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German Pages 309 [310] Year 2016
Heiligenverehrung und Namengebung
Heiligenverehrung und Namengebung
Herausgegeben von Kathrin Dräger, Fabian Fahlbusch und Damaris Nübling
ISBN 978-3-11-040366-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040376-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040381-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Dieser Sammelband geht mehrheitlich aus Vorträgen hervor, die auf dem Festkolloquium „Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino: Heiligenverehrung und Namengebung“ gehalten wurden. Anlass des Kolloquiums war der 75. Geburtstag von Prof. Dr. Konrad Kunze, der sich viele Jahre mit diesem und zahlreichen weiteren Themen befasst hat. Dabei lassen sich in seinem Werk zwei Schwerpunkte erkennen: Einerseits hat sich Konrad Kunze als Mediävist intensiv mit der Heiligen- und Legendenforschung beschäftigt. 1966 promovierte über die Legende der heiligen Maria Aegyptiaca. Auch später blieb er in Forschung und Lehre der Hagiographie verpflichtet. In diesen Zusammenhang fällt auch sein Interesse für die mittelalterliche Architektur und Kunst, das sich in seinem Buch Himmel in Stein – das Freiburger Münster manifestiert. Andererseits hat er als Sprachhistoriker und Linguist maßgeblich die Namenforschung vorangetrieben, insbesondere durch seine zahlreichen Forschungen zur Verbreitung bestimmter Familiennamen(motive) bzw. grammatischer Phänomene (z.B. der Apokope) im Spiegel der Familiennamen, die anfänglich auf der Auswertung von Telefonbüchern und später der digitalen Daten der Telekom basierten. Mit Unterstützung seines Sohnes Richard Kunze entwarf er ein bis heute unübertroffenes Verfahren zur kartographischen Darstellung von Familiennamen. Zu den mit Hilfe dieses Kartierungsprogramms entstandenen Publikationen zählen auch Aufsätze zu Heiligennamen in Familiennamen, nämlich zu Václav/Wenzel und zu Jakobus. Von 2005 und 2015 leitete er mit viel Leidenschaft und großem Erfolg sein Lebenswerk, den durch die DFG geförderten „Deutschen Familiennamenatlas (DFA)“, dessen sechster und letzter Band demnächst erscheint. Die ersten drei Bände befassen sich mit grammatischen, die letzten drei mit lexikalischen Phänomenen. Der hier vorliegende Sammelband setzt sich zum Ziel, die Reflexe der Heiligenverehrung übergreifend in verschiedenen Bereichen der Onomastik zu beleuchten und damit neue Impulse kulturgeschichtlicher Forschung zu liefern. Die ersten fünf Beiträge gelten der Anthroponomastik: Aus den Anfängen der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien, die im Frühmittelalter liegen, berichtet Wolfgang HAUBRICHS. Der Überblick von Rosa und Volker KOHLHEIM zu Heiligennamen als Rufnamen setzt mit deren massenhaftem Auftreten im deutschsprachigen Raum ab dem 12. Jh. ein. Friedhelm DEBUS geht dem Niederschlag des Namens der biblischen Elisabeth und Elisabeth von Thüringen im Ruf- und Familiennamenbestand in Deutschland nach, Rita HEUSER und Kathrin DRÄGER verfolgen Familiennamen aus Aegidius, und Hubert KLAUSMANN vollzieht die großen südwestdeutschen Dialektgrenzen anhand von Familiennamen aus Heiligennamen nach. Den toponomastischen Teil eröffnet Karlheinz HENGST, der sich mit Namen von Kirchenheiligen sowie Heiligen und Sankt in Siedlungsnamen im östlichen deutschen
Vorwort
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Sprachraum beschäftigt. Kirstin CASEMIR setzt sich mit nordwestdeutschen Klosternamen auseinander, die auch häufig in Siedlungsnamen eingegangen sind. Heiligennamen in Schweizer Flur- und Siedlungsnamen sind Untersuchungsgegenstand von Thomas Franz SCHNEIDER. Mehrere Namenklassen umfassen die Beiträge von Dietlind KREMER und Simone BERCHTOLD. Dietlind Kremer geht dabei der Frage nach, ob und wie sich die spätmittelalterliche Heiligenverehrung im Osten Deutschlands in verschiedenen Namenkategorien aufzeigen lässt. Simone Berchtold legt ihren Schwerpunkt auf Heiligennamen in Familiennamen der Schweiz, bietet aber auch einen Ausblick auf andere Namenklassen. Fabian FAHLBUSCHs Beitrag zu Heiligen in Apothekennamen ist an der Schnittstelle zwischen Toponymie und Ergonymie angesiedelt. Sandra REIMANN befasst sich mit Heiligennamen als Markennamen, speziell mit der Benennungsmotivation. In seinem abschließenden Beitrag betrachtet Albrecht GREULE Heiligennamen in der volkssprachlichen Liturgie, und zwar unter textkonstitutiven bzw. textpragmatischen Aspekten. Unser Dank geht an die Thyssen-Stiftung, die uns die Ausrichtung des Kolloquiums ermöglicht hat, sowie an Anne Rosar für das Layout und an Sara Tinnemeyer für die gründliche Korrekturlektüre. Daniel Gietz vom de Gruyter-Verlag hat freundlicherweise die verlegerische Betreuung übernommen. Mainz, im Juni 2016 Kathrin Dräger
Fabian Fahlbusch
Damaris Nübling
Inhalt Vorwort ....................................................................................................................... V
Kathrin Dräger Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino Eine Einführung zum Thema Heiligenverehrung und Namengebung ..........................1 Wolfgang Haubrichs Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien ........... 17 Rosa Kohlheim/Volker Kohlheim Heiligennamen als Rufnamen ..................................................................................... 41 Friedhelm Debus Die biblische Elisabeth und Elisabeth von Thüringen im Spiegel der deutschen Namengebung ............................................................................................................. 67 Rita Heuser, Kathrin Dräger Gilles, Schillo und Jülg Der Heiligenname Aegidius in Familiennamen in Deutschland ................................. 89 Hubert Klausmann Familiennamen aus Heiligennamen und die großen südwestdeutschen Dialektgrenzen .......................................................................................................... 109 Karlheinz Hengst Namen von Kirchenheiligen sowie Heiligen und Sankt in Siedlungsnamen im östlichen deutschen Sprachraum ............................................................................... 121 Kirstin Casemir Nordwestdeutsche Klosternamen als Namenkategorie mit Besonderheiten ............ 149 Thomas Franz Schneider Hagiotoponyme im Kanton Bern .............................................................................. 177 Dietlind Kremer Heiligenverehrung und ostmitteldeutsche Namen..................................................... 197
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Inhalt
Simone Berchtold Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt und Co. Heiligennamen in Familiennamen und anderen Namenklassen der Schweiz ........... 223 Fabian Fahlbusch Maria, Heil der Kranken Heilige in Apothekennamen ..................................................................................... 257 Sandra Reimann Sankt Martin und Sankt Mokka Echte und unechte Heiligennamen als Markennamen .............................................. 271 Albrecht Greule Heiligennamen in der volkssprachlichen Liturgie .................................................... 293
Kathrin Dräger
Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino Eine Einführung zum Thema Heiligenverehrung und Namengebung Zusammenfassung: HeiligenN begegnen im Namenschatz christlich geprägter Kulturen sehr zahlreich und in allen Namenklassen. Dabei variiert der Forschungsstand innerhalb der verschiedenen Namenklassen erheblich. Untersuchungen liegen v.a. für die Anthroponomastik und Toponomastik vor, während viele weitere Bereiche noch völlig unerforscht sind. Abstract: A considerable number of saint names can be found in the name inventory of Christian cultures; names of saints exist among all name classes. The current state of research, however, varies significantly according to name class. There are mainly studies in the area of anthropomastics and toponomastics, while many other areas are entirely uninvestigated.
1 Relevanz des Themas Namen von Heiligen1 sind vom Mittelalter bis in die Gegenwart äußerst zahlreich in alle Bereiche der Namengebung eingeflossen. Die Namengeber wählten den Namen eines bestimmten Heiligen, um diesen zu verehren oder die benannten Personen, Orte, Institutionen usw. in den Schutz des Heiligen zu stellen. Wenn sie einmal ins sprachliche Inventar eingegangen sind, wurden und werden HeiligenN auch weiterverwendet, ohne einen direkten Bezug zum jeweiligen Heiligen herzustellen. So lassen sich beispielsweise die weitaus meisten der jeweils zehn beliebtesten Mädchen- und JungenN der Jahre 1997 bis 2014, wie Dominik, Lukas, Marie, Johanna usw., auf Heilige oder biblische Gestalten zurückführen.2 Dabei dürfte etwa für die Wahl des RufN Niklas in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht die Verehrung des heiligen Nikolaus ausschlaggebend gewesen sein. Statt dessen spielten andere Faktoren wie Wohlklang
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Im Folgenden werden auch Namen von biblischen Gestalten unter die HeiligenN subsumiert, obwohl es sich nicht um kanonisierte Heilige handelt. Beliebtheitslisten der Gesellschaft für deutsche Sprache unter http://gfds.de/vornamen/beliebtestevornamen (23.02.16).
Kathrin Dräger
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usw. eine Rolle. Ursprünglich sind jedoch diese Namen durch die Heiligenverehrung in unseren Namenschatz eingedrungen. Namenklasse
Beispiele
Anthroponyme RufN
Niklas, Sophie
FamN
Petersen, Klausmann (< Nikolaus), Debus (< Matthäus)
Toponyme LänderN
Dominikanische Republik, Mauritius, Philippinen, San Marino
SiedlungsN
Cornelimünster, Sankt Wendel, Weihenstephan
GewässerN
Canal de Saint-Gilles, Wolfgangsee, Quintus-Quelle
BergN
Monte San Salvatore, Gotthardmassiv
FlurN
Jakobsacker, Johannswiese
BergwerksN
Barbarastollen
StraßenN
Wendelinstraße, Sankt-Johannes-Straße
GebäudeN
Sankt Blasischer Hof (HäuserN); Dreikönigshof (GasthausN); Barbara-, Hubertus-Apotheke (ApothekenN); Klinik Sankt Augustin, Sankt-JosefsKrankenhaus (KrankenhausN); Sankt Maximin, Sankt Gallen (Namen von Kirchen, Kapellen, Klöstern)
Ergonyme WarenN
Bonifaz (Käse), San Pellegrino (Mineralwasser)
ArzneimittelN
Sankt Yves Augenbalsam (historisch)
UnternehmensN
Selle San Marco (italienischer Fahrradsattelhersteller)
InstitutionsN
Kindergarten Sankt Johannes, Sankt-Ursula-Gymnasium (Bildungseinrichtungen); Sankt-Sebastianus-Schützenbruderschaft (Vereine)
KunstwerkN
Haydns Cäcilienmesse (Musik)
VerkehrsmittelN
Santa Maria (Columbus’ Schiff), Christophorus (Rettungshubschrauber)
Praxonyme
Michaelismesse (Jahrmarkt)
Phänonyme
Kyrill (Orkan), Luciaflut Tab. 1: Beispiele für HeiligenN in den verschiedenen Namenklassen
HeiligenN finden sich in allen Namenklassen, die in der Einführung zur Onomastik von NÜBLING/FAHLBUSCH/HEUSER (2015) genannt werden, wie Tabelle 1 zeigt. Deutlich wird, dass Heilige im alltäglichen Namenschatz christlich geprägter Kulturen omnipräsent sind. Dieses Phänomen wurde durchaus für einzelne Namenarten, aber noch nie in einem Gesamtüberblick thematisiert.
Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino
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2 Forschungsstand HeiligenN in den in Tabelle 1 genannten Namenklassen sind in sehr unterschiedlichem Maß, teilweise aber noch gar nicht erforscht. So fehlen bislang Untersuchungen zu HeiligenN in Ergonymen, Praxonymen, Phänonymen und Zoonymen. In der Toponomastik ist die speziell auf HeiligenN ausgerichtete Forschung weitgehend auf die SiedlungsN beschränkt. Im in dieser Hinsicht am besten erschlossenen Bereich, der Anthroponomastik, gibt es vor allem Untersuchungen zu einzelnen HeiligenN in Rufund FamN oder zu bestimmten Regionen, aber keine systematische Darstellung, die den aktuellen Forschungsstand widerspiegelt. Im Folgenden wird der Forschungsstand im Bereich der Anthroponyme und der Toponyme näher betrachtet.
2.1 Anthroponyme RufN nach Heiligen wie Gregor oder Katharina und biblischen Gestalten wie Noah, Sarah, Johannes oder Magdalena traten im deutschen Sprachgebiet etwa seit dem 12. Jh. in Konkurrenz zu den traditionellen germanischen Namen wie Dietrich oder Brunhild. Die Tendenz zur Vergabe von fremdsprachigen RufN drang zunächst vom romanischen Gebiet in den Westen und in Teile des Südwestens des deutschen Sprachgebiets ein. Von dort breitete sie sich entlang einer Hauptachse durch Mitteldeutschland nach Osten hin aus. Der Norden und Südosten folgten etwas später nach. Seinen Höhepunkt erreichte dieser Prozess im 15. und 16. Jh. Diese Entwicklung steht in Zusammenhang mit der enormen Intensivierung der Heiligenverehrung seit dem hohen Mittelalter. Die Namen stammen vor allem aus der hebräischen, griechischen und lateinischen Sprache und wichen in ihrer Lautung und Betonung meist erheblich von den deutschen Sprachverhältnissen ab. Die mittelalterlichen Sprecher und Schreiber haben sie früh graphematisch, phonologisch und morphematisch angepasst, vor allem durch Verlagerung des Akzents auf die erste Silbe, wie es im Deutschen üblich ist (s. DRÄGER 2013a: 31–35 mit weiterer Literatur). Dies soll am Beispiel des aus dem Lateinischen übernommenen RufN Margareta (lat. margarita ‘Perle’, aus griech. margarítes ‘Perle’) illustriert werden, der im Mittelalter als Name der heiligen Margarete von Antiochia (3./4. Jh.) Verbreitung fand (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2014: 281): Die Betonung liegt im Lateinischen auf der vorletzten Silbe. Wenn die Betonung auf die erste Silbe verlagert wurde, entstanden Kurzformen wie Margret oder Marga.
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Kathrin Dräger
Durch Beibehaltung der fremden Betonung kam es zu Kurzformen wie Grete, mit zusätzlicher Suffigierung Gretel oder Gretchen (vgl. KUNZE 2004a: 34–35).3 Über die RufN hat sich die Heiligenverehrung dann auch ‒ zwar indirekt, aber entscheidend ‒ auf die Entstehung des FamN-Schatzes ausgewirkt. So bilden die heutigen FamN den mittelalterlichen RufN-Bestand zur Zeit der FamN-Entstehung ab, und zwar weitgehend in gesprochensprachlicher Form. Für die Forschung ergibt sich als zentrales Thema, inwieweit sich aus der zeitlichen und räumlichen Verbreitung von Ruf- und FamN Rückschlüsse auf die Schwerpunkte und Radien der Verehrung entsprechender Heiliger ziehen und mit der Kult- und Patrozinienforschung in Verbindung setzen lassen. Maßgeblich für die Verbreitung der einzelnen fremdsprachigen RufN und damit auch der auf sie zurückgehenden FamN ist, ob der oder die betreffende Heilige im ganzen deutschen Sprachgebiet verehrt wurde oder lediglich in einem begrenzten Gebiet. Wenn Heilige nur regional verehrt wurden, treten entsprechende RufN und die von ihnen abgeleiteten FamN außerhalb des Kultgebiets selten auf. Beispielsweise konzentrieren sich Patronyme aus Vollformen des RufN Lambert in Deutschland im westlichen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland (DFA II: K. 9; DRÄGER/KUNZE 2014: Abb. 15). Dies deckt sich ungefähr mit den Verehrungszentren des heiligen Lambert von Lüttich (ZENDER 1959: K. 1). Beispiele für überregional verehrte Heilige sind Johannes oder Nikolaus, die die Namengebung im gesamten deutschen Sprachgebiet geprägt haben. In diesem Zusammenhang hat NIED (1924: 29) eine „hagiologische Namengeographie“ gefordert. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Namengebung nicht einfach Reflex der volkstümlichen Heiligen- und Reliquienverehrung ist, sondern ihren eigenen Verbreitungsregeln gehorcht (DRÄGER 2013a: 35). Bisherige Untersuchungen zu HeiligenN im deutschen Sprachgebiet betreffen v.a. HeiligenN im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen RufN-Bestand oder in FamN in einzelnen Orten und kleineren Regionen.4 Außerdem liegen Untersuchungen zu räumlichen und zeitlichen Etappen des Aufkommens von HeiligenN vor,5 zum Mengenverhältnis von germanischen und fremden RufN,6 zu soziologischen Aspekten der
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Zur Kurzformenbildung aus Johannes im Schweizerdeutschen s. den Beitrag von BERCHTOLD in diesem Band. U.a. FREY (1938); HARTIG (1967); R. KOHLHEIM (2006); V. KOHLHEIM (1977); V. KOHLHEIM (2000), V. KOHLHEIM (2003); KOHLHEIM/KOHLHEIM (2007); KRÜGER (2001); LITTGER (1975); ROSENKRANZ (1965); STEFFENS (1996); WAGNER (1913). U.a. V. KOHLHEIM (1988); V. KOHLHEIM (1996a); V. KOHLHEIM (1996b); KREMER (1986). U.a. V. KOHLHEIM (2011); STEFFENS (2008).
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Namenwahl bei Adeligen, Bürgern und Bauern7 sowie zum Niederschlag der HeiligenN im Bei- und FamN-Bestand.8 So zählen die Paradigmenwechsel in der RufNGebung, also das Aufkommen bzw. Abklingen christlich motivierter Namen, zu den Standardthemen namenhistorischer Arbeiten. Darüber hinaus werden Geschichte, Varianz und Verbreitung einzelner HeiligenN in Ruf- und FamN sowie ihre lautliche Entwicklung bei der Integration ins Deutsche verfolgt (s. Anm. 11). Einige FamNLexika liefern umfangreiche Listen mit FamN zu einem bestimmten HeiligenN,9 die allerdings unzuverlässig und überarbeitungsbedürftig sind. Das ist ein wichtiges Desiderat der FamN-Forschung.
K. 1: Verbreitung von FamN zum RufN Kilian (vgl. DFA VI)
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U.a. BORTOLAMI (1977); V. KOHLHEIM (1977); V. KOHLHEIM (1995); MITTERAUER (1993); SEI(2001). U.a. KOHLHEIM/KOHLHEIM (2001); NIED (1924). V.a. GOTTSCHALD (2006); HEINTZE/CASCORBI (1933); LINNARTZ (1958).
BICKE
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K. 2: Verbreitung des RufN Kilian
Weil die Datenerhebung schwierig ist, sind präzise Studien zur räumlichen Verbreitung bestimmter HeiligenN im RufN-Bestand selten.10 Bei den FamN liegen einige wenige genauere Untersuchungen zum Verhältnis von Heiligenverehrung und Namengebung vor.11 Über diese Studien hinaus wird v.a. der in Arbeit befindliche sechste Band des Deutschen Familiennamenatlasses (DFA) zu FamN aus RufN reichlich miteinander vergleichbares Material liefern. Karte 1 zeigt als Beispiel FamN aus dem RufN Kilian, der durch die Verehrung des gleichnamigen Missionsheiligen populär
10 Z.B. TRIER (1924). 11 Beispiele für neuere Untersuchungen: DEBUS (2011) zu Matthias/Matthäus; DEBUS (in diesem Band) zu Elisabeth; DRÄGER (2013a) zu Nikolaus; GOOSSENS (2001) zu Hubertus; GOOSSENS (2004) zu Petrus; HEUSER/DRÄGER (in diesem Band) zu Aegidius; KUNZE (2004b) zu Wenzel; KUNZE (2005) zu Jakobus; KUNZE/NÜBLING (2009) zu Georg (und *Audulf).
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wurde.12 Die Verbreitung der FamN fällt tendenziell mit den Zentren der Verehrung des heiligen Kilian zusammen, der Schutzpatron von Franken, der Bistümer Würzburg und Erfurt sowie der Städte Würzburg und Heilbronn ist.13 Einige Themen sind noch nahezu unbearbeitet, beispielsweise, wie stark die Heiligenverehrung als bewusstes Namengebungsmotiv auch im 19. und 20. Jh. präsent war bzw. heute noch ist. So zeichnet sich der räumliche Schwerpunkt der Verehrung des heiligen Kilian im RufN-Bestand des Jahres 1998 deutlich ab, wie Karte 2 zeigt.14 Im Vergleich mit der FamN-Karte, die einen Rückschluss auf die mittelalterliche RufN-Gebung zulässt, zeigt sich, wie stark die Verbreitung mittlerweile eingeschränkt ist. Was die oben beschriebene Verbreitung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kultzentren des heiligen Lambertus sowie entsprechender FamN anbelangt, so deckt sich die Verbreitung des RufN Lambert nach Daten von 1998 frappierend mit diesen. Während sich der DFA sowohl in Band I und II als auch in Band VI u.a. graphematischen Fragestellungen widmet, ist dieser Bereich bei RufN noch unerforscht. Markant ist beispielsweise die Verbreitung des Namens des Heiligen Fridolin von Säckingen, der besonders in Südbaden, im Elsass und in der Nordschweiz verehrt wurde. Die seltenere Schreibung ist in der Pfalz, im Saarland und im RheinMain-Neckar-Raum konzentriert, während sich darüber hinaus im südlichen Baden-Württemberg und in Bayerisch Schwaben häuft (Karte 3). Über die Gründe für solche Schreibkonventionen kann bislang nur spekuliert werden.
12 Die Karte beruht auf der Datenbankabfrage (K|Ch?)(ie?|y)ll?(i|j|y|i?g)(a|o)n.* (≥ 10 Tokens). Sie ergibt 6 Types/4999 Tokens. Nach Abzug des slaw. FamN Kilianski 16 (v.a. Nordwestdtld.) verbleiben: Typ Kilian 4545: Kil(i/j)an 4521+10, Kylian 14. Typ Killian 372: Killian. Typ Chilian 66: Chilian. ‒ Zur Datenbank, zu den Kartierungsmöglichkeiten und zur Gesamtanlage des DFA s. DFA I, S. XXV-LXIII. 13 www.heiligenlexikon.de/BiographienK/Kilian.htm (07.03.16). 14 Datengrundlage von Karte 2 und 3 ist die Datenbank von Mario FRAUST, die auf Telefonfestnetzanschlüssen von 1998 beruht (www.gen-evolu.de) und die in die Such- und Kartierungsprogramme des DFA eingespeist wurde.
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K. 3: Verbreitung der RufN Fridolin und Friedolin
2.2 Toponyme Im Bereich der Toponyme ist das Thema der Benennung nach Heiligen v.a. hinsichtlich der SiedlungsN-Gebung schon verschiedentlich aufgegriffen worden. Dabei hängt die Benennung der Siedlung meist mit dem Patrozinium der jeweiligen Kirche bzw. des Klosters zusammen, wie bei Sankt Veit an der Glan, das nach dem Patrozinium des heiligen Vitus oder Veit der dortigen Pfarrkirche benannt ist. „Damit ist ein Ortsnamentyp geschaffen, der von Portugal bis nach Rußland Geltung erlangte und der auch in der Neuen Welt noch einmal besonders wirksam wurde“ (ZENDER 1957: 77). Die kirchengeschichtliche Patrozinien- und die volkskundliche Kultforschung sind also untrennbar mit der Onomastik verbunden.
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Nach einigen wenigen Studien vergangener Jahrzehnte, beispielsweise „Versteckte Heiligennamen in rheinischen Ortsbenennungen“ (MEISEN 1956) oder „Glaube und Kirche in den Ortsnamen von Hohenzollern“ (WALTER 1955), war das Thema HeiligenN in SiedlungsN längst nicht erschöpft. Einen Meilenstein setzte der Sammelband „Patrociny Settlement Names in Europe“ (TÓTH 2011). Er umfasst elf Beiträge aus verschiedenen Staaten und Regionen Europas, darunter für Deutschland HENGST (2011), CASEMIR (2011) und BUCHNER (2011), die SiedlungsN in Ostdeutschland, Nordwestdeutschland bzw. Baden-Württemberg und Bayern behandeln.
K. 4: Verbreitung von SiedlungsN mit Sankt
Im Laufe der Arbeit am vierten Band des DFA ist der Prototyp eines Kartierungsprogramms für SiedlungsN entstanden.15 Karte 4 zeigt die Verbreitung der mit Sankt
15 Zur Datenbasis und zu den Kartierungsmöglichkeiten s. DRÄGER (2013b: 297–298).
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gebildeten SiedlungsN in Deutschland (Stand: 2013).16 Es handelt sich um 120 verschiedene SiedlungsN, die insgesamt 165-mal vorkommen. Am häufigsten ist Sankt Johann, das neunmal auftritt, gefolgt von Sankt Georgen mit acht verschiedenen Siedlungen. Auf der Karte zeichnen sich Schwerpunktregionen dieses Namentyps ab, wie Bayern, der südliche Schwarzwald und das linksrheinische Gebiet. Auch der Nordwesten weist einige Sankt-Siedlungen auf, während der Nordosten fast frei davon ist. In den anderen Bereichen der Toponomastik liegen kaum Studien zum Einfluss der Heiligenverehrung vor. So enthalten auch FlurN HeiligenN, etwa wenn sich die Flur im Besitz oder in der Nähe einer Kirche oder nahe einem Bildstock befindet. Doch ist es in der FlurN-Forschung schwieriger als in der SiedlungsN-Forschung, direkte Benennung nach einem Heiligen von der nach dem Besitzer und Ähnlichem zu unterscheiden. Beispielsweise schreibt ZENDER (1957: 84): „Der Klospäsch kann sich auf den hl. Nikolaus wie auf einen Besitzer Klaus beziehen.“ Nicht erforscht sind auch HeiligenN in Namen für Verkehrswege. So werden Straßen, die zu einer Kirche führen, häufig nach deren Patron benannt, z.B. die Wendelinstraße zur Kirche Sankt Wendelin. Auch Passstraßen enthalten HeiligenN, wie St. Gotthard, San Bernardino, Passo Santa Barbara. Sehr stark hat sich die Verehrung des in der Moldau ertränkten heiligen Johannes (von) Nepomuk auf die Benennung von Brücken ausgewirkt. Nicht nur sakrale Gebäude wie Kirchen, Kapellen usw. werden nach Heiligen benannt, sondern auch profane Bauten, insbesondere Krankenhäuser und Apotheken. Hinsichtlich der GasthausN wies HOEBER 1934 auf die Bedeutung der Bibel als Quelle der Namengebung hin. Beliebt sind die Drei Könige, die Symbole der vier Evangelisten usw.
3 Ausblick Der vorliegende Band bereichert mit mehreren Beiträgen die bestehende Forschung zu HeiligenN im Bereich der Anthroponyme und Toponyme. Erstmals rücken auch Ergo- und Praxonyme ins Blickfeld der HeiligenN-Forschung, und zwar mit den Beiträgen von FAHLBUSCH zu ApothekenN, von REIMANN zu MarkenN sowie von BERCHTOLD, die die HeiligenN Alban in Winterthur und Jakob in Basel in Praxonymen und Ergonymen untersucht. Innovativ ist auch die textpragmatische Perspektive von GREULE in seinem Beitrag zu HeiligenN in der volkssprachlichen Liturgie. Ziel
16 Die Karte beruht auf der Datenbankabfrage .*(Sankt|St. ).*.
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dieses Forschungsüberblicks sowie des gesamten Bandes ist es, Inspirationen zur weiteren Erforschung der Hagionyme sowohl unter neuen Blickwinkeln als auch in bislang unbeachtet gebliebenen Namenklassen zu bieten.
4 Literatur BORTOLAMI, Sante (1997): Die Personennamen als Zeugnis für die Geschichte der Spiritualität im europäischen Mittelalter. In: Härtel, Reinhard (Hg.): Personennamen und Identität. Namengebung und Namengebrauch als Anzeiger individueller Bestimmung und gruppenbezogener Zuordnung. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“ Friesach (Kärnten), 25. bis 29. September 1995. Graz, 147–182. BUCHNER, Sabina (2011): Sankt Blasien – Sammarei – Helena. Place Names with Sankt in Bavaria and Baden-Wurttemberg. In: Tóth, Valéria (Hg.): Patrociny Settlement Names in Europe. Debrezin/Helsinki, 145–173. CASEMIR, Kirstin (2011): Patrociny Place Names in the North-Western Territories of Germany. In: Tóth, Valéria (Hg.): Patrociny Settlement Names in Europe. Debrezin/Helsinki, 117–144. DEBUS, Friedhelm (2011): Matthäus und Matthias in deutschen Familiennamen. Varianten und Verbreitung. In: Heuser, Rita/Nübling, Damaris/Schmuck, Mirjam (Hgg.): Familiennamengeographie. Ergebnisse und Perspektiven europäischer Forschung. Berlin/New York, 255–268, 373–377. DFA = Deutscher Familiennamenatlas (2009ff.). Kunze, Konrad/Nübling, Damaris (Hgg.). Band I: Graphematik/Phonologie der Familiennamen: Vokalismus. Band II: Graphematik/Phonologie der Familiennamen: Konsonantismus. Band III: Morphologie. Band IV: Familiennamen nach Herkunft und Wohnstätte. Band V: Familiennamen nach Beruf und persönlichen Merkmalen. Band VI: Familiennamen nach Rufnamen [in Arbeit]. Berlin u.a. DRÄGER, Kathrin (2013a): Familiennamen aus dem Rufnamen Nikolaus in Deutschland. Regensburg. DRÄGER, Kathrin (2013b): Groß-Zimmern, Groß Grönau, Großopitz – Zur Zusammenfügung von Siedlungsnamen mit unterscheidenden Zusätzen. In: Namenkundliche Informationen 101/102, 297–331. DRÄGER, Kathrin/KUNZE, Konrad (2014): Deutscher Familiennamenatlas Band 6: Patronyme. Konzept und linksrheinische Beispiele. In: Gilles, Peter/Kollmann, Cristian/Muller, Claire (Hgg.): Familiennamen zwischen Maas und Rhein. Frankfurt am Main u.a., 185–207.
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Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino
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le. Vorträge des Kolloquiums vom 18.-20. September 1998. Mainz/Stuttgart, 325– 339. KOHLHEIM, Volker (2003): Bremer Rufnamen im späten Mittelalter. In: Beiträge zur Namenforschung, Neue Folge 38, 249–261. Wiederabgedruckt in: Brendler, Andrea/Brendler, Silvio (Hgg.) (2011): Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim: Personennamen. Motivation – Diffusion – Integration. Hamburg, 113–125. KOHLHEIM, Volker (2011): Die Integration der nichtgermanischen Heiligennamen in das spätmittelalterliche deutsche Rufnamensystem. In: Haubrichs, Wolfgang/ Tiefenbach, Heinrich (Hgg.): Interferenz-Onomastik. Namen in Grenz- und Begegnungsräumen in Geschichte und Gegenwart. Saarbrücken, 607–616. Wiederabgedruckt in: Brendler, Andrea/Brendler, Silvio (Hgg.) (2011): Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim: Personennamen. Motivation – Diffusion – Integration. Hamburg, 143–152. KOHLHEIM, Rosa/KOHLHEIM, Volker (2001): Von Hartmann bis Janzen. Die Patronymika unter den 1000 häufigsten Familiennamen in Deutschland. In: Braun, Angelika (Hg.): Beiträge zu Linguistik und Phonetik. Festschrift für Joachim Göschel zum 70. Geburtstag. Stuttgart, 283–307. Wiederabgedruckt in: Brendler, Andrea/ Brendler, Silvio (Hgg.) (2011): Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim: Personennamen. Motivation – Diffusion – Integration. Hamburg, 295–319. KOHLHEIM, Rosa/KOHLHEIM, Volker (2007): Bayreuther Personennamen im späten Mittelalter. In: Archiv für Geschichte von Oberfranken 87, 63–94. Wiederabgedruckt in: Brendler, Andrea/Brendler, Silvio (Hgg.) (2011): Rosa Kohlheim und Volker Kohlheim: Personennamen. Motivation – Diffusion – Integration. Hamburg, 59–90. KOHLHEIM, Rosa/KOHLHEIM, Volker (42014): Duden. Das große Vornamenlexikon. Mannheim u.a. KREMER, Ludger (1986): Vornamenwandel zwischen 1400 und 1800. Die Bürgerbücher von Ahaus (1400–1811) und Ottenstein (1476–1664) als namenkundliche Quelle. In: Cox, Heinrich L. (Hg.): Wortes anst. Verbi gratia. Donum natalicium Gilbert A. R. de Smet. Leuven, 277–286. KRÜGER, Dietlind (2001): Conze, Jacoff und Gersche: Vornamen in Leipziger Stadtbüchern des Mittelalters. In: Eichhoff, Jürgen/Seibicke, Wilfried/Wolffsohn, Michael (Hgg.): Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung. Mannheim u.a., 113–125. KUNZE, Konrad (42004a): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. München. KUNZE, Konrad (2004b): Václav/Wenzel. Böhmens Patron in Deutschlands Familiennamen. In: Behr, Hans-Joachim/Lisový, Igor/Williams-Krapp, Werner (Hgg.): Deutsch-böhmische Literaturbeziehungen. Germano-Bohemica. Festschrift für Václav Bok zum 65. Geburtstag. Hamburg.
14
Kathrin Dräger
KUNZE, Konrad (2005): Jakobus in (nieder)deutschen Familiennamen. In: Röckelein, Hedwig (Hg.): Der Kult des Apostels Jakobus d. Ä. in norddeutschen Hansestädten. Tübingen, 181–213. KUNZE, Konrad/NÜBLING, Damaris (2009): Der deutsche Familiennamenatlas als Inspirationsquelle: Jürgen - Udolph - Sechzig - Fünf. In: Hengst, Karlheinz/Krüger, Dietlind (Hgg.): Familiennamen im Deutschen. Erforschung und Nachschlagewerke. (FS J. Udolph). Band I. Leipzig, 21–66. LINNARTZ, Kaspar (31958): Unsere Familiennamen. Band II: Aus deutschen und fremden Vornamen im Abc erklärt. Bonn/Hannover/Hamburg. LITTGER, Klaus Walter (1975): Studien zum Auftreten der Heiligennamen im Rheinland. München. MEISEN, Karl (1956): Versteckte Heiligennamen in rheinischen Ortsbenennungen. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 3, 20–58. MITTERAUER, Michael (1993): Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. München. NIED, Edmund (1924): Heiligenverehrung und Namengebung. Sprach- und kulturgeschichtlich mit Berücksichtigung der Familiennamen. Freiburg im Breisgau. NÜBLING, Damaris/FAHLBUSCH, Fabian/HEUSER, Rita (22015): Namen. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen. ROSENKRANZ, Heinz (1965): Zur Geschichte der Rufnamen im Vogtland von 1200 bis 1600. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 14, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1, 131–141. SEIBICKE, Wilfried (2001): Pietistische und andere christliche Namen: Zum Verhältnis von Vornamengebung und Religion. In: Eichhoff, Jürgen/Seibicke, Wilfried/ Wolffsohn, Michael (Hgg.): Name und Gesellschaft. Soziale und historische Aspekte der Namengebung und Namenentwicklung. Mannheim u.a., 104–112. STEFFENS, Rudolf (1996): Aspekte der Rufnamengebung im spätmittelalterlichen Mainz. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Neue Folge 105, 125– 158. STEFFENS, Rudolf (2008): Spätmittelalterliches Stadt-Land-Gefälle bei der Rufnamengebung. Die Übernahme der Heiligennamen in der Stadt Mainz und ihrem dörflichen Umland. In: Greule, Albrecht/Meier, Jörg (Hgg.): Die ländliche Gemeinde in der Neuzeit. Deidesheimer Gespräche zur Sprach- und Kulturgeschichte II. Berlin, 155–181. TÓTH, Valéria (Hg.) (2011): Patrociny Settlement Names in Europe. Debrezin/Helsinki. TRIER, Jost (1924): Der heilige Jodocus. Sein Leben und seine Verehrung, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Namengebung. Breslau. WAGNER, Fritz (1913): Studien über die Namengebung in Köln im zwölften Jahrhundert. 1. Teil: Die Rufnamen. Göttingen.
Petersen, Weihenstephan, San Pellegrino
15
WALTER, Michael (1955): Glaube und Kirche in den Ortsnamen von Hohenzollern. Hohenzollerische Jahreshefte 15/1, 9–47. ZENDER, Matthias (1957): Über Heiligennamen. In: Der Deutschunterricht 9/5, 72–91. ZENDER, Matthias (1959): Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kultgeschichte und Kultverbreitung. Düsseldorf.
Internet: www.gen-evolu.de (07.03.16). www.heiligenlexikon.de (07.03.16).
Wolfgang Haubrichs
Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien Zusammenfassung: Die westeuropäischen Anfänge der Namengebung nach regionalen und lokalen Heiligen liegen im 7./8. Jh. in der Romania und in germanischromanischen Interferenzgebieten, allen voran Ravenna (z.B. Apollinaris), Mailand (z.B. Ambrosius, Nazarius) und Piacenza (z.B. Antoninus). Diese Art der Nachbenennung nach nicht universalen Heiligen ist allerdings für die einzelnen Interferenzräume sehr differenziert zu betrachten. In der Île-de-France, vor allem bei den bäuerlichen Schichten, ist Germanus von Paris seit dem frühen 9. Jh. namenbildend, sicher unter dem Einfluss der großen Abtei Saint-Germain-des-Prés. In den Rhein- und Mosellanden wirken vor allem, aber nicht sehr ausgeprägt die heiligen Bischöfe von Trier (Maximinus, Eucharius, Paulinus) und Maastricht (Servatius, Amandus) nahe der Sprachgrenze bzw. in der Sprachinsel der ‘Mosella Romana’ gelegen. Im bairischromanischen Interferenzraum südlich der Donau dagegen findet sich Nachbenennung nach lokalen Heiligen kaum, dafür aber eine ausgeprägte biblische Namengebung, deren Herkunft noch dunkel ist. Abstract: The beginning of name-giving after regional and local saints in Western Europe can be found in the 7th to 8th century in occidental Romania and in areas of Germanic-Romance interference, above all in Ravenna (e.g. Apollinaris), Milano (e.g. Ambrosius, Nazarius) and Piacenza (e.g. Antoninus). However, this kind of namegiving after saints who are not universal has to be looked at discriminately for each area of interference respectively. In the Île de France – particularly among the rural class – Germanus of Paris has been considered a model for name-giving since the early 9th century, probably due to the influence of the Abbey Saint-Germain-des-Prés. In the areas of the Rhine and the Moselle the holy bishops of Trier (Maximus, Eucharius, Paulinus) and Maastricht (Servatius, Amandus) are the most prominent, although they are still few and far between. Both towns are situated close to the language border or the linguistic island of the ‘Mosella Romana’. Interestingly, in the BavarianRomance area of interference (south of the Danube) there is hardly any name-giving after local saints, instead, there is fairly developed biblical name-giving, of which the origin is still rather opaque.
18
Wolfgang Haubrichs
1 Der Interferenzraum der Rhein- und Mosellande Unter den in großer Anzahl, vor allem in den Rhein- und Mosellanden auftretenden nichtgermanischen PersonenN des frühen Mittelalters echte HeiligenN, also nach Heiligen des frühen Christentums und der Merowingerzeit nachbenannte Personen zu identifizieren, ist nicht leicht. Zum Einen gibt es beachtliche Überschneidungen mit traditionellen römischen PersonenN (etwa Constantius, Remigius, Genesius), mit christlichen oder älteren HeilsN („noms de bon augure“ nach GAUTHIER 1975: 82–93, §103–127 – wie Beatus, Salvius, Vitalis), mit theophoren Namen (wie Deodatus, Theodorus, Quodvultdeus) und auch mit DemutsN (wie Modestus, Benignus, Passivus), zum Andern ist die Interferenzfläche mit biblischen PersonenN im Bereich etwa der Apostel (Petrus, Paulus, Andreas, Jakobus, Maria) bzw. der Evangelisten (Johannes, Lukas, Markus, Matthäus) und einiger weniger anderer hochverehrter Gestalten (Johannes Baptista, Stephanus) durchaus breit, während andere, im eigentlichen Sinne ‘biblische’ Namen (wie Elias, David, Hiob) eher selten und regional differenziert verbleiben.1 In einen 1998 erstellten Katalog der nichtgermanischen Namen der Rhein- und Mosellande, der 152 Einträge für ‘Heiligennamen’ ergab, mussten daher mancherlei Ermessensentscheidungen im oben charakterisierten Sinne eingehen (HAUBRICHS 1998: 385–397). Nach ihrer Frequenz geordnet ergaben sich für das sechste bis neunte Jh. folgende Nennungen: Johannes 11, Martinus von Tours 9, Remigius von Reims 9, Stephanus 9, Benedictus, -a von Nursia 9, Andreas 5, Petrus 4, Genesius von Arles 4, Georgius (Byzanz) 4, Desiderius, -a (Vienne, Cahors) 4, Hieronymus 4, Jacobus 4, Laurentius (Rom) 4, Maximinus von Trier 3, Lupus (Troyes, Sens) 3, Germanus (Auxerre, Paris) 3, Paulus (mit hybrider Paul-sinda) 3, Caecilia (mit Caeciliana) 3, Anastasia (Byzanz) 3, Eligius, -a von Noyon, 3, Maurus (Schüler des Benedikt) 3, Thecla (Syrien) 3, Mauricius, -a von Agaunum 2, Paulinus von Trier 2, Clemens papa (Rom) 2, Maria 2, Petronilla (Rom) 2, Bartholomäus 2, Cyricus (Byzanz) 2, Brictius von Tours 2, Christoforus, -a (Byzanz) 2, Gregorius papa, -a (Rom) 2.
Nur einmal kommen vor: Eucharius von Trier, Innocentius (der erste Papst dieses Namens?), Antonia (Ägypten), Balsimius, -a von Reims, Dionisius, -a von Paris, Perpetua, Protasius von Mailand, Scolastica (Schwester des Benedikt), Servatius, -a
1
Vgl. u. 5. zu den ganz anders gelagerten Verhältnissen im altbairischen Raum südlich der Donau.
Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien
19
von Maastricht, Sibylla (Prophetin)2, Basilissa (Äbtissin von Oehren in Trier, †ca. 780)3, Helena von Trier, Hilarius von Poitiers, Luca(s), Macharius (Ägypten), Marcellus (Chalon-s-Saône, Paris), Sulpitius/Supplicius von Bourges, Agatha (Syrakus), Amandus von Maastricht, Caesarius von Arles, Isidorus von Sevilla, Mansuetus von Toul, die in den Messkanon aufgenommene karthagische Märtyrerin Perpetua, Simphorianus von Autun. Überrascht es, dass der spätere Spitzenreiter Johannes, den man gleichzeitig im 9./10. Jh. in Italien, vor allem in Ravenna in hoher Verbreitung (9. Jh. 10,1 Prozent; 10. Jh. 16,1 Prozent) erfährt, schon jetzt auch im Rhein-Mosel-Raum – mit 7,3 Prozent – vorne liegt (HAUBRICHS (im Druck))? Danach folgen nicht die Apostel Petrus (mit Petronilla), Paulus und Andreas (zusammen 9,2 Prozent), sondern die fränkischen Reichsheiligen Martinus von Tours (mit seinem Nachfolger Brictius 7,3 Prozent) und Remigius von Reims (5,9 Prozent), der in Gallien früh verehrte und in zahlreichen Kathedralpatrozinien (EWIG 1979: 297–302) sichtbare Erzmärtyrer Stephanus (5,9 Prozent) und – aber erst seit dem 8. Jh. greifbar – der Mönchsheilige Benedictus von Nursia und seine Schwester Scholastica (6,6 Prozent). Die ersten fünf HeiligenN umfassen 30,9 Prozent, die ersten zehn schon 44,7 Prozent. Für die Mosellande scheinen charakteristisch unter den weniger zahlreich vertretenen HeiligenN Maximinus, Paulinus und Eucharius von Trier, dort auch Konstantins Mutter Helena, dann Servatius und Amandus von Maastricht und Mansuetus von Toul. Bemerkenswert für die östliche Gallia sind die im Kontext Austrasiens zu sehenden Reimser Heiligen, natürlich voran Remigius, der Reimser Bischof, der den fränkischen Reichsgründer Chlodwig taufte, hier aber auch (in weiblicher Form) Balsimius, der Neffe des heiligen Basolus von Reims (7. Jh.), Patron von S. Baussant (Meurthe-et-Moselle), beide in Lothringen hochverehrt. Hierzu passen die zahlreichen Orte in Ostgallien, die nach Kirchen mit den Namen Domrémy (< *Dominus Remigius) und Dombasle, Domfessel (< *Dominus Basolus) benannt sind. Dabei darf man nicht vergessen, dass nach den erhaltenen Mönchslisten des Rheinlandes und der Mosellande aus dem 8./9. Jh. für die nichtgermanischen Namen insgesamt mit nicht mehr als 10 bis 15 Prozent zu rechnen ist (HAUBRICHS 2008: 122– 123).
2 3
Sibylle von Cumae galt wegen einiger auf Christus beziehbarer Prophetien selbst als den alttestamentarischen Propheten analoge Figur. Vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM II (1962: 954).
Wolfgang Haubrichs
20
2 Île-de-France In der Île-de-France, der Region rund um Paris, besitzen wir mit dem ‘Polyptique de Saint-Germain-des-Prés’ (SG), entstanden im Jahr 825/28 unter Abt Irmino, eine einzigartige onomastische Quelle, die an die zehntausend sowohl männliche wie weibliche Namen von coloni der Grundherrschaft der Pariser Abtei verzeichnet, zumeist sowohl der Eltern- als auch der Kinder-Generation (Edition bei HÄGERMANN 1993; vgl. DEVROEY 1989; ders. 1993; ders. 2006; ELMSHÄUSER/HEDWIG 1993; HAUBRICHS/GOETZ 2014: 149–155). Die meisten Namen sind etymologisch germanischer Provenienz, auch wenn eine germanische Sprache in der Île-de-France – die teilweise bilingualen Eliten in gewissem Maße ausgenommen – schon seit langem nicht mehr gesprochen wird. Freilich geht die Kenntnis der Morphologie germanischer Namen, ihre Zusammensetzung aus zwei Elementen, allmählich verloren, neue unetymologische Elemente werden durch falsche Segmentierung geschaffen, ebenso zunehmend HybridN, zusammengesetzt aus einem germanischen und einem romanischen Element (wie God-isma aus *gôda- ‘gut’ mit dem Elativ-Suffix -isma < -issima) oder umgekehrt (wie Crist-oinus < *Crist-wini- ‘Christ-Freund’ mit den Söhnen Crist-orius und Cristo-forus) (GOETZ/HAUBRICHS (im Druck); HAUBRICHS/GOETZ 2014: 129–133). Nur zwei regionale Heilige lassen sich in diesem riesigen Feld von Anthroponymen stärker nachweisen – also z.B erstaunlicherweise nicht der heilige Bischof von Paris Dionysius, dessen Abtei vor den Toren der civitas an der Seine längst ein bedeutendes Kultzentrum war. Einer dieser beiden Heiligen ist natürlich der Klosterpatron Germanus, ebenfalls Bischof von Paris (um 555–576).4 Er ist unter den coloni der Abtei ca. 15-mal in männlicher (II, 65; V, 80; VI, 18; IX, 16; XV, 16; XVI, 10; XXI, 36; XXII, 49) oder weiblicher (IV, 33; VI, 18; IX, 112; XV, 77; XVI, 15; XX, 8; XXIV, 126) Form vertreten, zusätzlich sechsmal in HybridN. Dass der heilige Germanus im Bewusstsein der familia von Saint-Germain-des-Prés fest und früh verankert war, zeigen die fünf hybriden romano-germanischen Bildungen (mit in der unbetonten Endsilbe des Erstelements abgeschwächtem Vokal): 1) SG IX, 17 und IX, 301 Germen-ari-us < German- + *harja- ‘Heer-Krieger’ 2) SG XX, 39 Germen-ing-us < German- + Suffix *-inga- (Zugehörigkeit ausdrückend)
4
Die Basilika von Saint-Germain-des-Prés stand als Grabkirche des Merowingers Childebert I. (†558/559) zunächst unter dem Patronat des heiligen Vincentius von Saragossa; nach der Bestattung des Germanus in dieser Kirche wechselte unter dem Eindruck des Kultes seiner Reliquien das Patronat. Vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM VI (1965: 257–259); POULIN (1989: 1346–1347); HEINZELMANN (1995: 533).
Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien
21
3) SG XIX, 16 Germen-berg-a < German- + *berga- ‘Schutz, Berge’ 4) SG VII, 15 Germen-trud-a < German- + *thrûdi- ‘Kraft’ 5) SG VI, 18 Germen-ulf-us < German- + *wulfa- ‘Wolf’ In einer Familie aus Epinay-sur-Orges (Essonne) ist der Patron der Abtei sogar als Instrument der Namenvariation eingesetzt: SG VI, 18 Germen-ulf-us mit seiner Gattin, einer colona S. Germani, hat die Kinder Germanus, Pasch-uari-us (abgeleitet aus Pasch-alis ‘der Österliche’ plus *warja- ‘Schutz’), Acle-hild-is (romanisiert < *Agilhildjô) und Germana. Für die Bedeutung des Heiligen im Pariser Raum spricht auch das Auftreten des Namens Germanus in der Oberschicht, z.B. im Jahr 886/910 im Eintrag eines Verwandtenverbandes um Bischof Askerich von Paris (DECKER-HEUER 1998: 55–57, 289–290; OEXLE 1978: 89). Der zweite in der Namenwelt der Grundherrschaft von Saint-Germain-des-Prés bemerkenswerte HeiligenN ist der des fränkischen Reichsheiligen Martinus von Tours (vgl. NAHMER 1987; ders. 1992; PRINZ 1965: 19–46): In männlicher Form erscheint er 22-mal und in weiblicher Form viermal. Dabei ist er ein großer Heiliger, aber auch ein fremder: Hybridbildungen mit Martin, die Nähe und Vertrautheit zeigen würden, kommen hier nicht vor.
3 Romanische und germanisch-langobardische Personennamen in Oberitalien Betrachten wir die Statistik romanischer PersonenN in Oberitalien (Tabelle 1), die um die Mitte des neunten Jh. – unterschiedlich nach einzelnen Regionen – noch gut über 30 Prozent einnahmen: Sie gründet sich hier auf zwei Mönchslisten aus Nonantula bei Modena und eine aus Leno, auf eine Eidliste (überliefert in einer Handschrift aus St. Paul im Lavanttal, Kärnten) aus diesem Raum – diese drei nur mit maskulinen Anthroponymen –, und auf urkundliche Namen aus der Emilia Occidentale (Piacenza, Parma, Reggio, Modena), aus Brescia und Mailand (ESDERS/HAUBRICHS im Druck: Abschnitt 3.3).
Wolfgang Haubrichs
22
Roma-
Germa-
nisch
nisch
Hybride gesamt
Rom.-Germ.
Germ.-Rom.
Eidliste St. Paul
31,8%
62,0%
5,6%
0,6%
5,0%
Leno um 830
33,6%
64,7%
1,7%
1,4%
0,4%
Emilia Occ. 820–870
36,3%
62,3%
1,4%
1,2%
0,3%
Nonantula 804/22
46,4%
50,7%
2,9%
2,5%
0,5%
Nonantula 860
40,6%
56,9%
2,5%
2,0%
0,5%
Mailand 820–870
31,6%
65,1%
3,4%
2,8%
0,6%
Verona 820–870
33,4%
59,7%
6,9%
6,9%
-
Brescia 851/56
23,7%
69,8%
6,5%
6,5%
-
Lucca 820–870
21,1%
73,7%
6,2%
0,9%
5,3%
Tab. 1: Statistik romanischer, germanischer und hybrider Namen im langobardischen Oberitalien
In der westlichen Emilia um Modena, Parma, Reggio und Piacenza (einschließlich der Liste aus Leno südlich Brescia und der Eidliste) halten die etymologisch germanischen PersonenN 61 bis 65 Prozent der GesamtN, die romanischen 31 bis 37 Prozent. Ähnlich in Mailand als Zentrum der Langobardia (Lombardei) mit 65 Prozent germanischen PersonenN versus 32 Prozent romanischen PersonenN, ähnlich in Verona mit 60 Prozent germanischen PersonenN versus 33 Prozent. Das stark langobardisierte Brescia hat dagegen einen geringeren Anteil an romanischen PersonenN (24 Prozent) und einen höheren an germanischen PersonenN (70 Prozent). Höher ist der Anteil germanischer PersonenN nur noch in der mittelitalienischen Toskana dieser Zeit: 74 Prozent gegen 21 Prozent im gut dokumentierten und daher mit einem gewaltigen Sample versehenen Lucca (vgl. ESDERS/HAUBRICHS (im Druck): Abschnitt 3.3). Die beiden Mönchslisten aus dem Großkloster Nonantula mit seiner starken Verankerung auch in den ehemals byzantinischen, onomastisch ganz stark romanisch, ja graecolateinisch geprägten Gebieten der Romagna und der Marken weisen dagegen einen etwas höheren Prozentsatz von 40 bis 46 Prozent an romanischen PersonenN (bei 51 bis 57 Prozent germanischen PersonenN) als das langobardische Oberitalien auf (vgl. HAUBRICHS (im Druck; Ravenna): table 12.1).
(21)
(14)
(12)
(10)
(9)
(9)
(8)
(7)
(6)
(4)
5,30%
3,50%
3,00%
2,50%
2,30%
2,30%
2,00%
1,80%
1,50%
0,50%
Dominicus
Ursus
Benedictus
Deusdedit
Lupus
Maurus
Laurentius
Leo
Andreas
Stephanus
-
(22)
5,50%
Petrus
Latinus
(29)
7,30%
Johannes
2,10%
2,60%
1,90%
1,90%
2,30%
3,80%
1,90%
4,00%
5,80%
7,30%
7,00%
13,80%
Nonantula I/II
-
(9)
(11)
(8)
(8)
(10)
(16)
(8)
(17)
(25)
(31)
(30)
(59)
2,50%
2,50%
2,50%
15,00%
7,50%
5,00%
5,00%
2,50%
15,00%
-
-
-
-
Leno
(1)
(1)
(1)
(6)
(3)
(2)
(2)
(1)
(6)
7,10%
1,80%
12,50%
7,10%
1,80%
1,80%
1,80%
21,40%
19,60%
5,40%
-
-
-
St. Paul
(4)
(1)
(7)
(4)
(1)
(1)
(1)
(12)
(11)
(3)
3,00%
5,00%
10,00%
0,90%
1,20%
2,70%
0,90%
5,00%
5,90%
6,20%
19,50%
20,70%
-
(10)
(17)
(34)
(3)
(4)
(9)
(3)
(17)
(20)
(21)
(66)
(70)
Emilia Occ.
2,00%
13,70%
7,80%
2,00%
7,80%
7,80%
2,00%
2,00%
7,80%
-
-
-
-
Brescia
(1)
(7)
(4)
(1)
(4)
(4)
(1)
(1)
(4)
4,50%
6,50%
0,80%
0,50%
3,80%
2,50%
3,50%
4,00%
4,00%
9,30%
9,50%
-
-
Mailand
(18)
(26)
(3)
(2)
(15)
(10)
(13)
(16)
(16)
(37)
(38)
Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien
23
Tab. 2: Statistik der verbreitetsten nichtgermanischen Namen im langobardischen Oberitalien
Wolfgang Haubrichs
24
Innerhalb der nichtgermanischen PersonenN Oberitaliens (vgl. Tabelle 2) zeichnen sich schon, wenn wir den Durchschnitt bilden, die künftigen onomastischen Spitzenreiter des Mittelalters ab. Hier (Tabelle 3) die ersten zwölf Positionen (Prozentangaben bezogen auf die Anteile innerhalb dieser ersten Namengruppe): absolut
relativ
1)
Johannes
186
2)
Petrus
137
21,9% 16,1%
3)
Ursus
89
10,5%
3)
Leo
89
10,5%
5)
Dominicus
87
10,3%
6)
Benedictus
59
7,0%
7)
Lupus
52
6,1%
7)
Andreas
52
6,1%
9)
Deusdedit
32
3,8%
10)
Maurus
24
2,8%
11)
Stephanus
22
2,6%
12)
Laurentius
20
2,4%
Tab. 3: Rangordnung der nichtgermanischen Personennamen im langobardischen Oberitalien
Bemerkenswert ist, dass sich auf den vorderen Plätzen die bereits in Spätantike und frühem Mittelalter häufigen Namen aggressiver Tiere wie Ursus, Leo und Lupus (zusammen 27,1 Prozent) finden – darin durchaus den germanischen PersonenN vergleichbar, in denen Wolf, Bär, Eber, Adler und Rabe eine große Rolle spielen (vgl. JOCHUM-GODGLÜCK 2010; dies. 2011). Hierin darf man durchaus einen Reflex der zunehmend militarisierten Gesellschaften der Zeit sehen. Es überrascht auch nicht, dass christliche, theophore Namen wie Dominicus (‘der zum Herrn Gehörige’) und Deusdedit (‘Gott gab’) einen bedeutsamen Platz einnehmen. Doch die überwiegende Anzahl der anthroponymischen Spitzenreiter sind in die Gruppe der HeiligenN einzuordnen. Darunter stehen auf den ersten Plätzen die Namen der aus biblischen Kontexten gekommenen Universalheiligen Johannes Baptista – samt dem gleichnamigen Evangelisten – und Petrus, der Apostelfürst (zusammen bereits 38 Prozent der Spitzengruppe), der in der frühen Ostkirche stark verehrte Apostel Andreas und der Erzmärtyrer Stephanus. Dazu kommt der bereits auf Platz 6 befindliche Name des Mönchsvaters Benedictus von Nursia, zu dem vielleicht der Name seines Schülers Maurus gehört, obwohl hier auch eine ethnische Semantik (‘der Maure’) mitspielen könnte. Und schließlich erscheint auf Platz 12 der vornehmste der römischen Märtyrer, der Diakon Laurentius, San Lorenzo, um den bereits im frühen Mittelalter ein
Aus der Frühzeit der Heiligennamen in Deutschland, Frankreich und Italien
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wahrer Heiligenroman gesponnen worden war, der ihn in Verbindung mit nahezu allen anderen frühen römischen sancti brachte. 9. Jh. 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22)
Johannes, -ia Petrus, -onia Leo etc. Dominicus, -icia Martinus Ursus etc. Andreas Maria Paulus Stephanus Sergius, -ia Vitalis, -ianus Bonio, -izo Gregorius Marinus Romanus Constantinus Apollinaris Deusdedit Georgius Honestus Severus
10,1% 6,3% 6,7% 5,4% 4,4% 4,2% 2,4% 2,9% 1,3% 2,7% 1,3% 2,2% 0,1% 4,0% 1,6% 1,1% 3,1% 0,7% 1,1% 1,3% 1,6% 0,5%
10. Jh.
16,1% 12,1% 8,1% 6,3% 5,0% 4,5% 3,9% 3,3% 2,9% 2,3% 2,0% 1,9% 1,8% 1,8% 1,5% 1,3% 1,1% 1,1% 1,0% 0,9% 0,6% 0,6%
Tab. 4: Rangordnung nichtgermanischer Personennamen in Ravenna, Romagna und Pentapolis
Im byzantinischen Teil Oberitaliens, in der Romagna, in Ravenna und der Pentapolis (Marken), wo es bis ins 9. Jh. so gut wie keine und danach nur geringe Prozentsätze germanischer PersonenN gab (9. Jh. 13,3 Prozent, 10. Jh. 23,2 Prozent: vgl. HAUBRICHS 2015: 107),5 begegnen ebenfalls (Tabelle 4) an bereits prominenter Stelle Ursus und Leo, der kultgebundene Dominicus, der hypokoristische Bonizo (zu Bonus) und der KaiserN Constantinus. Bei den HeiligenN dominieren wie im westlichen
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Vgl. HAUBRICHS (im Druck; Ravenna: table 12.1). Im 6. Jh. gab es gotische Namen in Ravenna; dazu LAZARD (1991; 2002).
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Oberitalien Johannes, Petrus, Andreas (und bei den Frauen Maria), doch begegnen weit vorne auch östliche Heilige (Sergius, Georgius) und ravennatische Heilige (Apollinaris, Vitalis, Severus, Marinus – vielleicht zu San Marino gehörig). Das heißt aber auch, dass es, während sich im langobardischen Oberitalien lokale und regionale Heilige nicht auf den ersten zwölf Positionen finden, im ehemals byzantinischen Umkreis von Ravenna, das eben bis ins späte 8. Jh. zum Ostreich gehörte, ganz anders war.6
4 Lokale Heilige und die Namengebung in Lombardei und Emilia Occidentale Aber Ansätze zu lokaler Heiligenverehrung finden sich in der Namengebung Oberitaliens seit dem 8. Jh. doch. Und zwar sind es heilige Bischöfe, die gerade im 8. und 9. Jh. regional wirksame, an Bischofsstädte gebundene Viten erhielten (PICARD 1988; zu Mailand speziell PICARD 1988: 17–108, 442–459, 604–632; LÖX 2013: 88–132). Es handelt sich um eine für die civitates Oberitaliens in der Endzeit des Langobardenreiches (vor 774) und der Frühzeit der neuen Frankenherrschaft typische Identitätssuche. Im Folgenden sollen einige jener identitätsbildenden, die Namengebung beeinflussenden Heiligen vorgestellt werden:
4.1 Mailand/Milano und Umkreis Allen voran steht nach Bedeutung, zeitlicher Priorität und Anzahl als speziell Mailänder Heiliger, verehrt im bedeutenden Kloster San Ambrogio, der große Kirchenlehrer und Bischof Ambrosius (†397; vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM I 1961: 945–990; JACOB 1993: 495–498; KRAFT 1980: 524–525) – mit mehr als 40 Belegen im 8. und 9. Jh. Zuerst erscheint er namenbildend in Mailand bereits 714/15 (CDL I Nr. 17; I Nr. 19; III Nr. 12): Träger des Namens ist eine bedeutende, in Königsnähe wirkende
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Im ravennatischen Bereich findet sich auch früh Namengebung, die auf den Kirchenpatron einer Pfarrei zurückzugehen scheint: Z.B. im ‘Breviarium ecclesiae Ravennatis (Codice Bavaro)’, das rechtliche Akte des 9. bis 10. Jh. enthält, wird in der Pfarrei S. Martino in Murisiano im Territorium von Montefeltro (heute Ginestreto) ein Martin(us) archip(res)b(ite)r de Murisiano genannt; im selben Territorium haben im Jahr 970/971 Stephanus sowie seine Söhne und nepotes Besitz der ravennatischen Kirche in der Pfarrei S(an)c(t)i Stephani q(ui) v(o)c(atur) ad Murulo inne (RABOTTI 1985: 18 no. 27, 152-155, app. II, no. 13).
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Persönlichkeit, Ambrosius inluster maiordomus (Hausmeier) und missus regis des Königs Liutprand. Im nahen Agrate bei der Königsstadt Monza finden sich 745 in einer Urkunde drei Personen namens Ambrosiu (im Obliquus), darunter ein clericus (CDL I Nr. 82). In der Nähe von Varsi südwestlich von Parma begegnet 753 aus der sozialen Mittelschicht des Langobardenreichs ein Ambrosius vir devotus (CDL I Nr. 109). Im Jahr 765 können wir mit einem Beleg den direkten Zusammenhang zwischen dem ambrosianischen Kultzentrum und der Namengebung eines unmittelbar an San Ambrogio attachierten Klerikers erkennen: ... oraturio Beati Ambrosii ... qui est fondatum prope civitate hac Mediol(ani), sito in loco ubi Turriglas nominatur, in qua Ambrosius v(ir) v(enerabilis) pr(es)b(iter) custus (Vorsteher) esse viditur ... (CDL II Nr. 190). Ein weiterer Ambrosius lässt sich im Jahr 769 in Campione nördlich Como am Luganer See fassen (CDL II Nr. 234); 788 im nahen Piacenza Ambrosius filius Aldoni filius monetario (GALETTI 1978: Nr. 2); vor 835 in Corte di Limonta bei Mailand ein missus Ambrosius (NATALE 1968: Nr. 61); in Ghisalba bei Bergamo nördlich Mailand 840 und 843 (im Dativ) ein Ambrosione als Schöffe (CDL II Nr. 262; NATALE 1968: Nr. 66); aus Bergamo Ambrosius et Rumvualdus Pergomates iudices (FALCONI 1979: Nr. 7). Schon 814 begegnen in Verona heredes quondam Ambrosio (CHLA LIX 2001: Nr. 5); 818/821 auch ein Grundherr Ambrosius im nahen Piacenza (CHLA LXIV 2003: Nr. 4). Ein Ambrosius scriptor, auch notarius, wirkt in Mailand zwischen 847 und 853 (CASTAGNETTI 2008: 64–65), ein weiterer mit diesem Amt bis 885 (NATALE 1968: Nr. 53, 62, 65, 74, 77, 80, 82, 83, 85, 90, 114, 118, 122, 130, 133, 134, 139, 144, 149, 152). Bei Bergamo begegnet zweimal im Jahr 848 ein Ambrosio scavinus (CORTESI 1988: Nr. 14, 24); wiederum in Mailand 859 A. de Pantelliate (NATALE 1968: Nr. 101); 859–882 A. advocatus und scavinus (NATALE 1968: Nr. 101, 102, 114, 146); 874–892 A. iudex (sacri palatii) (NATALE 1968: Nr. 126, 134, 155, 156); 885 A. monetario (NATALE 1968: Nr. 152). In der nahen Königsstadt Pavia findet sich 851/852 ein Ambrosius scavinus (NATALE 1968: Nr. 56); 852 Ambrosio scavinus in Cremona (PORRO-LAMBERTENGHI 1873: Nr. 180); 883 testiert ein A. in Piacenza (FALCONI 1959: Nr. 50). In der älteren Mönchsliste von Nonantula bei Modena 804/824 findet sich der Name dreimal, in der Liste von ca. 860 zweimal (SCHMID 1967: 33–53). Gar zwölfmal findet man den Namen Ambrosius im Verbrüderungsbuch von S. Salvatore und S. Giulia im nahen Brescia (GEUENICH/LUDWIG 2000: 249). In Bergamo erscheint 894 ein Graf Ambrosius (HLAWITSCHKA 1960: 123– 124). Im Jahr 905 vertreten zwei Notare und iudices mit Namen Ambrosius, die noch öfter im Mailänder Umkreis tätig sind – z.B. schon zwischen 874 und 879, wenn es dieselben Personen sind (CASTAGNETTI 2008: 65) –, das Mailänder Kloster San Ambrogio (CASTAGNETTI 2008: 75, 96–97, 181–185 no. 20). Zwischen 905 und 910 ist ein königlicher Ambrosius cancellarius in Corte Olona und Cremona tätig (FALCONI 1979: Nr. 39, 41, 42); in Genivolta bei Cremona im Jahr 919 Ambrosius missus domni imperatoris et filius bone memorie itemque Ambrosioni de loco Trigulo, 941 in
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Cremona Ambrosio vassus und missus (FALCONI 1979: Nr. 47, 53). Ein Archidiakon Ambrosius, Sohn des Aribert, tritt 941 auf (CASTAGNETTI 2008: 80). Im Jahr 949 sind in Cavriate an der Adda unweit Cremona gleich vier bis fünf verschiedene Ambrosii als Anrainer von Grundstücken fassbar (FALCONI 1979: Nr. 57); 960 Testat des Ambrosii qui et Bonizo de loco Munteriune bei Camisano nahe Cremona (FALCONI 1979: Nr. 62); 962 in Cremona in einer Urkunde Bischof Liutprands Testat Ambrosii filius quondam Rodeverti (FALCONI 1979: Nr. 63). Die Belege stammen fast alle aus Mailand oder dem lombardischen Umkreis von Mailand. Die Märtyrer Nazarius und Celsus, beide in Mailand jeweils in einer eigenen Basilika verehrt (vgl. BAUR 1962; BIBLIOTHECA SANCTORUM IX 1967: 780–785; FRANZ 1998: 712; LÖX 2013: 94–98, 165–166; PALESTRA 1975; PICARD 1988: 45–49), werden onymisch ebenfalls schon vor der Mitte des 8. Jh. fassbar: In Cairate an der Olona zwischen Mailand und Varese wirkt im Jahr 737 bei einem (allerdings evtl. verfälschten) Gerichtsurteil ein Nazarius qui et Amizo iudex mit (CDL I Nr. 63; NATALE 1968: Nr. 10). In einer in Pavia, der langobardischen Königsresidenz, im Jahr 769 ausgestellten Urkunde mit Mailänder Betreffen erscheint ein Nazarius monetarius als Mitgründer eines oratorium im nahen Monza (CDL II Nr. 231). In Carpaneto bei Piacenza fertigt 791 Nazario v(ir) c(larissimus) scriptur eine Urkunde (GALETTI 1978: Nr. 3); 825 erhält ein Ado filio b.m. Nazari Güter von der Kirche San Pietro in Varsi südlich Piacenza (GALETTI 1978: Nr. 23). Von hohem Interesse ist im Jahr 803 in Sertole bei Mailand als Besitznachbar einer Nazariuskirche ein Natze-ris, filius bone memorie Galde-ris de vico Tenebiaco, mit einem hybriden Namen, zusammengesetzt aus dem Erstelement von Nazarius und *-ris, romanisiert aus germanisch *rîkja ‘reich, mächtig’ (NATALE 1968: Nr. 36); dazu gehören im Jahr 865 die heredes quondam Natze-rissi de Tenebiago (NATALE 1968: Nr. 114). Der Bruder heißt bezeichnenderweise Natzarius. Diesem HybridN entspricht mit anderem germanischen Namenelement (romanisiert -vert aus *berhta-) 887 in einer in San Ambrogio ausgestellten Urkunde das Testat des Naze-verti de vico Octavo (NATALE 1968: Nr. 153). Von den Jahren 840 ab wird der Name im Großraum Mailand häufiger: In einer Mailänder Urkunde von 841 kommen zwei Personen mit dem Namen des Märtyrers vor – Natzari und als Zeuge Natzario de Colonea, d.h. aus Cologno Monzese (NATALE 1968: Nr. 69), letzterer auch 853 ebd. (NATALE 1968: Nr. 89). Geistliche Oberschicht repräsentiert im Jahr 845 ein Nazarius vir venerabilis, diagonus, filius quondam Meruli aus Monza (NATALE 1968: Nr. 78). In Cremona erscheint 841 in einer gerichtlichen Untersuchung als Brixianus, als Einwohner von Brescia, ein Nazarius (FALCONI 1979: Nr. 7). In Cavenago di Brianza bei Mailand testiert 873–879 Natzarius de Eporeno (NATALE 1968: Nr. 124, 132, 138). Ein Kaufmann dieses Namens wird fassbar im Jahr 897 mit einem Latzarus filius Natzarii negotiantis de Mediolano (NATALE 1968: Nr. 163). In einer Urkunde aus Cremona ist im Jahr 962 für einen Ort im Bergamasco nahe der Adda als Anrainer ein Nazarius genannt (FALCONI 1979: Nr.
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63). Zwischen 915 und 946 wird schließlich wiederum in Mailand – im Kontext von San Ambrogio – ein städtischer iudex Nazarius tätig (CASTAGNETTI 2008: 78, 83). Auch der seltenere Celsus erscheint im Mailänder Raum seit der ersten Hälfte des 9. Jh.: zuerst ein Zeuge Celso in der Metropole 837–847 (NATALE 1968: Nr. 62, 64, 80); im Jahr 843 ebd. ein Celsus humilis presbiter (NATALE 1968: Nr. 73), ein anderer Celsus presbiter im Jahr 893 (NATALE 1968: Nr. 157). Aus Lodi wirkt 859 bei einem Gerichtsurteil ein Celsus de finibus Laudense, d.h. aus Lodi, mit (NATALE 1968: Nr. 101); im Jahr 880 in Como bei einem Rechtsstreit zwischen San Ambrogio und dem Kloster Reichenau ein Celsus de Pescallo filius quondam Martini (NATALE 1968: Nr. 144). Unter einigen liberi aus dem Raum Civenna (nordöstlich Como zwischen Lago di Como und Lago di Lecco gelegen) befinden sich im Jahr 882 in Mailand Bonus, Lupus, Celso et Ado (NATALE 1968: Nr. 146). Die Mailänder Märtyrer und Stadtpatrone Gervasius und Protasius, deren Reliquien in San Ambrogio verehrt wurden (vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM VI 1965: 298–304; KÖTTING 1960; LÖX 2013: 159–163; PALESTRA 1975; PICARD 1988: 45–49; SEELIGER 1995: 541–542), haben ebenfalls bereits im 8. Jh. ihre Spuren in der Mailänder Namengebung hinterlassen: 742 begegnet in der lombardischen Bischofsstadt ein Protasius notarius (CDL I Nr. 78). Ab 842, aber sicher weiter zurückreichend, wird mit Leoni de Mediolano, filius quondam Protasi der Name dann häufiger in der Stadt (NATALE 1968: Nr. 70). Ein Mailänder Bürger mit DoppelN, Protasius qui et Atto, ist im Jahr 900 in Mailand und 918 in einem Rechtsstreit der Abtei San Ambrogio als Beisitzer tätig (CASTAGNETTI 2008: 185–187 no. 21; NATALE 1968: Nr. 163). Ein Protasius presbiter aus Olengo (bei Novara) begegnet im Jahr 881 (CHLA LVII 2001: Nr. 9). Der Märtyrergenosse Gervasius erscheint im Jahr 840 bei einem schon verstorbenen monetarius de Mediolano namengebend in einer Mailänder Urkunde (NATALE 1968: Nr. 67); ferner ein Notar Gervasius in der Stadt zwischen 856 und 879 (CASTAGNETTI 2008: 65; NATALE 1968: Nr. 96, 106, 109, 114, 124, 125, 132, 138); im letzteren Jahr als Zeuge auch ein Gervasius filius Rodoaldi (NATALE 1968: Nr. 138). Aus der näheren Umgebung wurde der in der Kathedrale von Novara westlich Mailands verehrte Bischof Gaudentius (vgl. BAUR 1960; BIBLIOTHECA SANCTORUM VI 1965: 65–67; FRANZ 1995b: 303; PICARD 1988: 459–463, 636–640; SALSOTTO 1937) als Name seit dem späteren 8. Jh. in der Lombardei fassbar, wenn auch noch schwach: Ein servus ... bone memorie Gaodentio trägt im Jahr 789 in Trevano bei Mailand den HeiligenN (NATALE 1968: Nr. 29); 807 erscheint ein Zeuge Gaudentioni filius bone memorie Victoriani de cives Comum, also aus Como (NATALE 1968: Nr. 39). Im Jahr 835 ernennt Erzbischof Angilbert von Mailand den Abt Gaudentius von San Vincenzo zum Abt des bedeutendsten Mailänder Klosters San Ambrogio (NATALE 1968: Nr. 58, auch Nr. 63, 64). In Mailand testiert im Jahr 842 ein Gaudentius (NATALE 1968: Nr. 71); 850 werden in Mailand die Schwestern Gaudentia et Gisel-
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berga filii Teodelinde (NATALE 1968: Nr. 85) genannt. In Limonta am Lago di Lecco testiert 884 Grigorioni de Beslacio filio quondam Gaudencioni (NATALE 1968: Nr. 148). Ein scabinus und notarius namens Gaudentius ist 922 für die Kirche von Santa Maria di Monte Velate im Territorium des nahen Varese tätig (CASTAGNETTI 2008: 101–102).
4.2 Modena, die civitas Geminiana in der westlichen Emilia Modena, westlich Bologna an der großen römischen Verkehrsachse Oberitaliens, der via Emilia, gelegen, wird nach dem Stadtpatron, dem wohl zweiten Bischof der Stadt (BIBLIOTHECA SANCTORUM VI 1965: 97–104; FRANZ 1995a: 441; PICARD 1988: 633– 635; ZERBI 1960) im 9. Jh. (816 und 830) auch civitas Geminiana genannt (PICARD 1988: 634; VICINI 1931: 18–19 Nr. 12). Als Kathedralheiliger erscheint Geminianus erst im Jahr 782 in einem Diplom Karls des Großen (MGH D. Karol. I Nr. 147). Das neue Großkloster Nonantula in der Diözese Modena wird 753 von Bischof Geminianus aus dem nahen Reggio geweiht, dessen Agieren in einer fremden Diözese eine besondere Beziehung des Bischofs zu Nonantula und zur Diözese voraussetzt (BORTOLOTTI 1886a: 257; SCHMID 1967: 15) – damit neben Ambrosius und Celsus von Mailand das älteste Beispiel einer Nachbenennung nach einem lokalen Heiligen in Oberitalien. Die schon erwähnte Urkunde Karls des Großen von 782 für die Kirche von Modena wird erwirkt ad petitionem venerabilis viri Geminiani sanctae Modonensis ecclesiae episcopi (MGH D. Karol. I Nr. 147). Ein der – hier militärisch engagierten – Mittelschicht Oberitaliens Angehöriger, ein miles, der den Namen des Stadtpatrons trägt, findet sich im Jahr 830 original in einem Diplom Ludwigs des Frommen und seines Sohnes Lothar für Iohanne presbiter s. Motin(ensis) eccl(esiae) filio boni militis Geminiani ... (VICINI 1931: 18). Ludwig II. im Jahr 857, Karl III. 883 und noch einmal Berengar I. 898 bestätigen die Güter, die Bischof Sigefredo an die Kanoniker von Reggio Emilia schenkte, ... massaricia etiam Ermenfridi presbiteri atque res Geminiani sacerdotis, quas in Regio vel Sableta habere visus fuit ... (CHLA XCI 2012: Nr. 10; MGH D. Ludwig II. Nr. 23; MGH D. Karl III. Nr. 85; TORELLI 1921: Nr. 28). In der dem 10. Jh. zuzuordnenden Konfraternitätsliste der Kathedrale von Modena finden sich zwei Namenträger: ... Geminiano ... Geminiano ... (bei 58 romanischen, 60 germanischen und einem hybriden PersonenN) (BORTOLOTTI 1886b: 32–37, 117– 121) In den gleichfalls dem 10. Jh. angehörigen, aber ältere Einträge enthaltenden Nekrolog von Modena (BORTOLOTTI 1886b: 37–38, 122–123) finden sich ebenfalls
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zwei Namenträger: Non. Ian. obiit Geminianus presbiter, ferner X Kal. Aprilis Geminian(o).
4.3 Piacenza und Reggio Die beiden ebenfalls – weiter westlich – an der Via Emilia gelegenen civitates von Reggio und Piacenza folgen im 9. Jh. mit Viten (PICARD 1988: 650–652; DESTEFANIS 2008: 14–40) und HeiligenN.7 Der Name des Savinus, des in eigener Basilika San Savino verehrten heiligen Bischofs von Piacenza (BIBLIOTHECA SANCTORUM XI 1968: 701–704; DESTEFANIS 2008: 250–253), erscheint in Piacenza seit der ersten Hälfte des 9. Jh.: 818 Testat des Savini filio Teoderoni clerico (CHLA LXIV 2003: Nr. 2); 834 (Schenker Savino (CHLA LXIV 2003: Nr. 15); 842 Savino de civi(tate) Placenti(a) (CHLA LXIV 2003: Nr. 20)); 855 Testat des Savini de Casteniola, evtl. Castagnola südlich Bobbio (CHLA LXIV 2003: Nr. 39); tätig 882 bis 919 in Piacenza ein Savinus notarius (BOUGARD 1996: Nr. 28), ein zweiter Notar desselben Namens zumindest 898 (CHLA LXV 2004: 13; Nr. 39; FALCONI 1979: Nr. 27, 38, 43). Der placentinische Märtyrer Antoninus, schon Ende des 4. Jh. bei Victricius von Rouen für die Heilkraft seiner Reliquien bekannt, wurde in eigener Basilika San Antonino (bis ins 9. Jh. Kathedrale) verehrt (BAUMEISTER 1993: 785; BIBLIOTHECA SANCTORUM II 1962: 83–86). Die ersten Nachbenennungen scheinen in Mailand mit seinen frühen Urkunden bereits 725 mit einem Zeugen Antoninus vir devotus (CDL I: Nr. 36) und 771 mit einer königlichen aldia ... nomine Hermetrudi filia Antonini aus dem nahen Locate zu beginnen (CDL I: Nr. 252); in Piacenza treten sie erst ab 827 (?) mit dem Testat des Antonini (CHLA LXIV 2003: Nr. 9) auf; im Jahr 834 ebenfalls Antonini (CHLA LXIV Nr. 15); 842 in Marano bei Parma (?) ... nos Ant(o)nino et Martino germanis filii quondam Vualdeperti ... (CHLA LXIV 2003: Nr. 23); 844 (?) Antonini de civitate Placencia testis (CHLA LXIV 2003: Nr. 29); 852 ein Antoninus de vico Novate unmittelbar nördlich der Metropole auch im benachbarten Mailand (NATALE 1968: Nr. 87); 858 in Piacenza Antoninus filio quondam Teoderissi (CHLA LXV 2004: Nr. 3); ebd. 870 Testat des Domnini filio Antonini (CHLA LIX 2006: Nr. 20); 871 in Torrano südlich Piacenza Zeuge Antonino (CHLA LIX 2006: Nr. 22); 872 in Piacenza Zeuge Deusdedit filio quondam Antonini de Foro (CHLA LXV 2004: Nr. 12); 873 ebd. Testat des Donusdei filio b. m. Antonini de Foro Placentino (CHLA LIX
7 Als Besonderheit, die freilich auch im Gebirgsland nördlich von Lucca festzustellen ist, sei notiert die Namengebung nach der civitas des Placentini filio Danieli (CHLA LXV 2004: Nr. 12).
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2006: Nr. 24); 873–883 ebd. Testat Antonini de Strada Placentini (CHLA LXV 2004: Nr. 16, 23, 25; FALCONI 1959: Nr. 50); 874–882 ebd. Testat Antonini de vico Corvoli (CHLA LXV 2004: Nr. 19, 36); 879 bei San Antonino Testat Antonini et Arneperti filio suo (CHLA LXV 2004: Nr. 27); 879 in Piacenza Testat Ioanni filio Antonini de civis Placencia und 880 wohl Testat des Vaters Antonini de civis Placencia (CHLA LXV 2004: Nr. 28, 31). Im Jahr 880 auch wirkt in Como bei einem Rechtsstreit zwischen San Ambrogio und Reichenau ein Antonini de Auregi mit (NATALE 1968: Nr. 144). Für 891 lässt sich das Testat des Antonini de Fontana aus einem Ort in der Nähe von Piacenza fassen (BOUGARD 1996: Nr. 15); 895 Zeuge Antoninus (CHLA LXVI 2005: Nr. 41); 898 Testat des Antonini filio quondam Petroni (FALCONI 1959: Nr. 78); 901 in Piacenza ... Ioh(annis) aurifex filio q(uon)d(am) Antonini t(es)t(is) (PETRACCO SICARDI 1966: 102–104 no. 2). Im Jahr 919 lässt sich wieder ein Beleg für das Attachement von Namenträgern an die Kultstätte des Vorbild-Heiligen fassen:8 Eine Urkunde für San Antonino kennt als Zeugen u.a. einen Antoninus, Vater des Luxivertus, und Antoninus genitor, den Vater des Schenkers (BOUGARD 1996: Nr. 27). Es ist erstaunlich, wieviele verschiedene Personen bereits im 9. Jh. den Namen des Stadtpatrons tragen. Der heilige Bischof Prosper(i)us von Reggio Emilia, bestattet und verehrt in der von ihm erbauten Kirche San Apollinare vor Reggio, genoss seit dem 8. Jh. einen stark anschwellenden Kult (AMORE 1963; BIBLIOTHECA SANCTORUM X 1968: 1207– 1212 SS; MERCATI 1896; MERKT 1999: 645; PICARD 1988: 498–501, 662–663). Reggio hat für das 9. Jh. nur einen schwachen Urkundenbestand. Aber im benachbarten Piacenza begegnet 834 (?) ein Prosperius presbiter, zugleich custos der Kirche San Antonino (CHLA LXIV 2003: Nr. 18); 842 ebd. das Testat eines Prosperi de Noviliano, wohl dieselbe Person 843 Prosperius filio bone memorie Letoni de Noviliano mit seinen Freunden Domninus und Martinus, Söhne des Johannes, lebend lege mea Romana (CHLA LXIV 2003: Nr. 20, 24); 843 in Piacenza Testat des Prosperii (CHLA LXIV 2003: Nr. 27); 843 auch ein Grundherr Prosperius in Lobonciassi bei Piacenza (FALCONI 1959: Nr. 18); 870 ebd. Anrainer Prosperius (CHLA LIX 2006: Nr. 20); 871 in Torrano südlich Piacenza an der Martinskirche Prosperius archipresbiter (CHLA LIX 2006: Nr. 22); 879 bei Strada Prosperius presbiter (FALCONI 1959: Nr. 38); 884 erneut ein Prosperius presbiter, zugleich custus ecclesie Sancti Antonini und in derselben Urkunde Testat eines Prosperi ... ex genere Francorum (FALCONI 1959: Nr. 51). Im Jahr 897 erscheint eine Familie von famuli der Kirche San Antonino mit Johannes presbiter, Bruder der fünf nach Heiligen benannten Söhne des verstorbenen Petroni de Plectule, der lege Romana lebte, mit Namen Martini et Andrei, Prosperii
8 Vgl. o. 4.1 zu Mailand, u. 4.4 zu Lucca.
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et Pauloni seu Petroni (FALCONI 1959: Nr. 73); vielleicht derselbe 898 im Testat des Prosperii de civis Placencia (FALCONI 1959: Nr. 80). Man gewinnt den Eindruck, dass sich der Brauch, Kinder nach lokalen Heiligen zu benennen, in Oberitalien vorwiegend von der Ober- und Mittelschicht ausgehend verbreitet – mit einem gewissen Vorrang von Mailand und Piacenza.
4.4 Lucca im Norden der Toskana In Lucca findet sich die Nachbenennung nach Lokalheiligen nur vereinzelt – wie in Mailand, Novara, Piacenza und Reggio ist es ein heiliger Bischof, Frigidianus, zugleich Stadtpatron, verehrt in Basilika und Kloster San Frediano (vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM V 1964: 1263–1269; FONSECA 1995: 158; HENNIG 1960; SILVA 2010). Seine Wunder sind schon in den Dialogi (III, 9) des Papstes Gregor des Großen (590– 604) bezeugt. Die einzige Nachbenennung nach dem Lucceser Heiligen findet sich zuerst im Jahr 848 original in einer Urkunde des Teudino presbiter für San Frediano mit dem Zeugen Frigdiano clericus (MD LUCCA V, 2 Nr. 659). Im Jahr 862 ist Fridicausus als Sohn des Fridiani cler(ici) bezeugt, wobei sich im Namen des Sohnes bereits ein hybrides Spiel mit dem germanisch-langobardischen Namenelement *fridu- ‘Frieden’ und dem Erstelement des italoromanischen HeiligenN abbildet (MD LUCCA V, 2 Nr. 757). Auch hier scheint es sich um ein Attachement des Nachbenannten an die Kultstätte des Stadtpatrons zu handeln.
5 Der bairisch-romanische Interferenzraum südlich der Donau Riskieren wir zum Schluss einen Blick auf die im Norden der Alpen unmittelbar an Oberitalien anschließenden Landschaften, auf Baiern (südlich der Donau) und den Salzburger Raum, für die wir durch eine hohe Anzahl von Traditionsbüchern und den ‘Liber confraternitatum’ von St. Peter in Salzburg (im Jahr 784 in der ältesten Schicht) recht gut informiert sind (vgl. HAUBRICHS 2006: 415–429, 451–465; ders. 2014: 35–44, 57–67). Was in den altbairischen Landschaften zuerst auffällt, ist die im Vergleich zum fränkischen Westen, aber auch zum langobardischen Oberitalien hohe Anzahl (161) von Nachbenennungen (oft in sprachlich althochdeutscher Form) nach biblischen Personen (31 an der Zahl), die keinen eigentlichen, etwa in Kirchenpatrozinien sich niederschlagenden Kult genossen:
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Aron (7), Abraham (5), Absolon (1), Adam (4), Anna (4), Daniel (6), David (32), Elias (3), Eliseus (3), Eliuth (1), Jeremias (1), Jesaja (1), Job (16), Jonas (3), Jonathan (1), Joseph (11), Isaac (10), Ismael (3), Israel (3), Judith (4), Lazarus (1), Levi (1), Martha (1), Moses (1), Noah (3), Salomon (20), Samson (4), Samuel (8), Simeon (8), Tobias (1), Zacharias (1).
Doch auch bei jenen biblischen Gestalten, Apostel und Evangelisten, die einen Kult bereits im frühen Mittelalter erfahren haben, bietet sich ein merkwürdiges Bild: Zunächst überrascht es nicht, dass hier Johannes mit 40 Nennungen voransteht, eher schon, dass ihm Jacobus (39 Nennungen) nahezu gleichkommt. Doch seltsam ist, dass die in Oberitalien so gut repräsentierten Apostelheiligen Petrus (2 Nennungen) und Andreas (4 Nennungen), ebenso wie Paulus (2 Nennungen) und Matheus (1 Nennung) wenig Anklang fanden. Betrachtet man die Spitzenreiter der sonstigen biblischen Eponymen, so stehen voran die beiden alttestamentarischen Vorbildkönige David und Salomon; der mit eigenem Buch versehene Dulder Job/Hiob; Joseph, der Ägypter (wobei sicherlich der David-Spross und Ehemann Marias mitzuberücksichtigen ist); der Patriarch Isaac; der Richter Samuel und schließlich Simeon, jener fromme Jude, der Jesus bei der Darstellung im Tempel als das „Heil Gottes“ erkannte (Lk 2, 25–35). Diese Auswahl deutet darauf, dass als Eponymen der Nachbenennung vor allem die Helden bedeutsamer und eindrucksvoller biblischer Historien gewählt wurden. So dürfte es wahrscheinlich sein, dass bei den hohen Belegzahlen für Jacobus und Johannes auch die Historie des Patriarchen und Isaak-Sohnes und die des Täufers eine große Rolle gespielt haben. Die biblische Namengebung betraf im raetisch-norischen Raum in hohem Maße auch Grundherren und Ortsgründer. Im Verbund mit den wahrscheinlich zu machenden heroischen Narrativen, welche diese Namengebung motivierten, deutet dies auf eine frühe und intensive Christianisierung der Bevölkerung, vor allem auch der romanischen Restpopulation in den alten Provinzen Raetia Secunda und Noricum. Dabei kann die biblische Namengebung nur bedingt mit den Bräuchen des langobardischen Oberitaliens verglichen werden, wo sie nicht so stark repräsentiert ist. Ob man Einflüsse aus den byzantinisch geprägten Regionen um Aquileja, Ravenna, der Romagna und der Pentapolis (Marken) erschließen darf, bliebe noch zu untersuchen. Gegenüber der biblischen Namengebung fallen die einigermaßen zu sichernden HeiligenN schon quantitativ mit 61 Nennungen ab: Ambrosius (2), Antonius, -a (7, darunter ein nobilis vir), Ninus < Antoninus (1), Augustinus (2), Basilius (1), Benedictus, -a (7), Cecilia/Cilia (2), Georgius (1), Germanus (5), Gregorius (4), Helena (5), Hieronimus (1), Laurentius, -a (2), Martinus (1), Mauritius (1), Nazarius (1), Petronella (1), Silla < Priscilla ? (1), Remeio < Remigius (4), Sergia (1), Silvester (1), Stephanus (8), Cenzio/Zinzo < Vincentius/Crescentius (3).
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Unter den HeiligenN findet sich einer der Universalheiligen, nämlich Stephanus (der auch zweimal in der Schicht der Ortsgründer zu finden ist), wozu noch Petrus – samt der angeblichen Tochter Petronilla, der auxiliatrix Pippins des Jüngeren und Patronin der capella regum Francorum im Vatikan (vgl. BIBLIOTHECA SANCTORUM X 1968: 514–521; vgl. FASOLA 1963; MUSCHIOL 1999: 89) – und Andreas, teilweise sicher auch Johannes, zu rechnen sind; dazu kommt der von Rom aus kraftvoll verbreitete Laurentius, auch Caecilia; ferner fränkisch-burgundische Heilige wie Germanus von Auxerre oder Paris, Martinus von Tours, Mauritius von Agaunum, Remigius von Reims, vielleicht Vincentius von Saragossa (der ursprüngliche Patron von SaintGermain-des-Prés); auffällig die Kirchenlehrer Augustinus, Hieronymus, Papst Silvester (314–335), der nach der Legende Kaiser Konstantin heilte und taufte, Papst Gregorius (590–604), wobei bei manchen der vorgenannten Namen nicht auszuschließen ist, dass sie doch aus dem Altreservoir der lateinischen TraditionsN stammen. Auffällig ist auch die starke Repräsentation von Mönchsvätern wie die der östlichen Antonius und Basilius, vor allem aber des Benedictus, dessen Name auch im SiedlungsN Benetsham (Gemeinde Lindach, Traunstein), 12. Jh. Benedictes-haim, also in einem sicherlich nicht jungen heim-Ort auftaucht. Auf Beziehungen zu Oberitalien könnte Ninus/Antoninus deuten, wenn sich dahinter der Märtyrer von Piacenza verbergen sollte (was keineswegs sicher ist), auf Mailand speziell Ambrosius und Nazarius. Wahrscheinlich bereits alte, aber schwache östliche Einflüsse verraten sich wohl in Georgius und vor allem Sergia, vielleicht auch in dem mehrfach gewählten Namen der Konstantin-Mutter (H)elena.
6 Fazit Die Anfänge der Namengebung nach regionalen und lokalen Heiligen sind – wie zu erwarten – nach Landschaften und Regionen sehr differenziert zu betrachten. Auffällig sind für die Rhein- und Mosellande die Heiligen der ehemaligen Kaiserresidenz Trier (Maximinus, Eucharius, Paulinus), von Maastricht (Servatius, Amandus), von Toul (Mansuetus, aber erst 866/868) und dann vor allem der Reimser Bischof Remigius, der aber auch zu den fränkischen Reichsheiligen zu zählen ist. Im Pariser Raum, auf den Gütern des Klosters Saint-Germain-des-Prés, lässt sich im frühen 9. Jh. in der Namengebung Martinus von Tours gut nachweisen, der aber zugleich der Vornehmste der fränkischen Reichsheiligen ist, ferner aber deutlich auch der sich auf HybridN ausdehnende Einfluss des Klosterpatrons Germanus von Paris. Früh anzusetzen und seit dem 7./8. Jh. nachzuweisen sind die östlichen und die lokalen Heiligen im bis ins späte 8. Jh. byzantinischen Ravenna, einer alten Kaiserresidenz des Westens. Seit dem 7./8. Jh. folgt mit Ambrosius eine weitere Kaiserresidenz des Westens,
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Mailand, im 8./9. Jh. im langobardischen Oberitalien heilige Gründerbischöfe und Märtyrer von Novara, Piacenza, Modena, Reggio und erneut Mailand. Dagegen treten die heiligen Gründerbischöfe bairischer Bistümer wie Emmeramus (Regensburg), Corbinianus (Freising), Rupertus (Salzburg) noch nicht in Erscheinung – ebensowenig wie große und stark verehrte, klösterliche Reliquienpatrone, so etwa am Rhein Nazarius von Lorsch, in Hessen Bonifatius von Fulda oder in Lothringen Gorgonius von Gorze. Man wird wohl damit rechnen müssen, dass die Nachbenennung nach regionalen Heiligen ihren Ausgang vom Westen, vom Pariser und Trierer Raum, und vor allem vom oberitalienischen Süden nahm.
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Heiligennamen als Rufnamen Zusammenfassung: Unter den beliebtesten VorN in Deutschland finden sich mehrere (Anna, Marie; Paul, Felix), die man als „HeiligenN“ ansehen könnte. Deren Vergabe erfolgt heute selten aus religiösen, sondern meist aus euphonischen Gründen. Die HeiligenN wurden im 12. Jh. von Frankreich aus in den deutschen Südwesten und Westen eingeführt und im Verlauf eines Diffusionsprozesses, der sich in Deutschland über rund 300 Jahre erstreckte, allgemein angenommen. Das mittelalterliche HeiligenN-Inventar enthielt zunächst neutestamentliche Namen (Apostel-, EvangelistenN), die Namen bekannter Heiliger und Märtyrer (Nikolaus, Georg; Katharina, Margarete) und einige allgemein christlich konnotierte Namen (Christian, Michael). Volkstümliche Heiligenverehrung im 14./15. Jh. trug zur Erweiterung des Inventars bei (Barbara, Ursula; Christoph, Wolfgang, Leonhard). Nach der Reformation gaben Protestanten die Vergabe von HeiligenN nicht auf. Eine Differenzierung in der Namengebung beider Konfessionen zeigte sich erst im 17./18. Jh.: Nun vergaben Katholiken vorzugsweise gegenreformatorische HeiligenN (Franz Xaver, Alois), während bei Protestanten pietistische Neubildungen beliebt wurden (Fürchtegott, Gottlieb). Abstract: Many names among the most popular first names in Germany (Anna, Marie; Paul, Felix) can be regarded as „saints’ names“. Nowadays, however, their choice is rarely made due to religious motives but mainly to euphonic reasons. Hagionyms, first introduced from France to the South West and the West of Germany in the 12th century, were generally adopted throughout 300 years, following the rules of cultural diffusion processes. The medieval inventory of hagionyms initially contained names of the New Testament (the apostles’ and evangelists’ names), names of well-known saints and martyrs (Nikolaus, Georg; Katharina, Margarete), and some names with general Christian connotations (Christian, Michael). In the 14th/15th centuries, popular saints’ worship increased the inventory of hagionyms (Barbara, Ursula; Christoph, Wolfgang, Leonhard). After the Reformation, saints’ names continued to be in use among Protestants. A differentiation between the naming of Catholics and Protestants became evident only in the 17th/18th centuries: The names of the Counter-Reformation saints (Franz Xaver, Alois) were given predominantly by Catholics, whereas semantically transparent, new religious names characterized the Protestant name inventory (Fürchtegott, Gottlieb).
Rosa Kohlheim/Volker Kohlheim
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1 Heiligennamen heute? Mia, Emma, Hannah, Sophia, Anna, Lea, Emilia, Marie, Lena und Leonie sowie Ben, Luca, Paul, Jonas, Finn, Leon, Luis, Lukas, Maximilian und Felix waren 2013 die beliebtesten Mädchen- und JungenN in Deutschland.1 Nicht wenige von ihnen sind Namen, die man als „HeiligenN“ ansehen könnte: zweifellos Marie und die von diesem Namen abgeleitete Form Mia, aber auch Sophia, Anna, Lena (als Kurzform von Helena oder Magdalena), Leonie (als eingedeutschte Movierung von frz. Léon = dt. Leo), Ben (als englische Kurzform von Benedict oder dem biblischen Benjamin), Luca/Lukas, Paul, Leon (als eingedeutschte Form von Léon), Luis (vor allem als eingedeutschte Form von frz. Louis = dt. Ludwig), Felix und Maximilian. All diese Namen wurden von Personen getragen, die als Heilige verehrt wurden und werden, und unter diachronem Gesichtspunkt sind sie zu Recht als HeiligenN zu bezeichnen. Nimmt man allerdings die Motive zeitgenössischer Eltern als Namengeber zur Richtschnur, wird man wohl nur selten davon ausgehen können, dass die Verehrung eines Heiligen die Namenwahl beeinflusst hat: Internationale Modeströmungen und der Wohlklang der Namen spielen in unserem säkularisierten Zeitalter eine weitaus größere Rolle als die Namenwahl nach einer als heilig verehrten Person (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2014: 13). „Nur scheinbar ist die Maria der neunziger Jahre [des 20. Jh.] derselbe Name wie um 1900“, formulieren pointiert WOLFFSOHN/BRECHENMACHER (1999: 272), und MITTERAUER (1993: 402) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Funktionsentlastung“, der die HeiligenN ausgesetzt sind. Dennoch besteht der aktuelle deutsche VorN-Schatz weitgehend aus Namen, die zu verschiedenen Zeiten erstmals als HeiligenN vergeben wurden. Dem gegenwärtigen Trend zur Internationalisierung des VorN-Inventars ist es zu verdanken, dass viele dieser Namen in fremdsprachiger Gestalt erscheinen. Der folgende Rückblick soll die Geschichte der HeiligenN im deutschsprachigen Raum seit ihrem Auftreten ab dem 12. Jh., soweit dies bei der gebotenen Kürze möglich ist, darstellen.
1
www.beliebte-vornamen.de (02.09.13).
Heiligennamen als Rufnamen
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2 Die Verbreitung der Heiligennamen im Mittelalter 2.1 Die Diffusion des neuen Namenvergabeprinzips Der dtv-Atlas Namenkunde enthält eine Karte, die anschaulich die „Durchsetzung der Fremdnamen, meist Heiligennamen, im deutschen Sprachgebiet“ zeigt (KUNZE 2003: 40). Anhand von verschiedenfarbigen Pfeilen ist dort zu sehen, dass sich diese Namen seit dem 12. Jh. vom Westen und Südwesten Deutschlands her im Lauf von rund 300 Jahren bis nach Schlesien und schließlich Norddeutschland verbreiteten. Wenngleich diese Karte auf dem wesentlich älteren Werk „Deutsche Namenforschung“ von SCHWARZ (1949: 44) basiert, haben neuere Untersuchungen zur mittelalterlichen RufN-Gebung keine Ergebnisse erbracht, die zu einer grundsätzlichen Modifizierung dieses Verbreitungsbildes Anlass böten, wohl aber zu mancher Verfeinerung und Ergänzung der etwas pauschalen Aussage des Kartenbildes. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Einschränkung der Kartenlegende „meist Heiligennamen“ sehr vorsichtig formuliert ist, denn statistisch spielen die wenigen Xenonyme, die keine HeiligenN sind, meist Namen aus dem höfischen Epos, keine Rolle. So sind in Regensburg unter den weiblichen RufN bis 1378 lediglich eine Sigune und drei Isolden nachweisbar (KOHLHEIM 1977a: 364–365), die im Übrigen, streng genommen, keine FremdN sind. In der männlichen Regensburger Namengebung erscheint Gamerit (Gahmuret) als RufN und BeiN (KOHLHEIM 1977a: 236–238). Andererseits ist zu berücksichtigen, dass es auch Namen germanischer Herkunft gab, die von mittelalterlichen Heiligen getragen wurden und erst dank der Verehrung dieser Heiligen häufig vergeben wurden (s.u.).2 Auch differenziert diese Karte nicht zwischen weiblicher und männlicher Namengebung.3 Das Inventar der weiblichen nichtgermanischen Namen ist überall kleiner als das der männlichen,4 doch der gerin-
2 3 4
Zu den einzelnen im Folgenden erwähnten Heiligen sei generell auf WIMMER/MELZER (1988) verwiesen. Vgl. aber die diesbezügliche Bemerkung bei KUNZE (2003: 41). Bei den im Nekrolog des Bremer St. Ansgarii-Kapitels aus dem 15. Jh. enthaltenen nichtgermanischen Namen beträgt das Verhältnis weiblicher zu männlichen Types 6 : 14 (KOHLHEIM 2003: 256–257). Im Jahr 1498 enthält das RufN-Inventar des Münsterlandes 29 weibliche und 51 männliche nichtgermanische Namen (HARTIG 1967: 35–36). HELLFRITZSCH (2010: 82) findet im Terminierbuch des Zwickauer Franziskanerklosters (um 1460) 19 weibliche fremde RufN gegenüber
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geren Anzahl an Types steht eine weitaus höhere Anzahl an Tokens gegenüber. In Regensburg beträgt bis zum Jahr 1378 das Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen nichtgermanischen Namen-Types 27 : 41. Betrachtet man aber die Tokens, also die Anzahl der Namenträger, so führen im Zeitraum 1350–1364 in Regensburg bereits 78,6 Prozent der weiblichen Bevölkerung nichtgermanische HeiligenN, dagegen nur 17,6 Prozent der männlichen Bevölkerung. Diachron gesehen werden also weibliche nichtgermanische HeiligenN wesentlich schneller akzeptiert als männliche.5 Fragt man nach den Gründen für die langsamere Akzeptanz der männlichen nichtgermanischen Namen als der weiblichen, so sind diese in der patriarchalisch ausgerichteten Gesellschaft des Mittelalters zu suchen, in der dem RufN vor der Etablierung der vererblichen FamN weitgehend die Aufgabe zukam, als „Leitname“ (s.u.) die Familienzugehörigkeit zu signalisieren. Weniger an das Muster der Namentradierung gebunden, konnten neue Namengebungsprinzipien schneller Eingang in die weibliche Namengebung finden. Die im dtv-Atlas Namenkunde wiedergegebene Karte lässt erkennen, dass die nichtgermanischen Namen von Frankreich her Eingang in das deutsche Sprachgebiet fanden (KUNZE 2003: 40). Tatsächlich handelt es sich bei der Verbreitung der neuen Namen um einen weiträumigen Diffusionsprozess, der in Byzanz und den byzantinisch beeinflussten Gebieten seinen Ausgang nimmt und Deutschland mit einer Verspätung von rund 300 Jahren nicht von Italien aus, sondern über Frankreich erreicht (vgl. KOHLHEIM 1996: 1049–1050). Dabei vollzog sich die spatiale Ausbreitung der neuen Namen gemäß den allgemein feststellbaren Regeln der Diffusion von Neuerungen,6 d.h., die onymische Innovation breitete sich nicht gleichförmig wellenmäßig aus, sondern sprang zunächst von einem Ort größerer Zentralität zum nächsten, um dann im ländlichen Umland aufgenommen zu werden.7 Diese Diffusion „in Sprüngen“ beruht auf der einfachen Tatsache, dass Neuerungen „nicht einen Raum“ überfluten, „sondern […] von Menschen an andere weitergereicht“ werden (WEINHOLD 1985: 174).
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38 männlichen. In der Reichsstadt Weißenburg umfasst das Inventar der nichtgermanischen RufN im 15. Jh. 9 weibliche und 22 männliche Types (KOHLHEIM 2004: 455). Vgl. die graphischen Darstellungen bei KOHLHEIM (1988: 173) und KOHLHEIM (1996: 1052). Vgl. zur onomastischen Diffusionsforschung KOHLHEIM (2011). KLEIBER (1984: 110) stellt für den Südwesten Deutschlands fest, „daß die Nameninnovation von Adel und Stadtbürgertum eingeführt und von den Landbewohnern (Bauern) etwa eine Generation später übernommen wurde.“ Im Bayreuther Umland lag im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts der Prozentsatz der männlichen Personen, die einen nichtgermanischen Namen trugen, bei 25,2 Prozent, während er in der Stadt bereits 35,6 Prozent betrug (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2001a: 207).
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Im dtv-Atlas Namenkunde (KUNZE 2003: 40) findet sich auch eine Graphik (nach KOHLHEIM 1997a: 416), die zeigt, wie unterschiedlich schnell die nichtgermanischen männlichen RufN von den drei im mittelalterlichen Regensburg feststellbaren sozialen Schichten übernommen werden. Führend ist hier das Patriziat, das sich aus Ministerialen, vor allem aber aus Fernkaufleuten zusammensetzt. Gerade diese Gruppe verfügt natürlich über die weitesten extrasozietalen Kontakte, lernt dadurch die neue Art, Namen zu vergeben, kennen, ahmt sie zu Hause nach und wird wiederum aufgrund ihres hohen sozialen Prestiges gern in ihrem namengeberischen Verhalten imitiert (vgl. hierzu KOHLHEIM 1977b: 31). Dementsprechend folgt die mittlere Schicht der Gewerbetreibenden und Amtsträger nach und schließlich die dritte Schicht der einfachen Handwerker, der Knechte und Mägde. Statistisch lässt sich dies anhand der unterschiedlichen Übernehmerraten genau zeigen, wobei unter „Übernehmerrate“ der Prozentsatz derjenigen zu verstehen ist, die in einer bestimmten Gruppe die neuen Namen bereits übernommen haben. Der Unterschied in der Übernehmerrate zwischen Patriziat und Unterschicht im Lauf des 14. Jh. vergrößert sich signifikant: Betrug er zu Beginn des Jh. nur 2,7 Prozent, so führen im Zeitraum 1365–1378 bereits 15 Prozent mehr Männer im Patriziat als in der unteren Schicht FremdN (KOHLHEIM 1977b: 31). Die Analyse der innerstädtischen kumulativen Diffusionskurve der nichtgermanischen Namen hat zudem gezeigt, dass sich die Namen durch innersozietale Kontakte und Imitation verbreiteten, nicht aber durch das Einwirken externer Akteure (KOHLHEIM 1988). Als solche hatte NIED (1924: 21) die Bettelmönche angenommen, doch auch schon früh Widerspruch erfahren (ZENDER 1957). Welche Schlussfolgerungen bezüglich des Charakters der Innovation lassen sich aufgrund dieser arealen und intrasozialen Diffusion, also der Verbreitung der HeiligenN über den Raum hin und dann innerhalb einer bestimmten, nach sozialen Schichten differenzierten Population ziehen? Zunächst spricht die langsame areale Verbreitung der nichtgermanischen HeiligenN gegen einen automatischen Kausalzusammenhang zwischen Heiligenverehrung und Namengebung. Zweifellos ist die Zeit, in der sich die HeiligenN im deutschen Sprachbereich verbreiten, eine Zeit „intensivierter Kirchlichkeit“ (ANGENENDT 1997b: 72–73), doch kennen wir eine verstärkte Heiligenverehrung und das mit ihr einhergehende System der Patronate schon seit dem Hochmittelalter (KUNZE 2003: 41). Wenn aber, um nur dieses Beispiel zu nennen, noch kurz vor Einführung der Reformation, also während des Höhepunkts spätmittelalterlicher Volksfrömmigkeit, erst 27,6 Prozent der Bremer Bürger RufN nichtgermanischer Herkunft tragen (KOHLHEIM 2003: 255), wird man von einem einfachen Kausalzusammenhang zwischen Spiritualität und Namengebung nicht sprechen können (vgl. auch MITTERAUER 1993: 331 und BORTOLAMI 1997: 149). Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Namen selbst für die mittelalterlichen Menschen keineswegs neu waren. Durch Liturgie, Hymnen und Legendare, durch Preis- und Bittlieder, ja sogar durch Tanzlieder waren die Namen der großen Heiligen den Gläubigen schon
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lange, bevor sie als RufN vergeben wurden, vertraut (HAUBRICHS 1995: 328–342). „Die lateinische LA [Legenda Aurea], kurz vor 1264 verfasst, kam dem Erbauungsbedürfnis und dem Stoffhunger des spätmittelalterlichen Publikums so sehr entgegen, daß sie neben der Bibel das am meisten gelesene geistliche Buch jener Zeit wurde“ (KUNZE 1970: 267). Die HeiligenN waren also tatsächlich „in aller Munde“, nur nicht sofort als an zeitgenössische Mitmenschen vergebene und vergebbare RufN. Es ist daher korrekter, von der Verbreitung eines neuartigen Namengebungsprinzips zu sprechen als von der Verbreitung neuer Namen (vgl. KOHLHEIM 1977c). Offensichtlich musste dieses neue Namenselektionsprinzip bei den Namengebern große Widerstände überwinden, bevor es akzeptiert werden konnte. Woran lag das? Einerseits mussten sich die Namengeber, wollten sie einen der neuen Namen vergeben, zunächst über das Prinzip der innerfamilialen Nachbenennung hinwegsetzen. Dieses hatte jahrhundertelang dafür gesorgt, durch gewisse „Leitnamen“ den Familienzusammenhang darzustellen, wenn es auch nie rigoros angewandt wurde. Hier erleichterte sicherlich das etwa gleichzeitige Aufkommen der Vererblichkeit der BeiN als FamN die Durchsetzung der FremdN. Andererseits bedeutete die Vergabe eines Namens, der bisher nur als der einer heiligen Persönlichkeit bekannt war, an einen Menschen doch auch eine gewisse Profanierung dieses Namens, ein Hereinholen des Heiligen ins Alltägliche. Die Scheu, die man vor einer solchen Vermenschlichung der heiligen Sphäre empfand, zeigt sich auch darin, dass die Namen Maria und Joseph im Mittelalter, zumindest im deutschen Sprachbereich, kaum vergeben wurden und Jesus in Deutschland bis heute so gut wie gar nicht.8 Dass sich die Namengebung nach heiligen Gestalten dann doch so mächtig durchsetzte, dürfte auch mit dem Mentalitätswandel zusammenhängen, wie wir ihn seit dem Ende des 12. Jh. feststellen können. Zugleich mit der „Wiedergeburt des Individuums als natürlicher Mensch“ (ULLMANN 1974: 84) vollzog sich die Ablösung des relativ starren Namengebungsprinzips der innerfamilialen Nachbenennung durch das individualistische, der persönlichen Namenwahl freies Spiel gewährende Prinzip der Namengebung nach Heiligen (KOHLHEIM 1977c: 527–528).
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Trotz eines Urteils des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main von 1998, AZ 20 B 149/98, das Jesus als ZweitvorN zuließ.
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2.2 Das Heiligennameninventar
2.2.1 Alttestamentliche und andere christlich konnotierte Namen Das Inventar der neuen nichtgermanischen HeiligenN ist anfangs nicht sonderlich groß. In Regensburg enthielt es bis 1378 nur 68 Namen (KOHLHEIM 1977a: 58–66). Zusammen mit den Namen von Gestalten aus dem Neuen Testament und den eigentlichen HeiligenN finden auch vereinzelt alttestamentliche Namen Eingang in die Namengebung. So begegnen uns unter den RufN des Münsterlandes bis 1498 Aaron, Abraham, Absalon, Adam, Daniel, David, Israel, Jonathan, Joseph,9 Salomon, Samuel und Tobias sowie Eva, Sara und Susanna10 (HARTIG 1967: 225–258). In Regensburg sind bis 1378 David und Salman belegt (KOHLHEIM 1977a: 58–63), im Bamberger Gerichtsbuch von 1481–1497 Adam und Daniel sowie Eva (ARNETH 1956: 200). Auch einige wenige Xenonyme, die lediglich christlich konnotiert sind, wurden nun vergeben: Christian und Christina,11 Jordan nach dem Fluss, in dem Jesus getauft wurde, Michael und Gabriel nach den Erzengeln, Osanna, abgeleitet vom liturgischen „Hosianna“, vereinzelt Epiphania und Paschedag12 nach den entsprechenden christlichen Festen.
2.2.2 Neutestamentliche Namen Unter den neuen Namen, die wirklich zahlreich vergeben wurden, finden sich zunächst Namen von Gestalten aus dem Neuen Testament. Dies kann in Zusammenhang mit der neuen und gesteigerten Christusfrömmigkeit (HARMENING 1967: 164–166) gesehen werden, die, im 12. Jh. von Bernhard von Clairvaux geprägt, durch das Erlebnis der Kreuzzüge in weitesten Laienkreisen die Gestalt Christi lebendig werden lässt und neben dem Verlangen nach realistisch-bildhafter Darstellung des Leidenswegs Christi sich auch die mit dem Leben Jesu unmittelbar verbundenen Personen vergegenwärtigt (HARMENING 1967: 167–168). Am frühesten und am häufigsten wird
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Für das Mittelalter ist der alttestamentliche Patriarch als Namensvorbild anzusehen, der Nährvater Jesu kommt erst in der Neuzeit als Namenspatron infrage. 10 Neben der bekannten Gestalt aus den Apokryphen gibt es auch eine heilige Susanna, die (der unhistorischen Legende nach) im 3./4. Jh. in Rom das Martyrium erlitt. 11 Ein Einfluss der heiligen Märtyrerin Christina von Bolsena auf die Namengebung lässt sich nicht sicher ausschließen. 12 Westniederdeutsche Bezeichnung für den Ostertag (HARTIG 1967: 252).
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der RufN Johannes, meist in der verkürzten Form Hans, vergeben. Als Namensvorbild ist vor allem Johannes der Täufer, weniger der Apostel und Evangelist Johannes anzusehen.13 Bereits im 12. Jh. nimmt Johannes in Köln mit 1,8 Prozent die siebte Stelle in der Rangfolge der häufigsten männlichen RufN ein (HARTIG 1967: 82 nach WAGNER 1913: 57), in der Kölner Kopfsteuerliste von 1417 steht Johannes dann an erster Stelle mit einem Anteil von 24,2 Prozent (HOFFMANN 2000: 118). Genauso häufig ist Johannes/Hanns zwischen 1400 und 1493 in der ehemaligen Reichsstadt Weißenburg (KOHLHEIM 2004: 455). Auch im Münsterland ist Johan 1498 der beliebteste männliche RufN mit einem Anteil von 29,3 Prozent (HARTIG 1967: 82). Im Vergleich dazu erreichen die Apostel- und EvangelistenN (Andreas, Bartholomäus, Jakob, Lukas, Markus, Matthäus, Matthias, Paul, Peter, Philipp, Simon, Thomas) einen deutlich niedrigeren prozentualen Anteil an der Namengebung. Zacharias, nach dem Vater Johannes des Täufers, tritt im Spätmittelalter gelegentlich in Erscheinung. Joachim, der apokryphe Name des Vaters Marias, ist erst ab dem 15. Jh. häufiger anzutreffen (SEIBICKE 1998: 563–565). Dies trifft auch für Melchior, Kaspar und Balthasar, die Namen der Heiligen Drei Könige, zu, die namentlich erst seit dem 6. Jh. bekannt sind14 und deren Verehrung seit dem 12. Jh. von Köln ausging. Die Anzahl weiblicher RufN aus dem Neuen Testament ist sehr klein. Der RufN Elisabeth wird im Mittelalter zunächst nach der Mutter Johannes des Täufers vergeben. Doch geht die außerordentliche Beliebtheit dieses RufN in Deutschland vor allem auf die Verehrung der 1235 kanonisierten heiligen Elisabeth von Thüringen zurück, deren aufopferungsvolle Tätigkeit im Dienst der Armen und Kranken die mittelalterlichen Menschen tief bewegte (vgl. REBER 1963: 253–254). Anna, der apokryphe Name der Mutter Marias, ist der erste Name aus der heiligen Familie, der vom 14. Jh. an einen bedeutenden Platz in der RufN-Gebung des deutschen Sprachgebiets einnimmt. In Regensburg z.B. belegt Ann zwischen 1325 und 1349 mit 9,1 Prozent den dritten Platz in der Häufigkeitsrangfolge der weiblichen RufN (KOHLHEIM 1977a: 451). Salome, nach der Mutter der Apostel Johannes und Jakobus, tritt nur gelegentlich in Erscheinung. Erst seit dem 15. Jh. werden Martha und vor allem Magdalena häufiger als RufN vergeben.
13 Hierfür spricht u.a. auch die unterschiedliche Häufigkeit der jeweiligen Kirchenpatrozinien. So beträgt z.B. in Altbayern und der Oberpfalz das Verhältnis 244 (Johannes Baptista) : 21 (Johannes Evangelista) (BUCHBERGER 1933: 66). 14 Erstmals erscheinen die Namen der Heiligen Drei Könige nach WIMMER/MELZER (1988: 244) auf einem Mosaik vom Anfang des 6. Jh. in S. Apollinare Nuovo in Ravenna.
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2.2.3 Märtyrer und andere Heilige Neben den neutestamentlichen RufN prägen die Namen von überregional verehrten Heiligen und frühchristlichen Märtyrern von Anfang an die männliche RufN-Gebung. An erster Stelle ist der heilige Nikolaus, Bischof von Myra in Lykien, der zuerst in der griechischen Kirche und dann – nach der Translation seiner Reliquien nach Bari 1087 – auch im Abendland hohe Verehrung genoss (vgl. MEISEN 1931), zu nennen. Nikolaus, vor allem in seinen verkürzten Formen Nikla(s), Nickel, Klaus usw.,15 ist ein allgemein verbreiteter RufN, der seine größte Popularität im Osten des deutschen Sprachgebiets erreicht. In Schlesien vermag Nikolaus bis 1400 sogar den sonst führenden Johannes von der Spitzenposition zu verdrängen (REICHERT 1908: 28). Dies ist auch in Chemnitz der Fall, wo zwischen 1401 und 1450 22 Prozent der Männer diesen RufN trugen (HELLFRITZSCH 2007: 376). Der Name des aus Kappadokien stammenden heiligen Märtyrers Georg, zunächst durch die Legenden zum Idealbild des christlichen Ritters und Kreuzfahrers stilisiert, später auch als Volksheiliger und Bauernpatron verehrt, findet ab dem 13./14. Jh. weite Akzeptanz. Neben Georg erscheinen noch weitere Märtyrergestalten wie Stephan, Lorenz und (seltener) Sebastian in der Namengebung. Zu dieser frühen Schicht von HeiligenN gehört auch Martin, nach dem heiligen Bischof von Tours, dessen Fest am 11. November wichtiger Zinstermin und Anlass volkstümlicher Bräuche war. Eher selten finden die Namen von Kirchenvätern und Päpsten (Ambrosius, Augustin, Gregor, Hieronymus; Clemens, Cornelius, Leo, Silvester, Sixtus, Urban) Eingang in die Namengebung. Die große Bedeutung der Orden der Benediktiner, Franziskaner und Dominikaner führt nicht dazu, dass die Namen von deren Stiftern (Benedikt von Nursia, Franz von Assisi, Dominik von Guzman) einen besonderen Einfluss auf die Namengebung ausüben. Trotz des bedeutenden Regensburger Benediktinerklosters St. Emmeram ist Benedikt erst 1471–1472 in der Donaustadt für zwei Namenträger bezeugt, Dominik trotz der Präsenz der Dominikaner nur für einen einzigen (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2002: 90). Obwohl die Franziskaner seit 1221 in Regensburg nachzuweisen sind, ist der Name Franz erst ab 1324 bezeugt und bleibt bis 1471–1472 mit unter einem Prozent ein durchaus seltener RufN (KOHLHEIM 1977a: 286; KOHLHEIM/KOHLHEIM 2002: 90). Die Vergabe des RufN Antoni(us) geht zunächst auf den heiligen Abt Antonius, Einsiedler und Begründer des Mönchtums (†356 in Oberägypten), zurück; erst ab der zweiten Hälfte des 13. Jh., vor allem aber seit der Gegenreformation, kommt der franziskanische Kirchenlehrer
15 Zu der außerordentlichen Vielfalt der FamN, die aus dem RufN Nikolaus hervorgegangen sind, s. DRÄGER (2013).
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Antonius von Padua, der 1232 kanonisiert wurde, als Namenspatron infrage (s. Kap. 3.2.). Auch in der weiblichen Namengebung spielen die Namen von überregional verehrten Märtyrerinnen eine dominante Rolle. Dies trifft insbesondere für die heilige Margareta von Antiochia und die heilige Katharina von Alexandria zu, die seit den Kreuzzügen auch im Abendland verehrt wurden und im Spätmittelalter zu der Gruppe der Vierzehn Nothelfer zählten. Margarete und Katharina erfreuten sich großer Beliebtheit im gesamten deutschen Sprachgebiet und eroberten vielerorts Spitzenpositionen in der Häufigkeitsrangfolge der weiblichen RufN. So waren beispielsweise in Regensburg im Zeitraum 1365–1378 Katrey mit 10,7 Prozent und Margret mit 10,2 Prozent die häufigsten RufN nach Elspet (< Elisabeth), die sogar 18,8 Prozent erreichte (KOHLHEIM 1977a: 453). Nicht so häufig wie Margarete und Katharina wurden die Namen weiterer frühchristlicher Märtyrerinnen vergeben, etwa Agatha, Apollonia, Cäcilia, Dorothea, Euphemia, Lucia. Bei der Vergabe von Agnes, Beatrix und Sophia konkurrierte das Selektionsprinzip nach HeiligenN mit dem nach dynastischen Vorbildern.16 Als weitere HeiligenN, die Eingang in die weibliche mittelalterliche RufNGebung fanden, seien noch Brigida nach der heiligen Äbtissin von Kildare, der Patronin Irlands, Odilia/Ottilia nach der Schutzheiligen des Elsass17 und Clara nach der 1255 kanonisierten Gründerin des Klarissenordens genannt.
2.2.4 Germanische Rufnamen: Heiligennamen oder Traditionsnamen? Natürlich wurden auch Heilige, die einen Namen germanischer Herkunft trugen, verehrt. Bei diesen Namen fiel die Anfangsscheu, sie als RufN zu vergeben, naturgemäß weg, sie waren ja seit jeher vertraut. Es gibt im spätmittelalterlichen Nameninventar eine nicht unbedeutende Gruppe von Namen germanischer Herkunft, bei denen es nicht von vornherein eindeutig feststeht, ob sie nach dem Prinzip der Namentradierung, nach dem Prinzip der Namenwahl nach dynastischen Vorbildern oder als HeiligenN vergeben wurden. Generalisierungen sind bei der Lösung dieser Frage nicht am Platz, vielmehr können hier nur gezielte Einzeluntersuchungen weiterhelfen. Aufschlussreich ist z.B. die Untersuchung der Diffusionskurve: Steigt die Beliebtheit eines Namens im Verlauf des Spätmittelalters signifikant an, spricht dies dafür, dass der Name als HeiligenN vergeben wurde. So ist Ulrich in Regensburg
16 Vgl. ZENDER 1957: 88; KOHLHEIM 1977a: 335–336, 348–349, 353–354. 17 Odilia/Ottilia ist, sprachlich gesehen, natürlich germanischer Herkunft, doch lässt den Namen seine latinisierte Form fremd erscheinen. Auch fügt er sich nicht in die Namen der folgenden Gruppe ein, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie als HeiligenN vergeben wurden oder nicht.
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zwar kein gänzlich neuer Name, doch weist sein sprunghafter Anstieg von 4,6 Prozent auf 8,3 Prozent in der zweiten Hälfte des 13. Jh. deutlich darauf hin, dass dieser Name vor allem aufgrund der Verehrung des Bischofs Ulrich von Augsburg (wohl 890– 973), des ersten kanonisierten Heiligen überhaupt, vergeben wurde. Hinzu kommt, dass sich Ulreich zwischen 1300 und 1378 konstant nach Chunrat und Hainreich an dritter Stelle der in Regensburg vergebenen männlichen RufN hält (KOHLHEIM 1977a: 190–191). Noch eindeutiger verdankt der Name Wolfgang der Heiligenverehrung seine Verbreitung im süddeutschen Raum. Dieser Name war der Regensburger Namengebung im Hochmittelalter gänzlich fremd und kam erst durch den in Schwaben geborenen Bischof Wolfgang nach Regensburg, der dort von 972 bis 994 im Sinne der GorzeTrierer Reform wirkte. 58 Jahre nach seinem Tod wurden die Gebeine Bischof Wolfgangs durch Papst Leo IX. in Gegenwart des Kaisers erhoben und feierlich in der neu errichteten Wolfgangskrypta des Regensburger Klosters St. Emmeram beigesetzt, was der Heiligsprechung gleichkam. Doch wirkte sich diese Translation zunächst weder auf den Kult (SCHWAIGER 1988: 101) noch auf die Namengebung aus; erst als in der zweiten Hälfte des 14. Jh. durch rege Mitwirkung des Klosters Mondsee der populäre Kult des heiligen Wolfgang und die Wallfahrt nach St. Wolfgang am Abersee (heute Wolfgangsee) im Salzkammergut aufblühten (SCHWAIGER 1988: 102–103), war auch der Aufstieg des Namens des Heiligen beispiellos. Wolfgang ist damit ein typischer HeiligenN des 15. Jh. In dieser Zeit hießen z.B. 13 Prozent der männlichen bäuerlichen Bevölkerung des niederösterreichischen Stifts Zwettl Wolfgang, was diesen Namen nach Johannes/Hanns zum zweithäufigsten männlichen RufN im ländlichen Umfeld dieses Klosters werden ließ (KOHLHEIM 2006). Auch Erhard und Leonhard verdanken ihre spätmittelalterliche Beliebtheit überregionaler volkstümlicher Heiligenverehrung: Der heilige Erhard war Pestheiliger und Viehpatron, der heilige Leonhard u.a. Schutzheiliger der Gefangenen und des Viehs, vor allem der Pferde. Bei den während des ganzen Mittelalters sehr beliebten Namen Heinrich und Konrad, den sprichwörtlich gewordenen Hinz und Kunz, ist dagegen mit der Überlagerung mehrerer Selektionsprinzipien zu rechnen: dem der Tradierung, dem nach dynastischen Vorbildern und dem nach HeiligenN. Im Spätmittelalter wurde die Vergabe von Heinrich und Konrad durch den heiligen Kaiser Heinrich II., kanonisiert 1152, bzw. durch den 1123 heiliggesprochenen Bischof Konrad von Konstanz gestützt, doch ist die Einwirkung der zahlreichen gleichnamigen Herrschergestalten und der innerfamilialen Nachbenennung auf die Namengebung hier sicher nicht zu unterschätzen. Auch die Präsenz einiger weiblicher RufN germanischen Ursprungs im spätmittelalterlichen Nameninventar ist nicht immer monokausal zu erklären. Mathilde, die Ahnfrau des ottonischen Königshauses, und die Kaiserin Adelheid, zweite Gemahlin Ottos I., wurden beide als Heilige verehrt. Da aber im Regensburg des 14. Jh. die
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Beliebtheit dieser beiden Namen gerade zu der Zeit, in der sich die HeiligenN durchsetzen, abnimmt, ist kaum von der Heiligenverehrung als Primärmotivation für die Vergabe dieser Namen auszugehen. Auch die Tatsache, dass diese RufN in der unteren Schicht am häufigsten anzutreffen sind, in der Schicht also, die am längsten an der Vergabe von TraditionsN festhält, spricht in diesen beiden Fällen gegen einen maßgeblichen Einfluss der Heiligenverehrung (vgl. KOHLHEIM 1977a: 366–369). Stärker hat die 1200 kanonisierte Kaiserin Kunigunde, die zusammen mit ihrem Gemahl Heinrich II. 1007 das Bistum Bamberg gründete, auf die spätmittelalterliche Namengebung gewirkt. Wenn Kungund im Bamberger Gerichtsbuch von 1403–1415 mit 18,2 Prozent den ersten Platz in der Häufigkeitsrangfolge der weiblichen RufN einnimmt (errechnet nach ARNETH 1956: 198), so ist hier der Zusammenhang zwischen Heiligenverehrung und Namengebung ganz offensichtlich. Die Nähe des Kultzentrums macht sich auch in der häufigen Vergabe des RufN im übrigen oberfränkischen Raum bemerkbar: Hier ist Kunigund/Kun 1497 (Reichssteuerregister) mit 10,2 Prozent der fünfthäufigste RufN nach Margareta, Elisabeth, Katharina und Anna (RECHTER 1988: XXIII). Ungefähr zur gleichen Zeit erreicht die Kurzform Kunne im weit entfernten Münsterland jedoch nur einen Anteil von 2,5 Prozent (HARTIG 1967: 87). Da der Kult der 1267 kanonisierten heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien, bis zum 19. Jh. fast ausschließlich auf dieses Gebiet beschränkt blieb (vgl. die Karte bei KUNZE 2003: 42), ist für die relativ seltene Vergabe des RufN Hedwig im übrigen deutschen Sprachgebiet vor allem das Selektionsprinzip der innerfamilialen Nachbenennung verantwortlich zu machen. Zur Vergabe von Gertrud einschließlich ihrer zahlreichen Kurz- und Koseformen hat die Verehrung der heiligen Gertrud von Nivelles, der Schutzheiligen gegen Ratten- und Mäuseplage, deren Festtag am 17. März „in der mittelalterlichen Frömmigkeit und im volkstümlichen Frühjahrsbrauch von großer Bedeutung“ war (HAIN 1961: 78), sicher beigetragen, doch scheint der Einfluss des Heiligenkultes nicht überall gleich groß gewesen zu sein. Die große Beliebtheit von Gertrud im Münsterland, wo sie zusammen mit Elze (< Elisabeth) 1498 mit 17,4 Prozent an der Spitze der Häufigkeitsrangfolge der weiblichen RufN steht (HARTIG 1967: 89), ist ohne hagiologischen Einfluss kaum vorstellbar. In Regensburg hingegen, wo die Häufigkeit von Gertrud zwischen 1200 und 1378 eine stark rückläufige Tendenz zeigt (von 9,1 Prozent im Zeitraum 1200-1249 bis auf 1,7 Prozent im Zeitraum 1365–1378; vgl. KOHLHEIM 1977a: 399), dürfte das Vorbild der heiligen Äbtissin von Nivelles nur schwach auf die Namengebung gewirkt haben. Die heilige Mystikerin Gertrud von Helfta (†1302) hat im Spätmittelalter noch keine Rolle als Namenspatronin gespielt, denn sie wurde erst im 16. Jh., als ihre Schriften gedruckt wurden, weiteren Kreisen bekannt (HAIN 1961: 79).
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2.2.5 Heiligennamen des ausgehenden Mittelalters Eine neue Schicht volkstümlich verehrter Heiliger, die z.T. der Gruppe der Vierzehn Nothelfer angehören, begegnet uns seit Ende des 14. Jh., vor allem aber im 15. Jh. in der Namengebung. Wolfgang, Erhard und Leonhard sind schon erwähnt worden. Außerdem zählen zu dieser späteren HeiligenN-Schicht u.a. die weiblichen RufN Barbara, Ursula und Walburga sowie die männlichen RufN Achatz, Gilg (Ägidius), Blasius, Christoph, Cyriacus, Dionys(ius), Erasmus, Jo(b)st (Jodokus), Pankraz, Pantaleon, Valentin und Veit (Vitus). Oswald ist als angelsächsischer Name ebenfalls ein Xenonym im deutschen Sprachbereich. Die Vergabe des RufN ab dem 14./15. Jh. hängt mit der volkstümlichen Verehrung zusammen, die der heilige König von Northumbrien (†642) in Süddeutschland, vor allem im Alpenraum, genoss. Wenzel, nach dem böhmischen Nationalheiligen, ist ein ausgesprochen spätmittelalterlicher RufN, der z.B. in Breslau und Regensburg ab der zweiten Hälfte des 14. Jh. (REICHERT 1908: 28; KOHLHEIM 1977a: 326–327), in Südwestsachsen seit dem 15. Jh. nachzuweisen ist (HELLFRITZSCH 2007: 362–363).
2.2.6 Die Wirkung von lokalem Kult und Patrozinium Der Einfluss von lokal verehrten Heiligen und von Kirchenpatrozinien hat zu einer regionalen Differenzierung der RufN-Gebung geführt. Auf die unterschiedlich intensive Vergabe der Namen Kunigund, Hedwig und Gertrud, die offensichtlich von der Nähe zum Zentrum des jeweiligen Kults abhing, ist schon hingewiesen worden. Die Träger der RufN Liborius/Börries konzentrierten sich um Paderborn, die von Lambert/Lamprecht im Rheinland, in Westfalen, um Freising und in der Steiermark, die von Kilian in Mainfranken, die von Pirmin in der Pfalz, die von Florian in Oberösterreich (KUNZE 2003: 43). Die heilige Märtyrerin Afra, die in Augsburg hoch verehrt wurde und neben St. Ulrich die zweite Patronin der Stadt war, vermochte nur in einem ganz kleinen Radius um Augsburg auf die Namengebung zu wirken (BUCHBERGER 1933: 79). Aus der Verbreitung der FamN Severin(g) und Frings/Brings im Rheinland (vgl. ZENDER 1986 sowie die Karten bei KUNZE 2003: 82–83) ist zu folgern, dass hier die Verehrung des wohl in der zweiten Hälfte des 4. Jh. in Köln wirkenden Bischofs Severin zur Zeit der Entstehung der FamN, also im 13./14. Jh., zu einer Vergabe des Namens zunächst als RufN geführt hatte. Dies gilt auch für den RufN Quirin, dessen frühere Vergabe im Westen Deutschlands sich in FamN wie Krings/Krien(s) u.a. widerspiegelt (vgl. ZENDER 1957: 89). Die Verehrung des römischen Märtyrers Quirinus ging vom niederrheinischen Benediktinerinnenkloster Neuss aus, das seit dem 11. Jh. im Besitz seiner Reliquien war. Für Bayern ist allerdings ein anderer lokaler Kult für die Namengebung relevant: der des heiligen Märtyrers Quirinus von
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Tegernsee. Doch lässt die Verbreitung eines FamN nicht notwendigerweise auf große Häufigkeit des zugrunde liegenden RufN schließen: Oft sind es gerade seltenere RufN, die kraft ihres besseren Differenzierungspotenzials BeiN und später FamN haben entstehen lassen (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2001b: 299). Als direktes Zeugnis für die Auswirkung eines lokalen Kults auf die RufNGebung ist die relative Häufigkeit des sonst eher seltenen RufN Alexander im spätmittelalterlichen Bremen zu werten: Alexander nahm hier die fünfte Stelle unter den nichtgermanischen Namen ein. In dem nahe gelegenen Kloster Wildeshausen wurde seit dem 9. Jh. der heilige Alexander, der als einer der sieben Söhne der heiligen Felicitas gilt, verehrt (KOHLHEIM 2003: 256–257). Hingegen spielte in Regensburg der Name des Patrons des bedeutenden Benediktinerklosters St. Emmeram in der Namengebung des Spätmittelalters nur eine ganz geringe Rolle. Zwischen dem 14. und 15. Jh. erreichte er maximal eine Frequenz von 0,4 Prozent (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2002: 91). Auch im spätmittelalterlichen Nürnberg wurden die Namen der Kirchenpatrone Sebald und Laurentius kaum vergeben (SCHEFFLER-ERHARD 1959: 13). Das war auch noch am Anfang des 17. Jh. so: Die RufN Sebald und Lorenz wurden jetzt von nur jeweils 1 Prozent der männlichen Bevölkerung getragen (KOHLHEIM 2014: 153). Die oft in der namenkundlichen Literatur zitierte Behauptung Johann FISCHARTs in seiner „Geschichtsklitterung“ (1891: 166f.), dass alle Nürnberger Sebald hießen, lässt sich somit nicht bestätigen, doch führte auch hier die relativ mäßige Vergabe des RufN zu einer Fortsetzung dieses Namens als FamN zwischen Nürnberg und Bayreuth (KLAUSMANN 2009: 66, Karte 28).
3 Heiligennamen im konfessionellen Zeitalter 3.1 Die evangelisch-lutherische Namengebung Welche Wirkung hatte nun die Reformation auf die Vergabe der Namen von Heiligen? Gab es einen onymischen „Bildersturm“? Martin Luther erkannte die eigentliche Aufgabe der Heiligen, so wie man sie bislang verstanden hatte, nicht mehr an: In der Bibel sei nur von Christus als Fürbitter bei Gott die Rede, die Anrufung der „Scharen und Haufen“ von Heiligen bedeute eine Verleugnung seiner einzigartigen Mittlerrolle. Aber als Exempel vorbildlich christlichen Lebens und als Glaubenszeugen ließ Luther die Heiligen gelten und befürwortete sogar die Heiligenlegenden: „Und nehest der heiligen schrifft ist ja kein nutzlicher buch denn die lieben heiligen Legenden“ (zitiert nach ANGENENDT 1997a: 236). Und so konnte beispielsweise Herzogin Elisabeth von Sachsen(-Rochlitz) am 16. April 1536 ihrem Bruder Landgraf Philipp von Hessen,
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einem eifrigen Verfechter der Reformation, schreiben: „Wo deyn dochter nicht gedauffet yst, bytt ich dich, lasse sey Elisabeth heissen, [...] so hatt sich sant Elisabeth gar crestlich vnd wol gehalten, das man yr wol magk nacheissen [nachheißen]“ (Abbildung des Briefes bei HEINEMEYER 1983: Abb. 38). Zwar erfüllte Philipp ihre Bitte nicht sofort, gab aber einer weiteren, drei Jahre später geborenen Tochter den Namen der Heiligen. „Viele seiner Nachfolger folgten seinem Beispiel“ (HEINEMEYER 1983: 75). Und noch zu Beginn des 18. Jh. nannte der protestantische Bayreuther Erbprinz Georg Wilhelm aus großer Verehrung seines Namenspatrons ein von ihm gegründetes Städtchen St. Georgen (RABENSTEIN/WERNER 1994: 45). Tatsächlich war die Heiligenverehrung mit ihren Feiern, Jahrtagen, Zinsterminen usw. auch im Volksleben zu tief verankert, um sofort ausgelöscht zu werden. Und so wie, zumindest im lutherischen Bereich, Altäre, Jahrtage und die Namen der Kirchenpatrozinien in der Regel erhalten blieben (ANGENENDT 1997a: 238), gab es eigentlich keinen Grund für evangelische Christen, die Namen der Heiligen nicht auch weiterhin zu vergeben, was sie auch eifrig taten. Als Beispiel kann hier Leipzig dienen. Die häufigsten weiblichen TaufN im ältesten Taufbuch von St. Nikolai sind zwischen 1554 und 1596, also nach Einführung der Reformation in Leipzig 1539, Maria, Anna, Margaretha, Magdalena, Katharina, Elisabeth, Barbara, Regina, Dorothea, Martha, die häufigsten männlichen Johann(es), Georg, Michael, Jacob, Andreas, Martin, Christoph, Peter, Paul und Bartholomäus (KREMER 2013: 391). Wie in der vorreformatorischen Namengebung führen neutestamentliche Namen und die Namen der großen Heiligen die Liste der häufigsten Namen an. Neu ist lediglich die Spitzenposition von Maria in der weiblichen Namengebung, was wirklich überrascht. Diese Beliebtheit des Namens stimmt allerdings überein mit der Beobachtung, dass auch unter Protestanten die Ehrung Mariens im 16. Jh. zugenommen habe, „freilich immer beschnitten um Anrufung und Fürbitte“ (ANGENENDT 1997a: 258). Leipzig ist kein Sonderfall. Auch in Nürnberg, wo die Reformation 1525 eingeführt wurde, dominieren selbst noch zu Beginn des 17. Jh. sowohl in der weiblichen als auch in der männlichen Namengebung die seit dem Spätmittelalter beliebten neutestamentlichen Namen und HeiligenN wie Margaretha, Anna, Barbara, Ursula, Katharina, Magdalena und Hans/Johannes, Georg, Konrad, Andreas, Wolf(gang), Nicolaus. Maria ist hier nicht so beliebt wie in Leipzig, erscheint aber um 1600 an siebter Stelle der häufigsten weiblichen Rufnamen (alle Angaben nach KOHLHEIM 2014: 151–154). Und auch im norddeutschen Raum, in dem sich die HeiligenN bis zur Reformation noch längst nicht intensiv durchgesetzt hatten – die Situation in Bremen ist schon erwähnt worden –, nimmt die Namenwahl nach heiligen Personen nach der Reformation noch deutlich zu. So steigt der Prozentsatz der nichtgermanischen HeiligenN in der holsteinischen Region Probstei zwischen 1550 und 1650 von 47,6 Prozent auf 71,1 Prozent (errechnet nach den Angaben bei WENNERS 1988: 236).
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Man mag hier einen Hinweis auf die angebliche Bevorzugung alttestamentlicher Namen seitens der protestantischen Namengeber vermissen. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber um eine immer wieder hartnäckig fortgeschriebene Behauptung, die sich anhand neuerer Untersuchungen schnell relativieren lässt (KOHLHEIM 2011; KOHLHEIM 2014). Gegen Ende des 16. Jh. trugen nur 1,8 Prozent der männlichen und 1,7 Prozent der weiblichen Einwohner Nürnbergs alttestamentliche Namen. Entsprechend klein ist auch die Anzahl der vergebenen RufN: Adam, Daniel, David, Elias, Esaias, Jeremias, Josias; Judith, Rachel, Sara, Susanna (KOHLHEIM 2011: 118–119). Eine besondere Vorliebe für RufN aus dem Alten Testament lässt sich höchstens bei täuferischen Kreisen in der Schweiz nachweisen, wo Namen wie Abraham, Daniel, Jakob, Salomon, Samuel; Hanna, Rebekka, Ruth verstärkt erscheinen (GYGER 1999). Auch unter den Kalvinisten wurden bevorzugt biblische Namen vergeben (KUNZE 2003: 45). Dagegen fehlen in den oben angeführten Aufstellungen der häufigsten nachreformatorischen RufN in Leipzig und Nürnberg alttestamentliche Namen – bis auf Jacob im Leipziger Inventar.18 Doch Jakob ist nicht nur alttestamentlich. Vielmehr sahen die mittelalterlichen Namengeber in Jakob den hochverehrten Jünger Jesu, Jakobus den Älteren, den ersten Märtyrer unter den Aposteln, dessen Kultstätte im spanischen Santiago de Compostela Ziel zahlloser mittelalterlicher Pilger war (vgl. KUNZE 2005). Auch in diesem Fall wird also protestantischerseits die vorreformatorische Namengebung zunächst fortgesetzt. Mehrere Gründe müssen für diese Kontinuität in der Namengebung angeführt werden. Genannt waren die spirituell-theologischen, die ein Fortführen der Namengebung nach Heiligen auch im Luthertum ermöglichten. Hinzu kommt, dass sich inzwischen – wann genau, wissen wir nicht – die Namengebung nach Paten, die automatisch für eine Perpetuierung des Namenbestands sorgte, durchgesetzt hatte. So hat schon Jost TRIER (1924: 148) erkannt: Der Heilige ist künftig nicht mehr der alleinige Vergeber seines Namens. Zwischen ihn und den neu zu Benennenden stellen sich ein oder mehrere Namensvermittler, ja schließlich eine ins Endlose angewachsene Kette von Zwischengliedern.
Schließlich aber sollte die Eigenständigkeit der Namengebung nicht unterschätzt werden. Wie eingangs dargelegt, handelt es sich bei der Verbreitung der nichtgermanischen Namen um einen Jahrhunderte währenden spatialen Diffusionsprozess, der im Laufe der Zeit seine eigene Dynamik entfaltete und sich nach der Glaubensspaltung ohne Bezug zur Heiligenverehrung im protestantischen Gebiet fortsetzte. Die Abwen-
18 In Nürnberg ist Jacob nicht so beliebt wie in Leipzig, mit Christoph und Paulus belegt er die achte Stelle in der Häufigkeitsrangfolge der männlichen RufN (KOHLHEIM 2011: 117–118).
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dung von der Heiligenverehrung bezog sich, so NAUMANN/HUBER (1999: 199, Anm. 100), „auf das Motiv, den Heiligen als Vorbild, aber nicht auf dessen Namen.“ So konnten sich trotz späterer besonderer Entwicklungen wie des Aufkommens pietistischer Namen und eines verstärkten Rückgriffs auf altdeutsche Namen im protestantischen Bereich diejenigen ursprünglich als HeiligenN vergebenen Namen, die bereits vor der Reformation üblich waren, im Inventar evangelischer Eltern halten. Für die neuen, im Folgenden zu behandelnden HeiligenN der katholischen Gegenreformation trifft dies natürlich nicht zu.
3.2 Die katholische Namengebung Eine stärkere Differenzierung zwischen protestantischer und katholischer Namengebung bildete sich erst ab dem späten 17. Jh. heraus (BALBACH 2014: 133–134; KLEINÖDER 1996: 355). Nach dem Tridentinum (1545–1563) bestand die katholische Kirche – zunächst im „Catechismus Romanus“ (1566) und später im „Rituale Romanum“ (1614) – ausdrücklich darauf, dem Kind bei der Taufe einen HeiligenN zu geben. Die bereits im Spätmittelalter entstandene Sitte, den Gedenktag des Heiligen, dessen Namen man trug, als „Namenstag“ zu feiern, wurde nun in den katholischen Gebieten durch Kapuziner und Jesuiten gefördert und entwickelte sich zu einem katholischen „Identifikationsmerkmal“ (KOLLER 2008: 1043). Darüber hinaus lässt die Popularisierung der Namenstagsfeier auch auf eine intensivierte Beziehung zwischen Namenträger und Namenspatron schließen. Besonderen „katholischen Glanz erhielt die Verehrung Mariens“ (ANGENENDT 1997a: 244). Dementsprechend wurde Maria zunehmend zu einem typisch katholischen Namen. In vielen katholischen Gegenden war Maria so häufig, dass mindestens ein zweiter VorN hinzutreten musste, um die Differenzierungsfunktion des Namens noch aufrecht zu erhalten (FINKENSTAEDT 1993/1994: 51). Die Verehrung des heiligen Joseph, des Nährvaters Jesu, dessen Gedenktag am 19. März 1621 zum gebotenen Feiertag erhoben wurde, erlangte dank der Gegenreformation eine große Bedeutung. Vom 17. Jh. an bis um die Mitte des 20. Jh. belegte Joseph Spitzenpositionen in den katholischen Gebieten, während dieser Name protestantischerseits gemieden wurde (vgl. MERKLE/MERKLE 1981: 116–117; SIMON 1989: 188–189; BALBACH 2014: 133– 134, 143). Anders als bei der Diffusion der HeiligenN im Spätmittelalter, die offenbar ohne Einwirkung der Kirche erfolgte, sorgten u.a. die Orden der Franziskaner und Jesuiten für die Verbreitung jener HeiligenN, die fortan als spezifisch katholisch galten. So gehörte Franz (zusammen mit Joseph und Johannes) zwischen 1646 und 1745 zu den beliebtesten Namen der Augsburger Katholiken, und dies war auch im katholischen Dillingen der Fall (BALBACH 2014: 133–134, 143). In München beträgt der Anteil des
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Namens Franz an der männlichen Namengebung (Tokens) im 16. Jh. 0,4 Prozent, im Jahr 1600 2,6 Prozent und 1730 20,2 Prozent. Im 19. Jh. sinkt sein Anteil etwas, doch hält sich Franz in der bayerischen Spitzengruppe und ist, regional unterschiedlich, in Bayern bis in die Mitte des 20. Jh. mit einem Anteil von zwei bis fast acht Prozent verbreitet (MERKLE/MERKLE 1981: 97). In Münster hingegen wird Franciscus nicht so hoch geschätzt wie in Süddeutschland (vgl. SIMON 1989: 188–189). Für die Vergabe des RufN Franz seit der Gegenreformation kommen mehrere Namenspatrone infrage. An erster Stelle ist der heilige Franz von Assisi, der Gründer des Franziskanerordens, zu nennen, an zweiter Stelle der heilige Franz Xaver, kanonisiert 1622, der Begründer der Jesuitenmissionen. Dessen BeiN Xaver nach seinem Geburtsort, dem Schloss Xavier (heute Javier) in Navarra (Spanien), entwickelte sich bald zu einem selbstständigen Namen.19 Gelegentlich treten auch der heilige Franz von Paula (Gründer des Ordens der Minimen, kanonisiert 1519), der heilige Franz von Sales (Kirchenlehrer, Kalvinistenmissionar und Gründer des Salesianerordens, kanonisiert 1665) und der heilige Franz von Borja (spanischer Jesuitengeneral, kanonisiert 1671)20 als Namenspatrone in Erscheinung. Anton, vor allem als Name des Franziskanerheiligen Antonius von Padua, wird in katholischen Kreisen häufig vergeben. Mit einem Anteil von 16 Prozent verdrängt Anton in München am Ende des 17. Jh. Joseph aus seiner Spitzenposition bei der männlichen Namengebung (MERKLE/MERKLE 1981: 53). Im Jahr 1750 ist Antonius nach Joannes und Benardus der dritthäufigste Name in Münster (SIMON 1989: 188). Wichtige nachreformatorische HeiligenN sind vor allem Ignaz (nach dem heiligen Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens, kanonisiert 1622) und Alois (nach dem heiligen Aloisius von Gonzaga, Jesuitenkleriker und Patron der studierenden Jugend, kanonisiert 1726). In München erreicht Alois 1770 mit 3,4 Prozent den Höhepunkt seiner Beliebtheit, sie geht aber bis 1870 auf zwei Prozent zurück. Im 19. Jh. war der Name „in Altötting, Endorf, Irschenberg, Wasserburg – mit 4 bis nahezu 6 Prozent Aloisiusanteil [...] am beliebtesten“ (MERKLE/MERKLE 1981: 45– 46). Nicht so viel Anklang fand die Vergabe von Karl Borromäus (nach dem 1610 kanonisierten Erzbischof von Mailand), Kajetan (nach dem heiligen Kajetan von Tiene, Gründer des Theatinerordens, kanonisiert 1671), Johann Nepomuk oder einfach Nepomuk (nach dem Landespatron von Böhmen, dessen BeiN auf seinen Geburtsort Pomuk zurückgeht, kanonisiert 1729), Alfons (nach dem heiligen Alfons Maria von Liguori, Gründer des Redemptoristenordens, kanonisiert 1839).
19 SEIBICKE (2003: 509) verzeichnet mehrere Belege aus dem 17. Jh. 20 Vgl. die von SEIBICKE (1998: 63) angeführten Belege aus dem 17.-19. Jh.
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Unter den neuen weiblichen HeiligenN, die vor allem im katholischen Süddeutschland vergeben wurden, war Theresia/Therese (nach der heiligen Karmelitin Teresa von Ávila, einer bedeutenden Mystikerin, kanonisiert 1622) der beliebteste. In Bayern stand Theresia im 18. und 19. Jh. fast überall „in der Spitzengruppe, übertroffen nur von Maria und Anna, und erreicht[e] Anteile zwischen 8 und 15 Prozent – während der Name in protestantischen Gegenden nahezu völlig ungebräuchlich“ (MERKLE/MERKLE 1981: 170–171) war. Weitere typisch katholische FrauenN sind Notburga (nach der heiligen Dienstmagd Notburga von Rattenberg), Veronika (nach der heiligen Veronika Giuliani, italienische Mystikerin und Kapuzineräbtissin), Kreszentia (nach der Franziskanerin Kreszentia Höß aus Kaufbeuren, deren Verehrung schon bald nach ihrem Tod 1744 einsetzte, die jedoch erst 1900 seliggesprochen wurde). Nur in katholischen Gebieten begegnet die Namenwahl nach dem Heiligen des Geburts- oder Tauftages oder nach einem „starken“ Heiligen, dessen Fest nach oder – seltener – vor dem Geburtstag des Täuflings begangen wird (MITTERAUER 1993: 351). Sehr verbreitet war dieser Brauch in Deutschland wohl niemals, sonst müsste auch eine Vielzahl ganz seltener HeiligenN Eingang in die katholische Namengebung gefunden haben, was offensichtlich nicht der Fall war.21 Bei den von SIMON (1989: 160–166) untersuchten westfälischen Gemeinden betrug der Prozentsatz der eventuell nach diesem Motiv benannten Personen nur zwischen 5 Prozent und 8 Prozent, wobei immer auch andere Motive – Familientradition, Patennachbenennung – selbst bei der Nähe des Geburts- bzw. Tauftages zu einem Heiligenfest nicht ausgeschlossen werden können. Etwas höher liegen die von KLEINÖDER (1996: 257) ermittelten Prozentwerte für die Oberpfalz: zwischen 11,3 Prozent im 18. Jh. und 6,8 Prozent im 20. Jh. Zeitlicher Höhepunkt dieser Art der Namenwahl war offensichtlich das 18. Jh.; im 20. Jh. findet FINKENSTAEDT (1993/94: 53) in dem von ihm untersuchten Dorf Wildsteig in Oberbayern keinen Beleg mehr dafür.
4 Schluss Säkularisierung, postmoderne Beliebigkeit, Modeabhängigkeit, Internationalisierung – dies sind einige der Begriffe, mit denen sich die aktuelle VorN-Gebung charakterisieren lässt. Zwar besteht das zurzeit gängige VorN-Repertoire größtenteils aus Namen, die ursprünglich HeiligenN waren, doch darf man davon ausgehen, dass sie
21 Vgl. das von KLEINÖDER 1996: 359–456 zusammengestellte oberpfälzische Nameninventar von der Reformation bis zum ausgehenden 20. Jh.
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heutigentags weitgehend nicht bewusst als solche vergeben werden; WOLFFSOHN/ BRECHENMACHER (1999: 260) sprechen hier von einem „Traditionsbruch“ und dem „Fall der Heiligen“ und konstatieren für München einen Rückgang der Namenwahl nach Heiligen schon seit dem Beginn des 20. Jh. Nach DEBUS (1987: 65), der die vorwiegend protestantisch bestimmte Namengebung von Kiel untersucht hat, spielt die Benennung nach Heiligen oder biblischen Gestalten nur noch „eine untergeordnete Rolle“. Doch auch die überwiegend katholischen Wöchnerinnen, die KOSS in den Jahren 1969/70 in Weiden in der Oberpfalz nach ihren Namengebungsmotiven befragte, gaben kaum einmal religiöse Gründe an: „Weder kirchliche Namenlisten noch Heiligenkalender wurden angeführt“ (KOSS 1972: 170). Dennoch wird in Einzelfällen die Namenwahl nach einem Heiligen noch immer eine Rolle spielen. Dass für Katholiken die Wahl des Namens eines ganz bestimmten Heiligen zumindest bis in die Mitte des vorigen Jh. noch immer von Bedeutung sein konnte, zeigen folgende Kirchenbucheinträge aus der Oberpfalz (KLEINÖDER 1996: 164): Franz von Assisi, als VorN vergeben am 17.01.1969, Franz von Sales, vergeben am 28.01.1923, Konrad v. P[arzham], vergeben am 01.07.1946, Theres (vom Kinde Jesu), vergeben am 07.07.1947, Theres (von Avila), vergeben am 24.03.1936 u.a. Und protestantischerseits lässt der große Erfolg des Buches „Große Heilige“ von NIGG, in dem der Autor anhand von Beispielen nachzuweisen sucht, dass „der wahre Heilige [...] der gesamten Christenheit und nicht nur einer Konfession verständlich“ ist (NIGG 1986: 12–13), darauf schließen, dass auch evangelische Eltern gelegentlich bewusst einen HeiligenN wählen – wenn auch wohl nur in seltenen Fällen. Nachträglich nachweisbar oder gar statistisch erfassbar ist das freilich nicht.
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Friedhelm Debus
Die biblische Elisabeth und Elisabeth von Thüringen im Spiegel der deutschen Namengebung Zusammenfassung: Die 1207 geborene ungarische Königstochter Elisabeth wurde 14-jährig mit dem thüringischen Landgrafen Ludwig verheiratet. Nach dessen frühem Tod kam die 20-jährige Witwe nach Marburg/Lahn, wo sie nach hingebungsvoller Armen- und Krankenpflege mit 24 Jahren 1231 verstarb. Nach ihrer Heiligsprechung 1235 setzten Wallfahrten ein, und ihre große Verehrung führte zu weit verbreiteter Elisabeth-Namengebung bis in die jüngere Gegenwart hinein, auch in protestantischen Gebieten. – Vor deren Heiligsprechung hatte die biblische Elisabeth, Mutter Johannes des Täufers, eine entsprechende, allerdings eingeschränkte Vorbildfunktion. Abstract: Elizabeth, born 1207 as the daughter of a Hungarian king, was married to the landgrave Ludwig of Thuringia at the age of fourteen years. After the death of her husband she changed the place of residence to Marburg/Lahn, where she committed herself to the care of sick and poor people. She died in 1231 and was canonized in 1235. Her veneration led to pilgrimages and particularly to a widespread naming of Elizabeth during centuries, even in Protestant regions. – The biblical Elizabeth, mother of John the Baptist, was less important with regard to naming.
1 Hinführung Als angefragt wurde, ob im Rahmen der Tagung „Heiligenverehrung und Namengebung“ ein Vortrag möglich sei, kam für mich als dem im Umkreis von Marburg/Lahn Aufgewachsenen und sozusagen im Schatten der Elisabethkirche in Marburg über Jahre hin Wirkenden in spontaner Entscheidung nur ei n Name in Frage: E l i s a b e t h . Im Begleitband zur bundesweit und international gezeigten großen Ausstellung zum 800. Geburtstag 2007 der in Marburg in hingebungsvollem Dienst an Kranken und Armen tätigen und gestorbenen Elisabeth heißt es: Neben der Marburger Elisabethkirche mit dem Hospital des Deutschen Ordens waren es vor allem die Landeshospitäler, aber auch die landgräfliche Familie, die das Andenken Elisabeths in Hessen wach hielten. Besonders in und um Marburg haben im Lauf der Zeit unzählige Frauen ihren Namen getragen. (RÖMER 2008: 32)
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Die letztere Aussage kann ich aus eigenem Erleben bestätigen. In meinem etwa 15 km westlich von Marburg gelegenen ehemaligen Heimatdorf (Friedensdorf) mit damals nur rund 700 Einwohnern gab es zahlreiche Frauen in der Elterngeneration, die in der Regel auf den offiziell-amtlichen Namen Elisabeth getauft waren, aber allgemein unter den umgangssprachlich-dialektalen Formen bekannt waren und auch so genannt bzw. gerufen wurden.1 So hieß unsere direkte Nachbarin Hannweiets Elsewitt, wobei Else- die verkürzte Variante von Elisa- und -witt die dialektal durch intervokalisch zu w gewandeltes b sowie durch Palatalisierung des e zu i geformte Variante von -beth darstellen. Kombiniert ist der VorN mit einem in dieser Gegend üblichen ländlichdörflichen HausN in reduzierter Genitivform, hier dialektal gebildet aus Johann Weigands [Haus] (vgl. DEBUS 2013). Unser Nachbarhaus auf der anderen Seite trug und trägt den Namen Elsches, wiederum mit Else und hier mit dem Verkleinerungssuffix -che und Genitiv-s; das Ursprungshaus ist früh nach einer Frau dieses Namens benannt worden. Damit nicht genug: Auch meine Mutter hieß Elisabeth und meine ältere Schwester ebenso, allerdings bezeichnenderweise mit ZweitN; bezeichnenderweise, weil sich damit eine sich verändernde Namengebungspraxis andeutet, wie noch auszuführen ist. Andere Varianten von Elisabeth gab es im Dorf teilweise mehrfach, so Lisabeth, Lisbeth, Liesche, Else, Elsche, Elli, Ilse, Bettche.
2 Zur Biographie Elisabeths von Thüringen Elisabeth, die spätere Heilige, war die 1207 geborene Tochter des ungarischen Königs Andreas II. und seiner aus dem Hause Andechs-Meranien stammenden Gemahlin Gertrud. Mit vier Jahren wurde Elisabeth an den Thüringer Hof gegeben und verlobt mit Ludwig, dem Sohn des mächtigen und kunstsinnigen Landgrafen Hermann I., dem Erbauer der Wartburg und Förderer der mittelhochdeutsch-höfischen Dichtung (†1217). Als 14-Jährige wurde Elisabeth mit dem 7 Jahre älteren Ludwig IV. verheiratet und bekam die namentlich bekannten Kinder Hermann, Sophie und Gertrud; es gab noch eine dritte Tochter. Schon 1227 starb Ludwig auf dem im Gefolge Friedrichs II. unternommenen Kreuzzug an einer Seuche in Italien. Die erst 20-jährige Witwe Elisabeth musste auf Betreiben ihrer missgünstigen Schwäger die Wartburg verlassen und nahm durch Vermittlung des Kreuzzugspredigers und Ketzerverfolgers Konrad von Marburg nach kurzem Zwischenaufenthalt am Fuß der Wartburg und in Bamberg ihr Witwengut im damals zu Thüringen gehörenden Marburg/Lahn in Besitz. Freilich: Mit ihrem Besitz ging sie um, wie sie das bereits auf der Wartburg als
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Nur selten sind in das zuständige Taufbuch Varianten des Namens eingetragen; s.u.
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Landgräfin zum großen Ärger ihrer Schwäger begonnen hatte: Sie verschenkte und opferte ihn mehr und mehr in hingebungsvollem Pflegedienst an Kranke und Arme; dies unter wesentlichem Einfluss der Ideen des Franz von Assisi. Sie errichtete im Lahntal in der Nähe einer Quelle (heute Elisabethquelle) ein Haus aus Holz und Lehm und ein Hospital mit einer Kapelle, der Franziskuskapelle, und besorgte sich nach dem Tod Franz von Assisis Reliquien aus Assisi. Elisabeth gründete „eines der ersten Franziskuspatrozinien in Europa überhaupt; es handelte sich aber nicht um eine Franziskanerniederlassung“ (ALBRECHT/ARTZBACH 2006: 40). In Marburg widmete sie sich ihrer entbehrungsreichen Tätigkeit der Nächstenliebe unter strenger Aufsicht ihres vom Papst eingesetzten Vormunds und Beichtvaters Konrad von Marburg.2 Ausgezehrt und erschöpft starb sie erst 24-jährig im November des Jahres 1231 und wurde nach drei Tagen am 19. November in der Franziskuskapelle beigesetzt. Bereits 1235 erfolgte ihre Heiligsprechung durch Papst Gregor IX. Schon 1228 hatte er Franz von Assisi, zwei Jahre nach dessen Tod, heilig gesprochen. Unmittelbar nach Elisabeths Tod und Bestattung setzten auf Grund von Berichten über Wunderheilungen Wallfahrten ein: „Schon in den ersten Jahren nach Elisabeths Tod wurde Marburg zum wichtigsten deutschen Wallfahrtsort neben Aachen und Köln“ (ALBRECHT/ARTZBACH 2006: 56). Nicht nur, aber zunächst insbesondere aus hessischen Gebieten, strömten Pilger nach Marburg. Die in RÖMER (2008:63) wiedergegebene Karte verzeichnet die Herkunftsorte der Pilger, die zwischen November 1231 und Januar 1235 am Grab Elisabeths angeblich wundersam geheilt wurden: „Der massenhafte Elisabethkult blieb auf Marburg und Hessen beschränkt. Einzelne jedoch fanden von weit her ihren Weg nach Oberhessen, wie Pilgerzeichen aus Schweden, Holland und Lübeck zeigen“ (RÖMER 2008: 62). Der bis heute das Stadtbild Marburgs prägende Ausdruck dieses anschwellenden Wallfahrts- und parallel sich entwickelnden Reliquienkultes (vgl. besonders RÖMER 2008: 50, 74) ist die in rein gotischem Stil erbaute Elisabethkirche. Nach dem Tod Elisabeths ging das Franziskushospital mit Kapelle an den Deutschen Orden über, in den der Schwager Elisabeths, Konrad von Thüringen, eingetreten war. Der Orden begann bereits 1235 über dem Grab Elisabeths mit dem Bau der großen Wallfahrtskirche, die in kurzer Zeit bis 1283 fertiggestellt und geweiht wurde. Bis zur Auflösung der Marburger Niederlassung des Deutschen Ordens 1809 verblieb die Elisabethkirche im Besitz desselben (vgl. z.B. weiterführend RÖMER 2008: 53– 55). Die große Verehrung der Heiligen hat über die Jahrhunderte hin auf mannigfache Weise Ausdruck gefunden. So sind bereits früh Lebensbeschreibungen verfasst wor-
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Zum Marburger Hospital mit Berichten über Ausgrabungen und Rekonstruktionen sowie zu Elisabeths Tätigkeiten vgl. besonders ALBRECHT/ARTZBACH (2006) und MÜLLER (2012).
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den, beginnend gleich mit der Vita von Konrad von Marburg im Zusammenhang mit der angestrebten Heiligsprechung Elisabeths oder mit der besonders bedeutenden etwa 60 Jahre nach der Heiligsprechung entstandenen Vita des Mönchs Dietrich von Apolda. Unzählige Lebensbeschreibungen und Arbeiten über Elisabeth sind im Laufe der Zeit bis in die Gegenwart hinein entstanden (vgl. z.B. HEILAND-JUSTI 2007), worunter diejenige der Freud-Schülerin Elisabeth (!) BUSSE-WILSON (1931) eine Sonderstellung einnimmt insofern, als Elisabeth von ihr als Neurotikerin beschrieben wird. Nicht zuletzt gibt es neben dem auf der Wartburg uraufgeführten Oratorium „Die heilige Elisabeth“ von Franz Liszt und weiteren Oratorien viele Kunstwerke an Stätten der Verehrung der Heiligen: Bilder, Fresken, Glasgemälde, Skulpturen. Da ist zuerst die Elisabethkirche selbst zu nennen mit dem Lebenszyklus der Heiligen auf dem bereits im 13. Jh. entstandenen, bestens erhaltenen großen Glasfenster im Chor der Kirche mit der Krönung von Elisabeth durch Maria und von Franziskus durch Christus, dazu weiter das Elisabeth-Franziskus-Fenster. Ferner ist neben einigen Skulpturen zu erwähnen der zwischen 1235 und 1249 für die Gebeine der Heiligen geschaffene Elisabeth- oder Reliquienschrein mit seinen 18 Figuren, aus vergoldetem Silber- und Kupferblech getrieben.3 Von den weiteren meistens aus dem 15. Jh. stammenden Darstellungen seien hier nur je eine aus dem Norden und Süden beispielhaft genannt: einerseits der ausdrucksstarke Lübecker Elisabethzyklus im dortigen Heilig-Geist-Hospital von 1440 mit 23 Bildern auf Holztafeln;4 der frühe Beleg einer Wallfahrt von Lübeck nach Marburg wurde bereits erwähnt (s.o.). Andererseits gibt es mehrere Zeugnisse der Elisabethverehrung aus Freiburg im Breisgau, darunter das eindrucksvolle Glasfensterbild, gestiftet 1496 von Elisabeth (!) von Bondorf und ihrem Ehemann Johann Heininger (heute in der Sakristei des Freiburger Münsters mit drei weiteren Glasbildern), ferner noch ein Elisabeth-Glasfenster für die Freiburger Kapelle der Kartäuser, dazu 13 Miniaturen über das Leben der Heiligen, gemalt von der Klarissin Sibilla von Bondorf, schließlich zwei Handschriften, darunter eine um 1480 im Freiburger Klarissenkloster von einer Elisabeth (!) Vogtin gefertigte Elisabeth-Handschrift, die sich im Besitz der Marburger Gelehrtenfamilie Justi befand und über deren für die Justi-Familie unglückliches Schicksal Werner Heiland-Justi neuerdings berichtet.5 Auch in der Literatur sind nicht selten der Name Elisabeth oder Varianten desselben verwendet worden; z.B. heißt die Frau von Götz von Berlichingen (1774) bei Goethe Elisabeth;6 übrigens hieß Goethes Mutter auch so. Und
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Vgl. hierzu insbesondere RETZLAFF (1954/1955); PARELLO (2009); RÖMER (2008), passim, besonders: 50–51. Vgl. z.B. die Abbildungen in ALBRECHT/ARTZBACH (2006: 68–87). HEILAND-JUSTI (2011); vgl. dazu JOOS (2012/2013). Weitere Beispiele verzeichnet SEIBICKE (1996–2007: I, 651).
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Richard Wagner, der sich vornehmlich als Dichter verstand und die Texte für seine Musikdramen selbst verfasste, verwendet im „Tannhäuser“ Elisabeth in faszinierendbedeutsamer Funktion und Elsa im „Lohengrin“ mit nicht geringerer Bedeutsamkeit.7 Ob freilich die Aussage, durch Wagners „Lohengrin“ sei der Name „Elsa als V[or]N verbreitet“ worden (SEIBICKE 1996–2007: I, 612) zutrifft, müsste wohl genauer untersucht werden; immerhin nennt SEIBICKE (1996–2007: I, 625) für die Zeit seit dem 19. Jh. (1850 fand die erste Aufführung des „Lohengrin“ statt) nicht wenige Belege. Auf jeden Fall dürfte das für Wagnerianer zutreffen. Die Wertschätzung des Namens Elisabeth wird auch in Theodor Fontanes letztem Roman „Der Stechlin“ (1898) deutlich, in dem die positiv charakterisierte Gräfin Armgard auf die Frage, für welche der schottisch-englischen Königinnen, Maria oder Elisabeth, sie sich entscheiden würde, antwortet: Nicht für die eine und nicht für die andre. Nicht einmal für beide. […] Aber es gibt andre, die mir mehr bedeuten, und, um es kurz zu sagen, Elisabeth von Thüringen ist mir lieber als Elisabeth von England. Anderen leben und der Armut das Brot geben – darin allein ruht das Glück. (FONTANE 1961: 457)
3 Namengebung nach Elisabeth von Thüringen „Heiligenverehrung und Namengebung“ war auch der Titel der Dissertation, mit der Edmund Nied 1923 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., begleitet durch Alfred Götze, promoviert wurde (NIED 1924a). Über die von ihm unter Berücksichtigung der FamilienN behandelten HeiligenN hinaus gehören im Rahmen unseres Themas auch Namen für Objekte aller Art, Institutionen usw. Die Elisabethkirche, das Elisabethfenster, der Elisabethbrunnen sind uns bereits als Beispiele begegnet. Friedhelm JÜRGENSMEIER und Regina Elisabeth (!) SCHWERDTFEGER haben in einem Beitrag über 400 katholische Elisabethpatrozinien gesammelt und kartographisch erfasst (JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER 1982). Das sind außer Kirchen und Kapellen: Krankenhäuser, Spitäler, Stifte, Heime, Schulen, Kindergärten und immer wieder besondere Glocken. Die beigegebene Karte in JÜRGENSMEIER/SCHWERDTFEGER (1982) zeigt die Verteilung über das ganze Gebiet der damaligen BRD und DDR mit gewissen Schwerpunkten in katholischen Regionen. Inzwischen sind zweifellos weitere Belege hinzugekommen, nicht zuletzt auch aus protestantischen Bereichen; so gibt es z.B. sowohl in Eisenach als auch in Bad Gandersheim einen Elisabethbrunnen. Das
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Vgl. hierzu KOHLHEIM/KOHLHEIM (2013, insbesondere 449–450 und 458–459).
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wäre einer besonderen Untersuchung wert. Denn hier zeigt sich das, was auch in der Personennamengebung zutage tritt: Die Heiligenverehrung hat durch die Reformation keinen wirklichen Einbruch in der Namengebung erfahren. Insofern ist die folgende Aussage unter Berufung auf Luther nur teilweise zutreffend: „Weil Heilige in der Bibel nicht erwähnt werden, lehnt der Protestantismus ihre Verehrung ab – auch wenn sie für den gläubigen Protestanten durchaus beispielhaft sein können.“8 Gewiss, Reliquien- und Wallfahrtskult wurden abgelehnt, weshalb der frühe Verfechter der Reformation, Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen, 1539 in die Elisabethkirche eindrang und die Gebeine Elisabeths aus dem Reliquienschrein ausräumen ließ zur Vernichtung derselben – was freilich nicht vollends gelang, weshalb es weiterhin nicht wenige, kaum immer echte Reliquien Elisabeths gibt. Dass es durch die Reformation keinen Bruch in der traditionellen Namengebung gab und besonders Elisabeth weiterhin ein sehr beliebter Name blieb, wird durch zwei Aspekte erklärlich: Zum einen war durch die lange Zeit seit der Heiligsprechung Elisabeths die Tradition der Namengebung so gefestigt, dass diese sozusagen eine eigene Dynamik auch ohne direkten Bezug auf die Heilige entfalten konnte, z.B. durch Benennung nach Paten oder weil der Name „Mode“-Charakter besaß; zum anderen war auch im Luthertum – entgegen der Aussage im gegebenen Zitat und weiteren Äußerungen von protestantischer Seite – den Heiligen gegenüber eine positive Einstellung geblieben, wie das in der wesentlich von Philipp Melanchthon verfassten und von Luther von der Veste Coburg aus (wegen des verhängten Banns) abgesegneten CONFESSIO AUGUSTANA, der Augsburger Bekenntnisschrift von 1530, ausdrücklich festgehalten ist: In unser Confession leugnen wir nicht, daß man die Heiligen ehren soll. Denn dreierlei Ehre ist, damit man die Heiligen ehret. Für das erst, daß wir Gott danksagen, daß er uns an den Heiligen Exempel seiner Gnaden hat dargestellet […]. Die andere Ehre, so wir den Heiligen tun mügen, daß wir an ihrem Exempel unsern Glauben stärken […]. Für das dritte ehren wir die Heiligen, wenn wir ihres Glaubens, ihrer Liebe, ihrer Geduld Exempel nachfolgen, ein jeder nach seinem Beruf […]. Weiter, ob die Heiligen gleich beten für die Kirchen, so folget doch daraus nicht, daß man die Heiligen solle anrufen. Wiewohl unser Confession allein dies setzet: in der Schrift steht nichts von dem Anrufen der Heiligen oder daß man Hilf suchen solle bei den Heiligen.9
Luther selbst hat in seiner Predigt über die „Epistel am S. Stephanus-Tage“ (Apg. 6, 8–14) anerkennend die heilige Elisabeth als Vorbild angeführt. Diese Predigt ist wie andere in der von Luther auf der Wartburg redigierten, zuerst 1522 gedruckten „Kir-
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RÖMER (2008: 74); vgl. u.a. besonders diese Publikation für die folgenden Ausführungen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf JUSTI (1797). CONFESSIO AUGUSTANA (1956: 317–318).
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chen-Postille“10 enthalten und wurde immer wieder nachgedruckt und in redigierter Form in weiten Kreisen gelesen, getreu der Bestimmung im Untertitel: „zur religiösen Erbauung in den Familien aller Stände.“ Ich zitiere hier den Originaltext: […] das yhe niemandt auff seyne werck bawe. Danach, dieweyl er lebt vbe er sich alleyn ynn den wercken, damit er seynem nehsten hulfflich sey […]. Ich will hie sagen eyn Exempel von der heyligen frawen S. Elizabeth: Die kam eyn mal ynn eyn kloster und sahe, das unßers herrn leyden war hubsch gemalet an den wenden, unnd sprach: Die kostung sollt yhr gespart habenn tzur narung des leybs. Denn solchs sollt ynn ewren hertzen gemalet seyn: Sihe da, wie eyn eynfeltig, gottlich und krefftig urteyll ist das uber die ding, die doch ydermann kostlich acht; […].11
Ob dies der Anlass dafür war, dass Luther seine am 10. Dezember 1527 geborene erste Tochter Elisabeth nannte, die bereits am 3. August 1528 starb12, oder ob andere Bezüge wichtig waren, die es in seinem Umfeld gab, wissen wir nicht. Bekannt ist, dass eine verwaiste Tochter von einer seiner Schwestern Else hieß13, die Frau seines Mitstreiters Johann Agricola den Namen Elsa führte14 und die der Lutherfamilie eng vertraute Frau von Luthers Professorenkollegen an der Wittenberger Universität Caspar Cruciger Elisabeth hieß; diese dichtete übrigens 1524 das bereits in das erste evangelische Chorgesangbuch 1524 aufgenommene und noch im heutigen Evangelischen Gesangbuch vorhandene Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (von Johann Sebastian Bach in seine Kantate Nr. 96 aufgenommen) und wurde damit zur ersten Liederdichterin der evangelischen Kirche. Luther benannte seine sechs Kinder (drei Jungen, drei Mädchen) offensichtlich bewusst nach bestimmten Vorbildern; bei seinem dritten Sohn Paul bezieht er sich ausdrücklich auf den Apostel Paulus (vgl. MEISNER 1981: 240).
10 Postille wurde von mittellat. Postilla entlehnt, das seinerseits die Verkürzung aus lat. post illa verba sacrae scripturae darstellt und als Formel nach der Verlesung des Bibeltextes als Auftakt der Predigt verwendet wurde; daher die Bedeutung ‘Predigtbuch, Predigtsammlung’. 11 WA W 10 (Erste Abt., Erste Hälfte, Weimar 1910: 257–258). Der Herausgeber merkt dazu in einer Fußnote an: „Die Erzählung hat Luther jedenfalls auf der Wartburg gehört.“ 12 Der tieftraurige Vater schreibt am 5. August 1528 an den Stadtpfarrer und Freund Nikolaus Hausmann: „Defuncta est mihi filiola mea Elisabethula […]“ (WA BR 4: 511). 13 Vgl. MEISNER (1981: 201–202), wo er auch die wegen ihres evangelischen Glaubens zu Luther geflüchtete Kurfürstin Elisabeth von Brandenburg erwähnt. Hingewiesen sei auch auf die sächsische Herzogin Elisabeth Rochlitz (1502–1557), die in ihrem Herrschaftsbereich 1537 die Reformation einführte. 14 Luther schreibt am 10. Juni 1527 einen Trostbrief an sie, beginnend mit „Mein liebe Elsa“ (WA BR 4: 210), und an Johann Agricola Anfang Juli (?) 1527, beginnend mit „[…] Elsam tuam“ (WA BR 4: 219).
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4 Belege für die Elisabeth-Namengebung Elisabeth ist neben den Heiligennamen Anna, Katharina und Margarethe über Jahrhunderte hin einer der beliebtesten FrauenN in Deutschland gewesen. Das zeigen die mit großem Fleiß zusammengetragenen Zeugnisse, die Wilfried SEIBICKE (1996– 2007) in seinem „Historischen Deutschen Vornamenbuch“ verzeichnet. Aus allen Gebieten hat er vorhandene Untersuchungen akribisch ausgewertet und dokumentiert, dass Elisabeth mit Varianten in der Regel vordere Plätze, nicht selten den ersten Platz in der Beliebtheitsliste eingenommen hat.15 Diese Beliebtheit zeigt sich auch darin, dass – ähnlich wie bei Maria – der Name Elisabeth als BeivorN für Männer begegnet, z.B. in der Oberlausitz 1775 beim nach der Mutter zusätzlich benannten Ernst Philipp Elisabeth d’Huc. Für die Verbreitung des Elisabeth-Namens mit teilweise regional spezifischen Varianten sei nachdrücklich auf SEIBICKEs Werk verwiesen. Hier möchte ich nur auf einige Beispiele aus dem Süden und Norden, Osten und Westen sowie aus der Mitte Deutschlands eingehen. Bedingt durch die Quellenlage handelt es sich bei den folgenden Exempla um bestimmte Zeitfenster. In der Regel begegnen in den Quellen auch regionale Varianten, die ich hier aber meist übergehe: Freiburg im Breisgau haben wir bereits als ein gewisses Zentrum der Elisabeth-Verehrung kennengelernt, wobei uns en passant auch Trägerinnen dieses Namens begegnet sind. Nach der Dissertation von Hedwig METZGER (1920), die den Zeitraum 1200–1600 abdeckt, gibt es im 13. Jh. 6 Belege (= 3. Platz), im 14. Jh. 203 Belege (= 2. Platz), im 15. Jh. 165 Belege (2. Platz) und im 16. Jh. 99 Belege (= 4. Platz). Nach freundlich-brieflicher Auskunft von Kathrin Dräger (vom 11.2.2014) ist die Zeit nach 1600 nicht untersucht, doch nach Mitteilung des Freiburger Standesamts gab es bezeichnenderweise neuerlich wenige Belege: 2007 nur einen, 2008 drei, 2009 und 2010 sechs, 2011 fünf, 2012 acht und 2013 zwei, jeweils als erster VorN.16 Für Regensburg hat Volker KOHLHEIM (1977: 65, 400, 450, 453) die Elisabeth-Vorkommen des 13. und 14. Jh. untersucht und dabei von 1250–1299 2,9 Prozent und bis 1378 sich stetig steigernd bis auf 18,8 Prozent bei jeweils erstem Platz festgestellt. Für Lübeck verzeichnet Almuth REIMPELL (1928) 76 Belege bis zur Mitte des 14. Jhs, darunter Telseke, die niederdeutsche Verkleinerungsform von typisch norddeutschem Telse mit anorganischem T-Vorschlag.17 Für Hamburg hat Klaus-J. LORENZEN-SCHMIDT (2013) die FrauentaufN aus den Erbebüchern von 1274–1454 zusammengetragen, aber für die Varianten von Elisabeth keine Zahlen oder Prozentwerte
15 SEIBICKE (1996–2007: I, 611–615; V, 202–203). Zu den meisten Varianten bringt er außerdem eigene Artikel. 16 Ich danke Kathrin Dräger für ihre Auskünfte, auch für zwölf Deutschland betreffende Kartenausdrucke mit der Verbreitung von Elisabeth und Varianten, erstellt nach Telefonanschlüssen des Jahres 2005. Solche Karten wären gesondert zu analysieren. 17 Vgl. dazu HARTIG (1967: 237) oder FRANK (1977: 152, 360–361).
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angegeben, wohl aber für Elzebe/Ilsebe/Beke aus dem Mitgliederverzeichnis der HausdienerBruderschaft von 1366–1521 mit 101 Belegen bzw. 13,4 Prozent den zweiten Platz nach Greteke/Margareta mit 115 Belegen bzw. 15,1 Prozent ermittelt (LORENZEN-SCHMIDT 2013: 441– 442). Für den Osten sei Horst NAUMANN (1973: 171–178) herangezogen, der neun Städte und Dörfer aus der DDR berücksichtigt hat und dabei für 1924 47 Belege für den Namen Elisabeth zählt, der bei Mitzählung von Ilse (148), Else (33), Elsa (21) und Lisbeth (19) insgesamt 268 Belege ergeben, womit der erste Platz erreicht wird. Nachfolgend geht die Belegzahl stark zurück: 1934 gibt es 54 Belege, 1944 15 Belege für Ilse und Elisabeth, 1954 9 Belege allein für Elisabeth, danach gibt es keine Belege mehr. Nach Bernd KLEINTEICH (1992) stieg 1989 die Belegzahl auf 55 für die DDR insgesamt (vgl. zu Leipzig KREMER 2013: 391). Für den Westen sei die besonders aufschlussreiche Untersuchung von zwei konfessionell gemischten Gemeinden bei Bonn (Flamersheim und Oberwinter mit je zwei konfessionell geschiedenen Kirchengemeinden) durch Eva AMMERMÜLLER (1973) berücksichtigt. Für den Zeitraum 1686–1970 hat sie die jeweiligen Namengebungen einander gegenübergestellt und für Elisabeth in Flamersheim eine durchgehend deutliche Dominanz auf katholischer Seite, für Oberwinter dagegen eine deutliche Überzahl nur bis etwa 1800 auf evangelischer Seite mit dem 2. Platz nach Maria festgestellt (AMMERMÜLLER 1973: 69). Interessant ist weiter die Feststellung, dass nach 1950 bei den Evangelischen die traditionellen FrauenN (also auch Elisabeth) vollständig verschwanden, während sie bei den Katholiken noch fortexistierten. Für die geographische Mitte kehre ich zurück zum eingangs angesprochenen ehemaligen persönlichen Umfeld. Mein alter Heimatort gehörte zum früh protestantisch gewordenen Kirchspiel Dautphe mit sechs kleineren Dörfern neben dem Zentralort Dautphe (Silberg, Hommertshausen, Mornshausen, Herzhausen, Allendorf, Friedensdorf). Für diese sieben Orte existiert das 1629 einsetzende Taufbuch, das ich nach dem Vorkommen von Elisabeth durchgesehen habe.18 Generell kann festgestellt werden, dass von Anfang an dieser HeiligenN in der Regel den 1. Platz oder einen der vordersten Plätze der vergebenen FrauenN belegt. Erst im 20. Jh. beginnt der Rückgang des Namens, während die HeiligenN Anna und Katharina in der Beliebtheit nach vorne rücken und ja noch heute allgemein unter den beliebtesten Namen begegnen. Ich gebe nachfolgend zur Illustration nur einige herausgegriffene Jahresbefunde: 1629: Elsbeth 6, Catharin 5, Enchen 3, Gertrud 3, Marg(a)reth 2, Magdalen 2, Kreingen 1, Ann 1. 1682: Elisabeth(a) 7, Anna Catrin 3, Enchen 2, Margaretha 1, Anna Marg. 1, Gerdraut 1, Catrin 1, Anna 1. Hier zeigt sich bereits die BeivorN-Gebung, die dann stark zunimmt: 1837: Elisabetha 8, Anna 8, Gertraud 4, Katharina 3, Margaretha 2, Anna Elisabetha 2, Emma Karoline Elisabetha 1, Anna Katharina 1, Anna Margaretha 1, Anna Gertraud 1, Dorothea 1, Magdalene 1. Im Jahr 1900 erreicht Elisabeth (mit BeivorN) die deutlich höchste Belegzahl. Es ist dies das Jahr, welches mit den Jahren unmittelbar davor und danach die Geburtsjahrgänge der eingangs genannten eigenen Elterngeneration betrifft: 1900: Elisabeth 12, Katharina/-e 8, Anna 5, Anna Elisabeth 3, Luise 3, Anna Emma Elisabeth 1, Anna Katharina 1, Anna Margarethe 1, Frieda Anna 1, Luise Inge 1, Margaretha 1, Dorothea 1, Rosa 1.
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Der jeweilige Pfarrer hat meistens die „offizielle“ Form, aber auch gelegentlich Varianten derselben eingetragen.
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In den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jhs behält Elisabeth noch deutlich die Führungsposition. So kommt 1920 dieser Name noch 7-mal als EinzelN vor, daneben öfter in Kombination: 1-mal als Elisabeth Katharina, aber 6-mal den Rückgang kennzeichnend als ZweitN (darunter Anna Elisa und sogar Elsa Elisabeth Margaretha und als Kompositum Annelise) und 1-mal als DrittN in der bemerkenswerten Variante Marie Luise Elsewith (s. 1.); dazu wurden die sich als verselbständigenden, wohl nicht mehr zu Elisabeth gehörend empfundenen Kurzformen Elli, Lisa und Ilse gegeben. Schon 1925 kommt dann Elisabeth nur noch in Zweit- oder Drittposition oder in Varianten vor: Anna Lisabeth, Maria Elisabeth, Katharina Elisabeth, Lydia Elisabeta, Emmi Elisabeth, Margarete Else neben Else, Elli, Lilli. 1935 ist Elisabeth zwar noch 1-mal als EinzelN belegt, daneben aber nur noch in Kombination oder als Kurzform: Magdalene Elisabeth, Lydie Elisabeth, Erna Elisabeth, Anna Elli oder als Kompositum Anneliese neben Elli. 1945 kommt Elisabeth nur noch 2-mal als BeivorN neben Ella als ErstN und Ilse als DrittN vor. 1950 zeigt sich dann ein deutlicher Wandel. Es ist die Zeit, in der zahlreiche Flüchtlinge aus dem Osten die Bevölkerungszahlen anschwellen ließen und in der Namengebung viele neue „moderne“ Namen auftauchen, wie z.B. Anita, Gerlinde, Gunda, Renate oder Ute. Bei dieser erheblich angestiegenen Namenzahl kommt Elisabeth nur noch 2-mal als BeivorN vor neben Else als ErstN, Ilse als DrittN und Marliese als Kompositum. Die steigende Bevölkerungszahl führte dann auch dazu, dass aus dem großen Kirchspiel Dautphe 1951 das neue Kirchspiel/Pfarramt Friedensdorf mit Allendorf und Damshausen ausgegliedert wurde. Das Taufregister dieses neuen Pfarramtes habe ich bis zur Gegenwart durchgesehen mit dem Ergebnis, dass Elisabeth selten begegnet: Erst 1961 Anna Elisabeth (mit Bezug auf die Großmutter), Birgit Elisabeth und Elli, 1963 Anne Elisabeth (nach der Taufpatin), 1966 Anne Elisabeth (nach der Mutter mit ZweitN Elisabeth), 1977 Elisabeth (die Mutter kath.), 1978 Tanja Elisabeth (der Vater kath.), 1981 Sara Elisabeth, 1986 Kristin Elisabeth, 1987 Stefanie Elisabeth (der Vater in Marburg geboren); 1999 Elisabeth und Sophi Elisa, 2009 Elisabeth (mit Bezug auf Großmutter Bettche, außerdem eine Patin kath.) Daneben begegnen zunehmend Kombinationen und Varianten: 1958 Anneliese, 1989 Lisa und Elisa, 1990 Lisa und Lisa Constanze, 1994 Lisa, 1996 Eliza Dagmar, 2003 Lisa, 2012 Elisa Katharina, 2013 Elisa.
Überraschend ist demgegenüber ein Befund aus der Stadt Marburg, über deren Namengebung mit Blick auf die Lokalheilige in historischer Perspektive keine Untersuchung vorliegt. Das ist bedauerlich und weckt den Wunsch, dass diese Lücke ge-
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schlossen werden möge. Ich habe allerdings das Standesamt Marburg um Auskunft über die Namengebung wenigstens nach 1945 gebeten. Das schnell eingetroffene Antwortschreiben des hilfsbereiten Standesbeamten vom 11.02.14 ist auszugsweise buchenswert: Ich bin nicht in der Lage, eine Jahrzehnte übergreifende Statistik für die Verwendung des Vornamens ‚Elisabeth‘ seit Kriegsende zu erstellen. Dies würde die personellen Kapazitäten bei weitem übersteigen. Aber ich bin – EDV sei dank – in der Lage, für die letzten drei Kalenderjahre, also 2011 bis 2013 zu ermitteln, wie oft er bei Geburten in Marburg vergeben worden ist – und sieh da: er landet bei Mädchen auf Platz 9 unter den Top Ten. Das hat auch mich überrascht! Ich vermag aber nicht zu sagen, ob hierin ein Wiederanstieg der Verwendung dieses Namens zu sehen ist und erst recht nicht, ob diese Verwendung eine Referenz auf die heilige Elisabeth darstellt.19
Das kann ich auch nicht sagen; dies müssten genaue Recherchen und Motivbefragungen ermitteln, z.B. auch die Konfessionszugehörigkeit berücksichtigend. Vermuten darf man aber, dass die Neubelebung der Elisabeth-Kultur durch die erwähnte große 800-Jahrfeier 2007 zum Gedenken an die Geburt Elisabeths mit ihren zahlreichen Veranstaltungen und Aktivitäten, weiter durch die vorgenommenen Ausgrabungen und die wieder aufgenommenen Pilgerzüge mit Zielort Elisabethkirche eine Rolle gespielt hat.20 Hier ergeben sich bemerkenswerte Fragen, denen nachzugehen lohnend wäre. Es darf angenommen werden, dass in diesem Umfeld die Namengebung wieder einen direkten Bezug zur Heiligen gefunden hat.
5 Namengebung nach der biblischen Elisabeth Es bleibt freilich die weitere Frage: Welche Rolle hat die biblische Elisabeth (< hebr. Elischeba ‘Gott ist Segensfülle, Glück’)21 in der Namengebung gespielt? Das lässt
19 Ich danke Herrn Standesbeamten Belau für seine Auskunft. 20 Es gibt inzwischen drei „Elisabethpfade“: der erste von Frankfurt nach Marburg, 1996 begründet und 2001 erweitert, der zweite von Eisenach nach Marburg, 2007 eingeweiht und zugleich „Weg der Jakobspilger“, der dritte durch das Bergische Land nach Marburg. Es existiert der Verein „Elisabethpfad e.V.“, der die christliche Tradition auf ökumenischen Pilgerwegen zur Grabkirche der heiligen Elisabeth beleben und pflegen will. 21 Auch die Frau Aarons im Alten Testament trug diesen Namen (vgl. 2. Mose 6,23), was offenbar für den Namen der hier betrachteten Elisabeth von Bedeutung war, denn sie „war von den Töchtern Aarons“ (vgl. Lk 1,5).
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sich für die Zeit vor dem Auftreten Elisabeths von Thüringen aus Quellen ermitteln, für die Zeit ab dem 13. Jh. bleiben dann aber eher Vermutungen. Die biblische Elisabeth war die Frau des Priesters Zacharias, Mutter Johannes des Täufers und Verwandte sowie Wegbereiterin der Mutter Christi, Maria (Lk 1,5–56). Nicht nur für Elisabeth von Thüringen, die ungarische Königstochter, war diese biblische Elisabeth offenbar namenbestimmend,22 sondern auch für viele weitere Frauen, besonders für Fürstinnen bzw. Adlige,23 aber auch für Bürgerliche. SOCIN (1966: 89) verzeichnet einen Beleg bereits für 779 aus Fuldaer Urkunden, doch die Zeugnisse setzen zahlreicher erst später ein, jedoch vor dem Auftreten Elisabeths von Thüringen. LITTGER (1975: 236) beschreibt für das Rheinland: [Der Name Elisabeth] ist im Rheinland erst seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar; er nimmt dann bis Ende dieses Jahrhunderts mit 215 Belegen weitaus die Spitze in der Beliebtheit aller gesammelten Frauennamen ein. Sind auch die ersten beiden Trägerinnen womöglich adlig, so ist eine solche Explosion doch nicht mit den gemessen an dieser Anzahl sehr spärlichen Belegen aus Fürstenhäusern zu erklären […]. Die Behauptung, erst durch die heilige Landgräfin Elisabeth von Thüringen sei der Name zu großer Beliebtheit gelangt, wird wenigstens fürs Rheinland durch die vielen Belege des 12. Jahrhunderts widerlegt […]; fürs Rheinland kann sie die Beliebtheit höchstens noch ein wenig verstärkt haben.
Zur Erklärung dieser Beliebtheit weist LITTGER (1975: 236) darauf hin, „der Name wurde von vielen Zisterzienserinnen und Prämonstratenserinnen getragen. Anscheinend gehört er in den geistigen Zusammenhang der neuen Religiosität, die in diesen Orden des 12. Jahrhunderts verkörpert wurde.“24 Für andere Gebiete Deutschlands gibt es keine vergleichbaren Untersuchungen, welche die Zeit vor Elisabeth von Thüringen betreffen, was wohl auch mit der Quellensituation zu tun hat.
22 „[…] im ungarischen Königshaus waren biblische und vor allem alttestamentliche Namen sowieso sehr beliebt.“ (LITTGER 1975: 221) 23 Vgl. LITTGER (1975 : 235–237), hier auch Elisa betreffend; SOCIN (1966 : 89); SEIBICKE (1996– 2007: I, 611–612); mit weiteren Belegen seit dem 14. Jh., denen leicht weitere hinzugefügt werden können, z.B. für die Fürstäbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen (†1766) in Gandersheim). Vgl. auch NIED (1924a: 99). 24 LITTGER (1975: 68–78) gibt eine Auflistung aller Belege.
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6 Vergleich der beiden Heiligen Die biblische heilige Elisabeth und die thüringische heilige Elisabeth sind in ihren (soweit bekannten) Biographien einerseits grundverschieden: hier die unfruchtbare und deshalb verachtete hochbetagte Frau, die dennoch einen Sohn bekommt, dort die junge, früh verheiratete Frau, die sogleich mehrere Kinder bekommt; andererseits doch ähnlich: hier die aus altem Geschlecht stammende fromme Frau, die in ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen das menschlich Unmögliche durch die göttliche Verheißung als möglich akzeptiert und dadurch Segensfülle und Glück findet, dort die Adlige, die in ihrer tiefen Gottergebenheit im Dienst an den Armen und Kranken ebenfalls Segensfülle und Glück erlebt. So repräsentieren sie beide mit ihren Namen eben diesen Inhalt ihres Namens, wobei sie beide diesen Inhalt auch weitergeben: die Ältere an Maria („gebenedeit bist du […]“: Lk 1,42), die Jüngere an die Kranken und Armen. Wir haben gesehen, dass die Verehrung beider heiligen Frauen die Namengebung beeinflusst hat, wenngleich der Einfluss der Jüngeren auf unvergleichlich vielfältige Weise greifbar wird bis hin zu zahlreichen Widerspiegelungen in der darstellenden Kunst, der Musik und der Literatur, ganz abgesehen von den vielen „Patrozinien“. Demgegenüber sind Darstellungen der Älteren spärlich, seit frühchristlicher Zeit ikonographisch zusammen mit Maria in inniger Verbindung, aber als Einzelgestalt erst seit dem 16. Jahrhundert.
7 Familiennamen nach Elisabeth? Wenn eben noch einmal die „Patrozinien“ erwähnt wurden, so führt das einerseits zur kritischen Bemerkung, dass man hier stattdessen zutreffender von Matro- oder Metrozinien sprechen müsste und andererseits zur Frage, ob es nicht auch unter den zu unserem Generalthema gehörenden FamilienN von Elisabeth abgeleitete Beispiele gibt. Patronyme gibt es ja zahlreich, wofür Kathrin DRÄGER (2013) mit ihrer Freiburger Dissertation ein schönes Beispiel geliefert hat. Aber Metronyme unter den FamilienN? Damit betreten wir ein bisher weithin unbeackertes Feld (vgl. hierzu BERNDT 2009; VOGEL 2014: 565–566). Nicht von ungefähr suchen wir im Duden ein Stichwort Metronymikon vergeblich, während Patronymikon selbstverständlich vertreten ist. Teodolius WITKOWSKI (1964: 47) führt demgegenüber das Stichwort Metronymikon auf und stellt fest: „Zahlreiche Familiennamen sind M[etronyme].“ NIED (1924a) ist in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend. Zum VorN Elisabeth, den er lediglich kurz auf der letzten Textseite als einen „der allerbeliebtesten weiblichen T[auf]N“ bezeichnet, merkt er an: „Mit Mutternamen [unter den FamilienN] haben wir bei der grossen
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Verbreitung jedenfalls zu rechnen, doch ist die erwünschte Sicherheit in den meisten Fällen kaum zu erreichen, weshalb ich auf eine nähere Erörterung hier verzichte“ (NIED 1924a : 99). In der Fußnote ergänzt er: „Else (vgl. H[eintze-Cascorbi]), Elsenhans und Elsishans dürften hierher gehören […]. Der Fn: Elsbetter […] ist mir modern nicht mehr begegnet.“ Später (NIED 1924b: 18) nennt er ohne Einschränkung Ellesen, Ellissen, Elsenhaus und Else als „Mutternamen“ und noch später (NIED 1938: 24) anhangsweise Ellisohn. Mit Recht weist Nied auf die große Verbreitung des Elisabeth-Namens sozusagen als Voraussetzung für die ableitende Bildung von FamilienN hin. Das zeigen vergleichsweise Namen wie Annen/Anneke/Annensohn von Anna, wobei Annen auch die schwache Genitivform von Anno sein kann, Gesche/ Geschke von Gertrud, Grether/Grüttner von Margarethe/Grethe oder Kathrein(er) von Katharina. Und was ist mit FamilienN aus Elisabeth?
K. 1: Verbreitung der FamN Elisabeth, Li(e)sbeth; Li(e)s(s)e, Li(e)s(s); Li(e)s(s)(e)l, Li(e)s(s)(e)mann(s)
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K. 2: Verbreitung der FamN Els(s)(e); Elsen, Elser(s), Elsler, Elsel; Els(e)(r)mann(s)
Darüber kann hier nicht eingehender gehandelt werden. Ich habe aber vorbereitend aus den vorhandenen FamilienN-Büchern zusammengetragen, was darin – öfter vorsichtig bis zweifelnd formuliert oder als Möglichkeit neben Alternativdeutungen – an Beispielen genannt wird. Von den so ermittelten wichtigen Belegen hat dann die Mainzer DFA-Forschungsstelle Karten hergestellt.25 Dazu seien wenigstens einige Anmerkungen gegeben: Elisabeth/Li(e)sbeth (Karte 1) kommt zwar selten vor, ist aber eindeutig FamilienN, was auch durch frühe Belege gestützt wird (vgl. z.B. HEINTZE/CASCORBI 1967: 183). Weniger eindeutig sind Li(e)s(s)e/Li(e)s(s). In der
25 Ich danke Frau Heuser, Frau Peschke und Herrn Fahlbusch für ihre Hilfe. Die hier wiedergegebenen Karten stellen Überarbeitungen dar, von Frau Dräger arrangiert, wofür ich danke.
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Regel werden diese Formen als ÜberN zu mhd. lîse ‘leise’ gestellt, jedoch auch als Kurzformen von Elisabeth interpretiert. Betrachtet man die Karte, so deuten die nicht diphthongierten Formen im Diphthongierungsraum eher auf die VorN-Ableitung, während Else (Karte 2) vorwiegend als WohnstättenN oder HerkunftsN gedeutet wird, bei KOHLHEIM/KOHLHEIM (2005: 222) ohne metronymische Deutungsmöglichkeit im Gegensatz zu Ilse (Karte 3), wozu auch die Deutung als HerkunftsN und WohnstättenN (nach einem kleinen Fluss im Harz) erwogen wird (KOHLHEIM/KOHLHEIM 2005: 347).26
K. 3: Verbreitung der FamN Ilse; Ilsemann; Ilsen, Ilske(ns)
26 Entsprechende Deutungsmöglichkeiten von Ilse, Ilsemann auch in DFA IV (2013: 152–157) zu den Karten 64 und 65.
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Die Deutung als WohnstättenN ist sowohl für Else als auch für Ilse näher in Betracht zu ziehen, nachdem nun das „Deutsche Gewässernamenbuch“ von Albrecht GREULE (2014) als Hilfsmittel vorliegt. Er nennt zwei Else- und vier Ilse-Gewässer (im Märkischen Kreis und im Landkreis Osnabrück bzw. im südlichen Rothaargebirge, Weserbergland, Kreis Lippe und im Harz). Das dürfte insbesondere für das konzentrierte Ilse-Vorkommen von Bedeutung sein. Die jeweiligen flektierten oder suffigierten Formen sind hingegen sicherlich metronymisch zu deuten. Bei Beth(ke) usw. (Karte 4) ist die Deutung einerseits als Patronymikon (< Berthold oder Bertram) und andererseits als Metronymikon (< Variante von Elisabeth) möglich.
K. 4: Verbreitung der FamN Bet(h)ke, Bet(h)ge, Bettge, Bet(h)cke, Bettke, Bettche; Bethmann
Das sind nur wenige Hinweise, welche die Schwierigkeiten und intensiven Recherchenotwendigkeiten erkennen lassen. Sie sollten hier in aller Kürze dazu dienen, auf die praktisch anstehende umfänglichere Metronymenforschung nachdrücklich hinzu-
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weisen. Die Existenz der Metronyme sollte neben den übermächtigen Patronymen hervorgehoben werden.
8 Schluss Wir haben am Beispiel Elisabeth gesehen, dass die Heiligenverehrung die Namengebung in Deutschland vielfältig beeinflusst hat. Das gilt im Übrigen auch für andere Länder – was im vorliegenden Zusammenhang ausgespart wurde; dies wäre ein besonders darzustellendes Thema. Zu bedenken ist, dass zweifellos bei dieser Namengebung nicht direkt auf die Heilige Bezug genommen sein konnte, vor allem da, wo die Patenschaft bestimmend war und sich insofern eine eigenständig-traditionelle, eher indirekt auf die Heilige bezogene Benennung etablierte. Das hat sich deutlich in dem von mir besonders untersuchten Marburg nahen Raum gezeigt. Der neue Trend zur Vergabe neuer, „moderner“ Namen hat diesen Bezug mehr und mehr aufgegeben, so dass Elisabeth in der Namengebung deutlich zurücktritt. Ob demgegenüber vielleicht wieder eine Art Rückbesinnung direkt auf die Heilige eintritt, wie sich das in Marburg selbst andeutet, bleibt abzuwarten. Interessant wäre auch zu ergründen, weshalb bei anderen HeiligenN wie Anna oder Katharina jener Trend nicht wirksam ist. Es hat sich gezeigt, dass das Thema „Heiligenverehrung und Namengebung“ nicht in allen Aspekten einfach zu bearbeiten ist. Hinsichtlich der historischen Entwicklung in weiteren Orten und Gebieten, nicht zuletzt im Bereich der FamilienNForschung, ergeben sich offene Fragen und Bearbeitungswünsche. Dazu wären sorgfältig-systematische Quellen-, vor allem auch heimat- bzw. familiengeschichtliche und motivbezogene Untersuchungen notwendig. Es gibt also weiter lohnenswerte Themen, die der Bearbeitung harren.
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Rita Heuser, Kathrin Dräger
Gilles, Schillo und Jülg Der Heiligenname Aegidius in Familiennamen in Deutschland Zusammenfassung: Nach dem massenhaften Aufkommen von HeiligenN in der RufN-Gebung im späten Mittelalter gingen diese auch zahlreich in die FamN ein. Die entsprechenden FamN-Gruppen weisen dabei eine enorme Variantenfülle auf, die auch im Fall der Ableitungen aus Aegidius deutlich wird. Anhand dieser FamNGruppe wird exemplarisch aufgezeigt, wie mit Hilfe der FamN-Geographie und der systematischen Erschließung von Namenfeldern ein Überblick über die Bildungsweisen und die Zuordnung einzelner Varianten erarbeitet werden kann. Abstract: After the plentiful occurrence of saints’ names in first name-giving in the late Middle Ages, saints’ names entered family names in large numbers. The according groups of family names show a great abundance of varieties – this also becomes apparent in derivations of Aegidius. Based on this group of family names it will be exemplarily shown, how an overview of the modes of formation and the allocation of single variants can be analyzed with the help of family name geography and the systematic analysis of name fields.
1 Einleitung FamN aus RufN zeichnen sich durch ihre meist ungeheure Variantenfülle aus. Diese beruht zum einen auf unterschiedlichen sprach- und schreibdialektalen Realisierungen der zugrunde liegenden RufN (z.B. Herrmann/Hermann/Hörmann) sowie auf der Herausbildung verschiedener Typen von Kurzformen bei ererbten und fremden RufN (z.B. Konrad: Kurt/Kohn/Kühnle/Kunze/Conzelmann; Matthias: Mattes/Matt/Thies/ Hias), zum anderen auf verschiedenen Möglichkeiten der FamN-Bildung (z.B. Jacob/ Jacobs/Jacoby/Jacobsen) und schließlich auf der enormen Potenzierung der Varianz durch Überkreuzung all dieser Prozesse (vgl. KUNZE 2004: 34-37, 72-83). In vielen Fällen haben sich aus einem einzigen RufN Hunderte von FamN entwickelt. Einer der extremsten Fälle ist Nikolaus, aus dem allein in Deutschland mindestens tausend verschiedene FamN (Types) hervorgingen (DRÄGER 2013). Band VI des „Deutschen Familiennamenatlas“ (DFA) wird sich den FamN aus RufN widmen, die zum Teil auf HeiligenN zurückgehen. Da für die Bearbeitung nur
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ein Atlasband von maximal 1200 Seiten zur Verfügung steht und auch die Bearbeitungszeit begrenzt ist, muss sich der Band auf die Patronyme unter den 1000 häufigsten FamN in Deutschland beschränken.1 Aus diesem Grund bleiben dort auch FamN zum HeiligenN Aegidius unberücksichtigt. Dagegen werden im „Digitalen Familiennamenwörterbuch Deutschlands“ (DFD) generell alle Namen mit mindestens zehn Telefonanschlüssen (Tokens)2 bearbeitet, und somit ist auch die Erfassung der selteneren Fälle gewährleistet. Mit den FamN aus dem RufN Aegidius liegt ein komplexer Fall mit hoher Diversität und weiter Verbreitung vor, dessen Bearbeitung im Folgenden mit den Methoden des DFA und DFD exemplarisch aufgezeigt wird. Die etymologisch häufig umstrittenen FamN werden erstmals mit Hilfe der FamN-Geographie beleuchtet und die Deutungen der gängigen Namenlexika BAHLOW (2005), BRECHENMACHER (1957-63), DUDEN FAMN (2005), GOTTSCHALD (2006), NAUMANN (2005) sowie ZODER (1968) zusammengeführt und kritisch bewertet.
2 Kultur- und namengeschichtliche Hintergründe Seine Verbreitung verdankt der Name Aegidius mit seinen Varianten und Kurzformen der Verehrung des gleichnamigen Heiligen, der der ältesten Vita zufolge aus Griechenland stammte und als einer der vierzehn Nothelfer verehrt wurde. Er gründete angeblich im 7. Jh. die Abtei Saint-Gilles (okzitanisch Sant Geli) in Südfrankreich, eines der beliebtesten Wallfahrtsziele im Mittelalter, das früh auch aus dem dt. Raum besucht wurde.3 Der Name des heiligen Aegidius wurde sowohl in dieser kirchenlat. Form als auch in der altfrz. Form Giles, neufrz. Gilles ins Dt. entlehnt. Die Etymologie von Aegidius ist umstritten. Meist wird als Grundlage griech. aigís, -ídos ‘Ziegenfell’ angesetzt, die Bezeichnung des Schutzmantels oder Harnischs des Zeus oder der Athena, die auch als Schild gebraucht werden (so zuletzt KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016: 303). MORLET (1991: 461) dagegen schließt sich MICHAËLSSON (1925) an, der
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Zu den Auswahlkriterien und zur Konzeption des Bandes s. DRÄGER/KUNZE (2014: 187-202). Datenbasis des DFA, DFD und somit auch des vorliegenden Beitrags sind Telefon-Festnetzanschlüsse der Deutschen Telekom AG aus dem Jahr 2005. Näheres zur Datenbasis sowie zur Konzeption der beiden Projekte s. DFA I, XXV-LXIII und HEUSER/SCHMUCK (2014). HUBER (1986: 342-343); KOLLMANN/GILLES/MULLER (2016: 303); LEXIKON DER HEILIGEN UND DER HEILIGENVEREHRUNG (2003: I, 26).
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eher eine Ableitung mit -idius von lat. Eggius annimmt statt vom griech. nicht belegten Namen *Aigidios. Auch die Erklärung der altfrz. Form bereitet Schwierigkeiten: Die Formen mit l [wie Gil(l)es], die im Altfranzösischen okzitanischer Prägung ihren Ursprung haben, sind gegenüber jenen mit d auffällig und lassen Einfluss eines homophonen Namens vermuten (etwa zu lat. Agilius, das zu lat. agilis ‘gewandt, rasch’ gehören dürfte, oder zu lat. Egilius, dessen weitere Herkunft unklar ist). (KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016: 303)
KOHLHEIM (2011: 148, Anm. 24) und DUDEN VORN (2014: 46) wenden ein, dass Aegidius möglicherweise lediglich als lat. Äquivalent für einen germ. Namen wie Gillo verwendet wurde. LITTGER (1975: 178), der die These vertritt, „daß die Wahl beliebter [Heiligen-]Namen mit dem Vorhandensein ähnlicher heimischer begründet werden kann“, führt für Aegidius die germ. Namenglieder agi/agja + thiwa an (LITTGER 1975: 195). Ungeachtet dieser etymologischen Zweifel ist die Gleichsetzung von Aegidius mit Namen wie Gilles, Gilg, Illies, Ilg, Dillies, Tilgen usw. zahlreich belegt.
3 Familiennamen 3.1 Aus der Vollform Aegidius Patronyme aus der kirchenlat. Vollform von Aegidius sind sehr selten. Mit mindestens fünf Tokens treten auf: Egidius 224 (Raum Wilhelmshaven, Westfalen), Egiedius 5 (Raum Hamburg), die lat. Genitive Eg(i/y)di 47+7, Egidy 17 (alle im Süden und Westen verstreut), daraus abgeschwächtes Egide 25 (v.a. in Baden-Württemberg). Die Seltenheit dieser Vollformen in FamN ist ein Hinweis darauf, dass sie zur Zeit der FamN-Entstehung im allgemeinen Sprachgebrauch wohl nicht sehr gebräuchlich waren.
3.2 Aus der altfranzösischen Form Giles Die häufigsten eindeutigen Patronyme aus Aegidius sind diejenigen aus der altfrz. Form Giles. Sie sind auf K. 1 zusammen mit ihren genitivischen Formen vom Typ
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Die dem FamN nachgestellten Ziffern beziehen sich immer auf die Zahl der Telefonanschlüsse (Tokens) in Deutschland.
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Gillessen und den FamN mit Eindeutschung aus dem Frz. vom Typ Schiltz5 abgebildet, wobei nur FamN mit mindestens 10 Tokens berücksichtigt werden.6
Karte 1: Verbreitung der FamN-Typen Gilles, Gillessen und Schiltz
Bei Typ Gilles ist das s des AusgangsN erhalten geblieben. Auch frz. FremdN sind bei vielen FamN dieses Typs möglich. Doch findet sich etwa Gilles in Deutschland am Mittel- und Niederrhein sowie an der Mosel konzentriert und damit weit entfernt von den Hauptverbreitungsgebieten des frz. FamN Gilles (4259 Geburten 196619907) in den Départements Seine Maritime im Norden und Bouches du Rhône sowie Gard im Süden. Giles ist in West- und Süddeutschland verstreut und weist auch in Frankreich einen Streubefund auf (81 Geburten); außerdem sind bei Giles auch eng-
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Vgl. bereits 1348 den RufN-Beleg Schelis in Heisterbach (ESSER 1949: 17). Die Karte beruht auf der Abfrage G(ie?|e)ll?(i|e)?(ss?|ß)(ens?)?|Schill?(t?z|t?s|es)(ens?)? (≥ 10 Tokens); sie ergibt 25 Types/3086 Tokens. Unberücksichtigt bleiben Geles 17, das v.a. türkischer FremdN ist, und die etymologisch unklaren FamN Gels 141 (Nest im Raum Lingen/Ems) und Gelsen 25 (verstreut). Diese und die folgenden Angaben für Frankreich beruhen auf den Geburtenzahlen der Jahre 1966-1990 (www.geopatronyme.com, 22.06.16).
Gilles, Schillo und Jülg
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lischsprachige Patronyme zu Aegidius zu veranschlagen.8 Gilis, im nördlichen Mitteldt. verstreut, ist in Frankreich v.a. im Südwesten belegt (91 Geburten). Gelis ist in Deutschland im Westen und Süden verstreut, mit 334 Geburten in Frankreich belegt, v.a. in den südfrz. Départements Aude, Haute Garonne und Tarn; teilweise liegen in Deutschland griech. FremdN vor. In Hessen konzentriertes Gils weist 28 Geburten in Frankreich auf, und zwar in Paris und im Umland sowie am Mittelmeer. Gillis ist in Deutschland im Westen und Süden verstreut, in Frankreich mit 99 Geburten v.a. im Département Nord zu finden, noch häufiger in Belgien mit 2320 Einwohnern 1998;9 außerdem kommt ursprünglich schottischer FremdN zu Mac Gille Iosa ‘Sohn des Dieners Jesu’ (HANKS 2003: II, 44) in Frage.10 Keine Belege in Frankreich weisen Gieles (Raum Köln sowie Hanau) und Giels (Raum Köln – Aachen – Prüm, vgl. im selben Raum Giltz 15, jedoch Gilz 85 in Nordwestdeutschland verstreut) auf. Vom genitivischen Typ Gillessen (vgl. DFA III: K. 25) findet sich Gille(ss/ß)en im Raum Schwalmtal – Köln – Kelberg – Monschau, Giele(ss/ß)en im Raum Grefrath – Köln – Erkelenz, Gilli(ss/ß)en im Raum Stadtlohn – Nümbrecht – Aachen, Gilissen im Raum Recklinghausen – Nümbrecht – Aachen, Gelissen in NordrheinWestfalen, und Gelli(ss/ß)en bildet ein Nest im Raum Mönchengladbach – Aachen. Von den aus frz. Gilles eingedeutschten Formen ballt sich Schilz im Raum Prüm – Saarbrücken und schließt damit direkt östlich an die zahlreichen luxemburgischen (Rang 19 der häufigsten FamN in Luxemburg 2009, KOLLMANN/GILLES/ MULLER 2016: 393) und lothringischen Vorkommen (34 Geburten in Frankreich) des FamN an. Schiltz dagegen findet sich in Deutschland weniger dicht konzentriert, sondern im gesamten Westmitteldt. verstreut; der FamN scheint in Lothringen autochthon (417 Geburten, die meisten im Département Moselle). Schils, das in Deutschland im Westen verstreut auftritt, hat seinen Schwerpunkt in Belgien mit 479 Einwohnern 1998, v.a. in den Provinzen Lüttich und Limburg. Schilles findet sich v.a. Raum Köln – Mechernich, in Baden-Württemberg, seltener im Elsass und in Lothringen (10 Geburten). Während Gil(l)es u.ä. als RufN im dt. Sprachgebiet mehrfach belegt ist, lassen sich die seltenen RufN-Belege wie Gill(e) ohne -s nicht eindeutig auf Aegidius zurückführen. So findet sich zwar der RufN Gyle zwischen 1300 und 1400 in Arnsburg, doch zeitgleich belegt sind auch die RufN Gilebertus und Gilbracht (MULCH 1974:
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14371 Einwohner dieses Namens im Jahr 1998 in Großbritannien (http://gbnames.publicprofiler. org, 22.06.16). 9 Diese und die folgenden Angaben für Belgien beruhen auf den Einwohnerzahlen des Jahres 1998 (www.familienaam.be, 22.06.16). 10 636 Einwohner namens Gillis 1998 in Großbritannien (http://gbnames.publicprofiler.org, 22.06.16).
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34, 36), weshalb Gyle eher als Kurzform hierzu und nicht zu Aegidius zu werten ist. Im dt.-frz. Kontaktgebiet können FamN wie Gill als Varianten von Gilles mit Apokope des -es aufgefasst werden (KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016: 117;11 vgl. MORLET 1991: 461). Doch im übrigen dt. Sprachgebiet sind die zahlreichen weiteren Deutungsmöglichkeiten vorzuziehen.
Karte 2: Verbreitung der FamN Gillmann, Gillen und Schille
Am ehesten Patronyme zu Aegidius stellen wegen ihrer Verbreitungsgebiete Gillen 206 und Gillmann 676 dar, s. K. 2. Dagegen finden sich Gill 953 und Gille 1068 in Deutschland verstreut verbreitet ohne Häufung im dt.-frz. Kontaktgebiet, dabei Gille gehäuft in Sachsen-Anhalt, Ostfalen und westlich von Stuttgart. Die vieldeutigen Namen sind daher höchstens vereinzelt Patronyme zu Aegidius. Möglich sind Patronyme zur Kurzform Gildo, Geldo von RufN mit ahd. geltan, altsächs. geldan ‘opfern, gelten, vergelten’. In Norddeutschland können laut ZODER (1968: I, 574) BerufsN zu
11 Vgl. die Belegreihe Gielles = Gieltz = Gillen = Gilles = Gillijs = Gillis = Gyles in den Rechnungsbüchern der Stadt Luxemburg der Jahre 1388-1500 (KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016: 117).
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mnd. gilde, gille ‘Gilde, Zunft, Genossenschaft, Bruderschaft’ vorliegen. Vereinzelt kommen auch HerkunftsN zum SiedlungsN Gill im Rheinland in Frage. Gill ist ferner teilweise FremdN, etwa zu polnisch gil ‘Gimpel, Dompfaff’ (RYMUT/HOFFMANN 2006-2010: I, 194).12 Als FremdN aus englischsprachigen Gebieten ist – neben zahlreichen anderen Deutungsmöglichkeiten – Patronym zu Giles < Aegidius möglich (HANKS 2003: II, 43).13 Bei Schill 1690 kommt in Deutschland, im Gegensatz zu Luxemburg (KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016: 303), ein Patronym zu Aegidius kaum in Betracht, stattdessen handelt es sich in der Regel um ÜberN zu mhd. schiel, schel ‘schielend, schief, krumm’.14 Schille 313 (s. K. 2) hingegen bildet ein Nest im Saarland und weist eine Häufung in Baden-Württemberg auf. Hier ist Eindeutschung von frz. Gille möglich. Bei dem weiteren Verbreitungsschwerpunkt in Westsachsen liegen ÜberN zu mhd. schiel, schel ‘schielend, schief, krumm’ vor. BAHLOW (2005: 169) deutet auch Giel 368, Giele 33, Gielen 258 und Gieling 25 als Patronyme zu Aegidius. Giel und Giele finden sich verstreut, was die etymologische Zuordnung erschwert. Wahrscheinlicher dagegen sind ÜberN oder WohnstättenN zu mhd. giel, mnd. gīl ‘Kehle, Schlund’ sowie Patro- oder Metronyme zu Kurzformen von RufN, die mit dem Namenglied ahd., altsächs. gīsal ‘Geisel, Pfand’ gebildet sind, z.B. Gieselher. Diese Deutung ist auch für Gielen (Raum Kevelaer – Bonn – Aachen) und Gieling (v.a. Niederrhein) zu bevorzugen. HerkunftsN zu SiedlungsN wie Gielde, Giehle oder Gielau (alle Niedersachsen) sind für Giele und Giel nur in Einzelfällen zu beachten. Sicher als Patronyme zu Aegidius zu deuten sind die frz. FremdN bzw. ihre Eindeutschungen Gillot 12, Giloth 18, Gillo 37, Schil(l)o 12+27015 und Gillet 80 (s. K. 316) sowie Gilson 51, Schilson 26. Sie gehen auf hypokoristische Ableitungen auf -ot, -et bzw. -eçon von Gilles zurück. Gillot ist in Frankreich mit 2301 Geburten 19661990 vertreten, in Belgien mit 673 Einwohnern 2008, Giloth weder in Frankreich noch in Belgien. Die Vorkommen von Gillo in Frankreich (25 Geburten) beruhen nicht auf Eindeutschung von Gillot, weil sie an der Rhonemündung konzentriert sind. Dagegen konzentriert sich Schil(l)o (1+13 Geburten) erwartungsgemäß in Lothringen.
12 In Polen ist der Name mit 645 Einwohnern belegt (www.moikrewni.pl, 22.06.16). 13 In Großbritannien sind 1998 34762 Einwohner namens Gill belegt (http://gbnames.publicprofiler. org, 22.06.16). Zu Konkurrenzen mit weiteren FremdN s. HANKS (2003: II, 43). 14 S. DFA V, K. 308 (Scheel, Scheele, Schill, Schiel, Schilli, Schille, Schölch, Schelb, Schels), dort auch zu weiteren Konkurrenzen. 15 Zur Neudeutung von Schillo (entgegen sorbisch šylo, s. GOTTSCHALD 2006: 433) s. HEUSER/ NOWAK 2014: 785. 16 Die Karte beruht auf der Abfrage (G|Sch)ill?ot?h?|(G|Sch)ill?ett?h?e? (≥ 10 Tokens); sie ergibt 6 Types/449 Tokens.
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Gillet häuft sich im Norden von Frankreich (6097 Geburten), in der Wallonie (3978 Einwohner 2008 in Belgien) sowie in Luxemburg (24 Telefonanschlüsse 200917). Gilson begegnet mit 389 Geburten in Frankreich, v.a. im Nordosten, mit 3209 Einwohnern 1998 in Belgien, mit 79 Telefonanschlüssen 2009 in Luxemburg und in Deutschland v.a. in Nordrhein-Westfalen. Daraus eingedeutschtes Schilson 26 ist in Westdeutschland verstreut mit Häufungen im Ruhrgebiet und im Raum Mainz.
Karte 3: Verbreitung der FamN-Typen Gillo(t), Schillo und Gillet
3.3 Aus der Kurzform Gilg In süddt. regionalen Namenbüchern tritt mehrfach die Kurzform Gilg für Aegidius auf, so auf der Baar (Gilg 1542, NIED 1938: 21), in Regensburg (Gyligen 1326, 1339, Gilg 1373, KOHLHEIM 1977: 302) und in Wien (Gilig neben Ägidius, Egidi im 15. Jh.,
17 Diese und die folgenden Angaben für Luxemburg beruhen auf Telefonanschlussdaten des Jahres 2009 (KOLLMANN/GILLES/MULLER 2016).
Gilles, Schillo und Jülg
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LINSBERGER 2012: 689).18 Doch auch im Mittelniederdeutschen Wörterbuch von SCHILLER/LÜBBEN (II, 112) wird Gilge als Kurzform von Aegidius geführt. Die Entstehung der Kurzform Gilg ist umstritten. MORLET (1991: 460) geht von einer lat.germ. Hybridform Gillich aus, die aus dem frz. RufN Gille mit germ. Suffix -ic entstanden sei (kontrahierte Varianten dazu seien Gilch, Gilg). Dem schließt sich KOHLHEIM (2011: 148) an. Laut REIFFENSTEIN (2003: 2933) hat sich Gilg jedoch mit nordbairischem Übergang j > g über eine erschlossene Form *Giljus aus Ägidius entwickelt.
Karte 4: Verbreitung der FamN-Typen Gilg, Gilch und Gilger
Auf K. 4 und 5 sind in Frage kommende Patronyme aus Gilg mit mindestens 10 Tokens erfasst.19 Dabei zeigt K. 4 die eher in Bayern konzentrierten Typen Gilg,20 Gilch
18 Für Tirol führt FINSTERWALDER (1994: 295) jedoch die Gleichung Gilg 1567 = Vilg 1597 auf und weist darauf hin, dass in Tirol Gilg auch Kurzform von Vigilius sein kann. 19 K. 4 und 5 beruhen auf der Abfrage Gil(g|ch)e?(rt?|n|s)? (≥ 10 Tokens); sie ergibt 8 Types/1594 Tokens. 20 Während Gilg v.a. im südl. und östl. Bayern beheimatet ist, findet sich Gilge in ganz Deutschland verstreut.
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und Gilger, K. 5 die im Rheinland, in der Pfalz und im Saarland beheimateten Fälle Gilcher,21 Gilges und Gilgen. Bei Gilg(e) besteht Konkurrenz mit FamN zu mhd. gilg(e), gilje, Nebenform zu lilje ‘Lilie’, s. DFA (IV, 1001; hier auch die Komposita mit Gilgen-). KOHLHEIM (2011: 148) erwägt, dass Homophonie mit mhd. gilg(e) bei der Entstehung der RufN-Kurzform Gilg eine Rolle gespielt haben könnte.
Karte 5: Verbreitung der FamN-Typen Gilcher, Gilges und Gilgen
Neben den auf K. 4 und 5 erfassten Fällen kommen noch folgende weitere mögliche Patronyme zum RufN Gilg mit mindestens 10 Tokens hinzu, die jedoch kein kompaktes Verbreitungsgebiet aufweisen. Gilgin 10 mit Diminutivsuffix -in findet sich gehäuft in Südbaden, sonst verstreut. Auf -ig oder -ich (vgl. DFA II, K. 297) enden Gillig 101 (verstreut mit Häufung am Main), vgl. auch das Kompositum Gilligbauer 11 (Oberfranken, Ruhrgebiet), und Gil(l)ich 26+424 (verstreut mit Häufung im Raum Nürnberg). Konkurrenz besteht hier mit Patronymen zur Kurzform Gildo, Geldo von RufN mit ahd. geltan, altsächs. geldan ‘opfern, gelten, vergelten’ (GOTTSCHALD 2006:
21 Gilger mit patronymischem -er-Suffix findet sich verstreut mit Häufung im Saarland, Gilgert mit t-Antritt jedoch in Bayern.
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205). KEINTZEL-SCHÖN (1976: 102, K. 33) verzeichnet Gillig neben Gelt(s)ch 6+18 (in Süd- und Westdeutschland verstreut) als siebenbürgisch-sächsische AegidiusPatronyme. Laut GOTTSCHALD (2006: 432) ist auch Schilgen 60 (in ganz Deutschland verstreut) zugehörig.
3.4 Aus Kurzformen mit Ill-, IllgAus Formen wie Gilles, Gilg u.ä. sind letztlich auch die Namenvarianten mit vokalisiertem Anlaut zu erklären: Nach HARTIG (1967: 56) verlor „der Anlaut [im Niederdt.] seine Reibung und fiel mit dem Vokal zusammen“. Für die Braunschweiger Aegidienkirche bzw. den Aegidienmarkt sind 1320 Sante Ylienmarket, 1402 achter sunte Ylien belegt (MEIER 1904: 11-12). Als RufN-Formen mit Wegfall des Anlauts G finden sich für das Münsterland Ylies 1320, Ylius 1389-1423 (HARTIG 1967: 226), für Ostfalen Ylies 1389 (EinzelN), Illies 1486, 1553 (ZODER 1968: I, 813), für Riga Ylliges 14./15. Jh. (FEYERABEND 1985: 22) und für Heisterbach Ylgin 1481 (ESSER 1949: 17).
Karte 6: Verbreitung der FamN Il(l)ies, Illige(s) und Illigen(s)
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BRECHENMACHER (1957-1963: I, 771) stellt Illies ebenfalls zu Aegidius (1496 Illies (Egidius) van Levede), führt aber auch eine Namengleichung mit Elias an: 1178 Ylias Stella = 1192 Elyas Stella (Köln). Rezent finden sich nur wenige FamN, die von den FamN-Wörterbüchern eindeutig auf Aegidius zurückgeführt werden. K. 622 zeigt die Verbreitung von Il(l)ies und den nahestehenden g-haltigen Formen Illige(s) und Illigen(s) von der Mosel bis ins Münsterland und nach Ostwestfalen. Nicht kartiertes Ilius 43 konzentriert sich im Raum Lichtenberg, Illius 13 bildet ein Nest in Lampertheim, Ilie 21 häuft sich in Kreis Landshut, Illie 14 im Raum Verden/Aller, Illmann 310 im Raum Zwickau. Ilias 30 und Ilyas 48 sind weit gestreut und fremdsprachige Namen griechischer bzw. türkischer Herkunft, daher ausschließlich zu Elias zu stellen.23 Illias, das nach ZODER (1968: I, 813) eine Schreibvariante zu Illies darstellt, ist mit vier Telefonanschlüssen niedrigfrequent und findet sich im Raum Köln. Ilg(e), Il(l)gen, Il(l)gner (s. K. 7) werden in den Namenbüchern in erster Linie als west- und oberdt. Formen zu Aegidius gestellt. Daneben werden noch Konkurrenzen mit Wohnstätten- oder ÜberN zu mhd. lilje, lilge ‘Lilie’, mit Metronymen zum RufN Odilia sowie mit Patronymen zu RufN-Kurzformen aus Vollformen mit dem Namenglied Hild- (ahd. hiltja, altsächs. hild ‘Kampf’) aufgeführt. GOTTSCHALD (2006: 268) nimmt für die Varianten vom Typ Illig/Illing noch RufN auf Il- an (Illinc wohl zu ahd. īlan ‘eilen’, s. FÖRSTEMANN 1966: 948). Bei allen Formen kommen auch Herkunfts- und WohnstättenN zum Siedlungs- und ÖrtlichkeitsN (St.) Ilgen in Frage. Häufungen in der Umgebung der entsprechenden Siedlungen (z.B. (Sankt) Ilgen bei Leimen, Sulzburg und Peiting) treten nicht besonders zu Tage, allerdings sind die als Wohnstätte in Frage kommenden Aegidiuskirchen und -kapellen weit verbreitet. Vor allem für die Varianten Illgen (Sachsen) und Ilgen (Raum Schmalkalden – Bad Salzungen; historische FamN-Belege finden sich in Altenburg: Ilgen 1534 in GRÜNERT 1958: 45) liegt demnach weniger ein patronymischer schwacher Genitiv vor (vgl. DUDEN FAMN 2005: 347), sondern vielmehr ein erstarrter Dativ (*bei (St.) Ilgen), der auf eine Benennung nach der Wohnstätte hinweist. Nicht kartiertes Ilgenfritz 80 konzentriert sich im Raum Nürnberg – Rothenburg ob der Tauber. Betrachtet man das Verbreitungsgebiet der einzelnen Varianten genauer, zeichnen sich zwei deutliche Verbreitungsschwerpunkte für die FamN auf Ilg- in Schwaben und in Sachsen ab (s. K. 724). Ilg findet sich im Raum Schwäbisch Gmünd – Wilburgstetten, im Kreis Passau und im Landkreis Rottweil. Illg beschränkt sich auf den
22 K. 6 beruht auf der Abfrage (I|Y)ll?(i|y).* (≥ 10 Tokens); sie ergibt 47 Types/4056 Tokens. 23 S. auch LITTGER (1975: 66-68). 24 K. 7 und 8 beruhen auf der Abfrage Ill?g.*|Ill?in?g(er)? (≥ 10 Tokens); sie ergibt 32 Types/ 5998Tokens.
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Raum Stuttgart – Kürnbach – Neckarsulm – Remshalden. Illge ballt sich im Raum Leipzig. Für die i-haltigen Varianten (s. K. 8; Illig(er), Illing) gilt dies ebenfalls. Illinger wird häufig auch zum SiedlungsN Illingen (im Saarland, im Enzkreis und bei Soest) gestellt (s. BRECHENMACHER 1957-1963: II, 771). Das Kartenbild bestätigt dies nicht: Der Name bildet ein Nest im Postleitzahlbezirk 98693 Ilmenau und kann auch historisch für das Vogtland mit Ilgner gleichgesetzt werden: Illingr 1491 = Ilgner 1503, 1520 = Ilinger ca. 1520 (HELLFRITZSCH 1992: 49, 111). Benachbart findet sich nicht kartiertes Illigner 16 in Grimma.
Karte 7: Verbreitung der FamN-Typen Ilg, Illgen und Ilgner
Außerhalb der Hauptverbreitungsgebiete in Sachsen und Schwaben finden sich Illger mit einem Nest im Postleitzahlbezirk 50371 Brühl, Ilger im Raum Essen. Ilge konzentriert sich im Raum Gießen – Wetzlar, Ilgener im Raum Hamburg. Ilgemann findet sich in Münster und am Niederrhein, während Ilgmann weit verstreut ist, ebenso wie etymologisch uneindeutiges, nicht kartiertes Ilchmann 258, Illigmann 23.
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Vor allem Ilgner und Illgner sind weit gestreut. Die historischen Belege weisen für Illgner hauptsächlich auf Schlesien (besonders Breslau),25 ebenso für Ilgner,26 was den heutigen Streubefund erklärt. Nach BAHLOW (1953: 61) sind die Formen Ilgner, Illgner, Illner gleichbedeutend mit Tilgner (< Odilia) (mit „Abwurf des Silbenanlauts“). Als RufN-Belege führt er für Breslau auf: Fraw Ilge Schindelin, Fraw Ilge Zettrassin (1480/94), Fraw Ilge von der Heyde (1495/1506), Fraw Ilge Nimptschin (1507/19) neben Fraw Ottilia Logawin, Fraw Ottilia Monawin (1507/19). Besonders für die sächsischen und schlesischen Varianten ist die Trennung von Ableitungen aus Odilia und Aegidius nicht möglich.
Karte 8: Verbreitung der FamN Illig(er), Illing und Illinger
25 S. https://familysearch.org/search/record/results?count=20&query=%2Bsurname%3AIllgner& birth_place0=5&birth_year0=1800 (16.06.16). 26 www.online-ofb.de/namelist.php?nachname=Ilgner&ofb=leutmannsdorf (16.06.16, s. auch Suchergebnis der Metasuche unter http://compgen.de).
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3.5 Aus der Kurzform Jilg Auf Palatalisierung von G gehen Formen mit J im Anlaut zurück. Diese sind als RufN historisch für Riga (Jyllies, Jylleyes 14./15. Jh., FEYERABEND 1985: 22) und Gladbach (Jelis 1448, TRUPP 1936: 17) belegt. Entsprechende FamN sind rezent jedoch kaum nachweisbar. Die FamN Jilg(e), Jülg(e) und Jülch finden sich mit einem Schwerpunkt im Badischen, besonders im Raum Lahr, s. K. 9.27 Jülch wird als HerkunftsN zum SiedlungsN Jülich gestellt, die Form Jülg sowohl zu Aegidius als auch zu Jülich (GOTTSCHALD 2006: 276). Angesichts der Verbreitung kommen HerkunftsN zu Jülich allerdings allenfalls bei den geringen Vorkommen im Rheinland in Frage. NIED (1924: 65) favorisiert die Zuordnung von Jülg zum HeiligenN Julianus. In den Wörterbüchern nicht aufgeführt ist Jillich 37, das sich im Raum Obersulm-– Leingarten – Kraichtal konzentriert.
Karte 9: Verbreitung der FamN Jilg(e), Jülg(e) und Jülch
27 K. 9 beruht auf der Abfrage J(i|ue|ü)l(ch|g).*; sie ergibt 12 Types/792 Tokens. Kartiert werden die einschlägigen Namen ab 5 Tokens. Die Abfrage J(e|i|y)ll?.*s (≥ 5 Tokens) ergibt keine einschlägigen Ergebnisse.
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3.6 Aus der Kurzform Tilie, Tilg Für das Mittelalter belegt HARTIG (1967: 225-226) im Münsterland mehrfach Formen mit unorganischem Anlaut D, T bei Kurzformen von Aegidius: Dylius 1307, Egidius 1316 = Dygilius 1323, Egidius = Dylies 1330, Diliges 1349, Dylies (Obliquus) 1350 = Diliges (Obliquus) ca. 1350, Diliges (Genitiv) vor 1487, Dilies 1498. HARTIG (1967: 63-64) begründet dies damit, dass bei diesen Formen der Rest des maskulinen Artikels konserviert sei. Unwahrscheinlicher sei eine Herleitung aus nd. sünte ‘sankt’. Während er für seine Vermutung keine Belege anführt, wird die Verschmelzung mit sünte, sankt u.ä. durch eine Belegreihe bei ZODER (1968: I, 813) nahegelegt: [F]ür die Goslarer Bürgerfamilie, die nach ihrem Wohnort nahe der Ägidienkapelle benannt ist (Urform: Hermannus de sancto Aegidio 1226) tritt nachweislich folgende Namenentwicklung ein: under sante Ylien ([...] under Santylien 1380 [...] = [...] under sente Egidio 1381 [...]); dann folgt der Übergang zu Tilie: Thyleke Thylgin [...] 1368 [...] = Tyleke Tylie [...] 1370 [...]; die Entwicklung endet bei Tilling, der patronymischen ing-Bildung eines ganz anderen Stammes, der Kf Tile zu Dietrich!
Belege finden sich auch bei SCHILLER/LÜBBEN (IV, 543), die das EigenN-Lemma Tillige zu Aegidius stellen: „Sante Tilligens porte (in Münster), [...] (sent Telien port [...]; sant Dilgen [...]; auch St. Ilgen u. Ilien p. genannt.).“ Trotz dieser Beleglage werden die als zugehörig in Frage kommenden FamN in den Namenlexika BAHLOW (2005), BRECHENMACHER (1957-63), DUDEN FAMN (2005), GOTTSCHALD (2006), NAUMANN (2005) und ZODER (1968) kaum als Patronyme zu Aegidius gedeutet; von den mit der Abfrage (D|Th?)il.* (≥ 10 Tokens) ermittelten FamN sind dies nur Tillessen 31, Tilgen 33 (beide in West- und Süddeutschland verstreut) und Tilgner 656 (in ganz Deutschland verstreut; vor 1945 mit Häufung in Niederschlesien, gen-evolu.de, 22.06.16). Während BAHLOW (2005: 518) Tillessen zu Aegidius stellt, deutet GOTTSCHALD (2006: 154) den Namen ebenso wie die FamN Dilli(s), (D/T)illner, Tillmann(s), Thill, Tilch, Tilli(g/ch), Tilke und andere als Patronym zur Kurzform Thilo von RufN wie Dietrich, vgl. das Zitat von ZODER (1968: I, 813) oben. Auch in den anderen Namenlexika werden FamN mit Dil-, T(h)il- meist als Patronyme zu Thilo (oder Metronyme zu Odilia, s. unten) betrachtet. Dies wird durch zahlreiche RufN-Belege wie Thidericus de Kyritz = Tile Kiris 1250/1300 in Neuhaldensleben (ZODER 1968: II, 723) gestützt. Patronyme zu Aegidius sind laut GOTTSCHALD (2006: 83) Tilgen und laut ZODER (1968: II, 735) Tilgner. Hier besteht jedoch starke Konkurrenz mit Metronymen zu Odilia. So wird auch Tilgen von DUDEN FAMN (2005: 669) und BRECHENMACHER (1967-63: I, 313) zu Odilia gestellt, Tilgner von BAHLOW (2005: 518), BRECHENMACHER (1957-63: I, 314), DUDEN FAMN (2005: 669), GOTTSCHALD (2006: 372, 492),
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NAUMANN (2005: 269) und als Zweitbedeutung auch von ZODER (1968: II, 735). Zahlreiche entsprechende weibliche RufN-Belege wie Dylege, Dilgen 1350-1400 in Heisterbach (ESSER 1949: 16) und Gleichungen wie Dylige = Othilie 1355 in Baden (BAHLOW 2005: 95) stützen diese Deutung für Tilgen, Tilgner sowie weitere FamN wie (D/T)ilger, (D/T)illner, Dil(g/k) oder Til(k/ch). Von den in Frage kommenden FamN mit Dil-, T(h)il- (≥ 10 Tokens) sind nach Ausweis der historischen Belege und der Lautstruktur neben Tillessen am ehesten Dilsen 25 (Nest im Raum Erkelenz; evtl. auch Tilsen 14, in Norddeutschland verstreut) und Dillis 20 (zwischen Bad Wörishofen und Taufkirchen/Vils) Patronyme zu Aegidius. Bei den übrigen FamN lässt sich Konkurrenz mit Metronymen zu Odilia bzw. Patronymen zu Thilo < Diet[rich] nicht auflösen.28
4 Ausblick Während sich bei der Kartierung einiger FamN aus HeiligenN sehr deutlich auch die jeweiligen Verehrungsgebiete abzeichnen, wie im Falle der Ableitungen aus Severinus29 (Siffrin, Frings u.ä.) oder Lambertus30 (Lambert, Lammert u.ä.), zeigt der Fall Aegidius auf den ersten Blick kein geschlossenes Gebiet. Beim Vergleich der Karten 1-9 zeigt sich ein Verbreitungsraum, der sich von Westfalen über Mittel- und Süddeutschland erstreckt, lediglich der Norden Deutschlands ist ausgespart. Dabei sind die einzelnen unterschiedlich gebildeten Kurzformen sehr regionalspezifisch ausgeprägt. Im Einzelnen erweist sich eine Abgrenzung zu Metronymen aus Odilia besonders bei den sächsischen und schlesischen Tilgen- und Illge-Formen als kaum möglich. Daneben kann allerdings die Interpretation von Ilgen als Patronym (DUDEN FAMN 2005: 347) hinterfragt werden. Bei eingehender Berücksichtigung der Verbreitung müssen bisherige Deutungen als unwahrscheinlich eingestuft werden, z.B. Benennung nach Herkunft bei Illing(er) und Jülch. Es ergibt sich, wie bei vergleichbaren FamN-Strecken, eine enorme Vielfalt der Formen und Deutungsmöglichkeiten. Diese systematisch aufzuarbeiten und gegebenenfalls kritisch zu bewerten, wird die Hauptaufgabe bei der Bearbeitung dieser Namenstrecke für das DFD sein. Bei der Betrachtung einzelner Varianten ist zu erwar-
28 Vgl. DFA I, K. 349 (Thiele, Thiel); DFA II, K. 131 (Diehl, Till, Thiel); DFA VI [in Arbeit], K. Dilger, Tilger, Tilgner, Dillner, Tillner, K. Dillig, Tillig, Tillich, Dilg, Dilk. 29 KUNZE (2004: 83). 30 DRÄGER/KUNZE (2014: 191-195).
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ten, dass noch weitere, bisher unbeachtete Namenformen Aegidius zugeordnet und Neubewertungen der vorliegenden Deutungsmöglichkeiten aus den einschlägigen FamN-Wörterbüchern vorgenommen werden können.
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Hubert Klausmann
Familiennamen aus Heiligennamen und die großen südwestdeutschen Dialektgrenzen Zusammenfassung: Konrad Kunze hat bereits sehr früh aufgezeigt, dass man durch einen Vergleich von Dialekt- und Familiennamengeografie interessante Erkenntnisse über den Sprachwandel der letzten 500 Jahre gewinnen kann. Als die Telefondateien auf CDs herauskamen, hat er diesen Ansatz konsequent ausgebaut. Der folgende Aufsatz steht in der Tradition dieses Ansatzes. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob wichtige Dialektgrenzen mit familiennamengeographischen Grenzen zusammenfallen. In diesem Beitrag wird an vier großen südwestdeutschen Dialektgrenzen die Verbreitung von Familiennamen, die aus Heiligennamen stammen, untersucht. Es zeigt sich, dass die Grenzen bei der Verbreitung von sprachlichen Phänomenen und von Familiennamen an den großen Sprachgrenzen tatsächlich übereinstimmen. Abstract: Konrad Kunze already showed at an earlier stage of research that the comparison of the geography of dialects with the geography of family names provides interesting lessons concerning the development of language during the past 500 years. Particularly due to the publication of telephone files on CDs, this approach could be extended consistently. This article follows the outlines of this approach. Hence, it focusses on the question of whether important dialect borders coincide with borders of the expansion of family names. This question is tried to answer by examining the expansion of family names based on the names of saints along four of the main SouthWestern German dialect borders. It turns out that indeed the borders for the expansion of language phenomena do coincide with those of family names along the main language borders.
1 Vergleich von Familiennamen- und Dialektgeografie zur Sichtbarmachung sprachgeschichtlicher Prozesse 1993 erschien Konrad KUNZEs Aufsatz über die „Rekonstruktion der Wortgeschichte in und um Vorarlberg anhand von Familiennamen“. Darin zeigte er auf, dass man die im „Vorarlberger Sprachatlas“ belegte Verbreitung einzelner Bezeichnungen mit ihren früheren Raumverteilungen vergleichen kann. Die Frage lautete zunächst: Wie
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Hubert Klausmann
bzw. woher kann man wortgeografische Verteilungen aus früheren Jahrhunderten erhalten? KUNZE prüfte einzelne Möglichkeiten wie Urkunden, Urbare, literarische Quellen, doch musste er feststellen, dass diese Quellen für einen kleinen Raum wie Vorarlberg viel zu lückenhaft sind. Mit ein oder zwei Belegorten kann man keine sicheren Aussagen über die wortgeografischen Verhältnisse im 13.-15. Jh. machen. Seine Einleitung schloss er mit den Worten: Ich möchte daher hier statt schriftlicher historischer Texte eine andere Quelle zur Rekonstruktion der Wortgeschichte testen, welche diese Lücken nicht aufweist: die Familiennamen, wie sie in den Telefonbüchern räumlich geortet leicht zugänglich sind. Die Familiennamen sind aus den Lagerungen des spätmittelalterlichen Wortschatzes im 13. bis 15. Jahrhunderts entstanden und dieser ist in ihnen weitgehend konserviert. Die Mobilität der Bevölkerung hat die Verteilung der Familiennamen aufs Ganze gesehen im letzten halben Jahrtausend in viel geringerem Maße beeinträchtigt als man gemeinhin annehmen möchte. (KUNZE 1993: 49)
Anschließend geht er die einzelnen Gruppen der Familiennamen durch, um am Ende festzustellen, dass die ergiebigste Gruppe zur Rekonstruktion wortgeografischer Raumbilder die Familiennamen aus Berufsnamen sind. Dies illustriert er an den vier Beispielen Schreiner – Tischler, Tagwerker – Taglöhner, Schuster – Schuchter – Schuhmacher und Fessler – Schädler – Binder. Wie interessant ein Vergleich der Sprachatlaskarten mit der Geografie der Familiennamen sein kann, soll kurz am letztgenannten Beispiel aufgezeigt werden. Der Böttcher wird laut Auskunft des „Vorarlberger Sprachatlas“ in Vorarlberg Küfer, vereinzelt auch Kübler genannt. Diese Bezeichnung ist dort allerdings bei den Familiennamen nicht zu finden. Auch in den Nachbargebieten, in der Schweiz und im Allgäu, stimmen die Kartenbilder aus der Wortgeografie des 20. Jh. und der Familiennamengeografie des 13./15. Jh. nicht überein. KUNZE (1993: 59–60) kommt daher zu folgender Wortgeschichte unseres Falles: (1) Als die Familiennamen entstanden, galt im West- und Ostoberdeutschen für den Böttcher allgemein die Bezeichnung Binder. (2) Seit dem 13. Jahrhundert wurde es im Zuge der Spezialisierung der Handwerke notwendig, den Großböttcher vom Kleinböttcher zu unterscheiden. In diesem Sinne nannte man den Großböttcher nach dem Hauptprodukt seiner Tätigkeit in unserem Untersuchungsgebiet auch Fässler, im (östl.) Bairischen Faßbinder. Für den Kleinböttcher entwickelten sich entsprechend der Vielfalt der Bezeichnungen für kleine gebundene Holzgefäße vielfältigere Bezeichnungen, von denen nach Ausweis der Familiennamen die wichtigsten in unserem Gebiet, von Westen nach Osten sich ablösend, waren: Kübler, Schädler, Schäffler. In Vorarlberg dürfte z.B. nach Ausweis der Familiennamen im späten Mittelalter wie in Graubünden für den Kleinböttcher Schädler gegolten haben. […] (3) Das Wort, durch welches Schädler bis auf Relikte in Graubünden verdrängt wurde, war Kübler. Es kann erst in der Neuzeit von Westen oder Norden her in Vorarlberg eingedrungen sein, denn es hat hier keine Familiennamen mehr gebildet. (4) Der letzte Akt: Küfer, wieder eine umfassende Bezeichnung für Groß- und Kleinböttcher, setzt sich von Norden her in der Schweiz durch. Es verdrängt Fässler total und Kübler bis auf
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wenige Relikte; einzig in Liechtenstein und Vorarlberg konnte sich Kübler noch bis heute flächenmäßig halten […].
1993 erschien auch die erste Auflage des von KUNZE mitverfassten „Kleine[n] Dialektatlas“ für die alemannischen und schwäbischen Mundarten in Baden-Württemberg (KLAUSMANN/KUNZE/SCHRAMBKE 1993). Dieser zeitliche Zusammenfall zweier Publikationen zeigt, wie wichtig es ist, Dialektgeografie und Namengeografie zu verbinden. Und dies gilt nicht nur für die Wort-, sondern auch für die Lautgeografie. Ein berühmtes Beispiel ist das Familiennamenpaar Sauter – Sut(t)er (KUNZE 2003: 166). Hier können wir die für die Einteilung der südwestdeutschen Mundarten wichtige Diphthongierung von mhd. û zu au nachvollziehen. Ähnlich das Familiennamenpaar Binder – Bender (KUNZE 2003: 210), dessen Verbreitungskarte im Gegensatz zur heutigen Verbreitung der Senkung in binden – benden steht, was bedeutet, dass die Familiennamengeografie uns darauf aufmerksam macht, dass die für das Schwäbische heute so charakteristische Senkung zum Zeitpunkt, als die Familiennamen entstanden sind, dort noch nicht vorhanden war und dass dieses „schwäbische“ Merkmal aus dem mittelrheinischen Sprachraum stammt. Dass man bei Vergleichen von Karten aus der Familiennamengeografie mit Karten aus der Dialektgeografie allerdings vorsichtig sein muss, zeigt KUNZE anhand der Karte Frings. Dieser im Rheinland häufig auftretende Familienname ist aus Severinus abzuleiten. Wie dem dtv-Namenatlas (KUNZE 2003: 83) zu entnehmen ist, war Severinus im 4. Jh. einer der ersten Bischöfe von Köln. Er wurde besonders im Rheinland als Heiliger verehrt, was dazu führte, dass viele Eltern ihre Kinder Severin nannten, woraus dann der Familienname Severin entstand. Wie so häufig bei Rufnamen, gab es zu Severin viele Varianten, so dass wir infolgedessen auch viele Familiennamen erhalten, die letztendlich auf Severin zurückzuführen sind. Zu den interessantesten Varianten gehören Frings und Brings, welche letztere Form sich aus dem in dieser Gegend offenbar häufigen Wechsel von Fr- zu Br- erklären lässt. Interessant ist nun, dass sich das Verbreitungsgebiet der Familiennamen Frings und Brings mit dem Verbreitungsgebiet der heutigen Dialektformen Wing für Win ʻWeinʼ deckt. Dass sich beide Gebiete nicht genau überlappen (das Frings-Gebiet ist größer als das WingGebiet), hängt aber nicht damit zusammen, dass sich das Verbreitungsgebiet in den letzten 500 Jahren verändert hat, sondern damit, dass „sich in diesen Namen seit dem 18. Jh. überall die zentrale Kölner Schriftform durchsetzte“ (KUNZE 2003: 83). Und diese lautete Frings.
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2 Übereinstimmungen von sprach- und namengeografischen Räumen bei Familiennamen aus Heiligennamen KUNZEs Arbeiten inspirierten zu weiteren Versuchen, Namen- und Dialektgeografie zusammenzuführen, zumal die ersten Telefondateien auf CD erschienen. In KLAUSMANN (2007) habe ich für Baden-Württemberg landestypische Familiennamen gesucht, 2500 kartiert und viele davon im Atlas veröffentlicht. Beim Kartieren fiel dabei auf, dass es offenbar familiennamengeografische Grenzen gibt, die wir bereits aus der Dialektgeografie kennen, d.h. dass starke Dialektgrenzen gleichzeitig Grenzen bei der Verbreitung von Familiennamen bilden. Übertragen auf KUNZEs Ansatz, dass Raumbilder der Familiennamen sprachgeografische Verhältnisse von vor 500 Jahren widerspiegeln, heißt dies, dass starke Dialektgrenzen im Fall der Übereinstimmung der Raumbilder schon damals existierten. Diese These soll im Folgenden an vier bekannten Dialektgrenzen des südwestdeutschen Sprachraums überprüft werden, wobei die Auswahl auf Familiennamen aus Heiligennamen eingeschränkt bleiben soll, auch wenn diese nur eine kleine Gruppe innerhalb der Familiennamen bilden.
2.1 Rheinfränkisch-Moselfränkisch Wir beginnen mit der berühmten dat-das-Linie, die in Rheinland-Pfalz das Moselfränkische vom Rheinfränkischen trennt (DRENDA 2008: Karte 6). Gehen wir das Kapitel „Familiennamen aus Heiligennamen“ in Rudolf Steffens’ „Familiennamenatlas Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland“ (STEFFENS 2013: 27–41) durch, so ergibt sich bei folgenden Familiennamen der Verdacht, dass die Verbreitungsgrenze in der Nähe dieser berühmten Dialektgrenze liegt: (a) Theisen (über Thîs, Thies und Thias) zu Matthías. (b) Franzen zu Franziskus. (c) Mattern zu Maternus. (d) Gilles zu Aegidius. (e) Dahm(en) zu Adam. (f) Martini zu Martin. Um die Raumverteilung der gefundenen Familiennamen noch genauer zu bestimmen, verlassen wir das vom DFA und von STEFFENS (2013) verwendete Suchprinzip nach Postleitzahlen und nehmen eine Suchmaschine, mit deren Hilfe wir die Verbreitung von Familiennamen in bestimmten Ortschaften und einer Umgebung von jeweils 10, 15, 20, 25 km usw. abfragen können. In diesem Fall diente die CD „PowerInfo Aus-
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kunft pur“ als Materialbasis für die Stichprobe. Gesucht wurde nach den oben genannten Familiennamen nördlich und südlich der Dialektgrenze in einem Umkreis von jeweils 30 Kilometer um Wittlich und Kaiserslautern. Dabei ergaben sich bezüglich der Telefonanschlüsse folgende Zahlenverhältnisse (Wittlich : Kaiserslautern): Theisen 250 : 2, Franzen 300 : 10, Mattern 4 : 40, Gilles 100 : 1, Dahm 80 : 8, Martini 100 : 5. Eine genaue Untersuchung der genannten sechs Familiennamen aus Heiligennamen ergab folgendes Bild: (1) Die Südgrenze des Verbreitungsgebiets von Gilles ist von unserer Dialektgrenze zu weit entfernt. Sie liegt etwa in Höhe der Mosel. (2) Die Verbreitungsgebiete von Franzen, Martini, Theisen und Dahm kommen hingegen unserer moselfränkisch-rheinfränkischen Grenzlinie von Nordwesten her sehr nahe. Den umgekehrten Fall zeigt Mattern: Hier liegt die Grenze des Verbreitungsgebiets nur unweit südöstlich der bekannten Dialektgrenze. Die Zahl der Telefonanschlüsse in Deutschland liegt bei allen erwähnten Namen übrigens zwischen 2000 und 3000. Wir haben es also mit relativ bekannten Namen zu tun.
Abb. 1: Die Verbreitungszentren der Familiennamen Dahm und Mattern an der moselfränkisch-rheinfränkischen Dialektgrenze
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Betrachten wir die unter (2) erwähnten Familiennamen bezüglich ihrer Raumbilder etwas näher. Martini ist ein Familienname, der in ganz Deutschland verbreitet ist und lediglich rechts und links der Mosel einen Schwerpunkt hat. Ähnliches gilt für Mattern. Hier bildet das östliche Rheinland-Pfalz zwar einen Schwerpunkt, doch ist dieser Familienname ebenfalls weit verbreitet. Lediglich ca. 15% aller deutschen Telefonanschlüsse stammen aus Rheinland-Pfalz. Bleiben noch Franzen, Theisen und Dahm. Alle drei Namen haben ihren Schwerpunkt in Deutschland eindeutig in unserem Raum und können als Beispiel dafür dienen, dass große Dialektgrenzen mit Grenzen in der Familiennamengeografie zusammenfallen können. Zur Untermauerung dieser These müssten wir allerdings noch mehr Beispiele finden. Dies dürfte kein Problem sein, denn die Familiennamen aus Heiligennamen bilden – wie bereits erwähnt – nur eine kleine Gruppe innerhalb der Familiennamen. Ein Blick in den DFA zeigt rasch weitere potentielle Kandidaten aus anderen Namengruppen. Zu diesen gehören zum Beispiel die moselfränkischen Namen Arens (DFA I, Karte 236) und Kappel (DFA IV, Karte 147). Kehren wir zu den Heiligennamen zurück und schauen uns die nächste berühmte Dialektgrenze an, die schwäbisch-fränkische Sprachgrenze zwischen Ellwangen und Crailsheim im nordöstlichen Baden-Württemberg.
2.2 Die fränkisch-schwäbische Dialektgrenze in Ostwürttemberg Über den deutlichen Zusammenfall von Dialektgeografie und Familiennamengeografie in diesem Gebiet findet sich einiges in KLAUSMANN (2004), ebenso in KLAUSMANN (2011). In der großen Gruppe der ostwürttembergischen Familiennamen, deren Verbreitung genau an der erwähnten Dialektgrenze endet, befinden sich mit Ilg (wie Gilles zu Aegidius, aber auch zu Ottilie), Joas (zu Jodocus) und Vaas (zu Gervas) auch drei Familiennamen aus Heiligennamen. Wie stark die erwähnte Grenze zum Vorschein kommt, wird deutlich, wenn wir das Auftreten dieser drei Familiennamen 30 Kilometer nördlich und südlich der Grenzlinie vergleichen. Von den drei genannten Namen ist Ilg mit deutschlandweit 1400 Telefonanschlüssen der häufigste, wovon mehr als die Hälfte (800) aus Baden-Württemberg stammt. Von diesen 800 Telefonanschlüssen kommt abermals fast die Hälfte aus Ostwürttemberg, wobei das Verhältnis des Verbreitungsgebiets nördlich der Dialektgrenze zum Verbreitungsgebiet südlich der Dialektgrenze bei 10 : 200 und damit bei 1 : 20 liegt. Genauso stark tritt der Zusammenfall von Dialekt- und Familiennamengrenze bei Joas und Vaas zutage. Es handelt sich bei beiden um deutschlandweit wenig verbreitete Familiennamen (Joas: 450, Vaas: 310 Anschlüsse) mit klarem Zentrum zwischen Ellwangen und der Donau.
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Bei diesen Namen liegt der Nord-Süd-Gegensatz im oben genannten Grenzgebiet von jeweils 30 Kilometer bei 5 : 125 bei Joas und bei 5 : 100 bei Vaas und damit bei 1 : 25 und 1 : 20. Es gibt in den anderen Namengruppen noch viele weitere Beispiele für die Übereinstimmung von Familiennamen- und Dialektgeografie an dieser Grenze, wobei besonders beeindruckend ist, dass bei manchen Namen die Grenze sogar nicht nur eine relative, sondern eine absolute ist, das heißt, dass es den entsprechenden Namen auf der anderen Seite der Dialektgrenze überhaupt nicht gibt. Dies ist zum Beispiel der Fall bei den ostschwäbischen Familiennamen Egetenmaier, Eiberger, Gaugler, Hilsenbeck, Jaumann, Lingel, Rathgeb, Rettenmaier, Seckler und Stempfle. Eine ähnlich starke Dialektgrenze wie zwischen Ellwangen und Crailsheim ist die schwäbisch-bairische Dialektgrenze am unteren Lech. Sie ist unsere dritte Station bei der Suche nach Übereinstimmungen von Dialektgrenze und Familiennamengrenze.
Abb. 2a und 2b: Die Verbreitung der Familiennamen Joas und Vaas an der schwäbisch-fränkischen Dialektgrenze in Ostwürttemberg
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2.3 Die schwäbisch-bairische Dialektgrenze am unteren Lech Die Entstehung dieser Dialektgrenze hat Werner KÖNIG (2001) in einem Aufsatz mit dem Titel „Der nördliche Lech als Sprachgrenze“ ausführlich und überzeugend erläutert. Wie verhält es sich dort mit den Familiennamen? Schon der erste Blick in den kleinen „Atlas der Familiennamen von Bayern“ (KLAUSMANN 2009) macht deutlich, dass auf vielen Karten der untere Lech tatsächlich als Grenze bei der Verbreitung von Familiennamen auftaucht. Um dies nun genauer zu analysieren, habe ich die Telefonbücher mehrerer Ortschaften rechts und links des Lechs nördlich von Augsburg durchforstet und auffallende Namen bezüglich ihrer weiteren geografischen Verbreitung untersucht. Dabei kam es zu folgendem Ergebnis: (1) Es gibt auf beiden Seiten zahlreiche kleinsträumig verbreitete Familiennamen mit allerdings nur wenigen Telefonanschlüssen, die auf der jeweils anderen Lechseite nicht zu finden sind. (2) Aber auch bei Familiennamen, die mit 100–300 Telefonanschlüssen zwischen Donau und Augsburg stärker verbreitet sind, erscheint der Lech als Grenze, und zwar als relative Grenze, d.h. dass der entsprechende Familienname zwar auch auf der anderen Seite des Lechs belegt ist, doch weitaus seltener. Die Verhältnisse betragen dann zum Beispiel im Umkreis von 20 Kilometer links und rechts des Lechs bei Egger und Neumaier 3 : 1, bei Dirr 8 : 1, bei Kapfer 14 : 1 und bei Reisner sogar 25 : 1. (3) Auch hier gibt es stärker verbreitete Familiennamen, die auf der anderen Seite praktisch nicht vertreten sind, so dass die Dialektgrenze am unteren Lech wie schon bei der schwäbisch-fränkischen Dialektgrenze zwischen Ellwangen und Crailsheim zu einer absoluten Grenze wird. Dies ist der Fall bei den linkslechischen Familiennamen Gumpp, Liepert, Mengele (zum Rufnamen Magnus/Mangold, aber auch zu lat. mango ‘Händler’ oder zum Ortsnamen Mengen) und den rechtslechischen Familiennamen Lichtenstern, Asam und Mertl. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich beim zuletzt genannten Namen um einen Heiligennamen (Martin) handelt, während die Herleitung von Asam zu Erasmus, einem der 14 Nothelfer, nicht so offensichtlich ist. Bei diesen Beobachtungen handelt es sich lediglich um die Ergebnisse einer Stichprobe. Es zeigt sich, dass es sich lohnen würde, das Gebiet zwischen Augsburg und Donau bezüglich des Zusammenfalls von Dialekt- und Familiennamengeografie genauer zu erforschen.
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Abb. 3: Die Verbreitungszentren der Familiennamen Mengele und Mertl an der schwäbisch-bairischen Dialektgrenze am unteren Lech
2.4 Die westalemannisch-ostalemannische Sprachgrenze am badischen Oberrhein Die vierte und letzte Station bei der Untersuchung großer Dialektgrenzen im südwestdeutschen Sprachraum führt uns nach Freiburg und an den Oberrhein. Wenn wir dort aus der Rheinebene in den Schwarzwald hineinfahren, so ändert sich zu Beginn der Täler – und nicht auf dem Kamm – die Sprachlandschaft fundamental. Wie KLAUSMANN (1987) zeigt, treffen hier zwei Gebiete aufeinander, die einen alten West-OstGegensatz widerspiegeln, welcher der Aufteilung in Schwäbisch, OberrheinAlemannisch, Bodensee-Alemannisch und Südalemannisch voranging. Dieser Gegensatz setzt sich in der Schweiz fort. Entsprechend zeigt der Oberrhein Gemeinsamkeiten mit dem Westen der deutschsprachigen Schweiz, der Schwarzwald mit der Ostschweiz und mit Vorarlberg.
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Im „Atlas der Familiennamen von Baden-Württemberg“ (KLAUSMANN 2007) befinden sich im Kapitel „Familiennamen aus Rufnamen im Südwesten“ auch Heiligennamen. Diese habe ich hier aus den Atlaskarten herausgenommen und nochmals auf zwei Halbkarten eingetragen (Abb. 4a, 4b). Die linke Halbkarte zeigt die Verbreitung der Familiennamen Broß (zu Ambrosius), Köbele (zu Jakobus), Hiss (zu Matthias) im Rheintal und die Verbreitung der Familiennamen Klausmann (zu Nikolaus) und Rees (zu Andreas) im Schwarzwald. Man sieht, dass die kartierten Rheintalnamen nicht in die Schwarzwaldtäler hineingehen und dass andererseits die Schwarzwälder Familiennamen in die Täler hinabreichen, aber die Rheinebene nicht mehr betreffen. Dasselbe Bild zeigt die rechte Halbkarte, wobei wir hier lediglich mit Bläsi (zu Blasius), Jockers (zu Jakobus) und Ketterer (zu Katharina) drei echte Heiligennamen vorliegen haben. Aber es ist sicher legitim, auch die alten deutschen Namen Leonhardt und Geppert (zu Gebhardt) in diese Gruppe aufzunehmen, da sie erst als Heiligennamen (der hl. Leonhard starb 559, der hl. Gebhard von Konstanz 995) größere Verbreitung fanden. Ähnliches gilt für den Schwarzwälder Familiennamen Tritschler, der zu Trudbert, aber auch zu einem Übernamen mit der Bedeutung ‘Schwätzer’ zu stellen ist. Trudbert ist ein alter deutscher Rufname, doch hängt seine Verbreitung gerade in unserem Raum sicherlich mit der Verehrung des heiligen Trudbert zusammen. Er lebte im Münstertal bei Staufen als Einsiedler und starb 670.
Abb. 4a und 4b: Die Verbreitungszentren einzelner Familiennamen an der inneralemannischen Dialektgrenze am badische Oberrhein
Familiennamen aus Heiligennamen und die großen südwestdeutschen Dialektgrenzen
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Die Kartenbilder machen nun Folgendes deutlich: (1) Typisch für das Familiennamenbild des Rheintals sind eher kleinere Namennester, die nur wenige Ortschaften umfassen (50–150 Telefonanschlüsse in den eingetragenen Gebieten), während im Schwarzwald größere Raumbildungen (150–400 Telefonanschlüsse) zu erkennen sind (Ketterer 400, Tritschler 300, Klausmann 250, Rees 150, gegenüber Broß 150, Geppert, Jokers und Leonhardt je 100, Bläsi, Köbele, Hiss je 50 Telefonanschlüsse). (2) Charakteristisch für die Situation am Oberrhein ist ferner, dass sich die beiden Verbreitungsgebiete nicht überlappen. Und wichtig ist auch, dass man erkennt, dass sich die Verbreitungsgebiete der Schwarzwälder Familiennamen bei unseren Beispielen, aber auch in den anderen Familiennamengruppen, von Osten her und damit von oben in die Täler ausgedehnt haben. Dieses Bild entspricht nun genau dem dialektgeografischen Befund. Das heißt aber auch, dass die Besiedlung der Schwarzwaldtäler offenbar stärker von oben her erfolgte als von unten. Und mit den Bewohnern des Schwarzwaldes kamen die Namen und die sprachlichen Besonderheiten mit. Dialektgeografie und Familiennamengeografie liefern hiermit gemeinsam einen Beitrag zur Siedlungsgeschichte unseres Raumes.
3 Fazit und Ausblick Der Vergleich von Raumbildern aus der Familiennamengeografie mit solchen aus der Dialektgeografie an vier großen Dialektgrenzen im deutschen Südwesten hat eine auffallend starke Übereinstimmung gezeigt, die Rückschlüsse auf das Alter dieser Dialektgrenzen erlauben. Es wäre sicher interessant, den hier nur skizzierten Ansatz mit mehr und noch genaueren Daten aufzufüllen, um die Übereinstimmung zwischen Familiennamen- und Dialektgeografie weiter zu überprüfen. Man müsste noch mehr Raumbilder aus der Dialektgeografie Kartenbildern aus der Namengeografie unterlegen, und diese könnte man dann noch mit Karten aus der Territorialgeschichte und der Verkehrs- und Wirtschaftsgeografie früherer Jahrhunderte in Verbindung bringen. Die heutige digitale Technik macht eine solche Zusammenschau möglich.
4 Literatur DFA = Deutscher Familiennamenatlas (2009ff.). Kunze, Konrad/Nübling, Damaris (Hgg.) Band I: Graphematik/Phonologie der Familiennamen I: Vokalismus. Band II: Graphematik/Phonologie der Familiennamen II: Konsonantismus. Band III:
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Hubert Klausmann
Morphologie der Familiennamen. Band IV: Familiennamen nach Herkunft und Wohnstätte. Berlin u.a. DRENDA, Georg (2008): Kleiner linksrheinischer Dialektatlas. Sprache in RheinlandPfalz und im Saarland. Stuttgart. KLAUSMANN, Hubert (1987): Schwarzwaldtäler und Rheintal: ein ost-westalemannischer Gegensatz. In: Gabriel, Eugen/ Stricker, Hans (Hgg.): Probleme der Dialektologie. Bühl/Baden, 116–134. KLAUSMANN, Hubert/KUNZE, Konrad/SCHRAMBKE, Renate (1993): Kleiner Dialektatlas. Alemannisch und Schwäbisch in Baden-Württemberg. Bühl/Baden. KLAUSMANN, Hubert (2004): Telefonanschlüsse als namenkundliche Quelle. Die Familiennamen in Nordostwürttemberg. In: Bok, Václav/Williams, Werner/ Williams-Krapp, Ulla (Hgg.): Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Festschrift für Konrad Kunze zum 65. Geburtstag. Hamburg, 354–370. KLAUSMANN, Hubert (2007): Atlas der Familiennamen von Baden-Württemberg. Ostfildern/Stuttgart. KLAUSMANN, Hubert (2009): Atlas der Familiennamen von Bayern. Ostfildern/Stuttgart. KLAUSMANN, Hubert (2011): Die Übereinstimmung von Dialektgrenze und Familiennamengrenze am Beispiel des Ostschwäbischen. In: Greule, Albrecht/Hackl, Stefan (Hgg.): Der Südwesten im Spiegel der Namen. Gedenkschrift für Lutz Reichardt. Stuttgart, 213–222. KÖNIG, Werner (2001): Der nördliche Lech als Sprachgrenze. In: Naturwissenschaftlicher Verein für Schwaben e.V. (Hg.): Der nördliche Lech. Lebensraum zwischen Augsburg und Donau. Augsburg, 45–54. KUNZE, Konrad (1993): Zur Rekonstruktion der Wortgeschichte in und um Vorarlberg anhand von Familiennamen. In: Montfort 45, 48–62. KUNZE, Konrad (42003): dtv-Atlas Namenkunde. Vor- und Familiennamen im deutschen Sprachgebiet. München. POWERINFO AUSKUNFT PUR. Deutschland. Stand 4/2000. Hg. von G data Software. Bochum 2000. STEFFENS, Rudolf (2013): Familiennamenatlas Rheinland-Pfalz, Hessen, Saarland. Sonderpublikation des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz. Ubstadt-Weiher u.a.
Karlheinz Hengst
Namen von Kirchenheiligen sowie Heiligen und Sankt in Siedlungsnamen im östlichen deutschen Sprachraum Zusammenfassung: Der Beitrag gibt erstmalig einen Überblick über die Verbreitung von HeiligenN in Toponymen im ostmitteldeutschen Sprachgebiet. Es wird ersichtlich, dass im Laufe der vor allem im 12. Jh. einsetzenden deutschen Besiedlung die Namen von Kirchenheiligen auch zu Bestandteilen von SiedlungsN wurden. Anhand der historischen Überlieferung lassen sich neben Kontinuität über die Jahrhunderte auch unterschiedliche Veränderungen solcher Toponyme ausweisen. Neben sprachlichen Reduktionsprozessen infolge von Sprachökonomie sind z.T. auch vom Geist der Reformationszeit beeinflusste Veränderungen feststellbar. Zugleich ist aber auch bis in die Neuzeit ein vereinzeltes Anschließen von SiedlungsN an die Namen von Heiligen aus dem Mittelalter zu beobachten. Der am häufigsten vorkommende HeiligenN ist Maria in Verehrung der Gottesmutter. Abstract: The article provides a first overview of patrociny settlement names in the East-Central German language area. We can see that in the course of German settlements starting in the 12th century, the names of saints are also used as elements of settlement names. A survey of historical records shows various changes as well as continuity in such toponyms over the centuries. In addition to reductive processes due to linguistic economy, changes influenced by the zeitgeist of the reformation era can be detected. At the same time, settlement names are sporadically based on names of saints from the Middle Ages up until the modern age. The most commonly occurring hagionym is Maria in reverence towards the Mother of God.
1 Thema und Ziel Konrad Kunze hat vor rund zwei Jahrzehnten in seinem „dtv-Atlas Namenkunde“ (KUNZE 2004) auf den Einfluss der Christianisierung in der PersonenN-Gebung seit dem 3./4. Jh. hingewiesen. In späteren Jahrhunderten ist auch in der SiedlungsNGebung die mit dem Christentum engstens verbundene Benennung von Orten nach Heiligen belegbar. Dabei hat sich der Brauch parallel zum deutschen Besiedlungsfortschritt in Deutschland von West nach Ost ausgebreitet. Einem ersten zusammenfas-
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senden Überblick speziell zum östlichen deutschen Sprachraum seit dem Mittelalter sollen die nachfolgenden Ausführungen dienen.1
2 Toponyme mit Heilig(en)- als Erstglied bzw. Konstituente SiedlungsN mit Heilig-2 bzw. Heiligen- lassen sich im gesamten deutschen Sprachgebiet nachweisen. MÜLLERS ORTSBUCH (2005) verzeichnet diesbezüglich über 90 Namen von Orten und Ortsteilen in der Bundesrepublik Deutschland. Rund ein Zehntel davon entfällt auf den heutigen ostdeutschen Sprachraum. Doch verbirgt sich hinter diesen OrtsN in dem hier interessierenden Gebiet mit Ausnahme von Heilige Drei Könige bei Barenthin nahe Kyritz im Landkreis Ostprignitz-Ruppin im Nordwesten von Brandenburg und dem OrtsN Heiligenstadt in Thüringen (vgl. dazu weiter unten) keine direkte oder unmittelbare Namengebung nach den Namen von einzelnen oder bestimmten Kirchenheiligen. Die OrtsN dieses Typs mit Heilig- oder Heiligen- als erster Namenskonstituente weisen meist auf den ursprünglichen Besitz von Kirche oder Kloster hin. Und Kirchen sowie Klöster führten selbstverständlich in der vorreformatorischen Zeit alle einen Kirchenheiligen in ihrem Namen. Das gilt in alphabetischer Abfolge für die folgenden OrtsN im ostdeutschen Sprachraum: Heilgeisthof, westlich Greifswald, ein Ortsteil von Levenhagen, 1463 Des Hilghenghesteshoff, eine Gründung des Ordens der Spitalbrüder (WITKOWSKI 1978: 79– 80); vgl. auch †Heiligen-Geistes-Hof bei Rostock, 1319 des Holghen Gheistes houe für einen zu einem Heiliggeiststift gehörigen Hof (FOSTER/WILLICH 2007: 190); Heiligenau, ein Wohnplatz der Gemeinde Renthersdorf bei Stadtroda in Thüringen; Heiligenaue, ein Wohnplatz der Gemeinde Schwarzbach bei Gera in Thüringen; Heiligenbeil, heute Mamonovo im Kreis Bagrationovsk südwestlich Kaliningrad (Königsberg), 1330 Heylgenstatt, möglicherweise eine Übersetzung eines älteren altpreuß. Namens Swentomest, mit seit dem 14. Jh. belegtem sekundärem Grundwort Bühl (DONB: 253);
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Es handelt sich hier nun um eine erweiterte und deutlich ergänzte sowie ausführlichere Darstellung, die an die auf Anregung von Valéria TÓTH (Debrezin/Ungarn) entstandene ursprünglich englischsprachige Fassung (HENGST 2011) im Rahmen einer europäischen Umschau anschließt. KUNZE (2005: 151) führt u.a. den FamN Heiligtag an und stellt ihn in den Zusammenhang mit christlichen Festen. Und was für Personen zutraf, das ist auch bei Ortschaften als gültig zu beobachten.
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Heiligenborn südwestlich Waldheim im Altkreis Döbeln in Sachsen: 1350 in dem dorffe zcu deme Heyligen Burne – der Ort liegt an einem Bachquell, der sich in Kloster- oder Kirchenbesitz befand, vermutlich im Besitz des Klosters Waldheim (HONB I: 402); Heiligenfelde, ein Ortsteil der Gemeinde Altmärkische Höhe im Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt; Heiligengrabe, Gemeinde im Landkreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg: 1318 in cenobio sancti sepulchri, 1339 tu den heiligen grabe – ein Zisterziensernonnenkloster mit dem Namen nach einem dort angeblich geschehenen Hostienwunder (WAUER 1989: 121); Heiligenhagen bei Bad Doberan und Rostock in Mecklenburg-Vorpommern, 1335 Hilgengeysteshaghen, Name nach einem Heiligengeiststift, vermutliches Mutterstift wird in Riga angenommen (FOSTER/WILLICH 2007: 190); Heiligenleichnam für ein Dorf in Thüringen südlich Altenburg, heute Ortsteil von Nobitz: 1435 an der Capellen des Heiligin Leichnams, 1457 der capellen zcu dem Heiligen lychenam (HENGST GP), 1488 zum heiligen waren leichnam (UBA II: 2.3.1488). Es war ursprünglich der Name einer in den 30er Jahren des 15. Jh. errichteten Wallfahrtskapelle, benannt nach dem Leib des gekreuzigten Christus (HONB I: 402). Der OrtsN nimmt als einziger im untersuchten Gebiet somit indirekt Bezug auf den Gottessohn Jesus Christus. Anlass für die Namengebung war der Fund einer gestohlenen Hostie aus der Bartholomäus-Kirche in Altenburg, was am Fundort zur Errichtung der Kapelle führte. Diese ist in der Zeit nach der Reformation rasch verfallen. Heiligenroda, ein Ortsteil von Oberzella bei Vacha im Wartburgkreis in Thüringen; Heiligensee, Ortsteil in Berlin; Heiligenstadt im oberen Eichsfeld am Zusammenfluss von Leine und Geislede ist der Hauptort des Eichsfeldes. Der Ort war in fränkischer Zeit Missionsstützpunkt zum Herrenhof der Erzbischöfe von Mainz, 960 Chorherrenstift. 973 Heiligenstat, 990 Heiligestat, 1070 Heiligenstat, niederdeutsche Schreibungen 1037 Heliganstedi, 1138 Helginstad, 1355 Helgenstad (MÜLLERS ORTSBUCH 1958: 39–40; EICHLER/ WALTHER 1986: 132). 1144 in loco Sanctorum Virorum, qui lingua vulgari Heilingestat nuncupatur – also benannt nach den im 9. Jh. aus Mainz überführten Reliquien von Märtyrern (EICHLER/WALTHER 1986: 132; DONB: 253). Heiligenstein, Ortsteil von Thal in Thüringen, seit 1994 eingemeindeter Stadtteil der thüringischen Stadt Ruhla im Wartburgkreis. Im Jahre 1253 errichteten Mönche des Wilhelmiten-Ordens ihre erste Niederlassung in Thüringen, zunächst in einem kleinen Seitental des Erbstromes, dann, 1301 bis 1307 noch einmal am Heiligenstein, einem markanten Felssporn am Südrand Thals. Nach dem Bauernkrieg wurde das
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Kloster aufgehoben. Während die Kirche weiterhin zum Gottesdienst genutzt werden konnte, wurde die Klosteranlage säkularisiert und verkauft (BÖHM 1991: 62). Heiligenthal, Ortsteil der Stadt Gerbstedt im östlichen Landkreis MansfeldSüdharz in Sachsen-Anhalt; Heiliger Grund, Wohnplatz der Gemeinde Winkwitz bei Meißen in Sachsen. Vierzehnheiligen ist ein Stadtteil der kreisfreien Stadt Jena in Thüringen. Der Ort ist bekannt durch seine Kirche Zu den vierzehn Nothelfern sowie durch die historischen Ereignisse in der Schlacht bei Jena im Jahre 1806. Vierzehnheiligen als Ort ging aus der Siedlung Lützendorf hervor, welche 1450 zerstört wurde. 1453 legte Margaretha von Österreich den Grundstein für eine den vierzehn Nothelfern geweihte Wallfahrtskirche. Im 15. bis ins 17. Jh. nannte sich der Ort Zu den 14 Nothelfern bei Ihene. Mit der Teilung der wettinischen Länder 1485 gelangte Vierzehnheiligen an die Albertiner, 1547 an die Ernestiner. Damit war Vierzehnheiligen eine Exklave des Amtes Camburg. Zwischen 1826 und 1920 gehörte der Ort zum Herzogtum SachsenMeiningen, während alle umliegenden Dörfer unter der Herrschaft Sachsen-Weimars lagen. Das Dorf bildete ab dem 1. April 1969 zusammen mit Krippendorf eine eigene Gemeinde, bis beide Orte am 1. Juli 1994 nach Jena eingemeindet wurden. Gleichzeitig ist aber sonst Vorsicht geboten bei OrtsN mit dem Erstelement Heiligen-, denn dieses kann wie bei dem OrtsN Heilingen bei Rudolstadt in Thüringen auf einem althochdeutschen PersonenN beruhen (FISCHER/ELBRACHT 1959: 30) oder wie bei Heiligendamm bei Bad Doberan in Mecklenburg-Vorpommern ganz weltlich motiviert sein und dennoch auch nachträglich religiös begründet sein (BACH 1952– 1956 II, 2: 539) oder auch wie bei Heiligenborn bei Waldheim in Sachsen infolge einer in Kirchen- oder Klosterbesitz befindlichen Quelle so benannt sein (HONB I: 402) bzw. wie bei Heiligenkreuz nordwestlich Naumburg in Sachsen-Anhalt wohl nach einem Kruzifix, das an einer nach Camburg führenden Verbindungsstraße stand, in dessen Nähe sich das Dorf entwickelte (EICHLER/WALTHER 1984: 166).
3 Verbreitung der Toponyme mit dem Element Sankt im amtlichen Namen oder nur in der älteren Überlieferung 3.1 Ortsnamen mit Sankt in Deutschland SiedlungsN mit Sankt in der amtlichen Namensform sind in den Ländern Ostdeutschlands relativ selten. Im Unterschied zu Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz,
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Nordrhein-Westfalen und auch Niedersachsen sowie Schleswig-Holstein sind solche Namen östlich von Hessen in den Ländern Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern schon Raritäten. Es zeigt sich ein Bild mit klarer Differenzierung: Der heutige süddeutsche und westdeutsche Sprachraum in der Bundesrepublik Deutschland bietet zahlreiche OrtsN mit Sankt als erster Konstituente.3 Hingegen sind solche OrtsN mit Sankt im mitteldeutschen Hessen schon deutlich seltener (BACH 1952–1956 II, 2: 529)4 und im gesamten Raum nördlich von Bayern, also im östlichen bis hin zum einstigen nordöstlichen deutschen Sprachgebiet so gut wie Einzelfälle. Eine Durchsicht der Namen in dem Nachschlagewerk MÜLLERS ORTSBUCH (2005) bringt folgendes Ergebnis: Sowohl Orte – im Sinne von Siedlungen wie z. B. Dörfer oder Ortsteile – als auch zu Orten mit anderen Namen gehörende Wohnplätze, Häusergruppen und geistliche Einrichtungen sind als Namen mit Sankt plus HeiligenN in dem Verzeichnis ausgewiesen. Daher bringt eine zahlenmäßige Erfassung all dieser Namen ohne weitere Differenzierung nach den Referenzobjekten kein verlässliches Ergebnis zu den eigentlichen Sankt-OrtsN. Hier wird nun nachfolgend auf die Namen von Siedlungen, also von Ortschaften oder heutigen Ortsteilen, eingegangen.
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Vgl. die Karte zur Verbreitung von HeiligenN in OrtsN im deutschen Süden bei BACH (1952– 1956 II 2: 188–189). Im westmitteldeutschen Hessen finden sich heute im genannten Ortsbuch insgesamt nur folgende sechs Namen: Sankt Hildegard, eine Abtei mit 135 Einwohnern, zur Stadt Rüdesheim am Rhein gehörig; Sankt Hubertus, Wohnplatz, zur Stadt Hünfeld (nahe Fulda) gehörig; Sankt Ottilien, Ortsteil der Gemeinde Helsa im Kreis Kassel; Sankt Petersmühle mit nur acht Einwohnern zur Gemeinde Hünstetten gehörig; Sankt Stephan, Stadtteil mit 2209 Einwohnern von der Stadt Griesheim; Sankt Vinzensstift, zunächst eine Anstalt, heute mit 195 Einwohnern zur Stadt Rüdesheim/Rhein gehörig.
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3.2 Ortsnamen mit Sankt5 im Namen oder in der Überlieferung mit sanct respektive heilig + Name des/r Heiligen in Mitteldeutschland nach Ländern geordnet
3.2.1 Thüringen Zu dem sich östlich an Hessen anschließenden Thüringen sind folgende Namen zu nennen: St. Bernhard, Gemeinde südwestlich Themar mit heute 294 Einwohnern und alter Filialkirche (LEONHARDI 1802–1806 IV, 672) im Kreis Hildburghausen. Der nordwestlich von Hildburghausen gelegene Ort ist schon früh belegt: 956 Bernriod, 1187 Bernrit (WALTHER 1971, 308). Es wird deutlich, dass in diesem OrtsN erst viel später der ursprüngliche KurzN Bero in Verbindung mit dem Rodungsgrundwort umgedeutet und dabei dem Heiligen Bernhard zugeordnet wurde. Noch 1417 Bernryte und auch 1521 lautete der OrtsN unverändert Bernriet (WÖLFING 2010, Nr. 436 und 844). St. Gangloff, Gemeinde mit 1356 Einwohnern nahe Hermsdorf im SaaleHolzland-Kreis, 1266 villa Warte nach einem Wartturm zum Schutz der Straße von Gera nach Stadtroda, später umbenannt das man ytzt sant Gangolff nennet – ein Ort, der sich wohl vom 13. Jh. an entwickelte (1525 Sand Jangolt, zu sande Jangolf, 1546 St. Gangolff) und den Namen nach der dem Heiligen Gangolf gewidmeten ursprünglichen Wallfahrtskapelle erhielt (ROSENKRANZ 1982, 43); die Kapelle ist als Kirche erhalten (1806 Filial von Waltersdorf). Eine Kirche St. Gangolf gibt es auch in Münchenlohra (Kreis Nordhausen, Regierungsbezirk Erfurt). Georgenthal westlich Ohrdruf im Landkreis Gotha beruht auf dem Heiligen Georg: 1143 wurde das Kloster St. Georg, ein Zisterzienserkloster, durch die Grafen von Schwarzburg-Käfernburg gegründet. Nach 1207 de valle sancti Georgii, nach 1208 Vallis sancti Georii, 1209 (Konvent) sancti Georgii, 1223 de Valle beati Georgii (WÖLFING 2010, Nr. 48, 50a, 53, 68). 1531 wurde der Klosterbesitz durch Kurfürst Johann von Sachsen eingezogen. Das ehemalige Kloster und seine zwölf Dörfer bildeten künftig das Amt Georgenthal. Mit der Säkularisierung entfiel auch die Angabe Sankt, daher 1540 Jorgenthall (WÖLFING 2010, Nr. 908). Georgenzell westlich Schmalkalden, ehemaliges Zisterzienserkloster, ist heute ein Ortsteil von Rosa im Landkreis Schmalkalden-Meiningen in Thüringen. Anfang
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Die Schreibung folgt bei der Aufzählung dem heutigen amtlichen Usus. Es werden daher die Graphien Sankt und verkürzt St. in der Schrift beibehalten, während die Lautung in der Aussprache einheitlich immer [saŋt] ist.
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des 14. Jh. wurde durch Ritter Berthold von Wildprechtroda ein kleines ZisterzienserKloster gegründet, der es im Zusammenwirken mit Graf Berthold VII. von Henneberg dem heiligen Georg weihte. Das Kloster wurde dem Abt und Konvent von Georgenthal unterstellt, der es auch besiedelte. Seit 1322 nennt sich das Dorf ebenso wie das im Ort befindliche Kloster Georgenzell. Nach der Säkularisation des Klosters wurde die Pfarrei Georgenzell 1531 von Wilhelm VI. von Henneberg-Schleusingen der Pfarrei Rosa unterstellt; 1540 Jorgen Zhell (WÖLFING 2010: Nr. 906). Katharinenberg ist ein Ortsteil der Landgemeinde Südeichsfeld und liegt im Unstrut-Hainich-Kreis. 1462 wurde in Katharinenberg eine Wallfahrtskapelle des Klosters Anrode errichtet, die zwischen 1520 und 1525 vom Kloster Anrode und dem Stift Großburschla zur heute als Ruine bestehenden Wallfahrtskirche umgebaut wurde. 1512 wird Katharinenberg erstmals urkundlich erwähnt, als der Erzbischof von Mainz seine Einkünfte vom Berge der heiligen Katharina an das ZisterzienserNonnenkloster Anrode im Eichsfeld übereignete. St. Kilian, Gemeinde im Kreis Hildburghausen nördlich Schleusingen mit 3279 Einwohnern, entstanden infolge von Zusammenschluss von fünf Dörfern, darunter auch St. Kilian, zu einer Großgemeinde (1991). Um eine Ende des 14. Jh. gestiftete Kapelle für den Schutzpatron der Franken, im 16. Jh. zur Parochialkirche verwandelt, entwickelte sich um ein gräflicherseits gestiftetes und 1419 vollendetes Hospital nach und nach die Ortschaft (LEONHARDI 1802–1806 III: 644–645). 1585 zum Kilges ufften Rasenn (WINKLER 2007: 145). Die sprachliche Analyse hat gezeigt, dass der im Verbreitungsgebiet genitivischer OrtsN gelegene Ort die Form Kilges im 16. Jh. in einer Graphie für zu lesendes [kiljes] für eigentlich *Kilians in Analogie zu anderen OrtsN dieses Typs im Umfeld bietet. Mit einbezogen werden hier alphabetisch auch die OrtsN mit nachweisbarem Bezug auf die Gottesmutter und Kirchenheilige Maria, in der urkundlichen Tradierung nur z. T. neben sancta auch durch beata gekennzeichnet: Mariengart, weilerartiger Ortsteil von Vacha im Wartburgkreis. Ursprünglich Besitz von Kloster Hersfeld. 1339 erfolgte von Hersfeld aus die Erlaubnis zur Gründung von Mariengart, Hortus beatae Mariae virginis. Heute noch vorhanden sind die Ruine einer Grabkapelle von 1676 und Reste einer Scheune des Klosters. Die Kapelle brannte 1704 bei Reparaturarbeiten ab. Bereits 1368 wurde das Kloster vor die Stadtmauer von Vacha (Servitenkloster Vacha) verlagert. Marienrode südlich Bibra im Landkreis Schmalkalden-Meinigen (WERNEBURG 1983: 120) geht wohl ebenso wie das wüste Marienrode bei Steinburg, ehemals Kreis Nebra in Sachsen-Anhalt (WERNEBURG 1983: 126) auf den Namen der Gottesmutter zurück. Marienzelle, heute Paulinzella, ist ein ehemaliges Benediktinerkloster im Rottenbachtal westlich Rudolstadt. Bis zur Mitte des 14. Jh. war es ein Doppel-, dann nur noch Mönchskloster. Die Ruine der Klosterkirche zählt zu den bedeutenden romani-
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schen Sakralbauten in Deutschland. 1106 monasterium beate Paullinae ad Cellam weist hin auf die adlige Gründerin Paulina, Tochter des Truchsessen am Hofe Heinrichs IV. Das Kloster war der Gottesmutter Maria gewidmet, daher 1108 celle in honore sanctę Marię, 1114 Cella sancte Marie, aber schon 1133 Cella beate Pauline, 1367 Pawlyn Zcelle, 1485 Paulyncellenn mit -zell aus lat. cella für monastische Gründungen (FISCHER/ELBRACHT 1959: 41). Das Kloster bestand bis zur Säkularisierung im 16. Jh. Bildungen mit -zell aus lat. cella begegnen wiederholt für monastische Gründungen, vgl. Zella bei Mühlhausen mit einer mittelalterlichen BenediktinerinnenAbtei im südlichen Eichsfeld, bis in die Mitte des 19. Jh. von der katholischen Bevölkerung genutzter Wallfahrtsort (KNIEB 1909). St. Marien ist der Name eines Vorortes von Zeulenroda, der aber erst in der Neuzeit einen Bezug zur Heiligen Maria erhalten hat. Der Ort hatte weder eine Kirche noch eine Kapelle und der Name beruht auf Umdeutung infolge lautlichen Anklangs, denn die Überlieferung lautet 1511 und 1626 Mergen, 1750 auf dem Märjen und bedeutet damit eigentlich ‘Meerchen’ als Name für einen großen Teich (ROSENKRANZ 1982: 45). Nicht auf dem Namen der Gottesmutter Maria beruhen jedoch zwei Ansiedlungen mit den Namen Marienthal: Marienthal als Name für einen Ortsteil von Haselbach im Kreis Sonneberg verdankt seine Entstehung einer 1827 gegründeten Glashüttensiedlung. Diese wurde aber nach der damaligen Herzogin Marie von Sachsen-Meiningen benannt (SCHINDHELM 1998: 50). Marienthal nordöstlich Barchfeld im Werratal ist eine zum Ortsteil Schweina der Stadt Bad Liebenstein im Wartburgkreis gehörende Siedlung, die erst in der Neuzeit aus ganz weltlichem Anlass so benannt wurde. Die Herzoglich Meiningische Finanzkammer übernahm 1833 das dort befindliche herrschaftliche Gut und nahm eine Umbenennung vor, denn auf Wunsch des damals regierenden Herzogs Bernhard Erich Freund wurde es mit der zugehörigen Flur nach dessen Gattin Marie (von HessenKassel) in Marienthal umbenannt (FRITZE 1999). Nikolausrieth, Ortsteil der Gemeinde Mönchpfiffel-Nikolausrieth an der Helme im thüringischen Kyffhäuserkreis, in der Nähe der Stadt Artern. Die Bildung der Gemeinde erfolgte 1956 aus den Dörfern Mönchpfiffel und Nikolausrieth. Nikolausrieth im Gebiet der Goldenen Aue wurde erstmals im Jahre 1226 als Novale St. Nicolai in einer Walkenrieder Urkunde genannt. J.M. Schamelius erwähnt in seinem Klosterlexikon von 1733 ein Nonnenkloster als 1236 gegründet und nach der Reformation „ruiniert“. Mönchpfiffel ist ein historisches Klostergut als Außenstelle des Klosters Walkenried gewesen. Veitsberg, Ortsteil von Wünschendorf nördlich Weida, 1161/1170 ecclesia sancti Viti (UBN I: Nr. 276), benannt nach St. Vitus (Veit). Nach der Gründung des Klosters
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Mildenfurth 1193 durch Heinrich II. von Weida als Hauskloster erfolgte die parochiale Verknüpfung mit diesem (THÜRINGEN 1968: 450). Zella St. Blasii, heute Stadtteil von Zella-Mehlis am Südhang des Thüringer Waldes (DONB: 714). Anfang des 12. Jh. wurde an einer alten Straße, die über den Thüringer Wald führte, seitens des Klosters Reinhardsbrunn bei Friedrichroda eine Mönchszelle errichtet. Schutzheiliger war St. Blasius: 1111/12 Cella Sancti Blasii (EICHLER/WALTHER 1986: 306), 1208 de cella sancti Blasii (WÖLFING 2010: Nr. 52), 1357 zu der Celle sannct Plasius, 1581 von der Zehl, 1642 Zella (EICHLER/WALTHER 1986: 306). Auch Zella/Rhön im Wartburgkreis verdankt seinen Namen einem ursprünglichen Benediktinerkloster aus dem 12. Jh., 1137 Zelle (DOBENECKER 1986 I: Nr. 1343). Sicher ist auch hier der Name des Schutzheiligen im Zusammenhang mit der Säkularisierung entfallen. Ein älteres Verzeichnis, das ORTSLEXIKON 1958 aus der damaligen DDR, nennt noch zusätzlich einige Namen: Auffällig ist hier, dass – aus welchem Grund auch immer – die Angabe Sankt mit der Abkürzung St ohne Punkt angegeben ist. Im Einzelnen werden angeführt: St Adelheid, Wohnplatz von Stadt Greiz in Thüringen – eine Siedlung mit wenigen Bauerngütern und Häusern, die auf eine alte Wallfahrtskapelle zurückgeht. Diese stand an einer Quelle, deren Wasser im Mittelalter als heilkräftig galt. Nach der Reformation verfiel die Kapelle, 1723 nur noch ein Steinhaufen (NÖRDLICHES VOGTLAND: 281). St Jakob, Ortsteil von Munschwitz im Kreis Saalfeld-Rudolstadt – ursprünglich wohl eine Einsiedelei, wobei der Ortsteil nach der einsamen Bergkirche St. Jakob benannt wurde (ROSENKRANZ 1982: 66). St Wolfgang, Wohnplatz der Gemeinde Hermannsfeld im Kreis Meiningen. Dazu heißt es 1806: „Am Hermannsfelder Teich steht ein Jagdzeug- und Jägerhaus, der St. Wolfsgang (sic!) genannt …“ (LEONHARDI 1802–1806 IV: 793). Wahrscheinlich war der Heilige Wolfgang als Schutzpatron für die Tätigkeit im Wald und am Teich gewählt worden. Eine detailliertere Untersuchung zu einer kleineren Region ergab noch einen weiteren Namen: †Ilgenhain, Name für eine seit Jahrhunderten wüst liegende Ansiedlung im Orlatal, 1350 Villa Hain Desolata, 1411 und 1428 (Abschrift 16. Jh.) S. Ilgenhain, 1421 Sente Ilgenhain; 1428 erfolgte der Verkauf der Wüstung mit dem „wüsten Kirchlehen“ (AEHNLICH 2014). Zum Namen des Heiligen Aegidius existierte im Mittelalter bereits die volkssprachliche Form Ilge. Vgl. St. Egidien in Sachsen nahe HohensteinErnstthal, 1320 Ecclesia Sancti Egidii, später öfters wie 1493 zw ßand Ilgen – mit der Mundartform dilling neben dilχn (HENGST 2003: 36). Zum PersonenN vgl. KOHLHEIM/KOHLHEIM (2005: 147) sowie BAHLOW (1991: 31, 257). Belegt ist 1536 Christoph Ilgen aus Freiberg in Sachsen (BRECHENMACHER 1957–1963 II: 771).
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3.2.2 Sachsen Für das wiederum von Thüringen aus weiter nach Osten anschließende Sachsen werden 2005 genannt: St. Egidien, Gemeinde mit 3704 Einwohnern im Kreis Zwickau, 1320 Ecclesia Sancti Egidii in Lun[k]wicz, 1405 die Longwicz zu sant Egidy, 1582 Sanct Illing, 1720 Sanct Egidien – mit Ägidius-Kirche bis 1812 (HONB I: 231; HENGST 2003: 36). St. Michaelis, Ortsteil von Stadt Brand-Erbisdorf im Kreis Mittelsachsen, 1348 Sanct Michahelen, 1409 zcu sente Michel, 1428 Michillsdorff, 1503 Michel, 1532 St. Michael, 1791 St. Michael, wird auch Michels genannt – mit Michaelskirche (HONB II: 36). Das ORTSLEXIKON 1958 hat zusätzlich noch die folgenden OrtsN: St Georg als Wohnplatz von Marienberg im Erzgebirge – hierbei handelt es sich um den ursprünglichen Namen einer Fundgrube aus der Zeit des Erzbergbaus im 16. Jh. (BOGSCH 1966: 262); St Johannis als Wohnplatz der Stadt Wolkenstein im Erzgebirge – zunächst Name einer Fundgrube aus dem 16. Jh., dazu kamen neue Gebäude in der letzten Bergbauzeit von 1947–1954 (BOGSCH 1966: 266). Erst die gründliche historische Namenforschung vermag noch weitere OrtsN zu eruieren, die ebenfalls auf einen Kirchenheiligen zurückgehen. Bisher verfügen aber im Osten Deutschlands nur das Land Brandenburg und der Freistaat Sachsen über eine vollständige Bearbeitung der OrtsN und ihrer Geschichte. Für Sachsen lässt sich daher – über die Ortsverzeichnisse hinausgehend – noch einiges mehr zu den Formen mit Sankt feststellen. Es sind zunächst zwei Beobachtungen aufschlussreich und wichtig: Einmal kann bei Siedlungsgründungen aus der Zeit des deutschen Landesausbaus ursprüngliches Sankt im OrtsN „verloren“ gegangen bzw. aufgegeben worden sein: Lorenzkirch, Gemeinde im Kreis Meißen,6 1274 plebanus sancti Laurencii, 1308 Sanctus Laurentius, 1350 apud sanctum Laurentium, 1406 Lorenczkirche, 1513 Lorentzkirch (EICHLER/WALTHER 1966: 177).
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Es handelt sich um ein besonders am Ende des Zweiten Weltkriegs ins Blickfeld getretenes Dorf. Am 25. April 1945 überquerte ein Aufklärungstrupp der US Army gegen 12 Uhr mittags in einem Boot die Elbe von Strehla nach Lorenzkirch und traf dort erstmals auf Soldaten der Sowjetarmee. Aber erst die ein paar Stunden später in Torgau stattfindende Begegnung (15.30 Uhr) wurde berühmt als Treffen beider Seiten auf der zerstörten Elbbrücke. Das von diesem Ereignis schließlich verbreitete Foto entstand erst am Folgetag und wurde mit anderen Soldaten nachgestellt (Fakten nach Recherchen der Tageszeitung „Freie Presse“ Chemnitz, 3. März 2015, S. 2 und 22. April 2015, S. 3).
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Marienthal, Ortsteil von Zwickau, 1192 villa, que vallis sancte Marie nuncupatur, 1212 villa, que dicitur Vallis sancte Marie, 1348 Meriental, 1354 Mergental (HONB II: 13). Marienau bei Zwickau ist erst um 1900 so benannt worden und kann evtl. auf dem Namen der Gottesmutter beruhen (HONB II: 11–12). Mergendorf im Kreis Meißen: 1214 Sentemariendorf, 1234 villa sancte Marie, 1266 Mergendorf, 1297 Mariendorf, 1336 Mergendorf (EICHLER/WALTHER 1966: 197; HONB II: 28). Niklasgasse, ehemaliges Dorf, später Vorstadtgemeinde von Chemnitz, 1814 eingemeindet, 1493 yn Sant Niclasgassen (HONB II: 116). Nikolsdorf, jetzt Ortsteil von Leupoldishain, Ortschaft im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Nikolsdorf befindet sich direkt östlich von Leupoldishain. Die urkundliche Ersterwähnung 1379 Niklasdorf ohne Sankt deutet hier möglicherweise aber auf Namengebung nach dem Lokator hin (HONB II: 117). Petersbach als OrtsN für ein Dorf südlich von Bautzen in Sachsen ist als späte Domstiftung und Ansiedlung von Häuslern nach 1730 ein dem Stiftsheiligen St. Peter verbundener Name (HONB I: 167; EICHLER/WALTHER 1975–1978 I: 224). Hier ist erkennbar, dass auch noch lange nach der eigentlichen Landnahmezeit ein HeiligenN in den OrtsN eingehen konnte. Ein Patrozinium trifft aber nicht zu auf Petersdorf bei Roßwein in Sachsen (HONB I: 167–168; EICHLER/WALTHER 1966: 242). Altzella ist ein regelrechtes Musterbeispiel für die Aufgabe sowohl von Sankt als auch des HeiligenN. Der heutige OrtsN Altzella steht für eine kleine Ansiedlung, die zur Stadt Nossen im Kreis Meißen gehört: 1162 abbatia(m) … ad honorem beatę Marię virginis (CDS I A II: Nr. 308), 1182 Cellę sanctę Marię (CDS I A II: Nr. 466). Hier fiel im Alltagssprachgebrauch der HeiligenN bereits im Mittelalter weg: 1282 Cella, 1385 czu der alden Cellen, 1404 Aldenzella gegenüber auch noch urkundlich 1442 Marien-Celle (HONB II: 635). Das bedeutende Zisterzienserkloster mit Klostergut bestand bis in die Reformationszeit. Zum anderen kann Sankt plus Name des Kirchenheiligen einer älteren Namensform folgen, wodurch eine jeweils dreigliedrige OrtsN-Form entstanden ist. Es zeigt sich, dass es sich um eine zunächst grundherrschaftliche und später amtliche Unterscheidung von Siedlungen handelt. Die Belege dokumentieren eine Differenzierung von Orten entlang eines Gewässers. Das betraf Orte, die zunächst nur nach dem Gewässer benannt wurden. Diese Art der sekundären Unterscheidung erfolgte wohl zuerst vor allem in der Amtssprache der Kanzlei, während in der Volkssprache durch die Zusätze Ober- und Nieder- nach der Lage der Siedlungen an dem Gewässer unterschieden wurde. Letztere Formen wurden dann später auch amtlich verbindlich. Die differenzierenden Zusätze mit Sankt + Kirchenheiliger sind in der Überlieferung seit dem 15. Jh. nachweisbar:
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Mülsen St. Jacob im Kreis Zwickau, 1421 zcu sente Jacoffe, 1460 Milsen ad sanctum Jacobum (HONB II: 65); Mülsen St. Micheln im Kreis Zwickau, 1421 zcu sente Michele, 1460 Milsen ad michaelem, Milsen ad sanctum Michaelem (HONB II: 66); Mülsen St. Niclas im Kreis Zwickau, 1421 zcu sente Nigklause, um 1470 Nicolai in der Mulsen, 1540 Millesen zu S. Niclas (HONB II: 66). Einfaches Nieder- (bzw. Ober-) ist fest geworden in Niedermülsen im Kreis Zwickau, 1453 in der nyder Milßin, 1460 nyder Milsen, 1519 ym dorff der Nidermilsen (HONB II: 66); hier war Bezug auf einen Kirchenheiligen nicht möglich, da der Ort nach Thurm eingepfarrt war. Außerdem kann der Kirchenheilige auch in rein kanzleisprachlicher oder nur in der mundartlich bzw. volkssprachlich üblichen Verwendung für den OrtsN gestanden haben, so ganz vereinzelt bei den folgenden OrtsN: Niederlungwitz im Kreis Zwickau, 1460 Lungkwicz ad sanctum Petrum, 1489 in der Nider-Lungkwitz, 1531 Inn der Lunckewitz zu Sant peter, 1720 Niederlungwitz (HONB I: 628; HENGST 2003: 72–73) – hier und auch bei dem folgenden Ort war die eigene Kirche vorhanden, daher auch stets der Bezug auf ihren Patron. Oberlungwitz im Kreis Zwickau, 1482 in der obirn Lungkewitzt, 1547 Ober Lunnkwitz zu S. Mertten (HONB I: 628; HENGST 2003: 73–74) mit St.-MartinsKirche. Andererseits kann der Kirchenheilige sekundär durch den kirchlicherseits und wohl dem folgend dann auch amtlicherseits gepflegten Sprachgebrauch in den OrtsN einbezogen worden sein. Dabei war die Verwendung des Kirchenheiligen für den OrtsN nicht dauerhaft bzw. nur zeitweilig: Dittelsdorf im Landkreis Löbau-Zittau, 1369 Ditlichstorf, 1420 Dittelsdorf, 1424 (Pfarrer Johannes von) Pankraz, 1424 Dytrichsdoff alias S. Pancracii, 1437 in Pankraz, 1558 Dittelsdorf (HONB I: 184). Jahna im Kreis Mittelsachsen, 1203 ecclesia in Gan, 1250 Heidenricus de Gana, 1313 in villa Gana ad sanctum Gothdehardum vulgariter nominata, 1317 in Gana, 1338 in villa apud sanctum Gothardum, 1552 Gane (EICHLER/WALTHER 1966: 120, HONB I: 449). Schließlich sind noch drei Nonnen-Klostergründungen aus dem 13. Jh. mit Sankt Marien- und dem Zusatz -stern bzw. -thal zu nennen, die inzwischen auch SiedlungsN-Charakter besitzen: St. Marienstern, Zisterzienserinnenkloster in Kuckau bei Kamenz, 1248 Stella Sanctae Mariae, 1354 Clostir Marienstern (HONB II: 13); St. Marienthal bei Mügeln im Kreis Nordsachsen, 1243 vallis sancte Marie … prope Mogelin, 1389 Mergintal (HONB II: 13);
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St. Marienthal, heute zur Stadt Ostritz im Kreis Görlitz gehörig, 1234 monasterium, quod vallis sancte Marie dicitur, 1360 in valle Sanctae Mariae, 1394 Mergintall, 1491 Marientall (HONB II: 13–14). Eine Art Sonderfall mit wahrscheinlichem Bezug auf eine ursprüngliche Verehrung von Sancta Maria an einer Stätte zu unserer lieben Frauen kann in folgendem OrtsN vorliegen: Frauenstein südwestlich Dippoldiswalde im Osterzgebirge, 1218 Henricus de Vrownsten, allerdings erscheint dieser OrtsN hinsichtlich des namengebenden Motivs strittig (HONB I: 272), dürfte aber auch auf Grund des Wappens von 1694 und einer wahrscheinlich der Jungfrau Maria gewidmeten Kapelle in der mittelalterlichen Burg dennoch schon früh mit dem Namen der Gottesmutter verbunden worden sein (BLASCHKE/KEHRER/MACHATSCHECK 1979: 129). Es gibt aber auch spätere Siedlungsgründungen aus dem 15./16. Jh., die OrtsN mit Sankt erhielten: Annaberg, Stadt im Erzgebirge, 1496 St. Annabergk, 1500 zu der Nawenstadt … sanntt Annabergk, 1535 vff Sant Anaberg, 1555 Annebergk (HONB I: 20); Marienberg, Stadt im Erzgebirge, 1523 S. Marien Berg, 1530 unsrer neuen BergStadt Marienberg, nochmals 1586/87 S. Mariabergk (HONB II: 12). Die Namen dieser beiden Städte sind seitens der Obrigkeit des Landes zugleich mit Fürbitt- und Segenswünschen für den in dieser Zeit erschlossenen Silberbergbau verliehen worden. Das trifft auch zu für weitere Bergbaustädte aus dieser Zeit auf dem Südhang des Erzgebirges, die erst seit Mitte des 16. Jh. zu Böhmen in Tschechien gehören: Sankt Joachimsthal, heute Jáchimov, 1522 sant Joachimstal, 1526 Perkwerch Joachimsthal (LUTTERER/ŠRÁMEK 1997: 112) mit St.-Joachims-Kirche seit 1537. (St.) Katharinaberg, heute Hora Svaté Kateřiny, 1480 Catternpergk, 1528 Hora Swate Katherziny, 1787 Katharinaberg, Katerberg, Mons S. Catharinae (LUTTERER/ ŠRÁMEK 1997: 93–94) mit Stadtkirche der Heiligen Katharina. (St.) Sebastiansberg, heute Hora Sv[atého]. Šebestiána, 1571 Bastianperk, 1596 Sanct Sebastian, 1626 Städtell S. Sebastiansbergk (PROFOUS 1954: 690) mit Pfarrkirche St. Sebastian bis 1945.
3.2.3 Sachsen Anhalt Das nördlichere Sachsen-Anhalt ist vertreten mit folgenden Namen: Annarode, Ortsteil von Mansfeld im Westen des Mansfelder Landes, ist wohl am ehesten mit dem Namen der Heiligen Anna zu verbinden. Marienthal nordwestlich Eckardsberga im Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt, 1506 Mergentall, 1506 Vallis Mariae (WERNEBURG 1983: 114) war ursprünglich der
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Name eines Klosters bis in die Reformationszeit und trägt somit den Namen der Mutter Maria. Sankt Micheln, Ortsteil der Stadt Mücheln im Geiseltal im Kreis Merseburg – die Kirche St. Michael ist namengebend für die Siedlung geworden: 1806 Micheln oder Sanct Michael, zur Stadt Mücheln gehörendes Dorf (LEONHARDI 1802–1806 I: 623). Sankt Ulrich, Ortsteil ebenfalls von Stadt Mücheln – Namengebung nach dem Kirchenheiligen. 1806 Sanct-Ulrich ein Rittergut mit Dorf (LEONHARDI 1802–1806 I: 622). Das ORTSLEXIKON 1958 hat zusätzlich noch: St Julian, Wohnplatz von Sangerhausen – nach dem Kirchenheiligen, vgl. auch 1802 Waldstädt oder St. Julian, westlich von Langensalza in Thüringen (LEONHARDI 1802–1806 I: 688). Wie schon in Sachsen beobachtet werden konnte, zeigt die historische Namenüberlieferung auch für den Ort Obhausen im Kreis Merseburg-Querfurt eine sekundäre Differenzierung des Dorfes nach seinen drei Kirchen in drei entsprechende Gemeinden. Diese Dreiteilung galt noch im 19. Jh.: 1804 Obhausen St. Petri, Obhausen St. Johannis, Obhausen St. Nicolai (LEONHARDI 1802–1806 III: 579). Petersberg für ein Dorf bei Halle weist auf ein Patrozinium: 1351 sente Petersberge, 1448 des Lutern Berges sente Peters (RICHTER 1962: 63). Auf dem Berg wurde 1124 von dem Herrschergeschlecht der Wettiner ein Kloster gegründet und unter den Schutz von St. Peter gestellt. Erst lange nach der Säkularisierung wurde die bei dem Kloster entstandene Siedlung schließlich 1726 an den Fuß des Berges verlegt (RICHTER 1962: 63).
3.2.4 Brandenburg Für Brandenburg findet sich gar nur ein Sankt-Name, noch dazu nur im Ortslexikon 1958: St Jürgen, Wohnplatz von Darritz im Kreis Neuruppin (früher Bezirk Potsdam). Erstmals erwähnt 1753 St. Gürgen, 1799 St. Jürgen, als Erbzinsgut des adligen Stifts Lindow errichtet auf der Flur von Kloster Lindow, wobei vermutlich vorher an der Stelle vielleicht ein Hospital bestand, das unter dem Schutz des Heiligen Gregor (Jürgen als niederdeutsche Form für Gregor) stand (FOSTER 1998: 73). Ohne Sankt im Namen lassen sich leicht ergänzen: Mariendorf, heute zu Berlin gehörig, 1373 Mariendorff, eine Gründung des Templerordens zu Ehren der Gottesmutter Maria (FISCHER 2005: 112).
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Marienfelde, heute zu Berlin, 1373 Marienfelde, mit dem Namen Maria als der Mutter von Jesus im OrtsN (Fischer 2005: 112). Ebenfalls Gründung des Templerordens, die Namengebung erfolgte nach der Jungfrau Maria, der Schutzpatronin des Ordens (SCHLIMPERT 1972: 133). Marienfließ bei Stepenitz und Pritzwalk in Brandenburg, 1246 Ecclesie Beate Marie virginis in stepenitz, 1271 in riuo sancte marie, qui dicitur stepeniz. Für die Siedlung setzte sich der Name des 1231 gestifteten Zisterzienserklosters durch (WAUER 1989: 169). Dieses besaß eine der Mutter Maria geweihte Kirche (FISCHER 2005, 112). Marienhöhe bei Bad Saarow wurde erst 1918 so benannt, nachdem das ehemalige Vorwerk von der Deutsch-christlichen Studentenvereinigung gekauft worden war und nach der Gottesmutter Maria seinen Namen erhielt (FISCHER 2005: 112–113). †Marienpforte bei Templin, 1269 porte sancte Marie (WAUER 1996: 175). †Mariensee, ehemals Siedlung bei Pehlitz, 1258 stagnum sancte Marie, nach einem 1258 gegründeten Zisterzienserkloster, einem Tochterkloster von Lehnin, auf der Insel Pehlitzwerder im Parsteinsee, 1272 bereits nach Chorin verlegt. OrtsN nach der Gottesmutter (FISCHER 2005: 113). Hinzu kommt noch der OrtsN Flieth bei Templin, 1269 in Vlete, marienvlete, also eine Siedlung mit einem ursprünglich nach der Gottesmutter benannten fließenden Gewässer (WAUER 1996: 103). Martinskirchen im Kreis Liebenwerda: 1251 Martinskirche, 1253 ad Sanctum Martinum, 1314 villa beati Martini (CROME 1968: 67).
3.2.5 Mecklenburg-Vorpommern Aus Mecklenburg-Vorpommern sind – beim derzeitigen Forschungsstand – nur wenige Namen zu nennen. MÜLLERS ORTSBUCH (1938) bietet lediglich: Sankt Jakob, ein Gasthaus bei Wismar; Sankt Jakobshof, eine Gemeinde bei Wismar; Sankt Jürgen, ein Kloster auf der Insel Rügen. Marienehe, heute zu Rostock gehörig, führt den Namen der Gottesmutter Maria fort, da es sich um eine mittelalterliche Klostergründung des Mönchsordens der Kartäuser handelt. Exkurs in frühere deutschsprachige Ostgebiete In MÜLLERS ORTSBUCH (1926), einem Verzeichnis, das die ehemaligen deutschen Ostgebiete mit erfasste, findet sich für das frühere Ostpreußen ein Name: Sankt Lorenz Samland im Kreis Fischhausen (heute Stadt Primorsk, westlich von Königsberg/heute Kaliningrad). Diese Angabe wird bestätigt durch die Schrift NÖRDLICHES OSTPREUSSEN NACH 1945 (45) wo Sankt Lorenz mit dem heute gültigen
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russischen OrtsN Sal’skoe angeführt ist. Der Zusatz Samland diente der Differenzierung im Postverkehr, da es noch zwei weitere gleichnamige Orte gab: Sankt Lorenz bei Kempten im Allgäu (Bayern) und Sankt Lorenz, ein Weiler bei Neumarkt-Sankt Veit (Bayern). Erst die historisch-sprachwissenschaftliche Bearbeitung der OrtsN des Samlandes lieferte genaue Angaben zur Entstehung des OrtsN. Die ältesten erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen zum OrtsN lauten: 1326 Abendam et Pubetam, 1327 unam tabernam, que sita est iuxta ecclesiam, que Abende, Obende vulgariter nuncupatur, dann 1369 die Einwohner von Abende, erst ab 1589/90 Sanct Lovrenz, Sanct Lorenz. Die onomastische Analyse der OrtsN des Samlandes hat nun für diesen OrtsN ergeben: Es liegt ein ecclesiogener OrtsN zugrunde. Er hatte die Bedeutung ‘Abendmahl’ und wurde entsprechend deutsch verkürzt mit volkssprachlich Abende wiedergegeben; nach dem Bau einer dem Heiligen Laurentius geweihten Kirche aus dem Jahr 1450 änderte sich der OrtsN dann in Sankt Lorenz (BLAŽIENĖ 2000: 139). MÜLLERS ORTSBUCH (1938) nennt noch drei weitere OrtsN: Sankt Andreasberg, ein kleiner Wohnplatz, der zur damaligen Gemeinde bzw. Stadt Wormditt (heute poln. Orneta) im damaligen Ostpreußen gehört hat. Nähere Angaben dazu sind zur Zeit nicht möglich. Sankt Georg, ein Vorwerk der Gemeinde Stolp (heute poln. Słupsk) im ehemaligen Pommern. Sankt Johannes, eine Gemeinde im Kreis Osternberg (nahe Küstrin/Kostrzyn), einst zu Brandenburg gehörig, heute Świętojańsko im Kreis Sulęcin (Zelenzig), eingemeindet nach Krzeszyce (CHOROŚ 2010). Für den Raum Schlesien aber bietet MÜLLERS ORTSBUCH (1938) noch einige weitere Namen. Ein kontrollierender Vergleich mit dem bisher 14 Bände umfassenden historischen OrtsN-Buch von Schlesien führt zugleich zu den heute in Polen geltenden OrtsN. Die früheren deutschen OrtsN-Formen werden dabei in jedem Fall genannt (SENGŚ XII: 55): Sankt Annaberg, Gemeinde im Kreis Groß Strehlitz, heute Góra Świętej Anny [Berg der Heiligen Anna] mit dem im Umkreis höchsten Berg, dem Annaberg, poln. ursprünglich Chełm [‘Anhöhe, Berg’]. Ein im 16. Jh. erbautes Kloster wurde der Heiligen Anna geweiht. Danach ging der Name auf die entstandene Siedlung und den Berg über (SENGŚ III: 80). Sankt Georgenberg, heute Jerzyków, eine Ansiedlung, zu Kolbnitz/Chełmiec gehörig, ohne ältere Belege, Name nach dem Kirchenpatron (SENGŚ IV: 97). Sankt Hedwigsdorf, heute Jadwisin, Gemeinde bei Haynau im Kreis Goldberg, 1373 Schedwigsdorf; später Sanct Hedwigsdorf, auch 1845 noch Scheidewigsdorf und Scheidsdorf; die poln. Namensform wurde nach der deutschen gebildet: Jadwiga als Entsprechung für Hedwig, der Schutzpatronin von Schlesien (SENGŚ IV: 54 und NMP IV: 26). Hedwig (1174–1243) war die Tante der Heiligen Elisabeth von Thürin-
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gen, Ehefrau eines polnischen Herzogs, kurz vor ihrem Tod Gründerin von Kloster Trebnitz/Trzebnica. Fraglich ist, ob ursprünglich eine Form für ‘Dorf an einer Wegegabelung’ (Scheideweg) vorliegt. Es kann sich auch um eine kanzleisprachlich unkorrekte Wiedergabe einer mundartlich beeinflussten OrtsN-Form von Hedwigsdorf handeln. Sankt Hedwigsruh, Kloster bei Wohlau/Wołów, heute Paczkowice – ausschließlich Name des Klosters nach der Heiligen Hedwig (SENGŚ IX: 121). MÜLLERS ORTSBUCH (1938) nennt außerdem noch: Sankt Hubertusgrün, Gemeinde nahe Falkenberg (heute poln. Niemodlin) in Oberschlesien – der südwestlich von Oppeln/Opole gelegene Ort ist im SENGŚ (Wörterbuch der geographischen Namen Schlesiens) nicht ausgewiesen, ganz im Unterschied zu anderen Namen mit Erstglied Hubertus- (ohne Sankt) nach dem Heiligen Hubertus (SENGŚ IV: 25). Heute besteht dort nur (noch) ein Jagdhaus im Wald, genannt Na Hubercie oder Zieleniec (CHOROŚ 2010). Die polnischen Namenforscher in Opole führen in ihrem Werk SENGŚ jedoch noch andere Namen mit dem früher deutschen OrtsN-Bestandteil Sankt auf: Johannesberg, heute Janowa Góra, 1582 Sankt Johann, 1790 Johannisberg, benannt nach dem Kirchenheiligen (SENGŚ IV: 66). Sankt Anna Kapelle, heute Kaplica Świętej Anny – eine der Heiligen Anna geweihte Kapelle. Sankt Annahöhe, heute Święta Anna – Siedlung bei Podgórzyno, früher Frankenthal (CHOROŚ/JARCZAK 1995: 116, 92). Sankt Bernhardin, heute Lusina Mała – der deutsche Name ist in der Zeit des Faschismus an die Stelle des ursprünglich poln. Namens Luzine (Ortsteil des Dorfes Lückerwitz, heute Ludgerzowice bei Trebnitz/Trzebnica, getreten (SENGŚ VII: 38). Sankt Rochus, heute Święty Roch, eingemeindet in die Stadt Nysa, früher Neisse; die Siedlung ist nach einer St.-Rochus-Kapelle benannt, erbaut 1752 (SENGŚ IX: 40– 41, 14, 55). St. Rochus als OrtsN ist in Groß Döbern, heute Dobrzeń Wielki, aufgegangen und war Name für eine Friedhofskapelle mit einigen umliegenden Häusern (CHOROŚ 2010). Sankt Katharina, heute Święta Katarzyna – früher Kattern mit Pfarrkirche St. Katharina, 1260 villam quae ad sanctam Katherinam nuncupatur, 1353 Sancta Katerina, Sankt Kathern, 1525 S. Kathrin (CHOROŚ/JARCZAK 1995: 116). Święty Marek [Heiliger Marek] – früher Markusdorf bei Groß Wartenberg, heute Syców (CHOROŚ/JARCZAK 1995: 116), 1845 St. Markusdorf. Der Ort besaß im 13. Jh. eine Wehrkirche, die neue Kirche St. Markus.wurde 1624 erbaut (SENGŚ XIV: 55). Święty Petr, früher Sanct Peter, Kirche schon 1652 erwähnt (SENGŚ XIV: 55).
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Der neueren polnischen Namenforschung verdanken wir Hinweise auf weitere schlesische OrtsN, denen der Name des Schutzpatrons bzw. der Schutzpatronin der Dorfkirche zugrunde liegt: Schwentnig, Breslau-Schwentnig, heute Wrocław-Świątniki, 1221 Sanctuariorium sancye Marie (CHOROŚ/JARCZAK 2003); †Świętniki, Dorfwüstung im Raum Wrocław, 1223 villa Sanctuariorum dictae ecclesiae St. Mariae, 1280 Swentnich, 1398 Swentnik (CHOROŚ/JARCZAK 2003).
4 Schlussfolgerungen und weitere Aufgaben Nach diesem Exkurs in die früher deutschsprachigen Ostgebiete in Ostpreußen und Schlesien wollen wir in den heutigen ostdeutschen Sprachraum zurückkehren. Wie schon eingangs erwähnt, sind hier OrtsN mit Sankt im Vergleich besonders zu Bayern und Baden-Württemberg auffällig selten. Nun könnte man annehmen, dass durch Gemeindevereinigungen bzw. Verwaltungs- und Gebietsreformen besonders im 20. Jh. Namen mit Sankt verschwunden seien. Doch diese Vermutung bestätigt sich nicht. Das schon genannte Nachschlagewerk MÜLLERS ORTSBUCH (1926) bringt keinen einzigen zusätzlichen Namen für die hier aufgeführten Länder von Hessen bis Mecklenburg-Vorpommern sowie die früheren deutschsprachigen Gebiete noch weiter östlich im ehemaligen Ostpreußen. Die in den Ortslexika verzeichneten zahlreichen Namen für Örtlichkeiten wie Wohnplätze und auch heutige Ortsteile mit dem Erstglied Marien- müssen bei künftigen kleinräumigen Untersuchungen näher betrachtet werden, um herauszufinden, in welchen Einzelfällen eine ursprüngliche Marienkirche namengebendes Motiv gewesen ist. Das gilt z. B. für OrtsN wie Mariawerth bei Pasewalk und auch bei Ueckermünde, Marienborn im Landkreis Börde und Marienthal bei Pasewalk, während Marienberg bei Schulzendorf, Mariendorf bei Tempelhof-Schöneberg, Marienfeld bei Müncheberg, Marienthal im Oberen Havelland und Marienwerder bei Bernau in Brandenburg auf rein weltlichen Motiven beruhen (FISCHER 2005: 112–113). Das Gesagte gilt auch für Frauen- als Bestimmungswort in solchen Namen, wobei das Motiv für derartige Formen nicht der Bezug zur Gottesmutter sein muss, sondern auch Besitz eines Nonnenklosters oder auch ein rein weltlicher Bezug als Motiv gedient haben kann, vgl. z. B. Frauenhain südlich Zeitz in Sachsen-Anhalt (EICHLER/ WALTHER 1984: 144). Auch die in Brandenburg gelegenen Orte Frauendorf, Frauenhagen, Frauenhorst, Frauenthal und Frauwalde sind bezüglich des Motivs für die OrtsN nicht eindeutig geklärt (FISCHER 2005: 56). Für die OrtsN Frauensee nordwestlich Bad Salzungen sowie Frauenwald nordöstlich Schleusingen im Ilm-Kreis erscheint es strittig und für Frauenprießnitz im
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Saale-Holzland-Kreis in Thüringen trifft zu, dass Frauen- in diesen OrtsN auf ein ehemaliges Nonnenkloster verweist. Bei den OrtsN Frauendorf östlich Frohburg und Frauendorf nordwestlich Leisnig in Sachsen bleibt allerdings auch nach entsprechenden Forschungen das wirkliche Motiv bislang ungeklärt (HONB I: 271), während Frauenhain bei Riesa in Sachsen auf Namengebung nach einer weltlichen Herrin beruht (HONB I: 272). Vereinzelt lässt sich wie bei Fraureuth bei Werdau und Frauwalde nordöstlich Wurzen, beide in Sachsen, ein Bezug auf die Gottesmutter direkt ausschließen (HONB I: 272–273). Es ist erst durch eine systematische Bearbeitung aller Siedlungsgebiete damit zu rechnen, dass ein einigermaßen vollständiger Überblick über die ursprünglich ecclesiogenen OrtsN gewonnen werden kann. In einer ganzen Reihe von Fällen haben die dem OrtsN zugrunde liegenden Kirchenheiligen zwar Eingang in den offiziellen OrtsN gefunden, aber der Zusatz Sankt ist vor allem in den von der Reformation erfassten Gebieten häufig weggefallen. Andererseits kann man auch nicht jeden OrtsN mit einem PersonenN wie Maria, Peter oder Johannes automatisch als auf einen Kirchenpatron verweisend betrachten, wenn die Überlieferung das nicht ausdrücklich bestätigt. Die vollständige und wirklich lückenlose Erfassung aller einst auf einem Patrozinium beruhenden OrtsN im ostmitteldeutschen Sprachraum liegt aber noch in ferner Zukunft. Sie wird erst dann möglich sein, wenn alle historisch überlieferten OrtsNFormen in einer gewaltigen Datenbank erfasst sein werden und entsprechend abgefragt werden können.
5 Ergebnisse zu den Heilgennamen in Toponymen 5.1 Motive für die Wahl von Heiligennamen (Hagionymen) bei der Bildung von Ortsnamen Retrospektiv ist es schwierig, die Motive für die Wahl der HeiligenN oder Hagionyme7 bei den einzelnen OrtsN auszumachen. Generell zutreffend ist gewiss, dass die für das Mittelalter erwiesene tiefe Frömmigkeit erkennbar ist. Übertragen wurde in der Regel der Name des jeweiligen Kirchenheiligen auf den SiedlungsN. Damit wurde
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Hagionym als international leicht verständlicher Terminus schließt bildungsmäßig an die im englischen und französischen Sprachbereich verwendeten Termini hagionym (ROOM 1996: 47) respektive hagionyme an.
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gleichsam die Schutzfunktion und Fürbitte seitens des Kirchenheiligen ausdrücklich auf den Ort erweitert. Die Fixierung der Namen in den historisch überlieferten Aufzeichnungen wurde in den Kanzleien der kirchlichen und weltlichen Grundherren vorgenommen. Die einzelnen OrtsN dienten der Differenzierung und Identifizierung von Besitzgut ebenso wie in einer Reihe von Fällen der Signalisierung von Zugehörigkeit zu einer geistlichen Einrichtung (vgl. oben zu Heiligen- in OrtsN).
5.2 Chronologie der Ortsnamen mit Heiligennamen Die mit Hagionymen gebildeten Toponyme oder Hagiotoponyme (ROOM 1996: 48) in dem hier betrachteten ostdeutschen Sprachraum lassen sich chronologisch im Wesentlichen drei Zeiträumen zuordnen: Die erste Bildungswelle mit den meisten Bildungen dieses Typs gehört in die Periode des herrschaftlich geleiteten Landesausbaus und der damit verbundenen bäuerlichen Ansiedlungen im 12. Jh. Eine zweite Bildungsperiode ist für das 15./16. Jh. feststellbar. Es handelt sich dabei um eine quantitativ kleinere Anzahl von Hagiotoponymen. Es sind dies die neuen Namen für die in Verbindung mit dem Silberbergbau gegründeten Bergbauorte Annaberg und Marienberg sowie die Wohnplätze St. Georg und St. Johannes als ursprüngliche BergwerksN in Sachsen, ebenso die Bergbaustädte Sankt Joachimsthal, Sankt Katharinenberg und Sankt Sebastiansberg im heutigen Nordböhmen in Tschechien. In diese Zeit fallen auch noch nur zeitweilig den OrtsN hinzugesetzte HeiligenN: Dittelsdorf und Jahna in Sachsen mit Hagionymen in der Überlieferung des 14. respektive 15. Jh. Im 15. Jh. kommt in Thüringen die Bildung Vierzehnheiligen hinzu und im 16. Jh. in ehemals Ostpreußen Sankt Lorenz. In diese Zeit gehört wahrscheinlich auch die infolge lautlichen Anklangs aufkommende OrtsN-Form St. Bernhard in Thüringen. Vereinzelte Hagiotoponyme sind schließlich erst spät vom 18. Jh. an nachweisbar: Petersbach (in Sachsen) und Sankt Rochus (in Schlesien), Marienau (in Sachsen im 19. Jh.), Marienhöhe in Brandenburg und Sankt Berrnhard in Schlesien (im 20. Jh.); St. Marien in Thüringen ist erst im 18. Jh. mit dem Namen der Gottesmutter verbunden worden und lautete vorher Meerchen für ein stehendes Gewässer.
5.3 Erscheinungsformen der Toponyme mit Heiligennamen Im Untersuchungsgebiet treten die Hagiotoponyme in sowohl noch heute gut erkennbarer als auch verborgener äußerer Gestalt auf. Sie sind also nicht immer sofort als solche zu erkennen. Es lassen sich folgende Typen differenzieren:
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- OrtsN mit Sankt oder St. + Hagionym + deutsches Grundwort -berg, -dorf, -feld (je 1 OrtsN), -fließ (1 OrtsN), -gart (1 OrtsN), -kirche (2 OrtsN), -pforte (1 OrtsN), -rieth (1 OrtsN), -rode, -see (je 1 OrtsN), -stern (1 OrtsN), -thal (7 OrtsN) und -zell (5 OrtsN), wobei nicht alle so historisch tradierten OrtsN diese Struktur bis heute bewahrt haben, also z. T. die Konstituente Sankt verloren haben. Bewahrt worden ist die dreigliedrige Struktur bei den ursprünglichen KlosterN St. Marienstern und St. Marienthal in Ostsachsen, den Namen der Bergstädte Sankt Joachimsthal, Sankt Katharinaberg und Sankt Sebastiansberg – auch in den tschechischen Namensformen – in Böhmen, in Sankt Annaberg und Sankt Georgenberg in Schlesien sowie Sankt Andreasberg im ehemaligen Ostpreußen. - OrtsN mit Sankt oder verkürzt im Schriftbild zu St. + Hagionym wie Sankt Micheln oder St. Julian; beachtenswert ist, dass Sankt respektive St. erhalten geblieben ist in solchen Toponymen, die primär kein deutsches Grundwort wie -berg oder -thal usw. in ihrer Überlieferungskette ausweisen: St. Adelheid, St. Gangloff, St. Georg, St. Egidien, St. Jakob, Sankt Johannes (in Schlesien), St. Julian, St. Jürgen, Sankt Katharina (in Schlesien), St. Kilian, St. Marien, St. Michaelis, Sankt Micheln und Sankt Ulrich (in Sachsen-Anhalt) sowie St. Wolfgang. - OrtsN ohne deutliches förmliches Zeichen für einen ursprünglichen OrtsN mit einem HeiligenN wie Georgenthal, Marienthal, Nikolsdorf oder Petersberg. - Gänzlichen Verlust von Sankt und auch Hagionym zeigen heute Altzella in Sachsen, - Zella (im OrtsN Zella-Mehlis) in Thüringen, Flieth in Brandenburg und Schwentnig in Schlesien. - Eine besondere Form der Dreigliedrigkeit weisen bis heute drei genuine Hagiotoponyme in Westsachsen aus: Sie zeigen einen GewässerN + St. + HeiligenN in den amtlichen OrtsN Mülsen St. Jacob, Mülsen St. Niclas und Mülsen St. Micheln. - Eine dem entsprechende äußere Form mit einem zweigliedrigen OrtsN + St. + HeiligenN war in Sachsen-Anhalt noch im 19. Jh. nachweisbar mit den drei OrtsN-Formen Obhausen St. Johannis, Obhausen St. Nicloai und Obhausen St. Petri. Aus dem ehemaligen Ostpreußen lässt sich noch dazustellen der einst amtliche OrtsN aus Sankt + HeiligenN + LandschaftsN im vor allem postalisch genutzten OrtsN Sankt Lorenz Samland. - Ohne direkte Nennung der/des Heiligen sind drei vereinzelte OrtsN-Bildungen in Thüringen zu nennen: Heiligenleichnam, Heiligenstadt und Vierzehnheiligen. Erwähnenswert ist, dass altertümliche Bildungen, wie sie aus Bayern bekannt sind, mit dem deutschen Bestimmungswort Weihen- respektive Weih- (vgl. Weihenstephan, 1259 Wiehensteven, und Weihmörting (bei Passau), 1188 Wihenmertin (BACH 1952–
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1956 II, 2: 185)), im östlichen Deutschland nicht vorkommen. Damit bestätigt sich, dass im 12. Jh. ahd. wīh bereits vollkommen durch heilig verdrängt worden war (vgl. BACH 1952–1956 II, 2, 185). Zu Heilig- in OrtsN im östlichen Deutschland vgl. oben unter 2. Ebenso sind die von BACH (1952–1956 II, 2: 192) häufig in der Nähe von Münster- und Zell-Orten festgestellten OrtsN mit Kreuz im Untersuchungsgebiet nicht in Erscheinung getreten, mit Ausnahme des OrtsN Heiligenkreuz in Sachsen-Anhalt. Und unter den HeiligenN ist in keinem Fall der Name des Gründers eines Klosters, der später heiliggesprochen wurde, wie etwa bei dem heute zu Regensburg gehörigen St. Emmeram (BACH 1952–1956 II, 2: 237).
5.4 Sprachliche Besonderheiten Ganz normal und nicht besonders darstellenswert ist die Aufzeichnung der OrtsN mit HeiligenN in der frühen Überlieferung bis ins 14. Jh. innerhalb lateinisch geschriebener Urkunden in entsprechend latinisierter Form (vgl. dazu auch BACH 1952–1956 II, 2: 195). Diese lateinischen Varianten der Hagionyme gingen nicht in die Alltagssprache ein. Vgl. als Beispiel 1144 in loco Sanctorum Virorum, qui lingua vulgari Heilingestat nuncupatur (Heiligenstadt in Thüringen). Beobachtungen zum offiziellen und inoffiziellen Gebrauch der OrtsN mit HeiligenN machen noch heute deutlich, dass in der näheren Umgebung eines Ortes mit einem solchen Namen dieser umgangssprachlich in reduzierter Form verwendet wird. Damit bleibt in der Regel nur das Hagionym bewahrt, also in Jacob, in Niclas, in Gangloff und auch in Joachimsthal (in Böhmen) usw. Das trifft aber nicht zu auf die OrtsN mit offizieller Form ohne Sankt wie Annaberg, Georgenthal, Marienberg, Marienthal usw. Alltagssprachliche und mundartnahe Aufzeichnungen sind nicht sehr häufig. Vom offiziellen Sprachgebrauch abweichende Formen sind in den mittelalterlichen Texten mit Fixierungen von Rechtsvorgängen und von Relevanz für Besitzrechte recht selten. Die urkundliche Überlieferung ab dem 13./14. Jh. bietet lediglich folgende Formen: 1214 Sentemariendorf, 1336 Mergendorf (Mergendorf), 1251 Martinskirche (Martinskirchen), 1266 villa Warte, das man ytzt sant Gangolff nennet, 1525 Sand Jangolt, zu sande Jangolf (St. Gangloff), 1354 Clostir Marienstern, 1367 Merginstern (St. Marienstern), 1389 Mergintal, 1394 Mergintall (St. Marienthal), 1585 zum Kilges [= kiljes] (St. Kilian), 1421 Sente Ilgenhain (†Ilgenhain in Thüringen), 1480 Catternperk (St. Katharinaberg), 1493 zw ßand Ilgen (St. Egidien), 1547 Ober Lunnkwitz zu S. Mertten (Oberlungwitz St. Martin), 1571 Bastiansperk (St. Sebastiansberg). Notierungen von Namen nach dem Gebrauch in unterschiedlichen sozialen Schichten
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(BACH 1952–1956 II, 2: 503) lassen sich bei den Hagiotoponymen also nicht systemhaft darstellen. Wie auch in anderen Gegenden des deutschen Sprachgebiets treten die Hagiotoponyme hier ganz vereinzelt nur mit dem Hagionym in genitivischer Form auf und lassen damit eine zumindest sprachlich-gedankliche elliptische Bildungsweise erkennen. Sie dürfte erfolgt sein etwa nach dem Modell *zu/in Sankt Georgen hūs/ort (vgl. BACH 1952–1956 II, 2: 187): St. Marien, St. Michaelis, St. Micheln, während bei St. Johannes und St. Niclas eine Zuordnung offen bleiben muss. Die größere Zahl der OrtsN vom Typ Sankt/St. + Hagionym zeigt Nominativform: St. Adelheid, St. Gangloff, St. Jacob, Sankt Katharina, St. Kilian, St. Ulrich, St. Wolfgang usw. In den OrtsN ohne Sankt oder auch mit Sankt und einem Hagionym plus deutschem OrtsN-Grundwort treten analog zu den üblichen deutschen OrtsN-Bildungen mit Anthroponymen als erster Konstituente die Hagionyme im Genitiv auf, vgl. Georgenthal, Georgenzell, Katharinenberg, Mariengart, Marienrode, Marienzelle usw. sowie Sankt Joachimsthal und Sankt Sebastiansberg. Eine Ausnahme bildet nur Sankt Katharinaberg in Böhmen.
5.5 Die Heiligennamen in den ostdeutschen Hagiotoponymen Zusammenfassend lassen sich nach der gegebenen Zusammenstellung die folgenden 30 Kirchenheiligen in SiedlungsN im ostdeutschen Sprachraum als z. T. wiederkehrend oder auch nur einmal vorkommend nennen (Zahlen in Klammern geben die Frequenz an): Maria (22), Georg (5), Peter (5), Jakob (4), Johannes (4), Anna (3), Katharina (3), Michael (3), Nikolaus (3), Ägidius (2), Bernhard (2), Gregor (2), Hedwig (2), Laurentius (2), Martin (2), Rochus (2). Nur je einmal in einem OrtsN erscheinen: Adelheid, Andreas, Blasius, Gangolf, Gotthard, Hubertus, Joachim, Julian, Kilian, Markus, Pankratius, Sebastian, Ulrich, Vitus, Wolfgang. Summarisch auf Märtyrer respektive mehrere Heilige verweisen Heiligen(stadt) und Vierzehnheiligen sowie Heilige Drei Könige. Bezug auf den Leichnam Christi beinhaltet Heiligenleichnam, auf den Leidensweg Christi Heiligenkreuz. Unangefochtene Spitzenposition hat der Name der Gottesmutter Maria, während sich sonst kein HeiligenN besonders heraushebt. Die insgesamt erst seit dem 12. Jh. im behandelten Sprachraum gebildeten Hagiotoponyme sind – im Unterschied zu solchen aus den deutschen Altsiedelgebieten im Westen und Süden Deutschlands – ohne den ausdrücklichen Hintergrund von in den jeweiligen Ortskirchen vorhandenen Reliquien einzelner Heiliger gebildet worden (vgl. zu den Altlanden BACH 1952–1956 II, 2: 187). Der Verlust des Elements Sankt in den Hagiotoponymen ist im Osten in den fast durchgängig von der Reformation
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dauerhaft erfassten Gebieten vom 16. Jh. an eingetreten. Dennoch lässt die historische Tradierung der einzelnen OrtsN die ursprünglichen HeiligenN noch klar erkennen.
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Kirstin Casemir
Nordwestdeutsche Klosternamen als Namenkategorie mit Besonderheiten Zusammenfassung: Für Nordwestdeutschland wurden 680 geistliche Einrichtungen ermittelt. Bei ihnen lassen sich ca. 150 verschiedene Patrone nachweisen. Maria ist dabei ein Sonderfall, da sie bei 40 Prozent (Mit-)Patronin war. Sie ist es auch, die in den meisten patrozinischen Namen enthalten ist. Die Namen der religiösen Einrichtungen bei den verschiedenen Orden unterscheiden sich in der Tendenz durchaus. Die Klosternamen weisen ein methodisches Problem auf. Es stellt sich nämlich die Frage nach der Namenhaftigkeit vieler Bildungen wie claustrum sancti xy. Probleme sind die Varianz in den Formen, das Schwanken zwischen verschiedenen Bezeichnungen und die Reihenhaftigkeit. Umbenennungen sind bei Klosternamen und mit ihnen zusammenhängenden Siedlungsnamen häufig zu konstatieren. Abstract: In the northwestern part of Germany 680 religious institutions can be identified. Regarding their names, approximately 150 different patron saints can be found. Among them Maria is a special case as she is (co)patron in about 40 percent of all instances. Her name is also used as the primary element in most of the patrociny names. The names of the institutions of different religious orders differ from each other partially, which raises the general methodological problem whether denominations such as claustrum sancti xy can be considered as proper names at all. Their variability with respect to their components and their grammatical forms as well as their serial character have to be taken into account. Furthermore, renaming is a frequent phenomenon to be found amongst monastery names and the relevant settlement names.
1 Einleitung Der Himmel mit seinen Engeln, Christus und seine Mutter, die Heiligen und Seligen, Heil und Gnade verbinden sich also mit den irdischen Bezeichnungen Berg und Tal, Feld und Au, Pforte und Garten, Brunnen und Brücke, Krone und Thron, um Ortsnamen zu bilden, die Gottesminne atmen, die den Himmel mit der Erde verbinden [...]. Nicht bloß in Bayern war es so, wie ich andeuten konnte, sondern anscheinend soweit die deutsche Zunge reicht. (MITTERWIESER 1937: 95)
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Diese recht poetische Äußerung zu Klöstern und ihren Namen mag teilweise der Zeit geschuldet sein, in der dieser Beitrag entstand. Gleichwohl stellt auch Adolf BACH fest, dass sich seit dem 13. Jh. „unter dem Eindruck der Gedankenwelt der Mystik [...] Klosternamen [mehren], die die Zugehörigkeit zum himmlischen Bereich andeuten“ (BACH 1953–1954: 237).1 Insgesamt ist die Literatur zu den Namen von geistlichen Einrichtungen nicht sehr umfänglich, wie der Beitrag „Klosternamen“ von Wolf-Armin Freiherr V. REITZENSTEIN (1996: 1593–1596) zeigt. Während dieser Namentyp für den Süden Deutschlands in einigen Beiträgen untersucht wurde, ist der Norden bzw. Nordwesten weitgehend terra incognita. Lediglich einzelne, besonders auffällige Namen wie Himmelpforten im Kreis Stade werden genannt (vgl. BACH 1953–1954: 238). Erst jüngst sind die Namen von geistlichen Einrichtungen – die KlosterN – im Rahmen einer Untersuchung über die patrozinischen OrtsN in Nordwestdeutschland in den Blick gerückt, worauf im Folgenden zurückzukommen ist (vgl. CASEMIR 2012). Mit V. REITZENSTEIN (1996: 1593) wird unter KlosterN im Weiteren „die Bezeichnung für den gegenüber der Außenwelt abgeschlossenen Lebens- und Kultbereich einer Ordensgemeinschaft, der eine Abtei, ein Priorat, ein Stift u.ä. sein kann, sowie für den betreffenden Gebäudekomplex“ verstanden.2 Er unterscheidet bei den KlosterN sieben Arten der Bildung, nämlich 1. patrozinaler Name (St. Gallen), 2. Übernahme eines bestehenden OrtsN (Schliersee, Kreis Miesbach), 3. appellativische Bezeichnung (Münster in Westfalen), 4. Benennung nach dem Gründer (Altomünster, Kreis Dachau), 5. Insassenbenennung (Frauenaurach, Stadt Erlangen), 6. Namenübertragung (Bethlehem) sowie 7. eine religiöse Motivation (Engelthal, Wetteraukreis) (vgl. V. REITZENSTEIN 1996). Ob sich diese vor allem an den bayerischen KlosterN beobachteten Bildungsweisen auch in den KlosterN Nordwestdeutschlands finden lassen und/oder weitere Besonderheiten festzustellen sind, soll im Folgenden ermittelt werden.
2 Das Korpus Unter Nordwestdeutschland wird das Gebiet der Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und die Teile Westfalen und Lippe des Bundeslan-
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Für hilfreiche Hinweise, Diskussionen und Korrekturen danke ich Dr. Michael FLÖER, Münster, und Uwe OHAINSKI, Göttingen. Unter „Klostername“ werden im Folgenden auch die Namen der Stifte subsummiert, um die etwas sperrige Formulierung Kloster- und StiftsN zu vermeiden.
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des Nordrhein-Westfalen gefasst und somit ein Gebiet von ungefähr 85.000 km2 betrachtet. Als Grundlage wurden die Klosterbücher von Westfalen (WESTFÄL. KLOSTERBUCH), Niedersachsen (NDS. KLOSTERBUCH), das Ortslexikon von Hamburg von Wolfgang LAUR (2012) und für Schleswig-Holstein die im Internet stehende Vorabversion des Klosterbuchs für Schleswig-Holstein und Hamburg3 und das Ortslexikon von Wolfgang LAUR (1992) herangezogen.4 Dabei ergab sich eine Zahl von 680 geistlichen Einrichtungen, wobei die Verteilung innerhalb des Untersuchungsraumes durchaus sehr unterschiedlich war, denn in Niedersachsen befinden sich mit 365 mehr als die Hälfte der zu betrachtenden Objekte. Für ganz Schleswig-Holstein hingegen konnten nur 47 geistliche Einrichtungen ermittelt werden und auch die Stadtstaaten Hamburg (5) und Bremen (12) sind – naturgemäß – weniger stark vertreten. Die auf den ersten Blick recht hohe Zahl ist jedoch differenzierter zu betrachten, da die Klosterbücher sämtliche geistlichen Einrichtungen aufgenommen haben, die bis 1810 (Niedersachsen) bzw. 1815 (Westfalen) bzw. für Schleswig-Holstein nur bis zum Beginn der Reformation gegründet wurden – letzteres möglicherweise mit ein Grund für die dort recht niedrige Zahl.5 Neben den Klöstern und Stiften wurden auch Beginen- und Schwesternhäuser berücksichtigt, deren Zahl im Korpus insgesamt 115 beträgt. Derartige Häuser wurden vorwiegend in den (größeren) Städten errichtet. So weist allein die Stadt Braunschweig 22 Beginenhäuser auf (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 164–190). Anders als bei den anderen geistlichen Einrichtungen ist hier in der Regel kein Patron bekannt, die Zeit der Gründung liegt oft im Dunkeln, und bei vielen sind historische Nachrichten spärlich. So wird für das Beginenhaus bei St. Aegidii in Münster neben einer urkundlichen Erwähnung, in der die Stiftung einer Rente für das Beginenhaus erwähnt wird, lapidar angemerkt: „Über das Schicksal des Beginenhauses ist sonst nichts bekannt“ (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 127). Neben den Beginenhäusern sind vier Ursulinengründungen zu nennen, die alle erst aus dem 17. oder 18. Jh. stammen (in Duderstadt, Kreis Göttingen; Dorsten, Kreis Recklinghausen; Siegen, Kreis Siegen-Wittgenstein; Rüthen, Kreis Soest), 14 Kapuzinergründungen und eine Kapuzinessengründung (in Paderborn) des 17. und 18. Jh.
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www.klosterprojekt.uni-kiel.de/ (14.05.15). Die Belege werden im Folgenden in der Regel nach den Klosterbüchern zitiert. Selbstverständlich liegen, soweit möglich, zu den einzelnen Klöstern umfänglichere, aus den Urkundenbüchern etc. erhobene Beleglisten vor. Derartige Belege werden jedoch nur angeführt, wenn es unabdingbar ist, um die Literatur- und Quellenliste nicht zu sehr anschwellen zu lassen. Allerdings ist auch die geringere Bevölkerungsdichte nicht zu unterschätzen (vgl. zu den Zahlen CASEMIR 2012: 7–8), ferner die Tatsache, dass nach der Reformation keine katholischen Neugründungen erfolgten. Erst 1951 entstand in Nütschau, Kreis Stormarn, ein Benediktinerkloster (vgl. www.kloster-nuetschau.de/kloster/geschichte/nuetschau/index.html; 12.06.15).
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sowie 22 Einrichtungen der Jesuiten, die ebenfalls jung sind und zum Teil nur wenige Jahre bestanden. Das hängt mit den jeweiligen Orden zusammen, die erst im 16. Jh. entstanden, so dass erst danach Niederlassungen angelegt werden konnten. Bei den Jesuiten kommt hinzu, dass diese in den meisten Städten allenfalls geduldet waren und der Orden 1773 verboten wurde (vgl. SWITEK 1996: 797–798). Gar aus dem 19. Jh. stammen die folgenden Gründungen: seit 1801 die nur bis 1804 bestehende Trappistenniederlassung in Driburg, Kreis Höxter (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 270– 271) und seit 1808 das Schwesternhaus der Clemensschwestern – eine im selben Jahr gegründete Gemeinschaft – in Münster (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 121–124). Über manche geistliche Einrichtung wie das im 13. Jh. erwähnte Prämonstratenserkloster Balna Insula ist nicht einmal bekannt, wo genau es lag bzw. mit welchem Ort die Nennung Balna Insula zu verbinden ist (vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 33). Ähnliches gilt für die Vorgängeranlage von Corvey, Kreis Höxter. Die Lage des 815 genannten Hethis ist umstritten. Sie wird meist im Solling angenommen (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 652–653), ist neuerdings aber auch mit Heiden, Kreis Lippe, identifiziert worden (WOB 2 2010: 208–209). Andere geistliche Einrichtungen wie die Missionszelle der Benediktiner in Meppen hatten offenbar nur relativ kurz Bestand. Sie wird lediglich 834 genannt, als sie an Corvey übergeben wurde, und dürfte kurz vor 793 eingerichtet worden sein (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1053–1055). Im Fall von Bergedorf, Kreis Oldenburg, verliert sich die Spur des dortigen Konventes rasch nach seiner ersten Erwähnung. Anscheinend siedelte sich zwischen 1194 und 1198 an der dortigen Marienkapelle ein bereits bestehender Frauenkonvent (evtl. Benediktinerinnen) an, dessen Herkunft unbekannt ist. Dieser verließ Bergedorf jedoch vor 1200 wieder, wobei sein weiteres Schicksal nicht sicher bestimmt werden kann. Kurz danach scheint sich erneut ein Konvent dort anzusiedeln. Dieser Vorgängerkonvent des Zisterzienserklosters Hude blieb allerdings ebenfalls nur wenige Jahre, so dass Bergedorf als Heimat einer geistlichen Einrichtung insgesamt nur ca. zehn Jahre bestand (vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 70‒71). Mit diesem Beispiel ist ein weiteres Phänomen angesprochen, das für geistliche Einrichtungen nicht untypisch ist, nämlich das der Verlegung einer Gemeinschaft. Das kann unter Umständen dazu führen, dass sich mehrere Artikel in den Klosterbüchern auf ein und denselben Konvent beziehen. So wurde 1274 in Ahlden, Heidekreis, ein Kollegiatstift gegründet. Dieses wurde bereits im Jahre 1280 nach Neustadt am Rübenberge, Region Hannover, verlegt. Auch hier blieb es nur kurz, denn 1295 gelangte es nach Lübbecke, Kreis Minden-Lübbecke (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 3–4). Als Kollegiatstift St. Andreas blieb es dort bis 1810 bestehen und wurde im Zuge der Säkularisierung aufgehoben (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 546–548). Auch Verlegungen an einen anderen Ort und wieder zurück waren möglich. Das seit 1298 bestehende Augustiner-Chorfrauenstift in Egestorf, Kreis Hameln-Pyrmont, wurde im Jahre 1427 nach Hemeringen verlegt, kam aber vor 1484 nach Egestorf zurück, wo
Nordwestdeutsche Klosternamen als Namenkategorie mit Besonderheiten
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die „inzwischen verfallenen Stiftsgebäude“ (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 361) renoviert wurden. Die Beispiele ließen sich vermehren. Das Beispiel Bergedorf ist darüber hinaus ein Beleg für die ebenfalls nicht seltene Erscheinung der Nutzung einer geistlichen Einrichtung durch verschiedene Orden. Ein seit dem 9. Jh. in Böddeken bestehendes Kanonissenstift erlebte im Verlauf des 14. Jh. einen starken wirtschaftlichen Niedergang und wurde 1409 offiziell aufgehoben. Noch im selben Jahr wurde trotz der bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit der Einrichtung eines Augustiner-Chorherrenstiftes begonnen, das bis 1803 Bestand hatte (vgl. die beiden Einträge zu Böddeken im WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 102–112). Faktisch bedeutet das, dass in diesem Fall derselbe Gebäudekomplex zweimal im Korpus erscheint. In der Regel jedoch werden Veränderungen der Nutzung durch andere Orden in den Klosterbüchern in einem Artikel behandelt, wie z.B. bei Varlar, Kreis Coesfeld, eine ursprüngliche Benediktinerniederlassung, die 100 Jahre später durch Prämonstratenser ersetzt wurden (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 384–385), oder bei Reinhausen, Kreis Göttingen, wo das ursprüngliche Kollegiatstift im 12. Jh. in ein Benediktinerkloster umgewandelt wurde (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1290–1292). Das alles heißt letztlich, dass das Korpus einen gewissen panchronischen Charakter hat und zwischen dem um 850 gegründeten und bis heute als Damenstift bestehenden Stift/Kloster Bassum, Kreis Diepholz, und z.B. den bereits genannten Einrichtungen in Bergedorf oder Balna Insula erhebliche Unterschiede bestehen. Bevor eine namenkundliche Analyse erfolgt, sollen noch einige Bemerkungen zu anderen Aspekten des Korpus folgen, die in weiterem Zusammenhang mit der onomastischen Auswertung stehen.6 Einige der Orden oder geistlichen Gemeinschaften wurden bereits kurz genannt. Mit 67 sind die Anzahl der Franziskanerklöster und die der Kollegiatstifte die größte innerhalb des Korpus. Wie nicht anders zu erwarten (vgl. STREICH 1986: 7), waren viele dieser Stifte frühe Gründungen, die lange Bestand hatten. Neben fünf Gründungen des 9. und vier des 10. Jh. ist mit 23 mehr die Hälfte aller Gründungen des 11. Jh. ein Kollegiatstift. Mit neun bzw. 15 Gründungen sind auch das 12. und vor allem 13. Jh. noch einmal bei den Gründungen von Kollegiatstiften recht gut vertreten. In den darauffolgenden Jahrhunderten nimmt die Zahl rasch ab (acht im 14. Jh. und nur je eines im 15. und 16. Jh.). Partiell anders als bei den Kollegiatstiften, die nicht selten bis zur Säkularisation im 19. Jh. (33 Stifte) oder darüber hinaus (zwei Stifte) Bestand
6
Die Terminologie z.B. der Ordensbezeichnungen schwankt innerhalb der Klosterbücher. So erscheint neben „Augustiner-Chorfrauen“ auch die Bezeichnung „Augustinerinnen“, neben „Alexianern“ auch „Zelliten“, neben „Franziskanern“ der Begriff „Minoriten“. Soweit möglich, wurde für die Untersuchung eine Vereinheitlichung vorgenommen, die sich aber eng an die Terminologie der Klosterbücher anlehnt.
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hatten und in den meisten Fällen während ihres Bestehens nicht umgewandelt wurden7, präsentiert sich das Bild bei den entsprechenden weiblichen Einrichtungen, den Frauenstiften. Hier ist die Zeitspanne der Gründungen erheblich eingeschränkter. Nach jeweils zwölf Einrichtungen im 9. und 10. Jh. werden im 11. Jh. acht und im 12. Jh. noch fünf Stifte gegründet. Anschließend kommt es zu keinen weiteren Gründungen mehr, sieht man von Bocholt, Kreis Borken, ab, wo ein Beginenhaus im 14. Jh. in ein Kanonissenstift umgewandelt wurde (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 92–95). Während von den ursprünglich 17 Kanonissenstiften in Westfalen bis zu ihrer Aufhebung 13 als Frauenstifte bestanden, sich also nicht zu einem späteren Zeitpunkt einem Orden anschlossen, geschah das nur bei zweien der niedersächsischen Stifte – einmal beim Reichsstift Gandersheim, zum anderen bei der nur wenige Jahre existierenden „Fehl“gründung in Rastede. 18 hingegen blieben nicht als Kanonissenstifte erhalten, sondern wurden in der Regel zu Augustiner(innen)stiften oder Benediktiner(innen)klöstern. Und anders als bei den männlichen Stiften bestanden deutlich mehr, nämlich 22, bis zur Säkularisierung im 19. Jh. In einigen Fällen setzt sich die Tradition als evangelisches Damenstift sogar bis in die Gegenwart fort. Hervorzuheben sind die sogenannten Heideklöster oder Lüneburger Frauenklöster, die fünf auf Kanonissenstifte zurückgehende Damenstifte Isenhagen, Lüne, Medingen, Walsrode, Wienhausen. Das heutige sechste Heidekloster Ebstorf war zunächst mit Prämonstratensern besetzt, dann mit Benediktinerinnen, bevor es Ende des 16. Jh. zum Damenstift wurde (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 351). In diesem Zusammenhang ist kurz auf die chronologische Verteilung der Klosterund Stiftsgründungen einzugehen. Zugrunde gelegt werden hier die Angaben der Klosterbücher, wobei nicht immer das exakte Gründungsdatum bekannt ist, sondern teils erst aus einer späteren Erwähnung auf die Existenz geschlossen werden kann. So ist für Bardowick, Kreis Lüneburg, eine erste Erwähnung für die Zeit zwischen 1116 und 1148 sicher. Wie alt jedoch das Kollegiatstift ist und ob es bereits eine Gründung des 8. Jh. ist, wird aus den Quellen nicht ersichtlich (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 34). Die folgende Tabelle zeigt eine nach Jahrhunderten geordnete Auflistung, wobei bei einigen wenigen geistlichen Einrichtungen (nicht selten Beginenhäuser) die Entstehungszeit völlig unklar ist, so dass Angaben in den Klosterbüchern fehlen. So ist über das Kloster Terheide im Kreis Wittmund nahezu nichts bekannt. Es wird eine frühe, bald wieder aufgegebene Gründung vermutet (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1410–1411).
7
Nur zehn Kanonikerstifte wurden später zu Benediktinerklöstern bzw. Augustiner-Chorherrenstiften umgewandelt bzw. im Falle von Süpplingenburg, Kreis Helmstedt, früh an den Templerorden übergeben (seit 1312 dann Johanniter; vgl. dazu NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1403–1405). Im Falle von Östringfelde, Kreis Friesland, schließlich wurden die Säkularkanoniker Mitte des 14. Jh. durch Dominikanerinnen abgelöst.
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8. Jh.
9. Jh.
10. Jh.
11. Jh.
12. Jh.
13. Jh.
14. Jh.
15. Jh.
16. Jh.
17. Jh.
18. Jh.
19. Jh.
7
27
20
44
89
185
104
84
19
72
19
2
Tab. 1: Klostergründungen im Verlauf der Jahrhunderte
Wie die Tabelle zeigt, liegt – wie nicht anders zu erwarten – der Schwerpunkt der Gründungen im 14. Jh. und vor allem im 13. Jh. Allerdings sind bis zum Ende des 11. Jh. schon 14 Prozent und bis zum Ende des 12. Jh. mehr als ein Viertel der nordwestdeutschen geistlichen Einrichtungen errichtet. Auf den starken Anstieg im 17. Jh. wurde im Zusammenhang mit den Ursulinen und Jesuiten bereits hingewiesen. In der Zeit bis zum Ende des 11. Jh. überwiegen die keinem Orden zuzurechnenden Domstifte, Kollegiatstifte und Frauenstifte. Das ändert sich mit dem 12. Jh. deutlich. Nach 19 Benediktiner(innen)klöstern der Zeit des 8. bis 11. Jh. erlangt die Gründung von monastischen Einrichtungen dieses Ordens mit 28 neuen im 12. Jh. seinen Höhepunkt.8 Hinzu kommen die meisten Prämonstratenser(innen)klöster9, recht viele Augustinerchorherren- und -frauenstifte10 und der Beginn der Zisterzienser(innen)niederlassungen. Letztere weisen insofern eine Besonderheit auf, als nur im 12. und 13. Jh. Klöster gegründet wurden, wobei zwischen den Männern und Frauen insofern zu unterscheiden ist, als zwei Drittel der zwölf Männerklöster im 12. Jh. und nur ein Drittel im 13. Jh. entstehen, während drei Frauenklöstern im 12. Jh. die große Zahl von 40 im 13. Jh. gegenüberstehen. Damit ist diese religiöse Gemeinschaft gleichzeitig die einzige in Nordwestdeutschland, die deutlich mehr Niederlassungen für Frauen als für Männer aufweist. Erst ab dem 13. Jh. beginnen schließlich die Dominikaner(innen) und Franziskaner(innen)/Klarissen mit der Errichtung von Ordenshäusern. Bei den Franziskaner(inne)n/Klarissen liegt der zeitliche Schwerpunkt allerdings erst im 17. Jh., obschon zumindest Männerklöster auch in den vorangegangenen Jahrhunderten eingerichtet werden. Neben diesen großen Säkularkanoniker- und Ordensgemeinschaften entstehen über die Jahrhunderte zahlreiche weitere, von kleineren geistlichen Gemeinschaften gegründete Klöster und Niederlassungen, wie beispielsweise drei Niederlassungen der Alexianer in Braunschweig, Goslar und Hildesheim. Ähnliches gilt für die Birgittiner in Marienwohlde, Kreis Lauenburg, oder die Trappisten in Bad Driburg, Kreis Höxter, und Darfeld, Kreis Coesfeld – beides Gründungen erst des 18. und 19. Jh. Insgesamt ist die Anzahl von Männer- und Fraueneinrichtungen bei
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Es folgen noch insgesamt 16 Gründungen in den folgenden Jahrhunderten; die weitaus meisten im 13. Jh. 9 Nach 17 im 12. Jh. noch zehn im 13. Jh. und zwei weitere im 14. bzw. 17. Jh. (in Eikeloh, Kreis Soest), letzteres ein Sonderfall; vgl. dazu WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 282–283. 10 Von insgesamt 28 Gründungen entfallen 15 auf das 12. Jh.
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einem leichten Überwiegen der Männerklöster und -stifte nahezu ausgeglichen. Nur drei Prozent waren ursprüngliche Doppelklöster oder -stifte und wurden in der Regel relativ rasch entweder zu einem Männer- oder einem Frauenkloster/-stift. Da konstatiert wurde, dass „bei den patrozinischen Namen [...] häufig der Ausgangspunkt die Gründung eines Klosters oder einer anderen geistlichen Einrichtung“ (CASEMIR 2012: 17–18) sei, soll hier noch ein Überblick über die Patrone der Klöster und Stifte gegeben werden. Dabei kann nicht umfänglicher das breite und komplexe Gebiet der Patrozinienforschung berücksichtigt oder, wie es beispielsweise Matthias ZENDER in mehreren Beiträgen unternommen hat, aus den Patrozinien eine nach Raum, Zeit und sozialer Schicht gestaffelte Kultgeschichte abzuleiten versucht werden (vgl. ZENDER/FELLENBERG 1970 und ZENDER 1959) – zumal die Aussage Helmut FLACHENEGGERs (1999: 147) nach wie vor Geltung hat: „Patrozinien waren also von den jeweiligen Zeitströmungen abhängig.“ Noch deutlicher wird das Problem in folgenden Sätzen: Im Hochmittelalter wird dann die Zahl der Heiligen und ihrer Herkünfte unüberschaubar. Das führte zu einer zunehmenden Regionalisierung des Kultes und damit auch des Patroziniums, ein Umstand, der letztlich die „Lebensdauer“ vieler Patrozinien verkürzen konnte. (FLACHENEGGER 1999: 149)
So werden in Enger, Kreis Herford, 947 als Patrone Maria und Laurentius genannt, 950 dann aber Maria und Dionysius, zwischen 1414 und 1418 Johannes Baptist und Dionysius, von 1418–1422 Dionysius und Pusinna, bis ab 1442 Johannes Baptist und Dionysius dauerhaft als Patrone bestehen bleiben (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 288–290). Erst im 17. Jh. wird in Unna die alte Patronin Barbara im Zuge einer Rekatholisierung und Klosterneubelebung durch Katharina ersetzt (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 382). Die Beispiele ließen sich erheblich vermehren. Insgesamt lassen sich in den 680 geistlichen Einrichtungen, wobei bei 148 kein Patrozinium bekannt ist, knapp 150 verschiedene Patrone nachweisen, die teils allein, teils neben anderen als Haupt- bzw. Nebenpatron existieren. Etwas weniger als die Hälfte ist nur für ein einziges Kloster oder Stift nachzuweisen, wie z.B. Gorgonius im Domstift in Minden, Kreis Minden-Lübbecke, Luttrudis im Kollegiatstift St. Peter in Höxter, Karl der Große in Wiedenbrück, Kreis Gütersloh, oder Landelin in Odacker, Kreis Soest. In zehn oder mehr Einrichtungen sind die folgenden Patrone belegt: Vitus, Michael, Martin, Laurentius, Anna, Nikolaus, Georg, Maria Magdalena, Heilig Kreuz, Paulus, Johannes Evangelist, Petrus, Johannes Baptist und Maria. Nur die beiden letzten sind an mehr als 50 Orten nachzuweisen. Dabei ist die Zahl der Marienpatrozinien außerordentlich hoch, da sie über 280 mal genannt wird. Nur fünfmal kam sie später als Patronin hinzu oder löste einen anderen Patron ab, 155 mal ist sie mit anderen gemeinsam Patron und 127 mal ist sie alleinige Patronin (vereinzelt spä-
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ter durch andere Patrone abgelöst).11 Bei sämtlichen Zisterzienser(innen)häusern ist sie entweder alleinige Patronin oder Mitpatronin. Auch bei einem Teil der anderen geistlichen Gemeinschaften lassen sich gewisse Präferenzen erkennen. Der Deutsche Orden und etwas weniger ausgeprägt die Prämonstratenser bevorzugen ebenfalls Maria als Patronin.12 Zwar sind in den Benediktinerklöstern die Patrone stark divergierend; es fällt allerdings auf, dass sechs der zehn Vitus-Patrozinien auf Benediktinereinrichtungen entfallen. Dass die Antoniter Antonius und die Magdalenerinnen Maria Magdalena als jeweils einzigen und ausschließlichen Patron haben, verwundert nicht. Das seltene Klarapatrozinium ist nur bei den Klarissen und einmal bei den Franziskanerterziarinnen zu finden; es kommen jedoch auch andere Patrone vor. Erstaunlich ist, dass die Johanniterniederlassung Gartow, Kreis Lüchow-Dannenberg, als einzige nicht Johannes Baptist, sondern Georg als Patron wählte.
3 Onomastische Analyse Nach Kirstin CASEMIR (2012: 26–27) führte „erst das stärkere Anwachsen der Klostergründungen und der flächendeckenden kirchlichen Organisation [...] zum Aufkommen patrozinischer Namen“. Andererseits handele „es sich bei den patrozinischen Namen um ein – bezogen auf die gesamte Namenlandschaft Nordwestdeutschlands – randständiges Phänomen [...], das zudem Besonderheiten gegenüber der übrigen Namengebung aufweist“ (CASEMIR 2012: 27), da nur ca. 0,25 Prozent aller Namen patrozinische SiedlungsN seien. Als Besonderheiten nennt sie, dass erstens deutlich mehr weibliche HeiligenN erscheinen als sonst FrauenN in SiedlungsN, dass zweitens Umbenennungen keine Randerscheinungen seien und dass drittens ein längeres Schwanken zwischen Latein und Volkssprache zu beobachten sei, oft verbunden mit Namenvarianten, die auf eine größere appellativische Nähe dieser Namen schließen lasse (vgl. CASEMIR 2012: 19, 21, 23). Ob und inwieweit das bei den Namen von Klöstern und Stiften zutrifft, die ja nicht sämtlich patrozinische Namen sind, und ob sich weitere Besonderheiten ermitteln lassen, soll im Weiteren dargelegt werden.
11 Neben den „einfachen“ Mariennennungen befinden sich in dieser Aufstellung auch die vereinzelten oder seltenen Nennungen (insgesamt zehn) von Maria mater dolorosa, Maria in vinea, Maria Immaculata, Mariä Himmelfahrt, Maria von den Engeln und Maria vom Geheimnis der Heimsuchung. 12 So ist bis auf zwei Ausnahmen bei den Niederlassungen des Deutschen Ordens immer Maria mindestens Mitpatronin. Bei den Prämonstratensern kommt sie fünfmal nicht als (Mit-)Patronin vor. Bei den Augustinerchorherren und -frauen hingegen ist bei einem Viertel Maria nicht (Mit-) Patronin.
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Hier ist ein Problem anzusprechen, das bei der namenkundlichen Untersuchung eine große Rolle spielt, das Verhältnis von geistlicher Einrichtung und Siedlung nämlich. Nach Michel PARISSE (1991: 1219) lagen „die bedeutendsten K. des Früh- und Hoch-MA [...] auf dem Lande, manche in der Nähe von größeren Städten, während die in den Städten selbst gelegenen K. (v.A. Frauenkl.) zumeist nur geringe Bedeutung erlangten“. Das würde bedeuten, dass das Kloster nicht den Namen einer Siedlung übernahm bzw. übernehmen konnte, sondern ein eigener Name geschaffen werden musste. Allmählich wurden diese bedeutenden Klöster zu „Keimzellen von Städten oder vorstädt. Siedlungen“ (PARISSE 1991: 1221). Die Zisterzienser bauten nach PARISSE (1991: 1220) ihre Klöster „üblicherweise in Talsohlen, wo Wasser als Energiequelle [...] genutzt werden konnte“. Um diese herum konnten sich „in manchen Fällen Dorfsiedlungen“ (PARISSE 1991: 1221) bilden. Auch hier wäre demnach die Siedlung jünger als das Kloster und zu erwarten, dass eher der KlosterN dominiert und sowohl für geistliche Einrichtung wie Siedlung gilt. Damit würde es sich im Sinne von Claudia STÜHLER (1988: 8) um GründungsN handeln, also um einen eng an den Zeitpunkt der Gründung angelehnten, neu geschaffenen Namen für das Kloster. Es kann hier nicht im Einzelnen untersucht werden, bei wie vielen Namen es sich um GründungsN nach STÜHLERschem Verständnis handelt, da die Klöster und Stifte auch Namen ohne christlichen Bezug hätten bekommen können. Es wäre also in jedem Einzelfall zu prüfen, ob zuerst die Klostergründung erfolgte und dann ein Name entstand oder ein bestehender Orts- oder FlurN für das Kloster übernommen wurde – ein Unterfangen, das angesichts der Quellenlage und teils lange bestehenden mündlichen Namentradition ohne Niederschlag in schriftlichen Quellen nicht zielführend ist. Nicht selten ist die Gründung an einem bestehenden Ort der Anlass, den Ort erstmals namentlich in einer Urkunde zu erwähnen. Exemplarisch sei das am Beispiel Münsters verdeutlicht. Die ersten Erwähnungen von Mimigernaford im 9. Jh. beziehen sich auf die Kirche (den Dom) und Kleriker. Das später umbenannte Mimigernaford hat also zu diesem Zeitpunkt schon als Siedlung welcher Größe auch immer bestanden. STÜHLER (1988: 37–56) trägt für Hessen insgesamt 31 KlostergründungsN zusammen. Bei den beiden einzigen (Gronau und Tiefenthal), die weder einen HeiligenN oder eine Insassenbezeichnung führen oder eine andere religiöse Verbindung im Namen erkennen lassen, räumt STÜHLER (1988: 44) selbst ein: „Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Name schon lange vor der Erbauung des Klosters als Stellenbezeichnung existierte. In diesem Fall gehört ,Gronau‘ nicht zu den Gründungsnamen.“ Ein gewisses methodisches Problem und insbesondere die Gefahr eines Zirkelschlusses wird erkennbar. Demgegenüber ließen sich die Bettelorden wie die Dominikaner oder Franziskaner in den bereits existierenden Städten nieder. Das bedeutet, sobald ein Kloster in oder nahe bei einer bereits existierenden Siedlung angelegt wurde, ist zwischen dem Kloster- und dem SiedlungsN zu unterscheiden bzw. zu klären, welcher Name für was
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gilt bzw. wie fest und dauerhaft ein Name mit dem Benannten verbunden ist, und theoretisch schließlich, wann ein (Kloster-)Name und nicht mehr nur eine Bezeichnung vorliegt. Letztlich betrifft das in geringerem Maße auch die außerhalb von bestehenden Siedlungen gegründeten Klöster. So wird das auf dem Lande, d.h. entfernt von einer Siedlung liegende Marienmünster, Kreis Höxter, 1128 als Swalenbergense monasterium a nobili viro Widikindo in honore beate dei genitricis Marie fundatum bezeichnet/benannt, dann aber auch 1136 (Kopie 15. Jh.) mit abbaciam in loco qui vocatur Monasterium sancte Marie, 1252 (Kopie 16. Jh.) in ecclesia, que vocatur Monasterium prope Swalenbergh, 1262 (Kopie 16. Jh.) [conventus] monasterii prope Swalenberg, quod Monstre vulgariter appellatur, 1337 conventus in Munster, 1401 (Kopie 18. Jh.) to Munster by der Oldenborch und noch 1509 (Kopie 18. Jh.) dat closter by Olden Swalenberge, obwohl sich seit dem Ende des 15. Jh. allmählich Marienmünster durchzusetzen beginnt: 1481 (Kopie 16. Jh.) conventus monasterii sancte Marie virg[inis], vulgariter Marien Monstere nuncupati (vgl. dazu WOB 9). Die mit dem Namen des Gründers Widukind von Schwalenberg zu verbindende OrtsN-Nennung (Schwalenberg liegt ca. 5 km nördlich) variiert also mit volkssprachlichem oder lateinischem monster bzw. monasterium, teils verbunden mit der Nennung der Patronin Maria, häufiger jedoch ohne diese, bis sich erst in der nachmittelalterlichen Zeit der heutige Name Marienmünster etabliert. Die Aussage von WolfArmin Freiherr v. REITZENSTEIN (1996: 1593), „die meisten Klöster werden ursprünglich mit dem Namen ihres Patrons bezeichnet“, trifft gerade hier nicht zu. Dies ist kein Einzelfall. Zudem kann bei mehreren Patronen mal der eine, mal der andere genannt werden, wie das Beispiel des Kollegiatstiftes S. Marien in Bielefeld zeigt: 1381 gemeyne capittele Unsser Vrauwen kirchen onsser Nuwestad zu Bilvelde; 1474 sunte Georgius kerken up der Niggenstadt bynnen Bilvelde (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 70). Es stellt sich also die Frage nach der Namenhaftigkeit dieser Bezeichnungen und damit die Frage, ab wann man von einem Kloster-„Namen“ sprechen kann und bis wann eine definite Beschreibung vorliegt. Das ist z.B. für die Ermittlung des Anteils der patrozinischen Namen oder die Frage der Umbenennung erheblich. Generell zeigt sich die für die patrozinischen Namen beobachtete appellativische Nähe bei den Bezeichnungen für geistliche Einrichtungen in verstärktem Maße, was sie in die Nähe definiter Beschreibungen rückt.13 Gerade bei den in den Städten angesiedelten Bettelorden ist häufig überhaupt nicht von einem Namen auszugehen, denn z.B. die Franziskaner werden als grawe moneke, barvoten, minnere bröder oder fratres minores
13 Auf Einzelnachweise wird bei den summarischen Auswertungen hier verzichtet. Sie können in den entsprechenden Klosterbüchern und anderen Hilfsmitteln wie den OrtsN-Büchern oder geschichtlichen Ortsverzeichnissen nachgeschlagen werden.
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und die Einrichtung in Kombination dieser Ausdrücke mit conventus oder closter (selten auch Graues Kloster) bezeichnet. Für die Gebäude der Johanniter findet sich sehr häufig die Bezeichnung domus (hospitalis) Sancti Johannis oder niederdeutsche Entsprechungen. Die Gebäude der ohnehin nur kurz in Nordwestdeutschland niedergelassenen Jesuiten werden als residentia, missio(n), gelegentlich auch als collegium bezeichnet, wobei oft ein Orts- oder RaumN hinzutritt, nicht selten auch ein societatis Jesu. Beginen und ihre Gebäude erscheinen meist als beginen, baginis, jungvrowen, lullsustern, sustern, sorores sowie als hospicium, hospital, hus oder convent. Zwar finden sich diese auch verbunden mit OrtsN wie bei den Hammer Beginen, so 1572 Begienenhuise binnen dem Hamme (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 388), häufiger aber werden bei den sich vor allem in einigen größeren Städten konzentrierten Beginenhäusern innerstädtische Namen oder Objekte genannt, man vgl. dazu die Braunschweiger Beginen mit uppe sunte Peters kerchove, in dat osten, supra Stenkameren, auf der Südstraße, apud sanctum Leonardum, upp dem werder, vor dem Wendendore usw. (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 164–190). Weiterhin sind mehrfach die Namen der Stifter oder Förderer identifizierend, so z.B. beim Giebelkonvent in Braunschweig (nach Autor Giebel) oder dem Riekenschen Beginenhaus (nach der Witwe von Henning Riekens) (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 179, 181). Entsprechend ihrer Tätigkeit werden die Dominikaner überwiegend durch (conventus) predicatorum oder predigere (hus) charakterisiert. Die nur wenig und/oder erst spät vertretenen Orden und ihre Gebäude werden in der Regel durch die Ordensangabe und den Ort, in dem sie sich niedergelassen haben, erfasst. Auch beim Deutschen Orden scheint mit der Bezeichnung domus Theutonice, später auch cumpturey, kommende und der Angabe eines OrtsN u.ä. die Identifizierungsfunktion hinreichend zu sein, so dass sich keine Namen im engeren Sinne entwickelten. Ähnliches gilt für die (bereits früh eingerichteten) Domkapitel. Hier zeigen die Belege als Leittyp monasterium in + OrtsN bzw. (dom)kapitel to + OrtsN. Angesichts der Reihenhaftigkeit, teils wegen der Variabilität der Bezeichnungen muss ein Namencharakter für das gesamte Syntagma bezweifelt werden. Meines Erachtens sollte hier besser von einer Klosterbezeichnung, also einer definiten Beschreibung (NÜBLING 2004: 230), gesprochen werden, die ihre identifizierende Funktion zum einen durch die genannten Orts- und/oder FlurN erhält, zum anderen durch die Singularität z.B. eines Klosters oder eines bestimmten Ordens – offenbar war klar, dass mit (conventus) predicatorum nur eine Dominikanerniederlassung gemeint sein konnte. Etwas anders sieht das bei den innerstädtischen Schwesternhäusern aus. Nur bei wenigen beschränkt sich die Angabe auf die der Stadt oder des Ortes, in dem das Haus stand. Neben Lokalisierungsangaben wie uppe dem Hollande, in dem Rampendahle sind es vereinzelt Namen von für die Christen wichtigen Städten wie Nazareth (in Störmede, Kreis Soest) oder Rom (in Recklinghausen; später nach der Patronin Barbarakloster genannt), des Stifters (in Soest, nach dem Stifter Wulfhard Epping
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Wulfhardesspital, später jedoch durch kleiner Mariengarten ersetzt), vor allem aber des Patrons bzw. der Patronin, die sehr häufig in Verbindung mit einem Grundwort zur Identifizierung dienen. Neben einigen anderen Patronen ist es vor allem Maria, die zu Namen wie Marienbrink, Mariental, Marienanger, Marienberg oder Marienborn führt. Bis auf den Kleinen Mariengarten, wo nicht Maria, sondern tatsächlich Jakobus Patron ist, ist Maria dann entweder alleinige Patronin oder Mitpatronin der Einrichtung. Im Falle des Schwesternhauses in Bocholt wird eine allmähliche Entwicklung erkennbar: Zunächst nach einer der beiden Patroninnen Agnetenhaus genannt, treten elf Jahre später beide Patroninnen in Kombination mit einem FlurN auf (süsternhus an den Schonenberge, domus sororum s. Agnetis, mons Mariae); schließlich wird es noch im selben Jahrhundert als Marienberg genannt, Maria löst also Agnes als Patronin ganz ab (vgl. WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 95). Da nicht wenige dieser Angaben längere Zeit überdauern, darf hier von einem zumindest namenähnlichen Status ausgegangen werden. So variieren zwar die Formulierungen für das Schwesternhaus in Ahlen, Kreis Warendorf, inhaltlich aber meinen sie dasselbe: 1466 Maria Rosa, 1467 S. Mariae ad rosas domus, 1803 Marien Rosengarten, weshalb ihnen ein gewisser Namencharakter zukommt. Das unterscheidet die Schwesternhäuser von den Beginenhäusern, bei denen sich derartiges nur selten findet. Es bleiben die bereits teils früh gegründeten Einrichtungen der Säkularkanoniker, der Kanonissen und der Augustiner, die Benediktinerklöster sowie die Gründungen der Prämonstratenser und Zisterzienser zu behandeln, die immerhin ein Drittel der geistlichen Einrichtungen ausmachen. Bei sehr vielen Kollegiatstiften tritt früh der Name eines Patrons zu den die geistliche Einrichtung oder ihre Bewohner meinenden Wörtern wie ecclesia, convent, closter, fratres, collegium, capitel, kerke, sticht etc. Die Belege lassen erkennen, dass auch hier von einem namenähnlichen Charakter auszugehen ist, denn die Namen der Patrone werden relativ regelmäßig genannt. Das ist umso verständlicher, als in manchen größeren Ortschaften die Kollegiatstifte nicht die einzigen geistlichen Einrichtungen waren, oft aber recht bedeutende. In Braunschweig z.B. gab es zwei Kollegiatstifte, die nach ihren Patronen früh als St. Blasius bzw. St. Cyriacus unterschieden werden und sie gleichzeitig von der Benediktinergründung St. Ägidien abgrenzen. Es handelt sich hier um patrozinische Bezeichnungen mit namenähnlichem Status, kaum aber um wirkliche patrozinische Namen. Anders als bei den Schwesternhäusern, wo Maria stark dominiert und insgesamt eher Namen von weiblichen Heiligen erscheinen, tauchen bei den Kollegiatstiften recht viele verschiedene HeiligenN auf, wobei es sich bevorzugt um Männer handelt. Ägidius, Alexander, Andreas, Angar, Bartholomäus, Blasius, Cyriacus, Epiphanius, Georg, Johann, Lambertus, Ludger, Marcellus und Marcellianus, Martin, Mauritz, Osdag, Patroklus, Paulus, Peter, Remigius, Simon und Judas, Stephanus und Sebastian, Victor sowie Willehad zeigen das. Bei den weiblichen Heiligen wiederum ist Maria (auch unser lewen frowen) die häufigste
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Heilige; andere wie Maria Magdalena oder Gertrud bleiben singulär. Bei den Kanonissenstiften ist die Heranziehung der Namen der Patrone nicht in gleichem Maße zu beobachten. Hier reicht es offenbar häufig genug aus, den OrtsN anzugeben, um eine hinreichende Identifizierung zu leisten. In Gandersheim jedoch, wo es neben dem Reichsstift (das seltener Zusätze wie die Nennung der Patrone führt – 877 heißt es monasterium quod dicitur Gandesheim, vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 433) noch ein weiteres Stift gab, wurde dieses durch die Angabe der Patronin Maria unterschieden. Zwar kann auch bei den Kanonissenstiften ein Patron oder eine Patronin mit genannt werden, insgesamt ist das jedoch deutlich seltener als bei den Kollegiatstiften der Fall. Bei den Augustiner-, Benediktiner-, Prämonstratenser- und Zisterziensereinrichtungen hingegen verhält es sich ähnlich – wenn auch nicht so ausgeprägt – wie bei den Kollegiatstiften. Hier werden relativ oft, aber nicht ganz so häufig, die Patrone mitgenannt, um das Kloster oder Stift zu identifizieren. Die Größe einer Siedlung und die Anzahl der vorhandenen geistlichen Einrichtungen scheint insofern eine gewisse Rolle zu spielen, als in kloster- oder stiftsreichen Ortschaften häufiger ein patrozinisches Syntagma des Typs claustrum sancti xy o.ä. verwendet wird. Die Nennung des Patrons hat hier unterscheidende bzw. identifizierende Funktion. Als Beispiel mag das Augustinerchorfrauenstift in Dorstadt, einem kleinen Ort im Kreis Wolfenbüttel, genügen, wo eine Durchsicht des Urkundenbestandes ergab, dass die Nennung des Patrons (Heilig Kreuz, dann Maria, dann wieder Heilig Kreuz) zwar vorkommt, aber gegenüber den Bezeichnungen wie conventus in Dorstat etc. in der Minderzahl ist (vgl. UB DORSTADT). Der Name oder die Bezeichnung einer geistlichen Einrichtung kann Auswirkungen auf eine Siedlung und ihren Namen haben. Deshalb soll es im Weiteren um das Phänomen der echt patrozinischen Namen,14 der (Kloster-)Namen mit christlichem Bezug und die teils damit eng verbundene Umbenennung gehen. Namen mit christlichem Bezug sind nicht auf KlosterN beschränkt, sondern ganz im Gegenteil deutlich häufiger bei OrtsN bzw. Orten zu konstatieren, die kein Kloster oder Stift besaßen. So wird besonders gern Kirche vor einen bestehenden OrtsN gesetzt, um ihn von anderen gleichnamigen Orten zu unterscheiden, so z.B. Kirchheerte im Unterschied zu Heerte und Kleinheerte, Kreis Wolfenbüttel (NOB III: 184–187). Aber auch primäre Bildungen wie Papenrode, Kreis Helmstedt (NOB VII: 118), können Wörter enthalten, die einen christlichen Bezug ausdrücken. Allerdings ist jeder Einzelfall zu prüfen, denn bei Heiligenberg, Kreis Diepholz, kann neben einer sprachlich nicht zurückzuweisenden Deutung als heilig und berg (für die 1217 erstmals erwähnte Prämonstratenser-
14 Hier verstanden als Namen, die dauerhaft mit einer geistlichen Einrichtung und der sie umgebenden, evtl. auch erst später entstehenden Siedlung verbunden sind.
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niederlassung) auch eine völlig andere Interpretation des Bestimmungswortes zutreffen. Die -berg-Namen Nordwestdeutschlands sind in aller Regel gebildet mit Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen, Gewässer- und OrtsN, Farbbezeichnungen und Richtungsanzeigen, Angaben zu Charakteristika des Bodens, zur Feuchtigkeit oder Trockenheit und Hinweise auf Vertiefungen und Erhebungen bzw. eine besondere Form der Erhebung. Menschliche Tätigkeiten oder Bezüge sind sehr selten. Insofern würde Heiligenberg als Heiliger Berg, verstanden als Hinweis auf die Prämonstratenser, vom Typus her nicht ausgeschlossen, aber sehr ungewöhnlich sein. Archäologische Funde belegen jedoch einen deutlich älteren Ringwall und ältere Siedlungsspuren,15 und mit den zahlreichen Hall-/Hell-Namen Nordwestdeutschlands bietet sich ein anderer und die topographische Lage bestätigender Deutungsversuch. Jürgen UDOLPH (2014) hat überzeugend dargelegt, dass die norddeutschen Hall-Namen von den süddeutschen zu trennen sind und hier kein Wort für die ‘Saline’ (nicht ‘Salz’), sondern ein mit Hallig, Helling, Halde oder Heller zusammenhängendes Wort für die Schräge, den Abhang zu sehen ist. Andererseits sind Adjektive auf -ig im Deutschen verbreitet, so dass eine Bildung *halig denkbar wäre, die im OrtsN flektiert im Dativ – wie bei Adjektiven üblich – auftreten würde. Damit wäre der Name zu deuten als ‘(am) schrägen Berg’, was mit der ausgeprägten Schrägung des erhöht liegenden Siedlungsplatzes Heiligenberg übereinstimmen würde. Ähnliches wäre auch bei Heiligenloh, Kreis Diepholz, angesichts der Lage des Ortes vermutbar. Heiligenrode, ebenfalls im Kreis Diepholz, hingegen ist als Neubruchgebiet und Niederlassung der Benediktiner durchaus eher als Bildung mit heilig anzusehen und enthält damit im Bestimmungswort einen Bezug auf den geistlichen Orden. Ähnlich sind Marienmünster (zunächst meist im Simplex Münster), Kreis Höxter, Zellerfeld, Kreis Goslar, Sielmönken, Kreis Aurich (wobei an das Simplex sîl erst sekundär ein Grundwort mönken ‘Mönche’ antritt), Neukloster, Kreis Stade – eine Umbenennung, auf die gleich eingegangen wird –, Clus, Kreis Northeim, und Wanlefsrode, Kreis Goslar (im Zellholz), bei den Benediktinergründungen als Namen mit christlichem Bezug zu nennen. Clus scheint schon vorher so geheißen zu haben, denn der Erstbeleg von 1127 ad novum monasterium [in] loco, cui antiquitas Clusa vocabulum indidit (NOB V: 78) spricht deutlich von der Vergangenheit (antiquitas), in der die Stelle benannt worden sei. Der Benediktinergründung scheint also eine Klause vorausgegangen zu sein. Bei den Zisterzienserinnenklöstern gehören Frauenthal (als alter Name für Harvestehude), Stadt Hamburg, Himmelpforten, Kreis Soest und Kreis Stade, sowie Kirchhellen, Kreis Bottrop, zu dieser Gruppe von Namen. Valle benedictionis oder eine deutsche Entsprechung Segenstal konnte sich beim Zisterzienserinnenkloster in
15 www.kreiszeitung.de/lokales/diepholz/heiligenberg-sensationsfund-1491585.html (01.06.15).
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Vlotho, Kreis Herford, nicht durchsetzen. Die Dominikaner sind für die Umbenennung zu Paradiese, Kreis Soest, und Galiläa, Hochsauerlandkreis, verantwortlich zu machen. Für die Mitte des 17. Jh. gegründete Franziskanerniederlassung in Zwillbrock, Kreis Borken, findet sich häufiger Bethlehem (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 505). Keppel, Kreis Siegen-Wittgenstein, und Cappel, Kreis Soest (beides Prämonstratensergründungen), enthalten die Kapelle im Namen. In Beziehung zu den Augustinern sind die Namen Obernkirchen, Kreis Schaumburg, und Neumünster zu setzen. Bedeutendstes Beispiel für einen christlichen Namen ist sicher Münster, ein Name, der älteres Mimigernaford nach Einrichtung eines Bischofssitzes ablöst. Klosterholte, Kreis Emsland, enthält als einziger (Kloster-)Name des Untersuchungsgebietes auch das Appellativ Kloster als Bestimmungswort im Namen. Das bestätigt eine Beobachtung von Gerhard PFEIFFER (1980: 71), nach dem Kloster „fast nur mit Zusatzbezeichnungen Verwendung gefunden“ habe – im Untersuchungsgebiet sind es Neukloster und Klosterholte. In Clarenberg, Stadt Dortmund, schließlich findet sich im Bestimmungswort der gründende Orden, nämlich die Klarissen. Das heißt, dass mit Himmelpforten (zweimal) und Paradiese die Rubrik „religiöse“ Namen von v. REITZENSTEIN (1996) zumindest selten belegt sind, mit Galiläa und Bethlehem eine Namenübertragung, mit Sielmönken, Frauenthal und Clarenberg eine Benennung nach den Insassen und mit Cappel, Keppel, Obernkirchen, Münster, Klosterholte, Neukloster, Kirchhellen, Zellerfeld, Marienmünster, Clus und Wanlefsrode bzw. Zellholz eine appellativische Klosterbezeichnung vorliegt. Eine Benennung nach dem Gründer kommt in Nordwestdeutschland bei den Klöstern im engeren Sinne nicht vor – nur bei den Schwestern- und Beginenhäusern finden sich gelegentlich Hinweise auf den Stifter oder die Stifterin. Bei aller Seltenheit überwiegen die sich auf Klöster beziehenden Appellative insgesamt doch deutlich. Heiligenrode passt nicht ohne weiteres in das Kategorienschema von v. REITZENSTEIN (1996), so dass zu erwägen ist, eine weitere Kategorie einzuführen, die sich im allgemeineren Sinne auf Kirchliches, Christliches bezieht. In diesem Zusammenhang ist kurz auf Clarholz, Kreis Gütersloh, einzugehen. PFEIFFER (1980: 89) stellt fest: „In einigen Fällen zeigt auch die sprachliche Form von Klosternamen, dass diese nicht im ,Volk‘ entstanden sein können. Klarholz gehört nicht in das Sprachgefüge des Münsterlandes, wie dies zum Beispiel Hohenholte tut“. Dem ist nicht zuzustimmen, denn für das Grundwort erscheint in der historischen Überlieferung in der Regel die niederdeutsche Form holte. Zudem ist das Bestimmungswort nicht mit klar bzw. lat. clarus zu verbinden (oder wie bei Clarenberg, Stadt Dortmund, mit dem Klarissenorden). Dieses wurde erst später hineingedeutet, wodurch sich auch Latinisierungen wie clarus ortus (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 185) erklären. Die ältesten Belege für Clarholz lauten Cleholte bzw. Claholte (vgl. dazu die entsprechenden Urkunden im OSNABRÜCKER UB) und schwanken dann mit Clarholte. Das heißt, die Deutung hat nicht von Clar-, sondern von Cle-, Cla- auszugehen.
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Neben diese Namen mit christlichem Bezug treten die patrozinischen Namen, jene Namen also, die den Namen eines Heiligen im Bestimmungswort führen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Namen, bei denen der Heilige oder Patron von Anfang an im Namen vorhanden war wie bei Mariengarten, Kreis Göttingen (NOB IV: 266– 267) – es sich also aller Wahrscheinlichkeit nach um einen KlostergründungsN handelt –, und jenen, bei denen ein OrtsN und ein KlosterN konkurrieren und sich entweder der KlosterN oder aber der OrtsN durchsetzt. Bei den kleineren Orden sind Marienwohlde, Kreis Lauenburg, zu nennen, die einzige Birgittinerniederlassung in Nordwestdeutschland; weiterhin Marienau, Kreis Hameln-Pyrmont, eine Karmeliterniederlassung in Ouhagen, von dem das Bestimmungswort zum Grundwort mit der MarienBildung wird. Beide Namen konkurrieren, bis sich Marienau auch für den Ort durchsetzt. In Glindfeld, Hochsauerlandkreis, siedelten sich in dem aufgegebenen Augustinerinnenkloster Kreuzherren an und nannten es Mariental, wobei sich dieses nicht durchsetzen konnte, wie ein Beleg von 1509 zeigt: Kloster Marienthal anders genannt Glintfeld (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 359). Das von Küstelberg nach Glintfeld verlegte Augustinerinnenkloster trug vorher auch den Namen novo Quistelberg, um seine alte Verbindung mit dem OrtsN Küstelberg zu bewahren (WOB 6: 188). Auch in Weddern, Kreis Coesfeld, die einzige Kartäuserniederlassung in Westfalen und eine der drei in Nordwestdeutschland, konnte sich eine Benennung castrum Mariae, Marienburg oder Marienslott (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1994: 433) gegenüber dem OrtsN nicht durchsetzen, denn später heißt die Kartause auch Karthus to Wedderen. Bei größeren Orden lassen sich für die Franziskaner keinerlei patrozinische Namen nachweisen, was nicht verwundert, siedelten sie doch meist in den Städten und legten als Bettelorden (zunächst) keinen gehobenen Wert auf eine repräsentative Niederlassung, was auch oben die bereits erwähnte häufige Bezeichnung als grawe moneke, barvoten oder fratres minores in Kombination mit conventus oder closter sowie häufiger einem OrtsN als für ihre Identifizierung ausreichend zeigt. Auch die Dominikanerinnen zeichnen sich nicht durch patrozinische OrtsN aus; für die Dominikaner ist kein einziger derartiger Name zu belegen. Letztlich gehen auf die Dominikanerinnen nur die beiden Umbenennungen Paradiese im Kreis Soest und Galiläa im Hochsauerlandkreis zurück, beides keine patrozinischen Namen, sondern religiöse Namen bzw. Namenübertragungen. Auf dem Hof Alveldinchusen wurde das Kloster Paradiese Mitte des 13. Jh. gegründet, beide Namen konkurrierten bis Ende des 13. Jh., wie die beiden folgenden Belege zeigen: 1252 (Abschrift um 1339) sorores inrauerunt Paradysum, locum qui ex antiquio uocabatur Alueldinchusen, nunc propter utilitatem et amenitatem uocatus est Paradysus sowie 1297 (Abschrift 14. Jh.) resignacionem bonorum dictorum Alveldinchusen pertiencium monasterio dicto ad Paradysum prope Susatum (WOB 1: 360). Der Name Galiläa für das 1483 in Huckelheim gegründete Kloster begegnet erstmals 1487; noch im 17. Jh. erscheinen
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beide Namen nebeneinander (WOB 6: 175), bis sich dann Galiläa für den Ort durchsetzt. Die recht enge Verbindung zwischen dem Namen des Patrons und den Kollegiatstiften wurde bereits erwähnt. Zwei besondere Fälle sollen hier noch vorgestellt werden. Ein Mauritius geweihtes, rasch in ein Kollegiatstift umgewandeltes Frauenstift bei Bergdorf, Kreis Hildesheim, erscheint früh auch als beati Mauricii in monte. Das Bestimmungswort Berg des OrtsN Bergdorf und der HeiligenN verschmelzen, so dass Moritzberg entsteht, das allmählich den alten SiedlungsN verdrängt. Der zweite Fall betrifft ein bei Goslar gelegenes und früh zum Augustiner-Chorherrenstift umgewandeltes Kollegiatstift Georgenberg mit dem Patron Georg. Entsprechend finden sich Bezeichnungen wie monasterium sancti Georgii in Goslaria, dann auch monasterium in monte sancti Georgii oder die Variante claustrum sancti Georgii in Berg, die den Anschein erweckt, als ob es sich bei Berg um einen Namen handelt. Bereits 1131 wird ein novale quod Thietwardinggerothe erwähnt (UB GOSLAR 1 Nr. 181 S. 217), das im Besitz des Stiftes war. 1381 wird der als Vorwerk bezeichnete Ort immer noch im Besitz von sente Jurienberghe by Goslare erneut erwähnt: vorwerk unde frygut to Tetwardingerode, dat ghemenliken de Grawehof ist gheheten (UB Goslar 5 Nr. 431 S. 175). Dieser Name wiederum geht später auf das Stift über, das dann Grauhof oder z.B. im 18. Jh. curia Grisonum heißt, da die Stiftsgebäude im 16. Jh. zerstört wurden und der Konvent in das Vorwerk umzog (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 481–483). Grauhof ist also der Name einer geistlichen Einrichtung, der mehrfache Umbenennungen unterschiedlichster Art zugrunde liegen. Bei den Prämonstratensern sind ebenfalls nur wenige patrozinische OrtsN und/oder Umbenennungen festzustellen. Bei Berentrop im Märkischen Kreis konnte sich der Name Marienwolde nicht durchsetzen, für Aland, Kreis Aurich, erscheint im 15. Jh. nur vereinzelt für das Kloster auch eine Bezeichnung wie 1499 deme convente to Alanth, yn latine gheheten Rypa beate Marie virginis (vgl. OSTFRIESISCHES UB passim). Erfolgreich war eine Umbenennung, wenn auch nicht in einen patrozinischen Namen, des Klosters Heiligenthal, das zunächst in Kirchgellersen gegründet, rasch nach Siebelingsborstel verlegt wurde. Dessen Name wurde zugunsten von Heiligenthal aufgegeben16 und blieb bis heute an der Siedlung „haften“, während das Kloster noch im 14. Jh. nach Lüneburg verlegt wurde und ebenfalls weiterhin den Namen Heiligenthal trug (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 964). In diesem Fall trennten sich Kloster und Ort unter Beibehaltung des gleichen Namens räumlich voneinander. Die Herzöge von Sachsen-Lüneburg bestimmten 1382, dass das monasterium novum in pre-
16
Vgl. z.B. 1423 curia Sibiligborstel sic in nostre ecclesie registris nominata nunc autem variato nomine Hilghendal (VERDENER UB 3 Nr. 901 S. 1294).
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dicto loco et fundo intra opidum Luneborg sub eadem denominatione Hilghendal edificare (VERDENER UB 3 Nr. 19 S. 34), was vom Verdener Bischof bestätigt wurde (VERDENER UB 3 Nr. 21 S. 38–40). Demgegenüber schwankten die Belege für das später im Dollart versunkene, zuvor aber bereits aufgegebene Kloster Palmar bis zum Schluss zwischen dem OrtsN Palmar und einem patrozinischen Marien-Namen. Neben porta sancte Marie findet sich 1447 conventus de Palmaer, alias Porta Marie (OSTFRIESISCHES UB 1 Nr. 577 S. 505). Für das Kloster Langen, das Ende des 15. Jh. nach Blauhaus, Kreis Aurich, verlegt wurde, konnten sich die patrozinischen Varianten nicht endgültig durchsetzen; neben dem alten OrtsN Langen erscheint auch Blauhaus sowie der Patron Jakob und selten die Patronin Anna, so z.B. 1562 Langen anders Blauhuys oder Sanct Jacobs Closter (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 909). Bei den Benediktinern findet sich unter den bereits erwähnten Namen mit christlichem Bezug Neukloster, Kreis Stade. Dessen Name stellt eine Besonderheit dar. An einer in der parochia Lu gestifteten Kirche wird 1274 ein Benediktinerinnenkloster gegründet, dessen Insassinnen aus dem Buxtehuder Altkloster kamen. Bereits 1286 siedelte das Kloster nach Bredenbeke um; die alte Stelle erhielt den Namen Neuenkirchen. Für den neuen Klosterort schwanken die Namen zwischen novi claustri/ Nigenclostere – als das im Gegensatz zu Altkloster ,neuere‘, d.h. jüngere Kloster – und Bredenbeke. Dieses Schwanken ist noch im 15. Jh. festzustellen; vgl. 1461 des closters Bredenbeke anders to deme Nigenclostere ghenomet beleghen by Buxstehude (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1083–1085), bis schließlich Neukloster für Kloster und Ort gilt. Es bleiben acht weitere Namen, die zu betrachten sind. Von diesen sind sechs Marien-Namen. Marienkamp, Kreis Wittmund, wird bei Esens errichtet. Als KlosterN oder -bezeichnung tritt zunächst campi sub vocabulo ipsius Marie prope Esingen, dann auch Marienkamp, campus Marie, aber auch anders geheten Esingerfelde auf, bis sich Marienkamp als KlosterN etabliert und heute auch für die kleine Siedlung gilt. Für Marienthal, Kreis Aurich, findet sich anfänglich der Name Norda (Norden, Kreis Aurich), dann vallis sancte Marie, aber auch Oldenkloster in Abgrenzung zum ebenfalls in Norden ansässigen Dominikanerkloster. Noch ein Beleg von 1479 spiegelt dieses wider, wenn es heißt: abbest to den Oldenkloster to Norden, anders gheheten vallis sancte Marie (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1033). In Wietmarschen, Kreis Grafschaft Bentheim, hingegen behauptete sich der OrtsN gegenüber dem mehrere Jahrhunderte verwendeten novale sancte Marie, Marienrode etc., denn ein Beleg von 1481 legt mit der Formulierung Marienrode alias Wytmersem nahe, dass der OrtsN auch für die geistliche Einrichtung gebräuchlich war. Das in Essen, Kreis Oldenburg, gegründete Benediktinerinnenkloster wurde 1194 durch einen Brand zerstört, der Konvent zog nach Malgarten, Kreis Cloppenburg, um. Das Kloster führt als conventus in Malegarden, claustrum in Malgarden etc. den Namen des Ortes, in dem es stand. Erst seit dem 17. Jh. erscheinen auch Mariengarten, hortus St. Mariae u.ä.
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(NDS. KLOSTERBUCH 2012: 977). Offenbar bewirkte das Marienpatrozinium in Verbindung mit dem Grundwort Garten sowie der Silbe Ma- eine sekundäre Umdeutung, die jedoch nicht alt ist. In Herdecke, Ennepe-Ruhr-Kreis, schließlich tritt der Name der Patronin gelegentlich vor den OrtsN (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 401), wird aber, anders als bei Marienmünster, Kreis Höxter, nicht dauerhaft mit dem Klosteroder gar OrtsN verbunden. Minden, Kreis Minden-Lübbecke, verfügt neben zahlreichen anderen geistlichen Niederlassungen über gleich zwei Einrichtungen des Benediktinerordens. Neben dem Benediktinerkloster Mauritzberg ist eine später in ein Kanonissenstift umgewandelte Fraueneinrichtung des Ordens bezeugt, die sich an der zuvor bereits existenten Marienkirche ansiedelte. Das Kloster führt als claustrum beate Marie virginis, conventu Sanctae Mariae den Namen eines ihrer Patrone, und der Name bleibt auch dann noch erhalten, als später ein freiweltliches Damenstift das Benediktinerinnenkloster bzw. Kanonissenstift ablöst: 1778 adeliches freyweltliches Fräuleinstift ad Sanctam Mariam (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 606). Das Männerkloster wurde auf einer Weserinsel errichtet und führte zunächst die Bezeichnung monasterium in Insula, die jedoch noch im 12. Jh. zugunsten einer patrozinischen Bezeichnung bzw. Benennung nach dem Hauptpatron Mauritz aufgegeben wird. Vor den Toren Osnabrücks entstand im 12. Jh. ein Benediktinerinnenkloster. Dieses führte seit Beginn der Überlieferung nach ihrer Patronin den Namen Gertrudenberg, wobei die Belege mit monte beatae Gerthrudis, beate Gertrudis in Monte, in Monte sancte Gertrudis, Sancte Gertrudis, sunte Gertrude Berghe usw. formal schwanken (vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1176; OSNABRÜCKER UB passim), aber relativ stabil sind, auch wenn gelegentlich das Kloster ohne den Namen der Patronin als monasterium iuxta muros civitatis Osnabrugensis bezeichnet wird. Gleichwohl ist der Name Gertrudenberg für das Benediktinerinnenkloster als verhältnismäßig fest anzusehen. Bis auf zwei Ausnahmen handelt es sich bei den patrozinischen Namen der Augustinerstifte ebenfalls um Marien-Namen. Die eine Ausnahme ist das in Waltringhausen, Kreis Soest, errichtete Stift Annenborn, das nicht den Namen der Mitpatronin Maria übernimmt, sondern den der zweiten Patronin Anna. Annenborne scheint sich für das Stift etabliert zu haben, bis es Ende des 14. Jh. aufgelöst wurde. Alle übrigen zu behandelnden Klöster befinden sich in Niedersachsen. Hier ist nur das Goslarer Stift auf dem Petersberg nicht mit dem HeiligenN Maria gebildet. Ein älterer FlurN Galcberg wird durch monte sancti Petri, Petersberge verdrängt; vgl. 1064 in montes scilicet sancti Petri, qui antea dictus est Galcberc (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 506). Bei Marienberg, Kreis Helmstedt, schwankte der Name für das Kloster und die zugehörige Domäne mit sancte Marie Monte, monte sancte Marie, sancte Marie ad Montem, Vrowenberge, Unserlevenfrouwenberghe, Marienberg etc. formal zwar, ist aber als Name und nicht als Bezeichnung zu interpretieren (vgl. NOB VII: 100–101). Bei dem heutigen Marienwerder, Region Hannover, hingegen kann der Bestandteil Maria durchaus auch fehlen, wie Belege wie preposito de Insula iuxta Honovere, closter to
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deme Werdere zeigen (NOB I: 316). Der heute amtliche Name der Siedlung jedoch beinhaltet die Patronin im Namen. Beim Stift Mariental bei Eldagsen, Region Hannover, und Mariengarten in Verden waren die Namen für die geistlichen Einrichtungen (bei allem formalen Schwanken) stabil, während die Siedlungen, in dem sich die jeweilige geistliche Einrichtung befand, nie temporär oder dauerhaft diesen Namen übernahm, sondern der alte SiedlungsN erhalten blieb. Bei Frenswegen, Kreis Grafschaft Bentheim, und Hessisch-Oldendorf, Kreis Hameln, hingegen können sich die Namen Marienwohlde bzw. Marienstede auch für die geistlichen Einrichtungen nicht durchsetzen (vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 423, 650). Ein besonderer Fall schließlich ist die Augustinergründung Marienrode, Kreis Hildesheim: Gegründet als in villa novale Bacconis dicitur, ist sie zunächst ein Augustiner-Chorherrenstift in Backenrot, bevor das spätere Augustiner-Doppelstift aufgelöst wurde und 1259 die Insassen der zerstörten Zisterzienserniederlassung Isenhagen dort einzogen (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1006). Nun taucht Marienrode (novalis Sancte Marie) auf, das mit dem alten Namen konkurriert (1259 noualis sancte Marie, quod Bakkenrodh antea dicebatur, 1292 Novalis Sancte Marie quod vulgo Betzingerode dicitur), bis 1439 durch Bischof Magnus von Hildesheim bestimmt wird: idem monasterium hactenus in latino vocatum est Nouale sancte Marie nunc jn antea in vulgari diem nomen obtineat vulgariterque nominetur et scribatur publice et priuatim Marienrode, was 1440 wiederholt wird: dat dat [...] Closter [...] Betsingerode [...] na dusser tytt de namen nicht mehr hebben, sunder men schal dat nömen [...] Marienrode (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1006; UB MARIENRODE Nr. 22 S. 36; Nr. 1 S. 1). Damit wird erst mit dem Ordenswechsel zu den Zisterziensern eine Umbenennung greifbar, die später sogar „amtlich“ verfügt wird und auf den OrtsN übergeht. Gleichzeitig ist mit den Zisterziensern derjenige Orden genannt, bei dem die meisten patrozinischen Namen und die meisten Marien-Namen zu konstatieren sind. Insbesondere die Gründungen der Zisterzienserinnen, die nahezu das Vierfache der Männereinrichtungen ausmachen, sind hier vertreten. Neben Maria ist bei Brenkhausen, Kreis Höxter, eine Bezeichnung als valle Dei bezeugt, die sich jedoch nicht durchsetzen kann, obwohl der Beleg von 1292 in Valle Dei, quod antiquo vocabulo dicebatur Berinchosen (vgl. WOB 9) etwas anderes nahezulegen scheint. Auch bei Hude, Kreis Oldenburg, und Scharnebeck, Kreis Lüneburg, können sich die patrozinischen Namen nicht etablieren. So wird 1236 Hutham [...] nunc autem Rubus s. Marie dicitur, 1291 aber portus s. Marie, quod comuniter dictur Huda später meist als Hude und gelegentlich als Monnekehude genannt (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 825). Das Kloster Scharnebeck wurde ursprünglich in Steinbeck angelegt (1243 domus sancte Marie qui antiquo nomine Steinbecke vocabatur), aber zehn Jahre später nach Scharnebeck verlegt. Von den beiden OrtsN übernahm der KlosterN zeitweise beke, so dass Varianten wie de Rivo sancte Marie entstanden. Aber auch hier hielt sich der patrozinische KlosterN nicht, sondern der OrtsN ging auf das Kloster über: monasterium de Rivo sancte Ma-
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rie alias de Schermbeke (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1340). Nicht durchsetzen konnten sich bzw. zumindest keinen bleibenden Einfluss auf den OrtsN hatten Klosterbezeichnungen mit Maria weiterhin bei der Zisterzienserinnenniederlassung in Coesfeld (ursprünglich in Ramsdorf gegründet, als Marienborn/fons Beate Marie bezeichnet und nach Coesfeld verlegt), Falkenhagen, Kreis Lippe, wo neben der Mariennennung auch die Umschreibung mittels der Lilie begegnet, wobei dem valle liliorum ein monte sancte Marie u.ä. entgegensteht, also Berg und Tal gleichermaßen begegnen, Vinnenberg, Kreis Warendorf (montis sancte Marie) und Börstel, Kreis Osnabrück (valle rosarum, Merieberche); vgl. dazu die entsprechenden Klosterbucheinträge. Bei Mariensee, Region Hannover, Mariental, Kreis Helmstedt, Lilienthal, Kreis Osterholz, und Mariengarten, Kreis Göttingen, hingegen hatten die KlosterN nicht nur Bestand, sondern gingen auch auf die entsprechenden Ortschaften über – so wurde Mariensee in Vornhagen (de transitu cenobii Vorenhagen ad locum qui Lacus sancte Marie vocatur) gegründet und nach Cattenhusen (ecclesie in Lacu sancte Marie, quam ipsi fundamus [...] in Catenhusen) verlegt (vgl. dazu NOB I: 314–315 und STREICH 1986: 95–96). Lilienthal wurde mehrfach verlegt. Zunächst im 13. Jh. in einem Gebiet zwischen Trupe und Wallerbroke angesiedelt, zogen die Insassinnen erst nach Wollah, dann nach Lesum, dann zurück nach Wollah, dann wiederum noch im 13. Jh. an den Ausgangsort zurück. Das Kloster wird als claustrum beate Marie bezeichnet; es begegnen auch Umschreibungen durch das Mariensymbol der Lilie, und beides scheint nebeneinander zu existieren, so dass Formulierungen wie monasterium beate Marie in Lilienthale, cenobium in Wolda alio nomine Vallis Liliorum appellatum (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 919) möglich werden. Die Klosterumschreibung mittels der Lilienmetapher ist anscheinend nicht ortsgebunden, sondern kann sowohl Wollah wie auch den späteren Niederlassungsort bezeichnen, der noch heute Lilienthal heißt. Andererseits wird das Kloster gleichzeitig durch seine Patronin Maria umschrieben, so dass Kloster und Ort hinsichtlich seines Namens/seiner Bezeichnung divergieren, obwohl beides letztlich auf das Klosterpatrozinium zurückgeht. Abschließend sei noch auf das genaue Gegenteil einer Umbenennung bei den Zisterzienserinnen hingewiesen. Das Stift Medingen, Kreis Uelzen, hatte bereits mehrere Umzüge hinter sich, bis es Mitte des 13. Jh. nach (Alten-)Medingen kam. In den 20er Jahren des 14. Jh. erwarb es den Ort Zellensen, an den es in den 30er Jahren desselben Jahrhunderts zog. Bischof Johann I. von Verden erlaubte diese durch Wasser- und Mühlenmangel sowie nächtliche Überfälle von Slawen (!) begründete Verlegung und die Mitnahme des alten Namens Medingen, der dann den OrtsN Zellensen ersetzen solle: in dicto loco, quondam Tzellensen nunc autem Medinghe nuncupato (vgl. NDS. KLOSTERBUCH 2012: 1044–1045; VERDENER UB 2 Nr. 397 S. 333–334). Ein OrtsN (Alten-)Medingen wird also zum KlosterN und dieser wird offenbar so eng mit dem Stift verbunden, dass der Name mitgenommen wird und einen anderen OrtsN ersetzt. Mariengarten und Mariental sind echte KlostergründungsN, da hier nachweislich in zuvor unbebau-
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tem Gebiet die entsprechenden Klöster errichtet wurden (NDS. KLOSTERBUCH 2012: 997–1003, 1021–1031). Diese Zusammenschau zeigt, dass Maria nicht nur als Patronin bei den geistlichen Einrichtungen Nordwestdeutschlands eine herausgehobene Stellung einnimmt, sondern auch als patrozinischer Name gegenüber den anderen Heiligen deutlich hervorsticht. In diesem Zusammenhang sind die Zisterzienser zu nennen, bei denen der Anteil besonders hoch ist. Der oben angeführte Aussage von PARISSE nach wurden die Zisterzienserniederlassungen vor allem in Tälern an Gewässern gegründet. Diese Aussage suggeriert, dass unbesiedeltes Gebiet genutzt wurde, um abseits bestehender Siedlungen Klöster zu gründen. Zumindest die eben gemachten Ausführungen zu den Umbenennungen/Verlegungen zeichnen ein anderes Bild. Umbenennungen oder Klosterverlegungen an anders benannten Stellen setzen eine bestehende Siedlung voraus. Sieht man von den patrozinischen Namen ab, ist deshalb zu fragen, wie viele der Namen von Zisterzienserniederlassungen bzw. die „in manchen Fällen“ nach der Klostergründung entstehenden Siedlungen einen auf „Tal“ oder vor allem „Wasser, Gewässer“ referierenden Namen tragen. Es sind dies die OrtsN Hude, Kreis Stade, Ihlow, Kreis Aurich, Scharnebeck, Kreis Lüneburg, Amelungsborn, Kreis Holzminden, Walkenried, Kreis Osterode, Reinbek, Kreis Stormarn, Bersenbrück, Kreis Osnabrück, Paderborn, Vlotho, Kreis Herford, und Goslar. Bei ihnen handelt es sich nicht um primäre KlosterN, sondern um (teilweise auf FlurN zurückgehende) OrtsN, die wie z.B. Goslar oder Holzminden bereits als Namen für bestehende Siedlungen bezeugt sind, als zu einem späteren Zeitpunkt dort die geistliche Einrichtung erbaut wird. Hinzu kommen Kloster Marienborn in Coesfeld und Mariensee in der Region Hannover. „Tal“-Namen finden sich nicht, zumindest bei den SiedlungsN nicht. Diese begegnen nur bei den KlosterN Mariental in Falkenhagen, Mariental, Kreis Helmstedt, Börstel (valle rosarium) und Lilienthal. Damit haben 16 der Namen von insgesamt 55 Zisterziensergründungen etwas mit „Wasser“ oder „Tal“ zu tun, eine nicht überdurchschnittlich große Zahl, denn in Südniedersachsen wird nach eigenen Untersuchungen bei den bis 1600 urkundlich erwähnten OrtsN bei etwas mehr als 20 Prozent aller Namen eine Beziehung zu Wasser oder Sumpf ausgedrückt, so dass zumindest die postulierte besondere Bedeutung des Wassers für Zisterziensergründungen nicht durch die Namen dokumentiert wird. Zudem zeigt sich, dass auch bei den Zisterziensern nur eine relativ geringe Zahl an Klöstern einen „typischen“ KlosterN – hier verstanden als Name mit patrozinischen oder religiösen Elementen – führt. Die weitaus meisten Namen sind entweder primäre SiedlungsN wie Brenkhausen (Beringehusen) oder Wöltingerode (Walthingerod) oder ursprüngliche FlurN wie Vinnenberg oder Paderborn, die teils aufgrund ihrer Namenstruktur und enthaltenen appellativischen Elemente von hohem Alter sein dürften. So ist Welver eine -r-Ableitung oder Medingen eine -ingi-Ableitung.
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Für die patrozinischen Namen wurde konstatiert, dass sie anders als die „normalen“ OrtsN, die fast immer volkssprachlich seien, lange ein Schwanken zwischen lateinischen und volkssprachlichen Formen aufwiesen und zudem die Elemente nicht fest seien, sondern bei inhaltlicher Übereinstimmung durch unterschiedliche appellativische Entsprechungen Variationen zeigten (CASEMIR 2012: 22–23). Ohne es hier in allen Einzelheiten darlegen zu wollen, bestätigen die Belegreihen für die Namen der geistlichen Einrichtungen das in vollem Umfang. So erscheint die häufigste Patronin Maria in zahlreichen variierenden Gestalten als sancte Marie, Vrowen, beate Marie, beate Marie virginis, unser lewen vrowen, dei genitricis Marie, sancte dei genitricis virginis Marie, beate dei genitricis Marie, sancte die genitricis Marie, beate Marie perpetue virginis, unser vrowen sunte Marien, sancte dei genitricis et virginis Marie, hl. Jungfrauen Marien. Diesen Formulierungen können Appellative wie monasterium, sticht, claustrum, ecclesia, kloster, conventus (monasterium/dominorum), cenobium, sanctimonialium oder susterhus, domus etc. entweder voran- oder nachgestellt sein, was bereits eine Vielzahl an Varianten ergeben kann. Tritt noch ein OrtsN hinzu, vermehrt sich der Variantenreichtum nochmals. Mit HARWEG (1983: 158) ist hier von „genuinen Gattungseigennamen“ auszugehen. Lateinische Formen sind auch im 16. Jh. noch nicht völlig verschwunden; vgl. z.B. 1507 monasterium vallis Beatae Mariae Virginis in Glindfelde (WESTFÄL. KLOSTERBUCH 1992: 359). Die „größere appellativische Nähe“ (CASEMIR 2012: 23) zeigt sich gerade bei den Nennungen der geistlichen Einrichtungen (bzw. ihrer Bewohner) durchweg, auch wenn die nur aus der Bezeichnung für ein Kloster oder Stift und einer OrtsN-Nennung bestehenden naturgemäß deutlich variantenärmer sind und der enthaltene OrtsN stabil bleibt, sieht man von den üblichen lautlichen Entwicklungen über die Jahrhunderte ab. Das Eingangszitat aufnehmend lässt sich festhalten, dass die nordwestdeutschen KlosterN keineswegs ausgeprägt „Gottesminne atmen“. Zwar kommen die von v. REITZENSTEIN (1996) angesprochenen religiösen Namen, Benennungen nach den Insassen, appellativischen Klosterbezeichnungen oder Namenübertragungen gelegentlich vor. Sie stellen jedoch nur eine recht geringe Anzahl dar. Gerade bei den Nennungen eines Heiligen stellt sich jedoch die Frage nach der Namenhaftigkeit, zumal bei der doch häufig großen Formenvarianz in den Nennungen. Patrozinische Namen, die über die geistliche Einrichtung hinaus Geltung bekamen, entweder weil ein vorhandener Name aufgegeben wurde oder sich erst jünger eine Siedlung nahe des Klosters entwickelte, bleiben ebenfalls selten. Bei den Umbenennungen stehen natürlich Namen mit christlichem Bezug oder nach einem Heiligen – allen voran Maria – im Vordergrund, doch in vielen Fällen war die Umbenennung nicht dauerhaft oder konnte sich nicht durchsetzen und einzelne Fälle wie das Beispiel von Grauhof zeigen, dass auch ein patrozinischer Name zugunsten eines anderen verschwinden konnte. Die relativ gesehen sehr geringe Zahl von patrozinischen OrtsN in Nordwestdeutschland, von denen nicht wenige auf eine Kloster- oder Stiftsgründung zurückge-
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hen, steht in deutlichem Kontrast zu den von PFEIFFER (1980: 75) ermittelten Zahlen für andere europäische Länder: So trugen 1902 mehr als ein Achtel der französischen Gemeinden einen HeiligenN. In Nordwestdeutschland sind es mit den eingangs erwähnten 0,25 Prozent gravierend weniger. Und auch bei den Namen für geistliche Einrichtungen sind die Namen nicht in der Mehrheit, bei denen aufgrund der Stabilität der Formen von einem Namen im engeren Sinn gesprochen werden kann. Außer bei den meist früh gegründeten Säkularkanonikereinrichtungen der Kollegiat- und Kanonissenstifte sowie der Domstifte tritt bei den späteren Gründungen dann als Patronin Maria stärker in den Vordergrund. Hier kann zumindest in einigen, aber nicht in allen Fällen recht sicher von einem GründungsN ausgegangen werden. Ganz anders sieht das – entgegen PARISSE (1991) – bei den frühen (Benediktiner-)Niederlassungen aus. GründungsN sind kaum nachzuweisen. Das steht ebenfalls im Gegensatz zu den Ergebnissen bei STÜHLER (1988: 172), nach der mehr als ein Drittel der hessischen GründungsN auf die Benediktiner zurückzuführen sind. Allerdings scheint bei aller Vorsicht der prozentuale Anteil an KlostergründungsN in Hessen deutlich höher zu sein als in Nordwestdeutschland. Aus diesem Grunde wäre eine Ausweitung der Untersuchung der KlosterN auf das gesamte Bundesgebiet interessant. Mit den bereits vorliegenden Klosterbüchern von Brandenburg, Hessen, der Pfalz, Mecklenburg, Baden-Württemberg, des nordrheinischen Gebietes von Nordrhein-Westfalen und Sachsen lägen zumindest für größere Teile Deutschlands Vorarbeiten vor, auch wenn diese von Historikern erarbeiteten Werke einen anderen Schwerpunkt als die Dokumentation des Namens haben.
4 Literaturverzeichnis BACH, Adolf (1953–1954): Deutsche Namenkunde II. Die deutschen Ortsnamen. 2 Bände. Heidelberg. CASEMIR, Kirstin (2012): Patrozinische Ortsnamen in Nordwestdeutschland. In: Niederdeutsches Jahrbuch 135, 7–32. FLACHENEGGER, Helmut (1999): Patrozinienforschung in Deutschland. In: Concilium medii aevi 2, 145–163. HARWEG, Roland (1983): Genuine Gattungseigennamen. In: Faust, Manfred u.a. (Hgg.): Allgemeine Sprachwissenschaft, Sprachtypologie und Textlinguistik. Festschrift für Peter Hartmann. Tübingen, 157–171. LAUR, Wolfgang (2012): Die Orts- und Gewässernamen der Freien und Hansestadt Hamburg. Neumünster. LAUR, Wolfgang (21992): Historisches Ortsnamenlexikon von Schleswig-Holstein. Neumünster.
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Kirstin Casemir
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Nordwestdeutsche Klosternamen als Namenkategorie mit Besonderheiten
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Kirstin Casemir
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Thomas Franz Schneider
Hagiotoponyme im Kanton Bern Zusammenfassung: Thema des Beitrags ist die Hagiotoponymie des Schweizer Kantons Bern. Nach einem Blick auf die Hagiotoponyme als Bildungstyp und auf ihren Anteil an den Namen der politischen Gemeinden der Schweiz wird eine Auswahl von mit HeiligenN gebildeten Flur- und SiedlungsN aus der Sammlung der Forschungsstelle für Namenkunde der Universität Bern vorgestellt und besprochen. Dabei wird auch die Frage gestreift, welche Spuren die Einführung der Reformation Ende Januar des Jahres 1528 in der Berner Hagiotoponymie hinterlassen hat. Abstract: The subject of this article is the hagiotoponymy of the Swiss canton of Bern. After having looked at hagiotoponymy as a type of name formation and at its share in the names of the municipalities of Switzerland, a small selection of place names formed from saints’ names will be presented and analysed. The data will be taken from the scientific collection of the onomastic research center at the University of Bern (Forschungsstelle für Namenkunde der Universität Bern). In this context, the issue of the traces which the introduction of the Reformation has left in the Bernese hagiotoponymy will be briefly touched upon as well.
1 Hagiotoponyme als Bildungstyp Die ‚Hagiotoponymie‘ einer Region meint die Menge derjenigen Toponyme, die auf einen HeiligenN zurückgehen. Formal handelt es sich in der Regel um (possessiv oder lokativisch determinierte) Zusammenrückungen und Komposita mit einem HeiligenN als Bestimmungswort und einem Appellativum als explizites oder häufig auch elliptisches Grundwort (z.B. Kapelle, Gut, Hof, Dorf, Platz, Brunnen, Berg etc.). Hauptkriterium zur Unterscheidung der ‚hagionymen‘ von mit ‚profanen‘ PersonenN gebildeten Toponymen ist eine Markierung durch den festen Namenbestandteil1
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Partikel oder Indeklinabile im Deutschen, Adjektivattribut oder Substantiv in den romanischen Sprachen.
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Thomas Franz Schneider
lat. sanctus/sancta ‘heilig’2 > dt. Sankt, frz. Saint/Sainte, it. Santo/Santa.3 Dazu tritt in der französischen Schweiz noch eine Gruppe von Bildungen mit lat. dominus/domina ‚Herr/Herrin, Heiliger/Heilige‘,4 Ausläufer eines im westlich angrenzenden Frankreich sehr häufigen Namentyps.5 In der Deutschschweiz kommen Namen mit dem dt. Bestimmungswort Frau ‚Jungfrau Maria, Herrin‘ dazu,6 während ein einzelner GemeindeN mit dem Bestimmungswort heilig vermutlich gerade nicht auf einen HeiligenN, sondern auf einen PersonenN zurückgeht.7 Dabei ist zu beachten, dass die Namenbestandteile lat. sanctus/sancta und dominus/domina im Laufe der Zeit abgelegt worden sein können, so dass die Zugehörigkeit eines OrtsN zur Gruppe der Hagiotoponyme letztlich nur unter Rückgriff auf eine zureichend vollständige diachrone Belegreihe entschieden werden kann.8
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Vgl. die grundlegende Untersuchung von DELEHAYE (1909) zur Entwicklung des Bedeutungsfeldes von lat. sanctus, ausgehend von der vorchristlichen römischen Antike bis ins christliche Mittelalter. Vgl. z.B. die Schweizer GemeindeN Alt Sankt Johann SG, Castel San Pietro TI, Châtel-SaintDenis FR, Chézard-Saint-Martin NE, Feldbrunnen-St. Niklaus SO, Nuglar-Sankt Pantaleon SO, Saint-Aubin FR, Saint-Blaise NE, Santa Maria in Calanca GR, Santa Maria Val Müstair GR, Villars-Sainte-Croix VD etc. (LSG: 84, 221, 235, 245, 348–349, 654, 781, 796, 929). Z.B. die GemeindeN Damphreux (< *dominus Ferreolus) JU, Damvant (< *dominus Wala?) JU, Démoret (< *dominus Mauritius) VD, Dombresson (< *dominus Brictius) NE, Domdidier (< *dominus Desiderius) FR, Dommartin (< *dominus Martinus) VD, Dompierre (< *dominus Petrus) FR, Dompierre VD, Donatyre (< *domina Thecla) VD, Donneloye (< *domina Eulalia) VD (LSG: 286-287, 292, 300-303). AEBISCHER (1936); GLÄTTLI (1937: 84–87); VINCENT (1937: 338–339, Nr. 885 und 886); BILLY (2012: 1521–1522). Fraubrunnen BE (1246 Fons beatae Marie; LSG: 366), Frauenfeld TG (< *Feld unserer lieben Frau [von Reichenau]; LSG: 366), Frauenkappellen BE (1257 Capella sancte Marie; LSG: 366). Heiligenschwendi BE (1285 Helgeswendi; LSG: 434). Z.B. ‒ Beatenberg, Gemeinde im Kt. BE (< St. Beatus: 1231 H. de sancto Beato, 1263 ius patronatus ecclesie sancti Beati, 1349 sant Batten in der kilchen, 1357 uffen sant Beaten berge; BENB I/4: 255–256; LSG: 129); ‒ Tosel, Hof in der Gemeinde Trachselwald BE (< St. Oswald: 1528 St. Osswald in der Dürr, 1531–1553 sant oßwaldt Im holderwald, 1564 Sanct Oschwalden, 1838 St. Oswald, auf'm Dosel; BENB I/4: 105; RAMSEYER 1995: 147); ‒ Glumme, Kirche, ehemaliges Heimwesen und Kulturland in der Gemeinde Spiez BE (< St. Columba: Mitte 15. Jh. zuo der capellen sant Columben […] zuo sant Columben bi Fulensee, 1453 capellam beate Columbe extra dictum locum de Spietz fondatam, […] que quasi venit ad ruinam, 1585 minem guot zuo Fullensee geleggen, so vß der Cappellen die Sancta Colomba geheyßen, gemachet vnd erbuwen ist; BENB I/2: 70; WILDERMANN/PASCHE 1993: 93, Nr. 57); ‒ Nellenbalem, Balm, überhängende Felswand in der Gemeinde Grindelwald BE (< St. Petronella: 1520 in zu einem bruder zu Sant petronellen anzunämen, 1535 an gletscher bÿ Sant Peter Nellen, 1577 Sancta Petronella, 1620 An diesem berg bey Petronell/ Darvor ein Wallfart/ vnd Capell/ Jm Bapstumb auffgerichtet war/ Ein
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Die von HeiligenN abgeleiteten Toponyme verweisen über die entsprechenden Patrozinien hauptsächlich auf den Standort oder auf ehemaligen Besitz bestimmter Klöster, Kirchen, Kapellen, Altäre oder Heiligenbilder.9 Der Romanist Hugo GLÄTTLI (1937: 80-84) unterschied in seiner Dissertation drei Etappen, in denen ein HeiligenN zum OrtsN wird: Der Name bezeichnet zunächst (1.) nur die Kirche (basilica, ecclesia, oratorium, cella etc.) des Heiligen (z.B. ecclesia sancti Martini), danach (2.) das zugehörige Grundstück, dessen Ertrag die Ausübung des Kultes ermöglicht (z.B. terra sancti Martini), und zuletzt (3.) die Häusergruppe, die die Kirche umgibt (z.B. villam que dicitur ad domnum Martinum), wobei oft auch ein älterer SiedlungsN verdrängt wird (ad villam que modo dicitur sanctus Prothasius que tunc dicebatur Basuges; Beispiele nach GLÄTTLI 1937: 80-81).
2 Toponymie und amtliche Nomenklatur 2.1 Nomenklatorische Kompetenz Entsprechend dem dreistufigen Staatsaufbau der modernen Schweiz mit den Ebenen Bund, Kanton und Gemeinde ist auch die nomenklatorische Kompetenz, d.h. die Verwaltung der offiziellen Schreibung der Toponyme, auf diese drei Stufen verteilt: Der Bund (1.) definiert in einem gesamtschweizerischen Ortschaftenverzeichnis10 die Schreibung der Namen der politischen Gemeinden, der Dörfer und Weiler sowie einer Anzahl Punkte von nationalem Interesse (z.B. touristische Ziele und Bahnstationen). In der Kompetenz der Kantone (2.) liegt die Auswahl und amtliche Festlegung der Schreibung derjenigen Flur- und GeländeN, die das kartographierte Gebiet der Schweiz mit einem lückenlosen Netz von benannten Polygonen unterschiedlicher
grosser Gletscher hanget dar/ Hat gantz bedeckt dasselbig ort/ Mit Haeusern muß man rucken fort, 1642 ein Capellen zu S. Petronel, 1816 Nellenbalm od. Ort der Petronellen-Kapelle, NellenSchopf; BENB I/4, 16-17; HALLER 1900-1902 I: 52–53; REBMANN 1620: 487–488; COOLIDGE 1911). 9 Vgl. GLÄTTLI (1937), MOSER (1958), MOSER (1959), BENZERATH (1914), DORN (1917), STÜCKELBERG (1903), den von WILDERMANN/PASCHE (1993) herausgegebenen Visitationsbericht der Diözese Lausanne von 1453, die überregionale Zusammenfassung der Pouillés von CLOUZOT (1940/1941) und die Arbeit zu den Stiftungsheiligen der Diözese Sitten von GRUBER (1932). 10 Bundesamt für Statistik. Amtliches Gemeindeverzeichnis der Schweiz, Stand 10.04.16. ‒ Ortschaftenverzeichnis der Schweiz. Ausgabe 2006. Nachträge.
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Größe überziehen.11 Die Namen der öffentlichen Straßen und Plätze schließlich werden von den jeweiligen Gemeinden (3.) bestimmt. Die amtliche Nomenklatur auf allen drei Stufen ist eine mehr oder weniger willkürliche Auswahl aus der gesamten tatsächlich vorhandenen und aktuell (oder früher) verwendeten Toponymie. Außerdem kann ein Name in verschiedenen sprachlichen Formen verschriftlicht erscheinen12 und andererseits ein und derselbe Ort verschiedene Namen tragen.13
2.2 Heilige in Gemeindenamen Die Anzahl der politischen Gemeinden (Kommunen)14 der Schweiz, deren Name auf einen HeiligenN zurückgeht, ist nicht besonders groß. Nach dem Lexikon der Schweizerischen Gemeindenamen (LSG, Register) sind es 71, etwa 2,5 Prozent bei einer Gesamtzahl von 2866 Schweizer Gemeinden im Stichjahr 2002.15 Für den Kanton Bern liegt dieser Prozentsatz etwas tiefer, bei 1,4 Prozent. Fünf der Namen der aktuell 352 Berner Gemeinden gehen auf einen HeiligenN zurück: Saint-Imier16 nordwestlich von Biel/Bienne, St. Stephan im oberen Simmental, Beatenberg oberhalb des Thunersees, Fraubrunnen im Berner Mittelland und Frauenkappelen westlich der Stadt Bern.17
11 Und die Bestandteil der Amtlichen Vermessung und damit des Grundbuchs sind. 12 Etwa in zweisprachigen Gemeinden wie Biel/Bienne BE (LSG: 153) oder Courgevaux/Gurwolf FR (LSG, 270). 13 Z.B. die Gemeinde Gänsbrunnen SO, die auf französisch Saint-Joseph heißt und im untergegangenen lokalen Patois Busá (vgl. LSG: 379; KULLY 2005: 304–308). 14 Die politische Gemeinde ist seit der Helvetik bzw. seit der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 „die bürgernächste Einheit und die unterste Stufe der öffentlichen Verwaltung“ (HLS V: 186-193) im zusammen mit den Ebenen Kanton und Bund dreistufigen Staatsaufbau der Schweiz. 15 Vgl. LSG, 34. Seither hat im Zuge von Reorganisationsbestrebungen die Zahl der politischen Gemeinden durch Fusionen und Eingemeindungen deutlich abgenommen, auf aktuell 2289 (nach dem Ortschaftenverzeichnis der Schweiz; vgl. auch HLS V: 200 und 190). 16 884 cellam sancti Himerii (LSG: 783). ‒ Der Ort stieß allerdings erst 1815 zum Kanton Bern. Politisch hatte er zuvor zum Fürstbistum Basel, kirchlich bis zur Reformation zum Bistum Lausanne gehört. 17 1352 sant Stephan (LSG: 794), 1357 uffen sant Beaten berge (LSG: 129), 1246 Fons beatae Marie (LSG: 366), 1257 Capella sancte Marie (LSG: 366).
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2.3 Exkurs: Heilige in Gemeindewappen Spätestens seit der Landesausstellung von 1939 mit dem eindrücklichen „Fahnenhimmel“ über der „Höhenstraße“ im Kernbereich der Ausstellung18 besitzt jede Schweizer Gemeinde auch ein Gemeindewappen. Dieses bezieht sich häufig auf die ehemalige Zugehörigkeit zu einem historischen Herrschaftsverband oder auf eine lokale Besonderheit z.B. topographischer Art. Oft ist es auch ein sprechendes Wappen, d.h. dessen Schöpfer versuchte den OrtsN bildlich, wiewohl aus sprachhistorischer Sicht meist etymologisch unzutreffend, zu deuten.19 Daneben erscheint aber nicht selten auch ein ehemaliger oder aktueller Kirchenpatron im Gemeindewappen, in persona oder vertreten durch Attribute.20 Am häufigsten zeigen sich hier die Heiligen Georg,21 Martin22 und die Apostelfürsten Petrus23 und Paulus.24 Welche Überlegungen und Schritte jeweils zur Auswahl eines Bildmotivs für ein Gemeindewappen geführt haben mögen, ist noch nicht großflächig untersucht. Neben (ikono-)graphischen Gründen (einfache, optisch ansprechende Gestaltung unter Ein-
18 LA (1939: 8, 63), Abbildung; ANGST/CATTANI (1989: 20, 56). Das Motiv wurde auch an der folgenden Landesausstellung 1964 in Lausanne mit einer „Wappenpyramide“ wieder aufgenommen (vgl. HLS V: 191). 19 Z.B. Beinwil SO: Gebeine; Biel/Bienne BE: Beile; Büchslen FR: Gewehre; Caneggio TI: Hundekopf; Champagne VD: Pilze; Courgevaux/Gurwolf FR: Wolf; Schinznach AG: Mond und Sterne (≈ „Scheint zur Nacht“); Schöfflisdorf ZH: Schaf etc. (vgl. LSG: 132, 153, 198, 217, 229, 270, 808, 813). 20 Z.B. die Heiligen Laurentius mit Rost bzw. vertreten durch das Attribut Rost: Dallenwil NW, Bülach ZH, Villars-le-Grand VD (LSG: 285, 200, 929); Mauritius, Anführer der Thebäischen Legion, vertreten durch ein Mohrenhaupt: Avenches VD, Flumenthal SO (LSG: 110, 361; KULLY 2005: 292 Anm. 3); Nikolaus von Myra, vertreten durch ein Buch mit drei goldenen Äpfeln: Niederbuchsiten SO (LSG: 645); Quiricus und Julitta: Andiast GR (LSG: 90); Stephanus als Mönch mit Steinen, Buch und Palmzweig: St. Stephan BE (LSG: 794); Verena mit Krug und Kamm: Stäfa ZH (LSG: 849) etc. 21 Georg zu Fuß oder zu Pferd mit Drache: Castiel GR, Chermignon VS, Corminboeuf FR, SaintGeorge VD, Schlans GR, Stein am Rhein SH, Waltensburg/Vuorz GR (LSG: 221, 240, 262, 782, 808, 853, 953). 22 Martin zu Pferd oder zu Fuß mit Mantel: Cazis GR, Saint-Martin VS, Soazza GR, Titterten BL, Zillis-Reischen GR (LSG: 224, 784, 838, 875, 988). 23 Petrus, vertreten durch Schlüssel oder Schlüsselpaar: Bourg-Saint-Pierre VS, Embrach ZH, St. Peter GR, Suchy VD, Tägerig AG, Wallisellen ZH, Walliswil bei Wangen BE, Wangen an der Aare BE, Würenlos AG, Zumikon ZH (LSG: 178, 320, 794, 858, 863, 952, 955, 980, 991). 24 Petrus und Paulus, vertreten durch Schlüssel und Schwert: Allschwil BL, Camignolo TI, Schluein GR, Vorderthal SZ (LSG: 83, 216, 811, 940).
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haltung der Gesetze der Heraldik) ist vor allem auch an die Eigenwahrnehmung der Gemeinde vor historischem, kulturellem oder wirtschaftlichem Hintergrund zu denken. So kann etwa das Patrozinium des fränkischen Nationalheiligen Martin (LMA VI: 344–345; WIMMER/MELZER 1984: 566-567) auf ein hohes Alter bzw. eine früh belegte Nennung einer Siedlung25 verweisen und die Darstellung dieses Heiligen im Gemeindewappen vielleicht auch darauf, dass man sich am Ort dieser Tatsache bewusst ist.
2.4 Belegkorpora Das Lexikon der Schweizerischen Gemeindenamen (LSG)26 stellt für alle Schweizer Gemeinden eine aufwändig recherchierte Belegreihe zur Verfügung. Die verhältnismäßig wenigen Beispiele aber, in denen ein Schweizer GemeindeN auf einen HeiligenN zurückgeht, reichen kaum für eine aussagekräftige Untersuchung der Hagiotoponymie aus. Im Ortschaftenverzeichnis der Schweiz mit den amtlichen Namen der Fraktionen der politischen Gemeinden lassen sich zwar weitere Toponyme mit Bezug zu einem HeiligenN finden.27 Doch enthält diese Liste nur die aktuellen Namen und keine historischen oder mündlichen Belege. Umfangreicheres Belegmaterial bieten lokale und kantonale Namensammlungen.28 Grundlegend für das Gebiet des Kantons Bern ist die Sammlung der in den
25 Cazis GR: Cacias a. 926, Chazzes a. 940 (LSG: 224); Zillis-Reischen GR: Ziranes a. 801–850 (Kopie 16. Jh.) (LSG: 988). ‒ Ein Martinspatrozinium ist auch für Rohrbach BE belegt, eine der wenigen bereits im ersten Jahrtausend urkundlich genannten Berner Siedlungen: 795 Sacrosancta ecclesia, que est constructa in honore sancti Martini domni […] Actum in atrio sancti Martini in loco, qui dicitur Roorbah (FRB I: 216, Nr. 35: die früheste Originalurkunde für das Gebiet des Kantons Bern). 26 Das unter der Leitung des Romanisten Andres Kristol erarbeitete LSG ging direkt aus dem Projekt ONOMA der Schweizerischen Landesausstellung von 2002 (vgl. LSG: 34) hervor, welches mit der sprachwissenschaftlich-toponomastischen Präsentation der GemeindeN implizit an den „Fahnenhimmel“ und an die „Wappenpyramide“ der Landesausstellungen von 1939 und 1964 anknüpfte. 27 Z.B. fünf weitere für den Kanton Bern: St. Niklaus bei Koppigen (Gemeinde Koppigen), St. Niklaus bei Merzligen (in den Gemeinden Bellmund und Merzligen), St. Johannsen (Gemeinde Gals), St. Petersinsel (Gemeinde Erlach), Beatenbucht (Gemeinde Sigriswil). 28 Weiteres unter www.ortsnamen.ch (10.06.16), dem Webportal der Schweizerischen OrtsNForschung.
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1940er Jahren von dem Dialektologen und Volkskundler Paul Zinsli begründeten Forschungsstelle für Namenkunde der Universität Bern.29
3 Die Reformation und ihre Folgen 3.1 Grenzlinien Das siedlungsgeschichtlich komplexe Gebiet des Kantons Bern umfasst voralpines und hochalpines Gelände sowie große Teile des Schweizer Mittellandes und geht im Westen auf breiter Front in die ehemals dialektal (in frankoprovenzalische und ostfranzösische Patois) aufgesplitterte, heute durchgehend aber französischsprachige Romandie über. Vielleicht schon seit dem Frühmittelalter und bis zur Reformation bildete die Aare die Grenze zwischen den zwei Kirchenprovinzen Besançon und Mainz. Dabei gehörte der Berner Kantonsteil links der Aare hauptsächlich zum Bistum Lausanne, der Teil rechts der Aare bzw. innerhalb des Aarebogens zum Bistum Konstanz.30 Die Stadt Bern selbst lag in der Diözese Lausanne und das anschließende, aber rechts der Aare gelegene Kirchspiel Muri in der Diözese Konstanz, ebenso wie die Stadt Thun rechts der Aare, deren alte Kirche Scherzligen auf dem linken Ufer der Aare aber wiederum in der Diözese Lausanne lag. Mit der Durchführung der Reformation wurde das Gebiet des Kantons Bern aus dieser im wesentlichen zweigeteilten und von außen bestimmten kirchlichen Verwaltung herausgelöst. Mit dem Paradigmenwechsel der Reformation entstanden so neue Grenzlinien, darunter eine zeitliche, die das ‚Davor‘ unwiederbringlich vom ‚Danach‘ trennte.
29 Die Forschungsstelle gibt in lemma-alphabetischer Reihenfolge das auf zwei Hauptbände angelegte Ortsnamenbuch des Kantons Bern (BENB) heraus. Davon sind bis jetzt die Teilbände I/1 bis I/4 erschienen. Teilband I/5 mit den Lemmata Q, R und S-Sch, darunter auch ein zusammenfassender Artikel San(k)t, steht kurz vor der Veröffentlichung. Neben den Karteien der Forschungsstelle liefern auch bereits publizierte Lemmaartikel (u.a. Heilig, Chappele, Kappelen, Käppeli in BENB I/2: 225–226, 419–424) Daten für eine Beschäftigung mit dem Thema HeiligenN aus Sicht der Berner OrtsN-Forschung. 30 Die wichtigste Ausnahme bildete das ehemals reichsfreie Haslital, das Gebiet oberhalb des Brienzersees im Berner Oberland, das links wie rechts der Aare zur Diözese Konstanz gehörte (GLATTHARD 1981: 97, 160; STETTLER 1964: 104–110).
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3.2 Abschaffung der Skulpturen, Altare und Bildtafeln Unmittelbar im Anschluss an die ‚Berner Disputation‘ (6.-26. Januar 1528) (RqBE I/6.1: 338; FELLER 1953–1954 II: 155–161) schritt die Obrigkeit zur Durchführung der Reformation. Entsprechend der These VI der Disputation, wonach Christus allein „mittler und fürsprech“ zwischen Gott Vater und den Gläubigen sei, und der These VIII, wonach Bilder zur Verehrung „wider gotts wort“ seien (STECK/TOBLER 1923: 521), war beschlossen worden, dass die „Bilder“, „Götzen“ und „Althäre“ „dannen gerüttet“, die „taffellen dessglichen hinweg gethan werden“.31 Dabei sollte zwar anfangs mit Geduld und Verständnis für diejenigen vorgegangen werden, die Zeit brauchten, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen.32 Doch wurde die Gangart bald verschärft.33
3.2.1 Das Marienbild von Oberbüren Nicht lange zugewartet hatte der Berner Rat im Fall des weitherum berühmten Marienbildes von Oberbüren BE, des bedeutendsten ‚Sanctuaire à répit‘34 der Eidgenossenschaft (VASELLA 1966: 10; SANTSCHI 1985: 129). Zwar hatte sich der Rat in den Jahrzehnten zuvor mehrfach und vehement gegen die theologischen Zweifel des Bi-
31 Berner Ratsmanual 216, 93, zitiert nach STECK/TOBLER (1923: 611, Nr. 1487). 32 Reformationsmandat vom 7. Februar 1528: […] So wir aber guot wüssen tragen, das ettlich der unsern, es syend sondrige kilchen old personen uß mangel evangelischer leer […], ab soelichen nüwerungen schüchen […] haben, denselben zuo underhalt und züchtigung wellen wir nit mit inen gachen, sonders mitleiden mit inen haben […]; soellich kilchhoerinen woellen wir nit mit ruiche, noch vorgericht antasten, sondern einer jeden jetzmal iren fryen willen lassen, die maeß und bilder mit merer hand und rath abzethuond (Rq I.VI.1: 341–342; STECK/TOBLER 1923: 631– 632, Nr. 1513). 33 So schriftlich bereits am 28. Juni 1528 an Stadt und Land: […] so begegnet doch uns, dass an etlichen orten unserer oberkeiten etlich understanden, die götzen, die gott so thür und hoch verboten hat, wider harhin ze stellen, und die mess, die keinen grund in göttlicher schrift hat, widerum ufzerichten […]. Und uf söllichs zuo abstellung und fürkommung söllichs irtumbs, so ist unser ernstig will und meynung, dass all die bilder und götzen, so by üch noch vorhanden sind, ane verzug harfürgetragen, verbrendt und zerschlagen, darzuo all altaren geslissen und umbkert werdind, die syen in der kilchen oder hüsern (STECK/TOBLER 1923: 753, Nr. 1753). 34 Das Verzeichnis der vom Herausgeber Paul HOFER so genannten ‚Bruderschaft‘ der Kapelle von Oberbüren umfasst über 1250 Namenseintragungen, mit Erzherzog Sigismund von Österreich und seiner Frau Katharina, Markgraf Rudolf von Hachberg-Sausenberg und Pfalzgraf Oswald von Thierstein auch solche hochherrschaftlicher Abkunft (HOFER 1905–1907: 363).
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schofs von Konstanz gewehrt und sich geweigert, die Wallfahrt zur wunderbaren Wiederbelebung totgeborener Kinder mit nachfolgender Nottaufe und Beisetzung in geweihter Erde einstellen zu lassen (VASELLA 1966: 11–12, 31–32). Dabei durften dem Rat nicht einfach nur pekuniäre Überlegungen unterstellt werden. Auf die von ihr mitverantwortete Frage, was mit den Seelen Ungetaufter, speziell den Seelen unschuldiger Kinder, passierte, hatte die Kirche offenbar keine befriedigenden und tröstenden Antworten gefunden (vgl. PAHUD DE MORTANGES 2004: 32–33). Allein gelassen in der Wahl zwischen Praktiken der Volksfrömmigkeit und dem Versuch, Gottes unergründlichen Ratschlag zu akzeptiern, wählten viele Eltern frommen Herzens das Naheliegende, Vorhandene, die Wallfahrt. Nach Annahme der Reformation war das nun nicht mehr möglich. Nicht zuletzt stand auch die Autorität der Obrigkeit auf dem Spiel.35 Der Rat beschloss bereits Ende Februar 1528 die Schließung der Kirche in Oberbüren und die Zerstörung des Marienbildes (VASELLA 1966: 34), was unter Glockengeläute im Beisein einer großen Volksmenge und, mit den Worten des Chronisten Anshelm, „nitt ohn grusen“36 stattfand.
3.2.2 Abbruch und Umbau der „Feldkirchen“ Mit dem Entfernen bzw. Zerstören der Heiligenstatuen und -skulpturen war die Sache nicht erledigt. Es zeigte sich, dass die Bevölkerung, auch die der katholisch gebliebenen Nachbarkantone, Mühe bekundete, altgewohnte Kulte aufzugeben. So wurde mancherorts weiterhin die Messe gelesen (RODT 1912: 117–119), es zogen weiterhin Prozessionen zur Höhle des heiligen Beatus37 und es wurden Bitten und Spenden zur
35 Ebenso wie im unglücklichen Umgang mit der Täuferbewegung. 36 Und allso ward durch ein rhattsbottschaft zuo Oberbüren mit zuosammengelüteten glogken vor vil volcks nitt ohn grusen zerschytet und verbrennt die lang und wyt gesuochte und vereerete Maria, darzu ire wunder und werckstatt mitt sampt allen iren götzen, gytts- und mässpfaffendienst zerstört (zitiert nach DE QUERVAIN 1906: 249). 37 Beatus anvancierte im 16. und 17. Jh. zum eigentlichen Schweizerapostel (vgl. STETTLER 1964: 93). ‒ Hans Rudolf Rebmann (1566-1605), Pfarrer in Thun und Muri bei Bern, findet in seinem umfangreichen Lehrgedicht, einem Gespräch zwischen den Bergen Stockhorn und Niesen über ‚Gott und die Welt‘, bereits wieder achtende Worte für die populäre Legende: Darneben hat Vorzeit sein Cellen g'han Sanct Batt/ Ja wie man schreibt von ihm sein g'schicht/ Das laß ich in seim werth und g'wicht (REBMANN 1606: 195). Auch sein Sohn Valentin, Pfarrer in Spiez, der einige Jahre später eine zweite, beträchtlich erweiterte Ausgabe des Werks besorgte, äußerte sich verehrungsvoll, aber bezüglich dem nicht nachlassenden Besucherstrom in der Beatushöhle durchaus kritisch: Von Sant Batt wir auch sagen woellen/ Ein ganz fuernemmer heylger Man/ Soll da sein
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Kirche von Oberbüren gebracht (DE QUERVAIN 1906: 104; VASELLA 1966: 34–35). Schließlich sahen sich Rat und Geistlichkeit genötigt (DE QUERVAIN 1906: 101–109), auch die schwer zu kontrollierenden „veltkilchen“, d.h. Kirchen und Kapellen, die nicht Pfarrkirchen waren,38 zumauern39 oder abbrechen zu lassen oder sie profaner Nutzung zuzuführen.40
3.2.3 Abänderung der Kolossalfigur am Berner Christoffelturm Der heutige Bubenbergplatz beim Berner Bahnhof hieß von 1858 bis 1898 Christoffelplatz (WEBER 1976: 47). Hier stand seit der Mitte des 14. Jh. der mächtige Christoffelturm, der größte der vier Haupttortürme der Stadtbefestigung, benannt nach der auf der inneren, nach der Stadt gewandten Seite befindlichen gut zehn Meter hohen Kolossalfigur des heiligen Christophorus (HAHN-WOERNLE 1972: 103; WEBER 1976: 58–59). Diese wurde nach der Reformation durch Entfernung von Christusknabe, Stab und Nimbus und durch Bewaffnung mit Zweihänder und Hellebarde zu einer Figur
wohnung g'ornet han/ Gar bald zu der Apostlen zeit […] Jn soll Santt Peter her han gsendt […] Sant Batt war wol ein Geystlich Mann/ Der mengklichen viel guts gethan/ An diesem ort ein zeit lang lebt/ Jetz in seligen Froeuden schwebt […] Jaehrlich kommend viel Leut dahin/ Jn dieser Cell zesuchen jhnn/ Ob wol er mehr dan thausent Jahr/ Gar nie in dieser Cellen war/ Was solt ein so seliger Mann/ Fuer Froeud in solcher Wildnuß han? Noch lauffens Jaehrlich in das Loch/ Da sie jhn nie gefunden doch/ Warlich ich weiß wer Jesum Christ/ Welcher der eintzig Heiland ist/ Mit wahrem Glauben recht erkent/ Der selb nit nach Sant Batten rent (REBMANN 1620: 474– 476). 38 Vgl. DE QUERVAIN (1906: 200, 203): Juli 1532. Das ouch die veltkilchen, als Büren, Habstetten, Riggensperg und wo die sind, geschlissen, wie ußgangne mandat wisend, och die helm uff den kilchen, so nit pfarren sind, abgethan. ‒ 1. August 1532: Alle die kilchen und tempel, welche nit pfarren sind, sol man schlyssen, oder aber die helm abbrechen, und dermaß si verendern, das sy nimmer götzenhüser glichen. 39 Vgl. HALLER (1900: I, 19): 1530. Merz 11. Sannt batten loch vermuren. 40 Vgl. HALLER (1900: I, 52–55): 1530. Mai 9. An Tschachtlan zu frutingen und venner, sollen die veldchilch an chandelsteg endren in ein behusung oder abzebrechen. ‒ 1532. Mai 5. Büren halb, von wegen der capell, so hinweggeschliffen werden, ouch alle hällm, so uff den kilchen sind, so man nit brucht. ‒ 1532. Sept. 21. Vogt Sumißwalt, soll ußem cappelli im Schloß ein kornschütte machen. ‒ 1533. Feb. 21. Die kappellen zum gutten brunnen und mätteli denen von khoudorff umb 130 lb. gelassen. ‒ 1533. Merz 7. Louppen, Balm S. Radwan, die capellen von stund an abschliffen. - ouch die Cappellen by müllinen. ‒ 1533. Okt. 12. Dem Schaffner zu Rüggisperg, die capellen zu fultigen abbrechen. ‒ 1533. Okt. 19. Den von fülligen, den durm in der capellen und das gloggli bliben lassen, die wölff zu stürmen. ‒ 1535. April 30. Denen von Twan erloupt, die capelle ze behusen, doch mit dem vorbehalt, das die, so da wonen werden, kein hüner, noch ander vee da züchend, so den reben schädlich.
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des biblischen Riesen Goliath abgeändert, behielt aber im Volk den Namen Christoffel. Ihre Schicksalsstunde schlug erst mit der Niederlegung der Stadtbefestigung im 19. Jh. bzw. dem von heftigen Diskussionen begleiteten Abbruch des Christoffelturms 1864/1865. Der Kopf mit Brustansatz, beide Füße und vier Finger der linken Hand gelangten in das Berner Historische Museum, der zugehörige Daumen (zum Trinkgefäß umgeschnitzt) in den Besitz der Zunftgesellschaft zu Schmieden, der Rest der Figur wurde zugunsten der Armenfürsorge als Feuerholz in Stücke geschlagen (HOFER 1952: 152–156). Beim Bau der Fußgängerunterführung am Bahnhof 1973/1974 wurden die Fundamente der Stadtmauer und des Christoffelturms freigelegt (WEBER 1976: 59) und an Ort und Stelle sichtbar konserviert. Die Fußgängerverbindung trägt seitdem den Namen Christoffel-Unterführung.41
3.3 ‚Überlebende‘ Berner Hagiotoponyme Die Belegsammlung des Ortsnamenbuches des Kantons Bern enthält als Hagiotoponyme erkennbare Flur- und SiedlungsN mit einem der folgenden HeiligenN als Bestimmungswort: Adelheid, Anton, Bartholomäus, Beatus, Benedikt, Blasius, Christophorus, Columba, Erhard, Eusebius, Firmin, Drei Könige, Gallus, Gangolf, Georg, Gilg, Himerius, Jakob, Johannes, Jost, Katharina, Margret, Maria/Unser Frau, Maria Magdalena, Martin, Mauritius, Michael, Nikolaus, Oswald, Paulus, Petronella, Petrus, Radegundis, Stephanus, Sulpitius, Theodul, Ulrich, Urs, Verena, Vinzenz, Wadren (?), Walburg, Wernhard (?), hl. Geist, hl. Kreuz.42 Von den damit gebildeten historisch belegten Toponymen sind die meisten heute nicht mehr in Gebrauch. Nur eine kleine Anzahl der urkundlich greifbaren43 Berner Hagiotoponyme wird bis heute verwendet. Neben den schon auf den vorigen Seiten genannten SiedlungsN sind das im Überblick: Bänzplatz/Sankt Bendichtplatz (< St. Benedikt), Rebgelände, Gde. Biel/Bienne; Bartlomehof (< St. Bartholomäus), Hof, Gde. Safnern; Gallenblatten, Galli (< St. Gallus), Wald, Grundstück, Gde. Hasliberg;
41 Auch früher schon hatten der Turm und sein Heiligenbild namenstiftend gewirkt. Neben dem bereits erwähnten Christoffelplatz und der gleichzeitig entstandenen Christoffelgasse gab es seit dem 17. Jh. auch eine Christoffel genannte Bastion der Stadtbefestigung (HOFER 1952: 89, 92). Besonders zu erwähnen ist noch der ehemalige Spital- oder Christoffelbrunnen, der auf dem Brunnstock eine Davidsfigur trug, welche die ihr gegenüberstehende Goliathfigur am Turm anschaute (HOFER 1952: 245–249). 42 Für vollständigere Angaben vgl. den Artikel San(k)t in BENB I/5. 43 Dass es einmal viel mehr gewesen sein müssen, beweisen die Listen der ehemaligen Berner Patrozinien (Kirchen, Kapellen, Altare) bei BENZERATH (1914) und MOSER (1958 und 1959).
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Glumme (< St. Columba), Kirche, Gde. Spiez; Hanse/St. Johannsen (< St. Johannes), ehemaliges Kloster Erlach, später Fabrik, heute Maßnahmenzentrum, Gde. Gals; Joderheiti (< St. Theodor), Heimwesen, Joderblätze, Landstücke, Gde. Gsteig; Petersinsel, Insel im Bielersee, ehemaliges Kloster, Rebgelände, Gde. Twann-Tüscherz; Sampfrene (< St. Verena), Schwemmland, Kulturland an der Aare, Gde. Radelfingen; Sanktimmerräbe (< St. Himerius), Rebgebiet, Gde. Ligerz; Santihansbrunne (< St. Johannes), Quelle, Kulturland, Gde. Oberbipp; Santiklaus (< St. Nikolaus), Kulturland, Gde. Oberbipp; Santiklause (< St. Nikolaus), Heimwesen, Gde. Unterseen; Santimmer (< St. Himerius), Heimwesen, Gde. Eriswil; Sannt Jodel (< St. Theodor), Heimwesen, Kultur- und Wiesland, Gde. Gsteig; Tosel (< St. Oswald), Hof, Gde. Trachselwald; Zantiglause (< St. Nikolaus), Gelände, Gde. Schwanden; Zantihanser (< St. Johannes), Wald, Gde. Rüegsau.
4 Die ‚Berner‘ Toponyme der heiligen Adelheid Den Abschluss dieses Überblicks über die Berner Hagiotoponymie soll eine Präsentation und Kommentierung der toponomastischen Spuren einer Heiligen machen, die aus Westschweizer Sicht sogar als ‚Einheimische‘ betrachtet werden kann: der heiligen Adelheid (*um 931, †999), Tochter des Burgunderkönigs Rudolf II. und der Königin Bertha und Ehefrau Kaiser Ottos I.
4.1 Belege Boltigen: um 1320 Ruodolfus de Wizenbach vel sui heredes II den. de terra sancte Adelheidis sita in Wizenbach. Ruodolfus der Niderosto II den. de terra sancte Adelheidis, sita ibidem in Wizenbach […] In Symenecha an der mattun, de terra sancte Adel[heidis] sita in monte dicto Niderhorn et ibidem an der mattun […] Et nota, quod bona sancte Adel[heidis], que coloni dicte ville hereditarie possident et nobis sunt tributaria, sunt sita partim in dictis locis, partim in monte dicto Uschlatun […] partim sunt sita dicta bona in monte dicto Gestellun […] jn adlams ryet Berctoldus Eschere et Ulricus Kuelere IX den. de bonis sancte Adelheidis sitis ibidem (FRB V: 213–214, Nr. 161). Matten: 1242 in curte sancte Adelhedis de Matton (FRB II: 231–232, Nr. 217), 1257 advocatiam terre et aliarum possessionum sancte Adelheidis in villa et ejus confiniis de Matton (FRB II: 451–452, Nr. 429), 1344 den Sússelacher, gelegen in der dorfmarch ze Matton am obern velde, der vor mals galt […] in dem rechtte sant Adelheit guettern (FRB VII: 24–25, Nr. 24).
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Oberwil im Simmental: um 1320 In Albo castro H. de Rumlingen de terra sancte Adelheidis in Wellenberch […] In villa dicta ufen Buel heredes Risen III den. de terra sancte Adelheidis ibidem; heredes Clemente II den. de terra sancte Adelheidis, sita ibidem ufen Buel […] In Birswile Uolricus de Fonte II den. de terra sancte A[delheidis] sita ibidem. Petrus filius Bur. de Fonte II den. de terra sancte Adelheidis sita ibidem. Here[des] domini Rovdolfi militis de Fonte II den. de terra sancte A[deleidis] sita ibidem. Heredes Henr[ici] dicti Statuzis II den. de terra sancte Adelheidis sita in Birswile […] In Zwistenbach IIII den. de terra sancte Adelheidis sita ibidem. Ufem Ryede V den. de terra sancte Adelheidis sita ibidem (FRB V: 213–214, Nr. 161). Uetendorf: 1272 quicquid predii proprii et emphiteotici a sancta Adelhedi habiti in villa de Utendorf habebam (FRB III: 12, Nr. 14), 1370 von sant Adelheit guetren, die in dien vorgenanten guetren ligend (FRB IX: 220-221). Uttigen: 1396 die Kendertscha – Matte zu Uttingen – an sant Adelheiden brunnen und an den kalten brunnen stossent (UT 98, K. 316).
4.2 Kommentar Die zitierten Berner Urkunden des 13. und 14. Jh. belegen Güter im Niedersimmental (Boltigen, Oberwil), in und bei Uetendorf (Uetendorf, Uttigen) und in Matten bei Interlaken, die metonymisch nach dem Besitz des Elsässer Klosters Selz als Adelheidgüter etc. benannt sind.44 Das Benediktinerkloster Selz nördlich von Straßburg war Lieblingsgründung und Grablege der schon bald nach ihrem Tod als Heilige verehrten Kaiserin Adelheid. Sie hatte im Jahr 994 ihren Enkel Otto III. veranlasst, dem Kloster die (burgundischen) Königshöfe und Herrschaften Kirchberg bei Burgdorf (vgl. WELTI 1905; WELTI 1910), Wimmis und Uetendorf als Geschenk zu übertragen.45 Von dem ehemaligen Besitz ‚Adelheids‘ bzw. des Klosters Selz im Simmental (Gemeinden Boltigen und Oberwil) haben wir eher zufällig Kenntnis durch ein quellenkritisch nicht einfach zu deutendes Dokument aus dem Berner Staatsarchiv. Es ist aus vier verschieden großen Pergamentstücken zusammengenäht und mit zahlreichen
44 Zum weit gestreuten Besitz des Klosters Selz s. die Akten der Tagung vom 15.-17. Oktober 1999 (STAAB/UNGER 2005) und darin besonders die Referate von STAAB (2005: 135–145) und VON PLANTA (2005: 279–285). 45 Vgl. LMA I: 145–146; LMA VII: 1738; HLS I: 98; Rq13: XCIII; FRB I: 287–288, Nr. 53.
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angehefteten Zusätzen versehen und verzeichnet mit Einträgen in drei verschiedenen Händen die Einkünfte der Kirchen von Därstetten und von Erlenbach im Simmental.46
4.3 Exkurs: Ein Glasgemälde in der Kirche von Kirchberg Im Gotteshaus der Gemeinde Kirchberg ist ein Glasgemälde mit der Darstellung der heiligen Adelheid erhalten geblieben (Abb. 1). Die auf die ottonische Schenkung zurückgehenden herrschaftlichen Rechte des Klosters Selz waren im Laufe des 15. Jh., vollständig im Mai 1481, in den Besitz des Standes Bern übergegangen.47 Die Kirche wurde im Jahr 1506 neu gebaut, die Fenster sind Stiftungen zugewandter Orte. Der Stand Bern als Grund- und Patronatsherr der Kirche stiftete zwei Standesscheiben und je ein Bild des heiligen Vinzenz und der Madonna. Die Scheibe mit der heiligen Adelheid dürfte von der Rechtsvorgängerin Berns, der Abtei Selz, geschenkt worden sein. Zwei links und rechts davon angebrachte Scheiben ungeklärter Provenienz zeigen die vermutlichen Patrone der Kirche, den heiligen Martin und die Madonna (MOSER 1958: 35; LEHMANN 1913: 112–113).
5 Schluss In den Reformationsakten finden sich keine Hinweise darauf, dass der Berner Rat explizit von seiner zweifellos (wenn auch avant la lettre) vorhandenen nomenklatorischen Kompetenz Gebrauch gemacht hätte. Die untergegangenen Hagiotoponyme sind wohl ganz einfach mit dem oder der sie bezeichnenden Heiligen verschwunden bzw. durch einen neuen Namen ersetzt worden. Gelegentlich konnte, wo die Sache bestehen blieb, ein Hof, ein Rebberg, ein Wald oder eine Insel, und keine Gefahr einer Verbindung mit ‚ketzerischen‘ Verehrungspraktiken bestand, auch der alte Name weiter in Gebrauch bleiben.
46 Der Bearbeiter des Dokuments für das Berner Urkundenbuch FRB vermutete darin ein Zinsverzeichnis der Propstei Därstetten. 47 Hier und für das Folgende: LEHMANN (1913: 112–114).
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Abb. 1: Die heilige Adelheid als Gründerin der Abtei Selz. Glasgemälde von Hans Hänle in der Kirche von Kirchberg BE, Anfang 16. Jh. (LEHMANN 1913, 114)
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REBMANN, Hans Rudolph (1606): Ein Neuw/ Lustig/ Ernsthafft/ Poetisch Gastmal/ vnd Gespraech zweyer Bergen/ Jn der Loeblichen Eydgnoßschafft/ vnd im Berner Gebiet gelegen: Nemlich deß Niesens vnd Stockhorns/ als zweyer alter Nachbaren: Welches Jnnhalt Ein Physicam Chorographicam vnnd Ethicam Descriptionem von der gantzen Welt in gemein/ Vnd sonderlich Von Bergen vnd Bergleuten: Sonnetenweiß gestellt Durch H. Hans Rudolph Raebmann/ Dieneren deß Worts Gottes. Bern. REBMANN, Hans Rudolph und Valentin (1620): Ein Lustig vnnd Ernsthafft Poetisch Gastmal/ vnd Gespräch zweyer Bergen/ in der Loblichen Eydgnoßschafft/ vnd im Berner Gebiet gelegen: Nemlich deß Niesens/ vnnd Stockhorns/ als zweyer alter Nachbawren: Welches Jnnhalt Ein Physicam, Chorographicam vnd Ethicam descriptionem von der gantzen Welt in gemein: Vnd sonderlich von Bergen/ vnnd Bergleuten: Sonneten weiß gestellt durch Den Ehrenwürdigen vnnd Wollgelehrten Herren Hans Rudolff Rebman/ Dienern deß Worts Gottes zu Muri bey Bern. Vnd newlich auffs fleißigist nach den Geschrifften deß Herren Autoris (seliger Gedechtnuß) vbersehen/ vnd an vielen Orten/ durch seinen Sohn Valentin Rebman/ Dienern deß Worts Gottes zu Spietz/ vermehret vnnd gebesseret. Bern (http://dx. doi.org/10.3931/e-rara-7710). RODT, Eduard von (1912): Bernische Kirchen. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte. Bern. RqBE = Die Rechtsquellen des Kantons Bern (1902ff.). Aarau/Basel. 1. Teil: Stadtrechte. 13 Bände. Bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Emil Welti, Hermann Rennefahrt (1902–1979) und Paul BLOESCH (2003). SANTSCHI, Catherine (1985): Les sanctuaires à répit dans les alpes occidentales. In: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte. Revue d’histoire ecclésiastique suisse 79, 119–143. STAAB, Franz/UNGER, Thorsten (Hgg.) (2005): Kaiserin Adelheid und ihre Klostergründung in Selz. Referate der wissenschaftlichen Tagung in Landau und Selz vom 15. bis 17. Oktober 1999. Speyer. STAAB, Franz (2005): Der Besitz des Klosters Selz um 1000. Ein Netz klösterlicher Wirtschaftstätigkeit vom Mittelrhein bis in die Schweiz. In: Staab, Franz/Unger, Thorsten (Hgg.): Kaiserin Adelheid und ihre Klostergründung in Selz. Referate der wissenschaftlichen Tagung in Landau und Selz vom 15. bis 17. Oktober 1999. Speyer, 135–145. STECK, Rudolf/TOBLER, Gustav (Hgg.) (1923): Aktensammlung zur Geschichte der Berner Reformation 1521–1532. Bern. STEIMER, Bruno/WETZSTEIN, Thomas (2003): Lexikon der Heiligen und der Heiligenverehrung. Freiburg/Basel/Wien. STETTLER, Bernhard (1964): Studien zur Geschichte des obern Aareraums im Frühund Hochmittelalter. Thun.
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7 Abkürzungen AG: Kt. Aargau BE: Kt. Bern BL: Kt. Baselland BS: Kt. Basel-Stadt D: Deutschland dt.: deutsch
FR: Kt. Freiburg frz.: französisch Gde.: Gemeinde(n) GL: Kt. Glarus GR: Kt. Graubünden JU: Kt. Jura
K.: Kopie Kt.: Kanton lat.: lateinisch LU: Kt. Luzern m: Meter NE: Kt. Neuenburg
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NW: Kt. Nidwalden SG: Kt. St. Gallen SH: Kt. Schaffhausen SO: Kt. Solothurn SZ: Kt. Schwyz
TG: Kt. Thurgau TI: Kt. Tessin u.ä.: und ähnlich UR: Kt. Uri UW: Kt. Unterwalden
VD: Kt. Waadt VS: Kt. Wallis ZG: Kt. Zug ZH: Kt. Zürich
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Heiligenverehrung und ostmitteldeutsche Namen Zusammenfassung: In dem Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob und wie sich die spätmittelalterliche Heiligenverehrung im Osten Deutschlands in verschiedenen Namenkategorien aufzeigen lässt. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob es regionale Besonderheiten bezüglich der verehrten Heiligen bzw. in der Form der Namen gibt. Abstract: This paper examines in which way the late medieval veneration of saints in Eastern Germany is prevalent in different categories of names. The main focus is the question of regional differences regarding the worshipped saints and the form of the names.
1 Vorbemerkungen Das Thema „Heiligenverehrung und ostmitteldeutsche Namen“ stellt insofern eine besondere Herausforderung dar, als es sich bei Mitteldeutschland um das Kernland der Reformation handelt, so dass es zunächst um die Frage der Annäherungsmöglichkeiten allgemein und im Speziellen um eine Spurensuche im Namengut geht. Zugleich ist offenbar geworden, dass die während der DDR-Zeit gesteuerte historische Forschung das Thema Heiligenverehrung bzw. Frömmigkeit praktisch ignoriert hat,1 so dass mit Blick auf dieses Thema von Historikern gar von einer „terra incognita“2 gesprochen wird.3 Desweiteren ist innerhalb dieses Beitrags und bei der genann-
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2012 widmete sich der Leipziger „Tag der Stadtgeschichte“ erstmals dem Thema „Stadt und Glauben“. Die im Rahmen der wissenschaftlichen Tagung „Das religiöse Leipzig“ präsentierten Vorträge wurden 2013 veröffentlicht (vgl. BÜNZ/KOHNLE 2013). In einem Interview sagt Enno Bünz: „Aber die großen Forschungslücken bestehen vor allem noch in der regionalen Forschung und da ist Mitteldeutschland, das wir ja vornehmlich betrachtet haben, noch weitgehend eine terra incognita“ (www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/bluehendes_ kirchenleben_vor_der_reformation?nav_id=3790, 02.05.16). Lediglich dem Jakobuskult in Sachsen wurde bereits ausführlicher Aufmerksamkeit geschenkt, vgl. HERBERS/BÜNZ (2007).
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ten Quellenlage nicht der gesamte ostmitteldeutsche Raum fassbar, weshalb nur Stichproben gegeben werden können. Eine differenzierte Betrachtung des Ostmitteldeutschen, wie sie etwa WALTHER (1951) mit Blick auf den e-Laut vorlegte, war gar nicht angedacht. Natürlich lassen sich für Namen auch ganz kleinräumige Formvarianten aufzeigen, wie NAUMANN (1968) an dem -s-che Namen im Osterländischen und Meißnischen zeigt. Um einen Gesamteindruck gewinnen zu können, sollen sowohl OrtsN (SiedlungsN, StraßenN, FlurN), PersonenN als auch Patrozinien betrachtet werden. Für das zwischen 1524 und 1553 reformierte Gebiet ist es tatsächlich eine nicht ganz einfache Aufgabe, die Heiligenverehrung an sich und ihren Niederschlag in Namen zu untersuchen. Die Heiligenskulpturen wurden größtenteils vernichtet, Altäre und Bilder entsorgt,4 Heiligengräber geschändet, und Reliquien verschachert. Einen Eindruck der Heftigkeit der Abkehr können wir aus der Schrift Martin Luthers aus dem Jahr 1524 „Wider den Abgott und Teufel, der zu Meißen soll erhoben werden“ im Zusammenhang mit der Heiligsprechung des Bischofs Benno von Meißen gewinnen.5 Luther, von dem wir wissen, dass er die heilige Anna anrief, als er 1505 als Erfurter Student in eine Gewittergefahr geraten war, sah in der Heiligsprechung durch Hadrian VI. im Jahr 1523 den Versuch, der Ausbreitung der Reformation in Sachsen entgegen zu wirken. Seine zwischen 1526 und 1534 geborenen Kinder nannte er (oder seine Ehefrau Katharina bzw. Käthe) übrigens Johannes, Elisabeth, Magdalena, Martin, Paul und Margarethe. Bei aufmerksamer Suche sind natürlich dennoch reichlich Spuren der Heiligenverehrung im Osten Mitteldeutschlands zu finden, auch ihr Reflex in der Namenwelt, wobei deutlich zwischen primärer, tatsächlich durch das Motiv der Verehrung der Heiligen motivierte Namengebung und sekundärer, also davon inzwischen losgelöster, aber indirekt dennoch damit verbundener Namengebung unterschieden werden muss. Das Siegel der 1409 gegründeten Universität Leipzig zeigt seit 1419 bis heute zwei Heilige: Laurentius (mit dem Rost als Verweis auf seinen Märtyrertod) und Johannes den Täufer (durch das Lamm auf seinem Arm eindeutig gekennzeichnet). Das Siegel der evangelisch-lutherischen St. Laurentius Kirchgemeinde zu LeipzigLeutzsch zeigt ebenfalls den heiligen Laurentius. Die Gemeinde hatte ihr altes Patro-
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Man erinnere sich an den Fund altdeutsche Tafelbilder im Jahr 1815 auf dem Dachboden der Leipziger Nikolaikirche, unter anderem der beiden Cranachs, ihrer Schule und Nachfolge. Der bemerkenswerte Fund (von Johann Gottlob von Quandt und Johann Wolfgang Goethe) wird in GOLDBERG/GURATZSCH (1997) vorgestellt. Der Text ist unter http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/titleinfo/751231 (02.05.16) einsehbar.
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zinium lange Zeit abgelegt, aber im Jahr 1932 wieder in Gebrauch genommen – zehn Jahre nach der Eingemeindung. Beide, die Universität und diese Kirche, unterstanden dem 968 gegründeten Bistum Merseburg, das dem heiligen Laurentius geweiht war. Gleiches gilt auch für weitere Kirchen in der näheren Umgebung von Leipzig (z.B. Zwenkau, Markranstädt oder auch Merseburg, Naumburg), wo der Heilige in vielfältiger Weise künstlerisch dargestellt ist.
Abb. 1: Die Verteilung der FamN Rentsch, Rentzsch und Rensch mit 982, 536 bzw. 546 Telefonanschlüssen6
Die Verbreitung des HeiligenN Laurentius in seiner eingedeutschten Form Lorenz zeigt eine hohe Dichte im ostmitteldeutschen Gebiet. Die nach HELLFRITZSCH eben-
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Abb. 1–2, 4–6 und 9 wurden von Kathrin DRÄGER erstellt. Zur Datenbasis s. DFA I, XXXIIXXXIII.
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falls auf Laurentius zurückgehenden Kurzformen Rensch und Ren(t)zsch „können als omd. [ostmitteldeutsch] gelten, erstere erscheint verstärkt im Raum Dresden-Bautzen, letztere – typisch osä. [obersächsisch] – in den Gebieten um Dresden, Leipzig, Chemnitz, Zwickau und Plauen“ (HELLFRITZSCH 2007, 208).
Abb. 2: Die Verteilung des FamN Laurisch mit 247 Telefonanschlüssen
Eine Fülle von slavischen Varianten des HeiligenN Laurentius konnte WENZEL (1999: 156–157) in der Lausitz ermitteln, so z.B. Lauk, Laucke, Lauka, Lauko, Lauragk, Laurentz, Laurich, Laurig, Laurick, Laurisch, Laurischk, Lausch, Lauschka, Lauschke, Lawisch, Lorisch. Die Kartierung dieser Namen, insbesondere solcher sorbischen Ursprungs, zeigt bisweilen eine ausschließliche Präsenz im Osten Deutschlands. Man vergleiche den Namen Laurisch, der im Landkreis Dahme-Spreewald in Brandenburg seinen Schwerpunkt hat. Ein guter Ausgangspunkt, um nach weiteren lokalspezifischen HeiligenN bzw. deren Varianten zu suchen.
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2 Heiligenkult in Mitteldeutschland Die Verehrung der Heiligen ist eine Form der Frömmigkeit im Spätmittelalter.7 Der Rekonstruktion von „Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland“ war 2012 eine vom Lehrstuhl für Sächsische Geschichte der Universität Leipzig und dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde ausgerichtete Tagung gewidmet. Namenkundlichen Aspekten wurde leider keine Aufmerksamkeit geschenkt. Zu den in der gleichnamigen Ausstellung gezeigten Zeugnissen der Alltagsfrömmigkeit gehörten neben Altären und liturgischem Gerät z.B. auch Ofenkacheln (oxydierend gebrannter Ton) mit Darstellungen der beiden Heiligen Ursula8 und Dorothea, die beide auf dem Leipziger Nikolaikirchhof gefunden wurden und um 1500 datiert sind. Mit Blick auf die Heiligenverehrung kommen den kleinen Heiligenfiguren (für den Alltag) eine besondere Bedeutung zu, wobei die heilige Barbara und die heilige Katharina von WAGNER (2013: 339) besonders hervorgehoben werden. Auf die Beliebtheit der Namen dieser beiden Heiligen aber auch von Ursula und Dorothea im Mittelalter ist schon oft hingewiesen worden, sie bleiben auch nach der Reformation beliebt, wie z.B. die Auswertung des ältesten Taufbuches (1554 bis 1596) von St. Nikolai zu Leipzig gezeigt hat. Nach 1. Maria, 2. Anna, 3. Margaretha, 4. Magdalena, 5. Katharina, 6. Elisabeth, 7. Barbara, 8. Regina, 9. Dorothea, 10. Martha folgt an elfter Stelle Ursula (vgl. KREMER 2013: 391). Die Überlieferung zeigt deutlich, dass Mitteldeutschland selbstverständlich in die allgemein bekannten Frömmigkeitsformen eingebunden war. Für Leipzig kann bald nach der Mitte des 13. Jh. auf vier fest in das städtische Leben eingefügte Klöster hingewiesen werden, das Augustiner-Chorherrenstift St. Thomas (gegründet 1212/ 1213), das Dominikanerkloster St. Paul (ersterwähnt 1231, hier trat 1489 der berühmt gewordenen Mönch Johann Tetzel ein), das Franziskanerkloster St. Matthäi (ersterwähnt 1253) und das Benediktinerkloster St. Georgen (vor 1230 von Hohenlohe nach Leipzig verlegt), wobei die Heiligenverehrung besonders mit den Orden der Franziskaner und Dominikaner in Verbindung gebracht wird. Auch Kollegien (wie das Bernhardinerkolleg) und Stifte (etwa das Stift adliger Damen) werden benannt, ebenso sind eine Vielzahl von Kirchen, Kapellen (sowohl private Hauskapellen als auch städtische), Hospitäler (mit den typischen Hospitalheiligen), Wallfahrtskirchen
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Grundsätzlich dazu KÜHNE/BÜNZ/MÜLLER (2013: 15–27). Zufällig (?) ist der Name Ursula der häufigste weibliche VorN im Stadtadressbuch Leipzig von 2007/2008; vgl. KREMER (2012: 25). Berücksichtigt sind im genannten Stadtadressbuch alle Einwohner über 18 Jahre, die dem Eintrag nicht widersprochen haben.
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usw. dokumentiert.9 Die Überlieferung deutet auf eine intensive Messfrömmigkeit und auf Prozessionen.10 Die Frömmigkeit fand ihren sichtbaren Niederschlag in einem breit entfalteten Stiftungswesen. Die Verehrung der volkstümlichen Heiligen wie überall kann vorausgesetzt werden, aber auch Sonderfälle wie beispielsweise die besondere Verehrung der Vierzehn Nothelfer im Eichsfeld in Thüringen und in Westsachsen sind bekannt. Wichtige Mittler zwischen den verehrten Heiligen und den Gläubigen sind sowohl ihre bildlichen Darstellungen als auch ihre Namen. Auch wenn in Mitteldeutschland gerade die Abbilder der Heiligen (als Skulpturen, Gemälde, Glasfenster u.a.) sozusagen als wichtige Daseinsform für die Gläubigen im Zuge der Reformation großflächig entfernt bzw. vernichtet wurden, so lohnt es, das Vorhandene aufzuspüren, galt doch bereits die Begegnung mit einer bildlichen Darstellung des Heiligen als zuverlässiger Schutz gegen Befürchtetes. Welche Spuren spätmittelalterlicher Heiligenverehrung kann man also (noch) finden? Recht viele. Z.B. befindet sich in der Elisabethkapelle im Naumburger Dom die wohl älteste (um 1236) bildliche Darstellung der Heiligen Elisabeth, der Patronin Thüringens und Hessens. Im Kopf der Skulptur sollen Reliquien der Heiligen deponiert gewesen sein. Mir erscheint dieser Aspekt der Sichtbarkeit der Heiligen wichtig, wenn man sich mit Hagionymen einer Region beschäftigt. Das gilt umso mehr für eine Zeit, in der die Mehrheit der Bevölkerung nicht lesen, wohl aber die Heiligen an ihren Attributen wiedererkennen konnte. Auch war das Alltagsleben durch Heiligenfeste und damit verbundenem Brauchtum bestimmt; Reste wie die Namen der Feste, z.B. Michaelis und Johannis haben sich bis heute erhalten.
3 Heiligenverehrung und Siedlungsnamen Zeitlich fällt das Aufkommen der HeiligenN mit der sogenannten deutschen Ostsiedlung nach 1150 zusammen. Die Zahl der speziell dem Thema „Heiligenverehrung und Namen“ gewidmete Studien ist gering. Es entsprach auch bis 1989 nicht dem Zeitgeist, sich diesen Fragen zuzuwenden. Dem Thema HeiligenN in ostmitteldeutschen SiedlungsN soll der Hinweis auf die Heiligen für Orte und Regionen vorangestellt werden, hier also die Stadtpatrone,
9 Dazu BÜNZ (2013, 38–39). 10 So wird für Leipzig etwa von aufwendigen Palmeselprozessionen berichtet: „Bunte Bilder der Heiligen wurden an allen Wänden, Pfeilern und Säulen der heiligen Gebäude aufgestellt und durch die Verehrung Bittflehender gepflegt“ (PEIFER 1689: 11).
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die gleichzeitig Kirchenpatrone sein können, aber nicht müssen. KUNZE (2003: 42) hat für den Osten Deutschlands auf die heilige Hedwig von Andechs bzw. von Schlesien verwiesen, sie ist die Schutzpatronin von Schlesien, des Bistums und der Stadt Görlitz. In der Form Jadwiga ist sie den Polen bekannt. Andere für unsere Region wichtige Patrone sind Benno von Meissen (Berlin und Lausitz), Wigbert (Hersfeld), Wenzel von Böhmen (Naumburg), Mauritius (Zwickau), Martin von Tours (Eichsfeld), Vitus (Sachsen), Elisabeth von Thüringen (Hessen) und Winfried/Bonifatius (Thüringen). Letzterer gründete 742 das Bistum Erfurt. In einigen Fällen erscheint der Heilige auch im Stadtwappen, so z.B. Laurentius in Zwenkau nahe Leipzig im alten Bistum Merseburg. Die DDR verbot 1971 die Nutzung dieses Wappens, seit 1992 wird es wieder verwendet. In Sachsen-Anhalt tritt z.B. der heilige Jacobus erstmals 1463 im Ratssiegel der Stadt Mücheln auf. Dem Thema „Patrozinien und Ortsnamen“ ist das Heft 8 der Zeitschrift „Onomastica Uralica“ gewidmet, in dem Karlheinz HENGST (2011) Einblicke in das ostmitteldeutsche Gebiet ermöglicht (vgl. in diesem Band). Einer dieser nicht sehr zahlreichen OrtsN nach dem Schutzpatron der Kirche ist St. Egidien, eine Gemeinde im sächsischen Landkreis Zwickau. Während hier und auch bei den auf KlosterN zurückgehenden SiedlungsN (St. Marienstern, St. Marienthal oder nachweislich im Namen der Bergstadt Marienberg, 1523 als S. Marien Bergk) der Bezug zur Gottesmutter bzw. anderen Heiligen (etwa 1501 Umbenennung von Schreckenberg in Annaberg) offensichtlich ist, kann bei anderen Namen, in denen entsprechende Bestimmungswörter enthalten sind, kein direkter Bezug zu einer derartigen Motivation nachgewiesen werden. Sie sind also bestenfalls sekundäre Zeugnisse der Heiligenverehrung (Niclasdorf, Niclasgasse,11 Nitzschendorf, Jahnisbach, Jahnsbach, Jahnsdorf, Jahnsgrün, Johnsbach, Johnsdorf u.a.). Für den Laien sind sie gelegentlich gar nicht als solche erkennbar, vgl. etwa den Ort Gansgrün, nordöstlich Plauen im Vogtlandkreis, der 1327 in der Form Johansgrune überliefert ist.12 Damit ist ein weiteres Thema angesprochen: die Patrozinien.13 Hier ist von Interesse, welche Namen Bistümer, Kirchen und Klöster, aber auch Krankenhäuser und Schulen oder Gruben und Zechen trugen bzw. tragen, unter wessen Schutzherrschaft man die Einrichtung stellte. Auch hier sind Untersuchungen für den mitteldeutschen Raum eher spärlich. Einen Überblick über die Kirchenpatrone in Sachsen auf siedlungsgeschichtlicher Grundlage gibt HELBIG (1940). Er unterscheidet vier Untergruppen: 1. Allgemeine und biblische Heilige: Maria, Petrus, Paulus, Petrus und Paulus,
11 S. bei HELLFRITZSCH (1997: 79). 12 Vgl. EICHLER/WALTHER (2001: 286). 13 Zu Patrozinien und Namengebung auch ZENDER (1959).
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Johannes Baptist, Johannes Evangelist, Jakobus der Ältere, Andreas, Bartholomäus, Matthäus, Thomas, Simon und Judas, Maria Magdalena; 2. Heilige der Kreuzzugszeit und des Spätmittelalters: Laurentius, Hippolyt, Mauritius, Georg, Christophorus, Michael, Oswald, Nikolaus,14 Katharina, Barbara, Margarethe, Kunigunde, Elisabeth, Lambertus, Maternus, Jodokus, Drei Könige, Urban, Allerheiligen, Anna, Antonius, Blasius, Wandelburg; 3. fränkische und süddeutsche Heilige: Aegidius, Martin, Pankratius, Gangolf, Burkhard, Kilian, Leonhard, Otto; 4. Diözesanpatrozinien: Donatus, Afra, Gotthard, Wenzel, Prokopius, Wolfgang. Damit ist der Namenforschung zumindest schon eine Vorlage gegeben, nach der man nach dem entsprechenden Namenniederschlag suchen kann. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Patrozinien Einfluss auf die weitere Namengebung hatten.15 Diese Frage wurde für die Anthroponymie schon vielfach diskutiert. Vgl. die Literaturübersicht und Zusammenfassung bei DRÄGER (2013: 35, Anm. 94). Die Patrone finden sich oftmals in den Gotteshäusern als Skulpturen oder als Altarheilige, sie sind also auch auf diese Weise präsent. So finden sich im Magdeburger Dom (offizieller Name: Dom zu Magdeburg St. Mauritius und Katharina) eindrucksvolle Darstellungen von Mauritius und Katharina, die von Mauritius gilt als die früheste bekannte Darstellung eines dunkelhäutigen Heiligen, sie entstand um 1240/50. Mit Blick auf den Patron des Bistums Dresden-Meißen liegt es nahe, auf den Kult des heiligen Benno von Meißen zu achten. Die Verehrung seines Grabes im Dom zu Meißen ist seit 1285 bezeugt,16 seine Kanonisation im Jahr 1523 erfolgte aber so spät, dass dies vor der Reformation im albertinischen Sachsen 1539 keine große Rolle mehr gespielt haben kann. Im Zuge der Reformation wurde sein Grab aufgebrochen, seine Gebeine sollten in die Elbe geworfen werden, sie landeten aber 1576 in München. Einen sehr kritischen Bericht (eines protestantischen Pfarrers) über Bischof Benno finden wir bei BLANCKMEISTER (1906: 21):
14 Speziell zum Nikolauspatrozinium vgl. BLASCHKE (2013). In BLASCHKE (2001: 151–152) findet sich eine Chronologie der Patrozinien in Sachsen, von der Stadtentwicklung (Petrus, Jacobus, Johannes, Laurentius Maria) bis hin zu Kirchen der letzten Ausbaustufe des hochmittelalterlichen Städtewesens (Jakobus, Ägidius). 15 In jedem Fall haben die Patrozinien die Namen z.B. einer Stadt weiter geprägt, beispielsweise durch ViertelsN, StraßenN und andere vom Patrozinium abgeleitete Namen. Man kann feststellen, dass bestimmte, durch die Patrozinien motivierte RufN in einer Region bekannter sind als in anderen Regionen, in denen das entsprechende Patrozinium unbekannt ist, d.h. entsprechende RufN (Kilian, Sebald u.a.) entwickeln sich in der Folge auch ohne direkten Bezug zum Ausgangspunkt zu regionaltypischen RufN. 16 Vgl. www.heiligenlexikon.de/BiographienB/Benno_von_Meissen.html (14.10.14).
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Weiß die Geschichte sonach wenig über Benno zu berichten, so hat die Sage einer beträchtlich späteren Zeit sein Bild zu verklären gesucht. Was die dichtende Phantasie der Mönche erfand, das ward vom Volke weitergetragen und ausgeschmückt, und ein heiterer Legendenkreis hat sich um die Person des Mannes gesponnen, der geschichtlich bedeutungslos gewesen ist […].
Der heilige Bischof Benno lebt aber in anderen Namenklassen weiter: St. Benno Verlag (Leipzig), St. Benno Gymnasium (Dresden), St. Benno (Weingaststätte in Leipzig), St. Benno Kindertagesstätte (Dresden und Leipzig), Bischof-Benno-Haus (Katholische Bildungsstätte bei Bautzen), St. Benno Pflegeheim (Meißen) u.a. Ebenso zu nennen ist der Hl. Bonifatius, der „Apostel“ der Deutschen bzw. der Sorben, dessen Wirken auch am Anfang der Siedlungsentwicklung Erfurts steht. Mit dem Niederschlag der Bonifatius-Verehrung z.B. in den FlurN Thüringens, hat sich HÄNSE (2004: 11) ausführlich beschäftigt, sie findet sich ausschließlich in der westlichen Hälfte Thüringens (so z.B. Bonifatiusberg, Bonifaciusborn, Faciusborn, Faciusbrunnen). Um auch die Häufigkeit der Patrozinien zu ermitteln, wurden die Namen der 144 Stadtkirchen in Sachsen ausgewertet:17 Maria (41), Nikolaus (24), Johannes (10), Laurentius (10), Jakobus (9), Aegidius (7), Georg (6), Petrus (6), Peter und Paul (5), Katharina (5), Wolfgang (5), Bartholomäus (5), Barbara (5), Martin (4), Michael (4), Anna (2), Mauritius/Moritz (2), Kunigunde, Philipp, Joseph, Christopherus, Oswald, Erasmus, Afra, Donatus, Margarethe, Gangolph, Kilian, Thomas, Matthäus, Wenzel, Johann Nepomuk, Ulrich (je einmal).
4 Heiligenverehrung in ostmitteldeutschen Personennamen Bei der Vergabe von HeiligenN als RufN handelt es sich um die bewusste Entscheidung der Menschen des 13. bis 15. Jh. für einen (überwiegend fremden) Namen des Tagesheiligen, des Kirchenpatrons o.ä. und damit um das Aufgeben der tradierten Form der Nachbenennung nach Vorfahren mittels germanischer bzw. altdeutscher Namen. Ein neues Selektionsprinzip, ein konnotatives18 im Gegensatz zum mechanischen, ein Mentalitätswechsel tritt ein – die Heiligenverehrung mit dem Selektions-
17 Nach LÖFFLER (1980). 18 Dazu V. KOHLHEIM (1977: 173): „Anders als bei den mechanistischen Selektionsprinzipien wählt der Namengeber in den folgenden zu betrachtenden Fällen den Namen aufgrund der ihm anhaftenden Konnotation: Von einem konnotativen Selektionsprinzip können wir dann sprechen, wenn ein bestimmter RufN für eine bestimmte Gruppe die gleiche Konnotation auslöst.“
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prinzip „nach Heiligennamen“ kommt zum Tragen. Zu dieser Thematik haben sich V. KOHLHEIM 1977, MITTERAUER 1993 u.a. geäußert.
4.1 Rufnamen Zunächst sollen die RufN betrachtet werden, die beispielsweise HELLFRITZSCH für Südwestsachsen bereits 1963 und 2007 in akribischer Weise gesammelt und mit Blick auf die Heiligenverehrung ausgewertet hat. Er bietet frühe RufN-Belege zum Beispiel für Zwickau, wo in der Zeit zwischen 1251 und 1300 bereits die Namen Nicolaus, Petrus und Johannes überliefert sind. Zwischen 1451 und 1500 dominieren die christlich motivierten Namen, mehrheitlich HeiligenN. Zu Recht weist HELLFRITZSCH (2007: 383) darauf hin, dass Vieles spekulativ bleibt, weil wir „über zu wenig detaillierte Einsichten in das geistig-kulturelle und spirituelle Leben der Städte Zwickau und Chemnitz verfügen“. HELLFRITZSCH sieht keine unmittelbar von den Patrozinien ausgehende Wirkung auf die Namengebung. Maria, der Name der Gottesmutter und das häufigste Patrozinium, wird z.B. bis in das 16. Jh. gemieden. Mit der seit 2007 erfolgten Edition der ältesten Stadtbücher von Dresden19 kann endlich mehr zur städtischen Namenwelt des 15. Jh. gesagt werden. Für diese Studie wurde der Zeitraum 1412 bis 1528 erstmals ausgewertet. Da FLEISCHER (1961) nur die Namen der Dresdner Ratsherren untersuchte und weibliche Namen generell schlechter dokumentiert sind, blicken wir auf die Namen der 431 erwähnten Dresdnerinnen und finden die auch in Leipzig20 und Chemnitz21 üblichen Namen, lediglich in leicht variierter Reihenfolge: Margarete (83), Anna (61), Barbara (60), Katherina (33), Dorothea (24), Agnes (23), Magdalena (17), Ursula (16), Else (15), Walburga (13), Elisabeth, Gersche (beide 12), Orthe (7), Christina, Gertrud, Hedwig, Osanna (alle 6), Sophia (4), Gerse, Otilia (beide 3), Apollonia, Christine, Monica (alle 2), Afra, Agneta, Brigitta (Brigida), Brigitte, Cecilia, Eneyda, Ester, Ilse, Kete, Lucia, Monika, Prisca, Prisce, Sophie, Veronica (jeweils einmal). Immer dabei sind die Namen der „heiligen Jungfrauen“ Margarethe, Katharina, Dorothea und Ursula. Ein im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig bewahrter Flügelaltar aus Lausen aus der Zeit um 1514 zeigt diese vier auf Augenhöhe in der
19 Vgl. KÜBLER/OBERSTE (2007). 20 Vgl. z.B. KRÜGER (2001), KREMER (2013). 21 Vgl. das Inventar von weiblichen RufN fremdsprachlicher Herkunft zwischen 1251 und 1500 bei HELLFRITZSCH (2007: 351). Dort finden sich auch die südwestsächsischen (historischen) Belegformen bzw. Allonome, so z.B. zu Katharina: Katherin, Kathrin, Kethe, Keth (364).
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Predella. Mit Nikolaus und der heiligen Barbara neben Maria sind außerdem zwei der „im Leipziger Raum am meisten verehrten Heiligen des späten Mittelalters dargestellt. Ersterer galt besonders als Schutzpatron der Kaufleute, letztere als Patronin des Bergbaus, was auf Legenden aus ihrem Leben zurückgeht“ (DURA 2006: 79). Mit der speziell in Leipzig üblichen Kurzform Orthe für Dorothea hat sich SEIBICKE beschäftigt. Er schreibt: „Deshalb erscheint es mir jetzt auch als überzeugender, Orthia und ähnliche Formen aus Sankt(D)/orothea herzuleiten“ (1984: 6). Auf die Beliebtheit des Namens Nicolaus22 unter den Leipziger Bürgern im Jahr 1466 (zweite Position nach verschiedenen Varianten des Namens Johannes23) habe ich an anderer Stelle hingewiesen, die häufigste Namenform des heiligen Nikolaus ist demnach Nickil (58) gefolgt von Nickel (16), Claueß (7), Nicolaus (5) und Claus (1).24 Nach der seit 2012 möglich gewordenen Auswertung der ältesten Leipziger Taufbücher von St. Nikolai aus den Jahren 1554 bis 159625 kommt im 16. Jh. Maria mit 849 Belegen auf den Spitzenplatz, gefolgt von Anna (671), Margaretha (396), Magdalena (395), Katharina (313), Elisabeth (262), Barbara (255), Regina (118), Dorothea (113), Martha (90), Ursula (79), Christina (75), Eva (64), Sabina (53), Susanna (49) u.a. Neben der Frage nach dem Aufkommen, der Verbreitung und Anpassung ist hier auch die Frage nach eventuellen lokalen Besonderheiten von Interesse.26 Da moderne Programme (bisher) nur moderne RufN kartieren, kann (zumindest für männliche RufN) nur die Kartierung der FamN (als Reflex der historischen RufN-Gebung) Aufschluss über regional spezifische historische Verhältnisse geben, falls man nicht so weit gehen will, auch in der modernen RufN-Gebung noch Spuren dieser Vorlieben
22 POHL (1998: 15) sieht eine zu diskutierende Verbindung zwischen dem Patrozinium der („gewaltigen Stadtkirche St. Nikolai“) und der Vorliebe für den Namen Nikolaus, der in Leipzig viel häufiger als im Vergleichsort Nürnberg auftritt. Zum Beginn des Kultes vgl. BLASCHKE (2001, 47): „Vor dem Jahr 1087?, in dem die Translation des Hl. Nikolaus nach Bari stattfand, womit der Anstoß zum Nikolauskult gegeben wurde, ist keine der genannten Nikolaikirchen errichtet worden.“ 23 Am häufigsten ist die Namenform Hans. Einzelne HeiligenN und ihr Auftreten in Leipzig und Nürnberg behandelt POHL (1998: 14): Johann findet sich von Anfang an (13. Jh.) und überall. „Bald wird der Name so häufig, daß etwaige dynastische Einflüsse oder die von Patrozinien oder von anderer Art nur untergeordnete Bedeutung haben. Hier müssen die Wurzeln tiefer gesucht werden.“ 24 KRÜGER (2001: 117), umfassend zu FamN aus dem RufN Nikolaus in Deutschland DRÄGER (2013). 25 Vgl. KREMER (2013: 392). 26 Nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der RufN-Gebung, besonders mit Blick auf einzelne HeiligenN in den Städten Leipzig und Nürnberg sucht POHL (1998: 14–18).
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(Spätfolgen der Heiligenverehrung) finden zu wollen, was natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, wie die heutige Konzentration des Namen Kilian im Raum Würzburg belegt.27 Aus den verschiedenen Erhebungen bzw. Untersuchungen (auch) im ostmitteldeutschen Raum ergibt sich, dass die durch die Heiligenverehrung in den RufNSchatz gelangten Namen beliebt bleiben, auch nach der Reformation.28 Mit Blick auf den beliebtesten RufN Johannes schreibt POHL (1998: 14): In unseren Untersuchungsperioden kommt Johannes sowohl in Leipzig wie in Nürnberg im 14. und 15. Jahrhundert auf hohe Werte. Von da ab ist er aus der Vorstellung des Volkes nicht mehr wegzudenken, bis – nach der Reformation – aus der Verehrung eine bloße Vorliebe wird, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal zu höchsten Werten aufschwingt, nun nicht mehr verankert im religiösen Gefühl, sondern als Konvention.
Eine Chronologie des Auftretens der HeiligenN im RufN-Schatz der Stadt Regensburg im 13. und 14. Jh. in ihren soziokulturellen Bezügen, d.h. mit Aussagen über den relativen Anteil eines Namens an der Namengebung der sozialen Schichten, gibt V. KOHLHEIM (2001). Er zweifelt aber an der Parallelität von „Heiligenverehrung und Namengebung“, wie der Titel von Edmund NIED (1924) lautete. Vielmehr handelt es sich um die europaweite Ausbreitung eines neuen Namengebungsprinzips, wobei die Namen nicht mehr, wie zuvor, nach den mechanistisch starren Regeln der Namenvererbung vergeben wurden, sondern aufgrund ihrer Konnotation, ihres religiösen Bezugs frei wählbar wurden. Dieser Bezug bestand in einigen wenigen Fällen in der etymologischen Bedeutung des Namens wie z.B. bei Christianus, vorwiegend aber im Bezug zu einem verehrten Heiligen. (V. KOHLHEIM 2001: 90–91)
Für den ostmitteldeutschen Raum kann das Aufkommen der HeiligenN im RufNSchatz durch einschlägige Untersuchungen in das 13. Jh. datiert werden (z.B. JACOB (1991) für Halle; HELLFRITZSCH (2007) für Zwickau und Chemnitz, POHL (1998) für Leipzig).29 Wie lange die Vergabe der Namen der Heiligen mit deren Verehrung in Verbindung gebracht werden kann bzw. ab wann diese Namen lediglich ein vertrautes Repertoire bildeten, kann anhand der bloßen Namenüberlieferung nicht entschieden werden. Hier fehlt uns der Kontext im engeren (z.B. auf die Textsorte Taufbuch bezogen: Wie hießen Paten und Eltern?) und im weiteren Sinne (Wie kann der Mentali-
27 S. den Beitrag von DRÄGER in diesem Band (K. 2). 28 Älteren Ansichten, wonach alttestamentliche Namen nach der Reformation besonders beliebt geworden wären, hat bereits R. KOHLHEIM (2011) widersprochen. 29 Der älteste Beleg für Johannes im Urkundenbuch der Stadt Leipzig stammt aus dem Jahr 1230: Johannes de Packe; vgl. FÖRSTEMANN (1894: 2).
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tätswandel der mittelalterlichen Gesellschaft durch weitere Quellen fassbar gemacht werden?). Die von HELLFRITZSCH (2007: 371) als „zu wenig differenziert eher monokausal“ beschriebene Relation ‚Heiligenverehrung/Reliquienkult – Heiligenname‘ harrt also weiter interdisziplinärer Untersuchungen.30 Bereits V. KOHLHEIM (1981: 142) schreibt dazu: Infolgedessen wird im allgemeinen auf die Frage nach den Gründen für die Ausbreitung der neuen Namen, die zudem oft genug als „Mode“ klassifiziert wird, auf die gesteigerte Heiligenverehrung des Spätmittelalters verwiesen, die Namengebung also als bloße Nebenerscheinung eines anderen kulturellen Komplexes gedeutet. Ohne die Bedeutung der Heiligenverehrung ignorieren zu wollen, ziehen wir eine Sichtweise vor, die das namengeberische Verhalten als eigenständige Manifestation der Mentalität einer Gesellschaft wertet.
4.2 Familiennamen Zu FamN liegen für unser Gebiet die frühen Arbeiten von NEUMANN (1970, 1981), GRÜNERT (1958), aber auch von HELLFRITZSCH (1992), NAUMANN (2003) und die ungedruckten Dissertationen von SOLLUNTSCH (1991) und JACOB (1991) vor. Mit Blick auf die HeiligenN schreibt NEUMANN (1970: 181): Ein direkter Zusammenhang zwischen Heiligenverehrung und FN-Bildung ist allerdings nicht nachzuweisen, und die FN sind hier nur bedingt aussagekräftig, indem in ihnen kirchliche RN erhalten blieben, die einst im Zuge der Heiligenverehrung verbreitet worden sein können.
Sie listet die folgenden obersächsischen FamN mit Bezug zu den HeiligenN auf: Ilgen (Aegidius), Neese, Nessi(n)g (Agnes), Alex (Alexander), Tonius (Antonius), Augustin, Asthe (Augustinus), Barbera (Barbara), Benisch (Benedictus), Kerstens, Kersten, Kirsten, Christmann (Christianus), Stoppel (Christophorus), Clemens, Clemen, Glemichen (Clemens), Kost (Constantinus), Nisius, Nyßys, Nisener (Dionysius); Donat (Donatus), Grasmus, Graßman, Asmus, Asman (Erasmus), Stachius (Eustachius), Felix (Felix), Frantz, Frentzel (Franciscus), Galle (Gallus), Georg(e), Jorge (Georgius), Gregorius, Gregers, Greger, Gorius, Goris, Go(e)re, Gere (Gregorius), Hieronimus, Jeronimahn, Gramus, Gronman (Hieronymus), Jo(b)st (Jodocus), Kellingk (Kilian), Cosmus, Koßman (Kosmas), Lorentz (Laurentius), Karis Macarius), Magnus, Manis (Magnus), Mertten (Martinus), Terne(n) (Maternus), Nickel, Nitzsche, Nitzschke, Claus, Kolck(e), Kollichen (Nicolaus), Pangratias, Pangratz, Gratias, Gratze, Greczschel, Gracy (Pancratius), Bastel (Sebastianus), Sixt (Sixtus), Steffan (Stepha-
30 Zuletzt dazu DRÄGER (2013: 35, 258–259) mit weiterer Literatur.
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nus), Portzmann (Tiburtius), Vrban (Urbanus), Vintz, Vinczel (Vincentius), Wentzel (Wenzeslaus) (NEUMANN 1970: 181–182).
Abb. 3: Übersicht über die unter den 60 häufigsten FamN mitteldeutscher Städte erscheinenden HeiligenN31
Der Wert dieser tatsächlich sekundären Zeugnisse liegt für unsere Fragestellung in zwei Aspekten: 1. Welche Namen waren zur Zeit der Entstehung der FamN in unserem Raum (als RufN) gebräuchlich bzw. besonders beliebt (und können damit der Rekonstruktion mittelalterlicher Verehrungsgebiete dienen)?32 und 2. Welche eventuell regionalspezifischen Formen33 lassen sich finden, und welche Rückschlüsse auf z.B. Eindeutschungsprozesse bzw. auch Kontaktphänomene, wie der Übergang -(t)z
31 Ermittelt nach http://christoph.stoepel.net/geogen/v3/ (28.04.15). 32 DRÄGER (2011: 270) weist allerdings darauf hin, dass „gerade häufige RufN proportional seltener Eingang in die FamN fanden als weniger beliebte.“ 33 Die in Leipzig häufige RufN-Form Nickel steht nach DRÄGER (2011: 271) erst auf Rang 252 der häufigsten FamN in Deutschland. Die geographische Verbreitung als FamN zeigt einen Streubefund mit Häufung an der Lahn, die Form ist demnach nicht lokalspezifisch. Nach DRÄGER (2013: 242–245) muss hier auch die Konkurrenz mit dem WohnstättenN zu Nückel ‘steiler Abhang’ beachtet werden.
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zu -t(z)sch in ostmitteldeutschen Namen, erlauben sie? Regionale Besonderheiten in den FamN Magdeburgs hat KUNZE (2004) bereits untersucht. An dieser Stelle kann nicht auf alle diese Einzelaspekte eingegangen werden. Allerdings erlauben die modernen Kartierungsprogramme die relativ einfache Ermittlung der häufigsten FamN aus HeiligenN in großen Städten, hier als Beispiel die unter den 60 häufigsten FamN mitteldeutscher Städte greifbaren HeiligenN (Abb. 3). An zwei ausgewählten Namen, die im ostmitteldeutschen Sprachgebiet einen Schwerpunkt bilden, lässt sich die Problematik illustrieren. Der FamN Donath geht auf den gleichlautenden RufN lateinischen Ursprungs (Donatus ‘der (Gott) Gegebene’) zurück. Die Verbreitung dieses Namens ist mit der Verehrung des Märtyrers Donatus, Bischof von Arezzo (†362), zu verbinden. Die Kartierung des FamN Donath ergibt einen Schwerpunkt im Landkreis Löbau-Zittau, also in der Oberlausitz.34 Das Archidiakonat Oberlausitz gehörte zur alten Diözese Meißen, deren Schutzheilige Johannes und Donatus waren. Im Meißner Dom findet sich eine Statue vom Ende des 13. Jh., die ihn in Pontifikaltracht mit Stab und Buch darstellt, außerdem zeigt ihn ein Glasfenster aus der Zeit um 1400. Im Schlesischen Namenbuch gibt Hans BAHLOW (1953: 57) die folgenden RufN- bzw. FamN-Belege: Donat Czideler 1409/1410 (Görlitz), Donet Ratold 1400 (Grünberg), Donat John 1528 (Görlitz), Donat Eger noldener 1558 (Görlitz); als FamN: Hannus Donat carnifex 1407/1408 (Görlitz) und Urban Donat 1515/1516 (Görlitz). Auch bei NEUMANN (1981: 36) ist der Name belegt: 1467 Hans Donat, als Varianten: Donadt, Donatt, Don(n)t, Donthyn und die mit „-ch(k)-înSuffix“ erweiterte kontrahierte Kurzform Döntchen. Können wir aus der (heutigen) Verteilung des FamN Donath ableiten, dass der heilige Donatus in der Entstehungszeit der FamN im genannten Gebiet verehrt wurde? Oder sollte man nicht deutlicher formulieren, dass der Name durch die Bekanntheit des heiligen Donatus zum regionalen ModeN wurde? Der FamN wäre also ein indirekter Reflex der Heiligenverehrung (Abb. 4).
34 Nach BAHLOW (1953: 64) „Ostelbisch nicht selten als T.N. und F.N.“.
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Abb. 4: Die Verteilung des FamN Donath mit 2400 Telefonanschlüssen
Auch die Kartierung des FamN Kliemann zeigt einen Schwerpunkt im Ostmitteldeutschen, speziell im Landkreis Kamenz. Neben anderen Formen, wie z.B. Klem(m)t, Klemm, Klä(b)t, Klam(m)t, Klam(m)eth(t), Klamp(t), Klampke, Kliem(t), Kliem(t), Kliemke, Klinke, Kliemchen, die BAHLOW (1953: 63) als „Sprossformen“ zu Clemens stellt, wird diese Erklärung u.a. auch für Kleemann (1430 Cleman) erwogen (NAUMANN 1987: 165). Hier lohnt ein Blick in die sorbischen Formen des HeiligenN, die WENZEL (1987–1994 II, 1: 195) angibt: Klěma (1572 Klema, 1572 Klemme), Klěman (1520 Klemannynne, 1523 Cleman, seit 1600 Klimanß, 1643 Clemandt, 1657 Kliemann, 1643 Klimanden, 1657 Climann). Man darf daher und wegen der Existenz weiterer sorbischer Varianten wie Klěmańc (1642 Klemantz), Klěmank (1588 Clemanck) und Klemenke (1572 Clemenchke, WENZEL 1987–1994 II, 1: 196) beim FamN Kliemann wohl von einer durch den sorbisch-deutschen Sprachkontakt geprägten Namenform zu Clemens ausgehen (Abb. 5). Da Klee und Kleemann von zahlreichen
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Autoren auch als Patronyme zu Nikolaus gedeutet werden, wird dieser Name bei DRÄGER (2013, 171–175) ausführlich behandelt.
Abb. 5: Die Verteilung des FamN Kliemann mit 450 Telefonanschlüssen
Zu „hybriden Komposita“, d.h. sorbischen FamN mit deutschen Suffixen, hier speziell dem deutschen Ableitungssuffix -man(n) führt WENZEL (1987–1994 I: 74) folgende Beispiele an: Hanišmann (Johannes), Hanšmann (Johannes), Pěšman (Peter), Pětšman (Peter). Das „Erstglied“ der beiden letztgenannten Namen, Pěš- bzw. Pětš-, sind slavische Kurzformen von Peter, sie konzentrieren sich (in ihrer eingedeutschten Schreibung) ebenfalls im ostmitteldeutschen Raum: Petzsch und Pötzsch (Abb. 6) bzw. Pietzsch. Diese Beispiele – kein regionaler Heiliger, sondern sprachliche Besonderheiten in (in diesem Fall slavisch-deutschen) Kontaktgebieten – könnten zu weiteren Studien anregen.
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Abb. 6: Die Verteilung der FamN Pötzsch, Pietzsch und Petzsch mit 1307, 1141 bzw. 133 Telefonanschlüssen
Fasst man diesen knappen Exkurs zur ostmitteldeutschen FamN-Landschaft zusammen, so sind insbesondere die FamN mit der Endung -(i)sch, -tsch oder -tzsch auffällig. Vor allem für FamN mit der Schreibung -tzsch lässt sich eine eindrucksvolle Verbreitungskarte erstellen, die Sachsen und angrenzende Gebiete deutlich hervortreten lässt, vgl. DFA I, K. 360 und DFA III, K. 232 (Abb. 7).
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Abb. 7: Die Verteilung von FamN auf -tzsch(e) und -tsch(e) (nach DFA III, K. 232)
Zur Erklärung dieser Besonderheit gibt es unterschiedliche Auffassungen.35 GRÜNERT (1958: 519–520, 571) etwa geht von einem slawischen -isch-Suffix aus, das an germanische und kirchliche Rufnamen mit dentalem Auslaut angefügt wurde. Doch auch an das deutsche -z-Suffix könne das Suffix -isch antreten. FLEISCHER (1959) hingegen erkennt dem slawischen -š-Suffix nur stützende Funktion zu; es habe nicht den Anstoß für die Entstehung des Suffixes -t(z)sch(e) gegeben. Er betrachtet [κs] und [κš] im Ostmitteldeutschen als physiologisch bedingte Varianten. Dies wird von DRÄGER (2013: 134) zurückgewiesen, da mit FLEISCHERs Argumentation der Wandel [ts] > [tš] sehr viel großflächiger hätte eintreten müssen und da dieser sehr verschieden gelagerte Fälle monokausal zu erklären versucht.
35 Eine Zusammenfassung der folgenden und weiterer Erklärungsansätze gibt DRÄGER (2013: 130– 135).
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Abb. 8: Die Verteilung von SiedlungsN auf -tzsch (80 Types/94 Tokens)36
NEUMANN (1973: 102) dagegen differenziert, ob /tš/ aus slaw. /š/ hervorgegangen oder eine Lautvariante des dt. z-Suffixes ist. Sie weist darauf hin, dass die Lautverbindung /tš/ den Schreibern des obersächsischen Sprachbereichs auch von den SiedlungsN dieses Gebiets her vertraut war. Wie Abb. 8 zeigt, weist die Verbreitung des Elements -tzsch in SiedlungsN einen nahezu identischen Befund wie bei den FamN auf. Als Ursache oder erheblich begünstigender Faktor hin zu einem -tš-Suffix sieht NEUMANN (1973: 102) die Fälle, in denen das Suffix an einen auf n auslautenden Stamm antritt, z.B. Hantzsch (< Johannes), „denn das zwischen Stamm und Suffix eingeschobene -t- bildet als Gleitlaut eine wesentliche Aussprachehilfe“. DRÄGER (2013: 135) betont die Notwendigkeit einer Einzelfallbetrachtung,
36 Die Abbildung wurde von Kathrin DRÄGER erstellt. Datenbasis: geonames.org (14.01.13).
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um zu entscheiden, ob es sich um ein dt. -z-Suffix handelt, das sich unter slaw. Einfluss zu -t(z)sch(e) entwickelt hat, oder um ein slaw. Suffix, das sich unter ostmd. Einfluss zu -t(z)sch(e) entwickelt hat. In vielen Fällen dürfte eine Mischung beider Faktoren vorliegen. Wichtig ist dabei, ob es sich um einen genuin slaw. RufN handelt oder nicht, ob in der zu Grunde liegenden Vollform ein Dental enthalten ist, an den -z bzw. -(z)sch angetreten sein kann (z.B. Fritsche < Friedrich, Ditsche < Dietrich), ob die betr. Kf. auf n endet, wo t als Gleitlaut fungieren kann (z.B. Hansch > Hantsch) und ob für die betr. Kf. ein -z-Suffix oder ein slaw. Suffix wie -š überhaupt belegt ist.
Abb. 9: Die Verteilung des FamN Nitzsche mit 2149 Telefonanschlüssen
Zu den auf HeiligenN zurückgehenden FamN gehören auch Nitsche (4300), Nitschke (523) und Nitzsche (2243; s. Abb. 9), hauptsächlich zu Nikolaus. Die Formen können zum einen durch Bildung aus der Kurzform Nitz(e) erklärt werden, denn die Schreibweisen in den historischen Belege gehen ineinander über und lassen oft keine Trennung zwischen -z- und -t(z)sch(e)-Suffix zu. Außerdem finden sich historische Belege für
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Nitz(e) dort, wo später Nit(z)sch(e) u. ä. herrscht. Andererseits ist auch slaw. Einfluss belegt. (DRÄGER 2013: 135)
5 Schluss Obwohl die Heiligenverehrung im gegenwärtigen Alltag in Ostmitteldeutschland kaum noch eine Rolle spielt, zeigen sich Spuren vorreformatorischen Heiligenkults noch zahlreich in vielen Namenklassen. Häufig lassen sich jedoch die Fälle von Namengebung, die tatsächlich durch Heiligenverehrung motiviert sind, nicht von denjenigen trennen, in denen HeiligenN nur durch Nachbenennung weitergetragen wurden. Während beim Großteil der vorgestellten Toponyme von primärer Benennung nach Heiligen auszugehen ist, lässt sich dies bei den RufN nicht quantifizieren. FamN beziehen sich in jedem Fall nicht direkt auf den betreffenden Heiligen, sondern transportieren allenfalls das Benennungsmotiv des zugrunde liegenden RufN weiter.
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Dietlind Kremer
www.heiligenlexikon.de (14.10.14). www.isgv.de (30.06.14). www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/bluehendes_kirchenleben_vor_der_reformation? nav_id=3790 (02.05.16). http://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/titleinfo/751231 (02.05.16).
Simone Berchtold
Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt und Co. Heiligennamen in Familiennamen und anderen Namenklassen der Schweiz Zusammenfassung: Namen von Heiligen sind in allen Namenklassen mehr oder weniger offensichtlich vorhanden. Der folgende Aufsatz zeigt, dass universale, aber auch lokale Heiligenkulte in Schweizer FamN ihre Spuren hinterlassen haben. Exemplarisch werden acht Heilige ausgewählt, das Namenspektrum wird formal analysiert und in seinem räumlichen Auftreten verortet. Dabei zeigt sich für die Universalkulte Jakob, Johannes und Jodok eine West-Ost-Staffelung, die Lokalkulte wie Regula oder Beat treten sehr kleinräumig auf. In einem Ausblick werden zwei Heilige und ihre Spuren in anderen Namenklassen untersucht. Diese Namen sind teilweise historisch gewachsen wie das Toponym St. Jakob, aber auch bewusste Kreationen wie der BierN Chopfab. Abstract: Names of saints are present in all name classes, however, not always very evidently. This paper shows that the names of saints, both local and universal cult figures, have a significant impact on Swiss family names. Examining the names of eight saints, chosen family names will be analysed formally and presented within their geographical distribution. While the distribution of the names Jakob, Johannes and Jodok shows a west-east-spreading, the distribution of the names Regula or Beat is very local. Finally, two saints’ names were chosen in order to give an outlook for other name classes. Some of these names such as the toponym St. Jakob emerged historically, others, like the name Chopfab for a beer, are created artificially.
1 Einleitung Auf der Homepage „Heilige der Schweiz“, die vom Katholischen Mediendienst betrieben wird, werden 50 Schweizer Heilige portraitiert mit dem Ort des Wirkens, dem Leben und der Legende, die der jeweiligen Person zugeschrieben werden (www.heiligederschweiz.ch/d/portraets, 11.04.16). Mit dem Attribut Schweizer werden hier Personen aufgenommen, die auf dem Gebiet der heutigen Schweiz in irgendeiner Form gelebt und gewirkt haben wie beispielsweise Adelrich im 9. Jh. auf der Insel Ufenau (Rapperswil-Jona, Sankt Gallen), Fridolin im 6. Jh. in Glarus oder
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Simone Berchtold
Meinrad Mitte 9. Jh. in Einsiedeln).1 Eine erste Suche ergab allerdings, dass diese 50 Schweizer Heiligen wenig bis keine Spuren in den FamN hinterlassen haben. Um also Reflexe von Heiligen im anthroponomastischen Material zu finden, muss man auf bekanntere Größen ausweichen. Diese Tatsache ist nicht neu: Bereits KOHLHEIM (1996: 1053) weist darauf hin, dass „der lokale Kult im allgemeinen wenig Einfluß auf die NG [Namengebung] [hat]. Es sind vor allem die überregional verehrten Heiligen, die für die NG bedeutsam werden.“ Auch HUBER (1986: 334) hält für die Schweiz ̶ ausgehend von Graubünden ̶ fest: Namensbildend sind in erster Linie die europäischen Universalkulte: Johannes, Petrus, Laurentius, Antonius, Margaretha. Ihr Einfluss ist nicht an bestimmte Kirchen gebunden. Eine zweite, namenbildende Gruppe wird von den Heiligen berühmter Fernwallfahrten gebildet: Jodocus, Nicolaus, Jacob; sodann von Heiligen des Ritterstandes, wie Michael und Georg.
Zwei Linien sollen im Aufsatz verfolgt werden: Eine Linie geht den von HUBER genannten Universalheiligen nach; exemplarisch werden Jakob, Johannes, Martin und Jodok im FamN-Material untersucht (Kap. 4.1–4.4). Als zweite Linie soll überprüft werden, ob es nicht doch regionale Heilige gab, die Spuren in den FamN hinterlassen haben; hier werden die Namen Verena, Regula, Beat und Himerius verfolgt (Kap. 4.5‒4.8). Nach einem ersten Befund zu den FamN (Kap. 4.9) werden in einer Art Ausblick Alban und Jakob als Namengeber von Praxonymen, Ergonymen und Toponymen vorgestellt (Kap. 5). Vorab wird in Kapitel 2 die Datengrundlage beschrieben und in Kapitel 3 das Verhältnis von Heiligen-, Ruf- und FamN reflektiert.
1
www.heiligederschweiz.ch/d/m69634 (11.04.16). Die Portraits zeichnen das Leben und Wirken mittelalterlicher Heiliger nach, aber auch Niklaus von Flüe (*1417) oder Bernarda (geboren als Verena Bütler 1848) werden vorgestellt. Weitaus mehr Schweizer Heilige, gesamt 700, stellt SCHRANER (1987) in seinem Buch „Schweizer Heiligenlegenden“ vor. „Er berichtet schlicht nach der Legende und – bei Personen, die in neuerer Zeit gelebt haben – auf Grund bekannter Tatsachen über Leben und Wirken von Menschen, die die Grundsätze des Evangeliums zur Richtschnur ihres irdischen Daseins gemacht haben: die das Evangelium lebten, ob sie nun heiliggesprochen seien oder nicht“ (Vorwort HEIM in: SCHRANER 1987: 5). Seine Darstellung umfasst ebenfalls die frühesten Glaubensboten bis hin zu Missionaren und anderen vorbildlichen Christen der jüngsten Vergangenheit.
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2 Datengrundlage und Methode Als Datengrundlage dient das „Familiennamenbuch der Schweiz“.2 Diese Quelle verzeichnet die NachN jener Familien, die in der Schweiz in einer Gemeinde das Ortsbürgerrecht besitzen. Das Ortsbürgerrecht kam im Spätmittelalter auf und verbreitete sich nach dem 16. Jh. allgemein. Der Besitz des Bürgerrechts war in den (selbst verwalteten) Städten bzw. auf dem Land stets gleichbedeutend mit Teilhabe an der Macht bzw. am Gemeindebesitz. (SEIDL 2011: 62)3
Die Einbürgerung wird chronologisch gestaffelt: (1) mit „a“ für vor 1800, z.B. Wetzel in Ennetbaden (Aargau) ohne genaueren Herkunftsort, (2) mit „b“ von 1801–1900, z.B. Bertolini in Ennetbaden (Aargau) um 1899 zugezogen aus Österreich, (3) mit „c“ von 1901–1962, z.B. Deckert in Ennetbaden (Aargau) um 1918 zugezogen aus Deutschland und (4) mit genauem Einbürgerungsjahr vor 1800, z.B. Baldinger in Baden (Aargau) um 1580 zugezogen aus Lengnau (Aargau). Der Namenbestand vor 1800 (Punkt 1 und 4) ist in eine Datenbank eingespeist und kann mittels regulärer Ausdrücke abgefragt werden.4 Dieser Namenbestand ist in seiner regionalen Verankerung noch relativ stabil und wird als „alteingesessen“ bezeichnet. Für Zahlen zum gegenwärtigen Vorkommen der FamN werden die Datenbank des DFA (Stand Festnetzanschlüsse 2005) und eine Telefonbuch-CD „telinfo 2002“ der Swisscom Directories AG verwendet und verglichen.5
2 3 4
5
Das Familiennamenbuch wird auch vom Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) online mit verschiedenen Suchfunktionen zur Verfügung gestellt: www.hls-dhs-dss.ch/famn/ (21.06.15). Vgl. SEIDL (2011) generell zum Familiennamenbuch als Quelle für die Anthroponomastik. Insgesamt sind 15.419 verschiedene FamN vor 1800 bezeugt; diese Zahl bezieht sich auf die ganze Schweiz und beinhaltet auch die französischen, italienischen, rätoromanischen und andere nicht-deutsche Namen. Der Tagesanzeiger stellt auf der Basis des Telefonbuchs von Search.ch eine interaktive Karte zur Verfügung. Sofern ein FamN mindestens zehnmal im Telefonbuch vorkommt, kann die Verteilung in der Schweiz kartiert werden: http://blog.tagesanzeiger.ch/datenblog/index.php/6859/allesmueller-oder-was (10.04.15).
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3 Verhältnis Heiligenname, Rufname und Familienname Das Vorkommen eines HeiligenN als FamN ist über die RufN-Vergabe motiviert. Daher stellt sich einerseits die Frage nach dem Verhältnis von RufN und HeiligenN, andererseits die Frage nach dem Verhalten von HeiligenN zum Zeitpunkt der FamNEntstehung. Als HeiligenN werden RufN aufgefasst, die auf die Heiligenverehrung zurückzuführen sind und „bei deren Vergabe christl[iche] Motive ausschlaggebend waren oder sind“ (KOHLHEIM 1996: 1048). Die meisten dieser Namen gehen auf die Heiligenverehrung seit dem Hochmittelalter zurück (HUBER 1986: 331) und sind von ihrer Genese her nichtgermanische Namen oder so genannte FremdN (KUNZE 2004: 41). Warum ein HeiligenN als RufN vergeben wird, veranschaulicht KOHLHEIM (1996: 1048–1049). Er nennt zwei Motive der christlich beeinflussten Namenvergabe: Primär christlich motiviert ist die Vergabe des RufN nach der Person eines Heiligen oder einer verehrten Person, „um eine persönliche Beziehung zwischen Namensträger (NT) und Namenspatron herzustellen“ (KOHLHEIM 1996: 1048). Dabei ist die „Echtheit“ des Heiligen nebensächlich: Die Historizität des Verehrten spielte auch bei den ca. 100 autochthonen Heiligen der Schweiz eine sekundäre Rolle, entscheidend war, wofür der Heilige gehalten wurde. Dies zeigt sich etwa in der Zuweisung zahlreicher Heiliger zur Thebäischen Legion oder in der Stilisierung des nicht datierbaren, möglicherweise rein lokalen Eremiten Beatus zum ersten Glaubensboten der Schweiz.6
Bereits nicht mehr eindeutig auf den Heiligen bezogen und damit sekundär ist die Vergabe eines christlichen RufN, „der z.B. im Mittelalter als Heiligenname (HlN) in die NG [Namengebung] einer Familie Eingang fand“ (KOHLHEIM 1996: 1048) und in der Folge durch Nachbenennung weitervergeben wurde. Aus dieser Art der Nachbenennung kann sich schlussendlich als tertiäre Motivation eine Namenmode entwickeln, bei der unterschiedliche Kräfte im Spiel sind. Häufig gibt es soziale Schichten, die Vorbildfunktion ausüben und für einen Namen positive Selektion bewirken. Die Namentraditionen führender Familien sind oft wichtiger bei der Verbreitung eines Heiligennamens als der entsprechende Heiligenkult. Der Frauenname Agnes verbreitet sich in Deutsch-
6
www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11531.php (11.04.16). Wer diese 100 autochthonen Heiligen sind, wird vom Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) allerdings nicht aufgelöst – auch nicht an anderer Stelle.
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land nicht wegen einer besondern [sic] Beliebtheit dieser Heiligen, sondern weil der Name in deutschen Fürstenhäusern sehr häufig war (wobei noch zu fragen wäre, auf welchem Wege der Name in die Fürstenhäuser gelangt ist). (HUBER 1986: 335)
Die genannten drei Motive können durch weitere Bräuche überlagert werden, wie Nachbenennung nach den Paten sowie „RN-Wahl nach dem Fest des Heiligen des Geburts- oder Tauftages“ (KOHLHEIM 1996: 1049). Schlussendlich sind die Motive respektive Prinzipien nicht mehr wirklich zu trennen. Grundsätzlich gilt aber, dass die Heiligenverehrung ein untergeordnetes Element bei der Namenwahl darstellt, „vielleicht sogar das unbedeutendste. Viel stärker wirken die Traditionsmuster“ (HUBER 1986: 333). Das beherrschende Traditionsmuster im germanisch-deutschen Kulturraum ist die Nachbenennung – neben Alliteration und Variation (vgl. BAUMGARTNER 1983: 39–43). Auch die nichtgermanischen Namen werden schlussendlich durch Nachbenennung vergeben. Das heißt, dass sie zuerst an einer Stelle als RufN aufgenommen werden müssen, um a) die bestehende Tradition zu durchbrechen und b) zur neuen Tradition zu werden. Ein seltenes Beispiel, das zeigt, wie ein FremdN aufgrund des primären, personenbezogenen Prinzips ins RufN-Inventar aufgenommen wird und sogleich auch die Tradition der Nachbenennung einlöst, findet sich in BAUMGARTNER (1983: 43). In einer Zürcher Urkunde vom 26. Mai 1279 vermacht Heinrich Walliseller, der zu einer Wallfahrt nach Santiago aufbricht, dem Zürcher Spital seine Güter, falls sein Enkel sterben sollte: “Ego Heinricus dictus Walaselder, civis Thuricensis ad Sanctum Iacobum proficiscens, meum volens condere testamentum, Iacobum impuberem filium Iacobi filii mei heredem meum constituo“ (ESCHER 1901: 79, Nr. 1734).7 Von diesem Heinrich kann angenommen werden, dass er den heiligen Jakob verehrte; sein Sohn wie auch sein Enkel tragen den Namen Jakob.8 Auch wenn wir hier das Motiv nachzeichnen können, warum Jakob ins RufN-Inventar aufgenommen wird, so ist das in den seltensten Fällen möglich. „Die Gründe für die Wahl solcher Namen müssen meistens ungeklärt bleiben“ (BAUMGARTNER 1983: 43). Schlussendlich verselbständigen sich die Namen und werden vom jeweiligen Heiligen entkoppelt. Im Laufe der Zeit verblassen die religiösen Vorbilder. Nur ihre Namen bleiben durch interne Familientraditionen erhalten. Es ist aber kaum denkbar, dass ein Nesi, ein Trini, ein Dichtli, ein Jörg, ein Stoffel, ein Clewi ihre Rufnamen noch in Verbindung bringen mit den ehrwürdigen
7
8
ʻIch, Heinrich, genannt Walaselder, Bürger von Zürich, aufbrechend nach St. Jakob, gewillt mein Testament zu machen, setze den minderjährigen Sohn Jakob meines Sohnes Jakob als Erben ein.ʼ [meine Übersetzung, S.B.] In Zürich besteht ein nachweislicher Jakob-Reliquienkult: Um 1170 werden Reliquien für das Fraumünster belegt; das Patrozinium ist aber Felix und Regula sowie Maria geweiht.
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Heiligen Agnes, Katharina, Benedictus, Georg, Christophorus und Nikolaus. (RAMSEYER 1995: 146)
Das zeitliche Auftreten nichtgermanischer RufN kann aufgrund verschiedener Untersuchungen grob skizziert werden.9 Bis ca. 1200 spielen nichtgermanische RufN eine periphere Rolle. Für Zürich hält BAUMGARTNER (1983: 43) fest: „Sie treten in unserem Material erst in der Zeit nach 1200 stärker in Erscheinung.“ Johannes, Martin und Peter treten im 11. und 12. Jh. ganz vereinzelt auf und werden Anfang des 13. Jh. häufiger vergeben: Johannes ist mit 18 Nennungen in der Zeit zwischen 1200 und 1254 der häufigste männliche FremdN; der häufigste germanische RufN Heinrich wird im selben Zeitraum 103-mal genannt (BAUMGARTNER 1983: 72). Für das 14. und 15. Jh. fehlen entsprechende Untersuchungen für Zürich. WELTI (1967) setzt im nachreformatorischen Zürich ein (Mitte 16. Jh.), und die Vergabe der RufN Hans (Joh.) und Jakob (Jagli) sowie des DoppelN Hans Jakob überflügeln vom 16. bis 18. Jh. alle anderen genannten Namen, darunter Caspar, Conrad oder Rudolf, bei weitem; einzig Heinrich erreicht ähnliche Zahlen wie Jakob. Martin hingegen nimmt keinen nennenswerten Platz ein; er wird im untersuchten Zeitraum fünfmal vergeben (WELTI 1967: 111–115). Ähnlich der Befund für Bern: Die in den nachreformatorischen Berner Urbaren des frühen 16. Jahrhunderts aufgeführten Rufnamen sind bei Männern und Frauen je fast zur Hälfte ursprüngliche Heiligennamen! Hinter dieser grossen Zahl steht eine jahrhundertealte Tradition, die mit dem Wirken der Predigermönche im 13. Jahrhundert begonnen hat. (RAMSEYER 1995: 146)
Die Vergabe von christlichen RufN setzt demnach im 13. Jh. ein und entwickelt ihre Hochkonjunktur vor dem 16. Jh. Wie verhalten sich nun die HeiligenN in der Entwicklung der FamN? Am Beispiel Zug kann nach FÄHNDRICH (2000) dieses Verhältnis nachgezeichnet werden.10 Bis zum Ende des 14. Jh. ist genau ein BeiN aus einem nichtgermanischen RufN belegt. „Den 21 BN, die aus Rufnamen entstanden sind, liegen bis auf einen Fall altdeutsche Rufnamen zugrunde. Jans, der einzige, der auf
9
BAUMGARTNER (1983: 18–23) untersucht „Aufbau und zeitliche Entwicklung des Rufnamenbestandes“ (ebd., 18) im Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich (ZUB) sowie in den Urbaren und Rödeln der Stadt und Landschaft Zürich (ZUR) in der Zeit zwischen 1000 und 1254. WELTI-(1967) untersucht Taufbücher des 16.-18. Jh. im Raum Zürich. Die Daten sind also nicht 1:1 vergleichbar (Nennungen vs. Taufeinträge), aber sie können trotzdem ein Bild der häufig getragenen und vergebenen RufN vermitteln. HUBER (1986: 331–340) skizziert die Verhältnisse in Graubünden und RAMSEYER (1995) kommt kurz auf Bern zu sprechen. 10 FÄHNDRICH (2000) fragt nach dem Entstehungsprozess von BeiN und deren Entwicklung zu FamN in Zug. Als Hauptquellen wertet er die Jahrzeitbücher von St. Michael in Zug zwischen 1380 und 1612 aus.
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einen christlichen Rufnamen zurückgeht, ist erst ab 1374 nachgewiesen“ (FÄHNDRICH 2000: 48). Für die Zeit zwischen 1380 und 1434 kann FÄHNDRICH zwar einen Anstieg dieser BeiN feststellen, grundsätzlich ändert sich das Bild aber nicht: Für 64 der 77 BN, die auf einen Rufnamen zurückgehen, ist ein altdeutscher Rufname Motiv. Bekanntlich steigt seit dem 12. Jh. der Anteil an biblisch-christlichen Rufnamen im deutschen Sprachraum massiv an. Das ist in Zug nicht anders. Auf die BN hat dies allerdings wenig Einfluss. Zwar steigt der Anteil der christlichen Rufnamen in BN; ein eigentlicher Wandel ist jedoch nicht festzustellen. Dies ist nicht aussergewöhnlich. Ein BN, der gleich lautet wie ein häufiger Rufname, stiftet Verwirrung und ist deshalb für die Kommunikation unpraktisch. Geht ein BN aber auf einen nicht mehr gebräuchlichen oder seltenen Rufnamen zurück, entstehen kaum Unklarheiten. (FÄHNDRICH 2000: 48)
Der Anteil biblisch-christlicher RufN nimmt also zu, zeigt aber keinen nennenswerten Niederschlag im BeiN-Inventar, um keine Homonymie RufN – BeiN zu erzeugen. Auch in der Zeit zwischen 1435 und 1499 werden in Zug von 35 BeiN, die auf einen RufN zurückgehen, lediglich sieben mit biblisch-christlichen Namen gebildet (FÄHNDRICH 2000: 51). Danach setzt in den Zuger Quellen der Verfestigungsprozess der BeiN ein. BeiN, die in der Mitte des 16. Jh. entstehen, können „sich offenbar nicht mehr zu Familiennamen verfestigen“ (FÄHNDRICH 2000: 53). FÄHNDRICH (2000: 56) fasst den Befund wie folgt zusammen: „Der Anteil der BN aus Rufnamen bewegt sich bis 1545 zwischen 17 und 21 %; 1546–1612 geht er auf 11 % zurück. Die meisten gehen auf altdeutsche Rufnamen zurück.“ Der eigentliche „Boom“ biblisch-christlicher RufN entwickelt sich also grob im 16. Jh. Zu diesem Zeitpunkt sind BeiN aber teilweise schon im Fixierungsprozess begriffen. RufN, die bereits im 13. Jh. vergeben werden, haben also mehr Chancen, ins BeiN-Inventar aufgenommen und variiert zu werden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass es im 16. Jh. im Bereich der BeiN noch zu Innovationen kommt.11 Fraglich ist, ob und wie sich der zeitliche Verlauf für die anderen deutschsprachigen Regionen der Schweiz unterscheidet. Dieser kurze Abriss zeigt, wie komplex das Zusammenspiel zwischen Namenvergabe, Motivation, zeitlicher und geographischer Ebene verläuft, wobei hier nicht alle Stränge aufgenommen wurden,12 und wie viele offene Fragen in diesem Bereich
11 Eine Änderung der Namenform war theoretisch bis 1876 möglich, denn erst in diesem Jahr wurden die Familiennamen in der Schweiz mit der Erfassung der Personen- und Zivilstandsdaten im sogenannten Zivilstandsregister fixiert (SCHOBINGER/EGLI/KLÄUI 1994: 9). 12 HUBER (1986: 333–334) geht auch dem Einfluss der Patrozinien nach, der sich für Graubünden als gering herausstellt: Kirchenpatrone gehen kaum in die Namengebung ein – sie sind zu abstrakt. Kirchenpatrozinien stehen in keinem quantitativen Verhältnis zur Existenz von FamN. Johannes und Antonius sind in Graubünden Spitzenreiter, was FamN angeht. 228 FamN stehen einem Patrozinium für Johannes und keinem für Antonius gegenüber.
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noch zu beantworten sind. Im Folgenden soll nun die Spur von universalen und regionalen Heiligen verfolgt werden, um in kleinen Schritten Antworten zu erarbeiten.
4 Heiligennamen in Familiennamen Die exemplarischen Heiligen werden kurz mit Legende und Kult vorgestellt. Das Hauptaugenmerk liegt auf den jeweiligen FamN, die um 1800 greifbar sind, deren sprachlicher Form und deren geographischer Verbreitung. Den Anfang machen die Universalkulte, ihnen folgen die Lokalkulte.
4.1 Jakob Der Universalkult des heiligen Jakob geht auf die Verehrung des Apostels Jacobus des Älteren zurück, dessen Grab im spanischen Compostela zu den wichtigsten Wallfahrtsorten der Christenheit gehört.13 Gegen Ende des 20. Jh. blühte besonders die alte Fernwallfahrt nach Santiago de Compostela wieder auf. Moderne Varianten des Jakobswegs vom Bodensee über Einsiedeln, durch die Zentralschweiz Richtung Bern und Lausanne nach Genf wurden von Tourismusorganisationen neu beschildert.14
In der Schweiz sind ihm diverse Patrozinien und Kapellen geweiht respektive nach ihm benannt.15 Die Beliebtheit des RufN zeigt sich in einem großen Variantenspektrum der FamN: Neben der Vollform Jakob16 entfaltet sich die eigentliche Varianz bei den Diminutiven. Insgesamt können in der FamN-Datenbank 24 Kurzformen Jakob zugeordnet werden. Diese Namentypes entstanden durch die unterschiedliche Integration des RufN: 19 Types gehen auf die Verlagerung des Haupttons auf die erste Silbe und Reduktion der folgenden Silben zurück (vgl. Tab. 1); fünf sind aus Formen entstanden, die die ursprüngliche Betonung beibehalten und die erste Silbe getilgt haben
13 14 15 16
Zur Verbreitung im niederdeutschen Sprachraum vgl. KUNZE (2005a). www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11512.php (11.04.16). Vgl. Suchergebnis auf https://search.ortsnamen.ch/ zu Jakob (27.04.15). Vgl. bei DRÄGER (2013: 39, Fußnote 110) zur Diskussion des Terminus Vollform, der nicht definiert ist. Im Folgenden sollen jene Formen als Vollformen gelten, die zwar die lateinische Endung -us nicht mehr haben, aber ansonsten die Konsonantenstruktur beibehalten haben wie Jakobus > Jakob, Martinus > Martin etc.
Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt & Co.
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(vgl. Tab. 2). Die erste Gruppe lässt sich formal untergliedern in vier Types ohne Suffix: Jäck, Jäckh, Jäk, Jeck, belegt 1502 „Hans Jäcken sons gütter“ (HUBER 1986, 294). Die morphologisch komplexeren Namen lassen sich in die Gruppe auf ahd. -ī(n) und jene auf die ahd. Suffixkombination aus -l + -īn, mhd. -(i)lī(n) einteilen. Innerhalb der -ī(n)-Gruppe können Namen mit Umlaut Jäggin, Jäggi, Jaeggi, Jaeggy, Jeggi, Jegge von jenen ohne Umlaut Jaggi, Jaggy, Joggi (zusätzlich mit Hebung von mhd. â; vgl. EBERT u.a. 1993: 54‒55) unterschieden werden. Mit dem Diminutivsuffix -lī(n) sind folgende Namen gebildet: Jäckli, Jäcklin, Jäggli, Jägli, Jecklin, Jeggli. Verlagerung des Haupttons Jacobus > Jacohne Suffix
mit ahd. -ī(n)
mit ahd. -lī(n)
Jäck, Jäckh, Jäk, Jeck
mit Umlaut: Jäggin, Jäggi,
Jäckli, Jäcklin, Jäggli, Jägli,
Jaeggi, Jaeggy, Jeggi, Jegge
Jecklin, Jeggli
ohne Umlaut: Jaggi, Jaggy, Joggi Tab. 1: Diminutivvarianten zu Jacobus mit Akzentverlagerung
Namen der zweiten Gruppe, bei denen die erste Silbe getilgt wurde, sind Kopp, Kobi, Kobel, Koblet, Kobelt, Köppli, Köpplin sowie Köppel (BRECHENMACHER 1957–1963 II: 91–92; HUBER 1986: 293–297). Auch hier kommen hauptsächlich Diminutivableitungen vor (-i, -el, -li, -lin). Koblet sowie Kobelt sind wohl mit analogischem -t gebildet.17 Das heisst, dass der Auslaut nach dem Muster von Namen wie Arnet (< Arnold) oder Frommelt (< Frumolt) (STRICKER/BANZER/HILBE 2008: 240) gebildet ist, mit dem Unterschied, dass das t in den letztgenannten Namen etymologisch begründet ist, da es im Endglied des RufN vorkommt (< ahd. waltan ʻherrschenʼ).18 Beibehaltung des Haupttons Jacobus > Kobohne Suffix Kopp
mit ahd. -ī(n) Kobi
mit ahd. -lī(n) Köppli, Köpplin
mit ahd. -ilo,
ahd. -ilo, -ila mit
-ila
analogischem -t
Kobel, Köppel
Kobelt, Koblet
Tab. 2: Diminutivvarianten zu Jacobus ohne Akzentverlagerung
17 Möglich ist auch ein WohnstättenN zu schweizerdeutsch Kobel ʻüberhängender Fels, unter dem die Hirten und Weidetiere bei Unwetter Schutz suchenʼ bzw. zu einem auf diesem Wort beruhenden ÖrtlichkeitsN; dieser OrtsN-Typ ist besonders in der Ostschweiz verbreitet. 18 Zur Ausbildung eines onymischen Suffixes durch -t-Antritt in FamN vgl. DFA III, 512–553.
232
Simone Berchtold
Graphisch unterscheiden sich die Namen in der Wiedergabe des umgelauteten Haupttons , in der Schreibung des Suffixes als oder sowie des velaren Plosivs als oder . Dabei handelt es sich lediglich um graphische Varianten für [æ], [ı] und [k]. Wenn man das Vorkommen der Namen um 1800 kartiert, dann zeigen sich grob drei Verbreitungsgebiete. Der Westen hat generell die -ī(n)-Diminutive mit geographischer Verteilung des Umlauts: (1) in den nördlichen Kantonen Solothurn, Aargau, Bern mit Umlaut (Haupttyp ist Jäggi); (2) im südlichen Bern und im Wallis ohne Umlaut (Haupttyp ist Jaggi); (3) Der Norden und Osten gehört den -lī(n)-Diminutiven (Haupttypen sind hier Jäggli in Zürich und Jecklin in Graubünden).
Abb. 1: Verbreitung der Familiennamen Jäggi (hellgrau), Jaggi (dunkelgrau) und Jäggli, Jecklin (mittelgrau) um 1800
Alle vier kartierten Types kommen in Deutschland praktisch nicht vor (vgl. Tab. 5 zum Tokenvergleich im Anhang) und können als regionaltypisch für die Schweiz eingestuft werden. Während DiminutivN mit Umlaut der Normalfall sind, entstehen umlautlose Formen aus dem beinahe schon inflationären Vorkommen diminutiver umgelauteter Namen. Für den Appellativwortschatz hält LÜSSY (1974: 169) fest:
Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt & Co.
233
Es handelt sich hier also nicht um Ersatz, sondern um ein Nebeneinander von verschieden stark motivierten Diminutiven. – Au f d a s B e s t r e b e n , D i m i n u t i v e m i t m ö g l i c h s t s t a r k e r Motivation zu bild en, führe ich das Vorhandensein der umlautlosen Diminutivformen zurück.
Daneben treten Zugehörigkeitsbildungen mit -er (Jakober) sowie -mann (Jeckelmann, Jekelmann) auf; für Graubünden ist auch der FamN-Typ mit Ca- belegt: Cajacob.19 Dominant bzw. einschlägig sind aber die Diminutive, die in den vorliegenden Formen die Beliebtheit des Universalkultes in der Schweiz reflektieren.
4.2 Johannes Der zweite Universalkult Johannes beruht auf der Beliebtheit verschiedener Namenträger: Johannes der Täufer, der Evangelist Johannes, der Apostel Johannes sowie mehrere Päpste und Heilige dieses Namens. Im späten Mittelalter war der RufN Johann(es) neben den Kurzformen Hans, Hannes usw. im deutschen Südwesten der häufigste RufN überhaupt (KUNZE 2004: 45). Im Familiennamenbuch sind neben der Vollform Johann, die aber mit 81 Tokens nicht sehr stark ins Gewicht fällt, auch hier die Kurzformen varianten- und zahlreich. Ähnlich wie bei Jakob existieren je nach Betonungsmuster Namen vom Typ Jann, Jenni bzw. Hänni, Hänggi etc. (s. Tab. 3 und 4). Verlagerung des Haupttons (kontrahiert) Johann > Jannohne Suffix
mit ahd. -ī(n)
Jann, Jahn
Jenni, Jenny
Tab. 3: Diminutivvarianten zu Johann mit Akzentverlagerung
19 Es handelt sich dabei um ursprüngliche Zusammensetzungen mit dem Bestimmungswort Ca(verkürzt aus romanisch casa ʻHausʼ) und einem RufN als Grundwort. Diese Bildung bezeichnet zunächst den Wohnort einer Familie: Cajacob war das Haus, wo die Familie des Jacob wohnte. Der Name konnte aber auch alle Bewohner des jeweiligen Hofes bezeichnen. Später verselbständigt sich Ca- und wurde zu einem Präfix, mit dem noch bis in die Mitte des 18. Jh. FamN gebildet werden können (HUBER 1986: 421–435).
Simone Berchtold
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Beibehaltung des Haupttons Johann > Hannmit ahd. -ī(n)
mit schweizer-
mit ahd. -ilo,
deutsch -(n)ggi
-ila + -ī
Hähni
Haenggi
Hänggeli
Hänni
Hänggi
Hänny
Henggi
mit ahd. -z Jensch, Jentsch
aus frz. Jean Tschan(n) Tschanz
Henni Henny Tab. 4: Diminutivvarianten zu Johann ohne Akzentverlagerung
Morphologisch interessant sind die auf -ggi auslautenden Namenformen. Dieser Auslaut ist auch in anderen RufN zu finden wie in Lūggi für Lukas20, Ludwig oder Luise (ID 3: 1236) oder Migg, Miggi, Miggli zu Maria (ID 4: 122). Im Schweizerdeutschen Wörterbuch werden diese Formen einmal als „Koseform“ (bei Lūggi), aber auch als „Entstellung“ (bei Maria) eingereiht. HENZEN (1957: 151) ordnet das -(n)ggi-Suffix dem Bernischen zu und klassifiziert es als „vergröbernd“. Neben den bereits genannten Formen führt er noch Schüggi zu Julie und als Variante Miggi für Emil(ie) an. Hier liegt das Diminutivsuffix ahd. -ī(n) vor, das zur Verstärkung die Geminate aufweist. Diese Verdoppelung ist allerdings meist nicht in den Ausgangsformen begründet, da diese keinen velaren Plosiv enthalten. Es liegt eine spontane Lautentwicklung vor, die das Affektive betont. Französischen Einfluss zeigt der FamN Tschan(n), der aus frz. Jean entlehnt ist. Gemäß Belegen im Schweizerdeutschen Wörterbuch ist diese Form als RufN seit 1406 und als FamN seit 1447 greifbar (ID 14: 1743). Eine Form, die ebenfalls mit romanischem Einfluss zu erklären ist, ist Tschanz. Der FamN ist um 1800 lediglich in Bern alteingesessen, „wobei der Lautstand […] frankoprovenzalischen Einfluss zu verraten scheint“ (STRICKER/BANZER/HILBE 2008: 376). Das räumliche Auftreten dieser FamN zeigt um 1800 ein Zentrum im Westen, besonders stark im Kanton Bern (vgl. Abb. 2 und Abb. 3): Bis auf Jenny, Jenni und Hänni in Safien treten alle Namenformen exklusiv im Westen und Süden auf. Wenn man das heutige Vorkommen der FamN in der Schweiz und in Deutschland vergleicht, erweisen sich auch hier – ähnlich wie bei Jakob – ein paar Types als typisch schweizerisch: Hänggi, Hänni, Jenni, Jenny sowie Tschanz (vgl. Tab. 5 zum Tokenvergleich im Anhang).
20 Hier kann gg auch durch den Stammauslaut in Lukas motiviert sein.
Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt & Co.
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Abb. 2: Verbreitung der Familiennamen Jenny, Jenni (hellgrau), Hänggi (dunkelgrau) und Hänni (mittelgrau) um 1800
Abb. 3: Verbreitung der Familiennamen Tschanz (hellgrau), Tschan(n) (dunkelgrau) und Jen(t)sch (mittelgrau) um 1800
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4.3 Martin Der heilige Martin von Tours (*316/17, †397) gehört zu den bekanntesten Heiligen der katholischen Kirche und ist, „nach Maria und Petrus, wohl das verbreitetste Kirchenpatrozinium Westeuropas und steht noch vor Johannes“ (HUBER 1986: 391). Sein Festtag, der 11.11., galt als „einer der bedeutsamsten Termine im ländlichen und bürgerlichen Leben“ (ID 4: 427) und wird auch noch heute mit verschiedenen Bräuchen (Martinigans, Laternenumzug etc.) begangen. „Der Tag bezeichnete aber insbes[ondere] das Ende des landwirtschaftlichen Jahres“ (ID 4: 427). Sein Festtag wird im Alltag an Zins- und Markttermine gebunden, so sind in Bern „zu Beginn des 19. Jahrhunderts […] bei Wohnungsmieten neben Lichtmess (2. Februar) Jakobi (25. Juli) und Martini (11. November) die meistgenannten Termine“ (RAMSEYER 1995: 147).21 Diese Bekanntheit und Beliebtheit schlägt sich auch in der RufN-Gebung nieder: „Martinus ist einer der wenigen Namen, die seit dem 6. Jh. bis heute unverändert beliebt blieben (dies im Gegensatz zu den starken Popularitätsschwankungen bei gewissen biblischen Namen, wie Jakobus oder Thomas)“ (HUBER 1986: 392). In der Schweiz erlebte die Vergabe von Martin als VorN in den 60er und 70er-Jahren des 20. Jh. einen vorläufigen Höhepunkt.22 Bei der Analyse der FamN-Formen zeigt sich folgendes Ergebnis: Die Form Martin ist um 1800 vor allem in der französischsprachigen Schweiz alteingesessen; für die deutschsprachige Schweiz sind die Formen Marti und Mart(h)y einschlägig (vgl. auch Tab. 7 im Anhang). Hier liegt kein Diminutiv vor, sondern Nasalschwund im Auslaut, der in der Schweiz in den meisten Gebieten regelhaft ist (SDS II: 155) und auch der älteren Aussprache des Namens entspricht (ID 4: 426). In der Schreibung von FamN kann dies zu Paaren führen: solchen, die -n in der Schreibung beibehalten wie Brändlin, Schmidlin, und solchen, die den n-Abfall übernehmen wie Brändli, Schmidli (KULLY 2009: 373). Als Diminutiv ist der FamN Martel (< -el) hier einzuordnen (ID 4: 426) neben Martig, das mit dem patronymischen Suffix -i(n)g abgeleitet ist. Das Suffix wurde noch in den Mundarten des 20. Jh. zur Kennzeichnung der Familienzugehörigkeit (ʻzur Familie Marti gehörigʼ) verwendet.23 Martig ist um 1800
21 Dies betrifft auch andere Kalenderheilige wie Agathe oder Andreas, vgl. RAMSEYER (1995: 146– 147). 22 Vgl. Vornamen in der Schweiz, www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/02/blank/dos/ prenoms/02.html (08.06.15). 23 HENZEN (1965: 165): „In der Schweiz lebt das Suffix in Fällen wie Schmidig(e) für Angehörige einer Schmidfamilie noch heute weiter; in der ältern Walliser Mundart tritt es durchaus frei an alle Familiennamen: Sigiga, Rubiga für Mitglieder einer Familie Siegen, Rubin usw. Sogar der Sing. läßt sich belegen: (er ist ein) Schmidig.“
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im Berner Oberland und im Wallis alteingesessen, wo dieses Suffix am längsten produktiv war.
Abb. 4: Verbreitung der Familiennamen Martin (hellgrau), Marti, Marty (dunkelgrau) und Martig (mittelgrau) um 1800
Im Gegensatz zu den vielen Diminutivvarianten bei Jakob und Johannes sind praktisch keine Martin-Formen um 1800 belegt.24 Trotz der Beliebtheit des VorN liegen hier also vergleichsweise wenige Varianten vor. Auf der Karte zeigt sich die Verbreitung Martin – Marti sehr deutlich; sie verläuft – bis auf das Gebiet um Basel – entlang der deutsch-französischen Sprachgrenze.
4.4 Jodok Der Universalkult des heiligen Jodocus geht auf den vermutlich im 7. Jh. lebenden Pilger und Eremiten Jodocus zurück (* um 600 n. Chr. in der Bretagne; † um 669? in
24 Das Schweizerdeutsche Wörterbuch belegt Marteli und Märteli als dialektale Diminutive (ID 4: 426).
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der Picardie). TRIER (1924) zeigt in seiner Untersuchung die Ausbreitung des Patroziniums und des Namens: Ausgehend vom Eifel-Mosel-Zentrum verbreitet sich der Kult und auch der Name in Deutschland und in der Schweiz (nach BACH 1952–1956 I, 2: 130). In der Schweiz wurde Jodocus v.a. als Schutzpatron gegen Engerlinge und Käfer angerufen; sein Patrozinium wird am 13. Dezember gefeiert (ID 3: 74). Es sind ihm einige Kirchen und Kapellen geweiht, so beispielsweise St. Jost in Blatten, einem Ortsteil von Malters in Luzern, oder die St.-Jost-Kapelle in Galgenen, Kanton Schwyz.25 Als FamN finden sich Formen, die auch in Deutschland vertreten sind: Joos, Joss sowie jene mit unorganischem -t-Antritt Jost, Joost (vgl. DFA VI, Kartenentwurf Jodocus; SCHOBINGER/EGLI/KLÄUI 1994: 98).26 Was die ersten beiden Formen in der Schweiz betrifft, zeigt sich ein Verteilungsbild: Joss vor 1800 nur in Bern, Joos nur in östlichen Kantonen, v.a. in Graubünden. Joss dürfte in Bern – nahe der Sprachgrenze – die französische Variante Josse (zu St. Josse) reflektieren; die Schreibung Joos entspricht der alemannischen Lautung mit [o:] (ID 3: 74).27 Daneben finden sich Diminutivformen, die mit dem ahd. Suffix -ī(n) gebildet sind: Josi und Jossi neben Josty und Josti. An Zugehörigkeitsbildungen treten im Material die Ableitung Jösler (Graubünden) neben der schwachen Genitivform Jossen (Wallis) auf. Daneben gehört wohl auch der Name Jaus hierher, der eine diphthongierte Form zu Joos darstellt.28 Ähnlich wie bei den Namen aus Johannes zeigt sich hier ein konzentriertes Auftreten der oben dargestellten Namenformen im Südwesten (Bern, Wallis) und im Osten (Graubünden, St. Gallen). Zum Vorkommen in Graubünden bemerkt HUBER (1986: 384): „Bemerkenswert ist das frühe Auftreten der deutschen Form Jos in rein romanischen Gebieten wie Surselva und Unterengadin.“ Der Kult ist hier vom Norden (St. Josse) her gesteuert; Italien beispielsweise hat der Kult nicht erreicht (HUBER 1986: 384). Mit Jodocus verlassen wir die Universalkulte und wenden uns nun Heiligen zu, die – gemäß ihrer Vita – auf dem Gebiet der heutigen Schweiz gelebt respektive gewirkt haben.
25 http://bbkl.de/lexikon/bbkl-artikel.php?wt=1&art=./J/Jo/jodok.art (01.04.15). 26 Ich möchte an dieser Stelle Katrin DRÄGER für das Bereitstellen des Kapitelentwurfs danken. 27 BRECHENMACHER (1957–1963 I: 778) und ID (3: 75) lehnen eine Ableitung zu Josua oder Joseph ab, da v.a. ersterer als RufN im Mittelalter noch weitgehend ungebräuchlich respektive unbekannt war. „Dafür spricht insbesondere deren Vorkommen in den ä[lteren] Belegen, welche sich auf den Namen des Heiligen als Kirchenpatron direkt beziehen“ (ID 3: 75). 28 Diphthongierung von mhd. ô ist im Schwäbischen und angrenzenden Alemannischen seit dem 13. Jh. belegt (EBERT u.a. 1993: 59).
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4.5 Verena Der Kult der heiligen Verena (* um 260 n.Chr.; † um 320 in Zurzach) ist der älteste mit einem Heiligengrab verbundene Kult in der Schweiz. Der Legende nach kam sie im Gefolge der Thebäischen Legion von Ägypten in die heutige Schweiz. In der Vita prior (Ende 9. Jh.) lebt sie als Einsiedlerin in Solothurn bis zu ihrem Tod; in der Vita posterior (Ende 10. Jh.) wandert sie von Solothurn nach Zurzach, wo sie „als Inklusin neben der Kirche“ lebt (STRAUB 1987, s.v. VE-VE). Dadurch bildeten sich an diesen Orten zwei unabhängige Verehrungszentren heraus, „von denen Zurzach, seit je im Besitze des Verenengrabes und der Reliquien, ungleich grössere Bedeutung gewann“ (STRAUB 1987, s.v. VE-VE). Bereits im 5. Jh. sind Wallfahrten nach Bad Zurzach bezeugt (HUBER 1986: 410–411). Der Kult erlebt in der Schweiz zwei Blüten: Im 10. Jh. wurde Zurzach als eine Art Landesheiligtum vom burgundischen wie vom schwäbischen Herrscherhaus favorisiert. Zweiter Höhepunkt im Spätmittelalter durch die international beschickte Zurzachermesse, die sich aus der Tumuluswallfahrt entwickelt hatte. (STRAUB 1987, s.v. VEVE)
Ihr Patrozinium ist sehr häufig in der deutschsprachigen Schweiz, u.a. in Gonten (Appenzell Innerrhoden), wo 1453 die Kirche St. Verena gebaut wurde.29 Ihr Gedenktag ist der 1. September; „im Kalender der Bauern [hat er] mannigfache (nachgerade in Verwirrung geratene und sich widersprechende) Beziehung auf Wetterprognose und landwirtschaftliche Arbeiten“ (ID 1: 915). Einen Hinweis zur Vergabe des RufN gibt REINLE: „Viel später setzte der Gebrauch des Namens V[erena] als Taufname ein; erste bekannte Trägerin ist um 1250 eine Tochter des Ritters und Dichters Walther von Klingen.“30 In der Schweiz sind um 1800 folgende FamN belegt: Frehner und Frener; Frenn und Fren. Die Formen resultieren aus dem Paenultima-Akzent im RufN Verēna: Unbetontes [e] schwindet in nebenbetonter Position und dies ergibt RufN wie Vrena, Vren (ID 1: 915).31 Um 1800 ist Frehner v.a. in Appenzell Ausserrhoden und Frener einmal in Luzern und einmal in Russikon (Zürich) als Bürgergeschlecht nachgewiesen. Die heutige Verbreitung von Frehner stimmt nach wie vor mit diesen Ortspunkten überein und ist in den PLZ-Bereichen 91* (Herisau, Schwellbrunn, Urnäsch, alle
29 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D1314.php (11.04.16). HUBER (1986: 410–411) nennt 13 Patrozinien; insgesamt sind es heute neun Verenakirchen, wobei es wohl noch mehr Verenakapellen gibt; Informationen unter www.st-verena.ch/index.php?page=verena-patrozinien (30.03.15). 30 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10226.php (11.04.16). 31 ID 1: 915: Eine notierte Mundartform für Basel mit neutralem Genus ist das Vrēn.
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Appenzell Ausserrhoden) am frequentesten; Frener ist insgesamt eher selten und weist kein Zentrum auf.32 Fren und Frenn haben denselben Bürgerort (Binnigen, Baselland), sind aber mit insgesamt drei Tokens äußerst selten. Die Frehner sind zwar nicht in Gonten (Appenzell Innerrhoden) alt bezeugt, aber in acht umliegenden Gemeinden wie Appenzell oder Urnäsch (vgl. Abb. 5). Ein Zusammenhang mit der St. Verena-Kirche liegt als Namenmotivation hier nahe.
4.6 Regula Die heilige Regula († um 305 in Zürich) gehört mit Felix und Exuperantius zu den Stadtheiligen von Zürich. Der Legende nach floh sie mit ihrem Bruder Felix aus der Thebäischen Legion über Glarus nach Zürich. Dort wurden die Geschwister unter dem röm[ischen] Statthalter Decius gefoltert und enthauptet […]; anschliessend trugen die beiden Märtyrer ihre Häupter 40 Schritte weit an ihre selbstgewählte Grabstätte. Um diesen Kern rankten sich bis zum Ende des MA weitere Legenden; die wichtigste Ergänzung erfolgte im 13. Jh. mit der Einführung von Exuperantius als drittem Stadtheiligen.33
In jüngster Zeit wurde der Kult durch koptische und orthodoxe Christen wieder belebt.34 In Schweizer FamN hat Regula als Regli ihre Spuren hinterlassen (KULLY 2009: 378). Dieser FamN ist um 1800 in sechs Urner Gemeinden bezeugt (daneben noch einmal in Hallau/Schaffhausen; vgl. Abb. 5). Das gehäufte Vorkommen in Uri ist höchstwahrscheinlich mit einem lokalen Reliquienkult zu erklären (so auch HUBER 1986: 404). Als während der Reformation 1524 der Heiligenkult abgeschafft und die Kirchenschätze beschlagnahmt wurden, sollen die Reliquien der beiden nach Andermatt gebracht worden sein, wo ihre Häupter bis heute in der Pfarrkirche aufbewahrt werden.35
32 Tokens in der Schweiz: Frehner 587; Frener 26; Frenn 1; Fren 2 vs. Tokens in Deutschland: Frehner 42; Frener 49; Frenn 0; Fren 1. 33 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10200.php (11.04.16). 34 Vgl. „Eine Stadt und ihre Märtyrer. Multimediales Stadtwandern durch Zürich (ein Projekt der Philosophischen Fakultät anlässlich der 175-Jahr-Feier der Universität Zürich)“: www.175jahre. uzh.ch/fakultaeten/weiter-denken/programm/zentraleveranstaltungen/felixundregula.html (29.06.15). 35 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10200.php (11.04.16); die Pfarrkirche in Andermatt ist Peter und Paul geweiht.
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STRAUB (1987: s.v. FI-FI) spricht von einem „heute noch existierenden postreformatorischen Sekundärkult“, der dort entstanden ist. Da der Prozess der FamN-Bildung in ländlichen Gebieten zeitlich versetzt geschehen kann (KUNZE 2004: 61), können areal auch noch in nachreformatorischer Zeit FamN entstanden sein.36 Ein kurzer Exkurs zu Metronymen bietet sich hier an. Auch wenn SONDEREGGER (1958: 540) für Appenzell bemerkt: „Frauennamen, d. h. Ahnfrauennamen, haben einen großen Anteil an der Bildung appenzellischer FaN und Übernamen“, sind FamN auf der Basis eines weiblichen RufN vergleichsweise selten, und wenn sie in Urkunden greifbar werden, so sind sie schlussendlich „kurzlebige Gebilde“ (FÄHNDRICH 2000: 33) und verschwinden wieder. Als Ausgangspunkt für den Exkurs dienen die RufN-Listen in BAUMGARTNER (1983: 52–53) für Zürich: In den von ihm untersuchten Urkunden treten im 12. und 13. Jh. 15 zweigliedrige weibliche RufN auf. Zu den häufig belegten Namen gehören Adelheit, Mehthilt, Hadwic und Gertrut, mit der Einschränkung, dass für Frauen „nur wenige Vollformen und wenige Namenträgerinnen überliefert“ sind (BAUMGARTNER 1983: 53). Zwischen 1000 und 1254 treten in der Zürcher Überlieferung acht nichtgermanische weibliche RufN auf: Agatha, Agnes, Anna, Elisabeth, Euphemia, Margaretha, Mia sowie Sophia. Die Spurensuche nach FamN aus diesen weiblichen RufN – auch den germanischen – zeigt, dass es sich um äußerst niederfrequente Namen handelt, die formal jedoch die vielen Möglichkeiten widerspiegeln, mit denen Zugehörigkeit markiert werden konnte. Dem RufN Anna können in der Datenbank folgende Formen zugeordnet werden: (1) formal wie der RufN Anna, (2) erweitert mit -sohn Annasohn, (3) abgeleitet mit den Suffixen -er, -ler Anner neben Anneler, (4) flektiert als schwacher Genitiv Annen sowie (5) Nänni, Nänny mit Diminutiv auf -i.37 Ähnlich bei Agnes > Agner, Neeser, Nessensohn und Elisabeth > Eller, Elsener, Elser, Elsig, Elsinger (FÄHNDRICH 2000: 119; SCHOBINGER/EGLI/KLÄUI 1994: 58). Auch aus germanischen RufN liegen FamN vor: Mätzener, Metzener, Mätz und Metz leiten sich von Mechthild ab; Geser, Geeser gehören zu Getrud. Formal zeigen Metronyme dieselbe Bandbreite an Bildungsmöglichkeiten wie Patronyme. Während die Suche nach germanischen Basen weniger Ergebnisse erzielt, sind von den bisher in der Datenbank bearbeiteten Metronymen die meisten einem nichtgermanischen RufN zuzuordnen. Die zugrundliegenden Heiligenfiguren wurden nicht auf ihre Kulte in der Schweiz hin untersucht, ergo können auch keine
36 Die Heiligen könnten auch schon früher in Andermatt verehrt worden sein, weshalb die Reliquien dann auch dorthin gebracht wurden. Dieser Punkt wird allerdings in der konsultierten Literatur nicht ausgeführt; dem müsste noch nachgegangen werden. 37 Der Anlaut mit N- entsteht entweder durch Proklise eines vorausgehenden Artikels oder kann auch bei Kontaktstellung von zwei Vokalen, die unterschiedlichen Morphemen angehören, als Hiatustilger entstanden sein kann (vgl. NÜBLING/SCHRAMBKE 2004: 313, Karte 4a).
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Aussagen dazu gemacht werden. Ihr Vorkommen als FamN stützt aber ihren Status als BeiN zur Zeit der FamN-Bildung.
4.7 Beat Die Wirkstätte des heiligen Beat (†112 in der Beatushöhle) liegt im Kanton Bern: „Der aus Britannien stammende B[eatus], ein Schüler des Barnabas, habe vom hl. Petrus in Antiochien den Auftrag erhalten, bei den Helvetiern den christl[ichen] Glauben zu verkünden.“38 In St. Beatenberg am Thunersee soll er der Legende nach mit seinem Gefährten Achatus in einer Höhle gelebt und dort einen Drachen getötet haben, der die Gegend verwüstet haben soll. 1230 wird der Kultort erstmals erwähnt und bis zur Reformation vom Kloster Interlaken betrieben (STRAUB 1987: s.v. AV-BE).39 Von dort breitet sich der Kult im 14. Jh. weiter aus, und es werden im 16. und 17. Jh. auch Beatusreliquien „gehandelt“ (ID 4: 1844). „Beatus avancierte mit NIKLAUS VON FLUEH zu einer der religiös-polit[ischen] Galionsfiguren von Gegenreformation und Kulturkampf“ (STRAUB 1987: s.v. AV-BE). Er wird als erster Missionar der Schweiz bezeichnet. Der RufN Beat wird bzw. wurde in der Schweiz so häufig vergeben, dass er heute als „schweizerisch“ eingestuft wird.40 Als FamN kommt Beat als Batt vor, welches die ältere Ausspracheform des RufN ist (ID 4: 1844). Sie beruht auf der älteren Betonung der zweiten Silbe [be'a:t] (< lat. beātus) gegenüber neuerem ['bea:t]. Der [e]-Laut in nebenbetonter Position konnte schwinden. Träger dieser dialektalen Nebenform Batt sind in Münsingen (Kanton Bern) vor 1800 alt verbürgt und in diesem Gebiet auch heute noch häufig vertreten (vgl. Abb. 5): Von 78 Tokens entfallen 14 auf Münsingen sowie 26 auf die benachbarten PLZ-Bereiche 31* (= 4 Einträge) und 30* (= 22 Einträge). Der FamN bleibt somit in seiner Verteilung dem ursprünglichen Wirkungsort des heiligen Beat nahe.
38 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10213.php (11.04.16). 39 Die Chorherren von Interlaken beauftragten 1511 den Basler Franziskaner Daniel Agricola mit dem Abfassen einer Legende, vgl. www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10213.php (11.04.16). 40 www.beliebte-vornamen.de/9918–beat.htm (24.06.15): „Beat: Männlicher Vorname, Herkunft: Schweizerische Kurzform von Beatus.“ Im Telefonbuch werden 19.653 Einträge mit VorN Beat und Béat gelistet.
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Abb. 5: Verbreitung der Familiennamen Frehner (hellgrau), Regli (dunkelgrau), Batt und Immer (mittelgrau) um 1800
4.8 Himerius Der heilige Himerius wurde um 570 in Lugnez, einer Gemeinde im heutigen Kanton Jura, geboren; sein Sterbeort im Berner Jura († um 620) wurde in der Folge nach ihm benannt: Saint-Imier (dt. St. Immer). Der Legende nach habe er eine Insel von einem Untier befreit, woraufhin sich die Inselbewohner zum Christentum bekehrt haben.41 Er soll sich nach einer Pilgerfahrt im Tal der Schüss (frz. La Suze) als Einsiedler zurückgezogen haben. „Die Verehrung war vor dem Glaubenswechsel im gesamten ehem. Fürstbistum Basel und im angrenzenden Elsass verbreitet; seit dem 9. Jh. bezeugt, doch erst um die Mitte des 15. Jh. ausführlich erwähnt.“ (STRAUB 1987: s.v.
41 Vgl. STRAUB (1987: s.v. HE-HY): Grab und Reliquien wurden in der Reformation zerstört respektive verbrannt; „die vielbestaunte ʼGreifenklaueʼ, angebl[ich] einem mythischen Untier in Palästina abgerungen, überlebte bis ins letzte Jh. in Delsberg JU – mit einiger Wahrscheinlichkeit kein zoologisches Unikum, sondern ein spätmittelalterliches Büffelhorn-Reliquiar“.
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HE-HY). Gemäß BRECHENMACHER (1957–1963 I: 772–773) ist der RufN im Mittelalter im Alemannischen häufig. Neben dem unmittelbaren Niederschlag in der Toponymie kann Himerius auch in FamN nachgewiesen werden: in einer deutschen Namenform Immer sowie einer französischen Imer. Die Namen bewegen sich im niederfrequenten Bereich: Immer mit 70 Tokens und Imer mit 66. Während Immer heute sehr verstreut auftritt, zeigt Imer ein Nest in La Neuveville (Bern), wo der Name um 1800 auch alteingesessen ist und welches ca. 20 km Fußweg von St. Imier entfernt liegt (vgl. Abb. 5). Auch dieser FamN hat sich kaum vom ursprünglichen Wirkungsort des heiligen Himerius entfernt.
4.9 Befund und Ausblick Familiennamen Beim Betrachten der beigelegten Karten fällt auf, dass viele der untersuchten Types gehäuft in den westlichen Kantonen der deutschsprachigen Schweiz auftreten. Viele der Types finden sich auch im Osten, v.a. in Graubünden (wobei hier lediglich die deutschsprachigen Varianten kartiert wurden).42 Aufgrund der eher zufälligen Auswahl an Namen sind hier keine Verallgemeinerungen angebracht. Aber dieser erste Befund kann die zeitlich-räumliche Ausbreitung der HeiligenN von Westen kommend stützen (KUNZE 2004: 41). Die Karten zeigen ein dichtes Vorkommen von FamN aus christlichen RufN im Westen. Die Räume Zürich, Nordostschweiz und auch Zentralschweiz sind häufig leer, bis auf den FamN Marti. Wie die Untersuchungen von BAUMGARTNER (1983) und FÄHNDRICH (2000) gezeigt haben, setzt die christliche RufN-Vergabe im 12. Jh. ein und nimmt dann zu; die fremden RufN können aber keinen größeren Anteil im BeiN-Inventar erzielen, da sie zwar zur Individualisierung (Vergabe als RufN), aber nicht zur genaueren Identifizierung (Vergabe als BeiN) verwendet wurden. Der Prozess der Festwerdung und der damit einhergehenden Reduktion an BeiN setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem die fremden RufN hauptsächlich dem Inventar der RufN angehören und noch nicht in größerem Ausmaß in das Inventar der BeiN gewechselt haben. Dieser erste Befund spricht dafür, dass christliche RufN in den westlichen Kantonen schon früher vergeben wurden und sie nach der deskriptiven eine propriale Referenz (X Sohn des Jäggi > X Jäggi) ausbilden konnten. Ein zweiter Befund ist die Häufigkeit von Diminutiven in FamN, der nicht grundsätzlich neu ist (KULLY 2009: 373), aber im Zusammenhang mit Beobachtungen von
42 Zahlreich sind auch die romanischen FamN in Graubünden, die hier nicht behandelt wurden, aber natürlich auch als Zeugnis für die Ausbreitung der verschiedenen Kulte herangezogen werden können und müssen; vgl. hierzu generell HUBER 1986.
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FÄHNDRICH (2000: 35–36) neue Fragen aufwirft.43 Zum FamN Stad bemerkt er: Der Name macht im 15. Jh. eine morphologische Veränderung durch, indem die Präposition am (Stad) verschwindet und das sehr häufig verwendete Diminutivsuffix -lin an den Namen angehängt wird. „So entsteht der heute noch bestehende Zuger Familienname Stadlin“ (FÄHNDRICH 2000: 35). Ähnlich auch die Veränderung des FamN Ago, Agen zu Acklin: Es „erscheinen endungslose Formen und solche mit der Genitivendung -en, bis der BN schliesslich gegen Ende des 15. Jh. mit Agglin, Acklin jene Form findet, unter der er noch heute als Zuger Familienname bekannt ist“ (FÄHNDRICH 2000: 36). Die Frage nach der Funktion des Suffixes drängt sich auf: Wird es im 15. Jh. (auch) als onymisches Suffix verstanden? Die Häufigkeit von diminutiven Namenformen – speziell des -li-Suffixes – spricht dafür, dass es in der Namenbildung eine Funktion übernimmt, die neben dem Ausdruck des Hypokoristischen und der Bezeichnung der Nachkommen möglicherweise auch onymische Funktion hat – das heißt Markierung als EigenN. Auch KUNZE (2004: 71) nennt diese Funktion für den Diminutiv: ein „Mittel, um aus Appellativen einen Namen zu bilden“. Wenn es mit der Genitivendung -en variieren kann, wäre auch eine propriale Funktion denkbar – das heißt Markierung der Nachkommen. Die Frage nach der regelhaften morphologischen Veränderung von Namen müsste am historischen Material großflächiger geprüft werden.
5 Heiligennamen in anderen Namenklassen HeiligenN in Praxonymen und Ergonymen neuerer Zeit verhalten sich ganz ähnlich wie HeiligenN in RufN. So wie sich die Vergabe von RufN unterschiedlich motivieren lässt, können auch im Bereich dieser Namenklassen ähnliche Pfade nachgezeichnet werden: von der bewussten Bezugnahme auf den Heiligen, der in irgendeiner Weise im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, über die Vergabe nach einem bestehenden Namen bis hin zur unterschiedlich motivierten Verselbständigung. Im Folgenden werden exemplarisch die Pfade des heilige Alban in Winterthur und des heiligen Jakob in Basel verfolgt.
43 Zur Frage nach dem Zusammenhang von Diminutiven und Nomen-agentis-Bildungen vgl. BERCHTOLD (im Druck), Streifzug durch die Familiennamenlandschaft der deutschen Schweiz.
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5.1 St. Alban St. Alban gehört mit St. Pankratius und St. Laurentius zu den drei Schutzheiligen der Stadt Winterthur. Er gilt als erster Märtyrer Englands († um 320 in Verulam, heute Grafschaft Hertfordshire, Großbritannien). Der Legende nach diente er einige Jahre in der römischen Armee. Während der Christenverfolgung soll er enthauptet worden sein. Wegen seiner Todesart trägt er als Attribute seinen abgeschlagenen Kopf respektive ein Schwert in der Hand.44 In der Winterthurer Altstadt wird seit 1971 jedes Jahr Ende Juni das Albanifest gefeiert. Der Zeitpunkt hängt mit dem Gedenktag des Heiligen am 22. Juni zusammen, der für Winterthur historisch bedeutsam ist (vgl. auch ID 1: 185): Der von Rudolf von Habsburg 1264 am Tag des hl. Albanus, dem 22. Juni, ausgestellte Stadtrechtsbrief befreite die Bürger von fremden Herren und Gerichten und sicherte ihnen Rechte bei der Wahl des Schultheissen zu, dem Vertreter des Stadtherrn.45
Das Albanifest „erinnert in neuer Form als Stadtfest an die bis 1866 am Albanitag abgehaltene Bürgergemeinde“.46 Die Veranstalter werben auch mit einer modernen Darstellung des enthaupteten Alban: Auf dem comicartigen Logo des Festes wird der Heilige kopflos dargestellt; sein Kopf (mit Sonnenbrille) schwebt neben Alban oder er hält ihn in der Hand.47 Der WarenN Chopfab für ein Bier, das in Winterthur gebraut wird, ist ebenfalls von diesem Heiligen beeinflusst. Auf der Ebene der Semantik und Phonologie werden verschiedene Assoziationen angestrebt. Gemäß den Firmengründern ist der Name folgendermaßen motiviert: Die Schreibung mit weist auf die Schweiz hin. Einmal als Anspielung auf das offizielle Kfz-Nationalitätszeichen CH (= Confoederatio Helvetica) sowie indirekter auf die dialektale Aussprache des anlautenden /k/ als Frikativ [x]. Mit dem Wort Chopfab soll daneben über die Redensart ʻeine Flasche
44 Es gibt zwei Alban: einen älteren Alban von England († um 320), sein Gedenktag ist der 22.06., und einen jüngeren Alban von Mainz († um 406 in Mainz), sein Gedenktag ist der 21.06. Diese beiden Heiligen scheinen sich teilweise zu überlagern, was Todesart und Attribute angeht. Die Legende, dass er seinen Kopf zur Grabstätte getragen habe, wird Alban von Mainz zugeschrieben (http://bbkl.de/lexikon/bbkl-artikel.php?wt=1&art=./A/Ak-Al/alban_v_m.art; http://bbkl.de/ lexikon/bbkl-artikel.php?wt=1&art=./A/Ak-Al/alban_v_v.art, 08.06.15). Auch SALVISBERG (1999: 384) hält für das Basler Quartier St. Alban fest: „Es ist aber nicht bekannt, welchem hl. Albanus die Kirche geweiht worden ist.“ 45 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D157.php (11.04.16). 46 www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D157.php (11.04.16). 47 www.albanifest.ch/albanifest/index.php (07.05.14).
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köpfenʼ auch auf die Enthauptung des heiligen Alban sowie jene der Zürcher Stadtpatrone Regula und Felix angespielt werden.48 Von den sprachlichen Anforderungen an einen WarenN erfüllt er sicher die meisten:49 Anlautendes für und die Zusammenschreibung von Nomen und Partikel gegenüber standardsprachlich Kopf ab machen ihn graphematisch auffällig. Er ist nicht zu lang und aufgrund seiner Semantik (Kopf ab ʻEnthauptungʼ) einprägsam. Der Name ist nicht völlig opak und lässt dadurch Assoziationen zu. Für einen BierN ist er eher ungewöhnlich, da er weder ein Toponym wie Calanda, Feldschlösschen, Eichhof, Schützengarten, noch die Appellative Bier oder Bräu sowie Hinweise auf die Qualität wie Original, Premium, Gold enthält.
5.2 St. Jakob Für die folgenden Toponyme muss ein kurzer Ausflug in die Entwicklung der Stadt Basel gemacht werden: St. Jakob – im heutigen Quartier St. Alban gelegen – geht auf den Namen einer Kapelle zurück, die dem Heiligen geweiht war und ursprünglich außerhalb der Stadt Basel an der Birs lag.50 Bei dieser Kapelle entstand eine mittelalterliche Quarantänesiedlung. „Nach 1265 zog das zuvor am Leonhardsberg gelegene Siechenhaus (Seuchenhospital, Leprosorium) auf das Areal an der Birsbrugg, seit 1494 zeigt das Siegel des Siechenhauses den hl. Jakob“ (SIEGFRIED/MISCHKE, in Druck).51 Der heilige Jakob war u.a. Patron der Aussätzigen und als solcher häufig Namenspatron von Siechenhäusern (ID 3: 32). Die Kapelle stammt möglicherweise aus dem 11. Jh. und wurde später zur Kirche erweitert (SIEGFRIED/MISCHKE, in Druck); SALVISBERG 1999: 393). Der Ort erlangte durch eine Schlacht der Eidgenossen gegen französische Armagnaken im Rahmen des Alten Zürichkrieges Berühmtheit. „Beim Siechenhaus zu St. Jakob fand der Endkampf der Schlacht bei St. Jakob an der Birs 1444 statt“ (SALVISBERG 1999: 393). An die Schlacht, die mit einem ungünstigen Ausgang für die Eidgenossen endete, erinnert heute noch das St. JakobsDenkmal (1824 errichtet und 1872 erneuert). Es stellt aber nicht – wie der Name sug-
48 JACQUEMART (2013: 14–15); darüber hinaus erinnert der Doppelleu auf der Flasche „an die Löwen im Wappen Winterthurs und des Kantons Zürich“ (ebd., 15). 49 RONNEBERGER-SIBOLD (2004: 563) nennt folgende Anforderungen an einen modernen WarenN: (1) auffällig, (2) positive Assoziationen, (3) nicht zu lang, leicht zu perzipieren, wohlklingend und (4) einprägsam. 50 Die Kapelle wurde 1894 abgebrochen. 51 An dieser Stelle möchte ich Inga SIEGFRIED für das Bereitstellen des Lemma-Eintrags Sankt Jakob des Namenbuchs Basel-Stadt 2 (erscheint 2016) herzlich danken.
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geriert – den heiligen Jakob dar, sondern in Erinnerung an die Schlacht eine stehende Helvetia und vier sterbende Soldaten.52 Zusätzlich wurde die Straße vom Basler Zentrum nach St. Jakob 1861 amtlich St. Jakobs-Strasse benannt; 1970 folgte das St. Jakobs-Weglein im selben Quartier (SALVISBERG 1999: 393–394). Gemäß Stadtplan verläuft auch eine St. Jakobs-Promenade durch die Parkanlage in St. Jakob.53 Die Benennung des Quartiers ist an die Kapelle bzw. Siedlung gekoppelt. Bei der Benennung der St. Jakobs-Strasse stand als Motiv der Zielpunkt im Vordergrund; der StraßenN ist primär motiviert und schon vor 1861 gebräuchlich. Die jüngeren StraßenN St. Jakobs-Weglein und St. Jakobs-Promenade sind administrativ motiviert. Aufgrund von Besitzungen der Kirche und des Siechenhauses im Stadtgebiet wurde der Name Jakob auch in anderen Quartieren vergeben, so auf dem Bruderholz und im heutigen St. Johann-Quartier: Das dortige Toponym Jakobsberg geht auf einen Grundbesitz von St. Jakob (1659 an St. Jacobs Berg) zurück und übertrug sich anschliessend auf ein Hofgut (Jakobsbergerhof), umliegende Wälder (Jakobsbergerholz, Jakobsbergerhölzli) und wurde für die amtl[iche] Benennung moderner StrassenN in diesem Gebiet berücksichtigt (Jakobsbergerholzweg, Jakobsbergerstrasse, Jakobsbergerweglein. (SIEGFRIED/MISCHKE, in Druck)
Daneben gibt es noch eine Tram- und Bushaltestelle Jakobsberg, eine Sankt JakobsApotheke und diverse abgegangene HäuserN zu Jakob.54 Von diesen Topo- und Ergonymen (KapellenN, SiedlungsN, StraßenN sowie DenkmalN55) wurde der HeiligenN im 20. Jh. auf verschiedene Sportstätten übertragen, die sich alle in unmittelbarer Nachbarschaft befinden: auf den St. Jakob-Park, die St. Jakob Arena, die St. Jakobshalle, die St. Jakob Sportanlagen und das Gartenbad St. Jakob sowie zuletzt 2008 als HäuserN auf den St. Jakob-Turm (mit und ohne Bin-
52 „Erst im 19. Jh. begann man, die Schlacht als heroische Rettung Basels und der Schweiz zu deuten und ihrer feierlich zu gedenken. Ein erstes Denkmal wurde 1824 eingeweiht, das heutige stammt von 1872“ (www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D8879.php, 11.04.16). 53 Vgl. Basler Straßennamen: www.stadtplan.bs.ch/geoviewer/index.php (25.06.15). 54 Siehe ausführlicher dazu SIEGFRIED/MISCHKE (in Druck) mit Belegen und vollständiger Auflistung des Namennetzes. In SIEGFRIED/MISCHKE (in Druck) terminologisch als HausN (= Name des Hauses) bezeichnet. 55 DenkmalN gehören zu den Ergonymen; sie sind Namen für ein Kunstwerk der darstellenden Kunst; gleichwohl haben sie auch Eigenschaften, die den Toponymen eigen sind (vgl. NÜBLING/ HEUSER/FAHLBUSCH 2012: 250): Sie sind ortsfixiert und haben Orientierungsfunktion; sie werden zwar nicht kartographisch auf Straßenplänen erfasst, dienen aber doch zur Bezeichnung eines Mikroortes im urbanen Raum. Man kann sich beispielsweise beim St. Jakob-Denkmal verabreden.
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destrich-Schreibung).56 Die verschiedenen Grundwörter respektive Zusätze dienen der Differenzierung innerhalb des Sportzentrums St. Jakob. Es werden auch verschiedene morphologische Möglichkeiten der Namenbildung und entsprechende Schreibungen eingesetzt: als Kompositum mit flektiertem Bestimmungswort (St. Jakobshalle), als Kompositum mit Bindestrichschreibung (St. Jakob-Park, St. Jakob-Turm) oder mit Getrenntschreibung (St. Jakob Arena, St. Jakob Turm) sowie postponiert (Gartenbad St. Jakob). Der St. Jakob-Park ist nach Angaben des Fußballclubs „die Heimstätte des FC Basel 1893 und regelmäßiger Austragungsort von Länderspielen der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft sowie von Konzerten“.57 In dieser Form wurde der Park im März 2001 eröffnet. Vorgänger war das am 21. April 1954 eingeweihte St. JakobStadion (1954–1996). Das Grundwort Stadion wurde durch Park abgelöst, das auf die multifunktionale Nutzung von Fußball, Einkaufen, Wohnen, Arbeiten hindeuten soll. Park als Grundwort ist produktiv in der gegenwärtigen Benennung von Einkaufszentren wie in Brunaupark, Länderpark, LenzoPark, Pizolpark, Surseepark oder Sälipark (alle in der Schweiz). Die St. Jakob Arena wird hauptsächlich als Eissportanlage genutzt.58 Auch Arena kann produktiv für Sporteinrichtungen als Grundwort fungieren wie lintharena (Näfels/Glarus), Vaillant Arena für das Eisstadion in Davos (Graubünden), Sportarena Leukerbad (Leukerbad/Wallis) aber auch Kids Arena, für ein „Kinderparadies & Indoorspielplatz“, sowie für ganze Regionen, die sportlich besetzt werden wollen wie Aletsch Arena im Wallis.59 Die St. Jakobshalle wurde am 26. September 1976 offiziell eröffnet und dient ebenfalls als Raum für Konzerte und Sportanlässe. Inoffizieller Name des Quartiers respektive der Einrichtungen, v.a. des Fußballstadions, aber auch des Bades, ist Joggeli, eine Diminutivform zu baseldeutsch Joggel, Joggi < Jokeb ʻJakobʼ (SUTER 1995: 128; ID 3: 25–26). So schreibt die BASLER ONLINE-ZEITUNG zum Abschied des FC-Basel-Spielers Marco Streller: „Es ist grosses Gefühlskino im Joggeli.“60 Auch die offizielle Fanseite des FC Basel lautet www.joggeli.ch, womit der Kapellenheilige des 13. Jh. auf eine Wanderschaft
56 Für die Schreibung des HäuserN gibt es keine offizielle Fixierung und es koexistieren zwei Varianten: WIKIPEDIA (https://de.wikipedia.org/wiki/St._Jakob-Turm, 08.06.15) schreibt den Namen mit Bindestrich, die Homepage des Gebäudes schreibt ihn ohne (www.st-jakob-turm.ch/210_Der_Turm-Das_Stadion_und_der_FCB.htm# (08.06.15). 57 www.fcb.ch/de-CH/Stadion/Zahlen-Fakten (08.06.15). 58 Informationen auf www.st-jakob-arena.ch/index.asp (08.06.15). 59 Ergebnisse einer Stichwortsuche auf google.com (08.06.15). Vgl. auch die Beispiele in NÜBLING/ HEUSER/FAHLBUSCH (2012: 257): Hier wird ebenfalls die Frage nach der Entstehung neuer Grundwörter wie Stadion > Arena thematisiert. 60 Artikel „Marco Strellers Abschied: Die Tränen fliessen und das Herz blutet“, www.tageswoche. ch/de/2015_22/sport/689386/ (08.06.15).
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bis in die virtuelle Jetztzeit gegangen ist und ein komplexes OrtsN-Netz entstanden ist (SIEGFRIED/MISCHKE 2013: 446).61 Nach SONDEREGGER (2004: 3412) zeigt sich hier das „Gesetz der wechselweisen Bildungsmöglichkeit“ von Namen sehr anschaulich: „Es gehört zum Wesen der Namengebung und Namenbildung, daß neue Namen aller Gattungen aus bereits bestehenden Namen wie durch Komposition und Ableitung von solchen gebildet werden können.“ Es sind die „kaum verallgemeinerbaren Transformationsprozesse zwischen unterschiedlichen Namenklassen“ und „die facettenreichen Bildungsvorgänge, die einer Namenlandschaft vorausgegangen und noch vor ihr liegen können“ (SIEGFRIED/ MISCHKE 2013: 439).
6 Schlussbemerkungen Für die FamN-Landschaft der Schweiz kristallisieren sich in erster Linie jene Heiligen als indirekte Spender heraus, die auch sonst in Europa auftreten. Dabei ist interessant, welche Namenformen ausgebildet wurden. So werden Jakob und Co. zwar universal verehrt, im Onomastikon treten sie aber regional in Erscheinung. Die typischen Schweizer Varianten fallen in Deutschland quantitativ nicht ins Gewicht, was der Tokenvergleich bei Jakob, Johannes und Martin gezeigt hat. Lokalkulte bleiben – wie da Wort schon sagt – sehr kleinräumig, aber sie haben doch Spuren hinterlassen. Frehner, Regli, Batt und Imer lassen sich sicher noch mit anderen Kulten erweitern, wenn die Suche fortgesetzt wird. Die Spurensuche von HeiligenN in FamN gibt allerdings nur einen kleinen Ausschnitt ihrer hagiographischen Reflexe wider, zahlreicher ist deren Auftreten in Orts- und SiedlungsN. Die Geschichte von Jakob in Basel zeichnet die Wanderung und Wandlung eines Namens in einem urbanen Umfeld und die dadurch entstehenden OrtsN-Netze nach. Wie kreativ bei der Schöpfung von Ergonymen vorgegangen wird, hat Chopfab gezeigt.
61 Man vgl. bei SIEGFRIED/MISCHKE (2013: 440–445) auch die Wanderschaft des Namens Grosspeter in Basel.
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8 Anhang Familienname 1. Jäckli 2. Jaeggi 3. Jaeggy 4. Jaggi 5. Jäggi 6. Jäggli 7. Jaggy62 8. Jägli 9. Jecklin 10. Jeggi 11. Jeggli 12. Kobel 13. Kobelt 14. Kobi 15. Koblet 16. Kopp 17. Köppel 18. Köppli 19. Köpplin
Tokens Telefonbuch (CH) 37 335 11 1.065 1.592 119 69 19 152 0 46 777 303 212 103 869 612 22 7
Tokens DFA (D) 0 6 4 19 10 0 37 0 2 1 0 414 344 41 1 8.66063 1.090 0 78
Tab. 5: Tokenvergleich Schweiz – Deutschland von Familiennamen beruhend auf Jakob (alphabetische Reihenfolge) Familienname 1. Haenggi 2. Hähni 3. Hänggeli 4. Hänggi 5. Hänni 6. Hänny 7. Henggi 8. Henni 9. Henny 10. Jahn 11. Jann 12. Jenni 13. Jenny 14. Jensch 15. Jentsch 16. Johann 17. Tschan
62
63
Tokens Telefonbuch (CH) 45 105 82 1.193 1.701 81 57 3 136 146 180 1.727 1.580 1 100 81 469
Tokens DFA (D) 0 3 0 18 11 0 3 28 33 13.157 415 19 75 642 2.187 1.960 120
Die Schreibung Jäggy ist im Familiennamenbuch nicht alt verbürgt; im Telefonbuch von 2002 kommt sie neunmal – v.a. in Biel Benken (Baselland) – vor. Hier semantische Konkurrenz mit mnd. kop.
Jäggi, Jenny, Marti, Frehner, Batt & Co.
Familienname 18. Tschann 19. Tschanz
Tokens Telefonbuch (CH) 52 1.527
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Tokens DFA (D) 27 15
Tab. 6: Tokenvergleich Schweiz – Deutschland von Familiennamen beruhend auf Johann (alphabetische Reihenfolge)
Familienname 1. Martin 2. Marti 3. Marty 4. Martel 5. Martig
Tokens Telefonbuch (CH) 3.466 4.981 1.885 35 189
Tokens DFA (D) 20.744 115 39 441 8
Tab. 7: Tokenvergleich Schweiz – Deutschland von Familiennamen beruhend auf Martin (alphabetische Reihenfolge)
Fabian Fahlbusch
Maria, Heil der Kranken Heilige in Apothekennamen Zusammenfassung: Apotheken als Orte der Zubereitung von Arzneimitteln gibt es ursprünglich nur in Klöstern und Krankenhäusern, sie tragen jedoch keine Namen. Im 14. bis 16. Jh. steigt ihre Zahl durch große Seuchen stark an, sodass es nötig wird, sie mit Hilfe von EigenN zu unterscheiden; oft greift man dabei auf den entsprechenden HäuserN zurück. Im Laufe der Zeit entwickeln sich diese Toponyme zu Ergonymen (Unternehmens-/GeschäftsN), die nicht mehr an ein konkretes Gebäude gebunden sind und stattdessen immer individueller werden. Auf Platz vier der frequentesten ApothekenN rangiert mit Maria der häufigste HeiligenN; alle anderen SchutzpatronInnen finden sich nicht in den Top Ten. In den meisten Fällen ist tatsächlich der/die jeweilige Heilige namengebend, doch ballen sich die entsprechenden Namen nicht nur um deren Kultstätten, Wallfahrtsorte etc., sondern treten allgemein in katholisch geprägten Gegenden auf, vor allem in Bayern und im Rheinland. Im Norden und Osten Deutschlands herrschen dagegen andere Bildungsmuster vor. Abstract: Pharmacies as places for the preparation of medicine can initially only be found in monasteries and hospitals, but they do not bear a name. In the 14th to 16th centuries their number increases due to severe epidemics. Hence, it becomes necessary to differentiate them by means of proper names; often, the name of the corresponding house is chosen. Over the years, these toponyms develop into ergonyms (corporate/shop names) which are no longer linked to a specific building and become increasingly individual instead. In the most frequent pharmacy names, the most common saint’s name Maria ranks in fourth place; all other patron saints do not appear in the top ten. In most cases, the pharmacy name actually refers to the respective saint. However, their names do not only occur around their places of worship, pilgrimage centres, etc. but generally in predominantly Catholic areas, especially in Bavaria and the Rhineland. In the Northern and Eastern parts of Germany, other formation patterns are prevalent.
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Fabian Fahlbusch
1 Die Apotheke „Den Apotheken obliegt die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung.“ So formuliert es das Apothekengesetz in seinem ersten Paragraphen. Außerdem legt es fest, dass diese Geschäfte für den Verkauf und die Zubereitung von Medikamenten einzig in den Rechtsformen e.K., GbR und OHG betrieben werden können und ein/e einzelne/r ApothekerIn maximal drei Filialen besitzen darf; Ketten sind nicht erlaubt. Heute gibt es knapp 20.500 öffentliche Apotheken in Deutschland (ohne Krankenhausapotheken).1 Das Wort mhd. apotēke ‘Spezereiladen, Apotheke’ ist entlehnt aus lat. apothēca 'Magazin', was wiederum auf griech. apothēkē ‘Aufbewahrungsort’ zurückgeht.
2 Die (Namen-)Geschichte der Apotheke2 Apotheken im Sinne von Medizinalanstalten gibt es ursprünglich nur in Klöstern und Hospitälern. Im Zuge des Drogen- und Spezereienhandels aus dem Orient kommen im 13./14. Jh. öffentliche Apotheken auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands auf. Meist handelt es sich um winzige Läden mit einer Fläche von unter fünf Quadratmetern. Als einzige am Ort tragen sie noch keine Namen, sondern werden höchstens informell nach ihrer Lage gekennzeichnet. Im 14. bis 16. Jh. steigt durch große Seuchen, aber auch Bevölkerungszuwachs der Bedarf an Apotheken und somit auch deren Anzahl an. Daher wird es nötig, sie durch Namen zu unterscheiden. Vor allem im Süden von Deutschland übernimmt man oft den Namen des Hauses, in dem sich der Apothekenladen befindet (Löwen-, Adler-, Hirsch-Apotheke). Im Norden dagegen unterstehen viele zunächst als stadteigene Betriebe dem Rat und werden dementsprechend benannt (Stadt-, Rathaus-, Rats-Apotheke). Exotische, gebildete, repräsentative Namen wie etwa Phönix-Apotheke kommen im 17./18. Jh. auf; mit ihnen möchte man Eindruck schinden. Das Adjektiv golden wird beliebt und findet sich bspw. in Apotheke zum goldenen Engel. In katholischen Gegenden werden Apotheken gerne unter den Schutz von Heiligen gestellt, bspw. der Jungfrau Maria (Marien-Apotheke). Gemäß dem patriotischen Zeitgeist wählt man im 19./20. Jh. herausragende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissen-
1 2
Vgl. www.abda.de/uploads/tx_news/ABDA_ZDF_2015_Brosch.pdf (01.05.16). Ich danke Konrad Kunze sehr herzlich für das Überlassen seiner aufschlussreichen Skripte. Vgl. zudem HELLFRITZSCH (1995, 1996a), HUWER (2006), SCHMITZ (2003) und WOLFF (1993).
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schaft und Gesellschaft als Namenpatrone für die Apotheken, was auch der zeitgenössischen StraßenN-Gebung entspricht (Bismarck-, Schiller-, Zeppelin-Apotheke). Nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es im 20./21. Jh. zu einer Zäsur: Alte, etablierte Muster werden imitiert und neu interpretiert (Igel-Apotheke; vgl. Abschnitt 7), nüchterne Lageangaben sollen der Kundschaft die Orientierung für den schnellen Einkauf erleichtern (Apotheke im Kaufland). Letztere finden sich heute in der Hälfte aller Namen. Wie die GaststättenN haben sich auch die ApothekenN im Laufe der Zeit von Toponymen (HäuserN) zu Ergonymen (Unternehmens-/GeschäftsN) entwickelt, die nicht mehr an ein konkretes Gebäude gebunden sind.
3 Die Untersuchung Mit Hilfe der DVD-ROM DAS TELEFONBUCH DEUTSCHLAND (2013) ermitteln wir die häufigsten ApothekenN inklusive Varianten.3 Die Herausforderung besteht darin, dass keine standardisierten Einträge vorliegen und es nur eine ungenaue Suchfunktion gibt. Zudem treten häufig Mehrfacheinträge auf, die sich allein in der Telefon-/Faxnummer, der Schreibweise oder der Reihenfolge der Konstituenten unterscheiden, bspw. Apotheken Marien vs. Marien-Apotheke. Diese Doppelungen werden mittels der Adressdaten identifiziert und entfernt. Zu berücksichtigen ist, dass im Telefonbuch meist nur die (inoffiziellen) GeschäftsN, nicht aber die (offiziellen) UnternehmensN stehen. Letztere enthalten oft zusätzlich (Ruf- und) FamN der InhaberInnen, weshalb GeschäftsN näher an der Realität des öffentlichen Raums sind, vgl. Apotheke am Sömmerringplatz Jürgen Kottsieper Pächterin: Jutta Zimmermann e.K. (UnternehmensN) vs. Apotheke am Sömmerringplatz (GeschäftsN, Daten aus Mainz, vgl. dazu FAHLBUSCH 2014).
4 Die häufigsten Apothekennamen Die Namenbasen der Top Ten 2013 bilden Tiere und Pflanzen (Adler-, Löwen-; Linden-, Rosen-Apotheke), Gebäude und Orte (Rathaus-, Schloss-; Markt-, StadtApotheke), RufN (Marien-Apotheke) sowie Himmelskörper (Sonnen-Apotheke). Ins-
3
Daten der Deutschen Telekom für die Bundesrepublik Deutschland, Stand 2013. Großer Dank gebührt Christina Baden, Julia Fritzinger, Julia Nuszpl, Anne Rosar und Sara Tinnemeyer für die Hilfe bei der Datenerhebung.
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gesamt fällt die Namengebung sehr individuell aus. 1937 machen die Top Ten 33,2% aller Namen aus, 2013 lediglich noch 18,0%, was einem Rückgang um annähernd die Hälfte entspricht. Das bedeutet aber nicht, dass die Namen phantasievoller werden: Apotheken sind in Deutschland, anders als Friseursalons oder Blumenläden, noch immer sehr traditionell und wortspielfrei benannt. Niemand käme auf die Idee, eine Apotheke Pills-Stube oder Quack&Salben zu nennen, auch eine Apo-Theke (…) verböte sich, denn dafür ist der Besuch des Verkaufsraums oft eine zu ernste Angelegenheit. (STOLZ 2014: 10) Rang 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Summe
Name Adler-Apotheke Löwen-Apotheke Stadt-Apotheke Hirsch-Apotheke Marien-Apotheke Engel-Apotheke Schwanen-Apotheke Hof-Apotheke Kronen-Apotheke Rats-Apotheke
Anzahl 729 407 299 239 175 127 113 103 101 98 2.391
10,1% 5,7% 4,2% 3,3% 2,4% 1,8% 1,6% 1,4% 1,4% 1,4% 33,2%
Tab. 1: Die häufigsten ApothekenN im Deutschen Reich 1937. Daten nach KRAUSE (1938) und HAGEN (1969); Gesamtzahl der öffentlichen Apotheken im Deutschen Reich 1937: 7.192 Rang 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Summe
Name Löwen-Apotheke Stadt-Apotheke Adler-Apotheke Marien-Apotheke Sonnen-Apotheke Markt-Apotheke/Apotheke am Markt Linden-Apotheke Rosen-Apotheke Rathaus-Apotheke/Apotheke am Rathaus Schloss-Apotheke
Anzahl 475 462 453 429 417 415 292 280 260 232 3.715
2,3% 2,2% 2,2% 2,1% 2,0% 2,0% 1,4% 1,4% 1,3% 1,1% 18,0%
Tab. 2: Die häufigsten ApothekenN in der Bundesrepublik Deutschland 2013. Zur Datenbasis vgl. Fußnote 1; Gesamtzahl der öffentlichen Apotheken in der Bundesrepublik 2013: 20.662
Maria, Heil der Kranken
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5 Die geographische Verteilung der häufigsten Apothekennamen Sonnen-, Markt-, Linden-, Rosen- sowie Schloss-Apotheken sind relativ gleichmäßig über ganz Deutschland verteilt, Adler-, Löwen-, Marien- (s. K. 4), Rathaus- und StadtApotheken bilden hingegen mehr oder weniger charakteristische Schwerpunkte. Löwe ist ein beliebter HäuserN, zugleich stellt der König der Tiere das häufigste Wappentier (u.a. Rheinland-Pfalz, Hessen, Thüringen, Baden-Württemberg, Bergischer Löwe, Meißner Löwe). Auf Platz zwei folgt Adler (Preußischer Adler). Er war insbesondere in den ehemaligen deutschen Ostgebieten als ApothekenN beliebt und verzeichnet daher einen starken Rückgang im Vergleich zu 1937 (s. K. 1).
K. 1 a und b: Geographische Verteilung der Löwen- und der Adler-Apotheken in Deutschland 20134
Stadt-Apotheken treten gehäuft im Süden und Osten Deutschlands auf. RathausApotheken begegnen vornehmlich in Westdeutschland (s. K. 2). In der DDR hießen nur 0,4% der Apotheken Rathaus-Apotheke (HELLFRITZSCH 1996b).
4
Sämtliche Karten in diesem Aufsatz wurden mit Hilfe von GOOGLE TABELLEN erstellt und basieren auf dem Kartenmaterial von GOOGLE MAPS.
Fabian Fahlbusch
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K. 2 a und b: Geographische Verteilung der Stadt- und der Rathaus-Apotheken in Deutschland 2013
6 Die häufigsten Heiligen in Apothekennamen 1937 Rang
Heilige/r
1
Maria
2
Hubertus
3
Johannes
4
2013 Anzahl
Anzahl
Maria
429
44
Hubertus
162
29
Georg
98
Elisabeth
20
Martin(us)
96
5
Georg
17
Barbara
80
6
Anna
11
Johannes
78
7
Martin(us)
8
Antonius
56
8
Josef
7
Laurentius
42
9
Nicolaus
7
Anna
41
10
Antonius/Barbara
Michael
41
Summe
175
Heilige/r
6/6 330
1.124
Tab. 3: Die häufigsten Heiligen in ApothekenN 1937 und 2013, jeweils inklusive Varianten. Zur Datenbasis vgl. Tab. 1 und Tab. 2
Maria, Heil der Kranken
263
Weitere Namen aus dem kirchlichen Bereich sind Engel-Apotheke/Apotheke zum Engel 181, Kreuz-Apotheke 89 sowie Heiligkreuz-/Heiliggeist-Apotheke 6. ApothekenN mit HeiligenN treten gehäuft im katholisch geprägten Süden und Westen von Deutschland mit besonderen Schwerpunkten in Bayern und im Rheinland auf, nach Norden und Osten hin werden sie seltener (s. K. 3).5
K. 3: Die zehn häufigsten Heiligen in ApothekenN und ihre Verbreitung in Deutschland 2013
5
Zur vorherrschenden Religionszugehörigkeit in Deutschland pro Landkreis vgl. ZENSUS 2011.
264
Fabian Fahlbusch
K. 4 a und b: Geographische Verteilung der Marien- und der Hubertus-Apotheken in Deutschland 2013
K. 5 a und b: Geographische Verteilung der Barbara- und der Martin(us)-Apotheken in Deutschland 2013
Maria, Heil der Kranken
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Die Jungfrau Maria steht als Mutter Gottes an der Spitze der Heiligen. Sie ist Patronin der (katholischen) Kirche, der (katholischen) Christenheit, von Bayern sowie der (Erz-)Bistümer Aachen, Freiburg i.Br. und Speyer. Zudem gilt sie nicht nur als Helferin gegen Krankheiten, sondern in allen Nöten. Die reiche volkstümliche Marienverehrung äußert sich u.a. im Ave Maria, in Marienwallfahrten, -festen, -säulen. Ihre Beliebtheit wird darüber hinaus in der überaus großen Zahl der Marien-Apotheken deutlich, die es in allen katholischen Gebieten Deutschlands gibt. Hubertus, Patron der Ardennen, von Lüttich und Jülich sowie einer der vier heiligen Marschälle, zählt in Belgien und den angrenzenden Gebieten noch heute zu den populärsten Heiligen. Die meisten Hubertus-Apotheken befinden sich ebenso wie entsprechende Kirchen und Kapellen in Nordrhein-Westfalen. Dort leben auch die meisten der 6.567 Männer gleichen Namens.6 Der Legende nach wurde der Heilige bei der Jagd durch den Anblick eines prächtigen Hirsches mit einem Kruzifix im Geweih bekehrt. Die Verbindung zu den unzähligen im Mittelalter aus dem Tier gewonnenen Heilmitteln, insbesondere dem Hirschhornpulver, könnte zu den vielen Apotheken mit seinem Namen geführt haben. Zu den bekanntesten christlichen Heiligen in Deutschland gehört Barbara, Schutzpatronin der Bergleute, Nothelferin und eine der vier vorzüglichen Jungfrauen. Apotheken ihres Namens begegnen hauptsächlich in den katholischen Bergbaurevieren Ruhrgebiet und Saarland. Die Mehrheit der ihr geweihten Kirchen und Kapellen steht in Nordrhein-Westfalen. Insbesondere im Rheinland gibt es nach wie vor viele Bräuche am Barbaratag (4. Dezember), bspw. Umzüge der Bergleute in alten Trachten oder das Schneiden der Barbarazweige. Die anderen Heiligen der Top-Ten-Liste treten vornehmlich in den katholisch geprägten Gegenden Deutschlands in ApothekenN auf, speziell in Bayern und im Rheinland. Sie zeigen dabei keine besonderen regionalen Schwerpunkte. Am weitesten nach Norden strahlt Georg aus. Die beispielhaft mitgegebene Karte (K. 5b) gilt Martin(us), welcher der Legende nach als römischer Soldat seinen Mantel mit einem Bettler teilte und daher u.a. Patron der Armen ist. Der Martinstag (11. November) wird in vielen Gegenden mit Umzügen begangen (zu den Heiligenviten vgl. insgesamt STEIMER/WETZSTEIN 2011).
6
GEN-EVOLU, Datenbasis: Telefonanschlüsse 1998.
Fabian Fahlbusch
266
7 Die Benennungsmotive der Apothekennamen Die ApothekenN können vielfältig motiviert sein. Deshalb muss man trennen zwischen Namenbasis und Benennungsmotiv: Anna-Apotheke:
Namenbasis: Benennungsmotiv:
RufN a) direktes Patronat der Heiligen Anna b) Lage (Annastraße, St.-Anna-Kirche) c) InhaberIn (Anna Luschmann)
In 73,1 Prozent der Fälle ist wohl tatsächlich der/die genannte Heilige namengebend, in 23,3 Prozent die Lage (StraßenN, KirchenN mit dem/der Heiligen) und in 3,6 Prozent der/die InhaberIn.7 ApothekenN mit Heiligen ballen sich dabei allerdings nicht nur um deren Kultstätten, Wallfahrtsorte etc. Zudem bleibt teilweise unklar, warum ein bestimmter Heiliger oft gewählt wird (Hubertus (162) – Patron der Jäger und Schützen, gegen Hundebiss, vgl. Abschnitt 6), ein anderer hingegen nicht (Nikolaus (31), (C/K)osmas (20) und Damian (18) – Patrone der ApothekerInnen). Auch heute noch stellen HeiligenN ein beliebtes Muster für ApothekenN dar. Häufig liegt aber vor allem bei Neugründungen eine reine Imitation dieser alten Bildungsweise vor, und man wählt einfach irgendeinen Heiligen (bzw. dessen RufN) nach persönlichen Vorlieben aus. Analoges gilt bspw. für Tier- und Pflanzenmotive aus HäuserN. Das begrenzte traditionelle Inventar wird gegenwärtig um exotischere Vertreter wie Delphin oder Lavendel erweitert. Den Rahmen der klassischen Spenderdomänen dehnt man also aus, verlässt ihn aber nicht komplett.
8 Die Bildungsweise der Apothekennamen Bei ApothekenN handelt es sich stets um genuine GattungseigenN mit dem Bestandteil Apotheke.8 23,4% der ApothekenN aus der Heiligen-Top Ten sind mit Sankt gebildet, zumeist in abgekürzter Form als St. (97,3%). Regionale Präferenzen lassen sich hier nicht ausmachen. Vielmehr dient Sankt rein der Disambiguierung; durch dessen Voranstellung soll deutlich gemacht werden, dass tatsächlich der jeweilige Heilige gemeint ist. Je seltener ein HeiligenN als RufN vorkommt, desto seltener begegnet
7 8
Um diese Werte näherungsweise zu ermitteln, haben wir den ApothekenN mit StraßenN und KirchenN in seinem Umkreis sowie mit dem/den RufN der InhaberInnen verglichen. Die Frequenz von Bindestrichschreibungen lässt sich hierbei aufgrund der häufigen Mehrfacheinträge im Telefonbuch leider nicht verlässlich ermitteln, vgl. Abschnitt 3.
267
Maria, Heil der Kranken
auch Sankt/St. Eine Unterscheidung erfolgt zudem durch die Genitive. Die Bekanntheit von Heiligen in einer bestimmten Region (Barbara, Hubertus, vgl. Abschnitt 6) oder in Deutschland insgesamt (Johannes) könnte ebenfalls eine Rolle spielen. Die Länge des Namens hingegen scheint unerheblich, da vielsilbige HeiligenN nicht seltener mit Sankt/St. auftreten als kürzere. Heilige/r
Anzahl RufN9
Häufigkeit St.10
Michael
347.708
83,9%
Georg
191.205
90,1%
Martin
160.235
73,6%
Anna
106.880
51,9%
Johannes
90.336
15,4%
Barbara
67.766
33,8%
Hubertus
6.567
8,6%
Antonius
3.199
19,6%
118
19,0%
Laurentius
Tab. 3: Sankt/St. in ApothekenN 2013 in Abhängigkeit von der Häufigkeit entsprechender RufN
Starke Genitive kommen in ApothekenN mit HeiligenN nur selten vor. In den Top Ten begegnen insgesamt lediglich 49 starke Genitive (4,4%). Sie treten auf bei Georg (25), Martin (18) und Michael (6). Beheimatet sind sie vor allem in der Südhälfte von Deutschland. Die Namen entsprechender Kirchen lassen dagegen keine Konzentration im Süden erkennen. An lateinischen Genitiven finden sich Johannis 26, Michaelis 10 (beide verstreut unter Aussparung des Rheinlands), Martini 4 (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) und Michaeli 1 (Altötting). Maria begegnet in ApothekenN ausschließlich im schwachen Genitiv Marien, das Telefonbuch verzeichnet weder eine *Maria-Apotheke noch eine *Mariä-Apotheke. In KirchenN kommen diese Formen aber durchaus vor. Daneben treten noch Anna (14) und Georg (7) in den schwachen Genitiv, allerdings ungleich seltener. Während Marien geballt in Bayern erscheint, trifft man Annen und Georgen dort überhaupt nicht an. Auch entsprechende KirchenN (St.-Annen-Kapelle, Georgenkirche) finden sich nur im Norden und Osten von Deutschland.
9 GEN-EVOLU, Datenbasis: Telefonanschlüsse 1998. 10 Starke und schwache Genitive sowie Nebenformen auf -us (Martinus) wurden herausgerechnet. Da Maria nur im schwachen Genitiv auftritt, fehlt diese Heilige hier.
268
Fabian Fahlbusch
9 Zusammenfassung und Ausblick Im Laufe der Zeit haben sich ApothekenN von Toponymen zu Ergonymen entwickelt. Das überkommene Inventar an Bildungsmustern und Spenderdomänen wird dabei gegenwärtig um viele neue Vertreter ergänzt, oder man wählt schlichte Lageangaben zur besseren Orientierung der Kundschaft. Opake PhantasieN bleiben hingegen selten. Auch grundlegende Kürzungstendenzen lassen sich nicht beobachten, weiterhin liegen stets genuine GattungseigenN vor. Die Liste der beliebtesten Heiligen in ApothekenN führt die Jungfrau Maria mit großem Abstand auf den zweitplatzierten Hubertus an. HeiligenN treten gehäuft in katholisch geprägten Gegenden auf. Besondere räumliche Konzentrationen einzelner Heiliger lassen sich aber meist nicht ausmachen. Um die Diachronie der ApothekenN inklusive Umbenennungen zu untersuchen, müsste die Geschichte jeder einzelnen Apotheke nachvollzogen werden. Eine allgemeine ApothekenN-Geographie, die bspw. auch berühmte Persönlichkeiten (SchillerApotheke) einbezieht, könnte weitere regionale Schwerpunkte aufdecken. Die Kontrastierung von Unternehmens- und GeschäftsN bietet sich ebenso an wie kontrastive Untersuchungen (bspw. Deutschland vs. Österreich vs. Schweiz vs. Luxemburg). Vergleiche mit Heiligen in Kindergarten-, Schul-, Altenheim-, Krankenhaus-, Quellen-/Brunnen-, GrubenN etc. versprechen ebenfalls interessante Erkenntnisse.
10 Literaturverzeichnis FAHLBUSCH, Fabian (2014): Löhr Automobile, Autohaus Höptner, Willi Sommer. Familiennamen in Unternehmensnamen. In: Debus, Friedhelm/Heuser, Rita/ Nübling, Damaris (Hgg.): Linguistik der Familiennamen. Hildesheim, 367–394. HAGEN, Monika (1969): Die deutschen Apothekennamen. Topographie, Typologie und Benennungsmotivik. In: Deutsche Apotheker-Zeitung 109/43, 1655–1665. HELLFRITZSCH, Volkmar (1995): Namen neugegründeter Apotheken im Osten Deutschlands. In: Namenkundliche Informationen 67/68, 79–87. HELLFRITZSCH, Volkmar (1996a): Apothekennamen. In: Eichler, Ernst u.a. (Hgg.): Namenforschung. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Bd. 2. Berlin, New York, 1590–1592. HELLFRITZSCH, Volkmar (1996b): Zur Benennung von Apotheken und Drogerien. In: Debus, Friedhelm/Seibicke, Wilfried (Hgg.): Reader zur Namenkunde III/1 Toponymie, 377–401. HUWER, Elisabeth (2006): Das deutsche Apotheken-Museum. Schätze aus zwei Jahrtausenden Kultur- und Pharmaziegeschichte. Regensburg.
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KRAUSE, Konrad (1938): Die Namen der deutschen Apotheken. In: Deutsche Apotheker-Zeitung 53/42/43, 641–645. SCHMITZ, Rudolf (2003): Apotheke. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. München, 794–800. STEIMER, Bruno/WETZSTEIN, Thomas (Hgg.) (2011): Herders Lexikon der Heiligen. Freiburg i.Br. STOLZ, Matthias (2014): Deutschlandkarte Apothekenheilige. In: ZEITmagazin 18, 10. DAS TELEFONBUCH DEUTSCHLAND (2013). Herausgegeben von Deutsche Telekom Medien GmbH und TVG Telefonbuch- und Verzeichnisverlag GmbH & Co. KG (DVD-ROM). WOLFF, Klaus (1993): Adler, Löwe, Hirsch und Bär. Ein Beitrag zu den Apothekennamen aus dem Tierreich. In: Geschichte der Pharmazie 45/2, 32–37.
Internet: GEN-EVOLU, www.gen-evolu.de (01.05.16). GOOGLE TABELLEN und GOOGLE MAPS (01.05.16). ZENSUS 2011, www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/RPMono grafie_derivate_00000010/Zensus_2011_GemVOE.pdf (01.05.16).
Sandra Reimann
Sankt Martin und Sankt Mokka Echte und unechte Heiligennamen als Markennamen Zusammenfassung: Welche Produkte tragen einen HeiligenN, und was sind die Motive für diese Namengebung? Finden sich beispielsweise Bezüge zur Vita des Heiligen, auf den der Name zurückgeht? Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Aspekt der Werbung bei MarkenN eine Rolle spielen wird. Anhand der beim Deutschen Patent- und Markenamt eingetragenen Namen mit dem Zusatz Sankt – die Fokussierung darauf ist dem Umfang des Beitrags geschuldet – werden zudem auch solche Namen untersucht, die keine Transposition von einem HeiligenN sein können („unechte“ HeiligenN). Auch quantitativ ausgerichtete Fragen sollen beantwortet werden. Abstract: Which products bear saints’ names and what are the motives for this choice of name? Are there, for instance, relations to the life of the saint the name refers to? In any case, it should be noted that the aspect of advertisement will play a vital role when regarding trade names and product names. With the help of names being recorded at the German Patent and Brand Office with the addition Saint ̶ the restriction on this aspect is due to the limited extent of the article ̶ such names which cannot be deduced from a saint are also examined, i.e. fake saints’ names. Topics including quantitative questions will be considered as well.
1 Erste Überlegungen zum Einsatz von Heiligennamen als Bezeichnungen für Marken Beschäftigt man sich mit HeiligenN als MarkenN – Marken(namen) sind eine untergeordnete Gruppe der Produkt- oder WarenN (KOSS 2008: 89; s. die weiteren Ausführungen unten) –, so ist zunächst die Kommunikationssituation und somit die Frage nach der Funktion der Namen in den Blick zu nehmen. „Produktnamen nehmen eine Zwischenstellung zwischen Eigennamen und Appellativen ein“ (JANICH 2013: 63). Die wesentliche Eigenschaft des Marken-/ProduktN ist es, die Identifikation des Produkts und die Unterscheidung von anderen vergleichbaren Konsumgütern sicherzustellen (s. bereits HUNDHAUSEN 1963: 415), zugleich bezeichnen sie aber auch „ganze Klassen von Gegenständen mit bestimmten Eigenschaften“ (JANICH 2013: 63). Weitere Funktionen, die auch für diesen Beitrag relevant sind, sind die „gesetzl. Schutz-
272
Sandra Reimann
funktion gegenüber anderen Produkten“, die „Aufwertung durch Konnotation/Assoziation“, die „Information über Produkt (-eigenschaften)“ und die „Werbefunktion“ (JANICH 2013: 65): „Der Name eines Produktes ist der zentrale, stabilste, nur unter Schwierigkeiten veränderbare Teil der Produktwerbung“ (RONNEBERGER-SIBOLD 2004: 562). Soll ein Mehrwert/Zusatznutzen (im Sinne einer werbenden Funktion) mit dem Namen zum Ausdruck gebracht werden, so ist im hier zu behandelnden Fall darauf abzuzielen, dass der Empfänger den HeiligenN als solchen dekodieren kann. RONNEBERGER-SIBOLD (2008: 239) geht auf dieses Problem beispielhaft im Rahmen ihrer Untersuchung zu Bildungsinhalten in deutschen LebensmittelN des 20. Jh. ein: So werden viele Kunden das Wort Apollinaris gar nicht mehr als Heiligennamen kennen, sondern nur als Name eines Mineralwassers. Folglich werden sie vermutlich nach diesem Muster gebildete neue Mineralwassernamen wie Sebastianaris oder Reginaris nicht mehr auf die entsprechenden Heiligennamen beziehen, sondern eben nur auf die Vornamen Sebastian und Regina und auf den Mineralwassernamen Apollinaris. Daneben gibt es selbstverständlich wie bei allen Bildungsbreichen [sic!] zunehmend die Möglichkeit, dass der als Name verwendete Begriff völlig unbekannt ist. Es stünde z.B. zu überprüfen, ob unter den heutigen Jugendlichen das als Getränkename verwendete Wort Pilatus (1964) bekannter ist als z.B. das ebenfalls als Getränkename verwendete Wort Impala (1974 […]).
Religiöse Inhalte bei ProduktN thematisiert RONNEBERGER-SIBOLD ferner im Rahmen einer Untersuchung zur Entwicklung von „Wunschidentitäten“, die in MarkenN zum Ausdruck kommen, und zwar im Hinblick auf den Assoziationsbereich „Tradition“ bzw. das ihm untergeordnete Thema „Geschichte“: Auffällig ist eine starke Ausnutzung religiöser Motive aus dem klösterlichen Bereich wie in Stifts-Abt-Bier, Stifts Alt, Klosterschatz, Sankt Markus, St. Georgskreuz (alles Getränke). Auch bei diesen überwiegt vermutlich das mittelalterliche Flair die eigentlichen religiösen Inhalte. Freilich ist hier nicht das Mittelalter als geschichtswissenschaftliche Epoche gemeint und schon gar nicht als „finsteres Mittelalter“, sondern als Kulisse von Ritterromanen, deren Hauptfiguren beim Kampf für das Gute viele Abenteuer glücklich überstehen, und als Zeit einer „heilen Fachwerk-Welt“. (RONNEBERGER-SIBOLD 2007: 150)
Sankt Martin und Sankt Mokka
273
2 Terminologie und Definitionen Die in der Forschung geführte Terminologie-Diskussion1 kann entfallen, da es sich bei den im Folgenden untersuchten Namen in allen Fällen um „Marken“ handelt:2 Durch die Registrierung beim Deutschen Patent- und Markenamt (s. Kapitel 3) ist der für die Markendefinition (im von mir bevorzugten engeren Sinne) erforderliche Nachweis des juristischen Eintrags gegeben. Zur Markendefinition des Deutschen Patent- und Markenamts finden sich folgende Ausführungen: Eine Marke dient der Kennzeichnung von Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens. Schutzfähig sind Zeichen, die geeignet sind, Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denjenigen anderer Unternehmen zu unterscheiden. Das können z.B. Wörter, Buchstaben, Zahlen, Abbildungen aber [sic!] auch Farben und Hörzeichen sein. Markenschutz entsteht durch die Eintragung in das Register des Deutschen Patent- und Markenamtes. Vor der Eintragung muss die Anmeldung erfolgen. Markenschutz kann auch durch Verkehrsgeltung infolge intensiver Benutzung eines Zeichens im Geschäftsverkehr oder durch notorische Bekanntheit entstehen. Mit der Eintragung der Marke erwirbt der Inhaber das alleinige Recht, die Marke für die geschützten Waren und/oder Dienstleistungen zu benutzen. Marken können vom Markeninhaber jederzeit verkauft und veräußert werden. Der Inhaber einer Marke kann überdies ein Nutzungsrecht an seiner Marke einräumen (Markenlizenz).3
Für die weiteren Belange ist es schließlich erforderlich, eine Definition von HeiligenN (Hagionym) bzw. Heiliger vorzulegen. Dafür sei auf den Beitrag von Albrecht GREULE in diesem Band (S. 295) verwiesen: „Ein HeiligenN/Hagionym ist ein im Martyrologium Romanum (oder im Ökumenischen Heiligenkalender) verzeichneter, mit dem Attribut heilig versehener PersonenN.“
1
2 3
S. z.B. GLÄSER (2005: 172): „In der Fachkommunikation, Fachsprachenforschung und häufig auch in der Onomastik werden die Termini Warenname, Produktname, Markenname und Warenzeichen nahezu synonym gebraucht. R. Gläser (1978, 1996), G. Koß (1976, 1991, 1996) und E. Ronneberger-Sibold (2004) bevorzugen den Terminus Warenname; Th. Schippan (1989) und G. Voigt (1985) entscheiden sich dagegen für den Terminus Markenname. B. Schaeder versteht unter Markennamen ‚im weiteren Sinne‘ ein Synonym zu Produktnamen bzw. Warennamen, im engeren Sinne jedoch eine Bezeichnung für ‘Dachmarke’ (z.B. die Namen der Hersteller in der Automobilbranche, z.B. VW, Ford, Opel).“ Genau genommen ist zwischen Marke (Oberbegriff) und MarkenN (Unterbegriff) zu differenzieren. Vgl. auch den „Exkurs zur Markenkommunikation“ bei REIMANN (2008: 21–24). www.dpma.de/marke/index.html (01.09.15).
Sandra Reimann
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Im Hinblick auf die Verwendung von HeiligenN als MarkenN merkt der Jurist Jörg FRITZSCHE4 an: Man kann jedes Zeichen, insbesondere jedes Wort und auch jeden Namen schützen, soweit abstrakt eine Eignung besteht, eine Ware oder Dienstleistung zu kennzeichnen, was man in Ihren Fällen wohl immer annehmen kann (anders tendenziell bei „A“,„T“,„4“ oder abstrakten Farben). Bei der konkreteren Unterscheidungskraft für bestimmte Waren oder Dienstleistungen gibt es auch kein Problem (im Gegensatz etwa zu „Diesel“ für Kraftstoff, während der Begriff Kleidung wieder kennzeichnen kann). „Sankt“ könnte man theoretisch auch als Marke eintragen, nur vielleicht nicht für religiöse Dienstleistungen. Dass der Begriff außerhalb des internen Kirchenrechts irgendwie geschützt wäre, ist mir nicht bekannt. Natürlich kann – das ist aber ein anderer Ansatzpunkt – ein Heiligenname auch ein Kloster kennzeichnen (Namensrecht, § 12 BGB) und insofern, wenn es zu einer Verwechslungsgefahr kommen kann, entgegenstehen. Das prüft die Markenbehörde aber nicht bei der Eintragung, sondern nur auf Widerspruch.
Die sprachwissenschaftliche Untersuchung von Marken-/ProduktN ist auf verschiedenen Ebenen erfolgt (z.B. Morphologie, Semantik), und zwar besonders im Rahmen onomastischer Analysen (z.B. GLÄSER 2005; GROSSE 1966; KOSS 1996; KOSS 2002; LÖTSCHER 1992; NÜBLING/FAHLBUSCH/HEUSER 2012: 265–276; PLATEN 1997; RONNEBERGER-SIBOLD 2004 [dort weitere Literatur]; VOIGT 1985). HeiligenN waren aber bisher kaum Gegenstand der Analysen (s. Kapitel 1); im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen Klassifikation ist dabei zunächst zu konstatieren, dass sie als Marken-/ ProduktN zur Kategorie „Übernahme existierender Wörter oder Phrasen“ (RONNEBERGER-SIBOLD 2004: 561) gehören.
3 Das Korpus Mit dem Problem vor Augen, dass HeiligenN möglicherweise nicht mehr als solche erkannt werden, wurde auch das Korpus zusammengestellt. Ihm liegen alle 168 Namen zugrunde, die im Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) mit dem Namenzusatz Sankt,5 der aus meiner Sicht den Heiligenstatus explizit kennzeichnen soll, aufgeführt werden.6 Lediglich aus Gründen des Umfangs wurden Namen mit den
4 5 6
E-Mail von Jörg FRITZSCHE, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Regensburg, am 28.03.15. Suchbegriff unter https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/einsteiger (04.05.15). Vgl. z.B. BUCHNER (2011) und HENGST (2011).
Sankt Martin und Sankt Mokka
275
Zusätzen St., Sanct, San usw., Heilig- und Hl. sowie weih-7 nicht berücksichtigt. Was die Namenträger betrifft, so wurden alle Beispiele einbezogen: Es kommen also sowohl Namen für Produkte als auch Namen von Institutionen u.Ä. (z.B. sanktpaulibar, Sankt Elisabeth Krankenhaus Kiel) vor. Keine Rolle spielten dagegen für diese Untersuchung – in der Regel – typografische Merkmale (z.B. Schriftart, Groß- und Kleinschreibung). Die für die Auswertung relevanten Auszüge aus der Datenbank des Deutschen Patent- und Markenamts wurden folgendermaßen aufgenommen; abgedruckt sind die ersten zehn der 168 Beispiele: Name
Nizza-Klassen8
Wiedergabe
Anmeldetag
Schutzendedatum
Sankt Georgbier Sankt WolfgangBier Regensburger BrauhausJesuitenbrauerei A. G. (Inh.: Fürstliche Brauerei Thurn und Taxis Regensburg GmbH, 93053 Regensburg, DE) SANKT WOLFGANG
Nizza 32: „Bier“ Nizza 30, 31: „Hefe, Futtermittel, Eis“
Wortmarke Wortmarke
17.09.1908 12.04.1924
15.09.1998 12.04.1994
Nizza 32: „Natürliche und künstliche Mineralwasser“
17.04.1928
17.04.1998
4
SANKT GEORG
01.02.1929
28.02.2019
5
Sankt Petrus
Nizza 29: „Fleischwaren und Fleischkonserven“ Nizza 33: „Spirituosen“
Wort-Bildmarke (mit Heiligenabbildung) Wortmarke
24.07.1950
31.07.2020
1 2
3
7 8
Wort-Bildmarke (mit Heiligenabbildung)
Vgl. dazu GREULE (2012: 39–44). Die hervorgehobene Nizza-Klasse (Fettung) umfasst die Hauptproduktkategorie. „Die ‚NizzaKlassifikation‘ [Hervorhebung im Original] ist ein internationales Klassifikationssystem für Markenanmeldungen. In insgesamt 45 ‚Klassen‘ sind Waren und Dienstleistungen eingruppiert. Der Name geht auf das auf der diplomatischen Konferenz von Nizza am 15. Juni 1957 geschlossene Übereinkommen zurück, das die Schaffung der Klassifikation vertraglich festlegte. Die Bundesrepublik Deutschland ist Vertragsstaat dieses Abkommens“ (http://dpma.de/service/ klassifikationen/nizzaklassifikation/index.html (02.06.16).
Sandra Reimann
276
Name
Nizza-Klassen8
Wiedergabe
Anmeldetag
Schutzendedatum
6
Sankt Florian
Wortmarke
08.05.1952
08.05.2002
7
Sankt Bonifatius
Nizza: 33, 29, 32: „Südweine, Wermutwein, Schaumwein; Spirituosen; alkoholfreie Getränke; Fruchtsäfte und Fruchtgallerten“ Nizza: 33: „Stillweine, Schaumweine, Weinbrand“
18.02.1954
18.02.2004
8
Sankt Jodocus
Nizza 33: „Stillweine, Schaumweine, Spirituosen“
21.12.1954
21.12.1994
9
Sankt Rochus Weinkellerei & Destillerie
20.10.1956
20.10.1996
10
Sankt Amandus
Nizza 33: „Weine, Dessertweine, Schaumweine, Wermutweine, Spirituosen“ Nizza: 33: „Schaumweine und Weine der Weinbergslage St. Amandus“
Wort-Bildmarke (mit Heiligenabbildung) Wort-Bildmarke (mit Heiligenabbildung) Wortmarke
Wortmarke
13.01.1958
31.01.2018
Tab. 1: Auszug aus der Datenbank-Tabelle zu den Sankt-Namen: Beispiele 1–10
4 Fragen Die Motivation der Namengebung (in dem Fall die Verwendung des Zusatzes Sankt) im Zusammenhang mit der (Haupt-)Funktion, die ein MarkenN – als Werbeträger? – erfüllen soll, steht im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung. Man kann davon ausgehen, dass die Rechte-Inhaber im Sinne der Kommunikationssituation „Vermarktung“, für die der Name geschaffen wird, an eine Aufwertung des gesamten Namens und somit auch des zugehörigen Produkts (im weiteren Sinne) durch die Verwendung des vorangestellten Adjektivattributs Sankt gedacht haben. Interessant erscheint, ob der HeiligenN eine Übertragung von einem Ort (Wallfahrt, Kirche, Siedlung) ist oder ob der MarkenN überhaupt in einer Beziehung etwa zur Vita des/der Heiligen steht.
Sankt Martin und Sankt Mokka
277
Weiter ist zu fragen, welche „Produkte“ einen Sankt-Namen tragen; sind beispielsweise Lebensmittel (wieder) die bevorzugten Namenträger?9 Wie aus dem Korpus hervorgeht, lohnt sich außerdem eine Unterscheidung in „echte“ und „unechte“ HeiligenN. Morphologische Untersuchungen sollen folgen (Flexion, Wortbildung). Ansonsten ergeben sich über die Materialerstellung zahlreiche quantitativ ausgerichtete Fragen, z.B.: Welcher HeiligenN kommt am häufigsten als MarkenN vor? Wie ist das Verhältnis von „echten“ zu „unechten“ HeiligenN im Korpus?
5 Auswertung 5.1 Markennamen aus Personen- oder Ortsnamen MarkenN mit dem Zusatz Sankt gehen in der Regel entweder auf einen Heiligen als Person oder einen OrtsN, der sich von einem Heiligen ableitet, zurück. Als besonders beliebt erweist sich der Name Sankt Pauli. Er findet sich zwölf Mal im vorliegenden Korpus. Dazu kommen die Suffixbildung Sankt Paulianer (zwei Mal10) sowie die Komposita Sankt Pauliboys und Sankt Pauligirls (je ein Mal). Alle Rechte-Inhaber sind in Hamburg gemeldet; die jeweiligen Namen lassen sich somit auf den Stadtteil Sankt Pauli zurückführen, sodass es sich um eine Übertragung von einem Ort handelt. Nach dem Stadtteil wurde auch der dort 1910 gegründete FC St. Pauli (offiziell: Fußball-Club St. Pauli von 1919 e.V.) benannt.11 Gängig ist es, den MarkenN im Hinblick auf die Funktion des Heiligen als Schutzpatron auszuwählen, z.B. Sankt Hubertus: Er kommt zwei Mal (für dieselbe Marke, aber mit unterschiedlichen Wort-Bildmarken) im Korpus vor. Dabei handelt es sich um eine Marke für Bekleidungsstücke (Nizza-Klasse 25). Abgebildet wird in beiden Fällen ein Hirsch, wie das folgende Beispiel zeigt.
9
„Heiligennamen wie Apollinaris kommen im Kaiserreich und der Weimarer Republik vor allem bei Nahrungsmitteln und Getränken vor. Mit dem Jahrgang 1934, also dem ‚Dritten Reich‘, reißt der Bezug auf religiöse Inhalte (nicht nur auf Heilige) in solchen Namen schlagartig ab und wird auch nach dem Krieg nicht mehr dauerhaft wieder aufgenommen. Eine Ausnahme machen der auch in anderer Hinsicht ausgesprochen ‚nostalgische‘ Jahrgang 1964 mit Getränkenamen wie St. Markus oder St. Georgskreuz und der Jahrgang 1994, der erste nach der ‚Wende‘ (Reginaris leichte Frucht)“ (E-Mail von Elke RONNEBERGER-SIBOLD, 13.03.16; vgl. auch RONNEBERGERSIBOLD (2008)). 10 In beiden Fällen erfolgte jedoch keine Anmeldung beim DPMA. 11 www.fcstpauli.com/home/verein/historie/vereinsgeschichte (17.03.16).
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Abb. 1: Wort-Bildmarke Sankt Hubertus made in Tyrol (Registernummer 1058211)12
Hubertus ist u.a. der Schutzpatron der Jäger und Förster: Seit dem 11. Jahrhundert wird die Legende vom Jäger Hubertus erzählt, dem – an einem Karfreitag – ein mächtiger Hirsch mit dem Kruzifix zwischen dem Geweih erschien, was ihn bekehrte; dieses Motiv stammt aus der Eustachius / Placidus-Legende. Die Grundlage für die Zuschreibung dieses Motivs an Hubertus war seine Zeit als Einsiedler, ihr Motiv, dem damals oft unmäßigen Jagdgebaren Einhalt zu gebieten. […] Die Verehrung von Hubertus erfuhr seit dem 10. Jahrhundert starke Verbreitung […]. Am Hubertus-Tag wird Brot, Salz und Wasser geweiht, der Verzehr soll vor Tollwut, Hunde- und Schlangenbiss schützen […]. Zu einem beliebten christlichen Brauch sind vielerorts die Hubertusmessen geworden, bei denen Jäger mit Blasinstrumenten den musikalischen Teil des Gottesdienstes gestalten. In der Zeit um den Gedenktag finden traditionell auch die nach Hubertus benannten Jagden statt. Er gehört zu den vier heiligen Marschällen, in manchen Gegenden wird er auch zu den 14 Nothelfern gezählt.13
Die populäre Hildegard von Bingen findet sich überraschenderweise nur ein Mal im Korpus. Der Bezug zur Vita der Heiligen ist dabei offensichtlich (s.u.).
12 https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/1058211/DE (04.05.15). 13 www.heiligenlexikon.de/BiographienH/Hubertus_von_Luettich.html (03.05.15). Farben wurden entfernt.
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Abb. 2: Wort-Bildmarke Sankt Hildegard (Registernummer 1039542)14
Der MarkenN Sankt Hildegard (Anmeldetag: 30.10.1981, Schutzendedatum: 31.10.2021) – eine Wort-Bildmarke (s. Abb. 2) –, dessen Inhaber die Vereinigung der Benediktinerinnen zu St. Hildegard e.V. in Rüdesheim am Rhein ist, bezeichnet folgende Vielfalt an Produkten, deren gemeinsamer Nenner vermutlich der natur(heil)kundliche Hintergrund ist (wobei die aus Metallen bestehenden Gegenstände wohl thematisch weiter entfernt sind): Arzneimittel, biologische Zubereitungen und Substanzen für pharmazeutische Zwecke, pharmazeutische medizinische Zubereitungen und Substanzen, diätetische Erzeugnisse für Kinder und Kranke, Kindernährmittel, Pflaster, Verbandstoffe, Metalle für medizinische Zwecke, medizinische Badezusätze, medizinische Tees, Kräuter für gesundheitliche Zwecke, medizinische und nichtmedizinische Kräuterweine; Desinfektionsmittel; Brot und andere Backwaren, Teigwaren; natürliches Getreide, nämlich Dinkelkorn; weinhaltige Getränke, nämlich Dekokte mit Kräutern und Pflanzenteilen, Petersilien-Honigweine; Liköre, Spirituosen; sämtliche vorgenannten Waren nach Anweisungen und Vorschriften der Hl. Hildegard von Bingen hergestellt; aus edlen Metallen hergestellte Gegenstände, nämlich sakrale Gegenstände aus Gold und Silber, Monstranzen, Kelche, Vortragskreuze, Kerzenhalter, Tabernakel; Schmuck aus Gold und Silber; Juwelierwaren; Druckschriften und Bücher; Veröffentlichung und Herausgabe von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften für Dritte.15
Im Ökumenischen Heiligenlexikon wird dieser naturbezogene Aspekt der heiligen Hildegard so zusammengefasst:
14 https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/1039542/DE (04.05.15). 15 https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/1039542/DE (03.05.15).
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Der Gedanke der Einheit und Ganzheit ist auch der Schlüssel zu Hildegards natur- und heilkundlichen Schriften. Krankheit ist für sie ein Defizit oder Ungleichgewicht, Gesundheit dagegen das Gleichgewicht der Seele. […] In ihren über Jahrzehnte bis zu ihrem Tod geschriebenen Büchern Liber simplicis medicinae und Liber compositae medicinae hat Hildegard 280 Pflanzen und Bäume katalogisiert und nach ihrem Nutzen für Kranke aufgelistet. Der Rupertsberg wurde das Zentrum der Kranken, Hilfe- und Ratsuchenden des ganzen damaligen Rheingaus.16
Je sieben Mal finden sich Einträge zu den Markennamen Sankt Georg und Sankt Michael, sechs Mal zu Sankt Martin, vier Mal zu Sankt Florian (in den Schreibungen Sankt Florian (zwei Mal), SANKT FLORIAN, Sanktflorian) – und ein Mal zu Sankt Florenzius –, je vier Mal zu Sankt Johannes (davon ein Mal Sankt Johannis), Sankt Paul und Sankt Petersburg, je drei Mal zu Sankt Elisabeth (immer Krankenhäuser), Sankt Ingbert, Sankt Petrus, Sankt Severin, Sankt Wendeler Land und Sankt Wolfgang (vgl. Kapitel 5.4). Weitere Mehrfachnennungen sind je nur zwei Mal vertreten (z.B. Sankt Hedwig, Sankt Felix). Dass der heilige Georg der Patron der Landwirte, der Reiter und Pferde17 ist, zeigt sich beispielsweise am Sortiment des Verlags Sankt Georg Düsseldorf: „Druckschriften, Bücher, Reiseführer und Wochen [sic!] sowie Monatskalender; vorgenannte Waren den Pferdesport und/oder die Pferdezucht betreffend“18 (Nizza-Klasse 16; Anmeldetag: 18.07.1975; Schutzendedatum: 31.07.2015). Der heilige Michael ist der Patron der Sanitäter und Apotheker, und das zeigt sich in beinahe allen Beispielen (Nizza-Klasse 05: Arzneimittel): Mehrfach wird das Produkt Melissengeist mit diesem Namen versehen (teils Wortmarke, teils Wort-Bildmarke). Wie aus den bisher genannten Beispielen deutlich wird, finden sich durchaus Produkte, die nicht den Nahrungsmitteln und Getränken zuzuordnen sind – entgegen den Ergebnissen der wenigen bisherigen Untersuchungen (vgl. Fußnote 9). Unter dem erwähnten Namen Sanktflorian beispielsweise wurden „Rosen und Rosenpflanzen, Sämereien, Stecklinge und Setzlinge“19 angeboten (Anmeldetag: 01.07.1971; Schutzendedatum: 31.07.2011). Abschließend sei noch der Name Sankt Martin aufgegriffen. Im Ökumenischen Heiligenlexikon sind zahlreiche Einträge mit dem Namen Sankt Martin zu finden. Relevant für die weiteren Ausführungen ist Sankt Martin von Tours: Im Alter von 18 Jahren wurde er von Hilarius, dem späteren Bischof von Poitiers, getauft. 356 schied er nahe Worms vor einem neuen Feldzug gegen die Germanen aus dem Militär aus, weil Christsein und Militärdienst sich nicht vereinbaren lassen. Zuvor geschah nach der Legende, was
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www.heiligenlexikon.de/BiographienH/Hildegard_von_Bingen.html (03.05.15). www.heiligenlexikon.de/BiographienG/Georg_der_Maertyrer.htm (02.08.15). https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/943541/DE (03.05.15). https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/899805/DE (03.05.15).
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Martin weltberühmt machte: Martin begegnete am Stadttor von Amiens als Soldat hoch zu Ross einem frierenden Bettler, ihm schenkte er die mit dem Schwert geteilte Hälfte seines Mantels; in der folgenden Nacht erschien ihm dann Christus mit dem Mantelstück bekleidet: er war es, der Martin als Bettler prüfte.20
Im vorliegenden Korpus kommt der Name sechs Mal vor. Vier Eintragungen gehen auf die HEDEGO Beteiligungsgesellschaft mbH & Co. KG in Bochum zurück. Beim Produkt handelt es sich um ein Heilwasser, das aber derzeit nicht vertrieben werde. Die Namengebung geht – laut Thomas Rische von HEDEGO21 – auf den früheren Firmenchef zurück, der die Heilquelle und das Wasser in den 1960er-Jahren nach einer Kirche – Sankt Martin – benannte. Ein weiterer Eintrag Sankt Martin ist der (künftige) Name eines sich in der Entwicklung befindenden Spiels zur Thematik „Sankt Martin“ (11. November), das von der Heilpädagogin Elfriede Pauli aus Kolbermoor,22 Inhaberin des Verlags VIASpiele, bereits als Marke angemeldet wurde. Schließlich findet sich noch das Syntagma Sankt Martin kulinarisch. Die Wortgruppe mit dem nachgestellten, nicht flektierten Adjektiv kulinarisch bezeichnet einen Zusammenschluss von Gastronomen im Ruhrgebiet (um Bochum), der jedes Jahr um die Zeit des Sankt-Martin-Tages Feinkost-Events organisiert.23 Methodisch sei noch darauf hingewiesen, dass ein Name, der mit mehreren Referenzträgern im Ökumenischen Heiligenlexikon aufgeführt wird, in der Regel nicht einem bestimmten Heiligen zugeordnet werden konnte (Ausnahme ist eine Beziehung zur Vita des/der Heiligen). Zudem ist zu vermerken, dass auch Namenvarianten zu Heiligen, die im Ökumenischen Heiligenlexikon verzeichnet sind, berücksichtigt werden (z.B. ist Sankt Konrad aufgeführt, im Korpus findet sich aber ausschließlich Sankt Conrad).
5.2 „Unechte“ Heiligennamen Das Korpus enthält einige Namen, die nicht auf einen „echten“ HeiligenN zurückzuführen sind, jedoch den Namenzusatz Sankt tragen. Dazu gehören u.a. die Namen Sankt Coulibaly, Sankt EXentrico, Sankt Media, Sankt Mokka, Sankt Ronny und Sankt Schanze. In diesen Fällen ist die Frage nach der Motivation der jeweiligen Benennung
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www.heiligenlexikon.de/BiographienM/Martin_von_Tours.htm (16.08.15). Telefonische Auskunft am 13.08.15. Telefonische Auskunft am 14.08.15. Telefonische Auskunft von Marion Rodeck, Firma Niggemann, Food Frischemarkt GmbH, Bochum, 10.08.15.
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nicht mit dem Blick ins Ökumenische Heiligenlexikon zu beantworten.24 Beim Namen Sankt Mokka etwa – folgend ist die eingetragene Wort-Bildmarke abgebildet – handelt es sich um die katholische Pfarrkirche St. Hubertus, die sich in einem Dorf namens Schmidt am Nationalpark Eifel befindet:
Abb. 3: Wort-Bildmarke Sankt Mokka (Registernummer 30600564)25
Zur Motivation der Namengebung finden sich folgende Informationen: Schmugglerkirche „Sankt Mokka“: Keine Legende, sondern wahre Begebenheit: Die im Zweiten Weltkrieg total zerstörte Kirche des malerischen Eifeldorfes Schmidt wurde mit Erlösen aus dem Kaffeeschmuggel an der Aachener Kaffeefront wieder vollständig aufgebaut. Seither heißt die dem Hl. Hubertus geweihte Pfarrkirche im Volksmund nur noch „Sankt Mokka“.26
Mit dem Namen Sankt Ronny wird ein „Verein zur Förderung multimedialer Kultur (e.V.)“ in Halle bezeichnet. Es handelt sich um eine Künstlergruppe, die auch bei ihrer eigenen Namenwahl kreativ vorgehen wollte. Das „Spiel mit dem Bruch“ im Namen war deshalb eine Motivation bei der Namengebung, so der Rechte-Inhaber Sascha Linke:27 Sankt Ronny soll zwar einerseits als Nachahmung der den Zusatz Sankt enthaltenden Namen „kleiner österreichischer Bergdörfer“ verstanden werden (und somit kreative Idylle und Heimat für die Künstler zum Ausdruck bringen), wobei zugleich ein Kontrast zum Industriestandort um Halle herum hergestellt wird, andererseits aber gewissermaßen als Antithese (zu Sankt) die „geringe Präsenz von Religion im Alltag der Menschen in den neuen Bundesländern“ thematisieren. Der Bezug zur Region wird zudem durch den Rufnamen Ronny hergestellt, der in der DDR äu-
24 Angaben zur Motivation bei der Namengebung der „unechten“ HeiligenN werden folgend nur für die Fälle gemacht, für die entsprechende Auskünfte – z.B. bei den jeweiligen Unternehmen – eingeholt wurden bzw. werden konnten. 25 https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/306005646/DE (03.05.15). 26 www.spiegel.de/fotostrecke/schmuggel-in-der-nachkriegszeit-fotostrecke-108313-19.html (06.08.15). 27 Telefonische Auskunft am 07.08.15. Folgende Zitate entstammen dem genannten Telefonat mit Sascha LINKE und zwei E-Mails vom 31.03.16.
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ßerst beliebt war;28 mit dem Namenträger assoziiert(e) man – laut Sascha Linke – in Ostdeutschland einen „bodenständigen Menschen im Sinne von ungekünstelt, nüchtern und pragmatisch“, was eine weitere Irritation zu den Zielen des Vereins (im Kreativbereich) auslösen soll. „Der ganze Name spielt mit der Irritation, mit nicht erwarteten Assoziationen und ist damit (hoffentlich) einprägsam.“ Der Name Sankt Schanze dürfte auf den Ortsnamen Schanzenviertel in Hamburg zurückzuführen sein. Im Eimsbütteler Teil des Viertels liegt die Location, die im Internet nicht nur Bier (und weitere Getränke) bewirbt, sondern auch eine bestimmte „Gesinnung“ (nach Che Guevara), mit der vermutlich auch der Zusatz Sankt zusammenhängt.29 Der Slogan der Seite heißt „VIVA SANKT SCHANZE [darunter] ALLES ANDERE IST NUR BIER“.30 Bei Sankt Media handelt es sich um eine Medienagentur.31 Der Slogan des Unternehmens lautet: „sanktmedia.com liebt dich!“32 Zum Markenlogo gehört auch ein Herz, das – laut Homepage der Marke – ebenfalls patentiert wurde. Klar dürfte auch bei diesem Beispiel sein, dass mit dem Namenzusatz Sankt eine Aufwertung (durch Emotionalisierung) vorgenommen wird. Sankt EXentrico ist das Pseudonym eines Künstlers aus Frankfurt am Main (u.a. Nizza-Klasse 41: „Unterhalten, Dienstleistungen eines Schriftstellers, Dichters, Komponisten und Künstlers“). Die Motivation bei der Namengebung sei der Widerspruch in der Begrifflichkeit: Sankt ‘heilig’ stehe in einem Gegensatz zum Begriff exzentrisch (wobei in diesem Fall die spanische Form excéntrico zugrunde liege): Letzterer sei (eher) negativ, Sankt dagegen positiv konnotiert; die Verbindung in einer Wortgruppe sei semantisch ungewöhnlich. Auf die mögliche Verwendung als Kurzwort SEX zielt die normwidrige Großschreibung des Buchstaben X ab; ein Hingucker sei der Verzicht auf den Buchstaben c.33 Die Benennungsmotivation für die Marke Sankt Coulibaly (Nizza-Klassen 41, 14, 35: Erziehung, Unterhaltung, echte und unechte Schmuckwaren, Werbung) schließlich geht auf eine Person mit diesem in Afrika gängigen FamN, die für die RechteInhaberin gearbeitet hat, zurück.34
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www.gen-evolu.de/index.php?id=68 (07.08.15). Weitere Hintergründe zur Namenmotivation konnten nicht ermittelt werden. www.sankt-schanze.de/ (15.08.15). www.sanktmedia.com/klassischemedien.html (10.08.15). www.sanktmedia.com/impressum.html (10.08.15). Telefonische Auskunft des hinter dem Pseudonym stehenden Künstlers Jan Pavlinec am 11.08.15. Telefonische Auskunft von Annette Müller aus Obing am 11.08.15. S. auch www.ecole-sanesprit.de (15.08.15).
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Weitere „unechte“ HeiligenN aus dem Korpus sind Sankt Dorin (zwei Mal: Käse bzw. Milchzucker), Sankthorst (Einzelhandelsdienstleistungen und Verpflegung), Sankt Jaro (zwei Mal, unterschiedliche Schutzzeiträume: Schreibwaren und Getränke bzw. Gläser und Getränke), Sankt Mathiner (Mehl, Backwaren) und Sankt Patron (Milchprodukte). Auch Sankt J., Sankt, sankt-apotheke-N und Sanktus Tee werden zu den „unechten“ HeiligenN gerechnet, da sie – ohne weitere Informationen – keinem (bestimmten) Heiligen zugeordnet werden können und als Ellipse klassifiziert werden (vgl. Kapitel 5.3). An dieser Stelle sei zur Vorgehensweise ergänzt, dass unter dem Button „Heiliger“ im Ökumenischen Heiligenlexikon auch Personen aufgeführt werden, deren Namen mit dem Vermerk „selig“ oder „verehrt“ versehen sind. Dazu gehört in meinem Korpus das Beispiel Sankt Englmar („selig“).35 Erwähnt werden kann noch, dass der Name drei Mal vorkommt, die Anmeldung wurde aber in allen Fällen zurückgewiesen.36
5.3 Heiligennamen morphologisch Aus morphologischer Sicht interessieren sowohl Wortbildung als auch Flexion. Das Korpus enthält Kurzwörter, nämlich Pank(ratius), Jaro(mir) (zwei Mal) und Sankt J. (zwei Mal). Bei den zuerst genannten Fällen handelt es sich um die „Anfangssegmente“ der Vollform (KESSEL/REIMANN 2012: 119). (Sankt) J. dagegen ist ein Initialwort.37 Sucht man nach der Motivation für die Namengebung, wird man fündig, wenn
35 www.heiligenlexikon.de/BiographienE/Englmar.html (15.03.16). 36 Einmal wurde die Anmeldung zurückgenommen (https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/ register/3020100231963/DE; 13.03.16), im zweiten Fall lag „Doppelanmeldung“ vor (https:// register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/3020100278269/DE; 13.03.16), und beim dritten Beispiel war das Schutzhindernis „Fehlende Unterscheidungskraft (§ 8 Abs. 2 Nr. 1)“ (https:// register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/307395103/DE; 13.03.16). 37 Dazu finden sich die folgenden beiden Einträge: Sankt J. (Karl Fuhrmann GaststättenbetriebsGmbH, 66111 Saarbrücken, Deutschland) mit den Nizza-Klassen 29 („Fleisch- und Wurstwaren, verzehrfertige Speisen, soweit in Klasse 29 enthalten“), 30 („Honig, Kaffee“) und 43 („Dienstleistungen zur Verpflegung von Gästen […]“) und Sankt J. (Petry, Jürgen, 66119 Saarbrücken, Deutschland) mit den Nizza-Klassen 32 („Biere; Mineralwässer und kohlensäurehaltige Wässer und andere alkoholfreie Getränke; Fruchtgetränke und Fruchtsäfte; Sirupe und andere Präparate für die Zubereitung von Getränken“), 33 („alkoholische Getränke (ausgenommen Biere)“) und 43 („Dienstleistungen zur Verpflegung und Beherbergung von Gästen“). Die beiden Marken nahmen zur selben Zeit (26.01.06 bzw. 27.01.06) unter derselben Adresse ihren Betrieb auf, bei Ersterer lief der Schutz am 31.01.16 aus, die Marke von Jürgen Petry war nur rund acht Monate angemeldet.
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man die Adresse der Lokalität (Restaurant, Kneipe) in den Blick nimmt: St. Johanner Markt 3.38 Eine Besonderheit der Kürzung stellt der Name Sankt dar. Die Marke gehört der Jade-Textil-Vertrieb GbR in Wilhelmshaven. Die unter dem Namen geführten Produkte sind den Nizza-Klassen 25, 18 und 35 zuzuordnen und umfassen im Wesentlichen Bekleidung und entsprechende Accessoires, Lederwaren sowie „Dienstleistungen des Einzel-/Großhandels über das Internet und über Ladengeschäfte“ (NizzaKlasse 35). Zur Motivation der Namengebung gibt das Unternehmen folgende Auskunft: [D]ie Wahl des Markennamens „Sankt“ ist ganz einfach zu erklären: Der erste Ort, der von uns mit entsprechender Damen- und Herrenoberbekleidung bestückt worden ist, war St. Peter Ording an der Nordsee. Unser erstes Logo beinhaltete den gesamten Namen des Ortes. Nach kurzer Zeit erwies sich das grafische Zeichen „Sankt“ als so aussagekräftig und markenprägend, dass es mittlerweile als eigenständiges Zeichen von uns genutzt wird.39
Abb. 4: Wort-Bildmarke Sankt (Registernummer 302014048273)40
Als Ellipse können vermutlich ebenso die Namen sankt-apotheke-N und Sanktus Tee aufgefasst werden. Hinsichtlich der Flexion können folgende Beobachtungen gemacht werden: Mitunter findet sich der Name im Genitiv – wobei Sankt nicht flektiert wird und somit offensichtlich als Teil einer Wortgruppe aufgefasst wird –, und zwar sowohl im mhd. Genitiv (schwache Flexion) – Sankt Marien (zwei Mal), Sankt Annen (zwei Mal) – als auch mit der lateinischen Endung (zwei Mal Sankt Ansgari sowie zwölf Mal Sankt Pauli41). Der starke deutsche Genitiv liegt beim vorangestellten Attribut Emmerams der Wortgruppe/des Namens Sankt Emmerams Mühle (Nizza-
38 www.stadtbranchenbuch-saarbruecken.de/968111.html (30.03.15). 39 E-Mail von Jürgen SCHOLZ am 08.04.15. Vgl. die Homepage des Unternehmens, auf der jedoch die Motivation der Namengebung nicht explizit erwähnt wird, unter http://sankt.de (07.09.15). 40 https://register.dpma.de/DPMAregister/marke/register/3020140482738/DE (04.05.15). 41 Die Wortbildungen Sankt Paulianer, Sankt Pauliboys und Sankt Pauligirls wurden hier nicht einbezogen.
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Klasse 42: „Bewirtung und Verpflegung von Gästen“) und bei Sankt Williams (NizzaKlassen 14, 18, 25, 34: Schmuck, Taschen, Kleidung, Tabakdosen) vor. In den meisten Fällen – Ausnahme ist Sankt Emmerams Mühle – handelt es sich dabei um eine Ellipse: Zum Genitiv wäre also beispielsweise Kirche o.Ä. zu ergänzen. Beispiele im lateinischen Nominativ, die vergleichsweise häufig vorkommen, sind u.a. Sankt Sebastianus (zwei Mal), Sankt Faustinus und Sankt Florenzius. Sowohl mit lateinischer Endung (im Nominativ) als auch ohne finden sich die Namen Sankt Augustin/Augustinus (je ein Mal) und Sankt Bernhard/Bernhardus (je ein Mal). Ausschließlich ohne lateinische Endung (-us) kommt beispielsweise der Name Sankt Libori (zwei Mal), der auf den Heiligen Liborius zurückgeht, vor. Man könnte hier auch einen lateinischen Genitiv vermuten (statt *Liborii).
5.4 Heiligennamen quantitativ Aus quantitativer Perspektive lassen sich folgende Ergebnisse aus dem Korpus ermitteln. Am häufigsten kommt der Name Sankt Pauli vor, gefolgt von Sankt Georg und Sankt Michael. Die meisten Namen finden sich nur ein Mal. Auffällig ist weiter, dass die „echten“ HeiligenN das Korpus dominieren; bei den – vergleichsweise wenigen – „unechten“ HeiligenN kommen lediglich drei mehrfach (zwei Mal) vor. Nur ein Beispiel mit der lateinischen Nominativendung – Sanktus – ist nachweisbar (Sanktus Tee). Anzahl zwölf Mal
sieben Mal sechs Mal vier Mal drei Mal zwei Mal
„echte“ Heiligennamen Sankt Pauli (zusätzlich zwei Mal Sankt Paulianer sowie je ein Mal SANKT PAULIBOYS und SANKT PAULIGIRLS) Sankt Georg, Sankt Michael Sankt Martin Sankt Florian, Sankt Johannes (davon ein Mal Sankt Johannis), Sankt Paul, Sankt Petersburg Sankt Elisabeth, Sankt Ingbert, Sankt Petrus, Sankt Severin, Sankt Wendeler Land, Sankt Wolfgang Sankt Afra, Sankt Anna, Sankt Annen, Sankt Ansgari, Sankt Augustin/Augustinus, Sankt Bernhard/Bernhardus, Sankt Burghard, Sankt Conrad, Sankt Emeran/Emmeram, Sankt Felix, Sankt Hedwig, Sankt Hubertus, Sankt Katharina, Sankt Libori, Sankt Marien, Sankt Sebastianus
„unechte“ Heiligennamen
Sankt Englmar („selig“) Sankt Dorin, Sankt J., Sankt Jaro
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Anzahl ein Mal
„echte“ Heiligennamen „unechte“ Heiligennamen Sankt, sankt-apotheke-N, Sankt Augustus, Sankt Amandus, Sankt Benedikt, Sankt Coulibaly, Sankt Sankt Benno, Sankt Bonifatius, Sankt Bruno, Sankt EXentrico, Sankt Disibodus, Sankt Faustinus, Sankt Florenzius, Mathiner, Sankthorst, Sankt Franziskus, Sankt Germanius, Sankt GoSankt Media, Sankt thahardus, Sankt Gottfried, Sankt Hildegard, Sankt Mokka, Sankt Patron, Jakobus, Sankt Jodocus, Sankt Josef, Sankt KonsSankt Ronny, Sankt Schantantin, Sankt Korbinian, Sankt Laurent, Sankt ze, Sanktus Tee Ludwig, Sankt Mang, Sankt Markus, Sankt Maternus, Sankt Maximilian, Sankt Morrritz [sic!], Sankt Oswald, Sankt Pank, Sankt Philipp, Sankt Pirmin, Sankt Quirinus, Sankt Remigiusberg, Sankt Rochus, Sankt Sebaldus, Sankt Servatius, Sankt Silvester, Sankt Ulrich, Sankt Veit, Sankt Vinzenz, Sankt Vitalis,42 Sankt Vitus, Sankt Wendalinus, Sankt Williams Bei Sankt Laurin konnten – auch auf Nachfrage – keine Informationen zur Klassifikation des Namens ermittelt werden. Ein Beispiel (aus der Nizza-Klasse 33) wurde in der Ergebnistabelle mit dem Hinweis vermerkt: „eine grafische Wiedergabe der Marke ist nicht elektronisch vorhanden“; der Name ist demnach nicht einsehbar. Tab. 2: Quantitative Auswertung der Sankt-Namen
6 Zur Motivation und Funktion des Namenzusatzes Sankt als Teil von Markennamen – ein Fazit Die im Korpus vorzufindenden Namen lassen sich, wie der Titel des Beitrags schon verrät, in solche, die auf einen Heiligen/eine Heilige zurückgehen („echte“ HeiligenN), und solche, die dies nicht tun, aber trotzdem das Attribut Sankt enthalten („unechte“ HeiligenN), einteilen. Dabei dominieren klar die Beispiele mit einem „echten“ HeiligenN. Gewissermaßen als Kategorie dazwischen sind die Namen aufzufassen, die auf einen OrtsN zurückgehen, der wiederum als Übertragung eines HeiligenN zu verste-
42 Gegen diesen Markennamen findet sich eine Entscheidung des Bundespatentgerichts unter dem Titel „Erfolglose Beschwerde betreffend einer Marke mit der Bezeichnung Sankt Vitalis“ (BPatG, Beschluss vom 19.10.11 - 29 W (pat) 523/10). www.rechtsprechung-im-internet.de (21.06.16).
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hen ist; der Name des Heiligen wird somit nicht unmittelbar übertragen, sondern nur indirekt, indem er Namengeber für den OrtsN war, z.B. Heilwasser Sankt Martin: Übertragung des Namens einer Kirche, oder Sankt J.: ansässig am St. Johanner Markt. Die Motivation für die Namengebung wird höchstens bei Sankt J., Name einer Gaststätte, noch klar. Beim Heilwasser Sankt Martin war die Auskunft des Unternehmens zur Namengebung erforderlich, sodass vom Rezipienten, dem Wasserkonsumierenden, höchstens ein unspezifischer Mehrwert in den Zusatz Sankt – möglicherweise verstanden als Titel – hineininterpretiert werden dürfte. Es liegt also eine Abstufung der Intensität des Bezugs zwischen MarkenN und Heiligen vor; im Falle der „unechten“ HeiligenN ist sprachlich nur noch eine entsprechende Bezeichnung vorhanden, die Inhaltsseite bleibt dahingehend leer. Dass der MarkenN in einer Beziehung zur Vita des/der Heiligen, auf den/die er zurückzuführen ist, steht, ließ sich an den analysierten „echten“ HeiligenN als MarkenN zeigen (z.B. Sankt Hubertus, Sankt Hildegard). Bei den „unechten“ HeiligenN lassen sich die Motivation für die Namengebung und die damit zusammenhängende Funktion des Namens (im Kontext) in der Regel nicht so einfach ermitteln, was eine Befragung des Senders im Hinblick auf die Kreation des Namens notwendig macht. Die analysierten Beispiele zeigen u.a., dass bei den „unechten“ HeiligenN teilweise eine Aufwertung durch den Namenzusatz Sankt zu konstatieren ist – möglicherweise sogar mit dem Ziel Assoziationen hervorzurufen, die durchaus Gesichtspunkte von Religiosität im weiteren Sinne umfassen (Kontexte von Sankt Schanze („Gesinnung“) und Sankt Media (Slogan mit Emotionsbezeichnung: „sanktmedia.com liebt dich!“)). Mehrfach wird auch das Spiel mit dem Bruch zwischen den (vermeintlichen) Konnotationen und Assoziationen des Attributs Sankt einerseits und dem jeweiligen Namenkern andererseits als Motivation bei der Namengebung angeführt (Sankt Ronny, Sankt EXentrico). Im Hinblick auf die Dekodierung erscheint das Beispiel Sankt gewagt; es ist hinsichtlich der Ableitung in die Zwischenkategorie einzuordnen, da der Name auf den Ort St. Peter Ording zurückgeht. Allerdings ist der Bezug aufgrund der „Kürzung“ kontextlos überhaupt nicht mehr herstellbar; auf der Homepage http://sankt.de (07.09.15) und auf den Produkten selbst finden sich jedoch (mitunter) Ortsbezüge (St. Peter Ording oder Nordsee):
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Abb. 5: T-Shirt der Marke Sankt43
7 Literatur BUCHNER, Sabina (2011): Sankt Blasien – Sammarei – Helena. Place Names with Sankt in Bavaria and Baden-Wurttemberg. In: Tóth, Valéria (Hg.): Patrociny Settlement Names in Europe. Debrecen/Helsinki, 145–173. GLÄSER, Rosemarie (2005): Eigennamen in der Arbeitswelt. Leipzig. GREULE, Albrecht (2012): Über den Erkenntniswert der Etymologie religiöser Begriffe: nhd. weih. In: Reimann, Sandra/Rössler, Paul (Hgg.): Albrecht Greule: Sakralität. Studien zu Sprachkultur und religiöser Sprache. Tübingen, 39–44. GROSSE, Siegfried (1966): Reklamedeutsch. (Wiederabgedruckt) In: Nusser, Peter (Hg.) (1975): Anzeigenwerbung. Ein Reader für Studenten und Lehrer der deutschen Sprache und Literatur. München, 76–95. JANICH, Nina (62013): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen. HENGST, Karlheinz (2011): Patrociny Settlement Names in Eastern Germany. In: Tóth, Valéria (Hg.): Patrociny Settlement Names in Europe. Debrecen/Helsinki, 105–116. HUNDHAUSEN, Carl (1963): Wirtschaftswerbung. Essen. KESSEL, Katja/REIMANN, Sandra (42012): Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Tübingen/Basel.
43 http://sankt.de/st-peter-ording/t-shirts/ (17.03.16).
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Sandra Reimann
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Albrecht Greule
Heiligennamen in der volkssprachlichen Liturgie Zusammenfassung: Da die Heiligennamen oder Hagionyme hauptsächlich im Rahmen der Personenbenennung und der Namenetymologie erforscht werden, werden sie in den folgenden Ausführungen vorwiegend unter textkonstitutiven bzw. textpragmatischen Aspekten betrachtet. Es geht darum zu zeigen, wie die Heiligennamen gemäß ihrem (primären) „Sitz im Leben“ in sakralen deutschsprachigen Kontexten funktionieren und wie sie aus den sakralen in profane Kontexte geraten. Abstract: Saints’ names or hagionyms play a major role in onomastic research, especially within the scope of the naming of persons as well as name etymology. In the following composition, hagionyms are examined in regard to text-constitutive or textpragmatic aspects. The primary objectives are the demonstration of how saints’ names emerge according to the circumstances of the saints’ lifes in sacred German-speaking contexts, as well as the retracing of the ways in which the names are shifted from sacred to profane contexts.
1 Namen und Textlinguistik Wenn man HeiligenN oder Hagionyme als konstitutive Einheiten von Texten beschreiben will, kann man sich zunächst nur auf die Ausführungen von Dietlind Kremer (KRÜGER 2004) stützen. Gemäß dem dort verfolgten textlinguistischen Konzept der „Transposition“ hängt die Namenqualität eines Sprachzeichens in einem Text von „Umfeldsignalen“ ab. Das Signal der Transposition eines Lexems zum HeiligenN ist das präponierte Adjektiv heilig, im Plural heilige, z.B. die heiligen Petrus und Paulus. Volkstümlich scheint allerdings schon die Nennung beider Namen als Paar, Peter und Paul, zu genügen, um sie als Heilige zu klassifizieren. In der lateinischen Liturgiesprache ist das die Heiligkeit prädizierende Attribut meist beatus und nicht sanctus. Es heißt dort z.B. beatus Ioseph (heiliger Joseph). Das Fest Peter und Paul am 29. Juni trägt offiziell liturgisch den Titel „Hl. Petrus und Hl. Paulus, Apostel“, und in den volkssprachlich liturgischen Texten werden diese Heiligen nur die Apostel Petrus und Paulus genannt; in den lateinischen Texten beati apostoli Petrus et Paulus (zur Struktur des hagionymischen GesamtN s.u. 3.2).
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Wie im Verlauf eines Textes das zur Verehrung des Heiligen notwendige Wissen bei den Textrezipienten aufgebaut bzw. in Erinnerung gerufen wird, möchte ich durch die textgrammatische Analyse des Bonifatius-Liedes, wie es im Gesangbuch für das Bistum Mainz (GOTTESLOB 1975: Nr. 918) steht, verdeutlichen: 1) Nun lasst uns alle loben Sankt Bonifatium, den Gott hat hoch erhoben zum Heil dem Christentum. 2) Gelobet sei sein Leben, gelebt in Heiligkeit; gelobt sei all sein Streben, dem Gottesreich geweiht. 3) Apostel unserm Lande, das noch umfing die Nacht, hast du, den Gott uns sandte, der Wahrheit Licht gebracht. 4) Gesandt in Christi Namen, hast du aus voller Hand des Glaubens reichen Samen gesät ins deutsche Land. 5) Der Kirche treu erfunden, dem Volk der gute Hirt, hast du in schweren Stunden gesammelt, was verirrt. 6) Ein Friedensstifter allen, hast du mit starker Hand, die Raub und Krieg verfallen, dem Frieden zugewandt. 7) Ein Zeuge noch im Tode, war Sterben dein Gewinn, gabst du als treuer Bote dem Herrn am Kreuz dich hin. 8) Darum wir herzlich bitten: Du Schutzherr unserm Land, bleib stets in unsrer Mitten des Glaubens starkes Band.
Der Hymnus umfasst acht Strophen, d.h. textlinguistisch acht kleinste Texte. Strophe 1 nennt Sankt Bonifatium in deutsch-lateinischer Mischsprache und bildet damit eine individualisierende, identifizierende Nomination am Textbeginn. Als Kommunikationssituation wird im Lied simuliert, dass ein unbekannter Sprecher/Sänger die Gemeinde auffordert, den heiligen Bonifatius zu loben. Abgesehen von Strophe 2, wo auf Bonifatius anaphorisch-pronominal koreferiert wird (gelobet sei sein Leben), wird ab Strophe 3 der Heilige selbst angesprochen als: Du, Apostel unserm Lande; du, ein Friedensstifter, ein Zeuge noch im Tode; du, Schutzherr. Das heißt: Mitten im Lied wird die Perspektive gedreht und der Heilige nicht mehr namentlich apostrophiert, sondern durch Prädikate, die seine Verdienste nennen. So entsteht im Verlauf des Liedes die wichtige Isotopie der ‚Heiligkeit’ (des Bonifatius), durch die die Verehrung des Heiligen begründet wird. Die weitere wichtige textlinguistische Frage nach dem Verhältnis von Name und Textsorte (KRÜGER 2004: 129–152) erörtere ich später, nachdem wir der komplizierten Entstehung von HeiligenN nachgegangen sind.
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2 Was ist ein Hagionym? Nach einer Definition von HeiligenN sucht man vergeblich. Dass sie in der Fachliteratur nicht zu finden ist, verwundert nicht: Ein HeiligenN ist eben der Name eines oder einer Heiligen. Damit verschiebt sich das Problem aber auf die Definition von Heiligen. Was macht einen gewöhnlichen, normalen Namen zu einem HeiligenN? Den komplizierten Vorgang, wie es im Verlauf der Kirchengeschichte zur Verehrung zuerst von Märtyrern als Heilige kam, wie und wann die Heiligsprechung geregelt wurde und welche Rolle die Lebensgeschichten der Heiligen dabei spielten, muss ich übergehen (vgl. BAUMEISTER 2006). Das Ergebnis einer diesbezüglichen Recherche ist folgende Definition: Ein HeiligenN/Hagionym ist ein im Martyrologium Romanum (oder im Ökumenischen Heiligenkalender) verzeichneter, mit dem Attribut heilig versehener PersonenN.
3 Pragmatik der Hagionyme 3.1 Die (lateinischen) Heiligennamen in deutschen Kontexten Die ursprünglich hebräischen biblischen EigenN (Biblionyme) wurden dank der Vulgata-Bibelübersetzung (4./5. Jh.) bei uns zuerst in griechisch-lateinischer Form bekannt. Aber alle damaligen HeiligenN wurden bei ihrer Aufnahme in die deutsche Sprache des Spätmittelalters schnell und gründlich dem Laut- und Formensystem des Deutschen angepasst. Beispiele: a) aus dem Gebenbacher Pfarrbuch (GÖSSEL 1418–1437) 26r: an sand mertens tag (11. November). Offizielle lateinische Titulatur des Heiligen: sanctus Martinus Turonensis, deutsch: heiliger Martin von Tours (*316, †397). b) aus der ins Deutsche übersetzten Ausgabe des Martyrologiums (VETTER 1599): Quarto nonas Ianuarij. Der II. Tag im Jenner. – Mondphase – Heut ist der acht Tag Sant Stephans deß Ertzmarterers. Offizielle lateinische Titulatur: sanctus Stephanus protomartyr. Die Beispiele oben, denen man HeiligenN in OrtsN wie Sankt Märgen im Schwarzwald oder Sammarei in Niederbayern hinzufügen könnte, zeigen uns, was mit den Hagionymen geschieht, nachdem sie in die Volkssprache übernommen wurden: Die lateinische Flexionsendung fällt in Sant Stephans weg, bleibt aber in der Fügung Stefanitag bis heute erhalten. Bei sand mertens tag greifen Umlaut und Endsilbenabschwächung; bei Sammarei wird die Wortgruppe Sancta Maria kontrahiert und unter dem Akzent sogar diphthongiert.
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3.2 Strukturen des Hagionyms Den volkstümlichen hypokoristischen Varianten eines HeiligenN steht die offizielle titularische Vollform, der hagionymische GesamtN, gegenüber. Im Martyrologium stehen die Namen mit Angabe der Lebensumstände und der Todesart des/der Heiligen. Selbst die ursprünglich einnamigen Biblionyme wie Maria, Johannes, Saulus/Paulus erhalten, ins Deutsche übertragen, eine titularische Vollform, z.B. am 27. Dezember: Heiliger Johannes, Apostel und Evangelist. In dieser Ausführlichkeit findet die Vollform außer im Martyrologium nur in den Überschriften über den Heiligenfesten oder -gedenktagen oder im Liturgischen Kalender (Direktorium) Verwendung. Sie besteht aus dem konstanten prädizierenden Attribut heiliger/heilige, dem Namenkern (Johannes) sowie dem Titel Apostel, Evangelist. Der Namenkern und die Titulatur können durch Ortsangaben erweitert sein: z.B. Heiliger Martin von Tours, Heiliger Valentin Bischof von Rätien, Heiliger Severin, Mönch in Norikum, Heiliger Hilarius, Bischof von Poitiers. Ferner können zwei Namenkerne wie bei Peter und Paul oder Heiliger Titus und Heiliger Timotheus, Bischöfe, Apostelschüler, zu einem Namenkern vereinigt sein. Der Namenkern kann auch aus dem Vor- und FamN des Heiligen bestehen, z.B. Heiliger Klemens Maria Hofbauer, Ordenspriester. Nicht namentlich erwähnt, sondern nur als Gruppe einem Namenkern zugeordnet sind Gefährten eines Heiligen, z.B. Heiliger Florian und die Märtyrer von Lorch oder Heiliger Paul Miki und Gefährten, Märtyrer in Nagasaki. Außerhalb der liturgischen Kommunikation wird die Vollform – entsprechend den Anforderungen der Kommunikationssituation – gekürzt, etwa um das Attribut und den Titel oder im Extremfall, besonders bei hypokoristischer Kommunikation, auf Kurzformen wie Johann, Hannes, Hans oder Jo. Seit dem II. Vatikanischen Konzil werden auch die Texte der Heiligenverehrung, die primär in lateinischer Sprache verfasst waren, in die Volkssprachen übersetzt, in unserem Fall ins Deutsche. Es erhob sich dabei die banal anmutende Frage, welche Namenform in die Übersetzung der liturgischen Texte ins Deutsche zu übernehmen sei. Volkssprachliche Varianten eines Hagionyms, die oft deutliche Spuren der familiären, inoffiziellen Kommunikation aufweisen, kamen dafür nicht in Frage. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Wahl der Form des Hagionyms in den deutschen Texten auch von der Rhythmik und Kantillierbarkeit abhängt (GREULE 2012: 125–134). Die Fülle der volkssprachlichen Spielformen eines Namens eines freilich besonders populären Heiligen wie Nikolaus hat eindrucksvoll DRÄGER (2013) aufgezeigt. Nicht zum Spott, sondern nur als Test ersetze ich in der responsorialen Anrufung der
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heiligen Elisabeth, Landgräfin von Thüringen (19. November),1 nämlich Heilige Elisabeth – bitte für uns, den offiziellen Namen durch populäre Namenformen: Heilige Elsbeth/heilige Liesbeth/heilige Bettina – bitte für uns! Die Wirkung ist die einer der Liturgie nicht mehr angemessenen Senkung des Stilniveaus. Im Vorgriff auf das Vorkommen von Hagionymen im sakralen Kontext (s. 3.3) will ich hier die Nennung des heiligen Stephanus in der Messliturgie verfolgen. Da es sich bei Stephanus um einen im Neuen Testament erwähnten Heiligen handelt, erscheint sein Name in nahezu allen proprialen Texten des Festes am 26. Dezember (SCHOTT 1975: 1557–1562). – Im Eröffnungsvers: Das Tor des Himmels öffnete sich für Stephanus. – Im Tagesgebet: direkt (das Beispiel des heiligen Stephanus) und indirekt mit der Titulatur (wir ehren den ersten Märtyrer der Kirche). – In der Lesung: Stephanus tat Wunder. – Im Gabengebet: den Festtag des heiligen Stephanus. – Im Kommunionvers: Die Menge steinigte den Stephanus. – Im Schlussgebet: im Sterben des heiligen Stephanus. Der Heilige wird konstant in der lateinischen Namenform genannt, nirgendwo findet sich in den deutschen Messtexten die deutsche Form Stefan. Die Übersetzer empfanden also die lateinische Namenform als stilistisch hochwertiger und der liturgischen Sprache angemessener. Teils steht der Name des Heiligen mit, teils ohne das Prädikat heilig. Durch die Namennennung in fast allen Texten entsteht jedenfalls eine hohe, außergewöhnliche Intertextualität.
3.3 Hagionyme in sakralen Kontexten Seit dem Jahr 1234 sind die Kanonisierung eines Menschen und der Eintrag seines Namens in das Martyrologium Romanum Voraussetzung für die liturgische Heiligenverehrung. Die an einem Tag im Martyrologium erwähnten Heiligen – meist ist es ihr Todestag, der Tag der Beerdigung oder der Übertragung der Reliquien (Translatio) – können an diesem Tag liturgisch gefeiert werden. Es handelt sich dabei um folgende Textarten bzw. Textgefüge: – Das Proprium der Mess-Liturgie, das ich an den liturgischen Texten zum Fest des heiligen Stephanus am 26. Dezember bereits kurz analysiert habe (s. 3.2). – Das Stundengebet, das mit einer Lectio hagiographica, einer zum Vortrag bestimmten Lebensbeschreibung des Tagesheiligen, verbunden ist.
1
Vgl. den Beitrag von DEBUS in diesem Band.
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– Ein Hymnus bzw. ein Kirchenlied, wie z.B. das bereits besprochene BonifatiusLied (s. 1). – Litaneien: Mehrere Heilige werden in der in diversen Liturgien vorkommenden Allerheiligen-Litanei mit Namen angerufen und responsorial um Hilfe gebeten, oder eine Litanei ist nur auf eine Heilige/einen Heiligen bezogen. – Bei der Taufe wird gleich zu Beginn der gewünschte Name des Täuflings, normalerweise ein HeiligenN, rituell erfragt. Die Taufe wird unter Nennung des TaufN gespendet. – Durch die Kirchweihe bekommt jede Kirche einen Titel; sie wird meist nach einem Heiligen benannt. Die Kirche als Gebäude und die sich als Organisation von Gläubigen an eine Kirche anschließende Gemeinde bekommen somit ein Patrozinium. Sowohl bei der Taufe als auch bei der Kirchweihe können wir gut beobachten, wie sich die Übertragung eines Hagionyms vom sakralen Kontext auf den profanen vollzieht: Erhält ein Täufling in der Taufe den Namen des heiligen Antonius von Padua und wird künftig Anton Mustermann genannt, dann wechselt die Referenz des Namens Anton(ius) von einer heiligen Person auf eine „normale“ männliche Person, deren Name von nun an in unliturgischen Kontexten verwendet wird, z.B. in der Adresse eines amtlichen Briefs. Ähnliches geschieht bei der Kirchweihe, nach der das Referenzobjekt von einer heiligen Person auf ein Gebäude (Kirche, Kloster) und auf die zugehörige Institution wechselt (Onymische Transposition).2
3.4 Hagionyme in profanen (außerliturgischen) Kontexten Abgesehen von dem großen Bereich der Verwendung von HeiligenN als RufN und FamN in ihren entsprechenden Kontexten sollten wir historische Kontexte nicht vergessen, in denen Hagionyme eine wichtige Rolle spielen, etwa bei Datumsangaben in Urkunden, z.B. 1298 an sante Aferen dage (= 7. August; DOLCH/MÜNCH 1995: 238) oder 1303 an sancte Margareten abende (= 12. Juli; DOLCH/MÜNCH 1995: 252). Mit der Datierung von Tagen mit Hilfe von HeiligenN hängen die Wetter- oder Bauernegeln zusammen (KUNZE 2003: 193), z.B. Wenn Sankt Anton gut Wetter lacht (13. Juni), Sankt Peter (29. Juni) viel ins Wasser macht. Bekannter sind die Wetterregeln zu den Eisheiligen Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und Sophia, deren Gedenktage im Mai liegen.
2
Vgl. den Beitrag von CASEMIR in diesem Band.
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In epischer Breite wird das Leben der Heiligen schon im Mittelalter z.B. von Wolfram von Eschenbach oder von Hartmann von Aue dargestellt. Die Vielzahl der über Heilige bekannten Legenden versammelten die Bollandisten im 17. Jh. mit philologischer Akribie in den Acta Sanctorum. Von größerer volkstümlicher Wirksamkeit dürfte die bereits Mitte des 13. Jh. verfasste Legenda aurea gewesen sein, mit deren deutscher Übersetzung, der Elsässischen Legenda aurea, sich KUNZE (1983) ausführlich befasst hat. Die kalendarisch geordneten Sammlungen erzählen die Heiligenvita entweder historisierend oder mehr religiös. So beginnt eine Sammlung der Heiligenleben, die nach dem II. Vaticanum erschienen ist, mit der Rubrik „Die Heiligen, die den Herrn sahen“ (MANNS 1966: 41), während in der 1934 erschienenen Sammlung „Helden und Heilige“ die Lebensbeschreibung des heiligen Konrad (26. November) mit den aus der Geschichtsschreibung bekannten Worten beginnt: „Hie Welf – hie Waibling!“ (HÜMMELER 1934: 553). Hagionyme sind lexikographisch aufgearbeitet in Heiligenlexika, von denen das im Internet verfügbare „Ökumenische Heiligenlexikon“ von Joachim Schäfer hervorgehoben werden soll. Man findet HeiligenN nicht nur aufgelistet, sondern auch, etymologisch erklärt, in VorN-Lexika (z.B. KOHLHEIM/KOHLHEIM 2007). Heute werden HeiligenN als VorN zumeist nach euphonischen Kriterien gewählt und nicht mehr, weil mit der Wahl des HeiligenN die mit dem Namen verbundene Lebensgeschichte des/der Heiligen für den Nachbenannten maßgeblich wäre. Das von KRÜGER (2004: 126) angemahnte „Namenwissen“ geht damit verloren und muss durch Nachschlagen in Heiligenlexika nachträglich erworben werden. Wie wir gesehen haben, entstehen durch Übertragung eines hagionymischen Kloster- oder KirchenN auch SiedlungsN, die in jedem Ortsverzeichnis sofort am Adjektiv Sankt (St.) – von Sankt Afra bis Sankt Wolfgang – erkennbar sind. Allerdings macht entweder der gesamte HeiligenN den oben behandelten Lautwandel mit (vgl. SiedlungsN Sammarei) oder nur der KernN, der dann meist nicht mehr als Name eines/einer Heiligen erkennbar ist, z.B. SiedlungsN Sankt Pölten (< Sankt Hippolyt). Am äußersten Rand der Möglichkeiten, Hagionyme in profane Kontexte zu übertragen, stehen die WarenN in der Werbung: Als Beispiel soll nur der UnternehmensN Bayerische Staatsbrauerei Weihenstephan erwähnt werden, weil die Übertragungsrichtung des Hagionyms heiliger/weihen Stephan über den Namen des ehemaligen Klosters, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, zum BrauereiN bekannt ist. Im Unterschied dazu heißt die Käsesorte Bonifaz nach Bonifaz Kohler, einem Käsehersteller zu Beginn des 20. Jh. Hier ist der Weg der Übertragung ein anderer: Der uns aus dem am Anfang zitierten Hymnus bekannte heilige Bonifatius wurde unter der volkssprachlichen Form Bonifaz zum Namenspatron des besagten Allgäuer Käseher-
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stellers und wurde von dort auf die Käseprodukte übertragen (vgl. KOSS: 2008: 234– 235).3
4 Zusammenfassung Eine Analyse der Hagionyme unter textlinguistischem Aspekt setzt zunächst die Definition von „Heiliger“ oder „Heilige“ voraus. Die Definition wird im Rahmen der Kirchengeschichte gesucht und läuft darauf hinaus, dass ein Hagionym der Name einer im Martyrologium Romanum (zusammengestellt 1583) verzeichneten Person ist, der auf Grund der Kanonisierung mit dem Attribut sanctus/heilig versehen ist. Die Hagionyme werden primär in das in lateinischer Sprache verfasste Martyrologium auch in lateinischer Form aufgenommen. Mit der Übernahme von HeiligenN in die volkssprachliche, profane Kommunikation und ihrer Lösung aus lateinischem Kontext wurden sie ab dem Spätmittelalter an das deutsche Sprachsystem angepasst (z.B. an sand mertens tag statt in die sancti martini ‘am Martinstag’). Auf einer ersten Stufe der Integration ins Deutsche der Gegenwart steht die titularische mehrgliedrige Vollform des HeiligenN im Liturgischen Kalender, z.B. Heiliger Johannes, Apostel und Evangelist. In den deutschsprachigen Formularen der Messliturgie zu den Heiligenfesten erscheint der Name des gefeierten Heiligen in verschiedenen gekürzten „Spielformen“ und sogar Umschreibungen, z.B. Stephanus, heiliger Stephanus, erster Märtyrer der Kirche. Die textgrammatischen Strukturen, in die ein HeiligenN in einen volkssprachlichen Hymnus eingebettet ist, kann man gut am Mainzer Bonifatius-Lied verfolgen. Es beginnt mit der durch einen Relativsatz erweiterten namentlichen Nennung des Heiligen (Sankt Bonifatium) am Textbeginn. Im weiteren Verlauf des Textes wird der Heilige selbst nicht mehr mit seinem Namen, sondern durch Prädikate, die seine Verdienste nennen, angesprochen. Auf diese Weise entsteht die wichtige Isotopie der „Heiligkeit“ (des Bonifatius), durch die die Verehrung des Heiligen begründet wird. Durch die onymische Transposition von HeiligenN in profane Kontexte wird die stilistisch gehobene titularische Form des Namens zugunsten einer oft hypokoristischen, umgangssprachennahen Verwendungsweise gelockert.
3
Vgl. den Beitrag von REIMANN in diesem Band.
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