist aber gerade in der hier verwendeten Bedeutung in hohem Maße auf die Gemeinschaft gerichtet, denn, so betont es Christus in seiner Rede an die Geretteten, die christliche minne ist Nächstenliebe. Zweitens hebt der Prolog die Gemeinschaftlichkeit des monastischen Lebens in besonderer Weise hervor und bindet sie eng an die inszenierte Heilsvorstellung. Die Gemeinschaft der Rezipienten, die explizit angesprochen wird, konstituiert sich durch eine Abgrenzungsbewegung: Zwar versammle sich auch die Rezep tionsgemeinschaft des ‚Väterbuchs‘ um das Feuer, um Geschichten zu hören, doch seien es nicht eitle Ritterschaft und Abenteuer, von denen erzählt werde. Prolog und Epilog thematisieren explizit die Rolle des Erzählers. Er stellt sich selbst in einen Zusammenhang mit der Gemeinschaft der Eremiten, denn indem er von den Wüstenvätern erzähle, diene er zwar Gott, setze sich aber zugleich der Bedrohung durch den Teufel aus. Dieser Gedankengang führt zu dem Wunsch,
237 Ey, wie man sie [die minne; J. T.] vliezen sach / wol drate in ir gevelle! / so hin durch die helle / was vil snellich ir ganc (Das Passional, S. 4, V. 14–17).
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sich den Blicken der Welt zu entziehen, ebenso wie sich die Eremiten den Blicken der Welt zu entziehen suchen und zugleich in der Erzählung präsent bleiben. ‚Siebenschläferlegende‘ und Jüngstes Gericht schließlich übernehmen eine ganze Reihe von Funktionen für die spezifische Konzeption und Ausrichtung des Werkes. Sie inszenieren den in der heilsgeschichtlichen Logik bestehenden Zusammenhang von Beginn und Anfang, Gegenwart und Zukunft und marginalisieren damit nicht zuletzt die zeitliche Differenz zwischen den Wüstenvätern und den Ordensrittern des 13. Jahrhunderts. Besonders der Bericht vom Jüngsten Gericht konstituiert die Gruppe der Angehörigen des Ordens als Erste im Himmelreich, indem sie hinter Maria eingereiht werden. Zugleich weist die Beschreibung des Gerichts einen spezifischen Erzählmodus auf, denn der Text wechselt zwischendurch in einen lyrischen Duktus, durch den die Rezipienten auch emotional angesprochen werden. Das Zusammenfallen der Zeiten im Jüngsten Gericht korrespondiert mit der Präsenz des Heiligen in dessen Verehrung. In diesen Rahmen sind die Eremitenerzählungen eingespannt, die den Hauptteil des ‚Väterbuchs‘ ausmachen. An deren Anfang steht die Vita des Heiligen Antonius, die das Paradigma aller weiteren Literarisierungen des Lebens der Wüstenväter darstellt.
6 Der heilige Antonius als Paradigma (‚Antoniusvita‘) 6.1 Die ‚Vita Antonii‘ und ihre Rezeption im ‚Väterbuch‘ Der heilige Antonius ist heute vor allem durch die beeindruckenden Darstellungen seiner Dämonenkämpfe, etwa auf den Bildtafeln von Matthias Grünewalds Isenheimer Altar,238 bekannt. Für die im 3. und 4. Jahrhundert entstehende Eremitenbewegung ist Antonius, der auch den Beinamen ‚der Große‘ trägt, hingegen aufgrund seines gesamten Lebens eine wichtige Leitfigur. Diesen Rang verdankt er nicht zuletzt der literarischen Gestaltung seiner Vita durch Athanasius von Alexandria,239 aber auch weiteren überlieferten Textzeugnissen, wie den Antonius zugeschriebenen Briefen und Apophthegmata.240 Herrmann Dörries fasst die exemplarische Funktion der Figur des Antonius prägnant zusammen: „Er ist Repräsentant einer Bewegung, deren Beginn sich uns verbirgt – wie könnte es anders sein! –, die aber in ihm ihre exemplarische Darstellung gewann.“241 Die Popularität des heiligen Antonius hat mehrere Gründe: Er stellt erstens eine Gründungsfigur der monastischen Kultur dar, zweitens ist das Thema der dämonischen Heimsuchung und die dahinterliegende Struktur von Versuchung und Bewährung von allgemeiner Bedeutung für christliche Lebensentwürfe. Entsprechend oft waren Antonius’ Dämonen Gegenstand künstlerischer Darstellun-
238 Zu den Typen bildlicher Darstellung des heiligen Antonius vgl. Philipp, Michael: Der versuchte Antonius. Künstlerische Wandlungen einer legendären Figur. In: Schrecken und Lust. Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch bis Max Ernst. Hrsg. von Ortrud Westheider/Michael Philipp. München 2008, S. 14–29; zu den Darstellungen des Dämonenkampfes besonders S. 22–25. 239 Eine allgemeine Einführung zu Antonius und der Bedeutung der griechischen Vita geben Tzartzas, Georgios: Askese im frühen Christentum. Der Bios Antonius als Paradigma. In: Paragrana 8 (1999), S. 33–45 und Gemeinhardt (2013). 240 Für einen Überblick über die Quellen zum heiligen Antonius vgl. Stewart, Columba: Anthony of the Desert. In: The Early Christian World II. Hrsg. von Philip F. Esler. London 2000, S. 1088–1101; hier S. 1089–1091. 241 Dörries, Hermann: Die Vita Antonii als Geschichtsquelle. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philosophisch-historische Klasse 14 (1949), S. 359–410; hier S. 402. Kritisch setzt sich Jung, Martin H.: Die Bedeutung der Wüste in der Vita Antonii und in den Apophthegmata patrum. In: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Hrsg. von Albrecht Beutel. Tübingen 2011, S. 157–187 mit dieser These auseinander.
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gen. Drittens wurde die von Athanasius verfasste Vita des Antonius zum Vorbild für spätere Darstellungen heiliger Figuren.242 Die Abfassung des Lebensberichts des heiligen Antonius durch Athanasius von Alexandria wird auf die Zeit zwischen 356 und 373 datiert. Neben dem Lebensbericht existieren achtunddreißig Apophthegmata, die Antonius zugeschrieben werden. Während die Apophthegmata oft als authentisch angesehen werden,243 geht man im Fall der Vita von einer starken literarischen Stilisierung durch Athanasius aus.244 Dennoch sind sowohl Vita als auch Apophthegmata als legitime historische Quellen begriffen worden: Neben und nach den Apophthegmen ist die Vita Antonii des Athanasius eine Geschichtsquelle hohen Ranges. Für das innere Leben des Wüstenmönchtums und dessen Ziele haben die Apophthegmen den Vorrang. Aber der Bericht des aufnehmenden und würdigenden Betrachters wird darüber nicht wertlos. Er hält die Erscheinung fest und ist zugleich die früheste Urkunde ihrer Weitenwirkung, – noch abgesehen davon, was die Vita Antonii im Werk des Athanasius selbst bedeutet. Sie schildert mit Kenntnis und lebendiger Anteilnahme die Wirkungen dieser beispielgebenden Gestalt und ist selber für uns der erste Zeuge solcher Wirkung.245
242 Einen wichtigen Anteil an der Verbreitung des Antonius als Heiligenfigur hatte zudem ab dem 11. Jahrhundert der Antoniterorden. Dieser Laienorden kümmerte sich besonders um die Betreuung von Pilgern, die unter dem sogenannten Antoniusfeuer (Ergotismus gangraenosus) litten. Die hohen Erkrankungszahlen führten zugleich zu starker Verehrung des heiligen Antonius. Antonius ist zudem der Heilige der Armen und der Haustiere, womit er in der agrarisch geprägten laikalen Gesellschaft des Mittelalters eine zentrale Heiligenfigur darstellte. Beide Zuschreibungen gehen wohl auf die Bräuche des Antoniterordens zurück. So wurde etwa unter der Ägide des Ordens jedes Jahr ein Schwein von der Gemeinschaft aufgezogen, das am 17. Januar, dem Antoniustag, geschlachtet und als Almosen an die Armen gegeben wurde. Die intensive Verehrung des Antonius hat sich in einer Vielzahl von Namen, Symbolen und Bauernregeln niedergeschlagen, die mit dem Heiligen verbunden sind. Er wird unter dem Namen ‚Antonius der Große‘, ‚Abbas Antonius‘, ‚Antonius der Einsiedler‘ und ‚Antonius von Ägypten‘ geführt. Auf das Patronat der Armen und Haustiere beziehen sich das T-förmige Antoniuskreuz (das vielleicht eine Krücke nachbildet), das Schwein und die Glocke (mit der die Almosensammlung für die Armen verkündet wurde). Das Schwein hat allerdings auch eine Wurzel in der Symbolisierung des Teufels. Die Dämonenversuchung und die asketische Tradition werden durch das Feuer, den Teufel und Verführerinnen symbolisiert. Die Bauernregeln, die mit Antonius verbunden werden, gehen vor allem auf die meteorologische Bedeutung des Antoniustages zurück. So etwa der Spruch ‚Wenn Antoni die Luft ist klar / gibt’s bestimmt ein trocknes Jahr.‘ 243 Zum Vergleich von Vita und Apophthegmata vgl. Dörries (1949). Zu Vita, Apophthegmata und Briefen vgl. außerdem Gemeinhardt (2013), S. 20–31. 244 Zur Rolle von Athanasius innerhalb der monastischen Bewegung vgl. Martin (2004), S. 16– 29. 245 Dörries (1949), S. 198 f.
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Zwar ist es für eine literaturwissenschaftliche Studie von geringerer Bedeutung, inwieweit literarische Texte als Quellen herangezogen werden können, doch öffnet Dörries’ Analyse einen wichtigen Blick auf die Texte. Die Antoniusvita ist, gerade im Vergleich mit den Apophthegmata, in hohem Maß auf ein bestimmtes Ideal beziehungsweise sogar eine bestimmte Ideologie246 hin konstruiert. Bereits an den Anfängen christlicher Einsiedelei wird hier die literarische Gestaltung247 zu einem wesentlichen Aspekt der Nachwirkung einer zentralen Figur. Zudem stellte Athanasius ein Bindeglied zwischen scheinbar unvereinbaren Aspekten der Eremitenbewegung dar. Zurecht ist darauf hingewiesen worden, dass die ersten Einsiedler eher aus bildungsfernen Zusammenhängen stammten und dass ihnen damit der Zugang zur griechisch geprägten Philosophie und Theologie versperrt war. Antonius habe, so wird zum Beispiel immer wieder betont, nicht lesen und schreiben können.248 Gleichzeitig bestand aber ein Zusammenhang zwischen der Eremitenbewegung und den geistesgeschichtlichen Entwicklungen in der hellenistischen Philosophie und christlichen Theologie in Alexandria. Es waren Athanasius und die anderen Biographen der Wüstenväter, die beide Strömungen in ihren Werken zusammenführten und so das konzeptionelle Rückgrat der christlich-asketischen Kultur schufen. Bereits die ältere Forschung hat in Athanasius’ formaler Gestaltung der ‚Antoniusvita‘ den Grund für ihre nachhaltige Wirkung gesehen. Der Text gilt als Schlüsseltext am Übergang von der klassischen zur christlichen Spätantike. So schreibt Hans Mertel in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe der ‚Antoniusvita‘ in der Bibliothek der Kirchenväter:
246 Harmless (2004), S. 168 führt in Abgrenzung der Apophthegmata von der ‚Vita Antonii‘ aus: „The Apophthegmata makes no mention of the theological issues so central to the Life. The Antony of the Apophthegmata denounces neither Melitians nor Arians. He shows no knowledge of a theology of deification, nor does he make pronouncements on the generation of the Son from the Father. In the Apophthegmata, Antony teaches a simpler, blunter faith. When asked by a monk what he ought to do, Antony tells him, ‚Whoever you may be, always have God before your eyes; whatever you do, do it according to the testimony of the holy Scriptures; in whatever place you live, do not easily leave it. Keep these three precepts and you will be saved.‘“ 247 Kech, Herbert: Hagiographie als christliche Unterhaltungsliteratur. Studien zum Phänomen des Erbaulichen anhand der Mönchsviten des hl. Hieronymus. Göppingen 1977 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 225), S. 147 f. verweist in diesem Zusammenhang auf die große Bedeutung der antiken Briefliteratur für die literarische Gestaltung der Vita durch Athanasius. 248 Allerdings ist auch diese Aussage eine literarische Stilisierung. Die Sprüche und natürlich auch die Briefe des Antonius erweisen ihn sehr wohl als der Schrift mächtig. Die proklamierte Bildungsferne der Eremiten im Allgemeinen und Antonius’ ist insofern vor allem als Fehlen oder die Ablehnung von philosophischer bzw. theologischer Bildung zu verstehen. Vgl. Stewart (2000), S. 1092.
Die ‚Vita Antonii‘ und ihre Rezeption im ‚Väterbuch‘
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[...] man darf ruhig behaupten, daß die ganze hagiographische Literatur, soweit sie aus biographischen Erzeugnissen besteht, in ihrer Entwicklung von der Vita des Athanasius beeinflußt worden ist. Er hat die rhetorischen Kunstmittel der Legende dienstbar gemacht, er hat ihrer Form jene merkwürdige Ausprägung gegeben, die sie als eine Mischung von Lobrede und eigentlicher Biographie erscheinen läßt – Lobrede in Einleitung und Schluß, Biographie in der streng zeitlichen Anordnung des Stoffes nach plutarchisch-peripatetischem Schema, er hat endlich auch dem Wunderbericht seine bezeichnende Bedeutung gegeben. Man darf sagen: Athanasius leitet die antike Biographie hinüber in das neue Bett der byzantinischen Legendenliteratur, und zwar ohne jede Absicht, nur rein aus dem Drang heraus, das Lebensideal, das ihm geleuchtet, das er in seinem Meister verehrt, anderen darzustellen.249
Diese Wirkung hat der Text im Westen vor allem in seiner lateinischen Übersetzung entfaltet, die zeitnah (und das heißt binnen weniger Jahre) von Athanasius’ Zeitgenossen Evagrius von Antiochia angefertigt wurde, mit dem die nun lateinische Vita nach Italien kam.250 Evagrius übersetzte weniger, als dass er den Text frei ins Lateinische übertrug. Einzig die Bibelzitate sind wortgetreue Übersetzungen. Sein lateinischer Text war außerordentlich erfolgreich, und es existieren noch heute vierhundert Textzeugen.251 In den ‚Vitaspatrum‘ wurde die ‚Vita Antonii‘ in die Reihe der Einsiedlerviten im ersten Buch eingegliedert. Ihr geht dort die von Hieronymus verfasste Vita von Paulus dem Einsiedler voran. Der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ stellt Antonius wieder an den Anfang und klammert die weiteren Einsiedlerviten bis auf einzelne Episoden (siehe unten) aus. Damit wird Antonius im ‚Väterbuch‘ (wieder) zur zentralen Figur. Der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ hat verschiedene Teile der Antoniuslegende in seinem ersten Textabschnitt zusammengefasst. Die Erzählung ist zunächst nach einem biographischen Syntagma angelegt, wird aber zu ihrem Ende hin episodenhaft. Antonius wird als Sohn adliger christlicher Eltern in Ägypten geboren. Das Kind zeichnet sich vor seinen Altersgenossen aus, weil es lieber daheim bleibt und seinen Sinn auf Christus richtet, als sich den anderen beim Spielen anzuschließen. Antonius’ Eltern sterben früh, und der junge Mann bleibt mit seiner Schwester zurück. Er verschenkt seinen ererbten Besitz und zieht sich in
249 Mertel, Hans: Einleitung: Die Vita des Antonius. In: Des heiligen Athanasius ausgewählte Schriften Bd. 2: Gegen die Heiden. Über die Menschwerdung. Leben des heiligen Antonius. Mit einem Anhang Leben des heiligen Pachomius. Aus dem Griechischen übersetzt von Anton Stegmann und Hans Mertel. München 1917 (Bibliothek der Kirchenväter 1. Reihe, Bd. 31), S. 679–686; hier S. 681. 250 Vgl. Mertel (1917), S. 682. 251 Vgl. Bertrand (2006), S. 14.
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die Einsiedelei zurück. Nachdem Antonius in ein verlassenes Grabmal gezogen ist, wird er mehrfach vom Teufel und dessen Dämonen heimgesucht, widersteht ihnen jedoch. Daraufhin zieht er sich noch weiter in die Wüste zurück. Dort lebt er zwar als Einsiedler, gründet jedoch eine Gemeinschaft Gleichgesinnter. An diesem Punkt bricht die lineare Narration ab und es wird in Episoden weitererzählt. Der Text berichtet hier von Antonius’ Lehren und von seinen Schülern. Es ergibt sich daraus eine innere Logik: Im ersten Teil fungiert er als persona imitabilis, das heißt als Vorbild eines heiligenmäßigen Lebens. Im zweiten Teil fungiert er als Lehrer und Leiter der Eremiten. Wenngleich Letzteres seine Heiligkeit nicht infrage stellt, ist dieser Status mit einem anderen Modus des Erzählens verbunden. Es kommt nun nicht mehr auf Antonius’ Leben an, sondern vielmehr auf seine Äußerungen und Handlungen als Lehrer. Diese müssen aber nicht mehr fest innerhalb einer linearen Biographie verortet werden, sondern können freier miteinander kombiniert werden. Am Ende wird kurz vom Tod des Antonius erzählt. In diesen zweiten Teil der Vita hat der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ auch einige Apophthegmata des Antonius und andere Quellen integriert und so für eine relative Geschlossenheit gesorgt. Die Geschlossenheit der Vita und ihre prominente Stellung im ‚Väterbuch‘ lassen sich vielleicht damit erklären, dass die ‚Antoniusvita‘ zunächst als eigenständiger Text verfasst und später ins ‚Väterbuch‘ eingegliedert wurde.252 Der Text des ‚Väterbuchs‘ deckt sich im ersten Teil recht genau mit der lateinische ‚Vita Antonii‘ und ihren Fassungen in den ‚Vitaspatrum‘. Der zweite Teil der Vita, in dem der Lebensverlauf des Antonius nur noch eine vage Orientierungslinie darstellt, weicht ab. Im Zentrum der lateinischen ‚Vita Antonii‘ steht, anders als im ‚Väterbuch‘, eine lange Rede des Antonius, in der er seine Auffassung von Askese systematisch entwickelt und eine genaue Schilderung der Dämonen und des Umgangs mit ihnen gibt. Die Rede ist in den ‚Vitaspatrum‘ zwar nicht in gleichem Maße umfangreich, aber dennoch vorhanden.253 Es kommen weitere Differenzen hinzu: Neben der programmatischen Rede findet sich in den ‚Vitaspatrum‘ eine eingehende Beschreibung der Dämonen, die Antonius versuchen, und ihres Wesens. Im ‚Väterbuch‘ fehlt sie, ebenso wie die Darstellung des Lebens in der Wüste, eine Reihe von Wundern, die Antonius vollbringt, seine Visionen vom Jenseits und seine Apologie gegen die Arianer. In der Summe lässt sich eine Reduktion der klassischen Heiligenmerkmale und des gelehrten Wissens im ‚Väterbuch‘ gegenüber der lateinischen Vorlage
252 Zur These der eigenständigen Abfassung einzelner Teile von ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ vgl. Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. CCXLIX. 253 Vgl. Vitae patrum (Rosweyde), Sp. 134–146 und Leben der Väter (Sintzel), S. 20–37.
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ausmachen. Antonius vollbringt kaum Wunder, wohl aber seine Schüler und Nachfolger. Dadurch rückt die gemeinschaftsstiftende Funktion des ‚Vaters der Einsiedler‘ stärker in den Blick. Die Debatte über den Arianismus ist im Mittelalter nicht mehr länger relevant und muss nicht in den deutschen Text übernommen werden. Der Wegfall der Disputationen, die klassische Formen der Vermittlung gelehrten Wissens sind, fällt dennoch auf.254 Er lässt sich vielleicht damit erklären, dass es dem Verfasser des ‚Väterbuchs‘ weniger um eine theoretische Fundierung des asketischen Mönchtums als vielmehr um eine auf die Lebenspraxis bezogene Unterweisung seiner Adressaten ging.
6.2 Gemeinschaft und Einsiedelei Antonius ist das Kind von erhaften magen (V. 245) in Ägypten. Beide Eltern sind christlichen Glaubens und unterweisen ihren Sohn darin, der seinerseits all sein Streben auf Gott richtet. Die familiäre Gemeinschaft steht damit am Anfang des Lebens und setzt die Hinwendung Antoniusʼ zum Glauben allererst in Kraft. Die Verbindung von Eltern und Sohn wird jäh durch den Tod der Eltern unterbrochen. Durch sein Erbe gerät Antonius in die Situation, plötzlich über Besitz zu verfügen. Er vermag zwar wol bederbe (V. 313) mit dem Erbe umzugehen, es macht ihm jedoch zugleich großen Kummer, und Antonius denkt über einen Weg nach, sich Gott weiter zu nähern und dem unflate (V. 322) zu entfliehen. Während er betend in der Kirche liegt, erinnert er sich an die Apostel: Er gedahte an der apostelin leben: Wie genzelich si sich ergeben Heten von der werlde habe Und durch Cristum liezen drabe: Wie si durch Jhesu Cristi rat, Rehte als ein unflat Der werlde gůte vertraten, Nehein liebe dar zu haten, Und wie noch unsers herren tot Daz liut sich zu tugenden bot, Durch Cristum sich toufte Und daz gůt verkoufte,
254 Disputationen finden sich gerade auch dort, wo legendarische Texte in der Volkssprache für ein höfisch gebildetes Publikum verfasst wurden. Etwa in Reinbots ‚Georg‘ oder in Rudolfs ‚Barlaam‘. Es war also nicht selbstverständlich, dass der Verfasser sie bei der Übertragung aus dem Lateinischen herausgenommen hat.
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Daz gelt mit reinen vůgen Zu den apostelin trugen Und wurfen ez fur ir fuze. (V. 331–345)
Bereits im Abschnitt über die Entwicklung der christlichen Eremitenkultur wurde auf den Zusammenhang von Jüngergemeinschaft und Eremiten verwiesen.255 Auch das Vorbild des heiligen Antonius ist nicht Christus beziehungsweise dessen Leiden, sondern die besitzlose Gemeinschaft der Apostel, deren erstes Ziel die Verbreitung der christlichen Lehre war. Bald darauf wird in der Kirche die bekannte Belehrung des Reichen durch Christus verlesen („Verkaufe alles, was du hast, und verteile den Erlös an die Armen“; Lk 18,22). Antonius bezieht die Bibelstelle unmittelbar auf sich und verkauft daraufhin fast seinen gesamten Besitz. Allerdings hält er einen kleinen Teil zurück, um seine Schwester damit zu versorgen. Noch sind die Familienbande des Heiligen nicht gänzlich gekappt. Er wird jedoch durch eine neuerliche Lesung im Gottesdienst eines Besseren belehrt. Wieder wird eine Bibelstelle gelesen, diesmal aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 6,34): Da Crist zu sinen jungeren seit Alsus: ‚ir sult niht sorgen Umbe den tac morgen.‘ (V. 376–378)
Antonius verschenkt auch den Anteil seiner Schwester. Der Text inszeniert hier die Unmittelbarkeit von biblischem Wort und dem Handeln des Heiligen. Antonius meditiert weder über den Bibelspruch noch legt er ihn aus. Stattdessen versteht er das eigentlich an die Jünger gerichtete Wort Christi als unmittelbar an sich selbst gerichtet und handelt danach. Noch einmal wird hier eine Identität von Aposteln und Einsiedlern inszeniert. Antonius hat sich damit von sämt lichem weltlichen Besitz getrennt und löst sich zugleich aus den familiären Bindungen, denn das zuletzt Verschenkte hatte vor allem eine soziale Valenz: Es war die materielle Manifestation von Antoniusʼ Verantwortung für seine Schwester. Wie bedeutsam diese Dimension ist, wird später erkennbar, wenn Antonius vom
255 Largier (2010) versteht die entsprechende Stelle bei Athanasius als „Entschluss zur Verkörperung des Martyriums“ (S. 213), was in Anbetracht des expliziten Verweises auf die Apostel (und nicht die Passion), der bereits bei Athanasius existiert, nicht überzeugt. Differenzierter entfaltet das Verhältnis von Martyrium und Askese Ranke-Heinemann (1964), S. 96 f., die darauf hinweist, dass die Askese demselben Verlangen der Nachfolge Christi entspringt wie das Martyrium.
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Teufel heimgesucht wird. Der lässt den Heiligen an der Entscheidung zweifeln, seine Schwester nicht zu versorgen (V. 587).256 Die Lösung aus den weltlichen Zusammenhängen, die hier vor allem im Besitz und der Verwandtschaft zur Schwester bestehen, eröffnet für Antonius einen freien Raum, der Voraussetzung für das Einwirken Gottes ist: Sines vrien mutes Wolde er do gebruchen baz, Swie im Got wolde fůgen daz. (V. 390–392)
Die eigenen sozialen Bindungen aufzulösen, erscheint als erster Schritt zum Eremitendasein, weil die entstehende Freiheit das Wirken Gottes ermöglicht. Im weiteren Verlauf wird jedoch deutlich, dass diese Konstruktion keineswegs darauf zielt, sich willenlos dem Geschehen auszuliefern. Vielmehr bietet der Freiraum, den Antonius sich durch die Lösung von seiner Familie geschaffen hat, die Möglichkeit für eine soziale Neuorientierung. Antonius beginnt nach einem Vorbild zu suchen, an dem er sein weiteres Leben ausrichten kann. Damit werden die familiären Bande nicht durch Bindungslosigkeit, sondern durch ein Verhältnis von Lehrer und Schüler beziehungsweise Vorbild und Nachfolger ersetzt. Da Antonius im Text als der erste Wüsteneremit eingeführt wird, kann es naturgemäß keine Vorbilder für die Wüstenaskese geben. Dennoch wird eine historische Dimension hergestellt, indem auf bereits existierende Formen der religiösen Askese und Selbsteinschließung verwiesen wird.257 Der Text gibt genaue Auskunft über diese Formen: Swer mit tugende hete phliht Und sich Gote hete ergeben, Alsus getan was des leben: Ez were dorf oder stat, Swa sin heimode was gesat, So machet er im durch guten sin Ein cellen von den andern hin So na daz er von sinen ie Des libes notturft enphie. (V. 396–404)
256 Vgl. auch Kiening, Christian: Familienroman, christlich besetzt. Eine Heiligenlegende als Kippfigur. In: Neue Rundschau 4 (2005), S. 31–38; hier S. 31. 257 Vgl. dazu auch Stewart (2000); hier S. 1092 f. Die urbanen Formen der Askese werden auf diese Weise auch nicht, wie Goehring (2003), S. 440 meint, marginalisiert.
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Bereits hier ist das Bewusstsein erkennbar, dass die Eremitenbewegung nicht aus dem Nichts entstand, sondern auf existierende Konzepte zurückgreifen konnte, die wiederum eine Vielfalt der Formen von Einsiedelei hervorbrachten. Zugleich manifestiert sich an dieser Stelle erstmals im ‚Väterbuch‘ das Gegenüber der Außergewöhnlichkeit des einzelnen Asketen und seiner Identität als Schüler und Teil einer Gemeinschaft. Antonius, der hier eigentlich als Begründer der neuen Tradition fungiert, nimmt sich einen der in seiner Heimatstadt lebenden Asketen zum Vorbild und tut es ihm nach, indem er began alleine wesen (V. 417). Das Alleinsein und der Austausch der Asketen untereinander schließt sich dabei, das machen die nächsten Verse deutlich, nicht aus. Antonius lebt zwar allein, wann immer er aber von einem frommen Asketen hört, verlässt er seine Wohnstätte und kehrt nicht wieder zurück, ehe er mit ihm gesprochen hat. Durch diese fortschreitende Aneignung von Wissen über das Leben der Asketen entwickelt Antonius sich selbst sukzessive zur vorbildlichen Figur. Wie eine wise bin (V. 437) fliegt er aus, um von der vetere blumen (V. 439) seine Seele zu speisen. Der Prozess der Aneignung ist jedoch nicht nur einer der theoretischen Lehre, sondern ist auch durch die Imitation der Askesepraktiken bestimmt. Antonius ahmt andere Asketen nach: Er sieht, wie ein Asket arbeitet, und beginnt ebenfalls hart zu arbeiten. Er begegnet einem Asketen, der sehr lange betet, und versucht, es ihm gleichzutun. Einer schläft nicht, einer isst nicht, einer trinkt nicht und immer vollzieht Antonius das Gesehene nach. Das Konzept eines idiorrhythmischen Lebens, bei dem jeder Angehörige einer Gemeinschaft nach eigenen Regeln seine asketischen Praktiken vollzieht, aber zugleich in engem Kontakt mit den anderen steht, ist hier bereits vorgeformt. Antonius praktiziert seinen Glauben zwar allein, ist aber in ständigem Austausch mit seiner Umgebung und nimmt in seine eigene Askese die Praktiken der anderen auf. Es wird schnell deutlich, dass auf Antoniusʼ Auflösung der familiären Bindungen ein nur temporärer Zustand der Asozialität folgt und dass sie die Bedingung einer neuen Vergemeinschaftung darstellt: Er integriert sich in die Gemeinschaft der Asketen und wird später selbst zur Keimzelle einer neuen Gemeinschaft. Die Darstellung von Antonius’ Entwicklung zum Eremiten wird im ‚Väterbuch‘ vielfach mit Metaphern der Schrift und des Lesens verbunden: Mit vlize er in sin herze screip / des diemut, dises armut (V. 470 f.), heißt es im Text. Antonius’ Erinnerung wird dabei zum Buch, aus dem er später zu lesen vermag, was besonders bemerkenswert ist, weil der heilige Antonius explizit literarisch ungebildet ist:258
258 Stewart weist darauf hin, dass die Vita Antonius nicht als Analphabeten beschreibt, wie öfter behauptet wird, sondern dass er vielmehr als nicht philosophisch-theologisch gebildet beschrieben wird. Vgl. Stewart (2000), S. 1092.
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Sin gehugede was sin buch; […] Swaz er ie bestrichen Hete guter lere, Die hafte an im so sere Als ob si were joch geschriben Und an buchen bi im beliben. (V. 477–484)
Antonius’ Herz und Gedächtnis werden zu Schreibflächen, auf denen die Tugenden der Väter festgehalten sind. Damit aber lässt sich die Heiligkeit des heiligen Antonius in Abgrenzung zur Heiligkeit der christlichen Märtyrer beschreiben: Die Heiligkeit des Märtyrers erweist sich, so haben zum Beispiel Hans-Jürgen Bachorski und Judith Klinger gezeigt, häufig im Widerstand gegen die Angriffe auf ihre körperliche Integrität durch die weltliche Macht.259 Bachorski und Klinger beschreiben die Folter in der Vormoderne mit Michel Foucault als einen semiotischen Prozess, bei dem sich die Macht in den Körper des Delinquenten durch dessen Verletzung einschreibt und daran für andere ablesbar ist.260 Heiligkeit erweise sich nun gerade in dem demonstrativen Versagen des Aufschreibsystems. Abgeschnittene Brüste wachsen nach, herausgerissene Zungen sprechen, Feuer kann dem Märtyrer nichts antun. So besteht das Zeichen der Heiligkeit dann gerade darin, daß der Körper nach den Foltern bisweilen völlig frei von Spuren und Zeichen ist.261
Die Konsequenz ihrer Beobachtungen, die Bachorski und Klinger im Anschluss an Caroline Walker Bynum für die christlichen heiligen Asketen ziehen, trifft für Antonius aber gerade nicht zu. Bachorski und Klinger nehmen nämlich, ähnlich wie Niklaus Largier,262 an, dass die Askese im Wesentlichen eine Fortsetzung des Prinzips des Martyriums mit anderen Mitteln ist:
259 Vgl. Bachorski, Hans-Jürgen/Klinger, Judith: Körper-Frakturen und herrliche Marter. Zu mittelalterlichen Märtyrerlegenden. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999). Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer. Berlin 2004a (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 309–333. 260 Vgl. Bachorski/Klinger (2004a), S. 316. 261 Bachorski/Klinger (2004a), S. 318. 262 Vgl. Largier (2010), S. 211.
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Genauso, wie sich unter der Folter neue Zeichen und Bedeutungen am geheiligten Körper manifestieren, geschieht dies aber auch durch asketische Praktiken: Bußübungen, Selbstkasteiungen und unwillkürliche Körperphänomene wie Stigmatisierungen, demonstrieren in der Abweichung von alltäglichen Körpernormen die Partizipation an einer jenseitigen Realität.263
An Antonius im ‚Väterbuch‘ wird hingegen ein Prozess der Heiligwerdung als Einschreibung inszeniert, in dem die körperliche Versehrung durch die Askese nur sekundär ist. Viel wichtiger ist das Moment der Partizipation, das sich in Antonius’ Aneignung der Lebensformen anderer Asketen und in seiner eigenen Funktion als persona imitabilis und Gemeinschaftsstifter realisiert. Am Beispiel des Antonius zeigt sich, dass die Heiligung im ‚Väterbuch‘ keine Sache des Einzelnen ist. Es geht nicht darum, dass ein Heiliger sich vor einer übermächtigen welt lichen Macht als beständig erweist. Vielmehr erscheinen Heiligkeit und Charisma des Einzelnen als Produkte seiner engen Verknüpfung mit der Gemeinschaft. Der Einsiedler ist mitunter allein, er ist jedoch niemals einsam, weil er die Spuren seiner Lehrer und Vorbilder in sich trägt. Bereits am Beginn der Erzählung konturiert der Text den tiefen Eingriff, der mit dem Übergang vom weltlichen ins geistlich-monastische Leben verbunden ist. Die Emphase der sozialen Dimension des Heiligkeitsentwurfs kann dabei auch als Anknüpfungspunkt für die Rezipienten gelesen werden. Der Umgang mit Verwandtschaft und mit Besitz sind zwei zentrale Aspekte, die den Übergang in einen Orden auch im 13. Jahrhundert noch bestimmen. Die Geschichte vom heiligen Antonius ist auf diese Weise nicht nur als Ursprungserzählung angelegt, durch die den Ordensangehörigen im Mittelalter die Herkunft ihrer Institution vermittelt wird, sondern der Heilige erscheint zugleich auch als persona imitabilis und unmittelbares Vorbild im Umgang mit immer noch virulenten Problemen. Die Einsiedelei des Antonius besteht nicht in dem regungslosen Verharren in der Zelle, sondern ist vielmehr durch eine ganze Reihe von Tätigkeiten bestimmt. Arbeit erweist sich als zentrales Element des Eremitendaseins, denn ansonsten droht die acedia und damit der Verlust des Willens zur Askese. Als Antonius unbeschäftigt ist, geschieht es, Daz sich in im erhube ein pin Von itelen gedanken. Er wart ein teil wanken In im selber her und dar.
263 Bachorski/Klinger (2004a), S. 329 f.
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In verdroz der zit gar Wand er saz ane arbeit.264 (V. 492–497)
In der Zeit, in der Antonius untätig in seiner Zelle sitzt, beginnt er zu zweifeln, und sündige Gedanken machen ihm zu schaffen. Die Metapher des Wankens, der ziellosen Bewegung, die auf den Verlust der klaren Zuordnung folgt, verweist auf den Zustand der acedia. Weil alle Tätigkeit des Einsiedlers Gottesdienst ist, erscheint Untätigkeit als Verlust von Orientierung und als Bedrohung des gesamten Lebensentwurfs: The most terrible temptation of all that pressed in continuously upon men perched, in this way, on the edge of the desert, was to betray their humanity. It was to break out of the confies of their cell and to expunge the regular alternations of vigil and prayer, eating and fasting. In moments when he was close to breakdown, the ascetic felt driven to wander as free and as mindless as a wild beast, gnawing at the scattered herbs, mercifully oblivious, at last, to the terrible ache of a belly tied to morsels of human bread, cruelly spaced out by the human rhythms of prayer and feasting.265
Antonius kann diesem Problem nur begegnen, indem er Gott um Hilfe anruft. Der sendet ihm einen Engel, von dem der Heilige belehrt wird: Er [der Engel; J. T.] sprach: ‚Antoni, nu sich! Wilt tu behut wesen dich Vor unnutzen gedanken wol, So habe dine hante vol Der arbeit untz an die zit Daz din gewonheit beten pflit: Dar nach so grif die arbeit an!‘ (V. 523–529)
Erst diese Erkenntnis, dass Tugend immer tätige Tugend ist, bildet die Grundlage für Antoniusʼ Identität als Eremit. Wer handelt, tut Gottesdienst, und wer tatenlos verweilt, fällt aus der Ordnung. Erst nachdem Antonius diese Gefahr überwunden hat, wird er selbst zum herausragenden Vorbild und so hiezen sumeliche
264 Der Begriff arbeit ist bekanntlich nicht mit Arbeit im Sinne einer ein Produkt schaffenden Tätigkeit zu übersetzen. Er meint hier vielmehr die „beschwerde, die man freiwillig übernimmt“ (BMZ, Bd. 1, Sp. 53a). Es kommt also nicht darauf an, dass die Eremiten etwa für ihren Lebens unterhalt arbeiten, sondern dass sie überhaupt tätig sind. 265 Brown, Peter: The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity. New York 1988, S. 219 f.
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in vater (V. 561).266 Nachdem in der Familiengeschichte des Antonius die soziale Dimension des Heiligkeitsentwurfs ausgelotet wurde, folgt hier nun ein zweiter Aspekt, dessen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist: Es ist ein Grund für den großen Erfolg der monastischen Kultur, dass ihre Angehörigen vollständig in sie integriert werden und möglichst jeden Rest der vorherigen Identität abstreifen. In der neuen Lebensform ist alles Handeln Gottesdienst und so entspricht der Zustand des Nichtstuns dem Zustand des ungeregelten Seins, in dem kein Gottesdienst stattfindet. Das gilt für die anachoretischen Eremiten ebenso wie für die zönobitischen Klosterangehörigen. Neben der Arbeit praktiziert Antonius auch weitere Askeseübungen. Mit ihnen begegnet er den Versuchungen, denen der Teufel ihn aussetzt. Damit beginnt ein neuer Abschnitt des Textes. Antonius steht nicht mehr im Begriff, Einsiedler zu werden, sondern ist es bereits und wird in diesem Lebensentwurf vom Teufel herausgefordert. Der wirft ihm nicht nur vor, seine Schwester im Stich gelassen zu haben, sondern er machte im ouch vil swere / sin wachen und sin arbeit (V. 600 f.) und versucht, ihn in der Gestalt einer Frau zu sündigen Gedanken zu verleiten. Antonius’ Reaktion fasst der Text in der paradoxalen Logik der Askese, denn um sich zu stärken, schwächt er sich: Er bette, er vaste, er wachete / untz er sich dran geswaechte (V. 665 f.). Antonius’ Widerständigkeit treibt den Teufel schließlich dazu, Gestalt anzunehmen, und er erscheint dem Heiligen als schwarzes Kind.267 Gefragt nach seinem Namen eröffnet der Teufel Antonius sein Wesen: Ich bin der unkusche geist: Unkusche ist genant mine name. Des ich nihtesniht mich schame. Er ist mir johch ein ere, Wand ich mit miner lere, Mit miner suzen valschheit,
266 Die scharfe Ablehnung der vita contemplativa, die mit diesem Entwurf einhergeht, findet sich bereits in den spätantiken Eremitenviten und es wäre eine eigene Untersuchung wert, wie sie sich zum Bildungsideal der Verfasser dieser Viten verhalten. Für die Angehörigen eines Ritter ordens, die bei Untätigkeit vielleicht weniger zur Meditation als zur Exhaltation neigten, mag das Tätigsein ebenfalls eine wichtige Bedeutung gehabt haben. 267 Zu den Erscheinungsformen des Teufels vgl.: Roskoff, Gustav: Geschichte des Teufels. Leipzig 1869, besonders zum 13. Jahrhundert S. 319. Der ‚kleine schwarze Knabe‘ ist eine häufige Figuration des Teufels in der christlichen Literatur seit dem 2. Jahrhundert. Vgl. dazu auch Gendolla (1991), S. 55 f.
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Der min sin genuc treit, Han gevalt der lute vil. [...] Vil gar den tac, noch me die naht Wende ich alle mine maht An manigen jungelinge, Untz ich in zu mir bringe. [...] Und joch manigen alten, Der niht mac enthalten Sin lange zit, sin grawez har. E er sin vollen wirt gewar, Hate er niht groze wisheit, So velle ich in mit valscheit. (V. 724–750)
Die Passage macht die Funktion des Teufels im Zusammenhang der Vätererzählungen deutlich. Er sorgt für die Laster des Menschen und an vorderster Stelle steht das sündhafte Begehren.268 Diesem Begehren begegnen die Einsiedler mit der Askese. So auch Antonius: Zwar vermag er dem Teufel in dieser ersten Begegnung zu widerstehen, doch ist ihm selbst völlig klar, dass der Teufel nun sein ganzes Bestreben darauf richten wird, ihn zu Fall zu bringen, und er begegnet dieser Bedrohung mit scharfer Selbstkasteiung: Mit manigerhande dampfe / derret er des vleisches gruse (V. 834 f.). Antonius fastet und wacht weiterhin, trägt nur ein härenes Hemd und beschließt schließlich, sich von den anderen abzusondern, daz an im in der stille / geschehe Gotes wille (V. 869 f.). Die Askese ist hier zwar Teil der Heiligwerdung, nicht aber in dem Sinne, dass sich durch sie die Macht Gottes am Heiligen zeigt. Sie erscheint viel pragmatischer als erlernbare Technik, durch die der Widerstand gegen das ,unreine‘ Begehren, das im Teufel figuriert ist, möglich wird. Mit Antonius’ Absonderung von den Menschen setzt er sich den Angriffen des Teufels offensiv aus.269 Das Leben des Einsiedlers wird dabei als ein andauernder Prozess von Aussetzung, Angriff und Widerstand konzeptualisiert. Sein Körper wird „zum Versuch(ung)sfeld, wird
268 Vgl. zu diesem Aspekt auch Haferland (2010); hier S. 223–225. Anders als für die Folklore nimmt Haferland für die Asketenerzählungen an, dass hier ein Dämonenglaube nicht vorauszusetzen ist, sondern dass vielmehr Aspekte der Askese als Dämonen externalisiert werden und deshalb die Veräußerlichung Teil des religiösen Vollzuges ist. 269 Vgl. dazu auch Largier (2010), S. 213. Noch weitergehend sind Largiers Überlegungen zur Evokation sinnlicher Eindrücke durch Askese und der Praxis der Unterscheidung der Geister. Vgl. dazu Largier, Niklaus: Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese. München 2007, S. 146–153.
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Qualen, Reizen und Erregungen ausgesetzt, die als vergängliche Erscheinungen gegen die einzig bleibende Stimme Gottes angenommen werden.“270 In der literarischen Darstellung ist diese Anlage ganz konkret umgesetzt. Antonius sondert sich ab, indem er in einem leerstehenden Grab (gemeint ist eine Art geschlossenes Mausoleum) Wohnung nimmt. Der Teufel befürchtet, dass mehr Menschen dem guten Beispiel des Antonius folgen könnten, greift ihn mit aller Gewalt an und schlägt ihn nieder. Als Antonius am nächsten Tag gefunden wird, hält man ihn für tot. Der Heilige kommt jedoch bald wieder zu Sinnen, verspottet den Teufel und fährt mit seinem Leben im Grab fort. Er wird daraufhin erneut von einem Dämonenheer angegriffen, womit Antonius’ Askese zu einem fortwährenden Kampf im Sinne des Epheserbriefs wird, der Paulus’ Forderung „Zieht die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die Listen des Teufels bestehen könnt!“ (Eph 6,12) entspricht. Die Angreifer sind konkret geschildert: Lewe, bere, wolf, stier. Manigerhande boser wurm Kerte uf in sinen sturm. Die nater mit ir sibilo Irbot sich im mit grozer dro. Er sach den einhurnen Vil sere gein im zurnen. Daz eberswin lief in an Und bot mit nide im sinen zan. (V. 1076–1084)
In der Darstellung dieser tierischen Dämonen ist eine weitere Dimension der ‚Vitaspatrum‘-Literatur erkennbar: Überirdisches Geschehen, sei es das Wirken des Teufels oder die Freude des Himmelreiches, wird bebildert. Das Leben des Einsiedlers, das durch Selbstauslieferung, Verzicht und Askese bestimmt ist, eröffnet den Durchblick auf das überweltliche Geschehen. Dabei kippt die Darstellung zwischen dem Als-ob des Visionären und leiblicher Präsenz hin und her, denn die Kreaturen ‚erscheinen‘ (V. 1095) Antonius einerseits nur, fügen ihm aber andererseits tatsächlich Verletzungen zu (V. 1096–1099). Antonius widersteht den dämonischen Angreifern, wenn sie ihn auch fast bis an den Tod bringen. Schließlich greift Gott ein. Antonius sieht nach oben und So siht er wie ob im daz dach Sich offent und da durch brach Ein lieht mit grozer clarheit. (V. 1157–1159)
270 Gendolla (1991), S. 66.
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Schon zuvor war der Raum des Grabes, das hier als Antonius’ Zelle fungiert, von den Dämonen aufgebrochen worden. Um sich Zutritt zu verschaffen, hatten diese eine der Wände eingerissen (V. 1070). Nun öffnet sich der Raum nach oben, um das Licht Gottes einzulassen. Die theatral-räumliche Darstellung offenbart hier die Logik eremitischer Praxis und Erkenntnis: In fortwährender Aussetzung und im Bestehen gegen die Angriffe des Teufels durch die Askese liegt der Weg zur Überwindung des Irdischen. Sie äußert sich in der Auflösung des irdischen Raumes, der sich seitwärts für die Dämonen, nach oben hin zu Gott öffnet. Im Augenblick des Eingreifens Gottes ist der Dämonenangriff vorüber. Antonius lobt daraufhin Gott und die Stimme Christi verheißt ihm den Lohn für seine Beständigkeit, der aus zwei Teilen besteht: So gib ich dir die hohen gift, Daz ich in aller swere Wil sin din helfere Hinnen furder alle zit. Ich wil ouch in die werlt wit Dinen namen leiten Und an lobe zu breiten. (V. 1196–1202)
Zwei Preise gewinnt Antonius: Die Gemeinschaft mit Christus und den Ruhm für seine Beständigkeit, von der auf der ganzen Welt gesprochen werden soll. Beide Aspekte sind in hohem Maße auf Teilhabe und Gemeinschaft ausgerichtet, hier auf die Gemeinschaft mit Christus und die Partizipation an dessen Göttlichkeit, dort auf die Verehrung durch die christliche Gemeinschaft, die von Antonius’ Beständigkeit hören wird. Dabei ist in Christi Versprechen, Antonius in aller ‚Schwere‘ beizustehen, bereits die Perpetuierung der Handlung angelegt, denn schließlich verspricht der Heiland dem Heiligen nicht, ihn von der ‚Schwere‘ zu erlösen. Versuchung und Widerstehen werden in einen fortwährenden Prozess überführt, indem Antonius nach dem Dämonenkampf und seiner Christusvision nicht etwa von weiteren Herausforderungen absieht, sondern sich im Gegenteil noch weiter von den Menschen absondert. Er zieht, und damit begründet er endgültig die Kultur der Wüsteneremiten, in die wuste wilde (V. 1237). Später wird Antonius noch ein drittes Mal weiter in die Wüste hinaus ziehen. Dabei wird die Bewegung in die Wüste immer auch als Weg zu Gott gefasst: Manigen wec harte smal, Daz gebirge nider und ho Gienc er und suhte also Des himels wec in der zit,
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Den nach im trat vil maniger sit, Der vil daz himelriche vant. (V. 1254–1259)
Die Reise selbst, der wec, wird zum Modus sukzessiver Heilsaneignung. Durch die Wüste gehend wird Antonius zum Eremiten. Gleichzeitig hält der Text durch den Verweis auf die Nachfolger des Heiligen immer den Gemeinschaftsbezug präsent. Dass zwischen dem Versuch der Absonderung und der charismatischen Anziehungskraft des Eremiten eine Spannung herrscht, zeigt sich an Antonius’ Leben in dem verlassenen Kastell, das er in der Wildnis gefunden und in dem er Wohnung genommen hat. Zahlreiche Menschen folgen ihm, bringen ihm Nahrung und lagern in der Nähe des Gebäudes, in das Antonius sich eingeschlossen hat.
6.3 Einsiedler und Vorbild Mit dem Verweis auf die Nachfolger des Antonius wechselt der Text die Erzählperspektive. Wie die Anhänger des Heiligen blickt der Erzähler von außen auf das Kastell, in dem Antonius sich eingeschlossen hat, und hört, was darin vorgeht. Die Stimme des Teufels reklamiert den Raum für sich. Dieses Geschehen erfüllt die Anhänger rund um das Kastell mit Angst und sie bitten Antonius um Hilfe. Der versichert ihnen aus dem Gebäude heraus, dass ihnen kein Leid geschehen wird, dass sie aber heimkehren und ihn allein zurücklassen mögen. Zwanzig Jahre lebt er daraufhin allein in der Wildnis und kämpft mit Gottes Hilfe fortwährend gegen den Teufel. Schließlich nehmen die Menschen an, er müsse inzwischen verstorben sein, und reisen wieder zu seinem Kastell, wo sie ihn zu ihrer Verwunderung immer noch beten hören. Sie brechen den Raum auf und finden Antonius. Seine Unversehrtheit nam die geste wunder (V. 1499). Im Text ist dies der Augenblick, in dem Antonius zum Lehrer geworden ist: Uz richlichem sinne Sagete er in gute lere. Ie me und ie mere Wart er den luten minesam. Er was gephrophet uf den stam Der rehten tugende sunder bruch. Hie von den luten was sin spruch, Sin lere ie gar geneme Und zu selden bekeme. (V. 1508–1516)
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Antonius ist in die Rolle des Wüsten-Vaters eingerückt. Zuvor war er durch seine asketischen Leistungen hervorgetreten, jetzt erweist sich seine Heiligkeit in Lehre und Leitung, in seinem Bezug zu den Menschen, die ihn umgeben.271 Ein Vergleich mit der lateinischen Vorlage zeigt, dass dieser Aspekt im ‚Väterbuch‘ in besonderer Weise hervortritt. Viel stärker als der deutsche Text heben die Vorlagen das von Gott verliehene Charisma hervor. In den ‚Vitaspatrum‘ „trat er, wie vom Himmel kommend und von Gott geheiligt, heraus.“272 Der deutsche Text verzichtet auf diese Auszeichnung ‚von oben‘ und ersetzt sie durch eine Betonung der Gemeinschaftsfunktion des Heiligen, der jetzt mit lere und ouch mit strafungen (V. 1630) wirkt und damit schon fast einem Abt gleicht.273 Die Menschen sehen Antonius als Weisen an und ihre Zuneigung zu ihm wächst. Der Modus der Lehre ist dabei der spruch, das heißt die lehrhafte Sentenz. Damit wird ein zentraler Bestandteil der monastischen Kultur installiert: Die Aussprüche (oder Apophthegmata) der Wüstenväter stellen ein wichtiges Bildungsund Regelwerk sowohl bei den Wüsteneremiten als auch in den Klöstern dar. Die Sammlung und Weitergabe der Sprüche der Väter sind ein wichtiger Selbstvergewisserungsprozess der Bewegung. Neben den Ordensregeln werden die Sprüche zur zweiten Säule. Dabei erfassen die Spruchsammlungen vor allem das, was sich nur schwer in Regelwerken festlegen lässt: Innere Haltungen, Emotionen, das Wissen vom Jenseits und der Heilsgeschichte.274 Antonius wird also ein selic vor bilde / an lere, an werken, die er truc (V. 1566 f.). Er erfüllt die doppelte Funktion des Einsiedlers als Lehrer und Vorbild an heiligenmäßigem Leben und Askese. Dadurch wird er zum Stammvater des Mönchtums: Got phlanzet an im ein stam Der also vruhtliche bequam Daz manic ris dar uz sproz. (V. 1609–1611)
Diesem Übergang des Einsiedlers zum Lehrer folgt ein episodischer zweiter Teil der Vita. Er dokumentiert das Wirken des nun als heilig verehrten Antonius,
271 Basilius Steidle legt besonderes Gewicht auf die Erwählung, die Antonius zum Vorbild macht, indem er auf das Konzept des Gottesmannes (homo dei) verweist. Vgl. Steidle (1986), S. 64. 272 Zit. nach Leben der Väter (Sintzel), Bd. 1, S. 19. Der lat. Text lautet: quasi ex aliquo cœlesti aditu consecratus apparuit; Vitae patrum (Rosweyde), Sp. 134. 273 Vgl. zur Begründung der Funktion des Abts Steidle (1986), S. 113. 274 Vgl. dazu Kap. 8 dieser Arbeit.
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entspricht aber nicht mehr genau der Vita, wie sie ursprünglich von Athanasius verfasst wurde. Das hat auch damit zu tun, dass aus der Gemeinschaft des Antonius nun weitere Einsiedler hervorgehen, denen der Text streckenweise folgt und damit zugleich die Entwicklung einer größeren Kultur aus der Gemeinschaft des Antonius dokumentiert. Auch wenn das ‚Väterbuch‘ die große Bedeutung von Antonius hervorhebt, wurde ursprünglich nicht ihm, sondern Paulus von Theben der Titel primus eremita beigegeben.275 Hier bildet sich eine historische Konkurrenz ab: Wahrscheinlich verfasste Hieronymus die Vita Paulusʼ des Einsiedlers als Gegenentwurf zur erfolgreichen ‚Antoniusvita‘ des Athanasius.276 Die ‚Vita Pauli‘ nimmt die Figur des Antonius auf, ordnet ihn jedoch Paulus unter.277 Natürlich hatte nur der nachgeborene Hieronymus überhaupt die Möglichkeit zu einem solchen literarischen Winkelzug. Andererseits sollte die vermeintliche Konkurrenz auch nicht überbewertet werden, war es doch wahrscheinlich Hieronymus, der Evagrius ermunterte, die ‚Antoniusvita‘ ins Lateinische zu übersetzen und damit einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Das ‚Väterbuch‘ jedenfalls integriert umgekehrt Paulus in die ‚Antoniusvita‘. Damit weicht es von den ‚Vitaspatrum‘ ab, die Paulus vor Antonius setzen. Zwar würden viele sagen, dass Paulus der erste Einsiedler gewesen sei, so führt der Text aus, doch habe sich Antonius als erster zurückgezogen. Paulus hingegen sei (nur) zuerst gestorben. Antonius und Paulus werden so als gleichwertig gegenübergestellt: hier der zuerst Gestorbene, dort der zuerst Zurückgezogene. Es ist in der Forschung mittlerweile darauf hingewiesen worden, dass die Darstellung von Paulus in der ‚Antoniusvita‘ des ‚Väterbuchs‘ nicht, wie Hohmann noch annahm,278 allein auf die ‚Vitaspatrum‘ zurückzuführen ist. Vielmehr hat der Verfasser dabei auch auf die ‚Legenda aurea‘ zurückgegriffen.279 Die ‚Antoniusvita‘ ist also, im Gegensatz zu den folgenden Teilen, bewusst aus mehreren Quellen und auf ein bestimmtes Ziel hin kompiliert. Es bietet sich daher an, gerade bei den neu hinzugekommenen Teilen, etwa der Begegnung von Antonius und Paulus, nach dem dahinterstehenden symbolischen Programm zu fragen.
275 Zum Verhältnis der Legenden von Athanasius’ ‚Antoniusvita‘ und Hieronymus’ ‚Paulusvita‘ vgl. Kech (1977), S. 148–157 und Gemeinhardt (2013), S. 144–150. 276 In dieser Art und Weise ist die ‚Vita Pauli‘ auch in die ‚Vitaspatrum‘ integriert: Paulus steht an erster Stelle, Antonius folgt ihm nach. 277 Dementsprechend klammert das ‚Väterbuch‘ die beiden anderen wirkmächtigen Viten aus der Feder des Hieronymus, nämlich die ‚Vita Malchi‘ und die ‚Vita Hilarionis‘, vollständig aus. 278 Vgl. Hohmann (1909), S. 25. 279 Vgl. Borchardt/Kunze (1999), Sp. 165.
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Anders als bei Antonius ist es nicht der Wunsch nach Askese, der Paulus in die Einsiedelei treibt, sondern er flieht, weil der die Christenverfolgungen des Decius nicht mehr mitansehen kann. Diz enmohte Paulus [...] niht mer gesehen vor leide (V. 1869–1871), er sondert sich ab und lebt sechzig Jahre lang in einer Höhle. Dort wird er von Gott ernährt, der täglich einen Raben sendet, von dem Paulus ein halbes Brot erhält. Antonius erfährt von Paulus durch einen Traum und wie schon am Anfang seines Lebens als Einsiedler bricht er sofort auf, um diesen bemerkenswerten Vater zu besuchen. Er bittet Gott darum, ihm den Weg zu zeigen, und dieser Wunsch wird in besonderer Weise erfüllt. Antonius trifft zunächst ein Tier, das rehte als ein merwunder (V. 1921) gemacht ist. Es handelt sich um einen Kentaur, ein Wesen, das halb Mensch und halb Pferd ist. Das Wesen zeigt Antonius mit seinem Huf den richtigen Weg. Kurz darauf begegnet er einem tier wunderlich gestalt (V. 1933), das Antonius mit eigener Stimme über sein Wesen in Kenntnis setzt: Die arme heidenische diet Nennet mich Satirus Und sprichet von mir alsus: Ich habe gar den gewalt Daz ich si Got uber den walt, Swie ich des sie irlazen. (V. 1942–1947)
Antonius geht weiter, doch der armen heiden irrekeit (V. 1950) verursacht ihm großen Kummer. Schließlich begegnet Antonius einem Wolf, der sanft wie ein Lamm ist und ihn auf dem rechten Pfad führt, bis er die Wohnstätte des Paulus erreicht hat. Kentaur und Satyr hat der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ aus der ‚Legenda aurea‘ entnommen.280 Kentaur, Satyr und Wolf signifizieren hier die Wildnis oder wüeste, von der die Einsiedler umgeben sind281 und die Antonius durchqueren muss, um zu Paulus zu gelangen.282 Sie erscheinen dabei, ebenso wie die Wildnis selbst, als mindestens doppelt codiert. Einerseits stehen sie im Gegensatz zu den Eremiten,
280 Vgl. Legenda aurea (Häuptli), Bd. 1, S. 332–335. 281 Vgl. zur Bedeutung der Wüste als Lebensraum und dem Verhältnis der Eremiten zu wilden Tieren Ševčenko, Nancy Patterson: The Hermit as Stranger in the Desert. In: Strangers to Themselves: The Byzantine Outsider. Papers from the Thirty-Second Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Sussex, Brighton, March 1998. Hrsg. von Dion C. Smythe. Aldershot 2000 (Society for the Promotion of Byzantine Studies, Publications 8), S. 75–86. 282 Goehring (2003), S. 443 deutet hingegen die Tierwesen als Zeichen für die Tiefe der Wüste, in der Paulus lebt.
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sind das tierische und heidnische Element, dessen Bedrohlichkeit die Wildnis zur Herausforderung für die Eremiten macht. Andererseits agieren sie im Sinne Gottes, leiten den Heiligen also auf dem Weg, der für ihn vorgesehen ist. Damit erscheinen sie als dessen Helfer und Unterstützer. Diese doppelte Codierung lässt sich auch im Begriff des merwunders erkennen, mit dem die Tierwesen bezeichnet werden. Sie haben zugleich Anteil am göttlichen Heilsplan und sind Teil einer nicht christlich dominierten Sphäre. Aus dieser Perspektive wird auch Antonius’ Bekümmerung verständlich, die zwar das mythische Wesen des Satyrs nicht infrage stellt, wohl aber den Glauben der Heiden, die den Satyr für den König des Waldes halten. Er erkennt am wunderbaren283 Geschöpf die Gleichzeitigkeit der Bedrohung für den einzelnen Menschen und seine Funktion im Heilsplan. Nachdem Antonius die Zelle des Paulus erreicht hat, formen die beiden ersten Einsiedler eine minimale Gemeinschaft. Sie beten gemeinsam (V. 1986 f.) und sprechen miteinander von der suzen minne Gotes (V. 1991). Als die Essenszeit gekommen ist, bringt der Rabe, von dem Paulus versorgt wird, ein ganzes statt eines halben Brotes. Antonius und Paulus teilen und verspeisen es gemeinsam. Das göttliche Wunder des brotbringenden Raben erweist zweifelsfrei die Heiligkeit der beiden Eremiten, wan ir [Antonius und Paulus; J. T.] was von Gote gedaht (V. 2004). Im Bild des halben und des ganzen Brotes ist der Entwurf von Heiligkeit und Gemeinschaft gefasst. Erst das Miteinander der beiden macht ihren Glaubensvollzug vollständig und wird mit der Ganzheit göttlicher Zuwendung belohnt, was sich im Bild des ganzen Brotes spiegelt. Dabei ist es keine Bedingung, dass die Gemeinschaft dauerhaft besteht, denn schließlich hat Paulus sechzig Jahre seines Lebens allein in der Wildnis verbracht. Vielmehr wird deutlich, dass die Lebensentwürfe der Eremiten am Ende auf Gemeinschaftlichkeit hin gedacht werden und dass einsame Askese immer wieder in Gemeinschaft mündet. Antonius wird in diesem Fall zum Augenzeugen und zum Garanten des kollektiven Gedächtnisses. Er begegnet Paulus nicht nur, sondern wohnt auch seinem Tod und der damit einhergehenden Transzendierung bei. Kaum nämlich hat er sich wieder auf den Weg nach Hause gemacht, nimmt er Gesang wahr:
283 Den Gegensatz von Wunder und Wunderbarem bestimmt Wehrli (1961), S. 434 wie folgt: Dem „Wunder, das per definitionem Überwältigung, Einbruch des Übernatürlichen ist,“ steht das Wunderbare als Überweltliches, das aber „bloße Funktion eines neuen, immanenten Zusammenhangs“ ist, entgegen.
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Noch suzer denne ein hongicseim Horte er einer stimmen sanc, Diu im uz der luft irclanc. Do sach er uf und wart gewar Wie die lieten engel clar Paulus sele vurten hin In den himelischen gewin. (V. 2036–2042)
In der Synästhesie des honigsüßen Gesanges und der lichten Klarheit der Engel manifestiert sich die Präsenz des Heiligen. Paulus wird, nachdem er Antonius begegnet ist und ihm von seinem Leben und dem göttlichen Wunder seiner Versorgung mit Brot berichtet hat, ins Jenseits entrückt. Dass Paulus mit dieser Verankerung seines Lebens im kollektiven Gedächtnis einen wichtigen Akt vollzogen hat, der seiner Transzendierung vorausgehen musste, dokumentiert Antonius’ Reaktion: Dieser kehrt, nachdem er der Engel ansichtig geworden ist, zu Paulus’ Zelle zurück und findet seinen Leichnam kniend und die Hände zum Gebet emporgereckt: Der reine, der gewere Antonius mit vreuden sprach, Do er Paulum tot gesach: ‚O, du getruwer Gotes knet! Wie offenliche und wie reht Nu du hast bescheinet Waz daz knien meinet! Du hast gewiset mir unbetrogen Wes du din leben hast gephlogen. Swie din leben was gestalt, Dar an hat dich der tot gevalt.‘ (V. 2058–2068)
Antonius betont den Umstand, dass Paulus ihm vor seinem Tod von seinem Leben berichtet hat, dessen Qualität einen symbolischen Ausdruck im gottesfürchtigen Knien des toten Eremiten findet. So einsam ein eremitisches Leben auch sein mag, sein Zweck ist es, innerhalb der Gemeinschaft fortzuleben und als Vorbild und Beweis der Macht Gottes zu dienen. Die Relevanz der Einbindung des einzelnen Eremiten in die Gemeinschaft wird in der Erzählung von Antonius und Paulus noch weiter entfaltet. Nachdem Antonius mit Hilfe zweier zahm gewordener Löwen ein Grab für Paulus gegraben und ihn darin beerdigt hat, nimmt er dessen Mantel mit sich und kehrt zu seiner eigenen Zelle zurück. Fortan trägt er bei hohen Festen, zu denen die Eremiten zusammenkommen, für alle sichtbar den Mantel des toten Paulus. Diese Einklei-
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dung des Antonius mit dem Mantel des Paulus ist in hohem Maße symbolisch.284 Antonius trägt die Geschichte des Paulus nun materialiter am Leib und verschmilzt mit den Spuren seines Vorgängers, die Teil seiner Identität werden. Es ist dies die Grundkonzeption der Eremitenkultur, dass die Nachfolger sich die Güte und Tugenden der Vorangehenden aneignen, mit ihren Vorbildern verschmelzen, um selbst wieder vorbildhaft zu werden. Eine so angelegte Kultur beinhaltet nicht nur gemeinschaftliche Glaubenspraktiken, sondern ist auf den dauernden Kontakt ihrer einzelnen Glieder angewiesen. Es lässt sich hieraus auch erklären, warum der so ostentativ ausgestellte Analphabetismus des Antonius und vieler seiner Mitbrüder unproblematisch ist. Ihre Gemeinschaft wird durch die Weitergabe der Erzählungen, Lehren und Beispiele während des Kontakts miteinander bestimmt. Mehr als jede andere ist die Eremitenkultur in den Wüstenvätererzählungen von der mündlichen Kommunikation geprägt. Es versteht sich von selbst, dass sich diese Anlage mit dem Übergang in die Schriftform und der tausendjährigen Geschichte der monastischen Kultur verändert und dass die schriftlichen Sprüche der literarischen Gestaltung unterworfen sind. Dennoch sind die Spuren der ursprünglichen Präsenzkultur auch ins ‚Väterbuch‘ eingeschrieben. Die historische Konkurrenz um die Gründung der Eremitenkultur der zwei Figuren Antonius und Paulus wird im ‚Väterbuch‘ genutzt, um den gemeinschaftlichen Aspekt der eremitischen Spiritualität zu betonen. Zwar ist Paulus sechzig Jahre allein in der Wüste, doch ist das Wunder, das Gott an ihm vollzieht, erst mit dem Erscheinen des Antonius vollständig. Erst für die beiden Eremiten bringt der Rabe ein ganzes Brot. Erst nachdem er die Geschichte seines Lebens erzählt hat, wird Paulus transzendiert. Zugleich wird seine Geschichte durch Antonius ins kollektive Gedächtnis überführt, der sie durch die rituelle Bekleidung mit dem Mantel des Paulus zu einem Teil seiner Identität macht.285 Das ‚Väterbuch‘ verdoppelt und harmonisiert den Ursprung der Eremitenkultur.
284 Zur Bedeutung der Kleidung des heiligen Antonius vgl. Dihle, Albrecht: Das Gewand des Einsiedlers Antonius. In: Antike und Orient. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von dems. Heidelberg 1984 (Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 22), S. 153–160; hier S. 153, der auch auf die biblischen Vorlagen für das Motiv der Weitergabe von Kleidern eingeht. Vgl. außerdem Elm, Eva: Tribon, Dreck und lange Haare. Kynischer und christlich-asketischer Habitus im Wechselverhältnis. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hrsg. von Lutz Bergemann u. a. München 2011, S. 57–77; besonders S. 60–63. Elm gibt zudem ein Beispiel für die Verbindungen und Austauschprozesse zwischen den paganen antiken und den christlichen Kulturen. 285 Vgl. dazu auch Feistner, Edith: Imitatio als Funktion der Memoria. Zur Selbstreferentialität des religiösen Gedächtnisses in der Hagiographie des Mittelalters. In: Kunst und Erinnerung.
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Teil der ‚Antoniusvita‘ ist die Erzählung von Antonius und seinem Schüler Paulus dem Einfältigen. Paulus ist von seiner Frau Unrecht geschehen286 und er hat sich daraufhin ohne jeden weltlichen Besitz in die Wildnis zurückgezogen. Gott führt ihn zu Antonius und seinen Anhängern. Antonius will Paulusʼ Gehorsam prüfen und befiehlt ihm, dort stehenzubleiben, wo er gerade steht, bis er andere Anweisungen erhält. Paulus bleibt einen langen heißen Tag und eine kalte Nacht ohne sich zu rühren am selben Platz stehen und wird von Antonius, den die Beständigkeit beeindruckt, in die Gemeinschaft aufgenommen. Paulus eignet sich dabei als vorbildlicher Schüler, weil sein Gemüt besonders einfach ist: Simplex was sin zunam, Der sime leben wol gezam, Als ez umb in was gestalt. Simplicitas kut ‚einvalt‘: Diu was an im vollenkumen Gar mit tugentlichen vrumen. (V. 2509–2514)
Paulus der Einfältige übernimmt leicht die Lebensform der Mönche, denn er erscheint als ein ‚weißes Blatt‘, auf dem die Regeln eingeschrieben werden können. Antonius lehrt ihn die Gleichzeitigkeit der Arbeit mit den Händen und der Ausrichtung des Strebens auf Gott sowie den Verzicht auf übermäßiges Essen und Trinken. Schließlich weist er ihm eine Zelle in der Nähe seiner eigenen zu. Immer wieder führt der Text in der Folge Beispiele dafür an, dass Paulus im Gehorsam gegenüber Antonius keinen eigenen Willen erkennen lässt. Während Antonius hier als Regelgeber erscheint, ist Paulus Simplex ein Beispiel für das angemessene Verhalten des Mönches, da er seinen eigenen Willen vollständig zugunsten der Regel aufgibt: Sin selbes wille der was tot. Hie umbe im Gotes genade irbot Sulhe gabe in sulhen vrumen Daz er vil schier vollenkumen Vor Got in sime leben wart An rehter tugentlicher art. (V. 2847–2852)
Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst/Klaus Ridder. Köln 2003 (Ordo 8), S. 259–276; hier S. 266. 286 Vgl. Das Väterbuch (Reissenberger), V. 2522 f. Genauere Angaben macht der Text nicht. Es bleibt der Phantasie der Leser überlassen, auf welche Weise Paulus von seiner Frau übel mitgespielt wurde.
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Und Antonius, der schließlich seinerseits durch die Selbstaufgabe seines Schülers belehrt wird, reformuliert dasselbe noch einmal im Rekurs auf das Verhältnis von Vater und Sohn und die Gemeinschaft der Jünger: Swen so nach im [Christus; J. T.] hungere Und wesen wil sin jungere, Der sal sin selbes sich virzien. (V. 2869–2871)
Seine Einfalt macht Paulus zu einem so vollkommenen Mönch, dass er selbst Antonius darin überbietet. In dieser Fügung wird illustriert, dass das Gehorchen und Nachfolgen den Einzelnen höher tragen kann als das Leiten und Befehlen. Dass Antonius von Paulus überboten wird, macht der Text explizit: So wart Paulo gegeben Von Got ein so richez leben An der genaden ubervlůt, Daz durch sinen reinen mut, Den er so gar drucken lie, Got grozer zeichen begie Wan durch Antonium. (V. 2905–2911)
So kommt es auch, dass Antonius alle jene, die er selbst nicht heilen kann, zu Paulus schickt, der auch den Verzweifelten zu helfen vermag. Die Einheit von Paulus’ Wirken und göttlichem Willen geht so weit, dass dieser selbst verfügbar wird. Als ein vom Teufel Besessener zu ihm kommt, gelobt Paulus, dass er so lange nichts essen würde, bis der böse Geist vertrieben sei, und unmittelbar darauf erlöst Gott den Besessenen. Got was Paulo gehorsam (V. 2963), führt der Text aus und liefert die Erläuterung dazu nach, wobei er zugleich einen Bogen in die Gegenwart der Rezeption schlägt: Noch hat Got den selben můt: Swer sinen willen hin tůt Und sich einem anderm git Durch Got zu volgene alle zit In einvaltiger gehorsam, Daz ist Got also lobesam, Swen er also siht leben, Dem will er sich selben geben Und im in einer minne Gehorsam sin dar inne. (V. 2973–2982)
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Mit Paulus ist die Figur des perfekten Mönches erschaffen und Antonius hat seine Rolle als Stifter der Gemeinschaft erfüllt. Die Heiligkeit beider erweist sich in ihrem wechselseitig bedingten Funktionieren innerhalb der Mikrogemeinschaft von Lehrer und Schüler. Bevor von Antonius Tod erzählt wird, greift der Text in zwei Episoden noch einmal die beiden Pole auf, zwischen denen die Spannung der monastischen Kultur entsteht. In einem Gleichnis wird zunächst davon gesprochen, dass der Mönch die Einsamkeit der Zelle brauche wie ein Fisch das Wasser und dass das Verlassen des Klosters und die Begegnung mit anderen Menschen immer nur eine begrenzte Zeit dauern darf. Antonius hingegen, der von seinen Anhängern kurz vor seinem Tod um Lebensregeln gebeten wird, stellt das Gespräch untereinander an die Stelle unmittelbar nach der Heiligen Schrift: Wir sulin ouch an guter phlege Einander trosten alle wege Mit rate und ouch mite lere. Dar an ist nutz und ere. Daz minnet an uns sere Got. (V. 3097–3101)
Antonius stirbt schließlich mit 105 Jahren und geht in die ewige Freude ein, wo er der Anrufung durch die Gläubigen zugänglich ist, was seine Heiligkeit ein weiteres Mal unterstreicht. Als einzige der Mönchsviten aus den ‚Vitaspatrum‘ ist die des Heiligen Antonius in Gänze in das ‚Väterbuch‘ aufgenommen worden. Gleichzeitig wurde sie aus anderen Quellen ergänzt, die von Antonius handeln. Damit gewinnt Antonius im ‚Väterbuch‘ eine noch markantere Stellung als in den Vorlagen. Dem Verfasser des mitteldeutschen Textes war offenbar daran gelegen, eine Identifikationsfigur voranzustellen, an der modellhaft zentrale Aspekte entfaltet werden können.287 Auch die Zusammenfassung aller Erwähnungen von Antonius, die in den ‚Vitaspatrum‘ verstreut liegen, kann als Teil dieser Bemühungen verstanden werden, dessen Stellung als programmatische Figur zu betonen. Antonius ist die einzige Figur, für die eine solche Synthese verschiedener Quellen betrieben wird. Andere
287 Vgl. zu Form und Funktion der Heiligenviten als Gründungserzählungen auch Andenna, Cristina: Heiligenviten als stabilisierende Gedächtnisspeicher in Zeiten religiösen Wandels. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 526–573; hier S. 533 f.
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Wüstenväter tauchen durchaus hier und dort über den Text des ‚Väterbuchs‘ verstreut auf. Die Figur des Antonius führt eindrücklich das Aufgeben der weltlichen Bezüge und den mehrfach wiederholten Rückzug in die Wüste vor. Zudem steht sie in außergewöhnlicher Weise für das Ideal der Gemeinschaft und die Verbindung von Askese und Lehre. Gerade durch die Inserierung von Paulus dem Einsiedler und Paulus dem Einfältigen wird dies deutlich. Während in der Episode des einen der Gemeinschaftsgedanke in die Ursprungserzählung eingesponnen wird, entfaltet die Episode des anderen Bedingungen der Teilhabe an der Gemeinschaft und den Gedanken, dass der beste Wüstenheilige der ist, dessen Schüler noch heiliger sind als er.
7 Reise, Wüste, Imagination (‚Historia monachorum‘) Das Leben der Eremiten ist auf den Ort ihrer Askese konzentriert. Nur wenige Einsiedler richten sich mit ihren Lehren unmittelbar an die Welt außerhalb, wenngleich ihr Leben als vorbildhaft für alle Menschen gilt. Die räumliche Beschränkung führt dazu, dass, anders als bei den großen hagiographischen Sammlungen, im ‚Väterbuch‘ die Wüste und die Zelle als Handlungsräume eine große Rolle spielen, denn sie sind für den asketischen Vollzug und das Erzählen davon zentral. Praktisch die gesamte Handlung im ‚Väterbuch‘ spielt sich in diesen beiden Räumen ab, denen die Abgrenzung gegenüber der Außenwelt gemeinsam ist, die im Hinblick auf ihre Ausdehnung aber gegensätzlich sind. Der Weg der Eremiten in die Wüste und der Rückzug in die Zelle sind mit Prozessen der Desozialisierung, dem Fremdwerden, verbunden. Entsprechend müssen auch diejenigen, die bei den Eremiten Rat und Lehre suchen, eine Reise zu ihren Wohnorten unternehmen und Zugang zu ihnen finden. Von einer solchen Reise berichtet der zweite Teil des ‚Väterbuchs‘. Julia Weitbrecht und Maximilian Benz288 haben im Rahmen ihrer Untersuchungen hagiographischer Texte die große Bedeutung von Räumlichkeit und Bewegung im Raum herausgearbeitet. Das Genre der Reiseerzählung erlaubt eine Anknüpfung sowohl an weitere literarische Gattungen (zum Beispiel den antiken Liebes- und Reiseroman) als auch an theologische Konzepte (zum Beispiel peregrinatio und conversio).289 Weitbrecht weist, ausgehend von ihrer Untersuchung verschiedener Legenden und Jenseitsreisen, auf die große Reichweite des Reisemotivs hin: In den apokryphen Apostelakten der Spätantike, in der monastischen Vitenliteratur und in Jenseitsreisen bis hin zur höfischen Verserzählung des Mittelalters werden heilige, heiligengleiche und bekehrte Menschen unterwegs und auf der Suche imaginiert. Ihre Reisen, Weltfluchten und Irrfahrten führen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise stets zur Veränderung ihres Heilsstatus […]. Auf diese Weise werden Heiligkeit und Heiligung, Welt und Überwelt zueinander ins Verhältnis gesetzt und werden unterschiedliche Modi der Wahrnehmung und Zuschreibung von Heiligkeit narrativ in Szene gesetzt. Heiligkeit wird im Verlauf dieser Erzählungen als Prozess erfahr- und darstellbar gemacht.290
288 Vgl. Benz, Maximilian/Weitbrecht, Julia: Die Formierung des Jenseits als Bewegungsraum in Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Paulus-Apokalypse, Visio Pauli, Visio Tnugdali). In: Mlat. Jb. 46 (2011), S. 229–243 und Benz (2013). 289 Als zentrale Funktionen der Reise entfaltet diese Begriffe Weitbrecht (2011), S. 14–19. 290 Weitbrecht (2011), S. 207.
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Auf diese Weise wird ein Zusammenhang zwischen theologischer Konzeption, narrativer Form und der Konstruktion von Heiligkeit fassbar. Zugleich wird die Koppelung von Transzendierung und Reise auch als literarisches Motiv in anderen generischen Zusammenhängen auffindbar. Im ‚Väterbuch‘ ist die Reise in oder durch die Wüste von zentraler Bedeutung. Dabei ist die durchreiste Wüste mehr als nur eine unwegsame Landschaft. In ihrer Leere und Kargheit und den Beschwernissen, die sie den Reisenden auferlegt, ist die Wüste eine Verbildlichung der Askese,291 der sich die darin lebenden Wüstenväter unterwerfen, und bestimmt deshalb auch das symbolische Programm und die Poetik des Textes. Die Wüste ist nicht allein der ‚Ort‘, an dem sich die Handlung abspielt, sondern auch die Bedingung der entworfenen Lebensform. Der Gang in die Wüste ist eine äußere Reise und eine innere Wandlung, eine Abwendung vom bisherigen Leben und eine Hinwendung zu Gott. Gleichzeitig erscheint die Wüste als ein Raum der Begegnung der Eremiten miteinander und als Ort, an dem sich deren neue heilige Gemeinschaft in Abgrenzung von der weltlichen Gesellschaft konstituieren kann. Im literarischen Text wird die Reise zugleich zu einer imaginären Wanderung, auf die sich die Rezipienten begeben können. Judentum und Christentum sind in ihren Ursprüngen, anders als die antiken Religionen, eng mit der Wüste verbunden.292 Mit der vierzigjährigen Wüstenwanderung des Volkes Israel, die im Buch Exodus festgehalten ist, wird die Wüste in der Bibel als zentrales Motiv eingeführt. Sie ist dort mit dem leeren Urzustand unmittelbar nach der Erschaffung der Welt (1. Mose 1,2: „die Erde war wüst und leer“) verbunden. Die Wüste ist zugleich Ursprungsort, Raum der Prüfung und sie symbolisiert die ambivalente Spannung zwischen Auslöschung und der Verheißung des gelobten Landes.293 Sie stellt einen Schwellenraum dar, den das Volk Israel zwischen der Berufung Abrahams und der Ansiedlung in Kanaan im Hexateuch durchschreiten muss. Doch die Wüste ist nicht nur ein Durchgangsraum, sondern auch der Ort, an dem sich das Heilige manifestiert. Als die von Moses geführten Israeliten ob der Entbehrungen in der Wüste zu murren beginnen und sich zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnen, ruft Aaron das Volk zusammen, und „als Aaron zur ganzen Gemeinde der Söhne Israels redete und sie sich zur Wüste hin-
291 Vgl. Keller (2010), S. 196. 292 Vgl. Le Goff, Jaques: Die Waldwüste im mittelalterlichen Abendland. In: Phantasie und Realität des Mittelalters. Aus dem Französischen von Rita Höner. Hrsg. von Jaques Le Goff. Stuttgart 1990, S. 81–97; besonders S. 81–84 und Rapp, Claudia: Desert, City and Countryside in the Early Christian Imagination. In: Church History and Religious Culture 86 (2006), S. 93–112; hier S. 94. 293 Vgl. Keller (2010), S. 192.
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wandten, siehe, da erschien die Herrlichkeit des HERRN in der Wolke“ (2. Mose 16,10). Die Hinwendung zur Wüste ist zugleich eine Hinwendung zu Gott und zum Heiligen. Die Vorstellung, dass die Gotteserscheinung sich in der Leere der Wüste ereignet, prägt die gesamte jüdische und christliche Kultur. Mit der Versuchung Christi durch den Teufel in der Wüste, wie sie bei den Synoptikern294 dargestellt ist, tritt zu Entbehrung und Verheißung ein weiterer Aspekt hinzu. Christus wird „von dem Geist in die Wüste hinaufgeführt, um von dem Teufel versucht zu werden“ (Mt 4,1 f.). Die Wüste ist hier ein Raum der Prüfung, der Versuchung und des Opfers, der Gang in die Wüste erscheint als ein Aussetzen seiner selbst. Im christlichen Kontext ist die Wüste somit nicht allein eine bestimmte Landschaftsform, sondern gewinnt den Charakter eines Anders-, Gegen- oder Grenzraumes, denn in ihr haben hergebrachte Formen von Zivilisation und Ordnung keinen Bestand. In der Wüste ereignen sich sowohl die Versuchungen des Bösen als auch die Theophanie. Entsprechend groß ist ihre Bedeutung in der monastischen Kultur und Literatur. Die Wüste, das heißt die Selbstaussetzung, Versuchung und Gottesbegegnung in der Menschenleere, spiegelt sich im Leben der Mönche und seinen Verheißungen. Das ‚Väterbuch‘ schildert, wie sich die Eremitenbewegung nach der ersten Vätergeneration in den Wüsten des Nahen Ostens ausbreitet. Diese Beschreibungen, die sich in den ‚Vitaspatrum‘ nicht finden,295 betonen die Vielfalt eremitischer Lebensformen: Sich breite der tugende schar In der wůste her und dar, In clostern und in clusen Und in der stete husen. (V. 3399–3402)
Die unterschiedlichen Räume – Klöster, Einzelzellen und Zellen in den Städten – stehen für unterschiedliche, aber gleichwertige Formen der Lebensgestaltung und des Zusammenlebens. In Klöstern finden sich Gemeinschaften zusammen, die ihr Leben miteinander führen, wenngleich es sich auch hierbei um anachoretische Gemeinschaften handeln kann, also Verbände, innerhalb derer jeder Einzelne seine eigene Form des Gottesdienstes praktiziert. Aber auch allein lebende Einsiedler pflegen, ähnlich wie der heilige Antonius, Gemeinschaftlichkeit. Zum
294 Vgl. Mt 4,1–11 parr. 295 Vgl. Hohmann (1909), S. 26.
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einen ist Gott stets bei ihnen und zum anderen sind alle Eremiten durch den Gottesdienst Angehörige einer größeren Gemeinschaft: Sumelicher was alleine, Dem idoch Got stete was bi, Etswa zwen oder dri. Ir were minner oder me, Si vlizzen sich uf Gotes ê Mit unvelschlichem sinne Eintrehtec in der minne. (V. 3412–3418)
Bereits der Prolog des ‚Väterbuchs‘ hat die minne als einen zentralen Aspekt des Spiritualitätsentwurfs eingeführt. Hier wird daran wieder angeschlossen. Im ,Reiseteil‘ bildet minne erneut einen zentralen Aspekt eremitischen Lebens, indem sie die Einheit der Brüder untereinander und mit Gott stiftet. Durch die universelle Gültigkeit des Minnegebots sind zudem die im Prolog adressierten Rezipienten mit den Figuren verbunden. Doch die Bedingung für die neue Gemeinschaft mit Gott und den anderen Einsiedlern ist immer die Entfremdung von den weltlichen Zusammenhängen. Sie hat ihren Ausdruck in der Bezeichnung der Eremiten als peregrini gefunden, denn der Begriff des peregrinus bezeichnet einen Menschen, der aus der Fremde stammt.296 Ursprünglich ein römischer Rechtsbegriff für diejenigen, die nicht die Bürgerrechte genießen,297 gewinnt peregrinus im Zuge der monastischen Bewegung eine neue, religiöse Bedeutung. Das asketische Ideal des Rückzugs aus weltlichen Zusammenhängen um der jenseitigen Verheißung willen verlangt nach einem Akt des sich selbst fremd Machens. Peregrini sind nicht mehr die Fremden, sondern so heißen nun jene Christen, die, „um diese Sehnsucht nach dem Jenseits in sich zu nähren, freiwillig auf alles verzichte[n], was [sie] auf dieser Erde seßhaft machen könnte“.298 So waren die Wüstenväter selbstverständlich peregrini, ebenso wie Christus aufgrund der asketischen Züge seines Lebens als peregrinus bezeichnet wurde.299 Der Raum, in dem das Fremdwerden und die Absonderung vollzogen werden, ist für die ersten christlichen Eremiten die Wüste. Sie bestimmt in dieser Funktion das gesamte ‚Väterbuch‘, hat aber im ‚Reiseteil‘ eine besondere Stellung.
296 Vgl. Leclerque, Jean: Mönchtum und Peregrinatio im Frühmittelalter. In: RQ 55 (1960), S. 212–225; hier S. 212. 297 Vgl. Kühne, Hartmut: [Art.] Wallfahrt/Wallfahrtswesen V: Kirchengeschichtlich. In: TRE. Bd. 35. Berlin/New York 2003, S. 423–430; hier S. 423. 298 Leclerque (1960), S. 215. 299 Vgl. Leclerque (1960), S. 214.
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7.1 Die Wüstenreise als Modus der Erfahrung und des Erzählens Der Reiseteil des ‚Väterbuchs‘ berichtet, wie im späten 4. Jahrhundert eine Gruppe von Mönchen aus Jerusalem in die Wüste aufbricht.300 Sie wollen die Eremiten treffen, die sich in Ägypten der christlichen Einsiedlerbewegung angeschlossen haben und in die Wüste gezogen sind, um dort Gott näher zu sein. Die reisenden Mönche hoffen, in den Wüstenvätern Vorbilder für ein christliches Leben, Lehre und Rat zu finden: Dar nach in einer zit geschach Daz man ein teil bruder sach Von Jerusalem uz gan In gutem sinne, uf guten wan, Daz sie die alten veter gůte Beschouweten und ir demůte Und daz sich merte ir selden vruht Von ir lere und von ir zuht Und von ir reinem bilde. In der wůsten wilde Vil hohen ungebanten stic, Manige lange crumme wic An grozer arbeitlicher phlege Giengen si mit unwege Ubir gebirge und uber tal. Biwilen was ir wec smal, Der si idoch so verre trůc Daz si des vunden genůc Dar umbe ir iegelicher uz quam. Do diu vart ein ende nam, Sine guͤ te ir einen dar zů treib Daz er uf bezzerunge schreib Swaz si horten und sân, Daz in ê wart kunt getan Von der reinen veter munt, Als iu hie sal werden kunt. Er sprach: ich wil durch nutz iu sagen Wie uns in den selben tagen Geoffebaret vil gutes wart. Wir quamen an der ersten vart In daz lant Thebayda. (V. 3419–3449)
300 Vgl. zur Einführung Frank (1967), S. 9–25.
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Die Reisenden sind bruder, gehören also selbst einer christlichen Gemeinschaft an, die in Jerusalem ansässig ist. Der Besuch bei den Wüstenvätern stellt eine Art religiösen ‚Tourismus‘ dar, denn die Lebensform der Eremiten in der Wüste, zu der regelmäßiger Kontakt untereinander gehört, betrifft die Reisenden nicht. Allerdings wollen sie dennoch die Wüstenväter besuchen, um von ihrem Vorbild zu profitieren. Der Weg dorthin gleicht in seiner Schwere dem Weg, den Antonius in die Wildnis genommen hatte,301 doch stellt er für die Reisenden keine asketische Übung dar. Während Antonius es sich erhoffte, durch die Schwere des Weges Gott näher zu kommen, erdulden die reisenden Brüder diese Beschwernis, um den Wüstenvätern näher zu sein. Ihr Ziel ist nicht Entfremdung, sondern Annäherung und Vernetzung. Sie sind in diesem Sinne, anders als die Eremiten, keine peregrini, sondern eher ‚Wallfahrer‘,302 die aus Gründen der Frömmigkeit eine Reise unternehmen, um vom Charisma der Wüstenväter zu profitieren. Um das Erlebte für die Nachwelt festzuhalten, beschließt einer der Reisenden nach ihrer Heimkehr, einen schriftlichen Reisebericht abzufassen. Mit diesem Bericht thematisiert der Text einen medialen Wandel: Während die Kommunikation zwischen den Eremiten vor allem durch gegenseitige Visitationen und Kontakt realisiert wird, ermöglicht der schriftliche Bericht eine umfassende Vermittlung außerhalb der Wüste. Es werden Schriftexperten inszeniert, die das Wissen der Eremiten angemessen aufzeichnen und distribuieren können. Dieser Übergang der Verantwortung für das kulturelle Gedächtnis auf der Handlungsebene ist zugleich mit einem narrativen Perspektivwechsel verbunden: Es sind nun die Aufzeichner, die Schriftgelehrten, durch deren Augen die Eremiten gesehen und von denen die zu vermittelnden Lehren ausgewählt und weitergegeben werden. Hier thematisiert der Text eigene Schriftlichkeit und die damit einhergehende Dissoziation von unmittelbarer Erfahrung der Wüste und Belehrung durch die Eremiten. Damit prägt die Reiseerzählung in den ‚Vitaspatrum‘ und im ‚Väterbuch‘ ein anderes Konzept als etwa hagiographische Texte, die Jenseitsreisen darstellen. Weitbrecht betont für diese die Rolle der Reisenden; sie sind unterwegs und „in ihrer Bewegung im Raum ‚passiert‘ etwas mit ihnen.“303 Der Weg wird in den von Weitbrecht untersuchten Texten zur sukzessiven Entwicklung oder Entfaltung der Identität des Heiligen. Im ‚Reiseteil‘ des ‚Väterbuchs‘ kommt den Reisenden
301 Vgl. dazu noch einmal die oben bereits zitierten Verse 1253–1259. 302 Zur Wallfahrt vgl. Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 132–137. Angenendt konzentriert sich zwar sehr auf den Heiligenkult und folglich auf die Wallfahrt zu Gräbern oder Aufbewahrungsorten von Reliquien, doch gleicht das von ihm Beschriebene der Reise zu den Wüstenvätern in vielem. 303 Weitbrecht (2011), S. 9.
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hingegen vor allem eine Rolle als Vermittler zu. Zwar akkumulieren sie während der Reise Wissen über das Leben und Lehren der Wüstenväter und gewinnen damit auch etwas für sich selbst, doch sind die eigentlichen Protagonisten der Handlung die Eremiten. Ihr Leben und ihr Lebensraum werden durch die Reiseerzählung, welche die sukzessive Erschließung des Raumes in ein narratives Syntagma überführt, dargestellt. Im Reisebericht wechseln sich kurze Erzählungen von den Fährnissen der Reise und längere Darstellungen der Besuche bei den Eremiten ab. So entwickelt sich im Lauf des Berichts nicht nur ein umfassendes Bild der verschiedenen Formen der Einsiedelei, sondern auch eine Vorstellung von der durchreisten Landschaft. Der Raum der Wüste als Bedingung und Symbol der Askese wird so eindrücklich inszeniert. Zudem zeigt sich in der Vielfalt der dargestellten Lebensentwürfe, dass die Wüstenvätererzählungen weniger als andere legendarische Erzählformen auf den Einzelnen ausgerichtet sind. Einerseits gilt zwar auch hier, dass sich Heiligkeit „stets als normativer Bruch und als Störung der Welt dar[stellt], weil sie bestehende Ordnungen kategorial unterläuft und in Frage stellt, wenn sie mit sozialen Erwartungen kollidiert“304, denn die Eremiten verlassen ihre weltlichen Beziehungen und vereinzeln sich. Andererseits wird diese Exklusionslogik zurückgenommen, denn die Eremiten bilden miteinander neue Gemeinschaften. Für die Reise als Modus der Raumerfahrung in diesem Teil des ‚Väterbuchs‘ ergeben sich drei zentrale Aspekte: 1) Die Reise der Mönche gewinnt ihre Bedeutung daraus, dass sie den Raum der Wüste, der für die Askese der ägyptischen Väter konstitutiv ist, erschließt und bewältigt.305 Durch die Reise wird die Geographie der Thebais auch für die Rezipienten erfahrbar. Während für den Asketen selbst die Entbehrung in dem Augenblick beginnt, in dem er den zivilisierten Raum verlässt und in die Wüste geht, fehlt dem Rezipienten die Unmittelbarkeit der Entbehrungserfahrung. Die Wüste muss imaginativ hergestellt werden, um die Handlung zu verstehen und die Askeseerfahrung nachvollziehen zu können. 2) Die Reise erscheint als ein Modus der sukzessiven Erschließung der Kultur der Wüstenväter. Die Diversität der eremitischen Lebensformen, die durch das gemeinsame Ideal der Gottesnähe in der minne zugleich eine Einheit ist, erschließt der Reisebericht performativ durch das Fortschreiten von einem Einsiedler zum
304 Weitbrecht (2011), S. 24. 305 Benz (2013), S. 155 formuliert den Gedanken der Reise als Form der narrativen Entfaltung eines Raumes bereits für die Jenseitsdarstellung in der Visio Tnugdali. Ebenso wie den Umstand, dass im Lauf der Erzählung die topographischen und topologischen Darstellungsformen interferieren, was sich für die Wüste im ,Reiseteil‘ ebenso beschreiben lässt.
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nächsten. Dabei können unterschiedliche Wüstenväter auch für unterschiedliche Aspekte des asketischen Lebens stehen. 3) Mit der sukzessiven Vermittlung des Reiseberichts geht die narrative Struktur einher, die durch einen andauernden Wechsel von Bewegung im Raum, Begegnung, Belehrung, Abschied und erneuter Bewegung bestimmt ist. Den engen Zusammenhang zwischen Reisen, Erzählen und Heiligung illustriert eine Geschichte über den heiligen Helenus, die den Reisenden vom Wüstenvater Copres erzählt wird. Der Erzähler leitet sie wie folgt ein: Copres, der gute man, Durch unsern willen do began mit rede vurbaz wandern Und sagete und von eime andern. (V. 8899–8902)
Im Zitat wird deutlich, wie stark die Reise und das Erzählen im ,Reiseteil‘ des ‚Väterbuchs‘ miteinander verschaltet sind. Die Erzählung des Copres wird als ein Abschreiten der Einsiedeleien in der Thebais imaginiert. Erzähler und Rezipienten ‚erwandern‘ sich die Wüste und damit zugleich das asketische Programm der Eremiten. Copresʼ Erzählung von Helenus beginnt in dessen Kindheit, geht aber schnell zu seinem Rückzug in die Wüste über, der von einer Versuchung durch den Teufel begleitet wird. Den in der Wüste wandernden Helenus gelüstet es plötzlich nach Honig, woraufhin der Teufel das Ersehnte herbeischafft, indem er mitten in der Wüste Honig über einen Stein fließen lässt. Helenus verschmäht den Honig jedoch, weil er ihn als eine Teufelslist erkennt. Er verweist auf ein Wort des Paulus: Wandert in dem geiste Und seht daz ir iht gewert Daz vleische mit lust, swes ez gert. (V. 8962–8964)
Helenus zitiert den Galaterbrief, in dem es heißt: „Wandelt im Geist, und ihr werdet die Begierde des Fleisches nicht erfüllen.“ (Gal 5,16). Der Verweis ist an dieser Stelle bedeutsam, denn in der entsprechenden Passage des Galaterbriefes erläutert Paulus die christliche Ethik und Helenus schließt intertextuell an diese Formulierung von Lebensregeln an. Dabei werden Paulus, Helenus, die Reisenden und die Rezipienten durch die Wanderschaft verbunden, die bei einigen realiter, bei anderen als imaginäre Praxis ‚im Geist‘ stattfindet und die narrativ vermittelt werden kann.
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Aus der beschriebenen Konstruktion lässt sich eine These zur Poetik des Textes gewinnen: Die Erzählung von der Wanderung durch die Thebais zielt auf ein, immer auch inneres, Abschreiten der monastischen ‚Topoi‘, wobei die Wüste, die das Mühevolle der Reise ausmacht, den asketischen Aspekt dieses Prozesses repräsentiert. Die Reise ermöglicht eine sukzessive Aneignung und erinnernde Vergegenwärtigung des Wissens der Wüstenväter. Sie ist zugleich selbst religiöse Performanz und asketische Praxis im Imaginären. Die Begegnungen mit den Eremiten werden im ‚Reiseteil‘ unterschiedlich erzählt. Eva Schulz-Flügel unterscheidet für die Vorlage des ,Reiseteils‘ im Anschluss an Richard August Reitzenstein vier Formen: Erstens die einfache Beschreibung des Wüstenvaters und seiner Anhänger durch die Reisenden, zweitens die Wiedergabe der Vita des Wüstenvaters, drittens die abgeschlossene Erzählung eines Ereignisses im Leben des Wüstenvaters, viertens die lose Reihung von Apophthegmen und kleinsten narrativen Versatzstücken.306 Für die ins ‚Väterbuch‘ aufgenommenen Erzählungen trifft praktisch keine der Kategorien eindeutig zu, sondern es handelt sich immer um Mischformen, bei denen mal die eine, mal die andere Tendenz im Erzählen überwiegt.307 Dennoch sind mit den vier Typen grundlegende narrative Muster des ‚Reiseteils‘ benannt.308 Gegenüber dem lateinischen Text ist im ‚Väterbuch‘ das Bemühen erkennbar, stärker zu verbinden und zu vermitteln. Anders als die ‚Antoniusvita‘ stimmt aber der ‚Reiseteil‘ inhaltlich weitgehend mit dem entsprechenden Abschnitt in den ‚Vitaspatrum‘ überein.309 Auch dort bildet der Bericht von der Reise durch die ägyptische Wüste den zweiten Teil. Er trug ursprünglich den Titel ‚Historia monachorum‘ und wurde von Rufinus von Aquileia verfasst beziehungsweise
306 Vgl. Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 8 f. 307 Auch für die von Schulz-Flügel explizit benannten Erzählungen in den ‚Vitaspatrum‘ ist die Unterscheidung aus meiner Sicht nicht immer eindeutig möglich. 308 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Erzählung vom heiligen Apollonius dem Märtyrer (der nicht mit dem weiter unten behandelten Abt Apollonius zu verwechseln ist). Über die Herkunft der Geschichte wird nur angegeben, sie sei den Reisenden von den Alten erzählt worden (V. 9729). Es handelt sich dabei um eine der wenigen Märtyrerlegenden im ‚Väterbuch‘ und um die einzige im ,Reiseteil‘. Apollonius wird gefangen genommen und bekehrt daraufhin seinen Richter zum Christentum. Der erzürnte Herrscher des Landes ertränkt ihn und seinen Anhänger im Meer. Die Strömungen tragen jedoch alle Toten gemeinsam zurück ans Land, woraufhin sie von Christen heimlich begraben werden. Dieses Grab, und hier schließt sich der Kreis, sehen die reisenden Brüder unterwegs. 309 Die Kapitelanordnung weicht allerdings gegenüber der Rosweyde-Ausgabe entsprechend der Überlieferungsgruppe ε der ‚Vitaspatrum‘ ab, zu der offenbar die Vorlage des Schreibers gehörte. Vgl. zur Überlieferung der ‚Vitaspatrum‘ Abschn. 3.3 dieser Arbeit.
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übertragen.310 Nur gelegentlich nimmt der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ kleinere Teilstücke aus dem dritten Buch der ‚Vitaspatrum‘ auf. Den größten Umfang haben im ‚Väterbuch‘ die Berichte von den Begegnungen der Reisegruppe mit den Eremiten Johannes von Ägypten, Apollonius und Copres. Jeder dieser drei verkörpert zudem einen anderen Aspekt der Eremitenbewegung. Im Folgenden werden diese drei Eremiten deshalb exemplarisch vorgestellt.
7.2 Das Wirken des Wüstenheiligen (Johannes von Ägypten) Der heilige Johannes von Ägypten sei, so heißt es im Text, derart vertraut mit Gott, daz er von sime gebote / vil kumftiger dinge sprach (V. 3460 f.). Johannes’ Nähe zu Gott, die sich in der Fähigkeit zum Weissagen ausdrückt, bewegt die reisenden Mönche dazu, ihn als ersten der Wüstenväter in der Thebais aufzusuchen. Der Bericht von der Begegnung mit Johannes besteht im ‚Väterbuch‘ aus drei Teilen, die unterschiedliche narrative Muster aufweisen. Den ersten Teil bilden zwei Mirakel des heiligen Johannes. Sie gehören ebenso wie die Prophetie zur fama des Einsiedlers, aufgrund derer die Reisenden ihn aufsuchen. Den zweiten Teil bildet die initiale Begegnung der Reisenden mit Johannes. Sie ist ebenfalls mit einem Wunder verbunden, in welchem die Heiligkeit des Eremiten zum Ausdruck kommt. Der dritte Teil besteht aus einem Lehrgespräch zwischen Johannes und den Reisenden, während dessen der Eremit den Reisenden verschiedene Exempel vorlegt. Bei genauer Betrachtung weisen alle drei Teile unterschiedliche Formen der Vermittlung auf, wodurch das Thema der Weitergabe von Wissen zunächst nicht inhaltlich, sondern strukturell virulent wird. Die beiden Mirakel werden als Erzählungen in der Erzählung vermittelt. Die Reisenden hören sie und geben sie in ihrem Reisebericht schriftlich wieder. Die Begegnung mit Johannes ist durch
310 Die Übersetzung der ‚Historia monachorum‘ im ‚Väterbuch‘ wird hier als ‚Reiseteil‘ bezeichnet. Die ‚Historia monachorum‘ liegt glücklicherweise in einer neueren kritischen Edition von Eva Schulz-Flügel vor, sodass für die folgenden Überlegungen ein gesicherter lateinischer Text zum Vergleich herangezogen werden kann. Der Vergleich ist notwendig, weil der ‚Väterbuch‘Verfasser zwar inhaltlich dem lateinischen Text folgt, ihn jedoch an wichtigen Stellen präzisiert und amplifiziert. Die Entstehung der ‚Historia monachorum‘ ist nicht letztgültig geklärt. Fest steht inzwischen, dass sie ursprünglich in griechischer Sprache abgefasst und von Rufinus von Aquileia ins Lateinische übersetzt und überarbeitet wurde. Vgl. dazu Rufinus: Historia (Übersetzung Schulz-Flügel 2014), S. 11–13. Vgl. für eine umfassende Beschreibung der Stoffgenese die Ausführungen von Schulz-Flügel in Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 3–89.
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die Augenzeugenschaft der Reisenden geprägt. Sowohl die Lebensform des Einsiedlers als auch das sich ereignende Wunder werden unmittelbar von den Reisenden erlebt. Das Lehrgespräch mit Johannes enthält wiederum eigene Erzählungen. Der Eremit berichtet von ihm bekannten Brüdern, um seine Lehren zu exemplifizieren. Dabei geht es exempeltypisch nicht um die eigentliche Handlung, sondern um den Sinn der Erzählungen. Im Bericht über den heiligen Johannes werden so unterschiedliche Grade der Vermittlung miteinander verwoben und es entsteht ein Gefüge von auffälliger erzählerischer Komplexität, wodurch die narrativen Modi des Wissenstransfers als Thema hervortreten. Wie zu zeigen sein wird, spiegelt sich diese Auffälligkeit auf strukturaler Ebene und im Inhalt des Textes. Die Anordnung der einzelnen Wüstenväter kann in den ‚Vitaspatrum‘-Versionen variieren. Die Figur des heiligen Johannes ist davon jedoch nicht betroffen, sondern sie steht immer an erster Stelle innerhalb der ‚Historia monachorum‘. Zu dieser Schlüsselposition könnten zwei Aspekte beigetragen haben, von denen die Darstellung des heiligen Johannes besonders bestimmt wird: Erstens thematisiert der Text mehrfach die Weitergabe der Lehren der Wüstenväter im Hinblick auf deren wachsender Menge und Popularität. Zweitens befasst sich der Text mit dem Verhältnis von (ritualisierter) Lebensweise und innerer Haltung. In den beiden Mirakeln am Anfang des Berichts von Johannes steht neben dem Eremiten jeweils eine weibliche Figur im Mittelpunkt. Dieser Umstand ist in Anbetracht der homosozialen Ausrichtung der Eremitengemeinschaften bemerkenswert. Es gehört zu den Lebensprinzipien vieler der im ‚Väterbuch‘ dargestellten Eremiten, dass sie die Anwesenheit von Frauen meiden, weil diese ihre Keuschheit gefährden. Auch Johannes spricht mit Männern, verweigert es aber, sich Frauen auch nur zu zeigen. Diese asketische Haltung widerspricht jedoch der Rolle der Wüstenväter als Vermittler zwischen Menschen und Gott, wobei kein Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht wird: Johannes gefährdet das Seelenheil der Frauen, die er nicht zu sich vorlässt. Dabei erscheint das Geschlecht nur als zusätzlicher Faktor,311 denn die Anwesenheit von Anhängern und jede Form von Öffentlichkeit stellt immer eine Gefährdung der Demut des Eremiten dar, die Bedrohung der Keuschheit tritt verstärkend hinzu.
311 Auf die Bedeutung des Geschlechts im ‚Väterbuch‘ wird noch einmal in der Diskussion des ‚Legendenteils‘ ausgiebiger zurückzukommen sein (vgl. Kap. 9 dieser Arbeit). Allerdings beschäftigt sich auch der ‚Reiseteil‘ im ‚Väterbuch‘ immer wieder mit der Frage nach dem Umgang mit Frauen. So handelt etwa die vorletzte Erzählung (V. 11115–11250) darin von einem Wüstenvater, der von einer Jungfrau versorgt und daraufhin verdächtigt wird, ein unheiliges Verhältnis mit ihr eingegangen zu sein. Er ,beweist‘ das Gegenteil, indem er vorhersagt, dass sein Stab auf seinem Grab Wurzeln schlagen und Früchte tragen werde, was auch geschieht.
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Johannes, der jeden Kontakt mit Frauen vermeidet, gerät in die dilemmatische Situation, dass eine Frau ihn unbedingt zu sehen wünscht, deren Leben beziehungsweise Seelenheil unmittelbar von dieser Begegnung abhängt. Der Eremit wird von deren Ehemann aufgesucht, der inständig darum bittet, Johannes möge seiner Ehefrau einen Besuch gestatten. Die Frau ist krank und der Mann befürchtet, dass sie sterben könnte, wenn Johannes ihr den Wunsch versagt. Der Einsiedler ist nun in der schwierigen Lage, entweder seine strenge Lebensregel aufzugeben oder das inständig bittende Ehepaar sich selbst zu überlassen. Die Lösung in diesem Konflikt kann nur ein göttliches Wunder bringen, das vor allem einen Wandel des Vermittlungsgrades mit sich bringt. Johannes erscheint der Frau im Traum, lässt sich von ihr ansehen und sagt ihr, dass er ihrem Wunsch zwar jetzt entsprochen habe, dass das aber in Zukunft so nicht mehr geschehen solle: Idoch wil ich dich eines biten, Daz wol ist vor Gote rehte: Du solte dekeinen Gotes knehte Nimmer begeren zů schouwen. Daz zimet wol allen vrouwen. Swaz man dir gutes von in seit, Dem volge! daz ist ein selicheit Die dich zuhet an gůte phlege. (V. 3570–3577)
Mit dieser Anweisung wird zugleich die Heilung der Frau vollzogen. Johannes installiert mit von Gott qua Wunder verliehener Autorität eine Ordnung, nach der die Frauen an der Heiligkeit der Wüstenväter partizipieren können, indem sie von ihnen erzählen hören und sich die Erzählungen zum Beispiel nehmen. Gleichzeitig müssen sie aber auf die leibhaftige Begegnung mit ihnen verzichten, weil diese für die Eremiten problematisch ist. Damit wird eine Vermittlungsebene eingezogen, durch welche die Eremiten nicht mehr leibhaftig in Kontakt mit ihren Anhängerinnen treten müssen. Die Frauen können nun an ihrem Charisma und ihren Lehren durch Erzählungen partizipieren. Das zweite im ‚Väterbuch‘ aufgenommene Mirakel berichtet von einer Frau, die blind ist und durch ihren Mann um die Hilfe des Eremiten bittet. Hier wird die Rolle des Mediums der Heiligkeit nicht von einem Traum, sondern von gesegnetem Öl übernommen. Johannes segnet Öl und die Frau wird von ihrer Blindheit geheilt, nachdem es ihr auf die Augen gestrichen wurde. Spätestens diese Heilung begründet Johannesʼ Ruhm:
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Alsus wart dicke offenbar Diu ummezige selicheit Diu an Johannem was geleit. (V. 3720–3722)
Johannesʼ Wirken wird hier mit den ausgesandten Aposteln verbunden, denn diesen wird seit dem Markusevangelium die Fähigkeit zur Krankenheilung zugeschrieben: „Und sie zogen aus und predigten, dass sie Buße tun sollten; und sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Schwache mit Öl und heilten sie.“ (Mk 6,12 f.). Zwar ist die Salbung mit Öl ein im Christentum weit verbreiteter Brauch, doch ist umstritten, wer das Recht zur Segnung des Öls hat. Im Brief des Jakobus heißt es: „Ist jemand krank unter euch? Er rufe die Ältesten der Gemeinde zu sich, und sie mögen über ihm beten und ihn mit Öl salben im Namen des Herrn.“ (Jak 5,14 f.) Die ‚Vulgata‘ spricht von den presbyteros ecclesiæ, was zwar nicht unbedingt das Amt des Priesters meinen muss, aber entsprechend ausgelegt worden ist. Spätestens seit Innozenz I. im 5. Jahrhundert Entsprechendes verfügt hat, haben allein Bischöfe das Recht zur Ölsegnung.312 Johannes übernimmt damit, jedenfalls aus der Sicht der mittelalterlichen ‚Väterbuch‘-Rezipienten, die Funktion eines Priesters, gar Bischofs.313 Neben dem Rekurs auf die Praxis der Krankensalbung thematisiert die Mirakelerzählung von der blinden Frau aber auch einen Aspekt des Medialen. Die Partizipation an der Heiligkeit der Wüstenväter ist nicht nur per Erzählung, sondern auch per gesegneter Substanz möglich. Hier ist es das Öl, an anderer Stelle segnet Johannes Erde, um eine reiche Ernte zu ermöglichen. Beide Mirakelerzählungen thematisieren die Übertragung der Heiligkeit der Wüstenväter unter Verzicht auf die körperliche Präsenz. Dass dieser Aspekt am Beispiel der Begegnung mit Frauen verhandelt wird, liegt daran, dass die Anwesenheit von Frauen in besonderer Weise ein Problem für die Einsiedler ist. Die entwickelten Regeln und Lösungen gelten ebenso für Männer. Würde jede und jeder die Eremiten in der Wüste aufsuchen, wäre deren Askese praktisch unmöglich. Die Lösung für dieses Problem ist eine Emphase der Vermittlung. Das Problem, welches für die Eremiten durch den steten Strom der Bewunderer entsteht, wird bei der ersten Begegnung der Reisenden mit dem Heiligen
312 Vgl. Vorgrimler, Herbert: [Art.] Krankensalbung. In: TRE. Bd. 19. Berlin/New York 1990, S. 664–669; hier S. 665. 313 Gleichzeitig muss allerdings eine Spannung zwischen der Darstellung und der Ordnung im 13. Jahrhundert bestanden haben, denn nach den ‚Statuta Bonifacii‘ im 9. Jahrhundert war es Priestern unter Androhung der Absetzung verboten, das Salböl an Laien weiterzugeben.
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Johannes deutlich. Der Eremit hat sich weit von der Zivilisation zurückgezogen und seine Zelle ist nur sehr schwer zugänglich: Der zůganc was harte Den man zů siner cellen gie: Idoch man des niht enlie, Man sůhte in sere Durch nutz und durch lere. (V. 3476–3480)
Um diesem Ansturm zu begegnen, zeigt sich Johannes den Besuchern nur durch ein Fenster, durch das er auch mit ihnen spricht. Die offenkundige Spannung zwischen dem unsozialen Aspekt des asketischen Rückzugs und der sozialen Funktion als Lehrer und Führer findet ihren Ausdruck in der Vorstellung des Heiligen, der niemanden in seine Zelle lässt, jedoch durch das Zellenfenster dialogisiert, lehrt und segnet. Den reisenden Mönchen tritt Johannes allerdings gegenüber. Die folgenden Verse schildern das Leben des Johannes, wie es die Reisenden wahrnehmen. Johannes weigert sich, von seinen vielen Besuchern etwas anzunehmen, sodass er in großer Armut lebt (V. 3879). Indem er nur wenig zu sich nimmt, bekämpft er die fleischlichen Begierden. Er ist sehr dünn (V. 3890 f.) und isst am Tag nur eine Mahlzeit. Er verspeist außerdem nichts, was auf dem Feuer gekocht oder gebraten wurde (3906 f.). Durch das Fasten sind dem Eremiten Haare und Bart ausgefallen. Im Anschluss kehrt die Erzählung unmittelbar zum Thema Vermittlung und Präsenz zurück. Johannes fragt nach dem Grund des Kommens der Reisenden. Sie verweisen daraufhin auf die Wahrhaftigkeit dessen, was man mit eigenen Augen gesehen hat: Wir horten dich uns kunden Und vil tugende von dir jehen: Daz wolle wir horen und sehen Durch unser bezzerunge. Swaz man mit der zunge Vremden vremdes geseit, Daz wirt lihtecliche virleit In des virgenzens tougen; Swaz man mit den ougen Gesicht und mit oren hort, Daz wirt niht lihtechlich zustort, Wan ez mac steter bliben so. (V. 3934–3945)
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Die Reisegruppe greift damit ebenfalls das Problem des Sehens und der Vermittlung auf. Sie misstrauen dem Bericht anderer, weil das von anderen Berichtete zu leicht wieder vergessen würde. Johannes argumentiert entgegengesetzt: An ihm und den Seinen wäre nichts Bemerkenswertes zu sehen und schließlich würden ja auch die Evangelien in der Kirche verlesen und dadurch nicht in ihrer Bedeutung geschmälert. Sie wären vielmehr ein Vorbild und Beispiel für die Gläubigen. Die Vermittlung durch das Wort wird hier durch einen Wüstenvater gegenüber der eigenen Wahrnehmung aufgewertet. Das Entscheidende ist nicht, zu sehen, sondern zu hören beziehungsweise zu lesen. Johannes ist deshalb sehr verwundert darüber, dass die Mönche die Mühe der Reise auf sich genommen haben. Zugleich kann Johannes eine Aussage über das Leben der Eremiten machen, die auch deren Heiligkeit betrifft: Nu merket unser crancheit, Diu iuch beduncket heilicheit! Wir enturren uns niht getruwen, Wir můzen uns virbuwen Zů bliben in der celle Durch der sunden snelle, Die sich gern an den wischet Der sich zur werlde mischet. (V. 3983–3990)
An dieser Stelle entfaltet Johannes den Gegensatz zwischen äußerem Schein und innerem Sein der Einsiedler. Was nach außen als Heiligkeit erscheint und entsprechende Attraktivität erzeugt, ist nach innen eine Reaktion auf eine Schwäche gegenüber der Welt, der die Einsiedler nicht anders als mit dem Rückzug aus dieser Welt begegnen können. Die Einsiedler sind von außen betrachtet heilig, können es aber für sich selbst niemals sein, ohne ihre Demut aufzugeben. Dabei wird der Gegensatz von außen und innen auch mit dem Gegensatz von Sehen und Lesen beziehungsweise Hören verbunden, wobei die Wahrnehmung der inneren Wahrheit von Johannes der Erzählung und nicht der eigenen Anschauung zugeschrieben wird. Die Frage nach dem Verhältnis von innen und außen bestimmt auch die drei folgenden Exempel, die Johannes den Besuchern im Zuge des sich entspinnenden Lehrdialogs gibt. Er erzählt nämlich von einem Mönch, der sich zu viel auf die eigene Askese einbildet und in Sünde fällt, von einem Sünder, der für seine Buße ausgezeichnet wird, und einem Wüstenvater, der in Sünde fällt und sich wieder besinnt. Sie zeigen nicht nur das Verhältnis zwischen innerer Haltung und Askese sowie die Bedeutung der Gemeinschaft für den Einzelnen auf, sondern erweisen, indem sie drei mögliche Ausgänge der Handlung darstellen, zudem die prinzipielle Offenheit von asketischen Heiligkeitsentwürfen.
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An erster Stelle in Johannes’ Lehren steht ein Mönch, der sich in Sicherheit vor dem Teufel wiegt, weil er sich in hervorragender Weise in der Askese bewährt hat. Dieser Mönch meint, seine Tugendhaftigkeit nicht durch Gott, sondern durch eigene Leistung erreicht zu haben: Er dahte alsus: ‚die tugende ich habe / von der grozen arbeit / die ich han an mich geleit.‘ (V. 4212–4214). Doch nicht der Vollzug der Askese, als körperlicher Leistung, nicht der Zustand des eremitischen Lebens, sondern der Versuchung fortwährend zu widerstehen, schützt vor der Sünde. Die Askese ist dabei (nur) Mittel zum Zweck. Es zeigt sich, dass es vor allem um den Umgang mit Emotionen geht. Die Versuchungen gehen nämlich laut Johannes Nu von valscher vrouden itelkeit, Nu von beswerde jamers leit, Nu von grimme zornes brunst, Nu hezeliche ungunst, Nu umminliche zwidraht (V. 4137–4141)
aus. Diese Gefühle muss der Mönch als Eingebungen des Teufels erkennen und darf ihnen nicht nachgeben. Die eremitische Lebensweise wird nicht als äußere Form verstanden, sondern ist als Bemühung um die Meisterung der eigenen Emotionen konzeptualisiert. Im Fall des Mönches, den Johannes seinen Besuchern als Beispiel vor Augen stellt, ist es zunächst die hohvart (V. 4217), die ihn nicht mehr an seiner eigenen Standfestigkeit zweifeln lässt. Der Teufel tritt dem Hochmütigen in Gestalt einer Frau gegenüber und bittet um Unterkunft in dessen Zelle. Der Mönch, eitel verblendet, erkennt das wahre Wesen seiner Besucherin nicht, lädt sie zu sich ein und bewirtet sie. Als er sie während des Essens ansieht, erwacht in ihm das Begehren und mit dieser Regung werden alle bis dahin geltenden Ideale hinweggefegt. Der Mönch greift nach der Frau, die in demselben Augenblick verschwindet und nichts als einen Höllengestank hinterlässt. Aus der Luft verspotten die Teufel den Gefallenen. Statt sich aber nun zu besinnen und um Gottes Vergebung zu bitten, legt der Mönch aus Scham seine Lebensweise ab und verschwindet im weltlichen Treiben der Stadt. Wiederum verweist Johannes in diesem Zusammenhang auf eine Emotion, denn sein geistliches Leben habe der gefallene Eremit durch sine selbes zageheit (V. 4330) abgelegt. Es kommt also nicht nur auf die Enthaltsamkeit an, sondern auch darauf, dass die richtige Lebensform mit der richtigen Haltung einhergeht, die vor allem durch eine immerwährende Bereitschaft zum Kampf gegen die eigenen Gelüste geprägt ist, deren aller Anfang der Hochmut ist. Dieser Gedanke wird mit dem zweiten Exempel des Johannes bekräftigt. Darin werden die Ausgangsbedingungen des ersten Exempels umgekehrt.
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Ein Mann lebt sunder zuht, sunder schame (V. 4348) ein sündiges Leben, doch Gott lässt einen Funken echter Reue in seinem Herzen erscheinen. Davon bewegt wirft sich der Sünder in ein offenes Grab an der Kirche und verbringt seine Tage dort kreuzweise liegend und beständig weinend. Dabei sieht er aus Scham niemals gen Himmel. Sein gottgefälliges Tun reizt die Teufel, die den Reuigen nachts heimsuchen und ihm zurufen, dass er durch seine Sünden unrettbar verloren sei und deshalb sein neues Leben wieder aufgeben solle. Der Büßer antwortet jedoch nicht und erträgt die Angriffe der Teufel, die ihn in den folgenden Nächten mit schweren Schlägen malträtieren, mit hoffenunge (V. 4467) auf Gottes Vergebung. Schließlich geben sich die Teufel angesichts der Reue des Mannes geschlagen und er wird als ein Vorbild an Tugend und ein Beispiel der Gnade Gottes bekannt. Die beiden Exempel des Johannes verdeutlichen, dass vor Gott nicht der äußere Schein oder das Leben als Eremit entscheidend sind, sondern das richtige Fühlen und die innere Haltung. Das dritte Exempel verbindet beides miteinander und weist der Praxis der Einsiedelei damit wieder eine größere Bedeutung zu. Ein Einsiedler lebt demütig und in allem gottgefällig, sodass ihn Gott belohnen will. Zur Essenszeit sendet er ihm ein schneeweißes Brot und lässt ihn viele zukünftige Dinge sehen. Diese Auszeichnung jedoch überwindet die Demut des Einsiedlers und er beginnt, seine Gedanken zů iteln eren (V. 4650) zu richten. Der Teufel findet Zugang zu seinem Herzen und der Einsiedler spricht zwar noch sein Gebet, doch tut er es weniger innig. Er fährt dennoch mit seiner gewohnten Lebenspraxis fort: Rehte als ein schif er tet Daz wol berůget sere gat: Als man daz růgen biben lat, So get ez von dem swange, Doch weret daz gen nicht lange: Ez get abe, untz ez gelit. (V. 4678–4683)
Mit dem Gebet folgt der Einsiedler nur noch alten Gewohnheiten. In ihm beginnt sich ‚fleischliche Lust‘ zu regen. Wieder erhält er zur Essenszeit ein Brot, doch ist das vormals schneeweiße nun befleckt. Der Einsiedler ist zwar erschreckt, fährt aber dennoch fort wie zuvor: Seine Gedanken schweifen während des Gebets ab. Am nächsten Tag erscheint das Brot wieder, doch ist es nun gänzlich schmutzig und von allen Seiten benagt. Zwar weint der Einsiedler, doch ist die Reue nicht echt und in der Nacht verlässt er seine Zelle, weil er zů sunden wolde hin (V. 4758). Bis hierhin entspricht die Geschichte der ersten Erzählung des Johannes. Doch dieser Einsiedler trifft unterwegs auf die Niederlassung einiger anderer Eremiten, die ihn mehr als freundlich aufnehmen:
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Lieblich teilten sie im mite Ir trinken und ir ezzen. Ouch wart des niht virgezzen: Sie baten in sagen von Gote Und wie man gein des tuvels spote Zů strite solte menlich treten. (V. 4786–4791)
Der Einsiedler wird nicht nur bewirtet, sondern er wird auch um Lehre und Rat gebeten, denn er ist gestalt nach eren, / gra, wislich und alt (V. 4798 f.). Alter und Ehrwürdigkeit lassen den Eremiten nach außen als einen Wüstenvater erscheinen, während er doch im Inneren sündig ist. Doch aus Scham wegen der eigenen Gedanken zwingt sich der Alte dazu, die Fragenden zu belehren. Er spricht über die Versuchungen des Teufels und wie man ihnen begegnet. Die Lehre ist den Brüdern willkommen und mancher von ihnen zieht einen Vorteil daraus. Gerade das aber richtet den Blick des alten Eremiten wieder zurück auf sich selbst. Er wird angesichts der Tatsache, dass er andere auf den rechten Weg führt, selbst aber im Begriff ist, sich der Sünde hinzugeben, von Reue erfüllt. Er nimmt eilends Abschied und kehrt in seine Zelle zurück. Voller Trauer schreit und klagt er dort, bis ein Engel zu ihm kommt und ihm Gottes Vergebung verspricht. Deshalb lobten alle Schriften die Demut, so beendet Johannes seine Erzählung, weil ohne sie jede Tugend zum Schlechten werden könnte. Das Exempel hat jedoch eine Wendung, die über das Demutsgebot hinausgeht: Die Rettung des im Fallen begriffenen Eremiten findet im Austausch mit den anderen statt. Er entspricht äußerlich seiner Lebensform, indem er die Brüder belehrt, und die Tätigkeit als Lehrer und Ratgeber führt ihn wieder zu seinen ursprünglichen Idealen zurück und rettet ihn vor der drohenden Verdammnis. In dieser letzten Erzählung werden also nicht wie zuvor innere und äußere Haltung gegeneinander ausgespielt, sondern die eingeübte Form des Lebens und Lehrens hilft im Zusammenhang mit den anderen bei der Wiederherstellung der inneren Haltung. Die Gemeinschaft, vor deren Augen die äußere Form überhaupt erst Bedeutung gewinnt, erscheint dabei als stabilisierende und restaurative Kraft. Diese drei Exempelfiguren entsprechen in ihrer Anlage den zweifellos heiligen Erzeremiten, wie Antonius oder Johannes von Ägypten selbst. Es ist also nicht völlig abwegig, hier von ‚legendarischem Erzählen‘ zu sprechen. Es ist aber ein Topos der Forschung, dass legendarisches Erzählen durch seine Finalität im Sinne Clemens Lugowskis bestimmt wäre.314 Diese Annahme geht nicht zuletzt
314 Vgl. z. B. Wolpers (1964), S. 24 und Koch, Elke: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in
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auf eine Passage in den erzähltheoretischen Überlegungen von Matías Martínez und Michael Scheffel zurück: Stellen wir uns […] probehalber eine christliche Heiligenlegende vor, deren Held ein gottesfürchtiges Leben führt, das alle Kriterien für eine künftige Heiligsprechung erfüllt. Nach vielen Jahren fällt er in die Hände blutrünstiger Heiden, die ihn in der Folterkammer von seinem Glauben abzubringen versuchen; da besinnt sich der Held des offenen Horizonts möglicher Handlungen, schwört seinem Glauben ab und führt hinfort vergnügt ein sündiges Leben. Eine solche Entwicklung der Dinge verwandelt die gesamte Geschichte rückwirkend in etwas anderes als eine Legende – zum Beispiel eine Legendenparodie.315
In den Exempeln des Johannes finden sich Gegenentwürfe zu dieser These: Ein hervorragender Asket wird verführt und gibt sich aus Scham dem Weltleben hin, ein Sünder wird bekehrt, ein fast schon Verdammter wird gerettet, indem er andere belehrt. Hier ist eben das realisiert, was Martínez/Scheffel so kategorisch ausschließen: Legendarisches Erzählen, das so offen ist, dass am Ende auch das weltliche Leben stehen kann, wenngleich der Text nichts darüber aussagt, wie ‚vergnüglich‘ dieses Leben ist. Es bietet sich nach der Analyse des ersten Abschnitts des ‚Reiseteils‘ an, einen Blick auf dessen Verhältnis zur entsprechenden Passage in den ‚Vitaspatrum‘ zu werfen, um die grundsätzlichen Bearbeitungstendenzen im ‚Reiseteil‘ des ‚Väterbuchs‘ zu erhellen. Schon an diesem kleinen Abschnitt lassen sich nämlich eine Reihe von Differenzen ausmachen, die sich zu einem schlüssigen Bild fügen. Zunächst fällt ein Unterschied in der Bezeichnung des nur kurz auftretenden Ehemannes im ersten Mirakel auf. In den ‚Vitaspatrum‘ wird dieser als römischer Offizier (tribunus316) bezeichnet. Diese Bezeichnung ist in den ‚Vitaspatrum‘ nicht ungewöhnlich, denn viele der Figuren werden mit römischen Ämtern oder militärischen Titeln bezeichnet. Das ‚Väterbuch‘ nimmt, wie es bei der mittelalter-
der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 110–130. Weiterhin wird Finalität als zentrale Eigenschaft legendarischen Erzählens ausgestellt von Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich/A. H./Christiane Witthöft. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 3), S. 173–197, der auf S. 173 betont: „Darin aber zeigt sich ein charakteristischer Zug legendarischen Erzählens: Nicht der Anfang, sondern das Ende der heiligen Protagonisten steht im Fokus, die Erzählung ist ausgerichtet auf deren Tod, während eine Vorgeschichte bisweilen vollkommen vernachlässigt werden kann.“ 315 Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 2002, S. 122. 316 Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 249.
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lichen Antikerezeption üblich ist, diese Bezeichnungen vollständig heraus und ersetzt sie durch mittelalterliche Bezeichnungen für weltliche Eliten. So wird der Ehemann im ‚Väterbuch‘ zu eine[m] man zur werlte groz, / wol der vrien genoz (V. 3497 f.), also einem adligen oder jedenfalls sehr vermögenden Mann. Der Johannes des ‚Väterbuchs‘ bedient sich in seinen Monologen einer Bildsprache, die dem Bereich des Krieges entlehnt ist. Das Herz ist eine burc (V. 4101), die durch den Funken der Sünde entzündet werden kann, und die weltlichen Begierden werden mit eines herren lute[n] (V. 4108) verglichen, die ihrem Herren, dem Teufel, die Tore zum Herzen öffnen. Diese Veränderungen lassen sich als eine Tendenz der Anverwandlung des antiken Stoffs an die mittelalterliche Produktions- und Rezeptionssituation verstehen. Die Ehefrau ist in den ‚Vitaspatrum‘ nicht krank, sondern der Ehemann befürchtet ihren Tod durch Traurigkeit,317 wenn es ihr nicht gestattet wird, Johannes zu sehen. Im Mirakel des ‚Väterbuchs‘ hingegen ist die Frau des libes cranc (V. 3507) und durch den Traum von Johannes wird sie von aller suche (V. 3591) geheilt. Zwar spricht Johannes auch in der ‚Vitaspatrum‘-Version des Traumes von Heilung, doch meint er hier die allgemeine Befreiung der Frau und ihrer Familie von Krankheit. Das ‚Väterbuch‘ beschreibt also gegenüber der Vorlage ein viel konkreteres Heilungswunder. Die Konkretisierung des Wunders steht im Zusammenhang einer Auslassung im ‚Väterbuch‘. In den ‚Vitaspatrum‘ findet sich während des Traumes eine Selbstbeschreibung des Eremiten gegenüber der Frau: Ego autem non quasi iustus aut profeta, ut tu putas, sed pro fide vestra intercessi pro vobis apud dominum et concessit tibi omnium morborum, quae in corpore tuo pateris, sanitatem.318 Ich aber habe nicht als Gerechter oder Prophet, wie du meinst, sondern wegen eures Glaubens Fürbitte beim Herrn für euch eingelegt; und er gewährt dir die Heilung von allen Krankheiten, an denen du körperlich leidest.319
In den ‚Vitaspatrum‘ stellt der Eremit seine Vermittlungsleistung zwischen Gott und den Menschen heraus. Seine Funktion ist das Gebet für die Menschen. Das ‚Väterbuch‘ verzichtet vollkommen auf diese Spezifizierung und lässt Johannes dafür stärker als Heiligen, Wundertäter und „magischen Helfer“320 erscheinen.
317 Vgl. Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 250. 318 Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 250 f. 319 Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990) (Übersetzung), S. 49. 320 Gumbrecht (1979), S. 54.
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Dem Verfasser des ‚Väterbuchs‘ scheint hier eine Anlehnung der Wüstenväter an die lebhafte Heiligenverehrung im 13. Jahrhundert wichtiger gewesen zu sein als die Vermittlung von Überlegungen zu Form und Funktion des Eremitentums. Schließlich ist eine Differenz im Umgang mit einem Bibelzitat zu erkennen, das Johannes in seiner Rede an die Frau verwendet. Während das Zitat (es handelt sich um Joh 6,64) in den ‚Vitaspatrum‘ eingeflochten und nicht besonders markiert ist, macht das ‚Väterbuch‘ es explizit. Hier sagt Johannes: Man liset alsus in der schrift: ‚Ez ist der geist der daz leben Lebenliche hat gegeben. Daz vleisch nihtesniht envrumet.‘ (V. 3580–3583)
Mehr als die Adressaten der lateinischen ‚Vitaspatrum‘ hatten es die deutschsprachigen Rezipienten offenbar nötig, auf Bibelzitate explizit hingewiesen zu werden. Die Veränderungen gegenüber dem lateinischen Text sind schon in diesem kurzen Abschnitt im ‚Väterbuch‘ erkennbar und lassen sich auch mit der spezifischen Rezeptionssituation etwa im Deutschen Orden verbinden: Die erzählte Welt wird der mittelalterlichen Lebenswelt angenähert, indem sprachliche Bilder und Figuren mit mittelalterlichen Merkmalen versehen werden. Die hochdifferenzierte Konzeptualisierung der Eremitenidentität wird aus der historischen Distanz tendenziell zugunsten eines zugänglicheren Bildes des wundertätigen ‚Universalheiligen‘ aufgegeben. Theologische und biblische Zitate werden dort, wo sie in den mitteldeutschen Text übernommen werden, konkreter benannt und eingeordnet.321 Damit erhält das ‚Väterbuch‘ einen stärker didaktischen Charakter. Die ‚Vitaspatrum‘ hingegen richten sich an ein geistlich gebildeteres Publikum, das die entsprechenden Sentenzen von sich aus versteht.
321 Eine Ausnahme bilden die Verweise auf Abrahams Befreiung Lots, die nicht zusätzlich markiert sind. Hier lässt sich vielleicht ein Hinweis auf den Deutschen Orden als Entstehungszusammenhang des ‚Väterbuchs‘ erkennen, denn die entsprechende Bibelpassage ist Teil der Ordensregel und war vielleicht deshalb für die Ordensmitglieder problemlos zu erkennen. Vgl. dazu Abschn. 2.4 und 9.2 dieser Arbeit.
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7.3 Wüstenvater und Gemeinschaft (Apollonius) Mit der Erzählung vom heiligen Apollonius wird die Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten des Einsiedlertums im ‚Väterbuch‘ fortgesetzt. Bei der Begegnung mit dem heiligen Johannes hatte der einzelne Eremit in seinem Verhältnis zu den anderen im Mittelpunkt gestanden. In der Apolloniuserzählung geht es nun vor allem um das Leben in der Gemeinschaft. Dabei erscheint Apolloniusʼ Wirken mehrfach als imitatio Christi. Auf ihrer Reise erreichen die Mönche aus Jerusalem eine Stadt der Einsiedler. In der Nähe des oberägyptischen Hermopolis lebt der heilige Apollonius, der fünfzig (in den ‚Vitaspatrum‘ sind es fünfhundert) Einsiedler um sich geschart hat. Der Ort hat eine biblische Bedeutung: Da wart uns gesaget also, Cristus were hie bevorn Da hin gevlohen Herodes zorn, Die wile er die kindere slůc. (V. 6150–6153)
Die Textstelle bezieht sich auf die biblische Erzählung vom Kindermord des Herodes im Matthäus-Evangelium (Mt 2,16): Die Heilige Familie kehrt aus Bethlehem nicht nach Nazareth zurück, sondern flieht nach Ägypten, um den Nachstellungen des Herodes zu entgehen. Der Ort ist für die biblische Topologie und Typologie von zentraler Bedeutung, denn durch die Flucht nach Ägypten erfüllt sich das Gotteswort aus den Prophezeiungen des Hosea: „und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ (Hos 11,1), denn Christus kehrt in der Tat von Gott gerufen (Mt 2,19–21) nach Israel zurück. Apollonius ist dadurch ausgezeichnet, dass er an einem Ort lebt, an dem sich derart entscheidende Ereignisse der Heilsgeschichte zugetragen haben. Er wird in ein enges Verhältnis zu Christus gerückt, denn wie dieser zieht er sich in die ägyptische Wüste zurück, wie dieser beginnt Apollonius hier sein Heilswerk. Dieser ersten imitatio Christi folgen weitere im Verlauf des Berichts über Apollonius. Sie stehen, wie zu zeigen sein wird, im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsaspekt. Apollonius wird, wie auch die anderen Wüstenväter, als Mensch von hervorragender Tugend eingeführt. Als die Reisenden am Ort des Wirkens von Apollonius ankommen, erzählt man ihnen dessen Lebensgeschichte, sodass der ganze Bericht sich zu einer Vita formt: Als Fünfzehnjähriger zieht sich Apollonius von seinen Verwandten und Freunden zurück, um danach vierzig Jahre abgeschieden zu leben. Sein Leben in der Einsamkeit endet nicht aus eigenem Antrieb, sondern Gott fordert den Einsiedler auf, zu den Menschen zurückzukehren, und beauf-
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tragt ihn, eine Gemeinschaft zu gründen. Ein volc du mir bekeren solt (V. 6256) befiehlt die Stimme Gottes Apollonius. Mit der göttlichen Sendung gerät Apollonius in die Rolle des Stifters einer religiösen Gemeinschaft. Ein weiterer Aspekt, der seine Christusähnlichkeit betont. Apollonius’ Gottesauftrag wird später noch einmal bekräftigt. Der Eremit, der in einer Vision das Paradies gesehen hat, bittet nämlich Gott, ihn sterben zu lassen, damit er der paradiesischen Freuden teilhaftig werden kann. Gott hingegen verweigert ihm den Tod, weil er noch ein gůte bilde (V. 6618) für seine Anhänger abzugeben habe. Die Sendung Gottes ist so eindeutig, dass Apollonius etwas tun kann, was die Unverfügbarkeit göttlicher Gnade eigentlich infrage stellt: Er bittet seinerseits Gott um einen Dienst, nämlich darum, ihn von itel ere (V. 6263) zu befreien. Mit Gottes Hilfe bekommt Apollonius einen Teufel zu fassen, der an seinem Hals hängt und der für die hohvart (V. 6290) verantwortlich ist. Sobald sich Apollonius niedergelassen hat, zieht sein Ruf Anhänger von nah und fern an. Der Fokus liegt ganz auf Apolloniusʼ Wirken als Stifter und Leiter der Gemeinschaft, die er im göttlichen Auftrag gegründet hat. Er eint die verstreuten Einsiedler, denn Do sie in irhorten da Also tugentlichen leben Und joch gesuntheit geben Dicke siechen lichamen In dem suzen Gotes namen, Als sie des entsuben, Mit frouden sie sich huben Hin zů Apollionio Und waren siner kumft vro. (V. 6314–6322)
Nachdem Apollonius sich an dem Ort niedergelassen hat, von dem aus Christus der Prophezeiung entsprechend nach Israel zurückgekehrt ist, und von Gott mit der Gemeinschaftsgründung beauftragt worden ist, schart er Anhänger und Nachfolger um sich, denen er ein gutes Beispiel und Vorbild ist, ebenso, wie Christus die Jünger um sich scharte (Mt 4,18–22 par.). Die imitatio Christi liegt hier in einer Wiederholung der Gemeinschaftsstiftung. Das ‚Väterbuch‘ macht diese Parallele explizit: Sie lebeten an dem mute Eintrehtec und an gute, Als die apostelen hie bevor, Die ir sin trůc enpor Mit den die bi in waren
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Geloubec in den jaren. Swie ir vil weren joch, Sie hete ot ein herze doch, Also stet von in geschriben. Den selben orden diese ouch triben An des lebens eintraht Mit aller ger, mit aller maht Under Appolonio. (V. 6633–6645)
Die Anhänger des Apollonius leben wie die Apostel in einer Gemeinschaft des Glaubens zusammen. Dabei legt die Darstellung ein großes Gewicht auf die Einheit in der Gemeinschaft und schließt dabei an die Apostelgeschichte 4,32 f. an:322 Die Menge derer aber, die gläubig wurden, war ein Herz und eine Seele; und auch nicht einer sagte, dass etwas von seiner Habe sein eigen sei, sondern es war ihnen alles gemeinsam. Und mit großer Kraft legten die Apostel das Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus ab; und große Gnade war auf ihnen allen.
Ein herze teilten die Apostel, ebenso halten es die Brüder des Apollonius (V. 6639). Diese Emphase der Einheit, die sich auch als emotionale Haltung der Brüder zueinander realisiert, spiegelt sich in der Figur des heiligen Apollonius. Anders als im Bericht vom heiligen Johannes sind es hier nicht reuige Trauer und Demut, die den Wüstenvater besonders auszeichnen, sondern Apollonius’ Merkmal ist die minne und damit eine Emotion, die in hohem Maße auf das Gegenüber und die Gemeinschaft gerichtet ist: Apollonius der gůte Enprant an minnen glůte. Nach tugentlichem růme Was er ein sůze blůme, Diu wol roch und liehte bran, Wan ir iegelich daran Ein bilde rehter tugende vant. (V. 6335–6341)
Apollonius zeichnet sich nicht nur durch besondere Gottes- und Nächstenliebe aus, sondern diese minne ist zugleich Teil seiner Heiligkeit, deren charismatische Dimension von außen in der Synästhesie der schönen, hellen und wohlriechenden Blume zum Ausdruck kommt. Die gemeinschaftsstiftende und -erhaltende
322 Vgl. dazu auch Schreiner (2013), S. 216.
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Funktion der minne ist nicht nur eine Eigenschaft der Mönche untereinander, sondern ist zugleich Teil des Charismas des Heiligen. Gemeinschaft und Heiligkeit werden auf diese Weise miteinander verschaltet und gehen auseinander hervor. Gleichzeitig schlägt der Begriff der minne einen Bogen zurück zum Prolog und zur Figur des heiligen Johannes, sodass auch das ‚Väterbuch‘ in seiner Gesamtheit als eine Repräsentation der heiligen Gemeinschaft erscheint. Der Begriff der imitatio Christi ist von der Forschung häufig auf die Passion bezogen und daher vor allem für die christlichen Märtyrer in Anschlag gebracht worden, deren Christusähnlichkeit aus dem Erleiden von Folter und Tod durch Nichtchristen besteht. Bei Apollonius ist die Ähnlichkeit anders gelagert. Während die Selbstaussetzung der Märtyrer auf die Passion deutet, verweist die Gemeinschaftsstiftung und -funktion des Apollonius eher auf die Wirkung Christi als Lehrer und Religionsgründer. Wie um diesen Gegensatz zu unterstreichen, scheint an einer Stelle der Erzählung vom heiligen Apollonius die Möglichkeit des Martyriums auf, um dann aber abgewiesen zu werden:323 Die Gegend, in der Apollonius mit den Seinen lebt, beherrscht ein vurste bose genůc (V. 6419), der die Christen verfolgt und der einen Mönch einkerkert und töten lassen will. Bemerkenswerterweise schreibt erst das ‚Väterbuch‘ die Figur des Statthalters so um, dass er wie die Christenverfolger in den Märtyrererzählungen erscheint. In den ‚Vitaspatrum‘ ist der entsprechende Mönch eingesperrt, weil er nicht zum Kriegsdienst bereit ist. Vom Töten des Gefangenen ist keine Rede.324 Apollonius besucht mit einigen Anhängern den Gefangenen im Kerker und spricht ihm Mut zu. Der hinzukommende Fürst ist sehr verärgert und sperrt die Besucher zusammen mit dem Beklagten ein. Apollonius beruhigt seine Mitbrüder, die daraufhin alle bereit sind, zu lidene der martere tot (V. 6506). Während diese Zuspitzung der Situation in den ‚Vitaspatrum‘ fehlt, ist im ‚Väterbuch‘ das Martyrium in seiner typischen Form angespielt. Doch dazu kommt es nicht, weil in diesem Augenblick Gott eingreift: Ein Engel erscheint, dessen Strahlen den ganzen Kerker erfüllen und der die Türen für Apollonius und die Seinen öffnet. Die jedoch weigern sich, den Ort vor dem Morgen zu verlassen, obwohl sie von den erschreckten Wachen inständig gebeten werden, das Feld zu räumen. Am Morgen kommt der verängstigte Fürst hinzu, der Apollonius ebenfalls bittet, zu verschwinden, denn in der Nacht ist sein Palast eingestürzt und hat etliche seiner Diener erschlagen. Daraufhin kehren Apollonius und seine Begleiter in die Wüste zurück.
323 Ebenso wie im Fall von Antonius scheint mir auch diese Abweisung des Martyriums nicht, wie Gemeinhardt (2013), S. 58–61 annimmt, als eine Verähnlichung mit den Märtyrern lesbar zu sein. 324 Vgl. Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 289.
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Spätestens mit der Erklärung der Brüder, jeder von ihnen sei zum Martyrium bereit, ist der Bezug zu den Märtyrerlegenden eindeutig. Durch das Erscheinen des Engels und die Zerstörung des Palastes wird der schematische Ablauf jedoch unterbrochen. Von höchster Stelle wird deutlich gemacht, dass Apollonius kein Märtyrer ist. Seine besondere Bedeutung liegt in der Stiftung und Bewahrung der Gemeinschaft. Dementsprechend endet die Episode auch mit einem Lob von Apolloniusʼ Qualitäten: Der vil reine, kusch, milde Was sinen brudern zů aller stunt In Gotes liebe ein vullemunt An lere, an bilde, an rate, Des er genade hate. (V. 6546–6550)
Apolloniusʼ Wirken ist eine imitatio Christi unter expliziten Ausschluss des Martyriums. In Anbetracht dieser Darstellung erscheint es als fragwürdig, hier von der Askese als einem Martyrium in anderer Form zu sprechen, wie es verschiedentlich geschehen ist.325 Die Christusähnlichkeit besteht in der Stiftung und Lenkung einer Gemeinschaft von heiligen Eremiten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch die Mission (das ‚Menschenfischen‘ im Sinne von Lk 5,10) zu einem Teil des Wirkens des Apollonius wird. Als die Reisegruppe den Ort erreicht, an dem Apollonius mit seinen Anhängern lebt, fällt ihnen die Wehrhaftigkeit der Eremiten auf. Die Gemeinschaft erscheint ihnen als eine ‚himmlische Armee‘, die zum Kampf bereit ist: Den reinen convent in Got Und die selicliche rote Sahe wir rehte als ein himelische her, Daz mit ritterlicher wer An allen tugenden was bereit Zu striten mit itelkeit. (V. 6661–6666)
Eine entsprechende Beschreibung fehlt in den ‚Vitaspatrum‘, sodass es nahe liegt, eine Familiarisierungsstrategie zu vermuten: Der Zustand ritterliche[r] wer wird den Angehörigen eines Ritterordens nur allzu vertraut gewesen sein und so ergibt sich eine Parallele zwischen Rezipienten und Figuren. Diese Tendenz bei der Bearbeitung der Vorlage lässt sich durch das Folgende bestätigen. Es wird
325 So etwa bei Largier (2010), S. 209 und bei Bachorski/Klinger (2004a), S. 329.
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erzählt, wie Apollonius mit den in der Umgebung lebenden ‚Heiden‘326 verfährt. Der Kontakt mit Nichtchristen ist ein Thema, das für die Angehörigen des Deutschen Ordens besonders anschlussfähig war, weil sie mit Nichtchristen sowohl in Palästina als auch im neu eroberten Prußenland konfrontiert waren. Allerdings führt die Begegnung von Apollonius mit den ‚Heiden‘ zu keiner Form der gewalttätigen Auseinandersetzung, denn es geht in dieser Episode nicht um Niederwerfung oder Vernichtung, sondern um Mission. Der Text liefert zunächst eine lange Erläuterung zu den ‚Heiden‘ in Ägypten. Apollonius zählt auf, was die Ägypter alles als Götter verehrten. Sie hielten die Ochsen und die Fluten des Nils für Götter, ebenso wie hunde (V. 6698), affen, beren, lewen (V. 6700), hebeche, tuben und raben (V. 6703), schaf, rinder unde phert (V. 6705), cruth unde gras (V. 6726), louch und zwibollen (V. 6727). Die Entstehung des Glaubens der Ägypter führt Apollonius auf zwei Gründe zurück, wovon einer sozusagen präsoziologisch, der andere aber heilsgeschichtlich ist. Erstens würden sie anbeten, was für ihr Leben von zentraler Bedeutung sei. An die Göttlichkeit der Ochsen etwa glaubten die Ägypter, weil diese ihnen bei der Feldarbeit helfen würden. An die Göttlichkeit des Nils, weil er sich über die Erde ergösse und sie fruchtbar mache. Die Verehrung der anderen Tiere erklärt Apollonius heilsgeschichtlich im Rekurs auf das Buch Exodus. Als das Meer über den Ägyptern zusammengeschlagen sei, wären die Daheimgebliebenen dankbar für die Schonung gewesen. Mangels einer anderen Erklärung hätten sie ihre Rettung jeweils auf den Gegenstand zurückgeführt, mit dem sie im Augenblick der Katastrophe beschäftigt waren. Diesen hätten sie sich daraufhin zum Gott erhoben. Diese Erklärung des Apollonius bildet den Vorlauf zu einer weiteren Erzählung aus seinem Leben. Apollonius kommt in ihr in eine Gegend, in der man leider inne phlac / des gelouben irretům (V. 6788 f.). Besonders ein Gott wird dort verehrt, für den regelmäßig Prozessionen veranstaltet werden. Einer dieser Prozessionen begegnet Apollonius. Er versteckt sich und lässt die Prozession durch ein Gebet dauerhaft erstarren. Die ‚Heiden‘ möchten daraufhin ihren Göttern helfen. Sie spannen Ochsen vor ihre Statue, die sich trotzdem nicht bewegen lässt. Die ‚Heiden‘ wundern sich sehr, dass ihr Gott sich nicht selbst zu befreien vermag.
326 Die Wahl eines angemessenen Begriffs ist hier naturgemäß schwierig. Einerseits reproduziert die Bezeichnung als ‚Heiden‘ die negative Bewertung aus christlichen Perspektive. Andererseits gingen Bezeichnungen, die die entsprechende Religion benennen, an der Logik des mittelalterlichen Textes vorbei. Ich habe mich deshalb entschieden, den historischen Begriff beizubehalten, dabei aber dessen Problematik mittels einfacher Anführungszeichen kenntlich zu machen, oder von ‚Nichtchristen‘ zu sprechen.
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Schließlich kommen die ‚heidnischen‘ Priester auf den Gedanken, dass der in der Nähe lebende Apollonius die Ursache der Stillstellung sein könnte. Sie beschließen, eine Botschaft an den Eremiten zu senden und ihn um Hilfe zu bitten. Dabei wird die Situation zu einer Gegenüberstellung der jeweiligen göttlichen Macht. Wenn Apolloniusʼ Gott in der Lage sei, die erstarrte Prozession zu lösen, wären die ‚Heiden‘ bereit, ihren Glauben aufzugeben: Do enputen sie im botschaft Und sprachen so: ‚hast du die craft Daz du uns von den banden Und von den schanden Losest, da wir inne stan, Wir wollen gentzlichen lan Von alles bandes irretům Und durch dines Gotes rům Alle abgote gar virsman Und dinen Got zů got han. Werde wir von dir geloset nu, Du losest gar abe uns dar zů Aller irrunge bant.‘ (V. 6889–6901)
Apollonius kommt und erlöst die festgesetzten Teilnehmer der Prozession, die sich daraufhin taufen lassen und von Apollonius in der Heiligen Schrift unterwiesen werden, die Abgötter werden zerstört und Apollonius ist voller Freude, dass er dem Teufel ein ‚Heidenvolk‘ abgerungen hat. Die Begegnung mit den ‚Heiden‘ erscheint hier also nicht in Form der gewalttätigen Auseinandersetzung, die in der Martyriumsepisode vor Augen gestellt wird. Der Text legt ein besonderes Gewicht auf die Mission und verknüpft diese aufs engste mit der Unterweisung. Die eigentliche Missionshandlung kommt ohne Gewalt aus. Es wird weniger ein Konflikt zwischen zwei Kulturen, als vielmehr das Aufgehen der zu Missionierenden in der christlichen Gemeinschaft dargestellt, wobei der Heilige die Schlüsselfigur in diesem Prozess darstellt. Apollonius erzählt noch eine zweite Bekehrungsgeschichte, die im ‚Väterbuch‘ gegenüber den ‚Vitaspatrum‘ merklich ausgeweitet ist. Zwei Dörfer liegen im Streit miteinander und es droht ein bewaffneter Konflikt, woraufhin Apollonius hinzueilt, um zu schlichten. Dort angekommen stellt er fest, dass der Konflikt besonders von einem ‚heidnischen‘ Mann vorangetrieben wird, weil dieser ein rouber und ein struter (V. 6953) ist und zudem alle anderen an Größe und Kampfkraft überbietet. Apollonius nimmt den Mann beiseite, redet ihm ins Gewissen und stellt ihm Gottes Vergebung in Aussicht, wenn er von seinem Unglauben ablässt. Gott tut ein Wunder, indem er das Wesen des Wüterichs verwandelt und
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dieser vom Wolf zum Lamm (V. 6967) wird. Soweit stimmt der Text mit den ‚Vitaspatrum‘ überein. In den ‚Vitaspatrum‘ folgt jedoch nur der Satz: Tum vero Apollonius adsumens eum et cum ipso iter agens ad monasteria docebat eum mutare debere ordinem vitae et patienter a deo quarere misericordiam promissionemque ex fide expectare, omnia enim possibilia dicebat esse credenti. Da nahm Apollonius ihn zu sich und belehrte ihn auf dem gemeinsamen Weg zu den Monasterien, er müsse die Lebensweise ändern und ausdauernd von Gott Erbarmen erbitten und die Erfüllung des Versprechens im Glauben erwarten, alles nämlich sei dem Glaubenden möglich.327
Für den Mönch, der Latein beherrscht und die ‚Vitaspatrum‘ zu lesen vermag, ist hier offenbar keine weitere Erläuterung nötig. Unmittelbar auf diese Zusammenfassung der Bekehrung des ‚Heiden‘ folgt eine Vision, in der sich der ehemalige Räuber und Apollonius beide im Himmelreich wiederfinden. Im ‚Väterbuch‘ hingegen wird die Darstellung der Konversion merklich amplifiziert. Zunächst wird die Gefühlslage des ‚Heiden‘ geschildert. Der kune und der starke man / vor Gote vorhten sich began (V. 6977 f.), weshalb er sich Apollonius anschließt und versichert, in Demut bei ihm bleiben zu wollen. Dann folgt eine Schilderung des gemeinsamen Lebens: Er [Apollonius; J. T.] hiez in sunder zwivel wesen Und begonde im vor lesen Wie er solde halten sich Einvaldec und minnenclich Bi den andern brudern. Werltlichen ludern, Des er hete vor gephlogen, Dem solte er gentzlichen sin enzogen, Niht mit dem libe alleine, Joch die sinne algemeine Solte er mit gewalte ufhaben Und liez nindert da hin snaben Die beger noch entwischen, Er solte stete vrischen Sin herze mit den blůte Daz Marien sun der gute Durch uns an dem cruze goz: So wurde er aller sunden bloz. (V. 6995–7012)
327 Rufinus: Historia (Schulz-Flügel 1990), S. 296; Rufinus: Historia (Übersetzung Schulz-Flügel 2014), S. 85.
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Das ‚Väterbuch‘ referiert den gesamten Prozess der Mönchwerdung: Leben in der Gemeinschaft der Brüder, Aufgabe weltlicher Begehrlichkeiten, Teilnahme am religiösen Leben und damit am Heilswirken Christi. Der Übergang des gewaltfähigen und -tätigen Kämpfers zum Teil der monastischen Gemeinschaft ist ein zentraler Aspekt der Kultur der Ritterorden. Anders als die Mönchsorden sind sie mit dem Problem befasst, den Übertritt der häufig bereits erwachsenen, weltlich sozialisierten Männer in die Ordenskultur zu vollziehen. So ließe sich erklären, dass der Text, der in den einzelnen Episoden des Reiseteils meist nur in Nuancen von der Vorlage abweicht, hier sehr deutlich ausgestaltet wird. Im Anschluss an die zitierte Passage folgt, nun wieder parallel zu den ‚Vitaspatrum‘, die Jenseitsvision des Bekehrten und Apolloniusʼ. Auch die Jenseitsvision ist im ‚Väterbuch‘ anders gestaltet als in den ‚Vitaspatrum‘. Im deutschen Text liegt ein Schwerpunkt auf der Darstellung der himmlischen Gemeinschaft. Die Engel stehen vor Gott Nach der vrouden gebote Und betten mit lobe an in. Den selben vroudenreichen sin Ir vulten alle der heiligen schar. Nu quamen dise zwen [Apolonius und der Neubekehrte; J. T.] ouch dar Nach der gewonheit die da was In des himeles palas. (V. 7038–7044)
Die Gemeinschaft der Engel und der Heiligen wird durch den Zustand der Freude bestimmt, während Gott der Versammlung als der vreuden vurste (V. 7048) vorsteht. Eine Beschreibung, die an die Darstellungen der Hofesfreude in der weltlichen Literatur erinnert. Auch die Gemeinschaft der Anhänger des Apollonius ist durch den Zustand der Freude bestimmt. Jedenfalls wird sie von der ankommenden Reisegruppe in dieser Weise wahrgenommen: So waren sie also vro in Gote Daz wir nie gesan kein rote Die sulhe froude heten. […] Wir westen niht waz froude was E wir sie da irvunden. (V. 7403–7409)
In der Freude gleichen sich die irdische Gemeinschaft der Einsiedler und die himmlische Gemeinschaft der Engel und Heiligen. In dieser Gleichheit wird eine
Wüstenvater und Gemeinschaft (Apollonius)
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metonymische Denkform328 erkennbar: Die einzelne Gemeinschaft ist zugleich Teil von und Verweis auf die Gemeinschaft der Heiligen.329 Eine Teilhabe an Heiligkeit ist durch die Partizipation an der einzelnen Gemeinschaft möglich, wobei die Freude als kontiguitäres Element und der heilige Apollonius als Vermittler erscheint, denn die Freude der Eremiten geht explizit von dessen Lehre aus. Er stellt in seinen Reden den Kummer der Freude gegenüber und verbindet ihn mit dem sündenhaften weltlichen Leben: Er sprach: ‚lazet jene truren Die uf der werlde kuren Und niht sich rihten in den himel.‘ (V. 7423–7425)
Apollonius’ Heiligkeit hat keinen exklusiven Charakter, wie die der Märtyrer, sie ist weder unverfügbar noch aus der Welt herausgenommen. Sie stiftet vielmehr Nähe und die Möglichkeit zur Partizipation bis dahin, dass kein Unterschied mehr zwischen ihm und seinen Nachfolgern besteht, weil alle in gleicher Weise heilig sind. Diese Tendenz lässt sich noch weiter verfolgen, denn unmittelbar nach der Einführung des Apollonius in die Erzählung tritt er selbst, anders als etwa Antonius, zunächst in den Hintergrund, und es wird von seinen Anhängern berichtet: Er hete under siner phlege Brudere ein vil michel teil, Die alle umbeder selen heil Wurben gar mit heizer gir. […] Ir leben was so fruhtsam Und an tugenden uz erlesen, Die do jungern solten wesen, Daz Got durch iegelichen man Zeichen hete wol getan. (V. 6176–6188)
328 Vgl. Haferland, Harald: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion: Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 97 (2005), S. 323–364; hier S. 329. 329 Vgl. auch Stewart (2011), S. 48: „According to the literary tradition of Latin monasticism, the highest stage of the monastic life is attained when the border between earth an heaven, between now and eternity, thins and even disappears.“
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Reise, Wüste, Imagination (‚Historia monachorum‘)
Apollonius ist zwar durch seinen Ruf herausgehoben, in der Auszeichnung durch Gott aber sind ihm alle seine Anhänger gleichgestellt. Sie sind alle durch ihre eremitische Lebensform (also ethisches Virtuosentum) und durch das göttliche Wunderzeichen (also göttliche Auszeichnung) als Teilhaber der Gemeinschaft der Heiligen ausgewiesen. Zweimal werden hier also Ähnlichkeitsverhältnisse realisiert. Zunächst wird das Wirken des Apollonius im Hinblick auf die Gemeinschaftsgründung und -pflege als imitatio Christi dargestellt. Dieser Bezug verbindet sich mit Apollonius Wohnort, der – wie gezeigt – ebenfalls auf Christus verweist. Die Gemeinschaft des Apollonius wird als Teil der Gemeinschaft der Heiligen entworfen, weil sie der Gemeinschaft von Christus und seinen Jüngern entspricht.330 Das zweite Ähnlichkeitsverhältnis wird zwischen der Apolloniusgemeinschaft und der Gemeinschaft der Himmlischen hergestellt. Sie gleichen sich in der vreude, die alle eint, und darin, dass das Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft aufgeht. Heiligkeit ist hier nicht, wie etwa in Märtyrerlegenden, auf den Einzelnen bezogen. Vielmehr wird sie als Teilhabe an einer Gemeinschaft realisiert, die über ein metonymisches Prinzip an die Transzendenz angebunden ist.
7.4 Askese und Erzählen (Copres) Während an der Figur des heiligen Johannes prinzipielle Fragen der Weitergabe der Wüstenväterweisheiten entwickelt werden, liegt bei der Figur des heiligen Copres ein besonderes Gewicht auf der Erzählung als Modus der Unterweisung und ihrem Verhältnis zur Heiligkeit der Eremiten. Dabei werden zwei Themenkomplexe virulent, die für die Hagiographie zentral sind, nämlich Zeit und Wahrhaftigkeit. Der Bericht beginnt damit, dass Copres die Reisenden nach den Vorgängen in der Welt befragt. Diese lehnen es jedoch ab, zu antworten: Wir sprachen: ‚daz armote Des die werlte ist gewon, Da sul wir nu lazen von. Wir sin durch richtům uz kumen. Sage uns durch Got unsern vrumen, Din leben und der andern Die mit selden wandern.‘ (V. 7910–7916)
330 Zur Verbindung von Apostolizität und monastischer Gemeinschaftlichkeit im zönobitischen Zusammenhang vgl. auch die Ausführungen bei Ranke-Heinemann (1964), S. 44–46.
Askese und Erzählen (Copres)
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Die reisenden Brüder bitten Copres, ihren Schatz der Erzählungen zu vergrößern, woraufhin der Einsiedler mit seinen Berichten beginnt. Anders als bei Johannes folgt kein Lehrgespräch mit eingebetteten Exempeln. Copres reiht vielmehr verschiedene Erzählungen von sich selbst und anderen Wüstenvätern aneinander. Damit gewinnt der Redefluss des Eremiten eine ähnliche Form paradigmatischen Erzählens, wie es den ‚Sprücheteil‘ des ‚Väterbuchs‘ gänzlich bestimmt.331 Es zeigt sich dabei, dass die einzelnen Erzählungen des Copres häufig über motivische Parallelen verknüpft werden. Die erste Erzählung des Copres handelt von dem Dieb Mucius (V. 7925– 8488). Mucius ist ein Adliger, der seiner Habe verlustig gegangen ist und sich deshalb aufs Stehlen und Rauben verlegt hat. Als er eines nachts in ein Haus einbrechen will, das von frommen Jungfrauen bewohnt ist, fällt er in Schlaf und träumt davon, dass ihm im Himmelreich ein himelische ritterschaft (V. 7983) untertan sein soll, wenn er bereit ist, in munches wise [zu] leben (V. 7978). Als Mucius seine Bereitschaft dazu erklärt, wird ihm eine Schar von Mönchen vor Augen gestellt, deren Leitung er übernehmen soll. Hier werden in mehrfacher Hinsicht Verknüpfungen über das Motiv der Gemeinschaft hergestellt. Wie im Fall des heiligen Apollonius332 wird die irdische Gemeinschaft der Mönche mit himmlischen Heiligengemeinschaften parallelisiert. Hinzugefügt wird hier nun auch noch der Begriff der ritterschaft, der unmittelbar an die Rezeptionsgemeinschaft angeschlossen ist, denn auch die Angehörigen des Ritterordens verstehen sich als Teil einer himelische[n] ritterschaft. Dadurch werden die Gemeinschaft der Heiligen, die Gemeinschaft der Eremiten und die Rezeptionsgemeinschaft des Ritterordens miteinander verbunden. Wieder erwacht geht Mucius zur nächsten Kirche, lässt sich taufen und zieht sich dann in die Wüste zurück. Mit Muciusʼ Leben in der Wüste beginnt der Teil der Erzählung, der stärker paradigmatisch über Motive verknüpft ist, etwa im Fall von drei Wundererzählungen, die den Tod von Mönchen zum Gegenstand haben. Zunächst berichtet Copres von einem Anhänger des Mucius, der diesen einen Toten einkleiden sieht. Der junge Schüler bittet Mucius darum, er möge ihn, den Schüler, im Fall seines Todes mit der gleichen Sorgfalt behandeln. Mucius sagt ihm das zu. Kurz darauf stirbt der Jüngling und wie versprochen versorgt Mucius den Leichnam. Schließlich fragt er den Toten, ob er noch mehr tun solle, woraufhin der Leichnam antwortet, es sei nun genug, und dann zu Grabe getragen wird. Die zweite Erzählung berichtet davon, wie Mucius zu einem Kranken gerufen wird, der bei seinem Eintreffen jedoch bereits tot ist. Mucius spricht den Toten
331 Vgl. zu den Sprüchen Kap. 8 dieser Arbeit. 332 Vgl. Abschn. 7.3 dieser Arbeit.
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an und fragt, was er lieber möchte, entweder im Himmelreich bei Christus oder auf Erden wieder Fleisch zu sein. Der Tote richtet sich auf und fragt ungehalten, warum ihn Mucius von Christus fortrufen würde. Dort erlebe er stetige Freude, während der Körper nur Gefängnis und Gestank sei. Daraufhin entlässt Mucius ihn wieder und der Tote sagt kein Wort mehr. Die dritte Erzählung berichtet von einem Bruder, der im Sterben liegt. Er überzeugt Mucius davon, für ihn bei Gott um einen Aufschub zu bitten, weil er seine Sünden auf Erden nicht angemessen gebüßt hat. Mucius verschafft ihm drei weitere Jahre Lebenszeit, in denen der Bruder seine Sünden büßt und schließlich zufrieden im Angesicht des Mucius und einer Reihe von Brüdern stirbt. Das Thema des Todes verbindet alle drei Erzählungen miteinander. Zugleich wird mit dem Tod aber ein Komplex eröffnet, der über das Motiv selbst hinausgeht. Drei Mal nämlich verhandelt der Text Aspekte von Zeit. In den ersten beiden Erzählungen, indem Tote auf wunderbare Weise ins Leben zurückgerufen werden, und in der letzten, indem einem eigentlich Todgeweihten ein Aufschub verschafft wird. In allen drei Fällen markieren diese chronologischen Brüche als Wunder die Heiligkeit des Eremiten. Wie um diese Dimension noch zu unterstreichen, ist in die zweite Erzählung ein kleiner Bericht über den Weg des Heiligen zu dem Toten inseriert: Mucius eilt der Niederlassung zu, in welcher der Sterbende liegt, doch ist die Sonne im Begriff unterzugehen und der Wüstenvater wünscht nicht, in der Dunkelheit zu gehen. Deshalb wendet er sich der Sonne zu Und sprach mit eime herzen vri: ‚In dem namen Jesu Cristi Stant ein wil noch enpor, Untz ich kome so hin vor Zu den brudern da ich wil!‘ (V. 8255–8259)
Die Sonne steht daraufhin tatsächlich still, bis Mucius die staunenden Brüder erreicht hat. Allerdings hat seine Wundertat den Tod des siechen Bruders leider nicht aufhalten können und so findet der Eremit nur einen Leichnam vor.333 In Mucius’ Wundern erweist sich Heiligkeit als überzeitliches Phänomen. Der Eremit vermag die Zeit aufzuhalten und Tote wieder zum Sprechen zu bringen. Ebenso, und hier liegt die poetologische Dimension, kann die Erzählung die Heiligkeit der Wüstenväter durch die Zeit präsent halten und an ihre Rezipienten vermitteln.
333 Die Textstelle verweist auch auf Jos 10,12 f. Josua befiehlt dort Sonne und Mond stillzustehen, bis die Israeliten ihre Feinde vernichtet haben.
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Einer der reisenden Brüder bezweifelt die Wahrhaftigkeit der Erzählung des Copres, weil ihm das Berichtete zu gewaltig erscheint. Der Zweifler fällt daraufhin in Schlaf und träumt: In sime troume er drate sach In des guten mannes hant Der uns diu mere tet erkant, Ein vil erliches buch, Dar an geleit was michel ruch, Ez was durchschriben und erhaben Mit guldinen bustaben. Dar uz sprach er waz er las, Wan ez daran geschriben was. (V. 8508–8516)
Die Erzählungen des Copres werden durch eine himmlische Schrift, aus der er liest, während er spricht, beglaubigt. Zugleich wird der Schläfer zurechtgewiesen, denn neben dem lesenden Copres steht Gott, der ihn zornig bestraft und ihn furbaz mere / horchen nach den meren, / wan sie war weren (V. 8532–8534) heißt. Der erschreckte Mönch erwacht und berichtet seinen Gefährten vom Erlebten, woraufhin sie dem Eremiten umso fleißiger zuhören. Das Erzählte (also auch das Anhalten der Zeit) erweist sich qua göttlicher Beglaubigung als ebenso wahr wie die Begegnung mit den Wüstenvätern selbst. Es wird immer wieder die Wahrhaftigkeit der Berichte des Copres herausgestellt, doch wird klargemacht, dass dabei nicht die Rhetorik, also die Kunstfertigkeit der Rede, das ausschlaggebende Kriterium ist. So berichtet Copres vom Konflikt mit einem fremden Prediger, der des ungelouben ein lerer, / der cristenen ein virkerer (V. 8669 f.) ist. Das Problem für Copres entsteht daraus, dass sein Gegner in einer Stadt mit meisterlicher zunge (V. 8677) seine falsche Lehre verbreitet und Copres ihm rhetorisch nicht gewachsen ist (V. 8689). Der Eremit beschließt deshalb, durch sein Handeln zu wirken. Er schlägt vor, dass der Prediger und er selbst in ein Feuer treten, um auf diese Weise ein Gottesurteil zu erreichen. Wer unversehrt bleibe, dessen Glaube sei rechtmäßig. Das Volk ist sehr erfreut über diesen spektakulären Vorschlag und entfacht auf der Straße ein großes Feuer. Der fremde Prediger verlangt daraufhin, wohl nicht ohne Hintergedanken, Copres möge als erster die Feuerprobe absolvieren, er würde dann gegebenenfalls nachziehen. Der Einsiedler ist dazu bereit, tritt in das Feuer und Gott sorgt dafür, dass die Flammen von ihm weggeblasen werden. Das Wunder weist Copres als Heiligen aus und als ebensolcher wird er vom Volk erkannt:
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Algemeinlich ez do schre: ‚O, vil guter Jesu Crist, Wi rehte wunderlich du bist An dinen heiligen luten, Daz tůt sich hie beduten!‘ (V. 8778–8783)
Die Menge greift sich den widerstrebenden ‚heidnischen‘ Prediger und wirft ihn, mit den Worten, nun solle auch sein Glaube sich als wirksam erweisen, in die Glut, wo er verbrennt. Hier werden Predigt, Mission und Heiligkeit ins Verhältnis gesetzt: Die Befähigung zur überzeugenden Rede erscheint als nicht ausreichend. Zum Wort müssen tätige Tugend und göttliche Erwählung, die sich hier im Wunder ausdrückt, treten. Nur im Zusammenfallen all dieser Eigenschaften besteht die Heiligkeit der Eremiten. Während die Reisenden bei Copres sind, bemerken sie vor dessen Tür einen Bauern, der Gefäße mit Sand in seinen Händen trägt. Verwundert befragen sie den Einsiedler, der ihnen das Vorkommnis erklärt. Die Äcker in der Umgebung hätten trotz aller Bearbeitung kaum einen Ertrag erbracht. Als Copres die Bauern in der Gegend bekehrt hatte, seien diese zu ihm gekommen und hätten um eine bessere Ernte gebeten. Copres habe angeboten, für die Bauern zu beten. Diese hätten daraufhin den Sand vor seiner Zelle aufgehoben und darum gebeten, dass Copres ihn segnen möge, was er auch getan habe. Die mit diesem Sand vermischte Saat habe im nächsten Jahr sehr reiche Frucht getragen. Deshalb sei es dazu gekommen, dass Eine gewonheit si nun han, Daz sie durch die sache zwir Jedes jares kumen zu mir: Diz meinet der man und der sant Den er hat in siner hant. (V. 8654–8658)
Die Erzählung des Eremiten Copres dokumentiert den Übergang vom individuellen Wirken des Heiligen zur kultischen Verehrung und zum rituellen Handeln, denn es ist zu einer Gewohnheit der Bauern geworden, jedes Jahr aufs Neue um den Segen für die Ernte zu bitten. Zugleich wird in der Erzählung diese Installation eines neuen Kultes eng mit der Mission verbunden. Den Bauern erscheint die neue christliche Religion als ein Vorteil, weil sie ihnen mittels des Segens des Heiligen eine bessere Ernte zu verschaffen vermag. Hier wird, abseits aller Theologie, eine kulturelle Pragmatik in den Text inseriert, denn es ist unmittelbar einsichtig, dass die Mission hier mit ökonomischen Argumenten durchgeführt wird.
Askese und Erzählen (Copres)
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Wie relevant das Thema des Wirtschaftens auch im Zusammenhang des legendarischen Erzählens ist, zeigt eine weitere kurze Episode, die Copres aus seinem Leben erzählt. Copres hat in der Nähe seiner Zelle einen kleinen Garten, aus dem ein ‚heidnischer‘ Dieb eines Tages einen Kohl stiehlt. Der Dieb trägt den Kohl davon und wirft ihn in einen Kochtopf mit Wasser, unter dem ein Feuer brennt, um ihn zum Teil seines Mahles zu machen. Als die anderen Zutaten fertig sind, stellt der Koch zu seiner Verwunderung fest, dass das Kohlwasser noch kalt ist. Auch die größten Mühen beim Schüren des Feuers können daran nichts ändern. Der Dieb macht sich Gedanken: Er sprach: ‚diz urkunde Daz ich han an dem kole gesehen, Mac wol von sunden sin geschehen, Wan ich in heimlichen stal, Des niht zu rehte wesen sal.‘ Sus quam er in eine ruwe. (V. 8870–8875)
Das göttliche Wunder ereignet sich an einem Produkt des täglichen Lebens. Die Heiligkeit erweist sich als eine wirksame Macht, die sich selbst (oder gerade) in den einfachsten Bereichen des Lebens zeigt. Der Dieb kehrt mit dem Kohl zu Copres zurück, der den Reuigen bei sich aufnimmt und mit dem Kohl zudem einige Brüder, die sich an eben jenem Tag bei ihm einfinden, bewirten kann. Damit ‚nährt‘ die Geschichte vom Kohldieb die Reisenden in doppelter Weise: Sie profitieren von ihrer Lehre und von dem zurückgegebenen Gemüse selbst. Die Erzählung und der Kohl werden als ‚Lebensmittel‘ analogisiert. Wilhelm Bousset hat bereits 1923 mit Blick auf die Vätersprüche eine ähnliche Beobachtung gemacht: Es „haben die Mönchgemeinschaften und Klöster vieler Jahrhunderte und vieler Gegenden von den Apophthegmata gelebt.“334 Durch die Anlage der Erzählungen in der Copres-Episode und die Betonung des Themas der Zeitlichkeit und der ‚sprechenden Toten‘ werden die Persistenz der Wüstenväterkultur und deren Heiligkeitsentwürfe durch die Erzählungen zum Vorschein gebracht. Dabei werden die Wahrhaftigkeit der Berichte und deren Bindung an die Autorität des auch durch Taten wirkenden Eremiten hervorgehoben. Copres erzählt von seinen Taten; die Wunder werden durch die göttliche Vision und durch die weiteren Wunder, die sich vor den Augen der Reisenden
334 Bousset, Wilhelm: Apophthegmata. Studien zur Geschichte des ältesten Mönchtums. Hrsg. von Theodor Hermann/Gustav Krüger. Tübingen 1923, S. 93.
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ereignen, beglaubigt. So sollen auch die Rezipienten die schriftlich vermittelten Erzählungen im ‚Väterbuch‘ als wahrhaftig begreifen, wobei sich das Heil und die Teilhabe am Heil immer aus einem Verhältnis von Sprechen, Lesen beziehungsweise Hören und Tun ergibt. Fast am Ende des Reiseteils wird vom Kloster Thebaida335 berichtet. Die Darstellung spitzt viele der zuvor thematisierten Aspekte noch einmal zu. Die reisenden Mönche erreichen das Kloster, in dem harte wunderlich man pflac / da selzener gewonheit (V. 10604 f.). Innerhalb der Klostermauern liegen sprudelnde Brunnen, die einen Garten voller Obstbäume mit Wasser versorgen. Die Mönche haben alles, was sie zum Leben brauchen, dürfen jedoch die Mauern des Klosters niemals verlassen. Einzig ausgewählte altehrwürdige Mönche dürfen einund ausgehen. Einer von diesen hat die Aufgabe, das Tor zu bewachen, sodass niemand in das Kloster eindringen kann, es sei denn, er will sich dem Orden anschließen. Ist man einmal hineingelangt, darf man nicht wieder hinaus in die Welt außerhalb der Klostermauern. Im Bild des Klosters Thebaida werden irdische und jenseitige Räume mit der Ideologie des monastischen Lebens verbunden: Dem Mönch winkt der Paradiesgarten in der Wüste, wenn er sich endgültig für die Annahme einer neuen Lebensform entscheidet. Im ‚Väterbuch‘ ist diese Lebensform in besonderer Weise durch das friedliche Miteinander der Brüder bestimmt: Allerhande ungute / unde waz dem vride wider ist, / des enwas da niht bi der vrist (V. 10646–10648). Die Paradieshaftigkeit des Ortes wird dadurch unterstrichen, daz ir dekeiner siech wirt / noch zan noch ouge an in swirt, / sunder swanne er sterben sal (V. 10699–10701). Die Mönche leben bis zum Zeitpunkt ihres Todes ohne Krankheit oder Siechtum, wodurch die ewige Unsterblichkeit des Jenseits präfiguriert wird.336 Der Text legt zudem ein besonderes Gewicht auf die Bedeutung der regel für das Leben der Klosterangehörigen. Als die reisenden Brüder den Torwächter darum bitten, ins Kloster eingelassen zu werden, Do begonde uns vor lesen Der alte me unde me Beide ir regeln und ir ê, Wie des nieman virhienge Daz man druz unde drine gienge, Sunder swer dar in ge,
335 Das berühmte Kloster des heiligen Isidorus. 336 Vgl. zu den spezifischen Konstruktionen von monastischem Raum und Zeit auch Stewart (2011), besonders S. 47–49, die argumentiert, dass beides im Kloster eng in der Bezogenheit auf das Jenseits gesehen wurde.
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Der blibe drinne immer me, Als in die regele gebot. (V. 10666–106703)
Die Ordensregeln und das, was mit der Annahme der Regel zu gewinnen ist, muss gerade für nicht klerikal Gebildete von besonderer Bedeutung gewesen sein. Ihnen erschließt sich der Sinn von Gehorsam und Enthaltsamkeit nicht ohne Weiteres, weil sie nicht um deren eschatologische Dimension wissen. Das Kloster Thebaida stellt eine eindrückliche Verbildlichung dar: So wie die Brüder von Thebaida abgeschieden und doch in vorparadiesischer Einheit miteinander leben, so erscheinen alle Mönchsgemeinschaften als Abbild und Präfiguration der jenseitigen und ewigen Heilsgemeinschaft. Am Beispiel des heiligen Johannes hat sich gezeigt, wie problematisch das Verhältnis von Askese, Lehre und Verehrung ist. Die Eremiten sind mit einem Problem konfrontiert, das den Märtyrern naturgemäß erspart blieb: der allseits bekannten Heiligkeit zu Lebzeiten. Mit der göttlichen Auszeichnung, die sich in der Wundertätigkeit erweist, besteht zugleich die Gefahr der Dissoziation von innerer Haltung und äußerer Form. Nicht zuletzt wird damit auch ein Konzept von Heiligkeit entworfen, in dem diese immer wieder infrage steht und sich immer neu erweisen muss. Daraus ergibt sich eine Form des legendarischen Erzählens, die weniger als die Märtyrerlegenden durch Finalität geprägt ist. Die Betrachtung des Berichts vom heiligen Apollonius hat gezeigt, dass auch die Figuren der Wüstenväter nach dem Prinzip einer imitatio Christi gestaltet sein können. Dabei steht aber meist nicht (wie bei den Märtyrern) die Passion als Nachzuahmendes im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Akt der Gemeinschaftsstiftung und die Pflege derselben. Der Bezugspunkt ist nicht Christus allein, sondern die Gemeinschaft von Christus und seinen Jüngern. In der Inszenierung der imitatio Christi als Gemeinsamkeit tritt einmal mehr die hohe Bedeutung der Gemeinschaft für den Spiritualitätsentwurf der Eremiten hervor. Am Beispiel des heiligen Copres konnte gezeigt werden, dass sich Vermittlung und Gemeinschaft nicht nur auf einen Zusammenhang innerhalb der Diegese beziehen, sondern dass der Text vielmehr über sich selbst hinaus auf seine Rezipienten weist. Das Zurückdrehen der Zeit lässt sich als Hinweis auf die Überzeitlichkeit der dargestellten Heiligkeit lesen, die durch die Erzählung vermittelt wird. Dabei sind die Wahrhaftigkeit des Erzählens und seine Verbindung mit der tätigen Tugend von zentraler Bedeutung. Indem die Handlung im Raum der Wüste situiert ist, den die Reisenden immer wieder durchdringen müssen, um von einem Eremiten zum anderen zu gelangen, bleibt das asketische Moment immer präsent. So können zentrale
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Themen der monastischen Kultur und Literatur behandelt werden und dennoch bleibt die Erzählung stets auch Teil des religiösen Vollzugs, insofern sie immer auch Vergegenwärtigung des Raums der Askese und eine imaginäre Wanderung durch die Welt der Wüstenväter ist, die im Klosterparadies von Thebaida endet. Die Wüstenreise als strukturbildendes Moment spielt eine zentrale Rolle im ‚Väterbuch‘. Dieser Umstand verweist aber zugleich auf die prinzipielle Bedeutung narrativer Strukturen für die je spezifische Konstruktion von Heiligkeit. Davon war schon Feistner bei ihrer Unterscheidung von Märtyrer- und Bekennerlegenden337 ausgegangen. Entscheidender als diese ist hier aber die grundsätzliche Annahme einer Bezüglichkeit zwischen narrativer Struktur und Heiligkeitsmodell. Wie sich zu zeigen beginnt, schlägt sich im ‚Väterbuch‘ besonders das Paradigma der Gemeinschaft in narrativen Strukturen nieder. Harald Haferland argumentiert, dass Legenden den kognitiven Prozess nachbildeten, welcher der Reliquienverehrung zugrunde liegt. Bei dieser nimmt der Gläubige das zum Heiligen in einem metonymischen Verhältnis stehende Objekt wahr und vergegenwärtigt zugleich den Heiligen selbst. Legenden „tragen zusammen, wodurch die Zuschreibung von Heiligkeit begründet ist“338 und vergegenwärtigen es dadurch. Sie können so zum Ort der Manifestation des Heiligen werden. Für die Wüstenväter gelten diese Überlegungen vielleicht noch mehr als für andere Heilige, denn sie erscheinen nie als singuläre Gestalten, sondern immer als Teil einer Gemeinschaft der Eremiten, die sich selbst als Abbild der himmlischen Gemeinschaft versteht. Insofern trägt das ‚Väterbuch‘ zusammen, wodurch die Heiligkeit der Wüstenväter begründet ist. Damit geht allerdings einher, dass die Finalität der Legende an Bedeutung verliert. Die Erzählungen im ‚Väterbuch‘ sind eher durch Offenheit charakterisiert. Sie begründen ein kulturelles Kontinuum, das bis in die Gegenwart der Rezeption und über diese hinaus in die Zukunft reicht. Außerdem stellen sie die Askese als einen fortlaufenden Prozess ohne Endpunkt dar. Die Standfestigkeit des Asketen und damit auch der Ausgang der Legende stehen immer infrage. So können im ‚Väterbuch‘ Erzählungen eben auch damit enden, dass ein Eremit trotz
337 Vgl. Feistner (1995), S. 27. Vgl. zu einem weiteren Strukturmodell auch Bachorski, Hans-Jürgen/Klinger, Judith: Religiöse Leitbilder und erzählerisches Spiel. Zur mittelalterlichen Legende. In: Literatur als religiöses Handeln? Hrsg. von Karl Erich Grözinger. Berlin 2004b (Religion, Kultur, Gesellschaft 2), S. 99–133. Zur Kritik von Feistners Versuch der Differenzierung von Märtyrerund Bekennerlegenden vgl. Bleumer, Hartmut: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 231–261. 338 Haferland (2005), S. 334.
Askese und Erzählen (Copres)
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vorheriger vorbildlicher Lebensführung fehlgeht und heulend in den sündigen Abgründen der Städte verschwindet. Erkennbar wird, dass sich in den Erzählstrukturen und -momenten im ‚Väterbuch‘ auch dessen spezifische Konzeption von Heiligkeit abbildet und vollzieht. Zugleich lässt sich in den häufigen Wiederholungsstrukturen des Textes eine Repräsentation der regelmäßig wiederholten Regeln der monastischen Lebensform und insofern ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem religiösen Vollzug erkennen. Der Text hat also auch eine entscheidende performative Dimension. Er trägt zur Herstellung der monastischen Lebensform ebenso bei, wie er von ihren Ursprüngen erzählt.
8 Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata) Der Spruch ist seit der Antike eine fest verankerte Form des Transfers und der Bewahrung von Tradition und Wissen. In mündlich weitergegebenen oder schriftlich festgehaltenen Sprüchen werden die Lehren und Weisheiten aufbewahrt, die bedeutsam und prägend für eine Kultur sind. Sie können so Generationen und Epochenschwellen überdauern. Doch die Aussagekraft historischer Sprüche geht noch weiter: Abhängig von den jeweiligen kulturellen Verhältnissen einer Epoche geben Sentenzen und Sprichwörter daher nicht nur Einblick in elementare Erfahrungen und Orientierungsweisen. Vielmehr sind sie auch zentral für das Verständnis vergangener und historisch fremdgewordener Formen, in denen Menschen und Gemeinschaften mündlich wie schriftlich, alltagssprachlich wie literarisch kommuniziert haben.339
Dennoch scheint die schriftfixierte Moderne mit dieser ursprünglich immer mündlich gedachten Form wenig anfangen zu können, denn Forschungsarbeiten zu Sprüchen sind in den Literaturwissenschaften rar.340 Die wenigen Auseinandersetzungen mit den Sprüchen der Wüstenväter sind zudem häufig älteren Datums und an der Methode und den Fragestellungen der Formengeschichte orientiert. So fasst etwa André Jolles den Spruch als „die litterarische Form, die eine Erfahrung abschließt, ohne daß diese damit aufhört, Einzelheit in der Welt des Gesonderten zu sein.“341 In den historischen Disziplinen haben die Apophtheg mata eine zwischenzeitliche Konjunktur erfahren, weil sich aus ihnen ein ver-
339 Eikelmann, Manfred/Tomasek, Thomas (Hg.): Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. Bd. 1: Einleitung und Artusromane bis 1230. Berlin/Boston 2012, S. 3. 340 Eine Ausnahme bildet das Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter von Manfred Eikelmann und Thomas Thomasek. Die Herausgeber unterstreichen in ihrer Einleitung jedoch nachdrücklich die Bindung des Spruchs an seinen Zusammenhang und damit die Beschränkung ihrer Überlegungen auf Spruch und Sentenz in der höfischen Literatur Eikelmann/Tomasek (2012), S. 3: „Dem kulturellen Wissen, das in Sentenzen und Sprichwörtern zirkuliert, ist losgelöst von seinen Verwendungskontexten und Funktionen nicht beizukommen; es erschließt sich nur dann, wenn man die Verwendung einer Sentenz oder eines Sprichworts in einer je konkreten kommunikativen Umgebung berücksichtigt.“ Zudem verweisen sie darauf, dass Sprüche und Sentenzen im literarischen Zusammenhang „sich […] fast immer als schriftliterarisch reflektiert und damit als komplex gestaltetes dichterisches Phänomen“ (S. 10) erweisen. Das mag für Sprüche und Sentenzen innerhalb der volkssprachigen Literatur des Mittelalters zutreffen, für Sammlungen von Sprüchen, wie sie sich in der Vitaspatrum-Tradition finden, gilt diese Setzung nicht unbedingt. 341 Jolles (1958), S. 156.
Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata)
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meintlich genaueres Bild der asketischen Kultur gewinnen ließ als aus den literarisch geformten Mönchsbiographien.342 Doch auch dieser These ist inzwischen widersprochen worden, da auch die Sammlungen der Apophthegmata mitnichten ungeformt sind, sondern vielmehr zum Zweck der Unterweisung zusammengestellt und bearbeitet wurden.343 Der Spruch lässt sich formal und inhaltlich bestimmen: Sprüche sind „gnomische Kleintexte, die einen selbständigen Einzelgedanken apodiktisch formulieren“.344 Sie fassen ein „auf Grundtatsachen bezogenes Orientierungsund Erfahrungswissen in die Form knapp, allgemeingültig und verbindlich formulierter Rede“.345 Wenngleich damit einige Anhaltspunkte zur Bestimmung gegeben sind, steht der Begriff ‚Spruch‘ doch auch für eine große Vielfalt von Formen gnomischer Literatur, zum Beispiel Sprichwörter, Sentenzen, Apophthegmata oder Sangspruchdichtung.346 Die Aussprüche (Apophthegmata) der Wüstenväter wurden bereits früh zu großen Sammlungen zusammengetragen, wobei umstritten ist, ob die schriftlichen Sammlungen tatsächlich durch unmittelbare Übertragungen mündlicher Äußerungen enstanden, oder ob nicht vielmehr (auch) literarische Quellen angenommen werden müssen.347 Die ersten schriftlichen Sammlungen von Apophthegmata sind mit einiger Wahrscheinlichkeit in griechischer Sprache abgefasst
342 So etwa der Ansatz von Dörries, Hermann: Die Vita Antonii als Geschichtsquelle. In: Wort und Stunde. Bd. 1: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts. Hrsg. von dems. Göttingen 1966 (Erstpublikation 1949), S. 145–224. Einen kurzen Überblick über die Forschungsdiskussion zu den Apophthegma bietet Müller (2000), S. 17–20. 343 Vgl. Rubenson, Samuel: Argument and Authority in Early Monastic Correspondence. In: Foundations of Power and Conflicts of Authority in Late-Antique Monasticism. Proceedings of the International Seminar Turin, December 2–4, 2004. Hrsg. von Alberto Camplani/Giovanni Filoramo. Leuven u. a. 2004 (Orientalia Lovaniensia analecta 157), S. 75–87; hier S. 75 f. und die früheren Arbeiten dieses Autors. 344 Eikelmann, Manfred: [Art.] Sprichwort. In: RLW. 3. Aufl. Bd. III. Berlin/New York 2003, S. 486–489; hier S. 487. 345 Eikelmann, Manfred: [Art.] Gnomik. In: RLW. 3. Aufl. Bd. I. Berlin/New York 1997, S. 732–734; hier S. 732. 346 Hier wird bewusst auf eine Bestimmung des Spruchs als literarischer ‚Gattung‘ verzichtet. Einerseits, weil dies nach einer eigenen Studie verlangen würde, andererseits, weil die Sprüche im ‚Väterbuch‘ sich nur schwerlich unter einer aussagekräftigen Gattungsdefinition vereinen ließen. Vgl. dazu aber Verweyen, Theodor: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Homburg v. d. H. u. a. 1970 (Linguistica et Litteraria 5), S. 20–78. 347 Vgl. dazu Müller (2000), S. 20–27.
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worden.348 Sie wurden im Griechischen als ‚Apophthegmata‘, ‚Gerontikon‘ oder ‚Paterikon‘, im Lateinischen als ‚Verba seniorum‘ oder ‚Adhortationes sanctorum patrum‘ bezeichnet. Die Sammlungen konnten alphabetisch oder nach syste matischen Gesichtspunkten geordnet sein. Die Sprüche im ‚Väterbuch‘ sind systematisch angeordnet und bilden so die „Topoi mönchischer Lebensordnung“349 ab. Insgesamt stellt der ‚Sprücheteil‘ ein Panorama monastischer Lebensformen und eine schier unerschöpfliche Quelle der Weisheit der Wüstenväter dar. Als spezifische Eigenschaften der Apophthegmata benennt Jean-Claude Guy den fragmentarischen Charakter, die Diversität der enthaltenen Regeln und Lebenspraktiken, die prinzipielle Offenheit für die Variation und schließlich, dass die Sprüche in ihrer Gesamtheit ein Grundlagenwerk der Spiritualität der Wüstenväter darstellen.350 Die Apophthegmata offenbaren die auf Lehre und Weitergabe angelegte Ordnung der asketischen Gemeinschaften. Der Schüler erkennt den Vorsprung an Erfahrung des Vaters an und drückt dies in der Bitte um ein ‚Wort‘, das heißt eine mündliche Belehrung, aus.351 Viele Wüstenväter sind überhaupt nur durch die von ihnen überlieferten Aussprüche bekannt. Wenngleich der Spruch eine Lehrform der Eremiten war, wurden die Sprüche in der Regel nicht von den Wüstenvätern selbst verschriftlicht, sondern von den gebildeten Literaten, die zugleich auch Teil der gelehrten Diskurse waren und ihre Texte entsprechend gestalteten. So waren die schriftlichen Apophthegmata, wie auch die Viten, im 4. Jahrhundert ein Austragungsort für theologische Debatten352 und integrierten als Sammlungen unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Positionen.353 Diese Debatten sind jedoch im 13. Jahrhundert und für das im ‚Väterbuch‘ anvisierte Publikum zumindest in Teilen bedeutungslos geworden, weshalb im Folgenden auf die Bedeutung einzelner Sprüche zu ihrer Entstehungszeit nur am Rand eingegangen wird. Stattdessen stellt sich die Frage, welche Logiken und Aussagen die Zeiten überdauerten und im 13. Jahrhundert noch wirksam waren.
348 Vgl. Müller (2000), S. 27. Müller weist darauf hin, dass sich in den überlieferten koptischen Sammlungen Spuren dafür finden lassen, dass diese aus dem Griechischen übersetzt sind. 349 Hoffmann/Williams (1999), Sp. 451. 350 Vgl. Guy, Jean-Claude: Les apophtegmes des Pères. Collection systématique. Chapitres I–IX. Paris 1993 (Sources chrétiennes 387), S. 18–21. 351 Vgl. Frank, Karl Suso: Asketinnen in den Apophthegmata Patrum. In: „… weil sie mehr liebte.“ Frauen im frühen Mönchtum. Tagungsberichte der Beuroner Tage für Spiritualität und Mystik. Hrsg. von Jakobus Kaffanke. Beuron 2002, S. 22–36; hier S. 22 f. 352 Vgl. zu diesem Komplex z. B. Clark, Elizabeth A.: The Origenist Controversy. The Cultural Construction of an Early Christian Debate. Princeton 1992. 353 Vgl. Rousseau (2004), S. 92.
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Die besondere Form der Apophthegmata definieren Theodor Verweyen und Gunther Witting wie folgt: Prosaform, quantitative Kürze, gedankliche Abbreviatur, auf ‚occasio‘ und ‚sententia‘ (‚dictum‘) beruhende Zweiteiligkeit (wobei occasio den Anlaß bezeichnet und sententia im Sinne witziger bzw. merkspruchartiger Rede zu verstehen ist), Sprechererwähnung (Namensnennung oder Charakterisierung), zumindest der Anschein historischer Verbürgtheit, Tendenz zur Pointe.354
Innerhalb der übergeordneten Gruppe der Sprüche werden Apophthegmata also durch die Zweiteilung und die Namensnennung, das heißt durch die Bindung an eine Autorität differenziert. Die Voraussetzung der Prosaform gilt für das ‚Väterbuch‘ aufgrund der durchgängigen Versform natürlich nicht. Zur Illustration der formalen Bestimmung des Apophthegmas kann ein kurzes Beispiel herangezogen werden, das am Beginn des ‚Sprücheteils‘ im ‚Väterbuch‘ steht (V. 11577– 11584). Einem Mönch wird die Nachricht überbracht, dass sein Vater gestorben sei. Er antwortet darauf: Se, wie sagestu mir so? Du irrest des gelouben dich, Min vater ist untotlich. In dem himelriche Da lebet er ewicliche. (V. 11580–11584)
Die Zweiteilung des Textes ist deutlich. Die occasio ist die Benachrichtigung des Mönches vom Tod seines (biologischen) Vaters. Die sententia ist die zitierte Erwiderung. Ein Name des Mönches wird nicht genannt. Stattdessen wird er als bruder (V. 11577) bezeichnet. Zwar weist das ‚Väterbuch‘ auch Sprüche auf, die den bekanntesten Wüsteneremiten namentlich zugeordnet sind, doch ist die Zuschreibung zu einem namenlosen vater oder bruoder mindestens genauso häufig. Die dahinterstehende Logik ist unmittelbar einsichtig: Die Wüsteneremiten sind durch ihr asketisches Leben in der Wüste allesamt ausgezeichnet und jeder von ihnen kann als Autorität wirken. Deshalb hat das Wort jedes beliebigen Wüstenvaters ebenso viel Gewicht wie das der bekannten Heiligen Antonius oder Macarius.355
354 Verweyen, Theodor/Witting, Gunther: [Art.] Apophthegmata. In: RLW. 3. Aufl. Bd. I. Berlin/ New York 1997, S. 106–108; hier S. 106. 355 Eine Zusammenfassung aller namentlich benannten Wüstenväter in den Apophthegmata findet sich bei Guy (1993), S. 46–79.
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Die pointierte Zuspitzung min vater ist untotlich (V. 11582) lässt sich als imitatio Christi verstehen und umfasst zugleich den Grundgedanken des eremitischen Rückzugs. Das weltliche Verhältnis von Vater und Sohn wird mit der Entscheidung für das Wüstenleben aufgehoben. Es wird durch die Ausrichtung des Lebens auf den göttlichen untotlichen ‚Vater‘ ersetzt. Deshalb kann der Mönch in der entworfenen Situation dem Boten vorwerfen, er würde fehlgehen, und aus dieser Zurechtweisung die prägnante Sentenz formen. Zugleich kann der Spruch als Orientierungswissen gelten, denn der Mönch verweist bei seiner Rede auf den falschen gelouben (V. 11581) des Boten und bindet damit seine Ablehnung welt licher Verwandtschaft zugunsten der Gottesnähe an den ‚richtigen‘ Glauben. Doch nicht immer müssen die Sprüche der Wüstenväter narrativ gerahmt sein. Noch häufiger sind Texte, die nur den Namen des Sprechers nennen oder ausschließlich das Wort eines unbekannten Vaters überliefern. Frank nimmt am Beispiel des Vaters Poimen eine heuristische Unterteilung in vier verschiedene Spruchtypen vor: „1/2. Das erfragte Wort in der Form des Heilswortes und des Lehrwortes. 3. Der unerfragte Weisheitsspruch.
4. Das anekdotische Apophthegma.“356 Wobei die vier Typen mit je unterschiedlich großen narrativen Anteilen einhergehen.357 Die Sprüche im ‚Väterbuch‘ sind, darauf verweist der Text selbst (V. 11546), größtenteils dem fünften und sechsten Buch der ‚Vitaspatrum‘ entnommen, die aus unbekannten griechischen Quellen stammen.358 Die Übersetzung ins Lateinische wird dem Papst Pelagius I. und seinem Nachfolger Johannes III. zugeschrie-
356 Frank (1989), S. 343. 357 Guy (1993), S. 21–23 identifiziert hingegen fünf Typen, da er zusätzlich eine Mischform annimmt: „1. La première catégorie est celle qui correspond le mieux à la définition du mot. Ce sont des pièces composées de deux éléments: d’une part, la demande faite au maître par un disciple de recevoir une „parole de salut“ (a); d’autre part, la réponse, souvent énigmatique, de l’ancien (b). [...] 2. Dans plusieurs autre cas, la parole rapportée n’est pas la réponse individuelle d’un maître au questionnement d’un disciple, mais l’extrait d’une exhortation collective. [...] 3. Voisins de ces deux premiers types sont ces petits traits biographiques que l’on rapporte parce qu’ils ont une valeur de paroles, c’est-à-dire en raison de l’enseignement qu’il peuvent fournir. […] 4. Dans la dérive de ce troisième type, il faut placer d’autres morceaux qu’on hésitera à appeler encore ‚apophthegmes‘, car ce sont de longs récits qui ont eu sans doute leur existence auto nome avent d’être intégrés tardivement dans des collections. […] 5. D’autres enfin ne sont ni des paroles prononcées, ni des récits autonomes, mais des extraits d’une littérature antérieur et qu’il est parfois difficile de distinguer des véritables apophthegmes.“ 358 Vgl. zur Geschichte der ,Apophthegmata patrum‘ auch Verweyen (1970), S. 88 f. Die griechische Überlieferung der Apophthegmata ist umfassend aufgearbeitet bei Guy, Jean-Claude: Recherches sur la tradition grecque des Apophthegmata Patrum. Brüssel 1962 (Subsidia Hagiographica 36).
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ben. Die Anordnung der Sprüche weicht im ‚Väterbuch‘ von der in den ‚Vitaspatrum‘ ab, zudem sind in den Text auch immer wieder Sprüche eingewoben, die aus dem dritten Buch der ‚Vitaspatrum‘ stammen und ebenso wie die ‚Historia monachorum‘ von Rufinus von Aquileia ins Lateinische übertragen wurden. Zwei Erzählungen sind nicht den ‚Vitaspatrum‘, sondern der ‚Legenda aurea‘ entnommen. Für eine Reihe weiterer Passagen lässt sich keine Quelle finden. Der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ hat sie vermutlich selbst abgefasst. Im Durchgang durch den ‚Sprücheteil‘ wird die Vielfalt dessen augenscheinlich, was unter dem Begriff Spruch subsumiert ist. Zwar bilden Apophthegmata in der hier entwickelten Form den Hauptbestand des ‚Sprücheteils‘, doch überschreitet eine ganze Reihe von Textpassagen sehr deutlich das Grundmuster von occasio und sententia. Komplexere Sprüche beinhalten häufig Exempel und Parabeln. Darüber hinaus enthält der ‚Sprücheteil‘ kurze lehrhafte Erzählungen und Anekdoten aus dem Leben der Väter, in denen der Spruch selbst nur den kleineren Teil des Textes bildet. Solche Erzählungen finden sich insbesondere über die populären Wüstenväter, wie Moyses den Äthiopier, Macarius den Großen oder Pachomius den Älteren, aber auch in den reichlich vorhandenen Erzählungen vom Teufel. Im Folgenden wird der Sprücheteil nicht chronologisch durchgegangen, sondern es werden exemplarische Passagen nach systematischen Gesichtspunkten zusammengefasst. Diese betreffen einerseits die Form der Sprüche und andererseits bestimmte thematische Komplexe. Zunächst soll der Prolog des ‚Sprücheteils‘, der auf die Funktion der Wüstenvätersprüche für die monastische Kultur eingeht, in den Blick genommen werden.
8.1 Funktionen des Spruchs Im Prolog des ‚Sprücheteils‘ formuliert der Erzähler den von ihm erwarteten Umgang der Rezipienten mit dem Text. Dabei bedient er sich eines höchst lebenspraktischen Bildes, nämlich dem des Spiegels, der zeigt, welche Stellen am eigenen Körper verschmutzt sind und des Waschens bedürfen: Ich weiz wol harte nutz wesen Den spiegel vor den ougen haben, Wan daran ist vil drate entsaben Waz man waschen sal bisit. (V. 11524–11527)
So wie man regelmäßig in den Spiegel sieht, um äußeren Schmutz zu entfernen, so wirken die Sprüche der Wüstenväter als Spiegel, durch dessen Konsultation die (inneren) Beschmutzungen der Seele erkennbar werden. Der alltägliche Vorgang
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des ‚Waschens‘ verweist dabei auf den pragmatischen Charakter des Sprücheteils: Viele der Aussagen der Wüstenväter sind als unmittelbare Handlungsanweisungen zum ‚richtigen‘ Leben und zur ‚Reinigung‘ der Seele zu verstehen. Zugleich ist das Lesen des Textes selbst Teil der religiösen Praxis, denn die Lesung war laut den Ordensregeln fester Bestandteil des monastischen Tagesablaufs. Damit konkretisiert der Text die Metapher der ‚Spiegelliteratur‘, die im Mittelalter vielfach in Gebrauch war.359 Als Gattungsbegriff wird ‚Spiegel‘ allerdings nicht verwendet. In der ‚Antoniusvita‘ ist die Konstruktion des Ursprungs der Eremitenbewegung ein zentrales Anliegen. Der ‚Reiseteil‘ erschließt die Topographie der Wüste als zentralen imaginären Raum der monastischen Kultur. Der ‚Sprücheteil‘ weist nun in eine dritte Richtung, die im Bild des Spiegels aufbewahrt ist: In der Menge der aneinandergereihten Sprüche entsteht ein komplexes, literarisch vermitteltes Regelwerk, das auf die Konstitution einer spezifischen Lebensform, nämlich die des Mönches, zielt. Dabei können die Sprüche und Erzählungen auch Lebensbereiche erfassen, die den tatsächlichen Ordensregeln unzugänglich bleiben. In der literarischen Form lassen sich innere Haltungen, Gefühle und zwischenmenschliche Verhältnisse bearbeiten. Im Zentrum steht dabei die Demut, die zwar in den Ordensregeln gefordert, aber kaum präzise bestimmt werden kann. Hier etwa greift der literarische Text ein und buchstabiert diese wichtigste aller monastischen Tugenden in einer Vielzahl von Aussagen und Beispielen aus. Der Erzähler wendet sich im Prolog des ‚Sprücheteils‘ ausdrücklich an eine ideale Rezeptionsgemeinschaft: Nur jene könnten einen Nutzen aus den Sprüchen und Beispielen ziehen, die mit dem herzen (V. 11531) zu sehen vermögen und nicht von ihrem vel (V. 11530) daran gehindert werden. Die Haut verweist dabei auf den das Herz umschließenden Körper, dessen Wahrnehmungen und Regungen dem Herzen den Blick verstellen können. Wer aber mit dem Herzen sehen kann, der vermag auch der folgenden Spruchsammlung zu entnehmen, wie er sich zieren an tugenden sal / und bewaren der sunden val (V. 11533 f.). Die Einführung eines idealen Publikums in dieser Weise ist vor allem aufgrund des nun Folgenden bedeutsam. Im Anschluss an den ersten Teil des Prologs setzt sich der Erzähler mit der Volkssprachlichkeit des Textes auseinander. Es wird von der ursprünglichen Fassung seines Stoffes in griechischer Sprache und von dessen Übertragung ins Lateinische berichtet. Die Erzählungen seien so aber manigen […] virborgen bliben / der niht latin virstat (V. 11554 f.). Dieses Manko ist mit der vorliegenden Übersetzung behoben. Damit wird klar, dass der Text hier einen Hiatus zu überspannen sucht: Seine Rezipienten sind nicht klerikal gebil-
359 Vgl. Roth, Gunhild: [Art.] Spiegelliteratur. In: LexMa. Bd. 7. München 1995, Sp. 2101 f.; hier Sp. 2101.
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det, verfügen aber dennoch über die richtige Haltung und sind den gewöhnlichen Mönchen gleichgestellt. Der Prolog endet mit einem programmatischen Väterspruch, der sich noch als Teil der Einführung zum ‚Sprücheteil‘ verstehen lässt. Ein Mönch ist im Begriff, zu sterben, und wird von seinen Mitbrüdern um einen Spruch, ein gutes und nützliches Wort als erbe (V. 11596), gebeten. Er antwortet ihnen Folgendes: Waz sal ich uch me sagen? Ich enhan bi allen minen tagen Gevolget minem willen nie. Swaz ich daz volc gelart han ie, Daz hielt ich allez selber e: Ine weiz waz ich uch sage me. (V. 11601–11606)
In den letzten Worten des Mönchs entfaltet sich der spezifische Status der Sprüche als Teil der Gemeinschaftslogik des ‚Väterbuchs‘: Die weltliche Logik des ‚Erbens‘ wird dem Vermächtnis der Wüstenväter nicht gerecht, weil ihre Weisheit nicht als persönlicher Besitz zu verstehen ist. Im Idealfall besteht eine vollständige Übereinstimmung von Leben, Lehre und Gemeinschaft, sodass das Leben des Einzelnen nur als Teil eines Ganzen denkbar ist. Deshalb hinterlässt der Mönch keinen Nachlass und auch keine summa seines Lebens. Solange er sein Leben im Vollzug der religiösen Praxis verbrachte, war das Weitergeben von Weisheit ein Teil seines Wirkens. In dem Augenblick, in dem seine Askese durch den Tod im Begriff ist, zum Stillstand zu kommen, verstummt auch er. Insofern wird mit der Auswahl dieses Spruchs, der in den ‚Vitaspatrum‘ an ganz anderer Stelle steht, auch die Leitidee des ‚Väterbuchs‘ manifest.
8.2 Einfache Sprüche und das Wissen der Mönche Die häufigste occasio im ‚Sprücheteil‘ stellt die Bitte eines Jüngeren oder Bruders um ‚ein Wort‘ eines Älteren dar: ‚Vater, sage mir…‘. Oft (aber nicht immer) sind diese Bitten auf ein bestimmtes Thema oder Problem hin konkretisiert. Meist enthalten die Sprüche unmittelbare Anweisungen für richtiges Verhalten. Der Ältere ermahnt den Jüngeren typischerweise, demütig zu sein (z. B. V. 11646), keine Bekanntschaft mit Frauen und Kindern zu pflegen (z. B. V. 11652 f.) oder seine Zunge im Zaum zu halten (z. B. V. 11657). Neben den regelhaften allgemeinen Aussagen antworten die Vätersprüche teilweise auch auf Fragen, in denen übergeordnete Aspekte der monastischen Kultur thematisiert werden. So wird ein Vater von einem Jüngeren gefragt, ob
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es besser sei, mit anderen Menschen zusammen oder allein zu leben (V. 18895– 18916). Der Ältere belehrt den Jüngeren, dass die innere Haltung entscheidend sei und nicht die Frage, ob man in Gemeinschaft lebe oder nicht: Wil ein man sich selbe ansehen, Bereffen an im sine unzuht Mit al sulher tugende vruht, Ist er sicher swa er si, Alein oder luten bi. (V. 18900–18904)
Zum Teil stehen die einzelnen Vätersprüche in Gruppen zusammen und bilden so größere Einheiten. Die Kombination verschiedener Erzählungen, Erzählformen und Reflexionsebenen eröffnet damit die Möglichkeit, trotz der formalen Einfachheit des einzelnen Spruchs komplexe Zusammenhänge zu entwerfen und zu verhandeln. Drei dieser Komplexe, die von hoher Relevanz für die monastische Kultur sind, sollen im Folgenden dargestellt werden. Den ersten Komplex bilden negative Emotionen, den zweiten die mönchischen Tugenden, bei denen die Demut im Zentrum steht, und den dritten die Eschatologie. Im ersten Abschnitt des ‚Sprücheteils‘, der sich mit Emotionen360 befasst (V. 13073–13372), finden sich Auseinandersetzungen mit zorn, nît und haz. Der Text geht mit den Emotionen auf unterschiedliche Weise um. So wird zunächst der Zorn in seinen Ursachen und Ausdrucksformen analytisch erfasst, indem ein Vater gefragt wird, wie es dazu kommen könne, dass Zorn entstehe, und warum er so sehr die minne (V. 13077)361 verderben könne. Vier Gründe, so antwortet der
360 Es wäre ein eigenes Forschungsvorhaben, die ‚Vitaspatrum‘-Literatur aus der Perspektive der historischen Emotionsforschung zu untersuchen. Vgl. zu dieser Kasten, Ingrid: Einleitung. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten. Berlin 2003, S. XIII–XXVIII und für eine neuere Zusammenfassung Koch, Elke: Emotionsforschung. In: Literatur- und Kulturtheorien in der germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann/Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 67–101. Gerade mit Blick auf die hier vorgestellten Beispiele wäre aber auch die spezifische Inszenierung des Verhältnisses von innen und außen bzw. Emotion und Expression sicher weiterführend. Vgl. dazu Eming, Jutta: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39); bes. S. 36–39 u. 53–64. 361 Wie bereits dargestellt wurde, ist die minne im gesamten ‚Väterbuch‘ ein wichtiges Thema. Das zeigt sich auch an dieser Stelle noch einmal, denn die Gefährdung der minne durch den zorn ist eine Hinzufügung des deutschen Textes. Der lateinische Text handelt nicht von minne. Vgl. Vitae patrum (Rosweyde), Sp. 773 f. u. Leben der Väter (Sintzel), Bd. II, S. 125 f.
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Alte, könne der Zorn haben. Habsucht (girikeit, V. 13083) sei der erste, Feindseligkeit (criec, V. 13089) der zweite, Stolz und Empfindlichkeit (hohvart, V. 13095) der dritte, Eitelkeit und Einbildung (wenn sich einer an wisheit wiser wene / biwilen danne ander zehne, V. 13105 f.) der vierte Grund. Der zorn wird prinzipiell auf die innere Haltung des Einzelnen gegenüber den anderen in der Gemeinschaft zurückgeführt und, anders als etwa in der höfischen Literatur, als eindeutig negative Emotion markiert. Der Ausbruch des Zorns ereigne sich, so führt der Alte aus, in einer bestimmten Reihenfolge an vier Orten: Zum ersten in dem herzen, Dem er git manigen smerzen. Zum andern machet des zorns not Bleich daz antlitze unde rot. Zum dritten uz er brichet So man mit zorn sprichet. Zum vierden male er vollenkumet, Swan der zorn die tat gevrumet. (V. 13113–13120)
Der Spruch erscheint wie eine Anweisung zur Selbstbeobachtung, durch die der Zorn identifiziert werden kann, um ihn zu bekämpfen. Dementsprechend fährt der Vater mit einer Handlungsanweisung fort: Ist daz dich zorn drucket nider Unde an din herze kumt in dich, Da selbest in enzwei brich, Laze in an daz antlitze niht! Ist aber daz man in gesiht In dem antlitze brinnen, So saltu dich virsinnen Und in dannoch nider drumen Und laz in in die wort niht kumen! Mahtu ouch des niht bewarn Er enwolle an worten uzvarn, So wiz noch an den rat gemant Daz in die tat laz unvolant! (V. 13126–13138)
Im Spruch wird hier die Emotion Zorn phänomenologisch erfasst und es werden Mittel zu ihrer Kontrolle angegeben. Es wird so eine Möglichkeit eröffnet, den andernfalls gemeinschaftsgefährdenden Zorn seiner Sprengkraft zu berauben. Eine besondere Dimension gewinnt das Problem offenbar dann, wenn die Ursache für die negativen Emotionen nicht in der Haltung des Fühlenden selbst, sondern im Fehlverhalten eines Mitbruders liegt. In der Logik der monastischen
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Gemeinschaft entsteht hier eine paradoxe Situation: Man ist aus der Gemeinschaft heraus beleidigt worden, soll aber zugunsten der Gemeinschaft auf eine entsprechende Reaktion in Gefühl und Handlung verzichten. Dieses Problem verhandeln die nächsten zwei Abschnitte. Ein Mönch wird von einem anderen beleidigt (betrubet, V. 13140) und entwickelt deswegen einen Groll (nit, V. 13141) auf jenen. Er erzählt dem Vater Sisoyus, was ihm geschehen ist. Der Alte fordert ihn auf, seinem Bruder zu verzeihen, wogegen sich der Mönch jedoch verwahrt. Er besteht darauf, sich für die Beleidigung zu rächen (rechen, V. 13154) und lässt sich von Sisoyus nicht überzeugen, die Rache Gott zu überlassen. Der Alte greift daraufhin zu einer List, um den jungen Mönch den Rachegedanken als Fehler erkennen zu lassen. Er beginnt zu beten: Herre Got, Wir durfen din niht vurbaz Umb uns zu sorgene durch daz, Wir wollen uns selbe wol bewarn Unde an der rache vollen varn, Wir mugen unde wellen, Sus tunket minen gesellen, Disen bruder, der hier ist. (V. 13168–13175)
Der junge Mönch erschrickt bei diesen Worten sehr, bittet den Alten um Verzeihung und vergibt seinem Beleidiger. Die Möglichkeit zur Aufgabe der eigenen Gefühle, die im Fall des Zorns beschrieben wurde, wird hier beispielhaft ins Bild gesetzt. Dem Mönch wird die Bedeutung seiner Haltung innerhalb der Logik der monastischen Gemeinschaft vor Augen geführt. Eine weitere Variation dieses Gedankens stellt der nächste Abschnitt dar, in dessen Mittelpunkt ein Spruch des Vaters Achilles steht. Ein Mönch besucht Achilles und wird Zeuge, wie er Blut ausspuckt. Was das denn bedeute, will der Mönch wissen. Es sei ein haz (V. 13192), der ihn geprüft (bekort, V. 13193) habe, antwortet Achilles. Die negative Emotion hat denselben Grund wie im vorherigen Abschnitt, nämlich die Beleidigung durch einen Mitbruder. Da Achilles die Beleidigung nicht in sich habe behalten können, habe er Gott darum gebeten, sie ihm zu nehmen, und do wart die selbe rede ein blut (V. 13201). Das Blut habe er ausgespuckt und seither sei sein Herz wieder in guter ru (V. 13210). Die Beleidigung wird als Prüfung verstanden und auf Gott verschoben, was die Externalisierung und damit die Mediatisierung der Emotion ermöglicht. Der Umgang mit negativen Emotionen ist ein wichtiges Thema im Zusammenhang von Gemeinschaften. Im ‚Väterbuch‘ schlägt sich dieser Umstand darin nieder, dass Sprüche, die negative Emotionen thematisieren, zusammengefasst
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sind und so verschiedene Aspekte des Problems beleuchten. Dabei wird keine radikale Unterdrückung der Gefühle propagiert, sondern es geht um Selbstbetrachtung, Bewertung und Korrektur des eigenen Verhaltens in Anbetracht seiner Bedeutung für die Gemeinschaft. Die literarische Darstellung und Gestaltung zeigt Emotionen als identifizier- und beeinflussbar und sie exemplifiziert, wie ein Umgang mit ihnen möglich ist. Wie mit negativen Emotionen befassen sich größere Komplexe von Sprüchen auch mit den Tugenden der Mönche. Dabei stellt die Demut ein Paradigma dar, das grundlegend für weitere Tugenden ist. Demut selbst erscheint bereits als ein komplexes Konzept, das Semantiken verschiedener Herkunft in sich vereinigt und bereits in der Bibel verhandelt wird. Im Alten, besonders aber im Neuen Testament wird Demut häufig thematisiert. Dabei grenzt sich die Begriffsverwendung von Anfang an von weltlichen Zusammenhängen ab. Während das griechische Adjektiv ταπεινός und seine Ableitungen in der Septuaginta und dem Neuen Testament fast ausschließlich positiv besetzt sind, hat es in profanen Zusammenhängen eine negative Bedeutung im Sinne von ‚sklavisch handeln‘ oder ‚sich wegwerfen‘.362 In der Bibel hingegen beschreibt der Begriff die Haltung des Frommen in seinem Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen. Der neutestamentliche Demutsbegriff ist eng mit Christus verbunden, weil die Haltung der Demut als Voraussetzung für die Bereitschaft zur Passion beschrieben wird. Demut bezeichnet damit nicht nur die Unterordnung unter die göttliche Gewalt, sondern ist zudem auch immer Nachfolge Christi.363 Die Auseinandersetzungen mit der Demut sind gerade in der Spätantike und im Mittelalter vielfältig. Für die monastischen Zusammenhänge besonders prägend ist die ‚Benediktsregel‘, in der Demut als Mutter aller Tugenden erscheint.364 Aus dieser zentralen Stellung der Demut innerhalb der Klosterkultur erklärt sich auch deren besondere Bedeutung im ‚Väterbuch‘. Der Komplex zur Demut beginnt mit einer Einlassung des Erzählers (V. 22623– 22692), die keine Vorlage in den ‚Vitaspatrum‘ hat. Die Einleitung hebt den engen Zusammenhang der folgenden Sprüche mit der Demut hervor und betont deren Bedeutung. Dabei wird die Funktion der Demut als Leitkategorie hervorgehoben, indem sie der Logik (loyka, V. 22623) entgegengesetzt wird:
362 Vgl. Rehrl, Stefan: [Art.] Demut III/IV. In: TRE. Bd. 8. Berlin/New York 1981, S. 463–468; hier S. 464. 363 Vgl. Rehrl (1981), S. 464 f. 364 Vgl. Rehrl (1981), S. 467.
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Loyca ist ein tief kunst. Ir ist harte gute begunst Deme der zu kunsten wil. Kan er der loyken ê vil, Swelher kunst er dar nach gert, Der wirt er deste baz gewert. Sie ist ein wec zu aller kunst, Wan si scherfet die virnunst. (V. 22623–22630)
Dem Preis der Logik folgt eine Einschränkung ihrer Reichweite. An werltlichem prise (V. 22631) wird man von ihr reich, wer jedoch an der tugende prise (V. 22635) gewinnen und zu Gott streben will, dem hilft die Logik nicht weiter: Den sol ein kunst leiten, Die hat genaden also vil. Zu welher tugende ein man wil, Die mac er wol gewinnen, Wil er die kunst minnen. [...] Die kunst ist aller selde ein blut, Man nennet sie die demut, Uf ertrich ist sie niht erdaht, Wan sie wart von himele bracht. (V. 22640–22656)
So wie Logik die Mutter der artes ist, so ist die Demut die Mutter aller Tugenden. Doch zugleich gewinnt der Logiker nur weltliches Lob, während dem Demütigen Glückseligkeit versprochen wird. Beide Begriffe werden miteinander verknüpft, indem sie beide als kunst, als Vermögen beziehungsweise Handlungswissen bezeichnet werden. Auf diese Weise konzeptualisiert der Text Logik und Demut als zwei divergierende Wissensformen, die wiederum Zugang zu weiteren, je eigenen Wissensbereichen eröffnen. Dabei wird die Demut eindeutig über die Logik gestellt, denn durch sie ist Heilswissen zu erlangen, während mit Logik nur Weltliches zu gewinnen ist. Im Folgenden führt der Text die göttliche Herkunft der Demut weiter aus, indem er sie an Christus bindet. Mit Christi Geburt im Stall sei seine Demut auf die Welt gekommen. Christus, der dirre kunst ein meister ist (V. 22670), habe zu seiner Nachfolge in der Demut aufgefordert. Im Anschluss daran beginnt der Text die Bedeutung von Demut innerhalb des monastischen Zusammenhangs zu entfalten. Demut verlangt nach gehorsam (V. 22674), sie zeigt sich in des nehsten minnen (V. 22680), sie strebt nach Eintracht, weshalb sie wol hutet des gelides / daz die zunge heizet (V. 22684 f.). Diese letzte Setzung erzeugt eine Spannung zwi-
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schen der propagierten Demut und der Beredsamkeit des Erzählers, weshalb der Abschnitt mit der topischen Formel waz sol ich nu me sprechen? (V. 22687) endet und der Erzähler für alles Weitere auf die göttliche Weisheit verweist. Die Komplexität des Konzepts Demut im monastischen Zusammenhang entwickelt die folgende Passage (V. 22693–22722) weiter, indem sie die Demut eng an Gemeinschaft koppelt. Es wird von einem Vater erzählt, der eine Bibelstelle nicht verstehen kann, weshalb er Gott bittet, ihm den Sinn zu eröffnen. Da dies nicht unmittelbar geschieht, fastet der Mönch siebzig Wochen lang, ohne jedoch zur Erkenntnis zu gelangen. Daraufhin beschließt er, zu seinen Mitbrüdern zu gehen und um deren Rat zu bitten. Auf dem Weg dorthin trifft er einen Engel, der ihn anspricht. Das Fasten habe ihn kaum näher zum Sinn der Schrift gebracht, Nu aber du zu brudern gast Zu vragene mit demut, Daz duncket Got also gut Daz er mich hat gesant zu dir. (V. 22716–22719)
Der Engel eröffnet dem Mönch daraufhin den Sinn der Bibelstelle. Wiederum entwickelt der Text hier Demut als ein umfassendes Prinzip von Wissen und Vermögen zum Wissen. Der Sinn der Schrift ist allein mit der richtigen Haltung (nicht etwa mittels einer bestimmten Methode) zugänglich. Diese richtige Haltung besteht aber nicht nur in der Konzentration auf Gott, sondern vielmehr ist eine Hinwendung zur Gemeinschaft notwendig, denn allein ist Erkenntnis nicht möglich. Erst als der Mönch bereit ist, sich an seine Brüder zu wenden, wird ihm die göttliche Hilfe zuteil. Heilswissen wird hier als ein Wissen konzeptualisiert, das nur im Aufgeben der Vorstellung eigenen Vermögens zugunsten der Erkenntnis in der Gemeinschaft verfügbar ist.365 Der Schlüssel zu dieser Haltung, und damit auch zum Wissen, ist die Demut. Wie um den Einwand zu entkräften, dass die Engelsbegegnung eine Auszeichnung des einen Mönches bedeutet, tritt in der folgenden Demuts-Erzählung der Teufel in Gestalt eines Engels auf. Er zeigt sich einem Mönch Unde wolte irvreuwen sinen sin: ‚Der engel Gabriel ich bin, Got hat mich her zu dir gesant.‘ (V. 22731–22733)
365 Klaus Schreiner hat darauf hingewiesen, dass schon in der ‚Augustinusregel‘ die Gemeinschaft Bedingung der Erkenntnis ist. Vgl. Schreiner (2013), S. 213 f.
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Der Mönch fragt den vermeintlichen Engel daraufhin, ob er auch wirklich richtig verstanden habe und nicht einen anderen hätte aufsuchen sollen. Er jedenfalls sei viel zu unwürdig, als dass ihm ein Engel von Gott gesandt werden würde. Der Teufel verschwindet daraufhin, denn er flieht, wie der Text ausführt, die Demut wie die Fliegen die Glut. Noch weiter treibt die nächste Erzählung diesen Gedanken. In ihr erscheint der Teufel einem Eremiten als Christus, der daraufhin die Augen schließt und ausführt, dass er des Anblicks nicht würdig sei und dass er Christus, wenn ihm diese Gnade zuteilwürde, gerne im Himmel schauen würde. Wiederum wird der Teufel von der Demut des Mönchs vertrieben. Im Zusammenhang mit den Versuchungen durch den Teufel wird Demut hier noch stärker auf das Gemeinschaftsideal ausgerichtet, indem sie die Auszeichnung des Einzelnen als negativ charakterisiert. Auf diese Weise bildet die Demut überhaupt erst die Möglichkeit der Entstehung einer Gruppe von Gleichen, die alle nach dem Heil streben und in ihrem Heilsstreben immer auf die Gruppe bezogen bleiben. Demut wird als die Grundlage der monastischen Spiritualität dargestellt. Dass dabei Demut nicht gleich Demut, sondern vielmehr ein komplexes und variables ethisches Konstrukt ist, zeigt die folgende Erzählung. Der Vater Serapion belehrt einen Mönch, der sich für besonders dienstbereit und demütig (demutic, V. 19379) hält und es gerade deswegen nicht ist. Statt mit Serapion sein Gebet zu sprechen, möchte er lieber seine Sündigkeit und Unwürdigkeit beklagen, und er will sich von dem Alten nicht die Füße waschen lassen, wie es dessen Gewohnheit ist. Serapion beschließt, seine wahre Demut zu prüfen und zwar vor allem dann, wenn der Mönch für seine übermäßige Demut getadelt wird. Serapion fordert den Gast zur Buße für sein unangemessenes Verhalten auf, woraufhin dieser zornig wird. Serapions Spruch erläutert ihm daraufhin die richtige Demut: Ob du wilt demutic wesen, So mustu mugen liden Unde ungedult virmiden, Ob dir ieman vor ougen saget Daz dir an im missehaget. (V. 19452–19456)
Der Jüngere bereut daraufhin sein Verhalten und bessert sich. Die Erzählung thematisiert die Frage der richtigen Demut in einer Lehrsituation, die unmittelbar auf die Zusammenhänge im Kloster anwendbar ist. In der erzählten Form vermag sie es, das Problem an der Demutsforderung in Szene zu setzen. Es geht nicht um ein bestimmtes Handeln, denn darin ist der junge Mönch ja zunächst tadellos. Vielmehr ist eine bestimmte Haltung gefordert, die je nach Situation unterschiedliches Verhalten verlangen kann.
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Die Belehrungen durch die Väter transportieren mehr als nur ihren eigentlichen Gegenstand. Sie fordern immer auch die Internalisierung des Gelernten, sodass eine neuerliche Belehrung überflüssig wird. Das zeigt ein weiterer Abschnitt des Textes, der wieder mit der Bitte um ein Wort beginnt. Hier besteht die occasio in einem Gespräch zwischen zwei Wüstenvätern, also gleichgestellten Figuren. Der Vater Joseph bittet in rehter demut (V. 19528) den Vater Pastor um Belehrung: Ey, vater, mache mir bekant Ein nutze wort, des ich huge Und dran ein munch heizen muge! (V. 19530–19532)
Auf die Frage folgt keine Anweisung zu einem bestimmten Verhalten oder einer bestimmten Haltung, sondern vielmehr die Aufforderung zur Selbstbetrachtung. Wenn er ohne Leid in Frieden leben und auch den himmlischen Frieden einst gewinnen wolle, so Pastor, dann solle Joseph bei jeder seiner Handlungen sagen se, wer bin ich? (V. 19547). Doch solle er sich nicht nur betrachten, sondern auch eine Lehre daraus ziehen und sagen o mohte ich berihten mich! (V. 19548). Das bedeute nun aber nicht, dass man auch den anderen auf diese Weise beurteilen solle. Nur sich selbst solle man mit guten witzen (V. 19553) besehen und bewerten. Die Geschichte von Joseph und Pastor366 offenbart eine wichtige Funktion der Sprüche innerhalb der monastischen Gemeinschaft. Sie zielen auf eine Internalisierung der Regeln und eine Lebensform, die idealiter nicht mehr auf formalisierte Regeln und hierarchische Strukturen angewiesen ist. In den Zusammenhang dieses Strebens nach Internalisierung scheint auch der folgende Abschnitt zu gehören, der von den meisten anderen Passagen des ‚Sprücheteils‘ abweicht und auch nicht aus den ‚Vitaspatrum‘ stammt, sondern eine eigenständige Dichtung des ‚Väterbuch‘-Verfassers ist. Der Abschnitt greift keine konkrete Situation auf und ist nicht im eigentlichen Sinne lehrhaft. In der reduziertesten Form, in der der Spruch durch nichts anderes als den Satz ein alde vater sprach hie vor (V. 19557) eingeleitet wird, steht eine Meditation über das tugendhafte Leben und die Vermählung mit Christus, die auf das Gleichnis der zehn Jungfrauen des Matthäus-Evangeliums (Mt 25,1–13) verweist. Der Vater spricht ein allgemeines ‚Du‘ an, das sich emporheben soll auf den geblumeten berc (V. 19559), den die tugendhaften Werke aufgehäuft und mit Blumen geschmückt
366 Mit dem Namen Pastor/Poimen sind eine ganze Reihe von Aussprüchen verbunden, die sich als unmittelbare Aufforderung zu bestimmtem Verhalten unter den Mönchen begreifen lassen. Auch er bildet insofern ein eigenes Ordnungsprinzip innerhalb des ‚Sprücheteils‘.
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haben. Wer das nicht tue und stattdessen im Schmutz weltlicher Sünde umherwate, dem würde damit sein Brautgewand für die Hochzeit mit Christus besulwet von der werlte hor (V. 19571). Wie die fünf törichten Jungfrauen müsste der zurückbleiben. Wer aber sein Gewand rein halte, Dem mac der sin niht wesen stumpf! Er sihet verre unde vil In der hohe, swa er wil; Die sunne, der genaden schin Irlutet wol die ougen sin, Wan sie in hat in heizer pflege. (V. 19580–19585)
Wer die Reinheit seiner geistlichen Kleider erhalte, der könne mit den klugen Jungfrauen Bräutigam und Braut beschauen, wenn Christus sich zu vollkommener Freude jeder Seele schenken werde. Thema und Motivik dieser Meditation unterscheiden sich merklich vom Rest des ‚Sprücheteils‘, doch steht der Abschnitt in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Vorhergehenden. Denn hier wird die Verheißung deutlich, die bei der Aneignung des monastischen Lebens immer mitschwingt: Demut und Selbstbetrachtung führen zur Gotteserfahrung und Erfüllung. Ebenso wie die Verheißung der Gemeinschaft mit Christus wird auch die Drohung der Verdammung im ‚Väterbuch‘ immer wieder inszeniert. Auseinandersetzungen mit der Eschatologie und besonders mit dem Jüngsten Gericht bilden daher ebenfalls größere Komplexe im ‚Sprücheteil‘. Sie präfigurieren die Darstellung des Jüngsten Gerichts am Ende des Textes und verweisen auf die heilsgeschichtliche Einbindung des ‚Väterbuchs‘. Die Androhung von Verurteilung und Strafe wird eng an das konkrete Leben der Mönche geknüpft, was auf eine unmittelbar disziplinierende Funktion hindeutet. Den Anfang eines solchen größeren Zusammenhanges bildet ein Ausspruch des Vaters Ammon, der um eine Lehre gebeten wird und ausführt, dass der Mönch sein Leben führen solle wie ein Schuldiger im Kerker (V. 15033–15062). Wie jener in der ständigen Furcht davor lebt, dass der Richter kommt und ihn verurteilt, so soll auch der Mönch im Kerker des Fleisches leben und immer denken Owe, der rechnunge owe, Swan ich dort vor gerihte ste Und mich mit ernest vraget Got Wie ich nu halde sine gebot! Wie sal ich mich unschuldec sagen, So ich die schult sol uf mir tragen? (V. 15055–15060)
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Der Mönch soll in ständiger Furcht vor dem Gericht leben, bei dem er seine Schuld eingestehen muss. Ammon entwickelt damit aus dem eschatologischen Gedanken des Jüngsten Gerichts eine ganze Lebensanweisung für den Mönch, denn entscheidend ist nicht das Bereuen einer bestimmten Tat, sondern die fortwährende Vergegenwärtigung des Gerichts. Das Leben soll in dauernder Klage und Reue geführt werden. Im Komplex über das Jüngste Gericht zeigt sich besonders, wie durch die Kombination unterschiedlicher Erzählansätze ein Thema aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden kann. Der theoretischen Lehraussage Ammons etwa folgt eine Konkretisierung der formulierten Vorstellung vom Jüngsten Gericht und dem entsprechenden Leben (V. 15063–15146). Ein junger Mann möchte sich ins Kloster zurückziehen, seine Mutter versucht jedoch, ihn davon abzuhalten. Er wird trotz ihres Widerstandes Angehöriger eines Ordens. Allerdings vermag er seinem Gelübde nicht ganz zu entsprechen, denn die itelkeit in under vienc (V. 15090). Zur selben Zeit stirbt seine Mutter und er wird sehr krank, sodass ihm der Geist zeitweise entrückt und vor Gotes gerichte hin gezucht (V. 15098) wird. Dort trifft er auf seine Mutter, die sich in der Schar der Verurteilten befindet und ihn fragt, was ihm denn nun sein Rückzug ins Kloster eingetragen hätte, da er doch seine Seele offenbar trotzdem nicht hätte bewahren können. Der junge Mönch schämt sich daraufhin so sehr, dass er nichts erwidern kann. Durch die göttliche Gnade wird er noch einmal gerettet und geheilt. Das Erlebnis des Jüngsten Gerichts versetzt den jungen Mönch nun eben in den Zustand, den Ammon als Haltung verlangt hatte: Alrerste begonde er denken Wie er mohte entwenken Der not da er in was kumen. Er dahte nach der sele vrumen Beide naht unde den tac. Zu tugende er sich twingen pflac, Sine jamer weinen daz was heiz, Des er sich so stete vleiz Daz in die bruder wurden biten Daz er ein teil des weinens siten Durch noturft wolde miden, Daz er iht wurde liden Zu grozen gebrechen. (V. 15115–15127)
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Es ist hier besonders hervorzuheben, dass das Weinen nicht nur als emotionale Haltung, sondern zugleich als performative Praxis inszeniert wird.367 Indem der Text es mit den Begriffen pflegen und siten verbindet, wird es nicht als eruptives einmaliges Geschehen, sondern als fortdauernder Vollzug gekennzeichnet. Die Lehre Ammons wird so zunächst durch die Vision beglaubigt und dann in den Vollzug überführt. Der Eschatologiekomplex wird von einer größeren Lehrrede abgeschlossen, die der Vater Evagrius seinen Schülern hält (V. 15171–15314). Die Passage ist im ‚Väterbuch‘ gegenüber den ‚Vitaspatrum‘ deutlich amplifiziert. Sie besteht im Wesentlichen aus einer Jenseitsdarstellung, beginnt aber mit der religiösen Praxis. Der Mönch solle all sein Sinnen auf sich selbst richten, an seinen Tod denken und so seine eigene Schlechtigkeit erkennen. Dadurch solle ihm das Weltliche schrecklich werden. Er solle auch an das Jüngste Gericht denken, wie sich die Sünder dort schämten und welche Qualen sie in der Hölle erleiden müssten: Hulen unde weinen Suln die unreinen. Die vinsternisse ist da groz, Vil manic alzu herter stoz Gibet man da den virworhten. In den leideclichen vorhten Sint si einander alle gram. (V. 15203–15209)
Nicht nur werden die Verdammten in der Hölle gequält, sondern sie quälen sich auch gegenseitig. Damit stellt die Hölle nicht nur einen Schreckensort dar, der Furcht bei den Menschen auslöst, sondern zugleich einen Ort der Auflösung menschlicher Gemeinschaft, denn in ihrer Qual sind die Verdammten einander alle gram (V. 15209). Die Höllenstrafen bilden einen Gegensatz zum gemeinschaftlichen Leben. Der Gegensatz von Gemeinschaft und Verdammnis, der in den ‚Vitaspatrum‘ vollständig fehlt, zeigt sich auch in den folgenden Ausführungen Evagrius’, in denen das jenseitige Heil als in der Gemeinschaft erlebt dargestellt wird. Der Mönch soll nämlich nicht nur der Hölle gedenken, sondern auch des Himmels und des Versprechens der ewigen Freude an jene, für die das weltliche Leben eine Qual gewesen ist. Dort wird Gott den Geretteten mit siner hende / […] aller ougen tran (V. 15232 f.) abwischen und sie dann der vollen bekentnisse (V. 15235) teilhaftig werden lassen. Anders als die Verdammten, die durch die Qualen unterein-
367 Vgl. dazu Müller (2000), S. 132–155 und den Abschnitt zu Arsenius in dieser Arbeit.
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ander entzweit werden, finden sich die Geretteten in einer Gemeinschaft wieder. Der gerettete Mensch steht vor Gott in der heiligen engel rote (V. 15238). Im Jenseits werden den Geretteten die göttliche Erkenntnis und himmlische Gemeinschaft zuteil. Die communio sanctorum konstituiert sich performativ im gemeinsamen ‚sanctus‘: Da sal die sele in vreuden wonen Unde mit allen heiligen donen Uf daz hohste in Gotes lobe. In suzem sange sweimen drobe Cherubin unde Seraphin, Die den sanc niht legen hin. ‚Sanctus‘ sie stete schrien, Alle die vursten vrien, Troni mit gewalde, Die herrschaft manicvalde. [...] Ô, welh ein suzer schal Da ist von der gemeinschaft! (V. 15243–15257)
Das sanctus schließt Jenseitsimagination, Literatur und Ritual zusammen, denn es hat seinen festen Platz in der Liturgie, in der es die Präfation abschließt. Auch dort ist es ein Reflex des ununterbrochenen Gesanges der himmlischen Chöre. In die Literatur werden hier auf diese Art und Weise liturgische Elemente eingespeist, die Rezeption und Performanz zusammenfallen lassen. Evagrius erscheint zugleich als Priester und als Erzähler. Den himmlischen Freuden folgt eine Meditation über die minne (V. 15261), die wiederum, wie schon im Prolog des ‚Väterbuchs‘, als verbindendes Element zwischen Mensch und Gott tritt. In der minne wird die Einseitigkeit des Sanges aufgehoben. Zwar drückt sich die minne im Preisgesang aus und ist deshalb Gottes lone (V. 15261), doch fließt minne auch von Gott seinen Geschöpfen zu: Die suze drivaldekeit Ir aller vreude crone treit, Uz der die minne vluzet, Die sich mit selden guzet In alle Gotes holden Die Got hie minnen wolden. (V. 15265–15270)
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Die minne wird mit dem Bild des fließenden Wassers verbunden,368 worin sich das Verhältnis von Mensch und Gott ausdrückt. Die Erzählung fügt einen weiteren Bildbereich hinzu, wenn sie über gutes und schlechtes Lebens auf Erden handelt: Alsam kunic unde kneht Hie leben in ertriche, So muz vil ungeliche, Deiswar, des menschen lon ouch wesen, Die hie ungeliche lesen Inder minnen widerschrift. (V. 15292–15297)
Richtiges Leben wird als ein richtiges Entschlüsseln von Zeichen verstanden. Das Leben wird zum Lesen, das heißt zum Erkennen der göttlichen Liebe. Den ‚Vitaspatrum‘ fehlt sowohl der Aspekt der Gemeinschaft in der Jenseitsdarstellung als auch das große Gewicht des Weinens und der performative Abschluss der Passage. Hier hat der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ eingegriffen und den Text auf seinen eigenen Heiligkeitsentwurf hin weiterentwickelt. Dieser ist durch Gemeinschaftlichkeit bestimmt, die im engen Zusammenhang mit verschiedenen Formen von Emotionalität steht. Hinzu tritt ein stärkerer Einbezug der Rezipienten durch die performativen Elemente, die eine unmittelbare Verbindung zur Lebenspraxis ermöglichen.
8.3 Sprüche der großen Wüstenväter (Arsenius, Macarius, Moyses) Neben den thematischen Komplexen finden sich im Sprücheteil des ‚Väterbuchs‘ auch Konglomerate von Erzählungen und Sprüchen von besonders herausragenden Wüstenvätern. Zugleich finden sich neben den größeren Abschnitten zu den wichtigen Wüstenvätern auch eine ganze Reihe kleinerer Episoden, die mit den bekannten Eremiten zusammenhängen, aber über den gesamten Text verteilt sind. Sie erfüllen eine Klammerfunktion, überspannen den Text und binden ihn zusammen. Die Erzählungen zu den großen Wüstenvätern sind nicht nur als Viten angelegt, sondern bestehen auch aus Sammlungen von Anekdoten und Aussprüchen.
368 Vgl. Abschn. 5.3 dieser Arbeit.
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Im Folgenden werden drei große Wüstenväterfiguren herausgegriffen, die unterschiedliche Bereiche der monastischen Kultur mit ihrem Leben abbilden und in ihren Aussprüchen formen. In der Betrachtung der drei Wüstenväter wird nicht zuletzt erkennbar, wie vielfältig die Formen und Entwürfe des Wüstenlebens sein konnten, denn gerade die ersten der beiden behandelten Figuren stehen in geradezu diametralem Gegensatz zueinander. Die mit der Figur des heiligen Arsenius verbundenen Aussprüche sind durch Askese und den Versuch bestimmt, sich selbst aus Gründen der Demut möglichst zum Verschwinden zu bringen. Die Figur des heiligen Macarius wird hingegen mit Fragen der Leitung und Lenkung der monastischen Gemeinschaften verbunden. In vielfachen Variationen erzählen die Episoden aus dem Leben des Macarius vom Erkennen des Teufelswirkens in der Gemeinschaft und vom Verhältnis der monastischen Gemeinschaften zum weltlichen Recht und zu den ‚Heiden‘. An der Figur des heiligen Moyses’ des Äthiopiers wird schließlich das Verhältnis von Lehrer und Schüler diskutiert. Anders als andere Sprüche setzen die Passagen, die von den berühmten Wüstenvätern handeln, mit einer Namensnennung ein. Im Fall von Arsenius369 wird die Namensnennung (Arsenius was ein grozer vater; V. 14605) mit dem Verweis auf dessen Heiligkeit kombiniert: Die göttliche Begnadung ist an Arsenius erkennbar, weil diesem die Vögel dienstbar sind (V. 14605–14610). Der Text gibt einen Abriss von Arseniusʼ Leben und berichtet von dessen Wirken am Hof des Kaisers Theodosius. Trotz der Zuneigung des Kaisers gibt Arsenius seine Stellung am Hof auf, um in die Wüste zu ziehen. Dort verbringt er, der göttlichen Weisung entsprechend, die Zeit bis zu seinem Tod. Der Tod des Heiligen wird an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen; die in andere Legenden des Heiligen häufig aufgenommenen Vorgänge am Hof des Kaisers werden aber ausgeblendet. Der Text schaltet zunächst die Erzählung eines weiteren Vaters ein, die Aufschluss über Arsenius’ tägliche Gebetsübungen gibt. Dabei wird die Meditation370 scharf von der gelehrten Bibelexegese abgegrenzt. Auslegung und Askese erscheinen als zwei unterschiedliche Verfahren religiösen Vollzugs:
369 Zu Arsenius dem Großen vgl. auch Müller (2000), S. 46–50. 370 Was ‚Mediation‘ im Zusammenhang der Eremitenkultur bedeutet, untersucht Wortley, John: How the Desert Fathers „meditated“. In: GRBS 46 (2006), S. 315–328, der auf S. 317 f. ausführt, dass hier keinesfalls an stille Kontemplation zu denken ist, sondern „it [i. e. gr. μελέτη, übersetzt in lat. meditatio, übersetzt in ‚meditation‘; J. T.] was in fact the vocal and continuous enunciation of the Word of God, the bold proclamation by the anchorite of sacred texts he had committed to memory as he worked away in the solitary confinement of his cell.“
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Von Arsenio sus er [der Erzähler; J. T.] sprach Daz man in horte noch ensach Nie tief gesprechen von der schrift, Swie er doch hete hohe gift Von Got an genaden groz. Sus wolde er wesen eren bloz. (V. 14649–14654)
Der Logik der Demut folgend erscheinen seine Gottesgaben Arsenius als Gefahr für sein Seelenheil, weshalb er es sich nicht gestattet, diese Gaben durch die kundige Auslegung der Schrift offenbar werden zu lassen. An die Stelle der Erkenntnis durch Auslegung tritt der Gottesdienst durch körperliche Praktiken. Jede Nacht zum Sonntag verbringt der Heilige in fortwährendem Gebet, und zwar mit ständig emporgereckten Händen: Die hende er zu berge hete Von der sunnen underganc, Swie sere in die mude twanc, Die hende er niht da nider lie, Untz vru die sunne uf gie Des suntages unde irschein. (V. 14658–14663)
Neben den Gebetsübungen praktiziert Arsenius ständigen Schlafentzug. Erst wenn er sich nicht mehr zur Wehr setzen kann, schläft er kurz im Sitzen, um sich dann wieder aufzurichten und erneut sein Gebet zu beginnen. Das Beten ist dabei von ständigem Weinen begleitet.371 Entsprechend der Sündenlehre des Origenes können Tränen als ein Ausdruck der Reue über den Zustand der Sündhaftigkeit des Menschen und daher Mittel zur allmählichen Tilgung der Sünde verstanden werden.372 Weil die Tränen so stetig fließen, hat Arsenius immer ein Tuch im Schoß
371 Zur Trauer in der christlichen Kultur des Mittelalters vgl. Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 34–36. Zur spirituellen Bedeutung des Weinens vgl. Müller (2000), S. 83–155, die das Thema umfassend entfaltet. Außerdem Ranke-Heinemann (1964), S. 62; mit einer Reihe von Beispielen aus den Vitaspatrum Steidle (1986); außerdem Nagy, Piroska: Le don des larmes au Moyen Âge. Un Instrument spirituel en quête d’institution (Ve– XIIIe siècle). Paris 2000, die besonders auf den Transfer des Weinens als religiöses Konzept in das römische Christentum eingeht (vgl. S. 107–133). Vgl. schließlich Schreiner, Klaus: „Brot der Tränen“. Emotionale Ausdrucksformen monastischer Spiritualität. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 193–248; besonders S. 195–200. 372 Vgl. Müller (2000), S. 102.
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liegen, um sie aufzufangen, worin der prozessuale Charakter des Weinens zum Ausdruck kommt:373 Es ist kein einmaliges Geschehen, sondern eine fortwährende Praxis. Das Weinen wirkt sich auch auf den Körper des Eremiten aus, denn durch die ständig fließenden Tränen fallen ihm die Augenbrauen aus (V. 14680–14682). Arsenius wird so nicht als Beispiel besonderer Begnadung vorgestellt, sondern vielmehr als Vorbild in Buße und Askese. Der folgende Abschnitt thematisiert ebenfalls die Wirkung der Askese, die jedoch in diesem Fall seine Heiligkeit auf paradoxe Weise zeigt: Sie macht Arsenius schöner und für die Menschen begehrenswert. Diesem Umstand begegnet der Eremit, indem er sich verbirgt. Zwar entspricht er der Sitte der Wüsteneremiten, indem er Ratsuchende empfängt und mit ihnen spricht, doch versteckt er sich dabei hinter einer Säule, um niemanden zu sehen und selbst auch nicht gesehen zu werden, weil er die Bewunderung seines Körpers vermeiden will: Er was schone unde wehe. An dem antlitze sin Gab er vil na engels schin. Er was den luten minnesam Und doch im selber harte gram, Daz er vil wol bewiste, Wan er sich cleine priste Mit gemache und mite gerete. Einen schonen lib er hete, Der was im lanc unde hager, Allenthalben was er mager. Er hete ouch einen langen bart, Bokende er vor alter wart. (V. 14696–14708)
Der durch die Askese gezeichnete Körper des Arsenius hat einen himmlischen Glanz an sich, den die Menschen als Liebreiz und Schönheit wahrnehmen, obwohl er ausgezehrt und vom Alter gebeugt ist. Das Charisma strahlt durch den in der Askese stigmatisierten Körper hindurch.374 Doch ist es gerade die Anziehungskraft seines Körpers, die den Eremiten dazu treibt, sich zu entziehen. Gleichzeitig ist es aber dieser Rückzug, der ihn als Wüstenvater auszeichnet und ihn zum Anziehungspunkt macht, unter anderem auch für eine Römerin:
373 Vgl. Müller (2000), S. 139 f. 374 Vgl. zum Zusammenhang von Charisma und Stigma in den Asketenlegenden auch Weitbrecht (2010), S. 141 f.
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Von siner tugende reineckeit, Die Got hete an im geleit, Wart geseit der vrouwen, Des wolt si in schouwen Unde quam da hin gevarn sus. (V. 14715–14719)
Die Frau bewegt Theophilos, den Bischof von Alexandria, Arsenius zu bitten, sie zu empfangen. Arsenius schlägt die Bitte jedoch aus, doch die Frau lässt sich nicht aufhalten, sucht Arsenius in seiner Zelle auf und wirft sich ihm zu Füßen. Arsenius ist sehr verärgert und schilt sie. Er befürchtet, dass nun weitere Frauen zu ihm kommen, weshalb er der Römerin das Versprechen abnimmt, niemandem von ihrer Begegnung zu berichten. Schließlich schickt er sie mit den Worten fort, er werde Christus bitten, sie aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. Voller Trauer kehrt die Frau zu Theophilos zurück und klagt ihm ihr Leid. Der Bischof von Alexandria entgegnet ihr jedoch, sie habe den Heiligen nicht recht verstanden. Der befürchte nur, sich selbst durch den Anblick einer Frau in Gefahr zu bringen, sie könnte sich jedoch darauf verlassen, dass Arsenius für ihre Seele beten werde. Auch wenn das Problem hier durch die Weiblichkeit der Verehrerin zugespitzt wird, kann die Erzählung, ähnlich wie schon beim heiligen Johannes, als Bearbeitung eines Grundproblems der Einsiedler verstanden werden: Der asketische Selbstverzicht stellt einen Gewinn für die ganze christliche Gemeinschaft dar, weshalb sie verehrt werden. Gerade diese Verehrung gefährdet aber ihren Selbstverzicht und wird daher abgewiesen. Deshalb muss Arsenius die Frau aus seiner Erinnerung verbannen und kann gleichzeitig für sie bei Gott bitten. Entsprechend lehnt Arsenius es ab, sich reisenden Mönchen zu zeigen, und als der Bischof Theophilus selbst den Heiligen besucht, empfiehlt ihm Arsenius, nicht wiederzukommen und umzukehren, sobald er in Zukunft den Namen Arsenius hört. Kurz vor seinem Tod versucht Arsenius, die Haltung der Weltabkehr auch auf seine sterblichen Überreste zu übertragen und eine Reliquienbildung zu verhindern. Er lässt seine Schüler kommen und trägt ihnen auf, zu verhüten, dass sein Körper als Heiligtum verehrt wird. Auch wünscht er nicht, dass man für ihn betet. Er verlangt, dass sein toter Körper an ein Seil gebunden und auf einen nahegelegenen Berg geschleppt wird, um ihn dort verschwinden zu lassen. An dieser Stelle manifestiert sich das Spannungsfeld, in dem die Wüstenväter stehen: Die Verehrung steht in einem offensichtlichen Widerspruch zu den Wünschen des Eremiten, der aus der Geschichte zu verschwinden sucht. Die hier inszenierte Heiligkeit beruht nicht auf der wirkmächtigen Präsenz des extraordinären Heiligen, der den Gläubigen als Vorbild und Adressat von Gebeten zur Verfügung steht. Vielmehr ist er insofern persona imitabilis, als er dazu auffordert, ihn nicht zu verehren, sondern es ihm gleichzutun.
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Neben dieser langen Passage gibt es mehrere kurze Erzählungen von Arsenius, die über den Text verteilt sind. Sie kreisen alle im weitesten Sinne um die beiden großen Themenkreise der Arseniusfigur, nämlich die asketische Praxis in ihrem Verhältnis zum Schriftstudium und die Demut in ihrem Verhältnis zum Wirken als Lehrer. Der Text erweist sich dabei nicht nur durch die verschiedenen Erzählansätze und -formen als vielfältig, sondern auch indem unterschiedliche Aussagen nebeneinander stehen können. So greift eine Arsenius-Erzählung, die weiter hinten im Text steht (V. 23661–23870), die Frage der Relevanz von theoretischem Wissen gegenüber der Erfahrung auf. Arsenius berichtet von einem Einsiedler, der tugendhaft und fromm in einem Wald lebt. Allerdings hat sich ein Zweifel des Einsiedlers bemächtigt: Er sprach, daz heilige opferbrot, Daz man im ob dem altere bot, Gesegent in dem Gotes namen, Daz were niht Cristes lichamen Werlich nach der nature, Ez were ot ein figure Unde lege niht grozer maht dran (V. 23673–23679)
Der Text referiert hier auf einen Diskurs über die Eucharistie, der sich über die ganze Geschichte christlicher Theologie (Abendmahlsstreit) hinzieht. Die Darstellung im ‚Väterbuch‘ weist aber eine darüber hinausgehende Bedeutungsdimension auf, weil der Zweifel an der Transsubstantiation explizit auf die fehlende Bildung des Einsiedlers zurückgeführt wird: Von einvalte im bequam Des selben ungelouben art, Wan er der schrift was ungelart Unde der virnumftlichen kunst, Des irrete sich sine virnunst. (V. 23682–23686)
Dass der Einsiedler die Wahrheit der Eucharistie nicht erkennen kann, wird explizit nicht auf eine häretische Haltung zurückgeführt, sondern auf fehlendes Wissen um den Inhalt der Bibel und die Techniken im Umgang damit.375 Arseniusʼ
375 Marinides, Nicolas: Religious Toleration in the Apophthegmata Patrum. In: JECS 20 (2012), S. 235–268; hier S. 242 f. behandelt das Exempel als Konversionsgeschichte, was in Anbetracht der Betonung der Gläubigkeit des Einsiedlers nicht recht einleuchten will.
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Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata)
Lebensmodell, in dem Gotteserkenntnis nur auf Askese und Meditation beruht, ist hier durch eine Erzählung relativiert, die ihm selbst zugeschrieben wird. Der zwar fromme, aber ungebildete Mönch vermag die Eucharistiefeier nicht zu verstehen. Innerhalb der Erzählung erfolgt die Korrektur durch zwei andere Mönche, die beklagen, dass ein so vorbildlicher Einsiedler zugleich im Glauben so fehlgehe. Die beiden versuchen, den Einsiedler zu belehren, indem sie ihm ihren Glauben schildern und auf Gottes Allmacht verweisen. Der Zweifler wird davon jedoch nicht überzeugt und verlangt nach einem Beweis, woraufhin die beiden Väter um ein Wunder beten, das den Einsiedler bekehren soll. Auch der Einsiedler selbst betet und macht dabei noch einmal deutlich, dass sein Zweifeln nicht auf fehlende Glaubensbereitschaft zurückgeht: Der alt sprach: ‚ey, herre Got, Du weist wol daz ich niht durch spot Noch von erge han getan Daz ich disen zwivel han, Ez ist von unwisheit, Die min einvalt an mir treit.‘ (V. 23769–23774)
Alle drei bitten Gott um ein Zeichen, das den Zweifler überzeugen kann. Nach einer Woche treffen sie sich und nehmen gemeinsam an der Messe teil und do tet Got uf disen drin / iren geistlichen sin (V. 23805–23806). Als der Priester das Brot segnet, sehen die drei etwas anderes als der Rest der Gemeinde: Auf dem Altar liegt ein wunderschönes Kind. Über den Anblick freuen die drei sich sehr. Als der Priester das Brot bricht, So brachte ein engel drate Ein mezzer in den handen sin Unde opfert daz kindelin. Sie sahen wie er ez zu sneit Nach gotlicher werdekeit, Dem daz ist ein opfer gut. (V. 23824–23829)
Der Engel opfert vor den Augen der drei Väter das Kind und fängt dessen Blut im Altarkelch auf. Nachdem die Messe gelesen ist, soll das Abendmahl gereicht werden. Auch der Zweifler tritt an den Altar, doch als ihm das Brot gereicht werden soll, da wird ihm
Sprüche der großen Wüstenväter (Arsenius, Macarius, Moyses)
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Durch stozen sine ungelucke, Ein ro vleisch stucke Al blutec in den munt geleit. Do er empfant der warheit Wie des kindes vleisch da lac. (V. 23839–23843)
Daraufhin ruft der Zweifler aus, dass er nun ohne Zweifel glaube, dass Brot und Wein Fleisch und Blut seien. Seine beiden Begleiter klären ihn dann darüber auf, dass der Leib Christi nur deshalb in der Messe die Gestalt von Wein und Brot annähme, weil Menschen kein rohes Fleisch essen würden und Gott ihnen deshalb diese Gnade täte. Zwar wird das fehlende Verständnis durch Erfahrung ausgeglichen, doch diese Erfahrung ist für den Einsiedler ausgesprochen unangenehm, denn das rohe Stück Fleisch verursacht ihm Übelkeit. Hier zeigt sich, dass Erkenntnis nicht nur durch Askese zu erreichen ist. Der Text greift die Gemeinschaft der Mönche als Bedingung der Erkenntnis auf, indem die Wahrheit durch die beiden Mönche vermittelt wird, die sich um ihren Mitbruder sorgen.376 Der Frage des Verhältnisses von Gemeinschaft und Einsamkeit widmet sich auch eine weitere Arsenius-Erzählung, die ein Gespräch zwischen Arsenius und dem heiligen Macarius wiedergibt. Arsenius wird von Macarius gefragt, warum er sich immer der Gemeinschaft der Väter untereinander entziehe. Diese Frage ist bemerkenswert, weil Macarius, anders als Arsenius, nicht in besonderer Weise für das einsame Wüstenleben steht, sondern seinen Status vielmehr als Gründer und Führer einer ganzen asketischen Gemeinschaft gewonnen hat. Arsenius begründet im Folgenden seine Haltung, wobei die Verbindung von Einsamkeit und Gemeinschaftlichkeit im eremitschen Leben einmal mehr offenbar wird: Er sprach: ‚Got weiz mine sinne, Daz ich uch gentlich minne; Ein teil mir idoch wirret, Daz mich an uch irret, Als ich dir wil beduten. Mit Got unde mit den luten Mac ich niht beidersite gesin. Diz ist die meinunge min:
376 Die Ursprünge des Exempels sind in den spätantiken theologischen Debatten um die Trinitätslehre und die Realpräsenz in der Eucharistie zu suchen, doch dürften diese Auseinandersetzungen für die Rezipienten des 13. Jahrhunderts kaum große Relevanz gehabt haben. Vgl. die entsprechende Lesart bei Clark (1992), S. 63–65, die das Exempel in den Zusammenhang der Origenistischen Debatte stellt.
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Die hohsten tugenden vor Gote Nach sime liebesten gebote Niewan einen willen hant, Dar an sie im zu lobe stant. Die lute haben willen vil: Hie von en mac ich noch en wil Von Gote mich gescheiden so Daz ich si bi den luten vro.‘ (V. 22939–22954)
Arsenius begründet hier nicht nur seinen Rückzug von den Menschen, sondern vergleicht auch abgeschiedenes und gemeinschaftliches Leben. Diese Gegenüberstellung dient aber nicht der Hierarchisierung, sondern lässt vielmehr deutlich werden, dass eremitisches Leben immer durch die Spannung zwischen eigener Askese und Gemeinschaftsfunktion bestimmt ist. Unter den Sprüchen der großen Väter im ‚Sprücheteil‘ nehmen die des heiligen Macarius des Großen den größten Raum ein. Mehr als die anderen Wüstenväter wird Macarius als eine Gründungsfigur inszeniert. Macarius selbst erzählt auf Bitten hin, wie er in einer Klause in einer Stadt lebte und dort von einer unverheirateten Schwangeren bezichtigt wurde, der Vater ihres Kindes zu sein. Anders als in anderen Legenden, in denen Asketen unrechtmäßig beschuldigt werden, wird Macarius daraufhin nicht nur in die Einsiedelei gezwungen, sondern muss von seinen ehemaligen Anhängern beinahe das Martyrium erleiden: Alsus wart ich von in gezogen, Beide gestozen unde geslagen, Daz ich mich selbe niht getragen Zu jungest mohte von der slaht. (V. 22462–22465)
Macarius ist dem Tod nahe, wird jedoch von einem mitleidigen Anhänger gerettet, der bereit ist, die Schwangere zu ehelichen. Macarius kehrt in seine Zelle zurück und arbeitet hart, um den Unterhalt der Frau zu bestreiten. Die wird eines Tages von Schmerzen gepeinigt und gesteht ein, den Heiligen zu Unrecht beschuldigt zu haben. Als dieser vernimmt, dass er rehabilitiert ist und sich die Bewohner der Stadt auf dem Weg zu ihm befinden, flieht Macarius, was er wie folgt begründet: Do ich vernam die mere, Ich sumte mich niht mere. Die valschen werltliche ere Vlo ich duplich von dan,
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Wan ich mich des vil wol versan Daz Got, der liebe herre min, Alleine sal ge eret sin. Diz ist an mir vil gar der sin Durch was ich wonhaft alhie bin Unde von minem lande entran, Als ich uch kunt han getan. (V. 22556–22566)
Aus seiner Erzählung ergibt sich der Grund für Macarius’ Rückzug in die Wüste. Explizit folgt er nicht wie Arsenius dem Wunsch nach asketischer Beschränkung, sondern flieht vielmehr vor der Verehrung durch die Menschen. Von Anfang an wird die Figur des Macarius in ihren Bezügen zu anderen eingeführt. Im Folgenden wird dementsprechend auch nicht von Macarius’ asketischer Praxis erzählt, sondern der Text konzentriert sich auf das Wirken des Wüstenvaters als Stifter und Lenker eremitischer Gemeinschaften, für die er als Vorbild auftritt: Uber einsidelen genuc Er des vater namen truc, Wan er zu Gote wise was. (V. 12347–12349)
Die Gemeinschaftsbezogenheit des Macarius findet ihren Ausdruck auch in einer kurzen Anekdote: Macarius erhält als Geschenk eine Traube von Weinbeeren, von der er jedoch nicht isst. Er gibt sie weiter an einen Bruder, von dem er annimmt, er brauche sie dringender. Der jedoch schenkt sie aus Nächstenliebe auch weiter, ebenso wie der Nächste und der Folgende, bis die Weintraube wieder bei Macarius anlangt. Des vreute sich der reine, Wan er an der gemeine So minnesam ein leben sach. (V. 12513–12515)
Mit der Rückkehr der Traube zu ihm wird deutlich, dass alle Brüder sich ebenso verhalten haben wie Macarius selbst. Seine Freude über den Vorgang bezieht sich also auch darauf, dass sein Vorbild gewirkt und die Gemeinschaft ihre Güte bewiesen hat. In dieser Freude über die Gemeinschaft weist sich Macarius als ihr Lenker und Haupt aus. Seine individuelle Tugendhaftigkeit steht in der kurzen Erzählung nicht zur Disposition und muss sich auch nicht in asketischen Übungen erweisen. Vielmehr ist Macarius ganz auf die anderen ausgerichtet. Seine Heiligkeit erweist sich in seiner Funktion für die Gemeinschaft.
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Als Vertreter der Eremitengemeinschaften steht Macarius auch für diese gegenüber weltlichen Instanzen ein. Das zeigt sich zum Beispiel dort, wo eine Konkurrenz zwischen weltlichem Recht und eremitischem Rückzug entsteht. In einer Stadt, die nahe des Lagers der Anhänger des Macarius liegt, wird ein Mord begangen. Da sich der wahre Mörder entzieht, wird ein Unschuldiger des Mordes bezichtigt. Der Beschuldigte flieht zu Macarius, der ihn nicht der weltlichen Gerichtsbarkeit ausliefert, sondern die Angelegenheit in die eigenen Hände nimmt. Er lässt sich das Grab des Ermordeten zeigen und fragt dort in Christi Namen den Toten, ob der Flüchtling ihm etwas angetan hätte. Jener der in dem tode slief Her uz mit schoner stimme rief Und sprach: ‚er gab mir keinen slac!‘ (V. 12555–12557)
Damit ist der Flüchtling entlastet. Das Volk, erschrocken über das Geschehene, bittet Macarius, nun auch nach dem Namen des wahren Schuldigen zu fragen. Das hingegen verweigert Macarius und verweist auf die Differenz zwischen weltlichem und göttlichem Recht, wobei Letzteres auf das Jenseits statt auf das Diesseits bezogen sei: ‚Des schuldegen wil ich u niht geben Noch zeigen da er ist gewant. Got tut im lihte noch irkant Daz er nach der schulde Kumet zu siner hulde.‘ Sus zogete heim der Gotes kneht, Do er in underschiet daz reht. (V. 12566–12572)
Macarius steht für eine eigene Rechtslogik, die auf der göttlichen Gnade fußt. Aus dieser Logik heraus und nicht im Sinne weltlicher Rechtsprechung agiert er. Damit stellt er nicht nur die weltliche Gerichtsbarkeit den monastischen Gemeinschaften gegenüber. Vielmehr ordnet er das weltliche Recht der Bußlogik unter, indem er dem Mörder das Recht zur Einsicht und zur Entschuldung durch Buße zuspricht. Diese Auseinandersetzung mit Fragen des Rechts macht der Text selbst noch einmal explizit Entsprechend seiner Funktion als Vorbild und Lenker der eremitischen Gemeinschaften ist Macarius, anders als Arsenius, ständig unterwegs. In vielen Fällen besteht die occasio der Macarius-Sprüche darin, dass der Eremit jemanden oder etwas am Wegesrand, in der Wüste oder in einer von ihm besuchten Einsiedelei findet. Macarius sucht etwa zwei Einsiedlerinnern auf, deren Wohnort ihm
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durch eine göttliche Stimme offenbart wurde.377 Er bittet sie darum, von ihrem Leben zu erzählen. Die folgende Erzählung der Frauen kreist nun ihrerseits um Gemeinschaftsbildungen. Beide Frauen sind nämlich nicht miteinander verwandt, haben aber im selben Haus gelebt, weil sie die Ehefrauen von Brüdern waren. Durch die Ehe konnten sie jedoch kein monastisches Leben führen, wie sie es sich eigentlich gewünscht hätten: Gotes vride hat uns virlan In eime huse vumfzehen jar, Die sin gewesen wir vurwar Daz zwischen uns nie wart gehort Ein bose oder ein schelte wort, Criec ist zwischen uns gelegen, Wir han stete uns des bewegen, Woldens gestate uns die man, Daz wir die werlt wolden lan, Und zu vrouwen closter varn, Da wir uns mohten baz bewarn. (V. 13420–13430)
Es sei ihnen, so berichten die Frauen, von ihren Männern jedoch nicht gestattet worden, ins Kloster zu ziehen. Aus diesem Grund hätten sie sich gemeinsam geschworen, dass von ihren Lippen niemals ein werltlich wort (V. 13435) gesprochen werde. Macarius verlässt die beiden daraufhin und ist voller Freude über sulher minnen pfant (V. 13439), der von werltlichen luten (V. 13440) gegeben wird. Zunächst stellt die Erzählung die Konstitution einer Gemeinschaft im kleinsten Rahmen dar. Die beiden Frauen treffen zufällig als Schwägerinnen zusammen. Ihre Gemeinsamkeit entwickelt sich im Gegensatz zur Bindung an ihre Ehemänner und zu deren Bruderschaft. Zugleich sind die Frauen nicht selbstbestimmt, sondern der Verfügungsgewalt ihrer Ehemänner unterworfen, die sie davon abhält, in ein Kloster zu ziehen. Damit ist nicht nur das Grundproblem aller geistlich orientierten Frauen, sondern aller Menschen benannt, die in Abhängigkeitsverhältnissen leben, dass nämlich der Wechsel von einer in die andere Ordnung nicht ohne Weiteres möglich ist. Für die Frauen bleibt nur ein Rückzug ins Innere, indem sie sich für ihre kleine Gemeinschaft innerhalb der sie bestimmenden Zwänge selbst Regeln auferlegen, nämlich den Verzicht auf jegliches weltliches Sprechen. Macarius tritt in der Rolle des Beobachters auf, aber zugleich verkörpert er wie kein anderer der Wüstenväter deren Gemeinschafts
377 Eremitinnen tauchen in der ‚Vitaspatrum‘-Tradition nur äußerst selten auf. Das muss jedoch nicht bedeuten, dass es keine ‚Wüstenmütter‘ gab. Vgl. dazu Müller (2000), S. 51–54.
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ideal. Wenn Macarius die Frauen voll des Lobes verlässt, ist das auch als eine Qualifikation der Gemeinschaft der beiden zu verstehen und es wird deutlich, dass das Gemeinschaftsideal der monastischen Spiritualität viel tiefer geht, als dass es nur einen bestimmten institutionellen Zusammenhang betreffen würde. Macarius lobt Gott, weil dieser in jedem Leben, begebene unde unbegebene (V. 13450), Tugend zu stiften vermag, und weitet damit sein Ideal über den eigenen Bereich hinaus aus. Eine ganze Reihe von Macarius-Erzählungen schildert Begegnungen mit dem Teufel. Dabei sind die Teufelserscheinungen selten auf Macarius selbst gerichtet, sondern meist gemeinschaftsbezogen. In einer der wenigen Erzählungen, in denen der Teufel auf Macarius selbst trifft (V. 13739–13782), ist der Heilige fast völlig stillgestellt. Sie beinhaltet auch keinen Ausspruch des Wüstenvaters. Es handelt sich vielmehr um ein Lamento des Teufels darüber, dass er nicht in der Lage sei, Macarius zu überwinden. Absurderweise tritt der Teufel dabei in einen asketischen Wettstreit mit dem Heiligen. So beklagt er sein ständiges Versagen und betont: Min arbeit ist doch manicvalt, Der ich me danne du virmac. Du vastest uber den andren tac, So vaste ich so ane underlaz Daz nie in mich quam kein az. So wachestu vil dicke, Bi einem ougenblicke Virdrucket mich der slaf noch nie. An eime dinge ich doch begie, Da uber windestu mich an. (V. 13762–13771)
Einmal mehr wird die Qualität des Macarius hier als fraglos dargestellt. Die Teufelsklage über die Standhaftigkeit des Macarius wird noch in weiteren Erzählungen variierend wiederholt (V. 17599–17658). In seiner unanfechtbaren Vorbildhaftigkeit kann Macarius seine Funktion als integratives Zentrum der Eremitenbewegung erfüllen. Deshalb erscheinen in den weiteren Begegnungen Macarius und der Teufel nicht als direkte Antagonisten; das Teufelshandeln ist vielmehr auf die Gemeinschaft bezogen und Macarius nimmt die Rolle des Lehrers und Beobachters ein. Paradigmatisch wird dieses Verhältnis in einer Erzählung entwickelt, die davon berichtet, wie Macarius einen Mönch von den Stricken des Teufels befreit (V. 23871–24058). Macarius lebt zwar allein in einer Wüste, jedoch leben in der Nähe andere Eremiten. Macarius begegnet dem Teufel, der als Armer verklei-
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det auf dem Weg zu den Einsiedlern ist, um ihnen übel mitzuspielen. Zu diesem Zweck ist der Teufel mit Fläschchen behangen, die gelust (V. 23906) verschiedener Art enthalten und die er nach eigener Aussage seinen Opfern anbietet, um sie zu Fall zu bringen. Später begegnen sich Teufel und Macarius erneut und der Heilige fragt, ob er denn viele Freunde unter den Einsiedlern gefunden hätte. Nur einen namens Theodistrum hätte er überwältigen und zu seinem Freund machen können, erklärt der Teufel. Macarius besucht daraufhin eben jenen Theodistrum und fragt ihn, ob er schlechte Gedanken hege. Aus Scham antwortet der Gefragte mit ‚nein‘. Daraufhin greift Macarius zu einem psychologischen Trick: Er gesteht Theodistrum gegenüber ein, dass er selbst wunt biwilen / von der unkusche pfilen (V. 23983 f.) werde. Da gesteht auch Theodistrum seine Schwäche ein und lässt sich von Macarius raten. Der empfiehlt ihm ein strengeres Leben: Er hiez in vurwart mere Ein teil sine leben strengen Unde die vaste lengen. Des volgete im der gute man. Nach sime rate greif er dran, Er hiez in ouch des herzen grift Gentzlich werfen in die schrift, Daz er in die gedehte. (V. 24002–24009)
Einige Zeit nachdem Macarius in seine Zelle zurückgekehrt ist, sieht er den Teufel wiederum zu den Einsiedlern gehen, aber bald darauf zornig zurückkehren. Macarius fragt ihn, was geschehen sei, worauf der Teufel zu lamentieren beginnt. Ohnehin wären die dort ansässigen alle heilic (V. 24039), nun habe sich aber auch noch sein ehemaliger Freund von ihm abgewandt und nu ist noch heiliger sine leben / danne der andern dekein (V. 24050 f.). Er habe daher beschlossen, nicht mehr hierher zu kommen. Damit verschwindet er. Macarius erscheint in doppelter Hinsicht als Stifter des heiligen Lebens der Einsiedler. Zunächst ist er in der Lage, den Teufel und dessen Pläne zu erkennen. Ihm ist, wie schon in anderen Erzählungen, eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit eigen. Zugleich erweist er sich als kundiger Lehrer, indem er den gefallenen Bruder nicht direkt auf die Teufelsverstrickungen anspricht, sondern ihn zum freiwilligen Eingeständnis führt und ihm damit den Weg zur Buße und Erlösung von der Teufelsmacht eröffnet. Die Ratschläge, die Macarius schließlich erteilt, haben allgemeine Gültigkeit für alle Angehörigen der Eremiten- und Mönchsgemeinschaften. Selbstbeschränkung, Fasten und das Lesen in der Heiligen Schrift sind die Grundprinzipien der monastisch-asketischen Kultur. Damit spricht Macarius nicht nur zu dem einen Einsiedler, sondern sein Sprechen kann
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auch als an alle Rezipienten gerichtet verstanden werden. Schließlich bewertet der Teufel das Leben der Mönche nach der Maßgabe des Macarius als heilic und erweist so dessen spirituelle Qualität. Nicht dem Einzelnen wird hier Heiligkeit zugeschrieben, sondern dem Aufgehen des Einzelnen in der geregelten Gemeinsamkeit vieler. Macarius nimmt die Rolle des Lenkers ein, ohne dabei zugleich Autorität auszuüben, denn schließlich erscheint er nicht als Teil der Gemeinschaft, für die er sorgt, sondern kommt von außen hinzu und zieht sich wieder zurück, sobald die Ordnung hergestellt ist. In einer weiteren Erzählung suchen zwei junge Männer den Heiligen auf, um von ihm unterwiesen zu werden und bei ihm leben zu dürfen (V. 24925–25186). Macarius zweifelt an den beiden und gestattet ihnen zunächst nicht, sich bei ihm niederzulassen. Erst als beide beteuern, sie würden in die Wüste ziehen, wenn sie nicht bei ihm bleiben dürften, beschließt Macarius, sie auf die Probe zu stellen. Er stattet die beiden mit Werkzeug und Brot aus und trägt ihnen auf, einen Acker zu bestellen und dort auch ihre Zelle zu errichten. Als weitere Arbeit verlangt er von ihnen, dass sie Palmblätter zu Decken und Körben flechten, um für ihren Unterhalt zu sorgen. Nachdem drei Jahre vergangen sind, beginnt sich der Heilige zu wundern, dass er nichts mehr von den beiden gehört hat, und sucht sie schließlich auf. Er wird von den Brüdern aufgenommen, man gibt ihm ein kärgliches Mahl und einen Platz zum Schlafen. Die beiden sprechen jedoch kein Wort, weswegen Macarius keinerlei Informationen über ihr Leben gewinnen kann, was er als höchst quälend empfindet: Ich tet als ob ich sliefe In minem herzen tiefe Schrei ich an Got daz er ir leben Zu wizzen mir wolde geben. (V. 25095–25098)
Daraufhin wird Macarius eine Vision zuteil. Das Dach der Klause reißt auf und ein heller Schein erfüllt den Raum. In dem Licht sieht Macarius, wie die beiden Brüder aufstehen und sich ans Gebet begeben. Sie stehen starr mit zum Himmel aufgereckten Händen, als Macarius Teufel in Form von Fliegen herankommen sieht, die sich auf dem Jüngeren der beiden niederlassen. Den Älteren können sie nicht erreichen. Daraufhin erscheint ein Engel mit einem feurigen Schwert, der die Fliegen zu schlagen beginnt und sie von beiden vertreibt. Sie fahren mit ihrem Gebet die ganze Nacht und bis in den Morgen fort, während der Engel sie beschützt. Dann legen sie sich beide wieder nieder. Als ob er gerade erwacht ist, regt sich Macarius, steht auf und begibt sich seinerseits an das Gebet. Sofort stehen auch die Brüder wieder auf und beginnen zu beten. Macarius sieht aus ihren Mündern eine Flamme zum Himmel schlagen. Ohne ihnen
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von dem Erlebten zu berichten, verabschiedet sich der Heilige und verlässt die Brüder. Anders als in den meisten anderen Macarius-Erzählungen berichtet der Heilige hier selbst von dem, was er erlebt hat. Das bietet ihm die Möglichkeit, das Gesehene auszulegen. An den Fliegen hätte er erkennen können, dass der Ältere vollkommen in seiner Frömmigkeit gewesen wäre, während der Jüngere noch die Qualen des Teufels habe aushalten müssen. Bald darauf seien beide gestorben und daran, so schließt Macarius seine Erzählung, könne man sehen, dass die Alten und die Jungen schnell die Vollkommenheit erreichen könnten, wenn sie sich nur immer an Gottes Gebote hielten. Doch die kurze Erklärung lässt offensichtliche Leerstellen. Weder begründet sie das Schweigen der Brüder, noch erklärt sie die Feuerstrahlen oder das aufbrechende Dach. Gerade die Leerstellen aber heben die Erzählung über den Rahmen einer einfachen Belehrung hinaus. Macarius erscheint hier nicht als Lehrer, sondern als Visionär. Das göttliche Licht ist nicht Teil der Auszeichnung der Brüder, sondern gestattet Macarius, in der Dunkelheit zu sehen und eine Erkenntnis über das Leben der Brüder zu gewinnen. Im Feuerstrahl materialisiert sich die Inbrunst ihres Gebetes in Macariusʼ Augen. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht die Wahrnehmungsfähigkeit des Erzeremiten. Eine letzte Funktion ist Macarius noch zu eigen, nämlich die der Auseinandersetzung mit den ‚Heiden‘. Die ‚Heiden‘ erfüllen eine spezifische Funktion, nämlich die der Vermittlung von Heilswissen. Der Text interessiert sich nicht für ihre spezifische Religiosität, sondern vielmehr für ihr Verhältnis zum Christentum. Dennoch entsteht ein ganz anderes Bild als im Bericht von der ‚Heidenmission‘ des Apollonius.378 In einer der ‚Heidenerzählungen‘ (V. 26319–26406) ist Macarius mit einem Schüler unterwegs und schickt diesen voraus. Der junge Mönch begegnet einem ‚heidnischen‘ Priester, der ihm mit einer Keule bewaffnet entgegenkommt. Macariusʼ Jünger spottet über den Mann und provoziert ihn derart, dass er sich umwendet und den Mönch mit seiner Keule niederschlägt. Bald darauf begegnet der ‚Heide‘ Macarius, der ihn freundlich grüßt. Der ‚Ungläubige‘ ist verblüfft und fragt, warum er ihn so freundlich gegrüßt habe. Macarius antwortet ihm, dass er ihn so grüße, weil Gott sich wünsche, den ‚Heiden‘ in seiner Gnade aufzunehmen. Der Keulenträger wird davon sehr bewegt und berichtet Macarius davon, wie er eben den jungen Mönch, der ihn so übel beschimpft hatte, niederschlug. Daraufhin wirft er seine Keule fort und bittet um Aufnahme als Mönch. Beide suchen den niedergeschlagenen Jünger und tragen ihn gemeinsam heim. Macarius sagt über diesen Vorgang:
378 Vgl. Abschn. 7.3 dieser Arbeit.
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Kundige wort, bose unde swach, Biwilen die guten serent, Daz si sich virkerent. Aber die wort uz demut Sin so nutze und also gut Daz si joch den bosen Biwilen von erge losen. (V. 26400–26406)
In dieser Auslegung des Ereignisses steht der ‚Heide‘ sowohl für die Guten als auch für die Bösen ein. Er ist insofern gut, als er überhaupt kein Interesse an einer Auseinandersetzung hat und erst durch die Provokation des Schülers in Wut gebracht wird und ihn deshalb niederschlägt. Er ist insofern böse, als er der Bekehrung bedarf, die erst durch Macarius’ freundliche und demütige Ansprache ermöglicht wird. Der ‚Heide‘ fungiert als Projektionsfläche, die je nach Anlage als gut oder schlecht qualifiziert und an der die Funktion der christlichen Tugenden im Miteinander exemplarisch und modellhaft inszeniert werden kann. Der ‚Heide‘ erscheint nicht als Gegner, wie etwa in Märtyrerlegenden, sondern als eine Vermittlungsfigur für Heilswissen. Das wird umso deutlicher, weil Macariusʼ christlicher Schüler aus der ganzen Angelegenheit deutlich schlechter hervorgeht als der ‚heidnische‘ Priester. Ganz anders als an Arsenius wird an der Figur des Macarius nicht das Ideal asketischen Lebens und demütigen Verschwindens dargestellt. Macarius erscheint als paradigmatischer Lehrer und Leiter von Gemeinschaften. Er erkennt das Wesen gemeinschaftlicher Zusammenhänge, das anderen verborgen bleibt. Während am Beispiel des Arsenius die Askese und am Beispiel des Macarius Gemeinschaft und Leitung verhandelt werden, konzentrieren sich die Erzählungen vom heiligen Moyses379 auf das unmittelbare Verhältnis von Lehrer und Schüler. Zunächst wird Moyses eingeführt, und zwar wie auch andere Heilige durch ein negatives Lob des Teufels (V. 12191–12210). Er erscheint Moyses und klagt darüber, dass der von ihm gegen den Heiligen gesäte Hass stets durch dessen Sanftmut besiegt werde. Und auch zum Hochmut könne er ihn wegen seiner Demut nicht verführen. Dennoch erscheint Moyses nicht nur als Lehrer, er ist zugleich auch selbst Schüler (V. 15856–15926). So wendet er sich an den heiligen Isidorus, weil er fortwährend von Teufeln versucht wird. Dabei betont der Text, dass diese Versuchung durch Gottes Wille geschieht. Isidorus nimmt Moyses mit in eine Zelle
379 Vgl. zu Moyses dem Äthiopier auch Müller (2000), S. 42–46.
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des Klosters und lässt ihn erst aus dem westlichen und dann aus dem östlichen Fenster schauen. Aus dem westlichen Fenster sieht Moyses die Heerscharen des Teufels, die sich zum Kampf rüsten. Aus dem östlichen Fenster aber erblickt er Manigen ritterlichen helt, Die niemam mohte han gezelt, Daz alles engel waren. (V. 15893–15895)
Isidorus erklärt Moyses das Gesehene: Es sei doch gut zu erkennen, dass die Zahl der Teufel zwar groß, die der Engel aber größer und stärker sei, und man sich also auf die Unterstützung Gottes verlassen könne. Gestärkt geht Moyses danach zurück in seine Zelle. In anderen Moyses-Erzählungen steht nicht mehr der Heilige selbst, sondern sein Schüler Zacharias im Vordergrund (V. 13293–13314). Zu Moyses kommen einige Mönche und bitten um gute Lehre. Er fordert daraufhin Zacharias auf: Sage in ettewas von Gote! (V. 13303), woraufhin Zacharias sein Gewand auszieht, es zu schlagen beginnt und den Gästen zuruft, dass keiner es verdiene, Mönch geheißen zu werden, der dasselbe nicht in Gottes Namen erleiden würde. Moyses Tugend erweist sich so nicht im eigenen Handeln, sondern vielmehr in der Klugheit und Leidensbereitschaft seines Schülers. Der Lehrer wird durch die vorbildliche Haltung seines Schülers ausgezeichnet. Diese Logik wird unter anderen Vorzeichen mehrfach reinszeniert (V. 22279– 22350). So bittet an einer anderen Stelle Moyses um eine Belehrung durch Zacharias. Der Schüler weigert sich zunächst, nimmt dann aber seine Kappe vom Kopf, trampelt auf ihr herum und führt aus, dass nur der sich Mönch nennen sollte, der Tritte und Schläge mit ebenso viel Geduld ertragen könne wie diese Kappe. Schließlich springt die Erzählung zum Tod des Zacharias. An seinem Totenbett sind Moyses und Isidorus versammelt. Moyses bittet erneut darum, dass Zacharias ihm einen Rat gebe, ehe er stirbt. Waz aller beste behage dir / daz ich sule behalden (V. 22336 f.) fragt er den Sterbenden und der antwortet: Swigen, swigen, vater min, / daz la dir bevolhen sin! (V. 22339 f.). Daraufhin stirbt Zacharias und Isidorus wird seiner Rolle als Hinweiser gerecht, indem er zum Himmel aufschaut und ruft: Vreu dich, vreu dich, Gotes kneht, Dine wec zu himele der ist sleht Der vreuden tor dir offen stat, Daz dich itzu mit selde enpfat! (V. 22347–22350)
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Der Schüler wird erhöht, während die Lehrer zurückbleiben. Gleichzeitig konterkariert Zacharias mit seinen letzten Worten deren Tätigkeit, indem er ihnen das Schweigen empfiehlt. Damit wird auch der Lehrer auf sich selbst zurückgeworfen. An anderer Stelle schafft Moyses selbst ein lehrhaftes Beispiel für eine ganze Gemeinschaft. In einer Niederlassung der Einsiedler wird einer der Sündhaftigkeit bezichtigt. Die Brüder rufen daraufhin die Einsiedler aus dem Wald zusammen, um ein Urteil über den Sünder zu fällen. Auch Moyses wird hinzugerufen. Er denkt darüber nach, wie er die Gemeinschaft belehren kann, und nimmt schließlich einen mit Sand gefüllten Korb, den er sich auf den Rücken bindet. Damit belastet geht er zu der Versammlung. Gefragt, was in dem Korb sei, antwortet Moyses, das seien seine Sünden, die hinter ihm lägen und die er daher nicht sehen könne. Obwohl dieser Sünden viele seien, sei er zu seiner Verwunderung gerufen worden, um über die Sünden eines anderen zu richten. Von seinem Beispiel werden die Brüder der Niederlassung eines Besseren belehrt. Moyses tritt aber nicht als Autorität auf, was ihm problemlos möglich wäre, denn der Text qualifiziert ihn als gar ein heilic vater (V. 19629) und er wird schließlich aufgrund seiner moralischen Kompetenz zum Gericht gerufen. Vielmehr stellt er ein ethisches Prinzip aus und ordnet sich selbst diesem zugleich unter. Gerade dadurch erweist er sich als hervorragender Lehrer.
8.4 Ein Andreasmirakel als Angelpunkt des ‚Väterbuchs‘ Im Zentrum des Sprücheteils steht eine Mirakelerzählung, die in mehrfacher Hinsicht aus dem sie umgebenden Text herausgehoben ist. Der Protagonist dieser Passage ist kein Wüstenvater, sondern ein reiner bischof (V. 15927), der in besonderer Weise den heiligen Andreas verehrt. Das stößt dem Teufel sauer auf, woraufhin dieser sich in Frauengestalt vor dem Bischofshof einfindet und darum bittet, dass der Bischof (und nur er) ihm die Beichte abnimmt. In der fingierten Beichte formuliert nun der als Frau verkleidete Teufel eine Geschichte, die typisch für die Legenden von Büßerinnen ist: Sie sei von kuniges geslehte (V. 15972), wolle sich aber nicht verheiraten lassen. Sie sei deshalb geflohen und bitte nun ihn, den Bischof, in Christi Namen um Schutz. Der Bischof wundert sich zwar über die gewählten Worte der Frau, sagt ihr aber sofort seine Hilfe zu. Er bittet sie dann, mit ihm gemeinsam zu essen. Bei diesem Essen erwacht sein Begehren. Der Teufel bemerkt das und rückt ihm noch näher, um sein Begehren weiter zu schüren. Da klopft ein Pilger an das Tor des Bischofshofs und bittet um Einlass, der ihm von den Wachen verwehrt wird. Der Pilger lässt sich nicht abwei-
Ein Andreasmirakel als Angelpunkt des ‚Väterbuchs‘
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sen, sodass die Nachricht von seiner Ankunft schließlich bis zum Bischof dringt. Der fragt die Frau an seiner Seite, wie man nun verfahren solle. Der Teufel kann offensichtlich nicht widerstehen und schlägt vor, den Pilger zu prüfen. Daraufhin bestimmt der Bischof, dass die Frau selbst Prüfungsfragen wählen solle. Sie lässt dem Pilger also mehrere Fragen stellen, deren letzte schließlich lautet, wie weit es vom Himmel zur Erde herab sei. Das wisse sie selbst am besten, lässt der Pilger der Frau ausrichten, sie habe es schließlich selbst abgemessen, als man sie vom Himmel hinab in die Hölle gestoßen habe. So entdeckt flüchtet der Teufel und auch der Pilger ist verschwunden, als man nach ihm sucht. Der Bischof bereut seine sündhaften Gedanken und lässt überall nach dem Pilger suchen. Schließlich offenbart ihm Gott, dass der heilige Andreas ihn aus den Fängen des Teufels gerettet hat. Der Text schließt mit einer Belehrung ab: Nu sehte wie rehte nutz ez ist Daz man die heiligen liep hat. [...] O wie nutze ein guter bote Ist bi dem reinen Gote, Den er gerne horen wil! (V. 16226–16241)
Damit wird die Heiligenverehrung thematisiert, gleichzeitig aber mit Andreas ein Heiligentypus eingebunden, der sich von den Eremiten unterscheidet. Der heilige Andreas ist kein Eremit, sondern einer der vier erstberufenen Jünger und ein Märtyrer. Auch die ‚Legenda aurea‘ gibt seine Legende wieder.380 Sie ist die Quelle für das Mirakel im ‚Väterbuch‘. Die ‚Legenda aurea‘ berichtet von der Berufung Andreasʼ, dann aber vor allem von seiner Missionstätigkeit in Skythien nach dem Tod Christi und seiner Rettung des Matthäus aus dem Kerker.381 Daran schließen sich einige Mirakelerzählungen an, ehe der Text vom Martyrium des Andreas erzählt: Während er in Patras auf dem Peleponnes predigt, wird Andreas vom dortigen Herrscher gefangengesetzt und schließlich gekreuzigt.382 Andreas aber predigt noch zwei Tage lang vom Kreuz herab der Volksmenge, die sich schließlich gegen den Herrscher
380 Vgl. Legenda aurea (Häuptli), Bd. I, S. 100–125. Zur Andreaslegende im ‚Passional‘ vgl. auch Hammer (2015), S. 158–166. 381 Vgl. dazu auch Keller, Hiltgart L.: [Art.] Andreas. In: Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst. 11. Aufl. Stuttgart 2010, S. 48–49. 382 Der Text sagt nichts über die Form des Kreuzes. Das sogenannte ‚Andreaskreuz‘ in X-Form ist wahrscheinlich auch erst eine Erfindung des 13. Jahrhunderts. Vgl. Keller (2010), S. 48.
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Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata)
erhebt und ihn zwingt, die Abnahme des Heiligen zu befehlen. Doch Andreas ist nicht bereit, sich retten zu lassen, und niemand vermag sich seinem Kreuz zu nähern. Schließlich wird er auf sein inständiges Gebet hin entrückt. Daran schließt sich eine Reihe weiterer Mirakel an, deren eines die Geschichte vom verführten Bischof ist, die das ‚Väterbuch‘ wiedergibt. Von dem übrigen ‚Sprücheteil‘ unterscheidet sich das Mirakel durch das Auftauchen des Apostels, durch seine Quelle und schließlich dadurch, dass es deutlich länger als die oft sehr kurzen Sprüche ist. Zudem ist diese Passage durch ihre Stellung im Zentrum des ‚Sprücheteils‘ herausgehoben. Für diese Sonderstellung lassen sich zwei Gründe finden. Zunächst war der heilige Andreas der Schutzpatron der Diözese Ermland, die 1243 eingerichtet worden war. Anselm von Meißen hatte die Kirche St. Andreas in Braunsberg, das allerdings 1270 von den Prußen eingenommen und erst 1277 zurückerobert wurde, 1260 zur Kathedrale erhoben. Die Hervorhebung des Andreasmirakels ließe sich insofern als ein Reflex der besonderen Andreasverehrung im Entstehungsgebiet des Textes begreifen. Diese Hypothese passt recht gut zu den Spekulationen von Helm und Ziesmer, die den zweiten Bischof von Ermland, Heinrich Fleming, als Auftraggeber ins Spiel gebracht haben.383 Unter Umständen ließe sich hier ein (weiteres) Indiz für die Entstehung des ‚Väterbuchs‘ in engem Zusammenhang mit dem Deutschen Orden sehen. Außerdem bietet die Aufnahme eines Märtyrers in den Text die Möglichkeit, allgemein die Funktion von Heiligen als intercessores, als Mittler zwischen Gott und den Menschen, zu thematisieren. Das Auftreten des heiligen Andreas ruft ins Gedächtnis, dass die Heiligen (und auch die heiligen Wüstenväter) nicht nur personae imitabiles, sondern auch Adressaten für Fürbitten sind. Auch hieraus ließe sich erklären, dass der Verfasser gerade dieses Andreasmirakel für das ‚Väterbuch‘ ausgewählt hat.
8.5 Spruch, Übersetzung und Tradierung im Kloster (,Hieronymusmirakel‘) Der ‚Sprücheteil‘ wird mit einer Erzählung vom heiligen Hieronymus abgeschlossen (V. 27169–27568). Auch sie ist nicht den ‚Vitaspatrum‘, sondern der ‚Legenda aurea‘384 entnommen und enthält wiederum nur einen Teil dessen, was in der Vorlage steht.
383 Vgl. Helm/Ziesmer (1951), S. 68. 384 Vgl. Legenda aurea (Häuptli), Bd. II, S. 1906–1921.
Spruch, Übersetzung und Tradierung im Kloster (,Hieronymusmirakel‘)
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Der Text gibt die bekannte Geschichte von dem verletzten Löwen wieder. Hieronymus lebt mit seinen Anhängern in einem Kloster, vor dessen Tür Eines tages in der spate Do sich der convent hate Gesamt, als in geboten was Unde man in von Gote las, Als ir gewonheit was getan, (V. 27181–27185)
ein Löwe mit verletzter Pfote erscheint. Hieronymus wäscht und verbindet die Wunde, sodass der Löwe wieder gesund wird und fortan zahm bei den Mönchen lebt. Sie beauftragen das Raubtier damit, den Esel des Klosters zu hüten, doch während der Löwe schläft, wird der Esel von ägyptischen Kaufleuten gestohlen. Die erbosten Mönche nehmen an, dass der Löwe den Esel gefressen habe, und zwingen ihn daraufhin, die Rolle des Lasttiers zu übernehmen und Brennholz zu tragen. Der Löwe übernimmt die Aufgabe willig, bis eines Tages die Kaufleute samt dem gestohlenen Esel zurückkehren, woraufhin der Löwe die Händler in die Flucht schlägt und den Esel samt den mit Öl beladenen Kamelen ins Kloster treibt. Die Kaufleute treffen dort später zu Fuß ein, gestehen reumütig den Diebstahl des Esels, und Hieronymus vergibt ihnen. Daraufhin spenden sie dem Kloster die Hälfte des transportierten Öls und bis zu ihrem Lebensende kehren sie immer wieder zurück und versorgen das Kloster mit Öl. Das ‚Väterbuch‘ gibt nur einen Teil der Legende wieder. Die ‚Legenda aurea‘ legt die Erzählung viel stärker als Vita an und gibt über Eltern, Herkunft und Jugend des Heiligen Auskunft. Sie berichtet, wie der bereits gelehrte Hieronymus sich der christlichen Bildung widmet. Außerdem erzählt sie davon, dass Hieronymus selbst als Eremit in der Wüste gelebt und eine Gemeinschaft von Anhängern um sich versammelt hat. All das fehlt im ‚Väterbuch‘ ebenso wie ein Verweis auf die Schriften des Hieronymus und seine Tätigkeit für den Papst. Das ‚Passional‘ enthält immerhin das Letztgenannte, ansonsten aber auch nur die oben wiedergegebene Löwengeschichte. Das Fehlen der entsprechenden Passagen ist bemerkenswert, denn da die ‚Legenda aurea‘ eindeutig die Quelle für ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ ist, müssen sie deren Verfasser bekannt gewesen sein. Auch hätte der Verweis auf das eremitische Leben des Hieronymus doch recht gut in den Zusammenhang des ‚Väterbuchs‘ gepasst. Wie schon im Fall des ‚Andreasmirakels‘ scheint genau dieser Teil der ‚Hieronymuslegende‘ an dieser hervorgehobenen Endposition des ‚Sprücheteils‚ eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Denkbar sind wiederum zwei Lesarten. Hieronymus wurde zwar erst 1295 zu einem der Kirchenväter ernannt, doch war seine Autorität im geistlichen Schrifttum unstrittig und zwar insbesondere
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Das Erbe des Spruchs (Apophthegmata)
was Fragen des Mönchtums anging.385 Insofern lässt sich seine Aufnahme ins ‚Väterbuch‘ als Legitimierungsstrategie verstehen. Der wichtigste Teil der Legende einer zentralen Figur für das Mönchtum sollte unbedingt vermittelt werden. So ließe sich die Aufnahme in ‚Väterbuch‘ und ‚Passional‘ zwar erklären, doch bliebe unklar, warum gerade die Schriftproduktion des Kirchenvaters ausgeblendet ist. Möglich ist auch eine Lesart, die stärker am Text orientiert ist: Der Löwe erscheint in dem Augenblick, in dem die tägliche Lesung im Kloster stattfinden soll. Damit ist die Textproduktion und -rezeption von Anfang an thematisiert, ohne dass sie zunächst eine Rolle spielt. Mit der Auffindung des Esels durch den Löwen und die Reue der Kaufleute kommt der Gegenstand jedoch wieder in den Fokus, denn die Mönche um den heiligen Hieronymus brauchen Lampenöl nicht nur für den Gottesdienst, sondern auch zum Lesen und Schreiben. Die Rolle des Löwen bestünde also nicht darin, die Esel des Klosters zu hüten, sondern für einen sehr lange nicht versiegenden Nachschub an Beleuchtung zu sorgen, der die Mönche in die Lage versetzt, Texte zu produzieren und zu rezipieren. Das kleine Löwenwunder am Ende des ‚Sprücheteils‘ verweist nicht zuletzt auf die Schriftlichkeit des Textes, die aufgrund der Form des Spruches zuvor ausgeblendet war. Nicht nur die Aussprüche der Wüstenväter sind auf diese Weise durch göttliche Zeichen beglaubigt, sondern auch ihre schriftliche Wiedergabe. Zieht man in Betracht, dass auch das ‚Väterbuch‘ in Teilen auf die Schriften des Hieronymus zurückgeht, lässt sich in dem Legendenausschnitt auch als Arbeiten an der eigenen Legitimität des Textes und seiner Schriftlichkeit verstehen. Der Spruch hat als literarische Form einen spezifischen Status, weil er trotz seiner Schriftlichkeit auf seinen vermeintlich mündlichen Ursprung zurückverweist. Indem die Sprüche als mündlich dargestellt und unmittelbar den Wüstenvätern zugeschrieben werden, können sie als Quelle für Handlungswissen und als literarisiertes Regelwerk für die monastische Kultur wirken. Sie vermitteln in ihrer Vielfalt die Formen des monastischen Lebens und bilden damit neben den Regeln die Grundlage der Klosterkultur. Ganz konkret hat der Prolog des ‚Sprücheteils‘ diese Funktion in der Bezeichnung des Textes als Spiegel erfasst, durch dessen Konsultation der Mensch seine eigenen Fehler erkennen und beseitigen kann. In der Betrachtung des ‚Sprücheteils‘ wurden verschiedene Ausrichtungen der Sprüche erfasst. Sie befassen sich mit Emotionalität und dem Umgang mit negativen Emotionen. Dabei erweist sich die Demut als ein zentrales Leitmotiv, weil sie Ursprung aller weiteren Tugenden ist. Seine Geltung bezieht das ver-
385 Vgl. Keller, Hiltgart L.: [Art.] Hieronymus. In: Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten. Legende und Darstellung in der bildenden Kunst. 11. Aufl. Stuttgart 2010, S. 302–304.
Spruch, Übersetzung und Tradierung im Kloster (,Hieronymusmirakel‘)
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mittelte Handlungswissen nicht zuletzt aus der eschatologischen Perspektivierung, die in den Sprücheteil eingesponnen ist und die Darstellung des Jüngsten Gerichts am Ende des ‚Väterbuchs‘ präfiguriert. Am Beispiel der drei ‚großen‘ Wüstenväter Arsenius, Macarius und Moyses wird deutlich, wie unterschiedliche Aspekte des monastischen Lebens im Sprücheteil entfaltet werden. Arsenius der Große ist vor allem mit dem Widerspruch zwischen herausragender Tugend und dem Wunsch nach demütiger Erniedrigung befasst. Diese Spannung findet in seinem ständigen Versuch, sich selbst zum Verschwinden zu bringen, einen Ausdruck. Macarius der Ägypter hingegen erscheint praktisch nur als gemeinschaftsstiftende und -leitende Figur. Für ihn spielt das Erkennen des inneren Zustandes der von ihm betreuten Mönche eine zentrale Rolle. Moyses der Äthiopier schließlich ist eng mit dem Lehrer-SchülerVerhältnis assoziiert, wobei sich die besondere Qualität eines solchen dadurch zeigt, dass der Schüler den Lehrer an Demut und an Heiligkeit überflügelt. Sonderstellungen innerhalb des ‚Sprücheteils‘ nehmen das ‚Andreasmirakel‘ und die ‚Hieronymuslegende‘ ein. Beide stammen nicht aus den ‚Vitaspatrum‘ und passen nur bedingt in den Zusammenhang des ‚Sprücheteils‘. Das ‚Andreasmirakel‘ bietet sich allerdings als Anknüpfungspunkt für eine Rezeption innerhalb des Deutschen Ordens an. Es fügt sich in den Sprücheteil immerhin über das Motiv der Teufelsversuchung, das dort häufig vorkommt. Der Ausschnitt aus der ‚Hieronymuslegende‘ lässt sich als eine den ‚Sprücheteil‘ abschließende Aufwertung des schriftlichen Textes verstehen.
9 Paarungen und Verwandtschaften (Legenden) Der ‚Legendenteil‘ des ‚Väterbuchs‘ widmet sich dem Phänomen der christlichen Askese aus einem neuen Blickwinkel. Während ‚Antoniusvita‘, ‚Reise-‘ und ‚Sprücheteil‘ von den Einsiedlern in der Wüste erzählen, verliert im letzten Teil des ‚Väterbuchs‘ der konkrete Raum an Bedeutung. Stattdessen befassen sich die im ‚Legendenteil‘ versammelten Erzählungen in vielfältiger Weise mit der Identitätstransformation, die mit dem Übergang zum asketischen Leben und der Heiligung einhergeht. Dabei ist der Wandel keine unidirektionale Bewegung von der weltlichen zur geistlichen Identität. Vielmehr werden die Bezüge, von denen die ursprüngliche Identität der Figuren bestimmt war, in den Transformationsprozess einbezogen, sodass nicht nur neue Lebensformen, sondern auch eine Vielfalt neuer Gemeinschaftskonstellationen entstehen. Der ‚Legendenteil‘ fügt dem ‚Väterbuch‘ noch einen weiteren neuen Aspekt hinzu: Hier stehen vielfach weibliche Heilige im Mittelpunkt. Vor dem ‚Legendenteil‘ tauchen Frauen fast ausschließlich als Bedrohung des asketischen Lebens auf.386 Sie erscheinen als problematische Verehrerinnen oder Verkörperungen des Teufels,387 versuchen, die Eremiten von der Wüstenreise abzuhalten oder aus der Wüste zurückzuholen. Eine Ausnahme stellt eine kurze Passage des ‚Reiseteils‘ weit vorne im ‚Väterbuch‘ dar. Sie zeigt, dass Ehe und Frauen durchaus nicht nur im Widerspruch zum eremitischen Leben stehen. Die reisenden Brüder sind zu Gast bei den Eremiten in der ägyptischen Wüstenregion Nitria. Da die Gemeinschaft in Nitria vom heiligen Ammon gegründet wurde, wird den Reisenden dessen Lebensgeschichte erzählt.388 Die ‚Ammonvita‘ beginnt wie die des heiligen Antonius: Auch Ammon ist ein Kind wohlhabender Eltern, das sich schon früh durch Weisheit auszeichnet. Auch er will sich dem weltlichen Leben entziehen, doch
386 Vgl. Frank (2002), S. 23 f., der ausführt, dass Frauen zwar aus den prominentesten Eremitenniederlassungen wie Sketis, Kellien und Nitria ausgeschlossen waren, es aber dennoch weibliches Asketentum außerhalb dieser Zentren gegeben hat. Entsprechend sind Zeugnisse von Asketinnen in den Apophthegmata zwar selten, wohl aber vorhanden, wie Frank an mehreren Beispielen zeigt. 387 Peter Brown argumentiert, dass die Ausklammerung von Frauen aus der Wüstenväterliteratur Teil einer größeren Strategie zur Beherrschung und Einfriedung der asketischen Bewegung gewesen sein könnte, die sich im 4. Jahrhundert unkontrolliert zu entwickeln drohte und in deren Zuge unter anderem Frauen und Männer in Einsiedlergemeinschaften zusammenlebten. Vgl. Brown (1988), S. 243 f. 388 Damit ist allerdings die Geschichte von Anfang an weniger marginal, als man vielleicht annehmen möchte, denn der heilige Ammon war eine der wichtigsten Leitfiguren der Eremitenbewegung.
Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
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Der junge, der geneme Wuhs uf in reinlicher jugent Mit zuht und mit schoner tugent, Untz er ein michel helt wart. Im gab nach werltlicher art Sin vater ein juncfrouwen gut, Riche, schone und wol behut Von allerhande biziht. (V. 10278–10285)
Anders als Antonius wird Ammon verheiratet, doch in der Hochzeitsnacht überzeugt er seine Braut davon, ihre Unschuld zu bewahren und sich ganz Christus hinzugeben. Das Ehepaar lebt in heimlicher Keuschheit, bis Ammons Eltern sterben. Dabei bilden die Eheleute eine asketische Gemeinschaft inmitten des weltlichen Lebens: In ir kusen hute Waren si do manigen tac, Daz ieglich grozer tugende phlac Mit vil guten dingen, Swa sie die vollenbringen Mohten hin zu Gotes lobe. (V. 10346–10351)
Die Ehe wird hier zu einem Refugium des keuschen Lebens. Nur durch die Ehegemeinschaft ist ein asketischer Rückzug gegen den Willen der Eltern möglich.389 Die Gemeinschaft der Eheleute bringt zudem neue Lebensformen hervor: Sobald Ammons’ Eltern gestorben sind, zieht dieser sich in die Wüste zurück, um dort als Einsiedler zu leben. Seinem Beispiel folgen schnell Nachahmer: Nach sinem reinen bilde / tet sich do genuger abe / der werlte und werltlicher habe (V. 10382– 10384). Doch nicht nur Ammon wird zum Gründer einer neuen Gemeinschaft, sondern auch seine Ehefrau: Sine brut, die juncfrouwe, Die er in deme gute lie, Ir dinc ouch wislich ane vie. Arme juncfrouwe und gut Samptte sie durch wisen mut Heim zu ir in ir gemach, Mit den man sie ouch leben sach
389 Vgl. zu einer ähnlichen Konstellation auch Weitbrecht (2010), S. 144.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
Geistlich untz an ir ende Sunder alle missewende. (V. 10396–10404)
Aus der Ehegemeinschaft entstehen zwei religiöse Gemeinschaften. Ammon lebt als Einsiedler in der Wüste, während seine Frau einen Frauenkonvent in der Stadt gründet. So werden der asketische Rückzug und die weltlichen Ehebeziehungen nicht in ein Ausschlussverhältnis gestellt, sondern aus dem weltlichen geht das religiöse Leben hervor.390 Zugleich werden Männlichkeit und Weiblichkeit als Kategorien identitärer Differenzierung tendenziell neutralisiert, denn beide Ehepartner gleichen sich darin, dass sie ein asketisches Leben führen, beide gründen Gemeinschaften, die jeweils dasselbe Ziel haben, nämlich weiteren Christen ein entsprechendes Lebensmodell zu ermöglichen. Mit der Betonung der Transformation von Bezügen und Identitäten sowie dem Fehlen der Wüste als Handlungsraum rückt das, wiederum räumlich konzeptualisierte, Verhältnis von innen und außen in den Blick. In der kurzen Erzählung von Ammon und seiner Frau wird diese Tendenz bereits deutlich: Nach außen erscheinen die beiden als ein nach weltlicher Ordnung vereinigtes Ehepaar, nach innen leben sie als asketisch-enthaltsame Gemeinschaft zusammen. Auch die im ‚Legendenteil‘ versammelten Erzählungen betonen den innenaußen-Gegensatz in besonderer Weise, indem sie immer wieder die Unerkennbarkeit von Figuren inszenieren. In den Legenden treten so drei zentrale Aspekte in unterschiedlichen Konfigurationen zusammen: Immer durchlaufen die Figuren erstens einen identitären Wandel, der sie von ihren vormaligen, häufig familiären, Bezügen entfremdet. Zweitens wird dieser Wandel durch Askese herbeigeführt. Das aktive Arbeiten am eigenen Körper durch Nahrungsverzicht, Arbeit oder Gebet führt zur äußeren Verwandlung, sodass die Figuren sich ihrer Herkunft entziehen können. Durch den sich dabei vollziehenden Wandel des Verhältnisses von innen und außen wird drittens eine neue Formierung der ursprünglichen Zusammenhänge im geistlichen Leben möglich. Der ‚Legendenteil‘ enthält neun Legenden, die insgesamt knapp 13000 Verse umfassen, also fast ein Drittel des ‚Väterbuchs‘ ausmachen. Legenden von aske-
390 Der Umstand, dass die Ehe zwischen Ammon und seiner Frau nicht vollzogen wird, ist dabei für das ‚Väterbuch‘ nicht von größerer Bedeutung, denn seit den Reformen Papst Alexanders III. im 12. Jahrhundert galt auch die nicht vollzogene Ehe als solche und damit prinzipiell als unauflöslich. Eine Aufhebung war allerdings möglich, wenn einer der beiden Partner sich für ein Leben im Kloster entschied. Insofern steht die Ehedarstellung in der ‚Ammonlegende‘ auch nicht im Gegensatz zum kanonischen Recht.
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tisch lebenden Jungfrauen bestimmen die erste Hälfte des ‚Legendenteils‘. Seine Mitte wird von zwei Legenden gebildet, die jeweils Paarbeziehungen von Heiligen darstellen. Den Abschluss bilden Ehe- beziehungsweise Verwandtschaftslegenden. Allerdings ist dieses Syntagma heuristischer Natur, denn eine stabile Reihenfolge lässt sich aus der Überlieferung nicht ableiten. In den Handschriften sind die Legenden je unterschiedlich angeordnet. In der Edition Reissenbergers, die im Legendenteil der Leipziger und Straßburger Handschrift folgt, sind die einzelnen Legenden ineinander verschachtelt. Es folgen aufeinander die Legenden von Euphrosyna (1)391, Pelagia (2)392, Abraham von Kiduna beziehungsweise Maria der Büßerin (3), Maria von Ägypten (4), Margareta (5), der Antiochenischen Jungfrau (6), Eustachius (7), den sieben Schläfern (8) und Alexius (9). Von den neun Legenden haben nur die drei letzten keine weibliche Hauptfigur. Die ‚Siebenschläferlegende‘ fällt grundsätzlich aus dem Rahmen und wurde, wie auch die abschließende Darstellung des Jüngsten Gerichts, bereits im Kapitel zur heilsgeschichtlichen Rahmung des ‚Väterbuchs‘ verhandelt.393 Um die motivischen Verwandtschaften deutlicher zu markieren, wird in den folgenden Überlegungen die Reihenfolge der Legenden teilweise aufgegeben. Als ‚Jungfrauenlegenden‘ werden die Erzählungen von Euphrosyna (1), Pelagia (2), Margareta (5) und der Antiochenischen Jungfrau (6) zusammengefasst. Als Paarlegenden werden die Erzählungen von Abraham von Kiduna (3) und von Maria von Ägypten (4) behandelt. Den letzten Block bilden die beiden Verwandtschaftslegenden von Eustachius (7) und Alexius (9). Für den ‚Legendenteil‘ hat der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ nicht nur auf die ‚Vitaspatrum‘ zurückgegriffen. In den ‚Vitaspatrum‘ finden sich nur vier der neun Legenden, nämlich Euphrosyna (1), Pelagia (2), Abraham von Kiduna (3) und Maria von Ägypten (4).394 Der Verfasser hat bei der Abfassung dieser Texte
391 Da in der weiteren Analyse von der syntagmatischen Reihung in der Edition abgewichen wird, sind die Legenden hier nummeriert, um eine bessere Übersicht und Orientierung zu ermöglichen. 392 Es gehört zur Tradition dieser Frauenlegenden, dass sie in vielfältigen Austauschprozessen miteinander stehen. Das schlägt sich unter anderem in einer Vermischung der Namen nieder. So findet sich Pelagia auch unter dem Namen Margareta, und Margareta heißt in ihrer männlichen Identität Pelagius. Auch dass zwei Marien unter den weiblichen Heiligen sind und beide mit Maria Magdalena im Zusammenhang stehen, ist kein Zufall. Vgl. dazu Dorn, Erhard: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters. München 1967 (Medium Aevum 10), S. 62–64. 393 Vgl. Abschn. 5.3 dieser Arbeit. 394 Insofern ist die Reihenfolge der Handschriften L und S, durch welche die Paarlegenden (3, 4) von den Frauenlegenden (1, 2, 5, 6) eingeschachtelt sind, nicht willkürlich, sondern folgt einer Logik, die sich aus den Quellen ergibt.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
weitere Quellen einfließen lassen. Für die restlichen Legenden wurde zwar offenbar auf die ‚Legenda aurea‘ zurückgegriffen, doch ist auch sie nachweislich nicht die einzige Quelle.395 Keine der Legenden scheint auf der Basis nur eines Prätextes abgefasst zu sein. Vielmehr hat der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ eine größere Menge verschiedener Vorlagen zur Verfügung gehabt und aus diesen gewählt und kompiliert. Noch stärker als die anderen Teile des ‚Väterbuchs‘ erscheint der ‚Legendenteil‘ deshalb als eigenständiges Konstrukt.
9.1 Heiligkeit und Vermännlichung (Euphrosyna, Pelagia, Margareta und die Antiochenische Jungfrau) Weibliche Heiligkeit ist in hohem Maße durch das Gebot der Jungfräulichkeit bestimmt.396 Dabei ist das Ideal selbst nicht unbedingt geschlechtsspezifisch markiert, denn Jungfräulichkeit oder virginitas wird bereits von den Kirchenvätern als allgemein erstrebenswertes Ideal formuliert. Dieses wird aber, und natürlich wird auch hier ein genderpolitisches Regiment erkennbar, in besonderer Weise an weiblichen Figuren entfaltet und diskutiert.397 Die Jungfrauenlegenden398 von Euphrosyna, Pelagia, Margareta und der Antiochenischen Jungfrau im ‚Väterbuch‘ erzählen jedoch nicht nur davon, wie ihre Protagonistinnen eine asketische Lebensform annehmen. Die weiblichen Heiligen wählen eine radikale
395 Vgl. dazu exemplarisch die umfangreichen Untersuchungen zur ‚Maria von Ägypten-Legende‘ und zur ‚Alexiuslegende‘ bei Kunze, Konrad: Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet. Berlin 1969 (Philologische Studien und Quellen 49), Löffler, Roland: Alexius. Studien zur lateinischen Alexius-Legende und zu den mittelhochdeutschen Alexiusdichtungen. Berlin 1991 und Decuble, Gabriel H.: Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heiligenlegende als literarische Gattung unter besonderer Berücksichtigung der Alexius-Legende. Konstanz 2002. 396 Vgl. zur Geschichte religiöser Virginitätsideale in Europa Brown (1988), S. 3–64. Zur Einführung mit Blick auf die deutsche Literatur des Mittelalters Müller, Maria E.: Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1995 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 17), S. 23–28. Es ist allerdings zu betonen, dass der Status sexueller Enthaltsamkeit innerhalb der asketischen Lebensentwürfe ein lange umstrittener Aspekt war. Vgl. Gemeinhardt (2013), S. 42–44. 397 Zur tatsächlichen Stellung von Jungfrauen innerhalb der asketischen Bewegung in Nordafrika vgl. Dossey (2011), S. 140–143. 398 Im Mittelalter ist nicht der biologische Zustand, sondern die Haltung und Lebensform für die Bezeichnung als Jungfrau entscheidend, deshalb konnten auch bereits Verheiratete den Status der Virginität erlangen. Damit erklärt sich auch, warum im Folgenden auch solche Erzählungen als Jungfrauenlegenden gefasst werden, die von geläuterten Sünderinnen berichten (Pelagia, Maria von Ägypten).
Heiligkeit und Vermännlichung
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Form des Identitätswandels: Sie machen sich um ihres religiösen Lebensentwurfs willen zu Männern.399 Mit dem Wechsel des Geschlechts gewinnt auch das Verhältnis von innen und außen besondere Bedeutung. Als Männer sind die weiblichen Figuren der Verfügungsgewalt ihrer männlichen Angehörigen und damit den für sie zentralen weltlichen Bezügen entzogen. Für ihre Angehörigen werden die Figuren äußerlich unerkennbar, was ihnen die Möglichkeit gibt, ihre innere Haltung beizubehalten, ohne dabei unbedingt den Ort wechseln zu müssen. In diesem Prozess ist die Askese für die nachhaltige Verwandlung des Körpers von Bedeutung: Der asketische Körper ist unerkennbar, weil er nur noch auf die Askese selbst und nicht mehr auf Herkunft oder Geschlecht verweist. Bereits in den 1990er Jahren hat sich die gendertheoretisch ausgerichtete deutsche Forschung intensiv mit der Vermännlichung (‚Crossdressing‘400) weiblicher Figuren in Legenden befasst.401 Diese Forschungsrichtung hat eine Reihe neuer Ergebnisse erbracht und war ein wichtiger Bestandteil der Bemühungen um die Historisierung gendertheorieorientierter Ansätze in der Literaturwissen-
399 Vgl. zu den in Mönche verwandelten Asketinnen Delehaye, Hippolyte: Die hagiographischen Legenden. Übers. v. Ernst A. Stückelberg. Kempten/München 1907, S. 196–206. Anson, John: The Female Transvestite in Early Monasticism. The Origin and Development of a Motif. In: VIATOR 5 (1974), S. 1–32; besonders S. 10 f. beschreibt die christliche Traditionslinie in Männer verwandelter Frauen, die mit Thekla und Perpetua beginnt und in der die Verwandlung als Inszenierung des rituellen Übergangs in eine neue (christliche) Identität bzw. als Christo-mimesis fungiert. Simon Gaunt hingegen argumentiert, dass eine Entscheidung für die Jungfräulichkeit immer eine Entscheidung gegen die herrschende soziale Ordnung gewesen sei und dass sich dieser Widerstand in der Verweigerung weiblicher Identität manifestiere. Vgl. Gaunt, Simon: Gender and Genre in Medieval French Literature. Cambridge 1995 (Cambridge Studies in French 53), S. 191. 400 Vgl. zur Einführung Bullough, Vern L./Bullough, Bonnie: Cross Dressing, Sex, and Gender. Philadelphia 1993, S. VII–XI. Der Terminus ist, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, für die hier behandelten Texte nicht ganz unproblematisch, weil der primäre Impuls der jeweiligen Figuren eben nicht ein Wechsel des Geschlechts ist, sondern dieses vielmehr eine nachgängige Form und Bedingung der Askese ist. Die Heiligen sind insofern cross dressed, aber nicht unbedingt ‚Crossdresser‘. Entsprechend treffen auch die Analysen der hier diskutierten Legenden auch nicht immer vollständig zu. So betonen Bullough/Bullough (1993), S. 53, dass die Selbstverwandlung von Frauen in Mönche als Besetzung eines höheren gesellschaftlichen Status zu verstehen sei, was sich so nicht an den Texten festmachen lässt. 401 Im anglo-amerikanischen Raum fand diese Auseinandersetzung bedeutend früher als in Deutschland statt, z. B. bei Anson (1974). Einen Überblick über die Forschungsdebatte gibt Abdalla, Laila: Theology and Culture. Masculinizing the Woman. In: Varieties of Devotion in the Middle Ages and Renaissance. Hrsg. von Susan C. Karant-Nunn. Turnhout 2003, S. 17–37; hier S. 18.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
schaft. Zudem liegt in der sich daraus ergebenden Erkenntnis, dass mittelalterliche Texte den Körper anders bestimmen als moderne, ein wichtiger Hinweis auf die prinzipielle Historizität von Körperkonzepten. Legt man eine biologistische Vorstellung der Unhintergehbarkeit von Geschlecht den vormodernen Texten zugrunde, ergeben sich problematische Lesarten. Versteht man etwa die zu Männern verwandelten Frauen in den Legenden als verkleidet und im permanenten Widerspruch von verdeckter ‚Wahrheit‘ und äußerem Schein, konstruiert man ein Irritationsmoment,402 für das die Texte keinerlei explizite Anhaltspunkte liefern.403 Vielmehr finden die Figuren in ihrer männlichen Identität zu genau dem Leben, das sie bereits als weibliche Figuren angestrebt haben, also zu einer Kongruenz von innen und außen. So ist es fraglich, ob das Crossdressing in Legenden tatsächlich mit dem von Edith Feistner bemühten Begriff der „Verkleidung“404 angemessen erfasst ist, zumal Feistner selbst bemerkt, dass die Heilige, mit der sie sich befasst, „ganz und gar in ihrer Verkleidung auf[geht]“405. Ist aber eine Verkleidung, in der man ‚ganz und gar aufgeht‘, noch eine solche? Oder wird damit nicht gerade das Ende der Dissoziation von innerem Sein und äußerem Schein impliziert, die eine Ver-kleidung auszeichnet? Die Vermännlichung weiblicher Figuren in Legenden, die dort nichts Geringeres als die Auszeichnung und Heiligung bedeutet, als „Rollenidentifikation“406 zu beschreiben, tut ihr jedenfalls ebenfalls Unrecht.407 Die Texte erzählen von
402 So bestimmt etwa Feistner, Edith: Manlîchiu wîp, wîplîche man. Zum Kleidertausch in der Literatur des Mittelalters. In: PBB 119 (1997), S. 235–269; hier S. 238 für die Pelagialegende die Askese als Selbstbestrafung und konstatiert: „Aus der Logik dieser autoaggressiven Motivation resultiert die Tatsache, daß die Protagonistinnen die männliche Rolle als fremd empfinden. Paradoxerweise dient hier also die Rollendurchbrechung dazu, gerade die Rollentrennung der Geschlechter zu stabilisieren […].“ Der Text hingegen thematisiert mit keiner Silbe, dass irgendeine Rolle von irgendjemandem als fremd empfunden wird. 403 Ingrid Kasten hat in diesem Zusammenhang auf das Laqueur’sche one-sex-model im Mittel alter verwiesen. Vgl. Kasten, Ingrid: Gender und Legende. Zur Konstruktion des heiligen Körpers. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 199–219; hier S. 203. 404 Feistner, Edith: Rollenspiel und Figurenidentität. Zum Motiv der Verkleidung in der mittelalterlichen Literatur. In: GRM 46 (1996), S. 257–269; hier S. 257. 405 Feistner (1996), S. 261. 406 Feistner (1996), S. 262. 407 Dass es Feistner, ebenso wie den von der Queer Theory ausgehenden Ansätzen, um mehr als nur eine historische Analyse geht, zeigt ihr Aufsatz „Manlîchiu wîp, wîplîche man“. Dort heißt es mit Blick auf geisteswissenschaftliche Ansätze, die von einer Unfestigkeit von Identität insbesondere im Hinblick auf das Geschlecht ausgehen: „Daß indes ein solches Spiel mit Identitäten leicht Gefahr läuft, zur Utopie zu werden, vermag ein Blick auf Beispiele aus der
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Frauen, die zu Asketen werden, und nicht von Frauen, die sich als Männer oder als Mönche verkleiden. Ursula Peters Diktum, „[d]as Theorem vom gender trouble mag eine ingenuöse theoretische Basis der Genderforschung sein; die mittelalterlichen Texte sind jedoch zutiefst vom Körper, auch vom weiblichen, beherrscht“408, ist deshalb, jedenfalls für die Legenden, unzutreffend. Dies in den Blick zu nehmen, bedeutet jedoch nicht, dass man immer auch die kulturhistorischen Deutungen der genderorientierten Ansätze nachvollziehen muss. Zwar kann Crossdressing in manchen Zusammenhängen als „a symptom of cultural anxiety, not so much a crisis of and in gender categories, but a crisis of category itself“409 beschrieben werden, wie Simon Gaunt im Anschluss an Judith Butler und Marjorie Garber formuliert, doch trifft diese Aussage für die legendarische Literatur nicht unbedingt zu. Vermännlichung ist in diesem Zusammenhang zuallererst als aktive Arbeit am eigenen Körper und der eigenen Identität zu verstehen. Sie ist damit auch eine Form der Heiligung. Das ‚Väterbuch‘ enthält eine Reihe von Jungfrauenlegenden, in denen die Protagonistin als Mann ein asketisches Leben führt.410 Diese werden hier nicht alle in ihren Einzelheiten diskutiert. Vielmehr wird die erste dieser Legenden (Euphrosyna) exemplarisch analysiert und die folgenden (Pelagia, Margareta, die Antiochenische Jungfrau) werden ihr nur summarisch gegenübergestellt.411 Die erste Legende im Legendenteil des ‚Väterbuchs‘ ist programmatisch angelegt, denn sie inszeniert die einzelnen Schritte, die für den Übertritt in einen Orden notwendig sind, und stellt so narrativ den identitären Wandel dar, der Vorausset-
Literatur des Mittelalters zu zeigen, denn diese Beispiele geben gerade wegen der noch ungebrochen klaren Konturierung der Geschlechterrollen Einsicht in das Regelsystem, das die Interaktion der Geschlechter bestimmt.“ (S. 235). Nicht nur wird das Mittelalter hier zur Entlarvung des vermeintlich utopischen Charakters der Queer Studies herangezogen, Feistner nimmt zudem ihre Analyseergebnisse vorweg, indem sie von der „ungebrochen[en] klaren Konturierung der Geschlechterrollen“ im Mittelalter ausgeht. 408 Peters, Ursula: „Gender trouble“ in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten. In: Manlîchiu wîp, wîplich man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren. Berlin 1999, S. 284–304; hier S. 304; Herv. i. Orig. 409 Gaunt, Simon: Straight Minds / „Queer“ Wishes in Old French Hagiography. La vie des Sainte Euphrosine. In: Premodern Sexualities. Hrsg. von Louise Fradenburg/Carla Freccero. New York u. a. 1996, S. 155–173; hier S. 165. 410 Die Einflussverhältnisse dieser Legenden untereinander sind vielfach thematisiert worden. So zum Beispiel bereits bei Delehaye (1907), S. 197–203. 411 Ein Vergleich der Erzählungen mit den ‚Vitaspatrum‘ findet sich in Das Veterbûch (Franke), S. 10–14.
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zung für die Partizipation an monastischen Gemeinschaften ist, wobei das Crossdressing nur eine Nebenrolle spielt. Die Legende beginnt mit einer Figur namens Pafuncius, der eine Tochter namens Euphrosyna hat. An der Tugend des Kindes besteht von Anfang an kein Zweifel. Euphrosyna wird nicht nur von ihren Eltern christlich erzogen (V. 27770– 27773), sondern bereits die Schwangerschaft der Mutter wird nur durch die Fürbitte des Abtes eines nahegelegenen Klosters ermöglicht. Damit ist von Beginn an ein Bezug des Kindes zum Klosterleben hergestellt. Doch Euphrosynas religiöse Erziehung entfaltet zunächst im weltlichen Zusammenhang eine (unerwünschte) Wirkung: Die schrift liez er [Euphrosynas Vater; J. T.] sie leren, Unde swaz sie mohte keren An zuht unde an wisheit, Des wart ir vil vur geleit Nach ires vater willekur. Nu brach die juncvrouwe ouch vur, Ir lob vil witen irschal. In dem lande uber al Vloch von ir daz mere Wie schone daz sie were, Wie zuhtec unde wie wise. Mit dem selben prise Reizte sie vil manigen man, Der sime sune si wolde han Zu wibe, mohtez da geschehen. (V. 27791–27805)
Euphrosynas Schönheit ist doppelt codiert.412 In der geistlichen Logik signifiziert sie die Reinheit und Güte der Jungfrau. Im weltlichen Zusammenhang weist ihre Schönheit die junge Frau als hervorragende Partie aus, die das Begehren der sie betrachtenden Männer weckt. Aus der Menge der Werbenden ragt einer heraus, wan man im werdekeit jach / an prise und ouch an richtum (V. 27814 f.). Ihm verspricht Pafuncius seine Tochter, was mit Schwüren und mit malschatze (V. 27823) besiegelt wird. Euphrosyna ist bis zu diesem Augenblick vollkommen passiv. Das ändert sich, als Euphrosyna zur Vorbereitung ihrer Hochzeit das Kloster betritt und damit in einen Raum gelangt, in dem die weltlich-adlige Logik, nach der Männer untereinander Absprachen über Frauen treffen, nicht greift. Während Pafuncius um den Segen des Abtes für die Hochzeit bittet, gestattet der Text zum
412 Vgl. zur mehrfachen Codierung von Schönheit Kasten (2002), S. 207.
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ersten Mal einen Einblick in die Gedanken Euphrosynas und verleiht ihr damit eine, wenn auch zunächst innere, Stimme: In ir sie sus gedahte: ‚O herre Got, wie selic sin Dise erwelten kinder din, Die hie in ertriche Den engelen sint geliche Unde den du, herre, doch wilt geben Bi dir ein vreudenrichez leben, Daz eweclichen da bestet, So dirre cranke lip zurget.‘ (V. 27864–27872)
Euphrosyna erkennt das Kloster als einen Raum, in dem engelsgleiches Leben413 im Diesseits möglich ist. Sie entwickelt unmittelbar den Wunsch, selbst in diesem Raum zu leben und Teil der monastischen Gemeinschaft zu sein. Für die junge adlige Frau erscheint das Kloster als ein Freiraum, in dem die sie betreffenden weltlichen Zwänge unwirksam sind. Statt einen Gegensatz von weltlicher Erfüllung und monastischer Enthaltung anzunehmen, erscheint für Euphrosyna das Verhältnis umgekehrt: Das weltliche Leben ist qualvoll, das monastische Leben wie das der Engel. Mit dem Wunsch nach dem Klosterleben ist die erste Bedingung für den Übertritt in den monastischen Zusammenhang erfüllt. Den nächsten Schritt vollzieht Euphrosyna im Lauf des Gesprächs mit einem vorbeireisenden Mönch. Sie stellt eine Reihe von Fragen, die sich auf das alltägliche Leben in dessen Kloster richten: Wie viele Angehörige hat es? Werden neue Brüder aufgenommen? Gibt es feste Anweisungen zum Fasten? Wann wird gemeinsam gesungen und gelesen? Euphrosyna macht sich mit der Ordnung des Klosters vertraut und entspricht damit einer wichtigen Anforderung, die an neu ins Kloster eintretende Mönche gestellt wird. Nachdem sie über die Ordnung des Klosters aufgeklärt wurde, vermag sie eine informierte Entscheidung zu treffen: ich wolde / vil gerne ein sulh leben tragen (V. 28010 f.) ruft sie aus.
413 Die Bezeichnung der Askese als engelsgleiches Leben und als Leben in Gemeinschaft mit den Engeln taucht im ‚Väterbuch‘ mehrfach auf, hat eine lange Tradition in der asketischen Literatur und war vielfach Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Verbindung von Engelhaftigkeit und Jungfräulichkeit, die auch hier in der ‚Euphrosynalegende‘ entfaltet wird. Für einen Überblick über die Tradition und die Forschungsdebatte vgl. Muehlberger, Ellen: Ambivalence about the Angelic Life. The Promise and Perils of an Early Christian Discourse of Asceticism. In: JECS 16 (2008), S. 447–478; zur Jungfräulichkeit besonders S. 450–459.
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Das entscheidende Moment des Fluchtplans ist eine Verkleidung Euphrosynas. Das Anlegen der fremden Kleider ist dabei analog zu einem weiteren Schritt beim Übergang ins Kloster, nämlich zur Einkleidung mit dem Habit. Der Mönch schlägt Folgendes vor: Du salt virwandeln drate Von dir weltlichez gewant, Uf daz du blibest unbekant, So nime sulh cleit als die tragen Die Gote wollent wol behagen Unde der werlt lob virmiden. (V. 28030–28035)
Diesem Plan des Mönchs folgt eine Verzögerung, da für seine Umsetzung Pafuncius für einen längeren Zeitraum nicht daheim sein darf. Auch hierin wird eine Analogie zum Klostereintritt erkennbar. Sollen doch Mönche nicht leichtfertig im Kloster aufgenommen werden, sondern eine Bedenkzeit erhalten, nachdem sie über die Regel informiert worden sind, der sie sich unterwerfen. Im 58. Kapitel der ‚Benediktsregel‘ heißt es etwa: Wenn er [der Anwärter; J. T.] ausdauernde Beständigkeit verspricht, liest man ihm nach Verlauf von zwei Monaten diese Regel von Anfang bis Ende vor und man sagt ihm: „Das ist das Gesetz, unter dem du dienen willst! Wenn du es beobachten kannst, tritt ein! Kannst du das nicht, so geh frei deines Weges!“ Bleibt er weiterhin fest, führt man ihn in die […] Unterkunft der Novizen und prüft ihn wiederum in aller Geduld. Nach Ablauf von sechs Monaten liest man ihm die Regel vor, damit er weiß, worum es geht, wenn er eintritt. Bleibt er weiter fest, liest man ihm diese Regel nach vier Monaten von neuem vor. Ist er dann mit sich selbst zu Rat gegangen und verspricht er alles zu halten und alles zu beobachten, was ihm aufgetragen wird, nehme man ihn in die Gemeinschaft auf.414
Dementsprechend muss auch Euphrosyna noch ein zweites Mal vor einem anderen Mönch ihren Willen zum Ablegen des weltlichen Lebens bekräftigen. Explizit wird dabei noch einmal auf die Notwendigkeit der Aufgabe des weltlichen Hab und Guts verwiesen. Die wiederholte Formulierung des Wunsches nach dem Klosterleben wird durch die Beteuerung der jungen Frau ergänzt, sich dem Rat des Mönches zu unterwerfen: Reiner vater, ich wil dir / in alle mines herzen gir / volgen, und dime rate (V. 28241–28243). Auch hierin entspricht die Handlung den Klosterregeln,
414 Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige Text der Regel lat.-dt. Übers. u. erkl. von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln, S. 270 f.
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denn auch sie verlangen von neuen Ordensangehörigen, dass sie sich den älteren Mitgliedern unterwerfen und dies unter Umständen durch einen Kniefall bestätigen. Für Euphrosyna ist es nun möglich, auch die äußeren Zeichen des Ordnungswechsels zu verlangen: Sie bittet den Mönch, ihr das Haar zu schneiden (V. 28246). Er tut das und segent ir einen roc an (V. 28253), womit auch die Einkleidung und damit der endgültige Übertritt vollzogen ist. Dass der Mönch ihr das neue Gewand ‚ansegnet‘, lässt sich als eine weitere Unterstreichung des symbolischen Charakters dieses Vorganges verstehen. Der Text nimmt so vorweg, was erst zu einem späteren Zeitpunkt tatsächlich geschieht, nämlich den Eintritt Euphrosynas ins Kloster. Ihm geht jedoch ein letzter Schritt, nämlich die Verkleidung (und eine solche ist es zunächst noch) als Mann, voraus. Während der Verwandlung wird die weibliche Identität Euphrosynas immer wieder betont. So verlangt sie einen Haarschnitt nach der gewilten vrouwen siten (V. 28247) und der Mönch, von dem sie das Gewand erhalten hat, bittet Christus, für seine brut (V. 28263) zu sorgen. Als Frau bleibt sie jedoch der weltlichen Ordnung und damit der Verfügungsgewalt ihres Vaters unterworfen. Das wird in dem Umstand deutlich, dass Euphrosyna zwar die Möglichkeit bedenkt, in ein Frauenkloster einzutreten, diese jedoch wieder verwirft, weil sie annimmt, dass ihr Vater sie dort finden und mit Gewalt zurückbringen würde. Dabei verweist sie ausdrücklich auf die der weltlichen Ordnung nach bestehende Rechtsbeziehung zwischen Vater und Bräutigam: Wan er mit eiden sich verbant / dem brutgoume dort vur mich (V. 28316 f.). So entschließt sie sich, als Mönch zu leben und sich auf diese Weise zu verbergen. Der Übertritt, der bereits symbolisch vollzogen ist, muss nun unter den speziellen Bedingungen konkret realisiert werden. Zu diesem Zweck legt Euphrosyna ein Gewand an, das sie als jungen und reichen Adligen ausweist: Ir cleider die sie antruc, Machten sie dem wol gelich, Als ez ein jungelinc vil rich Zu der werlde were, Tuwer unde mere, Unde joch gar ein hoveman, Dem was sie wol glich getan. (V. 28358–28364)
Nachdem Euphrosyna dem weltlichen Besitz bereits entsagt und ein geistliches Gewand erhalten hat, hat ihre weltliche Kleidung den Charakter einer Maskerade. Diese öffnet Euphrosyna jedoch das Tor zum Kloster, denn der Abt nimmt den vermeintlichen Adligen, der zudem sein Geld dem Kloster geben will, freundlich auf. Mit der Aufnahme ins Kloster und der Annahme des neuen Namens ‚Smaragdus‘ hat sich Euphrosyna zunächst der weltlichen Ordnung entzogen.
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Das Problem des Begehrens, dessen sich Euphrosyna durch den Übertritt ins Kloster erfolgreich entledigt zu haben glaubt, ist mit ihrer Mönchwerdung jedoch nicht vollständig aufgehoben. Vielmehr ergeben sich in der neuen Gemeinschaft dieselben Probleme wie in der alten: Smaragdus ist zu schön, um nicht die Blicke der Umgebung auf sich zu ziehen: Die bruder murmulten darum Daz in alzu swere Die schone persone were. Dem abt virkarten sie Daz er in hete enfangen ie Unde daz sine lustic anblic So manigen solde sin ein stric. (V. 28488–28494)
Statt nun durch die Vermännlichung dem männlichen Begehren entzogen zu sein, wiederholt sich das vorher im heterosozialen Umfeld Geschehene im homosozialen Zusammenhang des Klosters: Immer so die bruder ensamt Solden uben das Gotes amt, Als ir gewonheit da was, So ergert Sathanas Vil manigen an Smaragdum. (V. 28483–28487)
Diese Darstellung lässt zwei Lesarten zu. Die Weiblichkeit der Figur kann als eine Lizenz verstanden werden, um das Begehren von Mönchen untereinander zu thematisieren.415 Bis zu diesem Punkt wurde im ‚Väterbuch‘ zwar das gesamte Repertoire möglichen Fehlverhaltens dargestellt, das (historisch sicher gelegentlich vorhandene) Begehren der Brüder untereinander hat der Text jedoch nicht berührt. In der ‚Euphrosynalegende‘, in welcher der begehrte Jüngling ‚in Wirklichkeit‘ eine Frau ist, eröffnet sich die Möglichkeit, diesen Komplex zu verhandeln. So naheliegend diese Interpretation der begehrenden Mitbrüder aus moderner Perspektive auch sein mag, ist doch auch eine stärker auf die symbolische Dimension der Legende bezogene Lesart denkbar: Das Fortdauern des Begehrens
415 So auch Frantzen, Allen J.: When Women Aren’t Enough. In: Speculum 68 (1993), S. 445– 471; hier S. 466.
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problems könnte auf die Unabgeschlossenheit416 der Transformation Euphrosynas deuten.417 Mit dem Eintritt in das Kloster ist die Verwandlung nicht endgültig vollzogen. Erst jetzt beginnt mit dem asketischen Leben der wirklich entscheidende Prozess, der bis zum Ende des Lebens andauert. Die Begehrensproblematik im Kloster würde dann auf die Überlagerung zweier Prinzipien verweisen: Der Übertritt ins Kloster ist ein radikaler Identitätswandel und zugleich der Beginn einer lebenslangen Arbeit an sich selbst. Der Abt des Klosters weist Smaragdus an, sich in seine Zelle zurückzuziehen, um dort zu beten und zu fasten. Smaragdus entspricht dieser Anweisung gerne: Der Abt hete im gar nach wunsches gift / gegeben da der cellen stift (V. 28537 f.). Erst durch den Rückzug wird es möglich, dass sich der junge Mönch zu den höchsten Höhen der Tugend aufschwingt und das Lob seiner Mitbrüder erringt. Dabei betont der Text in besonderer Weise Smaragdus’ Redegewandtheit. Noch einmal erweist sich hier der Wechsel von einer Ordnung in die andere als Befreiung Euphrosynas von den äußeren Zwängen, die ihr das Sprechen vor ihrer Verwandlung unmöglich gemacht hatten. Gleichzeitig bewirkt die Askese auch die endgültige Aufhebung des Begehrensproblems, indem Fasten und Schlafentzug den einst schönen Körper verwandeln und entsexualisieren. Als ihr um den Verlust der Tochter trauernder Vater vom Abt gesandt den Mönch Smaragdus aufsucht, erkennt er sie nicht: Entverwet was ir gelwez har, Die vaste hete si virstalt, Ir herte leben manicvalt Hete si gemachet hager. Sie was durre unde mager, Und wan sie selden vollen slief, Do stunde ir die ougen tief. Ir roten wangen waren bleich,
416 Scheil, Andrew P.: Somatic Ambiguity and Masculine Desire in the Old English Life of Eu phrosyne. In: Exemplaria 11 (1999), S. 345–361; hier S. 352 f. führt im Rekurs auf Laqueur den Zorn der Mönche auf die Ambivalenz des Körpers Euphrosinas zurück, dessen Liminalität darin zum Ausdruck komme, dass er zugleich weiblich und männlich sei und damit auf die Unfestigkeit des männlichen Körpers verweise: „The alternative masculinities insinuated by Smaragdus threaten the very fabric of the homosocial community.“ 417 Eine dritte Möglichkeit schlägt Anson (1974), S. 17 mit einer auf imitatio Christi zielenden Deutung als Sündenbocklogik vor: „When her [Euphrosynas; J. T.] femininity tempts the flock of exiled souls and they demand her expulsion from the convent as a devil, Euphrosyne for a moment becomes the incarnation oft he most hidden desires and guilt of her community. And when she undergoes her confinement with positive joy, there is at least the suggestion that she has staken upon herself the sins of the brothers.“
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Alle ir kraft was worden weich, Die si zur werlde solde haben. Ir gehugede in Gote was begraben, Werltlicher vreude was si vrie. (V. 28894–28905)
Die Merkmale der Schönheit und Weiblichkeit (blondes Haar, schöner Körper, leuchtende Augen, rote Wangen) sind durch die Askese verschwunden. Stattdessen trägt Euphrosyna die Spuren ihrer Hinwendung zu Gott auf dem Körper, durch die sie für ihren Vater unerkennbar wird. Zwar ist sie von der Trauer des Vaters berührt, diese Rührung beruht aber nicht mehr auf der eigenen familiären Bindung, sondern auf ihrem mitedoln (V. 29065), ihrer Anteilnahme an der Trauer des Vaters. Sie verspricht Pafuncius, dass er seine Tochter eines Tages wiedersehen wird, und tröstet ihn damit in seiner Klage. Eine Besonderheit der ‚Euphrosynalegende‘ ist, dass sie zwischen zwei verschiedenen Perspektiven wechselt, nämlich derjenigen Euphrosynas und der ihres Vaters Pafuncius. Damit erzählt der Text nicht nur von einer Figur, sondern auch von dem Verhältnis zweier Figuren zueinander. Diese Konstellation wird besonders dann interessant, wenn Vater und Tochter im Kloster aufeinandertreffen, ohne dass Pafuncius Euphrosyna erkennt. In dem langen Dialog zwischen Pafuncius und Smaragdus entstehen durch die Unerkennbarkeit Euphrosynas ungewöhnliche Fügungen. So berichtet Smaragdus seinem Gegenüber, er habe für dessen Tochter (also sich selbst) gebetet, daz si Got liez erschinen / in sinem aller liebesten lobe (V. 29044 f.). Der davon getröstete Pafuncius geht im Anschluss daran zum Abt des Klosters und sagt: Mir ist nu mine burde So ringe in disen stunden Als ob ich hete vunden Mine tohter, die ich han verlorn. (V. 29076–29079)
Was, wie die Rezipienten wissen, tatsächlich der Fall ist. Die familiäre Bindung wird so nicht aufgehoben, sondern, „[sie] ist Affektkern der dargestellten Welt und zugleich Sinnkern einer sozialen Ordnung, die das Heil und seine Übertragung grundsätzlich an den Modus personaler Bindung knüpft“418, wofür die doppeldeutigen Aussagen als Marker gelten können. Die Tochter ist zum Seelsorger und Pater ihres Vaters geworden und vermag in dieser Eigenschaft dessen
418 Kiening (2005), S. 35.
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Schmerz um den vermeintlichen Verlust der Tochter zu lindern. An die Stelle des Vaters ist für Smaragdus der Abt getreten. Die Trauer des Vaters erneuert sich jedoch, als Smaragdus sich ihm als Euphrosyna offenbart: Unde du salt niht leides me Umbe dine tohter haben als e: Ich bin ez, die arme tohter din, Unde du bist der vater min. […] Danke dem guten Gote Und wis gehorsam sime gebote, Wan er hat dine gebet virnummen: Ich bin an dine gesihte nu kumen, Des du vil lange hast gegert! (V. 29223–29237)
Unmittelbar darauf stirbt sie. Pafuncius beginnt, nachdem er sich von einer kurzfristigen Ohnmacht erholt hat, laut zu klagen und zu fragen, warum sich Smaragdus ihm nicht früher zu erkennen gegeben hat. Die Antwort liegt in den differierenden Gemeinschaftslogiken, die hier wirken. Während Pafunciusʼ Haltung weiter vom Vater-Tochter-Verhältnis bestimmt ist, hat Euphrosyna dieses Verhältnis in eine neue Logik transformiert. Die Offenbarung kurz vor dem Tod legt nicht ihre ‚wahre‘ Identität offen, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie von Euphrosyna zu Smaragdus geworden ist. Also den Prozess der ‚Entgeschlechtlichung‘ und Askese, der zugleich ein Prozess der Heiligung war. Der Text macht dies deutlich, indem der Anblick der Toten als ubergroze[s] wunder (V. 29262) bezeichnet wird, und für die Mönche des Klosters ist das Gotteswirken, das zu der Verwandlung geführt hat, eindeutig. Während die Mönche ein Lob anstimmen, ist jedoch nicht nur Pafuncius betrübt, sondern auch der hinzukommende Abt beginnt zu weinen, als er die Tote sieht. Hier treten die unterschiedlichen Gemeinschaftskonzepte hervor: Die Klage des Pafuncius gilt seiner leiblichen Tochter. Der Abt beklagt das Mitglied seiner Gemeinschaft und die Heilige, deren geistlicher Vater er war. Entsprechend wendet er seine Klage auch auf das Kloster und Euphrosynas Heiligkeit. Dabei ist bemerkenswert, dass der Abt wie der leibliche Vater eine Brautschaft Euphrosynas thematisiert, die jedoch auf Christus gerichtet ist: Eufrosina, Gotes brut, dich hat gemehelt Jesus Crist! Der heiligen tohter du nun bist Unde ir ewic gesellin! Nu soltu vur die bruder din, Die du hie hast gelazen, biten, Daz wir mit menlichen siten
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Den sich erstriten, unde daz wir Noch in die vreude kumen zu dir, Da wir mit aller heiligen schar An lobe nehmen Gotes war. (V. 29318–29328)
Der Abt greift zwar wieder auf den weiblichen Namen zurück, behandelt dabei Euphrosyna aber weiterhin wie den Mönch Smaragdus, der seinem Kloster angehörte. In den hier gebrauchten Begriffen tritt zudem die Bedeutung von Familie und Gemeinschaft bei der Konstruktion von Heiligkeit deutlich hervor. Der Abt spricht über Euphrosyna als Heilige und verwendet Begriffe des Familiären: Gottesbraut, Tochter der Heiligen, Brüder. Zudem wird deutlich, dass Euphrosyna für die Mönche Heiligkeit verfügbar macht. Durch die Nähe zu ihr können alle Mitglieder des Konvents Teil der Gemeinschaft der Himmlischen werden. Das Geschlecht spielt dabei keinerlei Rolle mehr, denn Euphrosyna soll als Teil der Gemeinschaft für ihre Brüder bei Gott bitten. Schließlich, und damit ist die Familie endgültig in den geistlichen Zusammenhang transformiert, entschließt sich auch Pafuncius, als Mönch in das Kloster und so in denselben Gemeinschaftszusammenhang einzutreten wie seine Tochter. Er wird damit vom Vater zum Bruder der Tochter, die bereits zuvor sein geistlicher Vater war. Damit sind die weltlichen Bindungen zugunsten der geistlichen Gemeinschaft aufgegeben, in der nun alle – Euphrosyna, Pafuncius, die Mönche – vereinigt sind. Euphrosynas Handeln erscheint im ‚Väterbuch‘ als eine gelungene Identitätstransformation, die zugleich ein Prozess der Heiligung ist. Die Zeugung Euphrosynas ist bereits mit dem monastischen Zusammenhang verbunden, ihre christliche Erziehung bildet das Fundament ihrer Weltentsagung, die Trauer des Vaters dokumentiert die hohe Valenz der sozialen Bindung, welche durch den Rückzug ins Kloster nicht vollständig aufgehoben wird. Schließlich wird die Gemeinschaft von Vater und Tochter unter umgekehrten Vorzeichen restituiert. Die Legenden von Pelagia und Margareta weisen ähnliche Motive wie die ‚Euphrosynalegende‘ auf. Die Protagonistinnen ziehen sich als männliche Asketen zurück und ihre ursprüngliche Identität wird erst am Ende des Lebens aufgedeckt. Die ‚Pelagialegende‘ erzählt von der ungetauften Schauspielerin und Prostituierten Pelagia, die von einem Bischof namens Nonnus bekehrt wird. Sie verteilt daraufhin ihren Besitz und verlässt die Stadt. Unerkannt lässt sie sich in Palästina als Eremit mit dem Namen Pelagius nieder und belehrt aus ihrer vermauerten Zelle heraus gläubige Pilger. Erst bei der Totenwaschung kommt das Geschlecht des Eremiten ans Licht und er wird daraufhin für seine besonderen asketischen Leistungen sehr verehrt.
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Inhaltlich näher an der ‚Euphrosynalegende‘ liegt die ‚Margaretalegende‘. Wie Euphrosyna entzieht sich Margareta einer von ihrem Vater vereinbarten Heirat und tritt als Mönch in ein Kloster ein. Dort wird Margareta, die sich nun ebenfalls ‚Pelagius‘ nennt, bezichtigt, eine Nonne geschwängert zu haben. Sie deckt die Unmöglichkeit dieses Vorwurfs jedoch nicht auf, sondern lässt sich als Buße in einer Zelle einmauern, in der sie schließlich auch verstirbt. Aus einem Brief, den sie hinterlassen hat, erfahren ihre Mitbrüder von ihrer Lebensgeschichte. Gegenüber der ‚Euphrosynalegende‘ tritt in den Legenden von Pelagia und Margareta die Buße als neuer Aspekt hinzu. Dabei erscheint es als markanter Unterschied, dass Pelagia ihre tatsächlichen Sünden büßt, während Margareta eine vermeintliche Schuld auf sich nimmt. Während Euphrosyna sich durch gleichmäßige Güte auszeichnet, wird in der ‚Pelagialegende‘ durch den Aspekt der Buße eine Aufstiegslogik erkennbar: Ein ander luder, ein bilde Wirfet er [Gott; J. T.] uns in der maze Uf siner tugende straze, Dar an wir merken suln wie er Manigen grozen sunder Uz der tufe hat gezogen Und mit genaden sine gepflogen, Da mit er quam zu himele, Bewart vor allem schimele, Der in muge besweren. (V. 29420–29429)
Der Text zeichnet den Weg seiner Figur aus der Tiefe der Sünde in das Himmelreich nach. Anders als im Fall der immer schon ausgezeichneten Euphrosyna besteht dabei eine unmittelbare Anschlussmöglichkeit für die Rezipienten. Zu trost uns sunderen (V. 29430) beginnt der Erzähler die Geschichte und stellt damit Pelagia als Leitfigur vor: Wie sie sollen alle Menschen sich ihrer Sünden bewusst werden und dafür Buße tun. Der kurze Epilog der Legende fügt einen weiteren Aspekt hinzu: Daz sul wir lazen bliben An mannen, unde an wiben Unser urteil, untz daz wir besehen Wem Got des siges wolle jehen. (V. 30583–30586)
Die ‚Pelagialegende‘ verweist also nicht nur auf die Barmherzigkeit Gottes. Zugleich problematisiert sie die Urteile von Menschen übereinander, denen sie das letztgültige göttliche Urteil am Ende der Zeit gegenüberstellt, und sie schließt
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damit an den bereits mehrfach thematisierten eschatologischen Diskurs im ‚Väterbuch‘ an. Das Motiv der bußbereiten Sünderin hat mit Maria Magdalena eine dominante Vorlage in der christlichen Kultur: Sie [Pelagia, J. T.] lac vor im [Nonnus] also nider Als wir geschriben lesen da Daz Maria Magdalena Vur Jhesu Cristo lege, Wie sie daselbest pflege Mit ires herzen ruwe Begern der Gotes truwe. (V. 29892–29898)
Die ‚Pelagialegende‘ folgt in diesem Abschnitt also einer anderen Logik als die ‚Euphrosynalegende‘. Durch den Zustand der Sündhaftigkeit wird Pelagia mit dem Erzähler und den Rezipienten verbunden und zugleich mit Maria Magdalena parallelisiert, die büßend vor Christi Füßen liegt. Insofern weist diese Legende gemeinschaftsstiftendes Potential über die Möglichkeit zur Identifikation mit der Protagonistin auf. Zugleich stellt der Text Reue und Buße als öffentliche und gemeinschaftsbezogene Handlungen dar. So sind es die Tränen der zu Füßen des Bischofs liegenden Pelagia, in denen die Umstehenden ihren Wandel erkennen: Sie sahen iren ernest wol, Wan ir die ougen stete vol Waren von des herzen bach, Die mit ruwe aus ir brach. Des sie sich vor in allen vleiz. (V. 29977–29981)
Pelagia beichtet anschließend öffentlich, wobei nicht etwa ihre Sünden aufgezählt werden, sondern sie gesteht ein, dass ihr gesamtes vorheriges Leben ausschließlich sündhaft gewesen sei. Das individuelle Sündenregister schlägt in universelle Bußbereitschaft um. An dieser Stelle wird die auf asketische Heiligkeit hin gerichtete Anlage der Erzählung erkennbar. Die conversio Pelagias erscheint als Übergang vom vollkommen Schlechten zur vollkommenen Reinheit.419 Damit handelt es sich um einen identitären Wandel mit maximaler Amplitude.
419 Vgl. zum Begriff und Konzept der Konversion Weitbrecht, Julia: Die Performanz von Welt leben und Konversion. Maria Magdalena im geistlichen Spiel. In: Zeitsprünge 15 (2011), S. 484– 501; hier S. 486 f.
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Die Überführung zur universellen und nicht an konkrete Sünden gebundenen Bußbereitschaft in der ‚Pelagialegende‘ wird in der ‚Margaretalegende‘ radikalisiert. Sie entkoppelt Sünde und Buße vollständig, indem sie ihre Figur für eine Tat büßen lässt, die sie nicht begangen hat. Margareta wird zunächst von Anfang an als göttlich inspirierte heilige Jungfrau eingeführt: Die suze Gotes lere Mit richeme himels touwe Begoz die juncvrouwe, Daz si durste nach Gote. […] Ir reinliche kuscheit Dachte si behalden Gote und dar an alden, Daz si des blibe sunder schame. (V. 35796–35807)
Die Ausgangslage gleicht auch im Folgenden der ‚Euphrosynalegende‘: Margareta tritt als Pelagius in ein Mönchkloster ein. Dabei betont der Text, dass sie diesen Schritt nicht aus Gründen der Buße tut. Im Gegenteil freut sich Margareta, dem Weltlichen ohne Schaden entkommen zu sein: Sie gienc sunder allez schamen Mit grozen vreuden, als der tut Die alle sine ere hat behut Mit Gote, der des helfen kan. (V. 35900–35903)
Die nun folgende Anschuldigung, der Mönch Pelagius habe eine Nonne geschwängert, während er deren Seelsorger war, ist nur eine der Sünden, die Margareta nicht begangen hat; sie ist auch abgesehen davon vollkommen schuldlos. Wenn sie dennoch die durch die Gemeinschaft der Mönche verhängte Strafe als Buße annimmt, so ist diese explizit nicht auf ihre konkreten Sünden zurückzuführen. Weder hat Pelagius wie Pelagia konkrete Sünden zu büßen noch muss er wie Euphrosyna die Gemeinschaft vor ihrer Sünde durch den Rückzug schützen. Dennoch zieht er sich als ‚Inkluse‘ in eine kleine Zelle innerhalb des Klosters zurück. Seine Buße gewinnt damit den Charakter einer religiösen Praxis und einer Form der Askese. In diesem Zustand selbstgewählter Aussetzung begreift sich Pelagius als Nachfolger der Wüstenväter:
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Er dachte an der altvetere leben, Wie sie sich ie die lenge Hielten in grozer strenge Und doch mit guten vugen Den sig zu hove trugen. (V. 36104–36108)
Die Härte der Wüste ist zur Härte der Zelle geworden, die sowohl physisch als auch sozial wirksam ist. Nicht nur ist Pelagius’ hol steinern und eng, die Mönche wählen auch einen herten man (V. 36075) aus, der sich um den Eingeschlossenen mit Strenge kümmern soll. Wie die Wüste erscheint die Zelle als ein Ort größter physischer und sozialer Reduktion, dem sich die Asketen und Asketinnen schuldlos und dennoch büßend aussetzen. Wie bereits in der ‚Euphrosynalegende‘ spielt auch für Pelagia und Margareta das Verhältnis von innen und außen eine zentrale Rolle, allerdings in je spezifischen Konfigurationen. Die Figur der Pelagia wird in hohem Maße durch den Blick des Bischofs Nonnus bestimmt. Er sieht die äußerlich geschmückte und reich ausgestattete Frau und erkennt darin ein Bild für die geschmückte Seele. Während seine Begleiter den Blick senken, betrachtet Nonnus die vorübergehende Pelagia.420 Dann senkt er weinend den Blick und fragt: Hat ir mit lust iht war genumen Des wibes die hie vor ist kumen, Von ir zierheit, der sie pflit? (V. 29537–29539)
Nonnusʼ Begleiter schweigen betreten in Anbetracht der Tatsache, dass der Bischof hier scheinbar seinen begehrenden Blick auf die Frau offen zugibt und sogar verwundert fragt, ob nicht alle sie ebenso angesehen hätten. Er treibt dieses Spiel im Folgenden noch weiter: Do sprach er zu in: ‚werlich, An irre schonde so han ich Enphangen hohe wollust.‘ (V. 29553–29555)
420 Wie immer bei weiblichen Büßerinnen ist die Sünde der Pelagia natürlich die der Wollust (luxuria). Zu den verschiedenen Formen der Sünde bei büßenden Heiligen vgl. Dorn (1967), S. 52.
Heiligkeit und Vermännlichung
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Doch Nonnus bezieht das Vergnügen beim Anblick Pelagias nicht aus körperlichem Begehren, sondern erkennt in ihr ein Exempel, das er seinen Begleitern vorlegt: So wie die Frau sich selbst gewaschen und geschmückt habe, so hätte jeder von ihnen seine Seele immer wieder betrachten und auf seine innere Reinheit ebenso viel Mühe verwenden sollen wie Pelagia auf ihre äußere. Die Figur des Nonnus düpiert mit dieser rhetorischen Volte nicht nur seine Begleiter, sondern stellt zugleich aus, dass die Bedeutung des Äußerlichen von der Perspektive des Wahrnehmenden abhängt. Was für seine Begleiter Zeichen des sündigen Lebens ist, stellt für Nonnus ein Bild für einen inneren Vorgang und einen typologischen Anknüpfungspunkt dar, denn nicht zuletzt verweist der Diskurs über die geschmückte Seele auch auf das Hohelied.421 Trotz der Auslegung des Nonnus ist die weibliche Schönheit in der ,Pelagialegende‘ ganz anders codiert als in der ‚Euphrosynalegende‘. Verwies sie dort auf die von Anfang an vorhandene Güte der Protagonistin, steht sie hier im Bezug zum weltlichen Leben der Hauptfigur. Die Legenden gleichen sich allerdings darin, dass beide der Entscheidung zum monastischen Leben einen äußeren Wandel folgen lassen, der die Frauen unerkennbar macht. Bei Euphrosyna manifestiert sich diese Unerkennbarkeit besonders an der männlichen Bezugsfigur, ihrem Vater. Bei Pelagia ist die männliche Bezugsfigur, der Bischof Nonnus, davon ausgenommen. Nachdem Pelagia geflohen ist und sich als Einsiedler niedergelassen hat, gibt Nonnus seinem Kaplan Jakob folgenden Auftrag: Swanne du kumst da hin Und dine vart volleistes Mit helfe des heilegen geistes, So nim war, wie dir werde erkant Ein munich, Pelagius genant, Der hat vil lange heimoͤ te Gehabet in der einoͤ te. (V. 30340–30346)
Durch Nonnus’ Hinweis wird Pelagius zwar gefunden, doch vermag Jakob es nicht, ihn als Pelagia zu erkennen. Die Askese hat ihren Körper so verändert, dass sie für Jakob und für die Eremiten in den umliegenden Zellen nicht Pelagia und auch keine Frau, sondern ohne Zweifel Gotes munich unwandelbere, / gezieret mit allen tugenden wol (V. 30424 f.) ist. Jakob kehrt wenig später noch einmal zu
421 Im Motiv der geschmückten Frau, die als Bild der um Christus werbenden Seele verwendet wird, spiegelt sich auch die Hoheliedexegese der Spätantike (besonders des Origenes). Vgl. dazu Baus (1973), S. 338.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
Pelagias Zelle zurück und entdeckt, dass sie inzwischen verstorben ist. Im Zuge der Vorbereitung für die Bestattung wird das wahre Geschlecht der Büßerin aufgedeckt, was deren Leben in der Zelle für die Menschen retrospektiv als Wundergeschehen erscheinen lässt: Mit stimme harte vrien Begonden si alle schrien: ‚Genade, lob, unde ere Si dir immer mere, Du vil getruwer Jhesu Crist, Daz du so rehte gůt bist Unde hie in ertriche So rehte heimliche Vil heilegen hast behalden An jungen, unde an alden, An mannes namen niht eine, Sunder auch an wiben reine, Unde wan ein suͤ lch wunder Got niht will drucken under. Er wil joch daz man ez erhebe Unde siner genaden dar an entsebe!‘ (V. 30477–30492)
Der Text betont zwar, dass die göttliche Gnade sich auch an Frauen manifestieren kann. Zugleich wird die Geschlechterdifferenz nivelliert, denn in der Heiligkeit und der göttlichen Begnadung ähneln sich alle Einsiedlerinnen und Einsiedler so sehr, dass ihr Geschlecht unerkennbar wird. Der Diskurs über das Verhältnis von Identität, Geschlecht und Askese wird in der ‚Margaretalegende‘ explizit weitergeführt. In dem von ihr hinterlassenen Brief rechtfertigt sich Margareta für die Annahme einer männlichen Identität. Sie deckt dazu zunächst ihre Herkunft auf: Ich bin ein juncvrowe, Ein wibesnam vil reine, Bewart vor allem meine, Von richen vrunden geborn. Mir was zur werlde ein name erkorn: Do man mich Cristo toufen liez, Margareta man mich hiez, Den hette ich so lange Untz mich an ir getwange Die werlt zu sunden wolde zien. Do began ich ir entvlien. (V. 36150–36160)
Heiligkeit und Vermännlichung
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Sie sei, das betont Margareta, eine Frau und nur durch die drohende Sünde dazu getrieben worden, sich zu entziehen, und nur deshalb zum Mann geworden. Doch bleibt die Argumentation bei dieser apologetischen Haltung nicht stehen. Gleich im Anschluss betont die Schreiberin mit Bezug auf ihre männliche Identität, sie habe erstriten wol den namen (V. 36167) und wolle ihn auch nicht aufgeben: Den will ich halden sunder schamen, Want ich in mannes kunheit Ie uf untugende streit; Des han ich dar an nicht gelogen Ob ich mir han uf gezogen Min name were eins mannes name. (V. 36168–36173)
Das Geschlecht wird an die Tugenden gebunden und diese sind für Männer und Frauen auf gleiche Weise erreichbar. Damit wird die Determination von Identität durch Geschlecht tendenziell zurückgenommen. Zugleich fallen besonders die Begriffe kunheit und streit auf, die nicht etwa an monastische, sondern an ritterlich-kriegerische Zusammenhänge anschließen, womit auch eine Parallele zu einem Adressatenkreis innerhalb von Ritterorden hergestellt wird. Was in den anderen Crossdressinglegenden bereits anklingt, wird im Brief der Margareta konkretisiert: Hier geht es nicht um „die Konstruktion des heiligen männlichen Körpers als Destruktion des reproduktiven weiblichen Körpers“422. Margareta besteht auf ihrer Weiblichkeit und ihrer Männlichkeit zugleich und so scheint sich bereits in der ‚Margaretalegende‘ etwas zu realisieren, was Ingrid Kasten nur für die Legende von der Antiochenischen Jungfrau annehmen wollte: „Jungfrau und Ritter sind gleichermaßen desexualisiert, Weiblichkeit und Männlichkeit erweisen sich auf dem Weg zur Heiligung als komplementäre, arbiträre Zeichen.“423 Auch das Heil- und Heiligsein der Margareta kommt darin zum Ausdruck, dass sie auch Pelagius, dass sie zugleich Jungfrau und Eremit ist. Die ‚Legende von der Antiochenischen Jungfrau‘, die letzte Jungfrauenlegende im ‚Väterbuch‘, fällt aus dem Rahmen. Sie nimmt schon deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie nicht aus den ‚Vitaspatrum‘ stammt und ihre Hauptfigur zudem als Märtyrerin und nicht als Bekennerin gilt. Es stellt sich also die Frage, welche Funktion diese Legende im Zusammenhang des gesamten ‚Legendenteils‘ hat. Dem dominanten Schema der Martyriumserzählungen entsprechend setzt
422 Kasten (2002), S. 211. 423 Kasten (2002), S. 218 f.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
die Erzählung mit der Einführung der christlichen Jungfrau und deren Gefangennahme ein. Mit ihrem christlichen Glauben steht die Jungfrau im Gegensatz zur ‚heidnischen‘ Majorität der Stadt. Da sie nicht bereit ist, von ihrem Glauben zu lassen und den ‚heidnischen‘ Göttern zu opfern, wird sie zur Arbeit in einem Bordell verurteilt. Zwangsprostitution ist kein ungewöhnliches Motiv in Geschichten von Märtyrerinnen. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Antiochenische Jungfrau die Möglichkeiten des ‚heidnischen‘ Opfers und des Verlust der Keuschheit gegeneinander abwägt und in eine Logik von innen und außen überführt. Aus ihrer Sicht bleibt bezzer des herzen kuscheit [bewahrt, J. T.] / danne kusche[r] leib, den maniger treit / mit des herzen unvlat (V. 36347–36349). Wie in den anderen Jungfrauenlegenden wird hier die Dissoziation von innen und außen thematisiert. Dabei wird des herzen kuschheit, der inneren Haltung, der Vorrang vor einem vermeintlich tugendhaften Lebenswandel gegeben. Indem aber die innere Reinheit um den Preis äußerer Versehrung in Kauf genommen wird, erscheint das Leben im Bordell auch als eine Form selbstgewählter Askese. In diesem Zustand der Aussetzung kommt es nun zum Identitätswandel, der sich in diesem Fall als ein Tausch zwischen zwei Figuren vollzieht. Durch ein göttliches Wunder wird ein Ritter, der sich gegen alle anderen Freier im Streit um die Jungfrau durchgesetzt hat, zu ihren Gunsten verwandelt: Vil zuchteclich er zu ir sprach (Daz Got wol an im wrochte): ‚La bliben alle vrochte, Liebe juncvrowe reine, Tu hin, nicht me en weine! […] Mine cleidere zie ich abe, Die zuch an dich, so wil ich Dine cleidere zien an mich! Ez muz mir doch gen an die hut. Ey, getruwe Gotes brut, Nu gunne mir der swere Daz ich ein merterere In dinen cleideren muze wesen! So ist nutze din genesen. Wes ein ritter du vor mich Und la sterben mich vor dich!‘ (V. 36476–36498)
Die Jungfrauenlegenden ähneln sich im gemeinsamen Motiv des Crossdressings und der jeweils selbst gewählten Askese. In der ‚Legende von der Antiochenischen Jungfrau‘ sind jedoch die einzelnen Motive ganz anders verbunden und semantisiert. An die Stelle der Selbstaussetzung um der Keuschheit willen tritt
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mit dem Auftauchen des Ritters der drohende Tod. Die Vermännlichung soll gerade der Rettung der Jungfrau dienen. Nachdem sie eingekleidet ist, empfiehlt ihr der Ritter noch, menlich an mannes siten (V. 36514) zu gehen, dann werde sie nicht entdeckt werden. So geschieht es auch und der Ritter kann in die Rolle der Jungfrau und sie in die seine eintreten. Nachdem die Jungfrau den Ritter zurückgelassen hat und dieser entdeckt wird, ist die Verwandlung für die Hereinkommenden so frappierend, dass sie an ein Wunder glauben: Sie sprachen: ‚so daz jener Crist Uz wazzere machte guten win: Sus mac ez hie geschehen sin. Ob man im des gelouben sol, So mac er ouch die lute wol Vorwandelen, als hie ist geschen.‘ (V. 36538–35643)
Die Aussage ist doppelt ironisch. Zum einen analogisiert sie fälschlicherweise die Vorgänge im Bordell mit den Ereignissen der Hochzeit zu Kana. Zum anderen ist der Ritter natürlich durch das Wirken Christi verwandelt worden, aber nicht im leiblichen Sinne, wie es hier angedeutet wird, sondern im geistlichen. Allerdings hält diz wunderliche wunder (V. 36558) nicht lange an, und der entdeckte Ritter soll enthauptet werden. Die Jungfrau kehrt daraufhin jedoch zurück und fordert für sich selbst das Recht auf das Martyrium ein: Spare dinen tot und la mirn! Du bist ein man, ich bin ein dirn. Daz sie dich anders toten Und mit schimpfe noten, Daz vuget dir baz dan mir Und wirt din lon gemeret dir. (V. 36635–36640)
Die Austauschbarkeit von Ritter und Jungfrau steht infrage. Wem gebührt das Martyrium? Wem das Leben unter demütigenden Umständen? Wer darf das größere Opfer bringen? Die Fragen werden damit beantwortet, dass beiden Figuren dasselbe geschieht: Sie werden zusammen geköpft und gewinnen gemeinsam die Märtyrerkrone. Am Ende der Legende existiert kein Unterschied mehr zwischen Jungfrau und Ritter. Die ‚Legende von der Antiochenischen Jungfrau‘ wurde zwar nicht für das ‚Väterbuch‘ verfasst, jedoch gewinnt sie in diesem Zusammenhang eine besondere Funktion. In ihr wird deutlich gemacht, was alle anderen Jungfrauenlegenden nur implizieren: Dass das Geschlecht kein Hinderungsgrund für einen Bezug
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
zwischen weiblichen und männlichen Heiligen ist. Sie können in der Legende füreinander einstehen und erscheinen so als austauschbar. Die Keuschheit der Jungfrau, die Kampfbereitschaft des Ritters und die Leidensbereitschaft des Märtyrers werden miteinander verwoben. Damit wird ein identitäres Modell zur Verfügung gestellt, das für die kämpfenden Mönche der Ritterorden höchst anschlussfähig gewesen sein könnte.
9.2 Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten) Die beiden im Folgenden zu besprechenden Legenden stellen zwar weibliche Figuren in den Mittelpunkt, diese werden aber jeweils von einer männlichen Figur flankiert. Anders als etwa in der ‚Euphrosyna-‘ oder der ‚Pelagialegende‘ handelt es sich dabei nicht um Nebenfiguren, sondern die männlichen Figuren sind ebenfalls heilige Asketen. Die weiblichen und die männlichen Heiligen bilden jeweils ein Eremitenpaar. In der Legende von Abraham von Kiduna sind zudem zwei Legenden zusammengefasst: Abraham von Kiduna ist ein Eremit mit eigener Legendenbildung, der später zusammen mit seiner Nichte Maria der Büßerin in einer Gemeinschaft lebt. In der ‚Maria von Ägypten-Legende‘ treffen sich die Einsiedlerin Maria und der Mönch Zosimas am Jordan. Beider Lebensgeschichte wird erzählt. Mit der Darstellung heiliger Paare schließt der Text nicht zuletzt auch wieder an die Begegnung von Antonius und Paulus und die dort entfaltete Beziehung von Gemeinschaft und Heiligkeit an.424 Auch im Fall der Paarlegenden sind die Konstruktionen von Heiligkeit durch die Beziehungen zwischen den Figuren bestimmt. Dabei erweisen sich beide Legenden als programmatische Entwürfe: In der Legende von Abraham und Maria wird das Verhältnis von Ritterschaft und Askese verhandelt. In der ‚Maria von Ägypten-Legende‘ werden mit den zwei Figuren die einsame Wüstenaskese und das zönobitische Mönchtum in Beziehung gesetzt. Die Legende von Abraham von Kiduna ist die umfangreichste Legende im ‚Väterbuch‘.425 Sie besteht aus drei Teilen, deren letzter von Maria der Büßerin erzählt. Im ersten Teil der Legende wird Abraham zunächst als hervorragender Eremit eingeführt. Er bleibt allerdings nicht verborgen, sondern wird entdeckt und seine fama verbreitet sich schnell: Durch dieselben sache / was von siner hei-
424 Vgl. Abschn. 6.2 dieser Arbeit. 425 Zu den Quellen der Legende vgl. Schmidt, Margot: Orientalischer Einfluss auf die deutsche Literatur. In: Colloquia Germanica 2 (1968), S. 152–187.
Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten)
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likeit / daz mere lanc und breit (V. 30934–30936). Er zieht sich daraufhin in eine schwer zugängliche und vermauerte Zelle zurück. Dort wird er jedoch weiterhin von Freunden und Anhängern aufgesucht. Eine eigenständige Dynamik entfaltet die Legende in ihrem zweiten Teil, der von Abrahams Missionstätigkeit berichtet. Dabei ist nicht das Thema der Mission, das sich zu Beispiel auch in den Berichten von Apollonius426 findet, wohl aber dessen Darstellung neu. Die Gegend, in der Abraham lebt, ist bereits christianisiert, und nur eine kleine Stadt scheint nicht aufzuhören, dem christlichen Eindringling Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die vom örtlichen Bischof dorthin gesandten Missionare: Des landes bischof gab der stat Dicke lerere genuc, Die man verjagete und sluc, Das si nicht lang bey in beliben. (V. 30978–30981)
Der Rat des Bischofs beschließt, Abraham zu den ‚Heiden‘ zu senden. Der ist von dieser Aussicht nicht erfreut, wobei ihn nicht die Gefahr, ebenfalls verprügelt zu werden, zögern lässt. Vielmehr will er sein Einsiedlerleben nicht aufgeben und mit weinenden ougen (V. 31053) verlangt er, dass man ihn in seiner Zelle zufrieden lässt. Der Bischof jedoch, und hier ergibt sich eine neue Wendung, macht eine ‚Seelenrechnung‘ auf: Do sprach der bischof: ‚merke daz Ob Gote tu geliche wole Daz man im tusent selen hole Oder niwan eine! Nu merke waz ich meine! Du wilt dich hie alleinen Clagen und weinen Und dar an brengen hin zu Gote. Alsus machtu der heiden rote Mit Gotes helfe ouch leren Und von den tuvelen keren, Daz si zu dienste werden Gote Nach sines willen gebote. Des sal dir Got ouch lonen Mit einer sunderen cronen.‘ (V. 31090–31104)
426 Vgl. Abschn. 7.3 dieser Arbeit.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
Der Bischof vollzieht hier einen im Zusammenhang der Eremitenerzählungen bemerkenswerten Schritt: Er bewertet den Gewinn durch die Mission gegenüber der Einsiedelei und kommt zu der Überzeugung, dass Letztere das geringere Verdienst verspricht. Auf diese Weise wurde im ‚Väterbuch‘ bislang nicht argumentiert, denn es wird den Einsiedlern, die als Vorgänger der Mönche gelten, der Vorwurf gemacht, nur sich selbst zu dienen. Abraham lässt sich auf den Missionsauftrag ein, wobei sich sein Tun bemerkenswerterweise wenig ändert. Hatte er zuvor noch darum gebeten, in seiner Zelle bleiben zu dürfen, um dort seine Sünden zu beweinen und zu beklagen (V. 31055), so weint und klagt er nun über die Verworfenheit der ,Heiden‘ (V. 31145–31169) und verbindet auf diese Weise seine Askese mit seinem Missionsauftrag. Nachdem Abraham eine Kapelle errichtet hat, zerschlägt er die Götzen, woraufhin die Stadtbewohner in Wut geraten, ihn schwer verprügeln und davonjagen. Abraham kehrt nachts heimlich zurück und am nächsten Tag findet man ihn wieder in der Kapelle mit dem Gebet beschäftigt. Er weint und klagt noch immer, doch nicht über seine Schmerzen, sondern weiterhin über die Verworfenheit der ‚Heiden‘. Als Abraham beginnt, der sich verwundert sammelnden Menge von Christus zu predigen, wird er gefesselt und vor der Stadt gesteinigt, bis man ihn für tot hält. Der Geschundene wird jedoch von Gott geheilt, erneuert seine Bitte an Christus um Unterstützung bei der Mission und kehrt in die Stadt zurück. Immer wieder wird Abraham zusammengeschlagen, doch nie gelingt es den ‚Heiden‘, ihn ins Jenseits zu befördern. Der serialisierte Ablauf von Gewalt, Widerstand des Heiligen und erneuter Herausforderung der ‚heidnischen‘ Macht ist eigentlich für die Märtyrerlegende konstitutiv. Die ‚Abraham von Kiduna-Legende‘ ruft so die Märtyrerlegende als wichtige Form der Konstruktion von Heiligkeit auf und verbindet sie mit der Mission. Gleichzeitig erscheint Abrahams freiwillige Rückkehr an den Ort seiner Qualen durch die jahrelange Wiederholung als asketische Praxis. Diese dient letztlich nicht nur dem Seelenheil des Missionars, sondern überzeugt auch die ‚Heiden‘: Sunder allez zeichen Wolde er [Gott; J. T.] sie erweichen, Uf daz an derselben stift Siner gnaden hohe gift Wunderlichen wurde entsaben. (V. 31405–31409)
Zwar bezeichnet der Text die sich nun einstellende Umkehr der ‚Heiden‘ als Aufgehen des göttlichen samen[s] (V. 31415), doch wird die Bekehrung eher als Erkenntnisprozess denn als Inspiration inszeniert: Die Ältesten der ‚Heiden‘ überlegen, dass Abrahams Duldsamkeit nur damit erklärbar ist, dass es die von
Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten)
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ihm formulierte Verheißung des Himmels und die Drohung der Hölle tatsächlich gibt. Von dieser Erkenntnis geleitet lassen sie sich taufen. Die Legende, die an prominenter Stelle im Zentrum des ‚Legendenteils‘ steht, bindet die Missionstätigkeit fest in den Zusammenhang legendarischen Erzählens und der Darstellung von Heiligkeit ein. Dabei wird, anders als bei Apollonius, die Bekehrung der ‚Heiden‘ nicht durch die von Gott verliehene Macht herbeigeführt. Vielmehr erscheint die Opferbereitschaft des Heiligen als wirksames Moment. Der umfangreiche mittlere Teil der Legende schließt mit einer Schilderung der Unzerstörbarkeit von Abrahams Kleidern und Körper ab. Auch dieses Motiv ist bemerkenswert, denn selbst wenn es bei der Askese nicht um die Zerstörung des Körpers geht, so doch um seine extensive Kasteiung und Reduktion. An der Zerstörung der Kleider und der Abmagerung des Körpers wird die Askese des Einsiedlers üblicherweise sichtbar. Nicht so hier, denn Gott hat für das grob herin cleit (V. 32215), das sich Abraham vor seinem Rückzug in die Einsiedelei angezogen hat, so gesorgt, daz sichz an im verwandelte nie (V. 32226). Gleiches gilt für Abrahams Körper: Starken lib hette er noch. Idoch tet im daz swere joch Nicht minner wirz umme ein har, Daz er truc so manic jar. An sulcher forme hielt er sich An libe, an sele steteclich Als ob er itzu solde gan Vor Got an die gerichte stan. (V. 32237–32244)
Die in Legenden häufige Logik, nach der die Unzerstörbarkeit des heiligen Körpers auf den Auferstehungsleib verweist, wird hier explizit gemacht. Dennoch stellt sich die Frage, worin Abrahams Askese eigentlich besteht. Der Text macht das gleich im Anschluss deutlich: Niemand sieht Abraham jemals lachen. Stattdessen verbringt er seine Zeit mit beständigem Weinen, weil er sich so sehr nach den Freuden des Paradieses sehnt, die ihn nach dem Tod erwarten.427 So vereinigt die ‚Legende von Abraham von Kiduna‘ vielfältige Elemente legendarischen Erzählens. Abraham erscheint als Universalheiliger, der gequält wird und sich selbst kasteit, dabei aber unversehrt bleibt und dennoch stets klagt, weil sein Streben immer auf das Jenseits gerichtet ist. Im letzten Teil der Legende wird Abraham zum Drachenkämpfer und wie es bei Drachenkämpfen üblich ist, geht es um eine Jungfrau. Abraham nimmt,
427 Vgl. zum Weinen als asketische Praxis auch die Ausführungen in Abschn. 8.3 dieser Arbeit.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
nachdem sein Bruder verstorben ist, seine verwaiste Nichte Maria bei sich auf. Er lässt direkt neben seiner eigenen Zelle eine zweite bauen, in der das Mädchen untergebracht wird, und unterweist sie durch ein Fenster im gottesfürchtigen Leben und der heiligen Schrift. Als das Mädchen zwanzig Jahre alt ist, wird sie von einem Mönch, der ebenfalls bei Abraham lebt, verführt. Voller Scham flieht sie aus der Zelle und gerät in ein Bordell. Abraham, der von alledem noch nichts weiß, träumt in derselben Nacht von einem Drachen: Einen grozen trachen Sach er uz eime sumpfe gan, Der was besult und ungetan. Er stanc vor unvlate Und quam doch vil drate Mit zorneclicher snelle Untz her bi sin celle. Nu sach er wie die trache slant Eine tube, die er alda vant. (V. 32520–32528)
Abraham deutet daraufhin den Drachen als Teufel, erkennt aber nicht den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Traum und seiner Nichte. Zwei Tage später träumt Abraham, dass der Drache alle Kraft verliert, vor die Zelle kommt und seinen Kopf zu Füßen Abrahams legt, woraufhin der auf ihn tritt. Der Drache wird in zwei Hälften gespalten und in seinem Bauch findet der Einsiedler die lebende Taube. Nachdem er erwacht ist, ruft Abraham durch das Fenster nach seiner Nichte, die jedoch verschwunden ist. Als Abraham ihr Fehlen realisiert, kann er auch seinen Traum richtig deuten: Dez erschrac der wigant Deiswar harte sere. An sines troumes lere Gedachte er und sprach: ‚die gesicht Bedutet anders nichtes nicht Wan myner niftelen val.‘ (V. 32616–32621)
Dass Abraham hier als wigant, also als Held oder Krieger bezeichnet wird, verweist in Verbindung mit dem Drachen bereits auf den Bereich weltlichen Erzählens.428
428 Zum Motiv des Drachenkampfes in der religiösen Literatur und dessen Bezügen zum welt lichen Bereich vgl. Hammer (2012).
Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten)
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Nach zwei Jahren der Klage erfährt Abraham durch einen Boten vom Leben der Nichte im Bordell. Er bittet daraufhin seine reichen Freunde, ihm Geld für eine ritterliche Ausstattung zukommen zu lassen. Das Anlegen des ritterlichen Gewandes, durch welches Abraham seine neue Identität annimmt, erscheint als eine Dissoziation von innen und außen: Der Heilige wird für seine Bekannten unerkennbar.429 Zugleich überblendet ein Erzählerkommentar an dieser Stelle den ritterlichen Kampf mit dem geistlichen Kampf gegen den Teufel: Nu merket hie ein wunder, Wie der andere Abraham Mit tugenden zu strite quam In des tuvels marke! (V. 32714–32717)
Was nun folgt ist nicht etwa die unmittelbare Befreiung der Nichte aus dem Bordell. Abraham beweist sich zunächst als ritterlicher Streiter, denn der Sohn seines Bruders ist von Feinden gefangen genommen worden, denen sich der andere Abraham entgegenstellt und die von ihm niedergeworfen werden. Abraham tritt als tatsächlicher Kämpfer für seinen Neffen auf, bevor er sich in Analogie zu dieser ritterlichen Tat auf den Weg macht, um seine Nichte zu retten. Er gibt sich im Bordell als Freier aus und lässt sie rufen. Er verbirgt sein jamerec herz (V. 32792), als er das Mädchen erblickt, das von außergewöhnlicher Schönheit ist. Abraham lässt Getränke bringen und zecht mit seiner Nichte und den übrigen Anwesenden. Schließlich küsst sie ihn, doch Do quam ir von im eine smac Der die gehugde ir brachte Daz si hin gedachte An iren oheim Abraham. (V. 32834–32837)
Durch den Geruch des Onkels erinnert sich das Mädchen an ihn und diese Erinnerung, die der Text als einen Schuss Abrahams gegen das Herz der Nichte beschreibt, stürzt sie in tiefe Trauer. Abraham gibt sich jedoch nicht zu erkennen, sondern beginnt, über die plötzliche Traurigkeit des Mädchens zu schimpfen. Er lässt sich von seiner Nichte ins Zimmer führen und schließt sich dort mit ihr ein. Nach längerem Gespräch gibt sich Abraham zu erkennen und bittet die Nichte,
429 Womit hier ein bemerkenswerter Gegenentwurf zu den Jungfrauenlegenden vorliegt. Während die Jungfrauen eine geistliche Identität annehmen und deshalb von ihren weltlichen Angehörigen nicht mehr erkannt werden können, ist es hier genau umgekehrt.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
die nun voller Scham und Trauer ist, zu ihrer Zelle zurückzukehren. Als er sie schließlich überzeugt hat, setzt er sie auf sein Pferd und führt sie als ein brudegoum (V. 33218) nach Hause. Wie um den Anklang an das ritterliche Schema des Brautgewinns noch zu verstärken, greift der Text nun auch wieder auf das Bild des Drachen zurück: Da was der trache geschant; Want der kempfe unvorsaget Sin tube hette wol erjaget, Die er mit vreuden vurte heim. (V. 33224–33227)
Motive der weltlichen Literatur und die Logiken der monastischen Kultur werden in dieser Legende überblendet, sodass sich ihre Bedeutungen ebenso überlagern wie die Figuren des Drachens und des Teufels: O wunderliche mannes craft, Die an deme helde ist gewest! Er quam in des trachen nest, Des tuvels meine ich, und vaht Daz der vient verlie die macht. (V. 33268–33272)
Die Unterschiede der Darstellung im ‚Väterbuch‘ gegenüber den ‚Vitaspatrum‘ sind in dieser Passage umfassend und lassen eine eindeutige Tendenz erkennen: Überall dort, wo es möglich war, ist im deutschen Text das Thema der Ritterschaft eingeflochten. In den ‚Vitaspatrum‘ fehlt der Beistand, den Abraham seinem Neffen leistet. Es fehlt die ritterliche Ausstattung, es fehlen sämtliche Drachenmetaphern außerhalb des Traumes. Während Abraham die Jungfrau in den ‚Vitaspatrum‘, in Anlehnung an das Lukasevangelium (Lk 15,1–10) wie ein „gefundene[s] Schaf“, das der Hirte auf seiner Schulter trägt, heimbringt,430 macht das ‚Väterbuch‘ aus dem guten Hirten einen erfolgreichen Ritter und Bräutigam. Eine kurze Passage in der ‚Abrahamslegende‘ bettet sie in ein zeitliches Kontinuum ein. Dort heißt es:
430 Leben der Väter (Sintzel), Bd. 1, S. 612; Vitae patrum (Rosweyde), Sp. 658: Statimque imponens eam super equum, trahebat praecedens, quemadmodum pastor cum invenit ovem perditam, cum gaudio super humeros suos tollit (Luc. XIII); ita beatus Abraham gaudens in corde suo iter cum nepte faciebat.
Heilige Paare (Abraham und Maria, Zosimas und Maria von Ägypten)
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Diz was in derselben zit Do man mit urlougen Noch nicht pflac zu bougen Die heiden von ir abgoten, Sunder mit geistlichen boten, Die durch Got wageten ir leben, Welch ende in Got wolde geben. (V. 31126–31132)
Hier schließt der Text an die Gegenwart der Rezeption an, denn die Zeit, in welcher die ‚Heiden‘ sehr wohl mit Gewalt vom Glauben abgebracht werden, ist die Zeit der Kreuzzüge. Für den Deutschen Orden ist es zudem die Zeit, in der die Prußen niedergeworfen und zwangsbekehrt werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die besondere Fassung der Legende im ‚Väterbuch‘ zusätzliche Bedeutung: Sie erscheint wie eine programmatische Darstellung des Verhältnisses von monastischer Askese und Ordensrittertum in narrativer Form. Abraham wird zum asketischen Universalheiligen stilisiert und ist insofern unzweifelhaft persona imitabilis und Leitbild. Gleichzeitig wird über die Martyriumsstruktur ein gewalttätiges Moment inseriert. Die Mission wird außerdem der Askese als mindestens gleichwertig nebengeordnet, was, wie die oben zitierte Textstelle zeigt, anschlussfähig für die Deutschordensritter war. Ein weiterer Bezugspunkt liegt in der Bezeichnung als der andere Abraham. Abraham von Kiduna und seine Rettungsaktion erscheinen als Wiederholungen des alttestamentlichen Abrahams und dessen Kriegszugs zur Befreiung Lots. Anders als die ‚Vitaspatrum‘ macht das ‚Väterbuch‘ diesen Bezug nicht explizit. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Bibelverweise gewöhnlich im deutschen Text gegenüber dem lateinischen eher hervorgehoben werden, doch mag ein expliziter Verweis in diesem Fall gar nicht nötig gewesen sein, denn Abrahams Kampf für Lot war ein wichtiges Vorbild für die Ordensritter und ist als solches in der Ordensregel festgeschrieben.431 Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Verweis auf den biblischen Abraham für die Ordensritter unmittelbar erkennbar war. Der dritte Teil der Legende ist durch eine Verschmelzung mit Motiven weltlicher Literatur geprägt, denn aus dem guten Hirten wird darin ein Ritter gemacht, der einen Drachen besiegt, um eine Jungfrau zu befreien. Damit schafft der Text nicht nur einen Anknüpfungspunkt durch Intertextualität, sondern stellt eine Verbindung von Ritterschaft und Askese vor Augen, die als Bild und Identitätsmodell für die Ordensritter gelten konnte. Die Unerkennbarkeit des ritterlichen
431 Vgl. Statuten des Deutschen Ordens (Perlbach), S. 23. Vgl. dazu auch Abschn. 2.4 dieser Arbeit.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
Abraham lässt sich als die spezifische Konstruktion des Verhältnisses von innen und außen bei den Ordensrittern lesen: Nach außen ritterliche Streiter, nach innen (und als solche nicht erkennbar) asketische Mönche. Die Legende der Heiligen Zosimas und Maria von Ägypten gehört zu den populärsten Legendenstoffen überhaupt. Dafür spricht ihre lange Tradition und weite Verbreitung.432 Allein die griechische Vita der Maria von Ägypten ist in über hundert Handschriften überliefert.433 Den Kern der Legende bildet das Magdalenenmotiv,434 die Bekehrung und Buße einer vormaligen Sünderin. Doch auch diese Legende verbindet zwei Figuren miteinander, die beide den Status kanonisierter Heiliger haben. Neben Maria von Ägypten, die büßend als Einsiedlerin in der Wildnis lebt, tritt der Mönch Zosimas, der im klösterlichen Zusammenhang lebt. Die ‚Zosimaslegende‘ bildet nicht nur eine „Rahmenhandlung“435, wie Kunze meint, sondern es stehen sich mit Zosimas und Maria ein zönobitisch lebender Mönch und eine anachoretisch lebende Einsiedlerin gegenüber,436 die damit je unterschiedliche Konzepte des monastischen Lebens verkörpern. Wie Konrad Kunze gezeigt hat, ist die ‚Legende der Maria von Ägypten‘ ein Produkte mehrerer Verschmelzungsprozesse.437 Schon die in den ‚Acta Sanctorum‘ aufgenommene griechische Fassung ist eine Kompilation. So wurde etwa die Figur des Zosimas erst im griechischen Text mit Maria verbunden. Bezüglich der Quelle der Legende im ‚Väterbuch‘ weist Kunze darauf hin, dass sie weder in den ‚Vitaspatrum‘ noch in der ‚Legenda aurea‘ zu suchen ist. Vielmehr zeigt er, dass sich Hildeberts von Lavadin in leoninischen Hexametern abgefasste Versdichtung über Maria von Ägypten438 als Vorlage nachweisen lässt. Kunze gewinnt diese Erkenntnis aus dem Vergleich dreier Passagen, in denen sich der Hildebert’sche Text und das ‚Väterbuch‘ gleichen. Damit ist einmal mehr bewie-
432 Vgl. zur Einführung Kunze (1969), S. 15–26. Die Wirkung der Legende bis ins weltliche Erzählen hinein beschreibt für die deutsche Literatur des Mittelalters etwa Wehrli (1961), S. 439 f., der die Figur der Sigune in Wolframs ‚Parzival‘ auf Maria von Ägypten bezieht. 433 Vgl. Kunze (1969), S. 20. 434 Wobei der Austausch zwischen ‚Maria Magdalena-‘ und ‚Maria von Ägypten-Legende‘ nicht nur unidirektional ist, denn während einerseits die Bekehrung der Sünderin in der biblischen Maria Magdalena eine Vorlage bildet, wurde andererseits die Askesedarstellung aus der ‚Maria von Ägypten-Legende‘ im 9. Jahrhundert in die ‚Magdalenalegende‘ importiert. Vgl. dazu Dorn (1967), S. 56 f. 435 Kunze (1969), S. 23. 436 Vgl. Kunze (1969), S. 25. 437 Vgl. die Übersicht bei Kunze (1969), S. 18, der ebd. auch auf die Unwägbarkeiten der Rekonstruktion hinweist. 438 Der Text ist in den ‚Acta Sanctorum‘ editiert: ActaSS, Apr. I, S. 83–90.
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sen, dass der Verfasser des ‚Väterbuchs‘ mitnichten nur auf die nächstliegenden Quellen zurückgriff, sondern aus der Vielfalt der poetischen volkssprachlichen und lateinischen Literatur wählte.439 Nach Kunze ist auch die Übertragung des Hildebert’schen Textes mit einer Verwandlung verbunden: „Die dicht gefügten Hexameter Hildeberts verwandelt der Übersetzer zu lebendigen, übersichtlichen Kurzzeilen, indem er aus der Fülle der Worte und Bilder des Franzosen fast in jedem Satz eine glückliche Auswahl trifft.“440 Der Begriff des ‚Übersetzers‘ scheint kaum noch angemessen zu sein, denn abgesehen von den von Kunze identifizierten Passagen weist der ‚Väterbuch‘-Text reichlich eigenständige oder aus anderen Quellen übernommene Darstellungen auf. Die beiden Figuren, von denen die Legende erzählt, sind ständig in Bewegung, wobei sich die Dichotomie von anachoretischem und zönobitischem Entwurf auch in einer Zweiteilung des Raumes spiegelt, durch den sie sich bewegen. Die Grenze stellt der Jordan dar: Zosimas geht von seinem Elternhaus aus ins Kloster, von dort in ein zweites Kloster in der Wildnis jenseits des Jordans. Marias Buße führt sie von ihren Eltern weg nach Alexandria, von dort fährt sie mit dem Schiff nach Jerusalem und zieht sich schließlich in die Wildnis jenseits des Jordans zurück. Zosimas wird als von Anfang an begnadeter Mensch eingeführt, dem eine steile Karriere im geistlichen Zusammenhang zuteilwird. Ähnlich wie Antonius unterscheidet Zosimas bereits im Kindesalter die Übel des weltlichen und die Verheißungen des ewigen Lebens441 und schließt sich dementsprechend einem Mönchsorden an. Schon bald ist er vom entbehrungsreichen Leben ausgezehrt, wird aber von Gott dafür mit bekentnisse also rich / daz im do niman was gelich (V. 33637 f.) belohnt. Doch gerade weil Zosimas meint, alles Weltliche überwunden zu haben, wird er schließlich von seinem Hochmut bezwungen. Seine Verdienste betrachtend kommt der vorbildliche Mönch zu einem eitlen Schluss: Hir umme sal mir Got ouch geben Zu himele ein seldenrichez leben. Daz ist billich und recht, Want ich bin sin getruwer knecht. (V. 33713–33716)
Die Klostergemeinschaft, die hier von dem einzelnen Mitbruder repräsentiert wird, erscheint als korrigierende Kraft, durch die sich Gottes Wille realisiert.
439 Vgl. Kunze (1969), S. 69 f. Zu Hildebert vgl. Kunze (1969), S. 58–60. 440 Kunze (1969), S. 70. 441 Vgl. Kap. 6 dieser Arbeit.
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Zosimas wird von einem mahnenden Mitbruder in ein weit abseits liegendes Kloster geschickt: Da jensit ein closter lit, Da sint reine muniche gut Wol bewart mit demut. Nu ile balde, ganc da hin. Du vindest an in der tugende sin Uf also hohen wec gewant, Der dir noch ist unbekant. (V. 33790–33796)
Erst die Mahnung eines Mitbruders lässt Zosimas den eigenen Irrweg erkennen. Erschreckt von seinen eigenen Gedanken zieht sich der bereits alte Mönch in ein Kloster am Jordan zurück, in dem die Mönche besonders enthaltsam leben. Zosimas neue Gemeinschaft pflegt, so berichtet es der Text, die besondere Sitte, dass ein Großteil seiner Angehörigen von Aschermittwoch bis Palmsonntag die Klostermauern verlässt und jeder auf seine Weise allein im Wald lebt und den Gottesdienst vollzieht. Während seines zeitweisen Lebens in der Wildnis begegnet Zosimas Maria. Während Zosimas als vorbildlicher Mensch erscheint und dann der Sünde des Hochmuts erliegt, wird Maria wird als sündiger Mensch eingeführt. Sie berichtet selbst von ihrem Leben: Als tochter eines vursten groz / uz Egypten lande (V. 34416 f.) wächst sie im Reichtum auf, was sie hochmütig werden lässt. Wie auch Zosimas wird Maria schließlich geläutert, doch fällt diese Läuterung in ihrem Fall mit der Konversion zusammen. Während ihres Lebens in Alexandria erregen die Osterfeierlichkeiten der Christen ihre Aufmerksamkeit. Neugierig versucht sie, den Gläubigen in die Kirche zu folgen, doch vermag sie die Tür nicht zu durchschreiten. Angesichts der zur Kirche strömenden Menge fragt sie sich selbst: Ennummenamen, waz mac da sin? Waz locket daz volc dar in Dort da man singet, Dar umme daz volc dringet Paide aws und in durch di tür? (V. 34617–34621)
Marias Haltung gegenüber dem Christentum ist zunächst von Unwissenheit bestimmt. Erst durch einen göttlichen Eingriff begreift sie, dass das Scheitern an der Kirchentür auf ihr sündiges Leben zurückzuführen ist. Diese Reue ist dabei von dem Ort bestimmt, an dem sie sich in Jerusalem befindet. Maria weiß plötzlich um dessen heilsgeschichtliche Bedeutung und reflektiert sie in einem Monolog:
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Crist, der vil gewere Got, Leit alhie durch uns den spot, Er wart alhie zur sule geslagen, Ouch sach man in die crone tragen Mit vil langen zacken. Sinen wizzen nacken Slugen sie an blinder witze. Sin keiserlich antlitze Man hie jamerlich anspei, Verreter man in hie anschrei, Man sluc hie sine wangen. Alhie wart er gehangen An eine cruce unde erstarb. Da mite er segen uns erwarb, Da wir e vluch solden haben. Alhie wart er ouch begraben Und erstunt von deme tode alhie. (V. 34675–34691)
Durch die dauernde Wiederholung des alhie und hie wird hervorgehoben, dass sich Maria am Ort der Passion und damit in einem heilsgeschichtlich aufgeladenen Raum befindet und dass dieser Raum entscheidend für ihre Konversion ist. Im Nachhinein erweist sich so auch ihre scheinbar planlose Fahrt nach Jerusalem als Wallfahrt an einen Ort göttlicher Präsenz und sinnlicher Wahrnehmung des Heils. Die Aufnahme in die Heilsgemeinschaft, die in der Kirche die Auferstehung feiert, ist Maria nicht ohne Hilfe möglich. Die Bekehrte irrt weinend um die Kirche herum und gelangt so zu einem Marienbild. Die emotionale Bewegtheit setzt hier direkt die körperliche Bewegung in Gang und schaltet zugleich den Gesichtssinn praktisch aus: Min weinen was so groz Daz sich die ougen erguzzen Und stete ubervluzzen. Vor weinen ich kume gesach. Min clagendes ungemach Wisete mich her und hin. (V. 34744–34749)
Die unkontrollierte Bewegung führt Maria an eine Nische in der Kirchenmauer, in der eine Statue der Gottesmutter steht. Maria fällt weinend vor der Statue auf die Knie und bittet um Gehör. Nachdem sie die Gottesmutter um Beistand angefleht hat, ist es ihr möglich die Kirche zu betreten und zu beten. Danach kehrt sie erneut zu der Marienstatue zurück und erbittet einen weiteren Dienst:
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Nu sprech ein lobelichez wort Vor mich kein dime lieben sun, Daz er mir kunt wolle tun Wa hin ich sole wandern, Wie ich mich sole verandern Von boser gesellschaft, Den ich zu lange bin behaft An valscher kumpanie! (V. 34866–34873)
Durch die, von der Gottesmutter vermittelte, göttliche Weisung wird die ziellose Bewegung der Maria auf einen Fixpunkt, nämlich die Wildnis jenseits des Jordans, hin ausgerichtet. Der Lebensweg Marias und der mit ihr verbundene Heiligkeitsentwurf spiegeln sich in der konkreten Bewegung im Raum: Die Reise führt Maria nach Jerusalem, der verwehrte Zutritt zur Kirche lässt ihr das falsche Leben offenbar werden; der durch die Gottesmutter vermittelte göttliche Eingriff richtet die planlose Bewegung auf ein Ziel, nämlich die anachoretische Askese in der Wildnis, aus. Maria und Zosimas ziehen sich also beide hinter den Jordan zurück, um zu büßen. Dabei macht der Text durch die Parallelisierung klar, dass nicht der Ausgangspunkt, sondern die Buße entscheidend für den jeweiligen Status ist. Die ehemalige Sünderin Maria erscheint gegenüber Zosimas als hervorragende Figur, denn sie lebt seit siebenundvierzig Jahren in der Wildnis. In den ersten siebzehn442 Jahren sind ihre Kleider verrottet und abgefallen. Zudem ist sie immer wieder vom Teufel gequält worden. Nach den siebzehn Jahren aber ist der calde winder [entwichen] / und daz sumerleben ergruet[] / an der gnaden bluete (V. 35126–35128). Engel haben sie geführt und im Himmel sind ihr die ihr zugedachten stol und crone (V. 35144) gezeigt worden, als Zosimas sie in der Wildnis findet. Im Streit der beiden miteinander wird die Hierarchie der Figuren deutlich: Sie knien einander gegenüber und streiten darüber, wer sich erheben, den anderen segnen und sich damit über ihn stellen soll. Maria führt in der Diskussion zunächst ihr Geschlecht und dann Zosimas’ Priesterschaft als Grund dafür an, dass er sie segnen müsse. Durch die Salbung zum Priester sei es seine Aufgabe, die zu segnen, die des Segens bedürfen. Zosimas hingegen argumentiert mit Tugend, die ihre besondere
442 Die Zahl 17 findet sich immer wieder in der religiösen Literatur (etwa auch in der Alexius legende) des Mittelalters. Eine mögliche Erklärung ist, dass sich in der 17 die Erfüllung des Alten Testaments (das durch die Zahl 10 bezeichnet wird) durch das Neue Testament (7) realisiert. Bei Augustinus hingegen kommt die Bedeutung der 17 durch die Verbindung der zehn Gebote mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes zustande. Vgl. Gloy, Karen u. a.: [Art.] Zahl/Zahlenspekulation/Zahlensymbolik. In: TRE. Bd. 36. Berlin/New York 2004, S. 447–478.
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Verbindung zu Gott begründe. Dabei ist es offenbar unproblematisch, die Zugänglichkeit Gottes in Graduierungen zu denken und gegeneinander abzuwägen: Swer vor Gote ist vollenkumen Und in mynnet allermeist, [...] Den horet er aller gernest. (V. 34226–34233)
Es ist jedoch nicht oder nicht nur Zosimas’ Argumentation, die dazu führt, dass Maria sich geschlagen gibt und sich segnend über den Mönch erhebt.443 Zosimas Rede wird von dessen heftigem Weinen begleitet, was zu Marias Einlenken führt. Es ist dabei bemerkenswert, dass Zosimas’ Weinen keinen eindeutig zugeordneten Grund wie Scham oder Schmerz hat. Der Mönch weint offenbar, um die Heilige zu überzeugen: Da mite weinte er sere. So wart die Gotes here Von im uberwunden. Si stunt uf in den stunden. (V. 34237–34240)
Zosimas wünscht, von Maria gesegnet zu werden, und als sie ihm dies verweigert, weint[] er sere (V. 34237), bis er sie umgestimmt hat. Ebenso hatte das Weinen Maria zum Bildnis der Gottesmutter und zur Konversion geführt. Womit Maria hier für Zosimas an die Stelle der Gottesmutter als Vermittlerin einrückt. Im Fortgang der Handlung wiederholt sich die beschriebene Konstellation immer wieder: Maria weigert sich zu sprechen, Zosimas weint und überzeugt sie so vom Gegenteil. Damit wird nicht nur die Bedeutung des Weinens444 immer wieder betont, sondern es wird zugleich als rituelle Form religiöser Praxis installiert. So wird auch dem Mönch eine neue Rolle zugewiesen: In demütiger Unterordnung und fortwährender ritueller Klage gelingt ihm die Kommunikation mit der Heiligen und die Partizipation an deren göttlicher Begabung.
443 Eine ähnliche Konstellation wie in der Auseinandersetzung um den Segen zwischen Zosimas und Maria findet sich auch im ‚Sprücheteil‘ und sie scheint insofern topisch gewesen sein. Die hier dargestellte emotionale Dimension der Kommunikation zwischen Jungfrau und Einsiedler findet sich allerdings nur in der ‚Maria von Ägypten-Legende‘. Im ‚Sprücheteil‘ (V. 23079– 23300) wird von einem Einsiedler berichtet, der von einem Engel darauf hingewiesen wird, dass eine heilige Jungfrau in einem Kloster lebe. Er begibt sich daraufhin in das Kloster und erbittet den Segen der Frau und diese den seinen, woraufhin beide eine längere Auseinandersetzung führen, wer wen segnen darf. 444 Vgl. dazu auch Abschn. 8.3 dieser Arbeit.
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Das Verhältnis von Heiligkeit und deren Teilhabe durch Vermittlung wird am Ende der Legende noch einmal aufgegriffen. Als Zosimas die tote Maria findet, beklagt er, dass er weder den Tag ihres Todes noch ihren Namen kennt. Damit fehlen ihm die beiden Merkmale, die eine Verehrung möglich machen. Dieses Problem wird durch einen göttlichen Eingriff gelöst. Zosimas findet neben der Toten in den Sand eine Nachricht geschrieben: Heiliger vater Zozimas, Nu begrab alhie Marien! Als din hant der wandels vrien Zu jare gab daz himel brot, Zuhant gelac die vrowe tot Dar nach an deme nehesten tage. Nu ist verendet wol ir clage, Want sie hat vreude immer, Der ir gebrichet nymmer. (V. 35670–35678)
So wird die Verehrung der Maria von Ägypten und damit die Teilhabe an ihrer Heiligkeit durch die göttliche Mitteilung von Name und Todestag ins Werk gesetzt. Die Rolle des Zosimas erschöpft sich jedoch nicht darin, dass er selbst durch Maria der Heiligkeit teilhaftig werden kann. Vielmehr wird er zum Vermittler ihrer Weisheit in den Zusammenhang des Klosters, aus dem er stammt. Bevor sich Maria und Zosimas bei ihrer letzten Begegnung trennen, gibt die Eremitin dem Mönch eine Nachricht mit auf den Weg: Sage dem reinen degene, Dem abte Johanni (Ich weiz wol, Got ist im bi), Der vater uber din closter ist, Sage im er sule zu aller vrist Bedenken an dem mute Wie er mit guter hute Den jungeren ein spiegel si, Allez valschen wandels vri. (V. 35400–35408)
Die Vermittlungslogik ist recht verworren: Die göttlich inspirierte Büßerin lässt über den einst hochmütigen Mönch dessen Abt ausrichten, wie er seinen Aufgaben gegenüber den jungen Mönchen nachkommen soll. Doch hier konkretisiert sich eine Frage, die durch die Gegenüberstellung der beiden Figuren bisher unterschwellig blieb: Wie stehen Anachoreten und Zönobiten zueinander? Die Einsiedlerin erscheint als Ratgeberin des Abtes und damit als Leitfigur für den
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monastischen Zusammenhang. Zwar enthalten auch die früheren Versionen der Legende das Motiv der Nachricht für den Abt, doch [s]chon Hildebert hatte die kurze Mahnung, welche die Einsiedlerin an seinen Abt Johannes mitgibt, zu einem Abtspiegel von 29 Hexametern aufgeschwellt (Sp. 1337); beim Väterbuchdichter ist daraus eine lere (V. 35499) von hundert Versen geworden.445
Marias Ausführungen konzentrieren sich auf das Verhältnis von Freiheit und Gehorsam in der klösterlichen Gemeinschaft: Sus machet ouch des tuvels spote Den cranken menschen denken Wie er muge entwenken Uz dem bande in vriheit, Die in zu jungest vertreit In egenlichen willen. Daz sal der abt stillen, Want er ein houbt drobe ist. (V. 35422–35429)
Auf welche Weise dieses stillen des Freiheitsdranges vor sich gehen soll, macht Maria recht klar: Der Abt soll ihm mit der stete[n] buze der rute (V. 35461) begegnen. Ganz deutlich wird hier, dass die idiorrhytmische Lebensweise, wie sie die Anachoreten pflegten, nicht als vollständige Freiheit im Handeln misszuverstehen ist. Vielmehr verweist die Anachoretin auf die Notwendigkeit, die Freiheit einzuschränken, und betont die entsprechende Funktion des Abts im Kloster. Die ‚Maria Aegyptiaca-Legende‘ im ‚Väterbuch‘ gewinnt ebenso wie die ‚Abrahamlegende‘, mit der sie in engem Zusammenhang steht, eine programmatische Dimension. Das anachoretische Mönchtum, das von einem Großteil der Figuren im ‚Väterbuch‘ gepflegt wird, erscheint zwar als ethisch hervorragend, aber auch als gefährlich. Die Angehörigen der Klöster sollen zwar an der Weisheit der Anachoreten partizipieren, nicht aber unbedingt deren Lebensform annehmen. Aus diesem Grund werden Identifikationsangebote im Text auch nicht für Maria, sondern für Zosimas gemacht. Wie Abraham in der vorangehenden Legende wird er mit einer ganzen Reihe ritterlicher Bezeichnungen und Attribute ausgestattet. Der Text bezeichnet ihn als degen (V. 33497), wigant (V. 32616), Gotes knape (V. 34163), er uberrite[t] die werlt und hat dem vleische abe striten / den sic (33740– 33743).446 Damit liegt die Anschlussfähigkeit eindeutig bei der männlichen Figur.
445 Kunze (1969), S. 72. 446 Diese Aufzählung so schon bei Kunze (1969), S. 72.
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Zosimas wird Maria zwar untergeordnet, doch wird erst durch ihn ihre Lehre im Kloster wirksam und ihre Verehrung möglich. Für diese Rolle wird er, das sollte nicht vergessen werden, ebenfalls als Heiliger verehrt.
9.3 Heilige Familien (Eustachius und Alexius) Mit der Untersuchung der ‚Eustachius-‘ und der ‚Alexiuslegende‘ schließen die Ausführungen wieder an ihren Ausgangspunkt an. Im Zentrum dieser beiden Legenden steht wieder das Verhältnis von Heiligkeit und Gemeinschaft, wobei hier mit der Familie ein Aspekt aufgerufen wird, der, aus der weltlichen Kultur stammend, von der spätantiken monastischen Kultur zur Selbstbeschreibung adaptiert wurde447 und der zudem auch in der mittelalterlichen Gesellschaft eine zentrale identitätsstiftende Kategorie darstellte. Beide Legenden handeln nicht von Figurenpaaren, wie etwa der Vater-Tochter-Beziehung Euphrosynas, sondern es ist jeweils eine mehrköpfige Familie im Spiel. Im Fall von Eustachius sind das die Frau und die beiden Söhne des Protagonisten. Bei Alexius handelt es sich um die Eltern und seine Ehefrau. Ein weiterer Aspekt bindet die Legenden zusammen: Beide spielen nicht mehr in der Ursprungsregion der Eremitenbewegung, also im südöstlichen Mittelmeerraum, sondern in Rom.448 Wie um diese Gemeinsamkeit zu unterstreichen, beginnen beide Erzählungen im ‚Väterbuch‘ mit fast derselben Wendung: Die ‚Eustachiuslegende‘ beginnt mit den Worten ein richer man zu Rome saz (V. 36711), die ersten Verse der ‚Alexiuslegende‘ lauten zu Rome saz ein richer man (V. 39035). Mit Rom hat der Text den ‚Brückenkopf‘ der asketischen Tradition in Europa erreicht. Die Autoren, die in nicht unwesentlichem Maße an der Entstehung der ‚Vitaspatrum‘ beteiligt waren, vor allem Hieronymus und Rufinus, partizipierten an der römischen Elite, die sich im 4. und 5. Jahrhundert der christlichen Lebensführung und asketischen Praktiken zuwandte und eine zentrale Rolle für die Ver-
447 Vgl. Krawiec, Rebecca: „From the Womb of the Church“. Monastic Families. In: JECS 11 (2003), S. 283–307; hier S. 285 und Vuolanto, Ville: Children and Asceticism. Strategies of Continuity in the Late Fourth and Early Fifth Centuries. In: Hoping for Continuity. Childhood, Education and Death in Antiquity and the Middle Ages. Hrsg. von Katariina Mustakallio u. a. Rom 2006 (Acta Instituti Romani Finlandiae 33), S. 119–132; hier S. 123 f. 448 Allerdings scheint der ,Legendenteil‘ den Mittelmeerraum geradezu auszumessen. Euphrosyna lebt in Alexandria, Pelagia in Antiochia, Abraham in Kiduna bei Edessa, Zosimas und Maria treffen sich am Jordan bei Jerusalem, die Antiochenische Jungfrau versteht sich von selbst, Eustachius kommt aus Rom und kann mit Trajan im Partherkrieg im gesamten Mittelmeerraum gewesen sein, die sieben Schläfer leben in Ephesus, Alexius geht von Rom nach Edessa und zurück.
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mittlung der asketischen Literatur nach Europa spielte.449 Wie Katharina Greschat gezeigt hat, war die sich in diesem Zusammenhang entwickelnde Frömmigkeit in hohem Maße durch ihre Entfaltung innerhalb des Haushaltes beziehungsweise des familiären Kreises bestimmt.450 Damit verbindet sich das Christentum in Rom auch mit einer Haltung, die hohen Wert auf Abstammung und Pflege des Totenkultes legt. Dieser historische Ort der Religionsausübung und Heiligenverehrung bleibt nicht ohne Folgen, und die Gestalt des antiken Christentums wurde nicht nur durch den Bischof und die Gemeinde geprägt, sondern auch durch die Christianisierung der traditionellen Religiosität insbesondere der einflussreichen Familien!451
Verwandtschaft ist im spätantiken Rom ein wichtiger Faktor der religiösen Praxis und der Tradierung der asketischen Literatur. Spätestens in dieser Konstellation lösen sich einfache Dichotomien von weltlicher und geistlicher Gemeinschaft auf. Stattdessen verbinden sich beide miteinander und „[s]eit der Spätantike wurden Familien- und Verwandtschaftsbegriffe auf geistliche Beziehungen und christliche Gemeinschaften übertragen.“452 Christian Kiening hat das Spannungsfeld, in das die Familie durch diese Verschiebungen innerhalb der Legende gerät, mit dem Bild der Kippfigur gefasst: Die Familie, destruiert, restituiert und transzendiert, stellt in diesem Rahmen [dem der Legende; J. T.] ein Schnittfeld verschiedener Logiken der Vergesellschaftung dar. Sie verkörpert, paradigmatisch in der um das Jesuskind gruppierten Heiligen Familie, eine Kippfigur: Als Modell sowohl eines Kerns sozialer Affektbeziehungen wie des Bruchs mit der Prokreation und Sexualität nährt sie die christliche Idee, Gemeinschaft, Keuschheit und Ausbreitung ließen sich konzeptionell verknüpfen.453
449 Barbara Feichtinger hat zudem auf die wichtige Bedeutung von asketisch lebenden aristokratischen Frauen in der Umgebung des Hieronymus für den Kirchenvater hingewiesen. Vgl. Feichtinger, Barbara: Apostolae apostolorum. Frauenaskese und Zwang bei Hieronymus. Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Studien zur klassischen Philologie 94), S. 165–168. 450 Vgl. Greschat, Katharina: Eine Sache der Familie? Zur Transformation häuslicher bzw. familiarer Religiosität im antiken Christentum. In: ZAC 17 (2013), S. 248–267; hier S. 265, die diesen Aspekt am Beispiel der Briefe des Hieronymus herausarbeitet. Allerdings gibt es auch in den griechischen Fassungen, etwa der ‚Alexiuslegende‘, eine Emphase der verwandtschaftlichen Verhältnisse. 451 Greschat (2013), S. 267. 452 Kiening (2005), S. 31. 453 Kiening (2005), S. 31 f. Vgl. dazu auch Koch (2012), die am Beispiel von Kindelwiegenspielen darstellt, wie Heiligkeit gerade im Zusammenhang mit Darstellungen der Heiligen Familie verfügbar gemacht werden kann.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
Verwandtschaft erscheint nicht nur als ein Prinzip, das in Legenden überwunden wird, vielmehr kann sich die Heiligung auch als Transformation von Verwandtschaft vollziehen. Dieser Transformationsprozess, den die ‚Euphrosynalegende‘ bereits andeutet, wird in den beiden letzten zu betrachtenden Legenden zum entscheidenden Konstruktionsprinzip von Heiligkeit. Hinzu tritt, dass in beiden Legenden die Reise eine wichtige Rolle spielt. Während Eustachius auf der Reise sukzessive seine Familie verliert, dient die Reise in der ,Alexiuslegende‘ dem Zweck, den Protagonisten von seiner Familie zu entfremden, damit er so letztendlich ein unerkanntes Leben im eigenen Haus führen kann. Heiligkeit wird in den Legenden also nicht – wie im ‚Reiseteil‘ – nur mit der konkreten Reise verbunden. Vielmehr wird sie in einen „Vorgang der Heiligung [überführt, der] sich im sozialen Raum vollzieht.“454 In beiden Legenden wird zudem deutlich, dass die Legendarik in Teilen an den Erzählmodellen des antiken Liebes- und Reiseromans, insbesondere an dessen Schema von Trennung und Wiedervereinigung, partizipiert.455 Eustachius ist nicht nur einer der wenigen Heiligen, die Frau und Kinder haben, sondern gehört zudem zu den sogenannten ‚Soldatenheiligen‘. Die Figur des Soldatenheiligen entwickelte sich aus einem Typus des Märtyrers, der vor seiner Konversion Angehöriger der römischen Armeen ist und durch den christlichen Glauben in einen Konflikt mit der Obrigkeit gerät. Damit unterscheidet sich diese Figur deutlich von den anderen Heiligen im ‚Väterbuch‘. Der Soldatenheilige bietet aber besonders viele Anschlussmöglichkeiten für die Mitglieder eines kämpfenden Ordens. Zumal die Funktion des Protagonisten als Heerführer und das abschließende Martyrium entkoppelt werden: Eustachius beweist sich als hervorragender Soldat und wird erst dann für seinen christlichen Glauben hingerichtet. Das könnte der Grund dafür sein, dass diese Legende trotz der offensichtlichen Unterschiede zu den anderen Legenden im ‚Väterbuch‘ aufgenommen wurde. Der Anschlussmöglichkeiten für ein ritterlich-adlig sozialisiertes Publikum sind noch einige mehr. Eustachius, der zu dieser Zeit noch Placidus heißt, ist nicht nur Soldat, sondern wird zusätzlich als reicher Mann und Adliger eingeführt: Ein richer man zu Rome saz, Den man zu den besten laz Swa man sprach von manheit. Er was ein ritter gemeit Und wol der vursten genoz. (V. 36711–36715)
454 Weitbrecht (2012), S. 64. 455 Vgl. dazu auch Weitbrecht (2012), S. 64 f. und Kiening (2005), S. 33.
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Die entfaltete Biographie unterscheidet sich sowohl von denen der hervorragenden Einsiedler als auch von denen der zuvor besprochenen Jungfrauen- und Paarlegenden. Eremiten wie Antonius oder auch Zosimas sind zwar häufig Abkömmlinge der Oberschicht, lösen sich jedoch aus den Zusammenhängen ihrer Familien und ihres weltlichen Besitzes, um ein eremitisches Leben zu führen. Im Fall der Maria von Ägypten steht die adlige Herkunft sogar im Zusammenhang mit dem sündigen Leben, das dem asketischen Büßerinnenleben vorausgeht. All das ist hier nicht der Fall. Stattdessen sind Placidus’ virtutes durchweg positiv besetzt. Sie verbinden sich mit einer besonderen barmherzekeit (V. 36739) des Feldherren und es ist diese Eigenschaft, die Gott schließlich dazu bewegt, den ‚Heiden‘ durch eine Begegnung mit einem Hirschen auszuzeichnen, in dessen Geweih der Gekreuzigte erscheint. Doch findet die Begegnung nicht unter Ausschluss der weltlichen Bezüge des ritterlichen Helden statt. Im Gegenteil ereignet sie sich während Placidus, der herre gut, Pflac, als noch manic ritter tut, Den sin lust dar zu reizet Daz er jaget und beizet Durch kurtzewile widergelt. (V. 36757–36761)
Mit der Jagd wird ein zentrales Moment weltlicher Kultur aufgerufen, das natürlich auch mit Mittelalter anschlussfähig ist. Christus fordert Eustachius zur Taufe auf und betont, dass seine Ehefrau es ihm gleichtun solle (V. 36912–36924). So wird der Soldat durch die Christusbegegnung ausgezeichnet und seine Familie wird in den Prozess der Christianisierung, der auch ein Prozess der Heiligung ist, eingeschlossen. Das zeigt sich umso deutlicher darin, dass die Taufe am nächsten Tag bestätigt wird, als Eustachius auf die Jagd reitet und erneut dem Hirsch mit dem Christusbild begegnet. Christus sagt diesmal eine Prüfung durch den Teufel voraus, betont aber, dass Eustachius in Anbetracht der Herausforderungen menlich als ein ritter stan (V. 37034) solle. So erscheint Eustachius als eine Figur, die ritterliche Tugenden im Kampf für den christlichen Glauben einsetzen, sich aber nicht mehr an wertlich gerete, / an pris, an gut, an ere (V. 37044 f.) halten soll. Wie die Leiden Hiobs erscheinen auch die Eustachius bevorstehenden Ereignisse als Prüfungen, doch ist hier von Anfang an klargestellt, dass in der Drohung auch eine Verheißung liegt.456 So sagt Christus zwar, Eustachius solle sich bewisen alsam Job (V. 37052), doch verspricht er ihm auch Lohn dafür:
456 Vgl. zur Rezeption des hellenistischen Romans und der Prüfungsstruktur der ‚Eustachius legende‘ auch Vollmann (2000), besonders S. 20–22.
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Idoch swanne daz geschicht Daz man dich gar verworfen sicht, So wil ich aldar zu dir kumen Und dich in den ersten vrumen Brengen und in die ere Daz du vor nie mere Gewunne grozer werdikeit. Nu sage mir, wiltu din leit, Dise wandelunge An der versuchunge An dir nu lazen vollen varn Oder wilt du sie sparen Und dich enthalden dirre clage Vurbaz an din alden tage? (V. 37055–37068)
Anders als im Buch Hiob steht hier nicht die Bereitschaft, alles für den Glauben aufzugeben, auf dem Prüfstand. Vielmehr ist sie durch ein Gegenüber von Bewährung und Lohnversprechen ersetzt, das asketisch ausgelegt werden kann, aber auch analog zur Queste-Logik in der weltlichen Literatur funktioniert. Christus macht das Versprechen der jenseitigen Erhöhung explizit, was dadurch weiter betont wird, dass Eustachius die Wahl gelassen wird, ob er sich auf diesen ‚Handel‘ einlassen möchte oder nicht. Als ein Aussetzen der Ritterschaft des Eustachius erscheint allerdings die Zeit, in der er unter den von Christus vorhergesagten Verlusten zu leiden hat. Seines Besitzes beraubt muss Eustachius das Land verlassen und geht damit auch seiner Adelsprivilegien verlustig. Durch die Ereignisse auf seiner Reise verliert er zudem seine Familie. Die Reise trägt dabei Züge einer Pilgerschaft, doch anders als etwa Alexius lebt Eustachius nicht als Eremit oder Almosenempfänger, sondern tritt an der untersten Stelle wieder in die Gesellschaft ein, die er eben verlassen hat: Eustachius, der herre vri, Dingete mit der diete. Umme der gnaden miete Was er vumfzen jar alhie, Daz er acker und vie Bewarte nach hirten recht Und was dar an ir aller knecht. (V. 37412–37418)
Wiederum weicht die Legende vom biblischen Prätext ab, denn die Demütigung bleibt auf Eustachius’ Stand bezogen: Statt Herr ist er nun Knecht, statt Ehemann und Vater ist er allein. Die Valenz der Erniedrigung ergibt sich aus der Differenz innerhalb der weltlichen Gesellschaft. Da aber diese Erniedrigung freiwillig und
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für den christlichen Glauben ertragen wird, erscheint sie zugleich als eine asketische Leistung und als Prozess der Heiligung,457 die damit ebenfalls eng an die weltlichen Bezüge gebunden sind. Der Zustand der Aussetzung ist im Fall von Eustachius, anders als bei anderen asketischen Figuren, nicht von Dauer. Nachdem er sich in sein Schicksal gefügt hat, wird sein ursprünglicher Status restituiert. Gott setzt das Heilswerk in Gang, indem er die römische Armee in einem wichtigen Krieg plötzlich ihren ehemaligen Heerführer vermissen lässt: Alrest misseten sie sin mit schaden, Placidi, des herrn gut; Sie clageten sinen kunen mut An ritterlicher mannes tat Und seinen weisen vor rat, Wie rechte wol er konde ir her Ordenen mit scharfer wer Zu kegen vientlicher schar. (V. 37446–37453)
Im Nachhinein wird klar, dass Eustachius nur zeitweise ‚vergessen‘ worden ist, doch im Augenblick des Kampfes wird seine Abwesenheit schmerzlich bewusst. Wie auch im Fall von Euphrosyna werden Boten ausgeschickt, Eustachius zu suchen. Doch anders als Euphrosyna ist Eustachius nicht vollständig unerkennbar geworden. Zwei der Suchenden kehren in dem Haus ein, in dem er als Knecht dient, und es gelingt ihnen, wenn auch mit Mühe, in dem Diener ihren ehemaligen Offizier zu erkennen. Eustachius erhält daraufhin Ämter und Besitz zurück, obwohl er, wie der Text ausführt, gerne darauf verzichtet hätte. Die Wiedervereinigung mit seiner Familie vollzieht sich nach Eustachius’ Rehabilitation und ist unmittelbares Produkt seines militärischen Handelns: Eustachius lässt Truppen ausheben, seine Söhne werden durch die Zwangsrekrutierungen erfasst und als Adjutanten ihres Vaters eingesetzt. Nachdem Eustachius mit Gottes Hilfe (V. 37731) eine Schlacht gewonnen hat, trifft er in der unterworfenen Stadt mit seiner Frau zusammen. Der Bezug der ‚Eustachiuslegende‘ zur biblischen Hiobsgeschichte und ihrer narrativen Struktur ist deutlich, ebenso wichtig ist aber das Schema von Trennung und Wiedervereinigung. Hiob verliert seinen Hausstand und gründet ihn am Ende neu.458 Damit ist die biblische Geschichte durch den Gegensatz von
457 So auch Röcke (2010), S. 161. 458 Vgl. Hiob 42,10–17.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
vollständiger Destruktion und Neuerschaffung bestimmt. Eustachius hingegen verliert zwar Frau und Kinder, doch diese sterben nicht wie die Kinder Hiobs. Der Text beeilt sich geradezu, die Rettung des jeweiligen Familienmitgliedes nachzutragen, wenn eine Katastrophe eingetreten ist. Diese Anlage hat Konsequenzen für die gesamte Narration: Die Legende erzählt nicht von Zerstörung und Erneuerung, sondern von Trennung und Wiedervereinigung einer Gemeinschaft, deren Bindung in der Zeit der Trennung fortbesteht. Da die Wiederherstellung der Familieneinheit zugleich der Augenblick ist, in dem Gott zu erkennen gibt, dass seinem Anspruch Genüge getan ist, lässt sich die Wiederherstellung der Gemeinschaft tatsächlich als Prozess der Heiligung lesen.459 Dabei ist bemerkenswert, dass die Familie sich nur deshalb als Familie restituieren kann, weil alle Angehörigen erzählend dazu beitragen. Im Haus der Mutter erkennen sich die beiden Söhne, indem sie sich gegenseitig ihre Lebensgeschichte erzählen, sodass der erste Teil der Familie wiederhergestellt wird. Die Mutter, die als Erste von der Familie getrennt wurde, hört das Berichtete zwar, kann es jedoch nicht verifizieren. Als sie sich an den Feldherren wendet, erkennt sie an einer Narbe ihren Mann, wodurch die Ehegemeinschaft als zweiter Teil der Familie wiederhergestellt ist. Schließlich bestätigt Eustachius die Geschichte der Söhne, indem er aus seiner Perspektive die Ereignisse auf der Reise schildert, womit für die Mutter klar ist, dass sie ihre Söhne im Haus hatte. Sie klärt ihrerseits Eustachius darüber auf, dass seine Kinder noch am Leben sind. Erkennen und Erzählen werden hier eng aneinander gebunden. Dieser Zusammenhang tritt noch deutlicher hervor, wenn man vergleichend die Entdeckung des Eustachius durch die ihn suchenden Soldaten mit in den Blick nimmt. Dort nämlich reicht der Anblick des Mannes, um die Suchenden davon zu überzeugen, dass sie es mit dem verlorenen Heerführer zu tun haben. Die Familie ist hingegen auf das puzzleartige Erzählen aus vier verschiedenen Perspektiven angewiesen. Strukturell lässt sich dieser Vorgang als eine (Wieder-)Herstellung von Gemeinschaft durch Erzählen beschreiben und kann insofern unmittelbar auf den Prozess legendarischen Erzählens umgelegt werden: Im Erzählen von der Gemeinschaftskonstitution durch das Erzählen konstituiert sich wiederum eine Gemeinschaft der Zuhörer. Weil hier aber von Heiligen erzählt wird und die Rezipienten durch das Motiv des Erzählens mit den Figuren analogisiert werden, kann die Wiedervereinigungsszene des Eustachius als eine auf strukturaler Ebene durchgeführte Konstruktion von heiliger Gemeinschaft über die Textgrenzen hinaus gelesen werden.
459 Vgl. Kiening (2005), S. 33 f., unter anderen systematischen Gesichtspunkten auch Haferland (2005), S. 355.
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Die Wiederherstellung der Familie wird durch die Gemeinschaftsrestitution besiegelt. Alle Familienmitglieder beginnen zu weinen, und der soziale Impetus dieser Expression ist so stark, dass er das ganze Heer erfasst: Ir frawdenwainen waz so gros Das all ir antlutz begos. Durch den seldenrichen vunt Der da geschach in der stunt, Was alle daz her mit in vro. Sint ez gevuget sich hette also Daz si den sig behielden, Der walstat erlich wielden Und ouch der edele wigant Daz wib und sine kinder vant, Das was ir vreude zwivalt. (V. 37989–37999)
Mit der Wiedervereinigung erfüllt sich die göttliche Vorbestimmung ebenso wie die asketische Leistung des Eustachius, der in seiner Glaubensfestigkeit durch das Wiederfinden bestätigt wird. Die Ereignisse, die zu diesem Moment geführt haben, erscheinen zugleich in der Dichte der Koinzidenzen als Wunderwirken Gottes. Im Anschluss an die Wiedervereinigung folgt das Martyrium, das ebenfalls an der Familie als Gemeinschaft vollzogen wird. Die Vier erscheinen als ein Agent innerhalb der Heiligengeschichte. Als solcher sind sie in der Vorgeschichte der Trennung und Vereinigung zusammengebunden worden. Auf diese Weise wird die Familie durch den Tod zugleich aufgehoben und verstetigt. Die ‚Alexiuslegende‘ im ‚Väterbuch‘ gehört zur sogenannten päpstlichen Tradition.460 Sie ist jedoch nicht, wie Hohmann annahm,461 eine reine Übertragung aus der ‚Legenda aurea‘. Vielmehr scheint der Verfasser auf die weit verbreitete lateinische Fassung C462 und die Fassung Konrads von Würzburg zurückgegriffen zu haben.463 Wie auch von der Passage zum Jüngsten Gericht hat Carl Franke von der ‚Alexiuslegende‘ angenommen, sie gehöre nicht zum Grundbestand des ‚Väterbuchs‘,464 doch sind seit dem Erscheinen von Frankes Edition so viele Frag-
460 Vgl. zu den Typen der ‚Alexiuslegende‘ Decuble (2002), S. 71 f. 461 Vgl. Hohmann (1909), S. 36. 462 Vgl. zur Fassung C Löffler (1991), S. 32–53. 463 Vgl. Löffler (1991), S. 170. 464 Vgl. Das Veterbûch (Franke), S. 18 f.
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Paarungen und Verwandtschaften (Legenden)
mente mit den beiden Legenden aufgetaucht,465 dass es als sinnvoll und geboten erscheint, sie einzubeziehen. Die ‚Alexiuslegende‘ ist einer der in der jüngeren Forschung am häufigsten diskutierten legendarischen Texte. Das mag nicht zuletzt an ihrer Singularität liegen. Die Forschungsbeiträge haben sich allerdings nicht auf die Version des ‚Väterbuchs‘ bezogen, sondern stattdessen besonders häufig die Fassung Konrads von Würzburg besprochen. Ausgehend von einem Beitrag Peter Strohschneiders zielt eine ganze Reihe von Untersuchungen auf eine Bestimmung des medialen Status der Legende. Der Grundgedanke dieser Ansätze lautet, dass eine historische Konkurrenz zwischen der Unmittelbarkeit der Reliquie und der Mittelbarkeit der Legende herrscht. Die Legende weise gegenüber der Reliquie ein „Geltungsdefizit“466 auf, weil sie nicht wie die Reliquie für sich in Anspruch nehmen kann, unmittelbar in Kontakt mit dem Heiligen gewesen zu sein. Die Texte, und besonders die ‚Alexiuslegende‘, reagierten darauf, indem sie ‚Textheiligungen‘ inszenieren. So versteht Strohschneider einen Brief des Alexius als eine unmittelbare Verknüpfung von Heiligem und Text, der die Lücke zwischen beiden überbrücken soll. Das Verhältnis zur Reliquie ist, so wichtig es auch für andere Verarbeitungen der ‚Alexiuslegende‘ sein mag, für das ‚Väterbuch‘ von geringer Bedeutung. Heiligkeit erscheint darin, das sollte aus den bisherigen Ausführungen deutlich geworden sein, als vermittel- und verfügbar und ist durch Gemeinschaftspartizipation zugänglich. Damit aber spielt die „Unverfügbarkeit“467 von Heiligkeit, die Voraussetzung für Strohschneiders Annahmen ist, keine Rolle. Die Emphase liegt in der ‚Alexiuslegende‘ des ‚Väterbuchs‘ auf der Heiligung des Protagonisten durch das im familiären Zusammenhang realisierte asketische Leben und nicht durch die göttliche Erwählung beziehungsweise das Wundergeschehen. Damit ist der Kontakt mit dem Heiligen durch die Nachahmung seines Lebens und nicht durch die Berührung seines Körpers (oder eines Teiles davon) vorgegeben. Die Reliquie ist in diesem Zusammenhang überflüssig und es besteht insofern auch kein Geltungsdefizit des Textes.
465 Bereits in den Auflistungen bei Hohmann (1909), S. 14–17 wird deutlich, dass die ‚Alexius legende‘ nicht nur in der Straßburger Handschrift (S), sondern zudem in der verschollenen Königsberger Handschrift (F), in der Hamburger Handschrift (Q) und in der Hildesheimer Handschrift (K) vorhanden ist, ferner in den Fragmenten 1 und 6 (nach der Zählung von Klein (2014). Allerdings fehlt sie in der wichtigen Leipziger Handschrift (A) und auch in einer Reihe von Fragmenten, was aber vielleicht eher darauf schließen lässt, dass die Legende zwar zum Grundbestand gehörte, aber gelegentlich auf sie verzichtet wurde. 466 Strohschneider (2002), S. 117. 467 Strohschneider (2002), S. 136.
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Aufbruch und Rückkehr bestimmen das Leben von Alexius und damit auch die Struktur der Erzählung. Sie geht von Rom aus und berichtet, wie Alexius in der Hochzeitsnacht unerkannt sein Vaterhaus verlässt und sich einschifft: Duplich quam er in ein schif Und vur mit grozer demut. Hinder im bleib al sin gut, Deme er heimelich entvloch. Gotes liebe, die in zoch, Der volgete er lieblich also. In eine stat quam er do, Di was Edissen genannt. (V. 39212–39219)
Der erste Schritt der Askese des Alexius vollzieht sich in Form einer Reise, die ihn quer durch den Mittelmeerraum führt. Als Fremder kann er unerkannt in Edessa468 von Almosen leben. Mit der Reise vollzieht sich eine Wandlung des Alexius, die dazu führt, dass er von ihn suchenden Dienern nicht mehr erkannt werden kann. Alexius wird durch die Reise tatsächlich fremd, nämlich auch für seine frühere Umgebung. Mit dem Übergang aus den weltlichen Bezügen in den Status des Asketen geht eine göttliche Auszeichnung einher, die für Alexius zum Problem wird. Durch den Hinweis eines Marienbildnisses469 wird er als besonders tugendhaft erkannt und reagiert darauf wiederum mit Flucht. Er schifft sich auf einem Schiff ein, das gegen Tharsis wolt (V. 39427),470 doch ein Sturm zwingt die Schiffer, sich nach Rom zu wenden, weil dies der nächste erreichbare Hafen ist, womit Alexius wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen ist. Die Vektoren der Reise sind aussagekräftig: Alexius’ Ziel ist ein Ort, der durch maximale Fremdheit im geographischen Sinn bestimmt ist, denn Tarsus war ein Handelsknotenpunkt im Mittelmeerraum, der Orient und Okzident miteinander verband und sozusagen als ein Zentrum für Reisende und der Begegnung mit dem Fremden gelten konnte. Der Ort, den Alexius stattdessen erreicht, ist seine Heimatstadt und insofern durch maximale Vertrautheit bestimmt. Doch lässt sich, wie Alexius feststellt, auch
468 Auch wenn das für die ‚Alexiuslegende‘ kaum eine Rolle spielt, ist es vielleicht nicht ganz ohne Bedeutung, dass gerade Edessa mehrfach im ‚Väterbuch‘ vorkommt. War Edessa doch im 5. und 6. Jh. ein kulturelles und religiöses Zentrum gewesen. Im 12. Jh. wurde Edessa zwar zerstört, doch war es zuvor die Hauptstadt des Kreuzfahrerstaates Edessa und als solche ein bekannter Ort gewesen. 469 Ähnlich wie in der Legende Marias von Ägypten. Vgl. dazu Abschn. 9.2 dieser Arbeit. 470 Gemeint ist Tarsus und nicht das biblische Tarsis.
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in Rom und sogar im Haus des eigenen Vaters unerkannt ein Leben führen, das ungenäm (V. 29430) und versmächt (V. 29431) ist. Durch den göttlichen Eingriff des Sturms hat nicht nur das Schiff die Richtung gewechselt, sondern strukturell ist zudem die Fremdheit durch Ferne (in Tarsus) durch einen Zustand des Fremdseins im Eigenen (in Rom) ersetzt worden. Was die Wüstenväter durch tatsächliche körperliche Bewegung herstellten, wird hier als Identitätswandel, der Alexius (anders als Eustachius, der mit seiner Narbe ein weiterhin eindeutiges Merkmal trägt) für seine Verwandten unerkennbar macht, realisiert. Anders als in der ‚Eustachiuslegende‘ ist die Rückkehr des Alexius zudem hier keine Restitution im Sinne des hellenistischen Liebes- und Reiseromans, sie hat zunächst und bis zu Alexius’ Tod keinerlei Auswirkung auf sein Umfeld. Alexius’ Rückkehr nach Rom und in sein Elternhaus hat vielmehr wunderbaren und damit demonstrativen Charakter, denn sie dient der Etablierung seiner eigenen Geschichte als Heiligenlegende für seine Familie und Heimatstadt, ist also auf die Rezipienten und Anhänger gerichtet.471
Der Weg, den Alexius in der Legende zurücklegt, bildet zugleich einen für die monastische Kultur entscheidenden Schritt ab: Er zieht in die Fremde, wird so zum peregrinus und kehrt als solcher zurück an seinen Herkunftsort. Damit tritt an die Stelle des Lebens in der Fremde (oder in der Wüste) das Fremdsein im Vertrauten und in der stabilitas loci. Die Forschung hat bereits auf die hohe Bedeutung der Familie in der ‚Alexiuslegende‘ hingewiesen. Petra Paschinger bringt für die Alexiuslegende den von Viktor Turner entlehnten Begriff des „[s]ozialen Dramas“472 in Anschlag, das durch einen Dreischritt von Bruch mit der Gesellschaft, Schwellenphase und Reintegration gekennzeichnet sei. In der Zeit, die Alexius in Edessa verbringt, sei seine Figur durch das Fehlen einer eindeutigen Identität gekennzeichnet. Insofern verfüge Alexius im Leben als Bettler über eine „liminale Identität“473, die mit Blick auf Alexius’ Familie durch den Gegensatz von Offenem und Verborgenem bestimmt sei. Die gesamte ‚Alexiuslegende‘ ist in nicht unwesentlichem Maße eine Familiengeschichte. So wird die Güte des jungen Alexius in einen engen Zusammenhang mit seinen Eltern gestellt, deren christliche Tugend sich darin erweist,
471 Weitbrecht (2010), S. 142. 472 Paschinger, Petra: An der Schwelle zur Heiligkeit. Die Liminalität der Askese in der Alexiuslegende Konrads von Würzburg. In: Offen und verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Caroline Emmelius u. a. Göttingen 2004, S. 67–82; hier S. 73. 473 Vgl. Paschinger (2004), S. 75.
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dass sein Vater jeden Tag sämtliche Armen der Umgebung in seinem Haus verköstigt (V. 39045–39052). Zudem entschließen die Eltern sich, nachdem Alexius geboren ist, aus Gründen der Keuschheit keine weiteren Kinder zu bekommen (V. 39099–39108). In der Hochzeitsnacht vollziehen Alexius und seine im ‚Väterbuch‘ namenlose Ehefrau gemeinsam den Übergang zu einer keuschen Ehe:474 Der juncvrowen leite er vur Manige bete, manige lere In vil wislicher kere Von der edelen crone Und von deme edel lone Daz die kuscheit vor Gote hat. Also manicvalt was sin rat, Untz ir geliebete der couf Daz sie die cleit die ir der touf Gab in reiner wize, Mit aller tugende vlize Sunder mazen vurwart Wolde halden unverschart. Des was der juncherre vro. (V. 39180–39193)
Auch hier hat die familiäre Beziehung also nicht einen Status als rein weltliches Verhältnis, sondern ist in die christliche Identität des Protagonisten eingebunden. Dennoch verlässt Alexius unmittelbar im Anschluss an das Gespräch mit seiner Braut das Haus und Rom. Durch die immer wieder dargestellten Klagen von Eltern und Braut bleiben die familiären Beziehungen in der Legende aber stets präsent. Entscheidend für das Verhältnis von Familie und Heiligkeit ist der Teil der Legende, in dem Alexius unerkannt als Bettler im Haus seines Vaters lebt. Dabei erscheint Alexius, gezeichnet durch die Askese, nicht nur, wie Paschinger ausführt, als Gegenentwurf zu seinen Eltern und damit zu einer früheren Identität, wobei die Gegensätzlichkeit dieses Entwurfes durch die Unerkennbarkeit des Heiligen unterstrichen wird.475 Vielmehr vollzieht sich in der Spannung von existenten familiären Beziehungen und der täglich erneuerten Verweigerung von deren Erfüllung die soziale Heiligung des Protagonisten. Der Text macht explizit, dass die Nähe zu seiner Familie zu einem Teil von Alexius’ Askese wird:
474 Eine solche keusche Ehe ist allerdings nicht, wie Paschinger behauptet, ein Spezifikum der ‚Alexiuslegende‘. Vgl. Paschinger (2004), S. 77. Vgl. dazu etwa die Ausführungen zu Ammon (Einl. zu Kap. 9) und Abraham (Abschn. 9.2) in dieser Arbeit. 475 Vgl. Paschinger (2004), S. 78.
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Den vater und di muter sein Und sein liebe vreundein, Di er dikch alle hort An jemerlichem wort Nach im wainen und chlagen. (V. 39525–39529)
Doch Alexius widersteht der Versuchung, sich zu offenbaren, und der Erzähler betont: Das mag furbar nu sprechen wol. Ob ich tar und sol, Das ir nu laider wenig ist Di ein so lang vrist So senft trugen swaͤ res laid, Den mit großer reichait Ein solich er vor der tur Läg nach irr willechur. (V. 39537–39544)
Alexius ist gerade nicht völlig von seiner Familie gelöst, sondern seine Askese besteht vielmehr darin, dass er das Verlassene stets vor Augen hat und sich so täglich der Versuchung aussetzt, sich zu erkennen zu geben. In jedem Moment macht sich Alexius aufs Neue fremd. Bei der Darstellung der familiären Konstellation spielt, wie bereits die frühe Forschung bemerkt hat,476 Emotionalität eine zentrale Rolle. Nach der Auffindung und Identifizierung des toten Alexius entfaltet sich im ‚Väterbuch‘-Text eine umfangreiche Darstellung der Klagen von Vater, Mutter und Braut, die in der folgenden gemeinschaftlichen Feier des Heiligen einen Gegenentwurf findet. Die Klagen verweisen auf die familiären Beziehungen zwischen Eltern und Kind beziehungsweise Ehemann und Ehefrau: Sus clageten sie vil dicke An maniges herzen scricke Den hellt still und uberlawt, Vater, muter und prawt; Vrunde und manic vremde man, Der sin kunde e gewan, Die clageten in clegelich. (V. 39293–39299)
476 Vgl. Curtius, Ernst Robert: Zur Interpretation des Alexiusliedes. In: ZrP 56 (1936), S. 113–126; hier S. 118–123.
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Indem die hohe Valenz der Emotionen vorgeführt wird, offenbart sich zugleich die hohe Leistung der sozialen Askese des Alexius. Der Schmerz der Familienangehörigen in dem Augenblick, in dem sie entdecken, dass die Familienbande durch den Tod zerrissen sind, entspricht dem Widerstand gegen das Bedürfnis, sich zu offenbaren, den Alexius aufbringen musste. Auch hier ist die familiäre Bindung also nicht ohne Bedeutung für die Heiligkeit, vielmehr wurde der schmerzhafte Prozess der Desozialisierung durch die Anwesenheit der Familie für Alexius auf Dauer gestellt und erscheint so als dessen Askese und Form der Heiligung. Die Bedeutung der Emotionen reicht noch weiter, denn aus der Trauer der Familie geht die Trauer der ganzen Stadt und schließlich eine Prozession, also die rituelle Heiligenverehrung, hervor. Nachdem der Brief verlesen worden ist, der Alexius’ Leben offenbart, beginnen Vater, Mutter und Braut laut zu klagen. Daraufhin überträgt sich die Emotion: Alle die dar chamen Und die not vernamen Di vater, muter und prawt So laidlich stalten uberlawt An geperden und an schall, Si wainten mit in all, Si warn arm oder reich. Do wart die heilig leich Geparet von den fursten sa Und mit lobes sang alda Mitten in die stat getragen. (V. 39909–39919)
Familienbande und Heiligkeit werden hier über die Emotion in einen Zusammenhang gestellt. Die Klage steht in unmittelbarem Bezug zur asketischen Leistung des Alexius. Sie verbindet Vater, Mutter und Braut zu einer Klagegemeinschaft, die um die Hinzukommenden erweitert wird, weil auch diese von der Trauer ‚angesteckt‘ werden. Die Trauergemeinschaft bildet zugleich eine Gemeinschaft in der Verehrung des Heiligen, der nun begleitet von einer Prozession durch die Stadt getragen wird. Die Übertragung der Emotionen und ihr Umschlagen in die Verehrung des Heiligen führt schließlich dazu, dass die Menschen sich eng zusammenschließen und die Menge von den Fürsten, Geistlichen und den Bahrenträgern, die die Leiche des Alexius bringen, nicht mehr durchdrungen werden kann:
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Das volk do grewlich zu gie, Paide man und weib, Das sie den heiligen leib, Den man in wolt enpfurn, Mochten doch beruͤ ren, Das den fursten hart chawm Mocht werden da der rawm Das si mochten fur sich chomen. (V. 39986–39993)
So bleibt Alexius’ Heiligkeit bis zuletzt eng auf seine Familie bezogen, wenngleich er selbst sich von ihr gelöst hat. Von der klagenden Familie geht die Anteilnahme der ganzen Stadt aus und erst mit Blick auf die Familie wird Alexius’ besondere asketische Leistung erkennbar. Schließlich setzt die Trauer der Familie die allgemeine Verehrung in Gang, in der sich Familie, Stadtbewohner und Würdenträger zur rituellen Gemeinschaft zusammenschließen. Die ‚Alexiuslegende‘ greift eine ganze Reihe von Aspekten wieder auf, die in den vorangegangenen Teilen des ‚Väterbuchs‘ thematisiert wurden, und kann insofern auch als eine Metalegende gelesen werden. Die Ausgangslage des Alexius entspricht zunächst der des Antonius: Beide Heilige verbindet die reiche christliche Familie, die Aussicht auf ein reiches Erbe und die Flucht vor demselben in die Fremde. Wie in der ‚Ammonlegende‘ verpflichtet Alexius seine Ehefrau auf ein keusches Leben, ehe er sich von ihr trennt, und überführt damit die Ehegemeinschaft selbst in einen Heilszustand. Wie an Arsenius realisiert sich an Alexius die Spannung zwischen Stigma und Charisma,477 die sich in der Flucht vor der göttlichen Auszeichnung in Edessa zeigt. Das Motiv der hinweisenden Marienfigur schlägt zudem einen Bogen zur ‚Maria von Ägypten-Legende‘, in der das sprechende Bildnis (allerdings unter ganz anderen Umständen) ebenfalls zum Rückzug in die ‚Fremde‘ führt. Diese Fremde will Alexius, analog zu den Wüstenvätern, durch die Reise in die Ferne erreichen, die aber im Haus seines Vaters endet. Wie Euphrosyna bleibt Alexius für seine Familienangehörigen unerkennbar und wie Margareta offenbart er sein Leben in einem Brief, der zugleich als textinterne Quelle der Legende fungiert. Das wichtigste Moment der ‚Alexiuslegende‘ ist aber, wie in der ‚Eustachiuslegende‘, die Überführung der Familiengemeinschaft in den größeren Zusammenhang der Gemeinde, die Alexius als Heiligen verehrt. Durch sein Leben im Haus des Vaters wird die Familie als sozialer Zusammenhang nicht ausgelöscht, sondern sie bildet den Kern von Heiligung und Heiligenverehrung.
477 Vgl. Weitbrecht (2010), S. 142 f.
Identität und Heiligkeit
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9.4 Identität und Heiligkeit Das verbindende Moment aller Legenden im ‚Legendenteil‘ des ‚Väterbuchs‘ ist die Auseinandersetzung mit dem Identitätswandel, den der Übergang zur monastischen Lebensform immer mit sich bringt. Es tritt durch das immer wiederkehrende Motiv der Unerkennbarkeit und die mehrfache Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von innen und außen besonders hervor. Dabei wird deutlich, dass Identität immer als Verhältnis zu einer Gemeinschaft gedacht ist. Gerade die zuletzt behandelten Legenden, die jeweils familiäre Gemeinschaften in den Mittelpunkt stellen, zeigen in besonderer Weise, dass nicht die Auflösung von Gemeinschaft, sondern deren Transformation entscheidend für den Prozess der Heiligung ist. Im Überblick über den gesamten ‚Legendenteil‘ ergibt sich ein weiterer Aspekt von Gemeinschaftlichkeit auf der Ebene der Textualität. Durch ihre Zusammenstellung erscheinen die Legenden als Einheit und auf diese Weise, wie Simon Gaunt betont hat, „hagiography creates the illusion of a united textual community, unchanging over time.“478 Die hagiographische Sammlung erscheint selbst als eine Gemeinschaft, innerhalb derer Differenzen aufgehoben sind, und damit als Analogie zur communio sanctorum. Es lohnt sich, den Konsequenzen dieses Gemeinschaftsgedankens für den speziellen Fall des ‚Väterbuchs‘ nachzugehen. Die Analyse gerade des letzten Teils des ‚Väterbuchs‘ bestätigt Gaunts These von der textuellen Heilsgemeinschaft auf verschiedenen Ebenen. Erstens wird hier ein ganzes Spektrum von Heiligungs- und Heiligkeitsmodellen miteinander und mit den Wüstenvätern verbunden. Zweitens inszenieren die Legenden selbst immer wieder enge Paarbeziehungen zwischen unterschiedlichen Figuren und bilden so in sich heilige Mikrogemeinschaften. Diese Tendenz steigert sich in den Paarlegenden und kulminiert in den Legenden von Eustachius und Alexius, in denen die gesamte Familie in den Prozess der Heiligung einbezogen ist, wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Drittens ist mindestens eine der Legenden tatsächlich eine Verschmelzung zweier Quelltexte (nämlich die Marias von Ägypten). Viertens verbinden die Legenden eine ganze Reihe von lateinischen und volkssprachlichen Quellen miteinander, obwohl dem Verfasser des ‚Väterbuchs‘ mit den ‚Vitaspatrum‘ und der ‚Legenda aurea‘ einfache und einheitliche Vorlagen zur Verfügung standen. Auch hier wird textuelle Gemeinschaft hergestellt. Fünftens spannen die Erzählungen im Legendenteil ein Bezugsnetz über das gesamte ‚Väterbuch‘ und unterstreichen dadurch noch einmal dessen synthetischen Charakter. Auf vielen unterschiedlichen Ebenen stellt das ‚Väterbuch‘ heilige Gemeinschaften her, an denen durch die Erzählung auch die Rezipienten teilhaben.
478 Gaunt (1995), S. 183.
10 Die Heiligkeit der Gemeinschaft Der Straßburger ‚Väterbuch‘-Handschrift aus dem frühen 15. Jahrhundert (ms. 2326) sind drei Federzeichnungen beigefügt, die das Leben und die Lehren des heiligen Antonius illustrieren.479 Sie zeigen dabei nicht, wie die bekanntesten Abbildungen des Antonius, die Heimsuchung des Eremiten durch Dämonen. Stattdessen bilden die Zeichnungen den Heiligen jeweils bei seinem Wirken in der Gemeinschaft ab. Die erste Zeichnung (15r) stellt Antonius vor der Begegnung mit Paulus dem Einsiedler dar. Antonius strebt dem Hinweis eines Wolfes folgend der Zelle des Paulus zu, um dort dessen Lebensgeschichte zu hören und mit ihm gemeinsam zu beten. Sein zeigender Finger weist ihn und den Wolf als sprechend aus. Damit reicht die Bedeutung des Dargestellten über die eigentliche Szene hinaus, denn durch die Redegebärde wird Antonius als Zeuge und Vermittler von Paulus’ Lebensgeschichte kenntlich gemacht. Die Zeichnung hält nicht nur die Geschichte von Paulus und Antonius fest, sondern verweist gleichzeitig auf deren Weitergabe innerhalb einer größeren Gemeinschaft, an die Antonius’ Sprechen gerichtet ist. Die zweite Zeichnung (16r) zeigt Antonius’ Wirken als Lehrer. Erkennbar ist ein Anhänger des Antonius, der Fleisch auf dem bloßen Rücken durch den Wald trägt und von gierigen Tieren gequält wird. Antonius hat ihn mit diesem speziellen Transport beauftragt und er konstruiert aus dem Vorgang ein Exempel, das er, wiederum ausgedrückt in der Redegeste des erhobenen Zeigefingers, einer dritten Figur weitergibt: So wie die Tiere den Mann wegen des Fleisches peinigen, so quält der Teufel die Einsiedler, die nicht auf ihren Besitz verzichten wollen. Die Szene ist um die Figur des Zuhörers ergänzt, denn der Text berichtet nur davon, dass Antonius den Träger selbst belehrt. Damit erweitert die Zeichnung den Adressatenkreis des Exempels über das Lehrer-Schüler-Verhältnis hinaus und inkludiert auch den unbeteiligten Dritten, in dem eine Figuration der Rezipienten im Allgemeinen erkennbar ist. Die dritte Zeichnung (17r) stellt die Übertragung der Autorität des Antonius dar. Sie zeigt eine Gruppe von Mönchen, die mit dem Schiff zu Antonius gekommen ist. In der Gruppe befindet sich ein älterer Mönch, in der Zeichnung markiert durch seinen Bart, der sich nicht an den Gesprächen und Disputationen auf der Reise beteiligt hat. Nun wird er von Antonius als Vertrauter erkannt und angesprochen, was ihn gegenüber der Reisegruppe auszeichnet. Der Angesprochene antwortet nicht nur Antonius, sondern, das ist an den in beide Richtungen zei-
479 Die Zeichnungen sind dieser Arbeit als Anhang (11.1) beigefügt.
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genden Fingern erkennbar, belehrt mit seiner neu gewonnenen Autorität auch die Reisegruppe und hat damit die Funktion der Gemeinschaftsleitung von Antonius übernommen. Dreimal wird Antonius’ Wirken innerhalb der Gemeinschaft der Eremiten dargestellt. Es ist offensichtlich, dass ein besonderes Interesse an dieser Funktion des Heiligen bestand. Hinter ihr treten die einsame Askese und die Dämonenangriffe zurück. Diese Emphase der Gemeinschaft prägt nicht nur die Zeichnungen in der Handschrift, sondern, das haben die Ausführungen bis hierher gezeigt, den gesamten Text des ‚Väterbuchs‘ und seine Konstruktionen von Heiligkeit. Die vorliegende Arbeit wurde mit der Idee begonnen, mit dem ‚Väterbuch‘ einen wenig beachteten Gegenstand im Licht neuerer Forschung zur religiösen Literatur zu beleuchten und eine aktive Forschungsdebatte (über das legendarische Erzählen) um eine neue Perspektive zu ergänzen. Dabei waren zwei Thesen leitend, die unterschiedliche Funktionen hatten: Das ‚Väterbuch‘ wurde als Produkt eines Transformationsprozesses verstanden. Dieser These folgend wurden die kulturellen Grundlagen entfaltet, aus denen das ‚Väterbuch‘ in seiner spezifischen Form entstehen konnte. Ausschlaggebend für die Wahl des Vorgehens war die Überzeugung, dass sich gerade religiöse Literatur nur in Anbetracht ihrer Ursprünge und ihrer Genese umfassend begreifen lässt. Für das ‚Väterbuch‘ liegen diese Ursprünge in der eremitischen Bewegung der Spätantike und, für den erzählenden Text noch wichtiger, in der Literatur, die als Teil dieser Bewegung entstand und sich bald auch in Europa verbreitete. Das ‚Väterbuch‘ war deshalb an seine lateinischen Vorlagen, vor allem die ‚Vitaspatrum‘, zurückzubinden, die mit gleichbleibender Intensität neben dem deutschen Text weiterhin rezipiert und (re-)produziert wurden. Die Konstruktionen von Heiligkeit im ‚Väterbuch‘ wurden der zweiten Leitthese folgend als in hohem Maß durch Gemeinschaftlichkeit geprägt beschrieben. Auf der Handlungsebene streben die Figuren des ‚Väterbuchs‘ immer wieder nach der Gemeinschaft miteinander. Auf strukturaler Ebene werden metonymische Beziehungen zwischen den diesseitigen Eremitengemeinschaften und der communio sanctorum eröffnet, die auch die Engel und Heiligen einschließt. Auf der Ebene der Textkompilation erscheinen die Eremiten als Gemeinschaft, weil ihre Legenden innerhalb des Gesamttextes Teile eines größeren Zusammenhanges bilden. Dabei sind die Erzählungen nicht, wie etwa in der ‚Legenda aurea‘, scharf voneinander geschieden, sondern syntagmatisch und paradigmatisch miteinander verbunden. Immer eröffnen sich dabei auch Zugangsmöglichkeiten für die Rezipienten, indem diese in den Paratexten angesprochen werden, der Text selbst teilweise familiarisiert wird und bestimmte Haltungen und Tugenden (minne, Demut) als über den Text hinausreichend inszeniert werden. Diese Rezep-
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tionsangebote lassen sich oft, wenn auch nicht nur, auf den Deutschen Orden beziehen, dessen Mitglieder entgegen anderslautender Forschungsmeinungen weiterhin als wahrscheinliche Adressaten des ‚Väterbuchs‘ gelten dürfen. Indem neben die Unverfügbarkeit von Heiligkeit in vielen legendarischen Texten nun dessen partizipativer Charakter im ‚Väterbuch‘ tritt, wird deutlich, dass es ‚die‘ Heiligkeit in der legendarischen Literatur nicht gibt. Vielmehr wird am Nebeneinander der beiden Prinzipien die Vielfalt der möglichen Entwürfe erkennbar. An den vier großen Teilen des ‚Väterbuchs‘ wurden je unterschiedliche Schwerpunkte herausgearbeitet. Die ‚Antoniusvita‘ hat, auch in Anbetracht ihrer hervorgehobenen Stellung, den Charakter einer Ursprungserzählung. Der heilige Antonius ist als paradigmatische Einsiedlerfigur konstruiert, an die im ‚Väterbuch‘ immer wieder motivisch und strukturell angeschlossen werden kann. In der ‚Antoniusvita‘ werden Themen angespielt, die im gesamten ‚Väterbuch‘ von großer Bedeutung sind: die Loslösung von der Familie, die Gründung von Einsiedlergemeinschaften, die Praxis der Askese und Einsiedelei, das Lehrer-Schüler-Verhältnis und nicht zuletzt die Verbindung von Heiligkeit und Gemeinschaft. Der ‚Reiseteil‘ stellt die Wüste als Raum der Erfahrung und als imaginären Raum dar, der das gedankliche Zentrum der monastischen Kultur bildet. Die Berichte von den einzelnen Stationen der Reise entfalten ein Panorama der Eremitenkultur. Drei wurden exemplarisch analysiert. Der Bericht über den heiligen Johannes verhandelt das Thema der medialen Vermittlung von Weisheit und Segen. In den Exempeln des Johannes erscheint die Wüstenaskese zudem als offener Prozess, was auch die Narrativität der Texte betrifft, die wegen der Offenheit ihres Ausgangs nicht von Finalität geprägt sind. Hier besteht ein wichtiger Unterschied zu anderen Formen legendarischen Erzählens. Der Bericht über den heiligen Apollonius entfaltet die Verbindung von Heiligkeit und monastischer Gemeinschaft. Schließlich werden in den Berichten vom heiligen Copres Zeit und die zeitsprengende Kraft von Heiligkeit zum Thema. Schriftlich festgehaltene Sprüche, wie die der Wüstenväter im ‚Sprücheteil‘, haben eine spezifische Literarizität. Sie erscheinen zugleich als (vermeintliches) Residuum der Mündlichkeit und als literarisch vermittelt und geformt. Im ‚Sprücheteil‘ wird eng auf die monastische Lebenspraxis bezogenes Wissen dargestellt. Exemplarisch zeigt sich dies an den Sprüchen zu negativen Emotionen, zur Demut und zur Eschatologie. Zudem entfaltet auch der ‚Sprücheteil‘ unterschiedliche Entwürfe der Einsiedelei (Arsenius, Macarius, Moyses). Eine Sonderstellung nehmen im ‚Sprücheteil‘ das ‚Andreasmirakel‘ und die ‚Hieronymuslegende‘ ein. Das ‚Andreasmirakel‘, das formal und thematisch eigentlich nicht in das ‚Väterbuch‘ passt, kann aber auf den Rezeptionszusammenhang im Deutschen Orden bezogen werden. Die ‚Hieronymuslegende‘ lässt sich als symbolische Aufwertung der Schriftlichkeit gegenüber der vermeintlichen Mündlichkeit des Spruchs lesen.
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Der ‚Legendenteil‘ verhandelt immer wieder das Verhältnis von Identität, Gemeinschaft und Heiligkeit. Dabei wird der Ortswechsel, der immer den Beginn des Einsiedlerlebens der Wüstenväter darstellte, häufig dadurch ersetzt, dass die Figuren sich verändern und unerkannt am selben Ort leben können. In den Jungfrauenlegenden im ‚Väterbuch‘ tritt das Thema des Identitätswechsels besonders deutlich hervor, weil sie alle von einer Vermännlichung ihrer Protagonistin und damit von einer denkbar radikalen identitären Veränderung erzählen. Die beiden Paarlegenden konkretisieren das Thema der Identität jeweils in eine eigene Richtung: Der heilige Abraham von Kiduna ist eine Figur zwischen Eremitentum und Ritterschaft, während in der ‚Maria von Ägypten-Legende‘ unterschiedliche Entwürfe monastischer Identität verhandelt werden. Eustachius und Alexius sind schließlich Figuren, deren Askese eng mit weltlichen Beziehungen, besonders der Familie, verbunden ist. Die Legenden zeigen, dass weltliche und geistliche Gemeinschaften nicht immer als Ausschlussverhältnis gedacht werden müssen, sondern dass vielmehr auch Transformationen und Mischverhältnisse möglich sind. Am Ende einer langen Beschäftigung mit einem – aus moderner Perspektive vielleicht marginalen – Gegenstand steht, jedenfalls für den Verfasser dieses Textes, die Frage nach der Relevanz der Ergebnisse über das eigene Fach hinaus: Welche Bedeutung haben die Wüstenväter und die Erzählungen von ihnen im 21. Jahrhundert? Die Gesellschaften Mitteleuropas sind heute durch ein ungeheures Maß individuellen Konsums, die Allgegenwart von Kommunikationsmedien bei gleichzeitiger Vereinsamung und durch eine zunehmende Abschottung des westlichen Lebensmodells gegen den Rest der Welt geprägt. Es ist unter diesen Umständen vielleicht wichtig, sich zu erinnern, dass mit der christlichen Eremitenkultur ein historisches Gesellschaftsmodell existierte, das von Besitzlosigkeit und radikaler Gemeinschaftlichkeit geprägt war. Eine Gemeinschaftlichkeit, die so umfassend war, dass selbst Heiligkeit nur als Produkt der Gemeinschaft erscheinen konnte. Damit soll die monastische Kultur nicht romantisch verklärt werden. Die Klöster waren erfolgreiche ökonomische Einheiten mit teilweise gewaltigem gesellschaftlichem Einfluss. Monastisches Leben war nicht frei von Hierarchien, Gewalt und Unrecht. Doch bleiben einige der im ‚Väterbuch‘ entfalteten Gedanken auch heute bestrickend: Nur in der Gemeinschaft ist Erkenntnis möglich, der Verzicht für den anderen ist ein Gewinn, die Hölle ist die Einsamkeit, der bescheidene ‚Heide‘ ist wertvoller als der hochmütige Mönch, der beste Anführer tritt hinter die Gemeinschaft zurück. Im ‚Väterbuch‘ ist Heiligkeit in Gemeinschaft gegründet, und auch wenn man heute diesen Zusammenhang nicht mehr religiös verstehen muss, so ist es doch eigentlich wünschenswert, dass auch wir unser Heil immer wieder in der Gemeinschaft mit den anderen suchen mögen.
11 Anhang 11.1 Die Federzeichnungen der Straßburger Handschrift
Straßburg, National- und Universitätsbibl. (col. et photogr. BNU Straßburg), ms. 2326 (früher L germ. 351.2°), Bl. 15r
Bl. 16r
Abkürzungen
251
Bl. 17r
11.2 Abkürzungen ARG = Archiv für Reformationsgeschichte BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854– 1866. Colloquia Germanica = Colloquia Germanica: Internationale Zeitschrift für Germanistik DVjs = Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Euphorion = Euphorion: Zeitschrift für Literaturgeschichte Exemplaria = Exemplaria: A Journal of Theory in Medieval and Renaissance Studies GRBS = Greek, Roman, and Byzantine Studies GRM = Germanisch-Romanische Monatsschrift Jahrbuch des BKGE = Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte JECS = Journal of Early Christian Studies JÖB = Jahrbuch für Österreichische Byzantinistik JRS = The Journal of Roman Studies LexMa = Lexikon des Mittelalters, 10 Bde. Hrsg. von Bautier, Robert-Henri. München/Zürich bzw. München 1977–1997. LThK = Lexikon für Theologie und Kirche. 3. neu bearb. Aufl. 11 Bde. Hrsg. v. Kasper, Walter. Freiburg i. Br. 1993–2001. MEFRM = Mélanges de l’École française de Rome. Moyen âge, temps modernes Mlat. Jb. = Mittellateinisches Jahrbuch MS = Medieval Studies MThZ = Münchener theologische Zeitschrift Niederdeutsches Jahrbuch = Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung Paragrana = Paragrana: Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie PBB = Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur
252
Anhang
RLW = Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung. 3 Bde. Hrsg. von Fricke, Harald/Grubmüller, Klaus/Müller, Jan-Dirk/Weimar, Klaus. Berlin/New York 1997–2003. RQ = Römische Quartalsschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte RRR = Review of Religious Research TRE = Theologische Realenzyklopädie. 36 Bde. Hrsg. von Balz, Horst/Müller, Gerhard. Berlin/ New York 1976–2007. Viator = Viator Medieval and Renaissance Studies VL = Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 14 Bde. Hrsg. von Ruh, Kurt u. a. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/New York 1978–2008 (Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften). ZAC = Zeitschrift für Antikes Christentum/Journal of Ancient Christianity Zeitsprünge = Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit ZfdA = Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh = Zeitschrift für deutsche Philologie ZrP = Zeitschrift für romanische Philologie
11.3 Verwendete Literatur Quellen Athanasius: De incarnatione verbi. Einl., Übers. u. Komm. v. Eginhard P. Meijering. Amsterdam 1989. Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Köpke, Friedrich Karl. Quedlinburg/Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen NationalLiteratur 32). Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift. Hrsg. von Reissenberger, Karl. Berlin 1914 (Deutsche Texte des Mittelalters 22). Das Veterbûch. Erste lieferung: Einleitung. Antonius. Johannes. Hrsg. von Franke, Carl. Paderborn 1880. Des heiligen Papstes und Kirchenlehrers Gregor des Grossen vier Bücher Dialoge. Aus dem Lateinischen übers. von Joseph Funk. Kempten/München 1933 (Bibliothek der Kirchenväter 2. Reihe, Bd. 3). Die „Alemannischen Vitaspatrum“. Untersuchungen und Edition. Hrsg. von Williams, Ulla. Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 45). Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben. Der vollständige Text der Regel lat.-dt. Übers. u. erkl. von Georg Holzherr, Abt von Einsiedeln. 4. Aufl. Zürich 1993. Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz. 4. Aufl. Witten 2013. Henri d’Arci’s Vitas patrum. A Thirteenth-century Anglo-Norman Rimed Translation of the Verba Seniorum. Hrsg. von O’Connor, Basilides Andrew. New York 1949 (Studies in Romance Languages and Literatures 29, Catholic University of America). Jacobus de Voragine: Goldene Legende. Hrsg. von Häuptli, Bruno W. Freiburg i. Br. 2014.
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11.4 Sach- und Personenregister A Abraham, biblisch 20, 104, 221 Abraham von Kiduna 191, 214–222, 249 Abt 17, 93, 196, 204, 228–229 acedia 86 Achilles, Wüstenvater 154 Adhortationes sanctorum patrum siehe Apoththegmata Ägypten 11–15, 33, 79, 81, 107, 124, 129 Akkon 20–22 Alexandria 11–15, 78, 223 Alexius 38, 56, 191, 230, 237–244 Ammon/Amun, Wüstenvater 15, 160–162, 188–190, 244 Anachorese 15–18 Andreas, Apostel 38, 41, 182–184, 187, 248
Antiochenische Jungfrau 191, 211–214 Antoniterorden 77 Antonius der Große 11, 15, 76–102, 108, 214, 233, 244, 246–248 Apollonius, Wüstenvater 124–134, 141, 248 Apophthegmata 4, 16, 18, 28, 77, 93, 144–149, 186 Apostel 8, 10, 54, 64, 73, 81, 183 Arsenius der Große 165–172, 187, 244, 248 Askese 7–10 Athanasius von Alexandria 1, 11, 15, 27, 33, 68, 76–79 Augustinusregel 3, 19, 157 Augustinus von Hippo 71
266
Anhang
B Bekenner 49, 142 Bekleidung/Mantel 97–98, 181, 198, 217 Benediktsregel 19, 26, 155, 198 Bernhard von Clairveaux 71–72 Bordell 211–214, 217–221 Brief 65–67, 205, 210–211, 243–244 Brot 20, 65, 95–98, 119, 169–172, 178 Buße 60, 115, 117, 158, 167, 174, 177, 204–209, 222, 226 C Christus 3, 21, 49, 54, 69, 72–74, 105, 156 Clemens Alexandrinus 14 Commonitiones sanctorum patrum siehe Apophthegmata communio sanctorum 73, 132, 142, 163, 245, 247 confessor siehe Bekenner Copres, Wüstenvater 110, 134–140, 248 Crossdressing 192–195 Cyprian 9 D Dämonen 76, 80, 89–92, 115 Demut 61–64, 155–160 Deutscher Orden 20–24, 30, 40, 44–46, 67, 71, 123, 184, 221, 248 Deutscher Orden, Regel 20–22 Dominikus 70–72 Drache 217–221 E Ehe, keusche 189, 241, 244 Einsiedlerin 175, 214 Emotionen 58, 73, 93, 126, 152, 225, 243 Engel 17, 73, 87, 97, 120, 127, 132, 157, 170, 178, 181, 197, 226–227, 247 Esel 184–185 Eucharistie 169–172 Euphrosyna 191, 195–204, 209, 244 Eustachius 191, 230–237, 245 Evagrius von Antiochia 18, 27, 79, 94 Evagrius, Wüstenvater 162
F Fasten 9, 116, 157, 177, 190, 201 Faszinationstyp Hagiographie 30 Finalität 120–121, 141–143, 248 Franziskus 70–72 Friedrich II. 22 G Gebet 17, 165–166 Gennadius von Massilia 25 Gerontikon siehe Apoththegmata Goldbulle von Rimini 22 Gottfried von Straßburg 4 Grab 90, 97, 111, 113, 119, 135, 174 H Hartmann von Aue 4, 38, 51, 59 Heilige, das 47, 52 Heinrich von Veldeke 51 Helenus, Wüstenvater 110 Henri d’Arci 32 Hermopolis 124 Hieronymus, Kirchenvater 1, 15, 18, 27, 33, 47, 70, 79, 94, 184–186, 230–231, 248 Hildebert von Lavadin 222 Hiob 233, 235 Hirsch 233 Historia Lausiaca 17, 27 Historia monachorum 18, 27, 33 Hochzeit zu Kana 213 Hohelied 209 Hölle 74, 162 Hybridisierung 7, 38–39 I Identität 188, 245 imitatio Christi 124–128, 134, 141, 148, 201 Inkluse 207 intercessor 113, 184 Isidorus, Wüstenvater 140, 180 J Jerusalem 22, 107–108, 124, 223–226 Johannes Cassianus 19, 26 Johannes III. 148 Johannes von Ägypten 112–123, 126, 141, 248
Jolles, André 30, 48, 144 Jordan 214, 223, 226 Joseph, Wüstenvater 159 Jungfrauengleichnis 159, 192–195 Jüngstes Gericht 57, 67–74, 161, 191 K Kentaur 95 Kohl 139 Konrad von Würzburg 51 Konversion 103, 131, 206, 224, 227, 232 Krankensalbung 115 L Legenda aurea 35, 41, 47, 247 Lehrer 80, 83–86, 92–94, 116, 120, 127, 177, 180–182, 187 Liber geronticon siehe Apophthegmata Logik 155 Löwe 97, 184–185 Luhmann, Niklas 52 M Macarius der Große/der Ältere 15, 149, 165, 172–180, 187, 248 Macarius von Alexandria/der Jüngere 15 Makkabäer 20 Mantel siehe Bekleidung/Mantel Marcella 18 Margareta/Pelagius 191, 207–211, 244 Maria die Büßerin 191, 214–222 Maria, Jungfrau 71, 225 Maria Magdalena 191, 206, 222 Maria von Ägypten 27, 32, 35, 191–192, 222–230, 233, 244, 249 Martin von Tours 19 Martyrium 8–10, 49, 73, 85, 127–134, 142, 172, 184, 211, 213, 232 Martyrium, weißes 49 Metonymie 142 Minnefluss 74, 164 minne 39, 57–59, 67, 74, 96, 106, 109, 126, 152, 163–164, 247 Mission 129, 215 Mönchsviten 27–28, 101 Mord 174
Sach- und Personenregister
267
Moyses der Äthiopier 149, 165, 180–182, 187, 248 Muncius 135–136 Münze 65, 67 N Neues Testament 7 Nichtchristen/‚Heiden‘ 128–132, 137, 165, 179–180, 215–217, 221, 233 Nil 11–13, 129 Nitria 188 Nonnus 208 O Öl 114, 185 Opfer 170 Origenes 9, 14, 68, 166, 209 P Pachomius 15, 17, 27, 149 Palladius 17, 27 Passion 58, 69, 225 Passional 23, 35, 37, 40–46, 74 Paterikon siehe Apoththegmata Paula die Ältere 18 Paulus, Apostel 90, 110 Paulus der Einfältige 99–102 Paulus von Theben/der Einsiedler 94, 98, 102, 214, 246 Pelagia 27, 191, 204–206 Pelagius 204 Pelagius I. 148 peregrinatio 19, 103, 106, 240 Poimen/Pastor, Wüstenvater 28, 148, 159 Prußen 22–24, 184, 221 Pseudo-Methodius 70 R Rabe 98 Raum 10, 103, 108, 225 Recht 174 Reformation 25 Reinbot von Durne 38, 51 Reise 92, 104, 109–110 Reliquie 52, 238 Ritter 211–214, 220 Ritterorden 20, 135
268
Anhang
Rom 13, 18, 230, 241 Rosweyde, Heribert 1 Rudolf von Ems 38, 51, 59 Rufinus von Aquileia 18, 27, 34, 111, 149, 230 S Satyr 95, 96 Schönheit 167, 196, 202, 209, 219 Schriftlichkeit 108 Schwangerschaft 172, 196, 205, 207, 225 Sententiae patrum aegyptiorum siehe Apophthegmata Serapion, Wüstenvater 158 Siebenschläfer 36, 38, 41, 57, 64–67, 75, 191 Symeon der Stylit 64 Smaragdus 199 Soldatenheilige 232 Spiegel/speculum 149 Spruch siehe Apoththegmata Sulpicius Severus 19 T Tertullian 9 Teufel 27, 64, 70, 74, 77, 80, 83, 88–92, 105, 110, 118–119, 122, 125, 130, 149, 157–158, 176–179, 182, 188, 218–219, 226, 246 Thebaida, Kloster 140–141 Thebais 12, 109–110 Tiere 129 Tischlesung 59 Transfer 144
Transformation 2, 7, 247 Transsubstantiation 169 Trinität 59 V Verba seniorum siehe Apoththegmata Vision, Engel 178 Vision, Jenseits 132 Vision, Jüngstes Gericht 161 Vita Antonii 16, 18, 27–33, 34, 40, 76–102 Vita contemplativa 88 Vita Hilarionis 94 Vita Malchi 94 Vita Martini 19 Vita Pauli 27, 33, 94–98 Vitaspatrum, Alemannische 31 Vitaspatrum, Kölner 31, 35 Vitaspatrum, Südniederländische 31 Volkssprache 29, 150 W Weinen 119, 162, 166, 201, 217, 227, 243 Weintraube 173 Wolf 95, 246 Wolfram von Eschenbach 4 Wüste 10, 16, 104–112 Z Zacharias, Wüstenvater 181 Zeit 136 Zönobium 15–18 zorn 153–155 Zosimas 222–230, 233