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German Pages 568 [564] Year 2019
Harald Seubert
Heidegger –
Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens VERLAG KARL ALBER
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Harald Seubert Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens
VERLAG KARL ALBER
A
Harald Seubert
Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Harald Seubert Heidegger – The end of philosophy or the beginning of thinking Since the publication of the Schwarze Hefte 2014, Heidegger’s thinking and person have once again been in the focus of attention. In erratic contrast to apology and defence, the discussions focus on the rightly incriminated anti-Semitic statements as they are documented there. Thus the debate reaches an objective and hermeneutic zero point at which Heidegger’s philosophy no longer develops critically in its own right. This book, on the other hand, makes a comprehensive attempt to bring Heidegger’s thinking and its essential contexts into a new overall view: Heidegger’s oeuvre, which was intended to document »Wege, nicht Werke« is understood as a testimony to an unfinished self-understanding. Elementary problems here are: Which modes of statement and argumentation did Heidegger follow? How compelling or how contingent are they? Is it true that Heidegger understood nothing of freedom? What role do Kant or Nietzsche play in Heidegger’s way of thinking? Previously overlooked perspectives, such as Heidegger’s self-critical potential, are particularly accentuated. The book pays tribute to Heidegger as provisionally the last thinker with a perspective of the century and at the same time points to the problems and aporetics of his approach.
The Author: Harald Seubert, Prof. Dr. phil., born 1967, has held positions in Erlangen, Halle/Saale, Poznan and Munich, among others, and has been Full Professor of Philosophy and Religious Studies at the Theological University of Basel since 2012. He has been teaching part-time at the Hochschule für Politik in Munich since 2010. Since 2016 he has been Chairman of the Board of the Martin Heidegger Society. Most recently Alber published: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen (2014); Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie (2017).
Harald Seubert Heidegger – Ende der Philosophie oder Anfang des Denkens Heideggers Denken und Person stehen seit der Publikation der Schwarzen Hefte 2014 erneut im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Diskussionen fokussieren sich in erratischer Entgegensetzung von Apologie und Verteidigung auf die zu Recht inkriminierten antisemitischen Äußerungen, wie sie dort dokumentiert sind. Damit erreicht die Debatte einen sachlichen und hermeneutischen Nullpunkt, an dem Heideggers Philosophie nicht mehr in ihrem Eigenrecht zur kritischen Entfaltung kommt. Das vorliegende Buch unternimmt demgegenüber den umfassend ansetzenden Versuch, Heideggers Denken und seine wesentlichen Kontexte in eine neue Gesamtsicht zu bringen: Heideggers Oeuvre, das »Wege, nicht Werke« dokumentieren sollte, wird als Zeugnis einer unabgeschlossenen Selbstverständigung verstanden. Elementare Probleme hierbei sind: Welchen Aussage- und Argumentationsweisen folgte Heidegger? Wie zwingend oder wie kontingent sind sie? Ist es zutreffend, dass Heidegger nichts von Freiheit verstand? Welche Rolle spielen Kant oder Nietzsche auf Heideggers Denkweg? Bislang übersehene Perspektiven, wie Heideggers selbstkritisches Potenzial, werden besonders akzentuiert. Das Buch würdigt Heidegger als vorläufig letzten Denker mit einer Jahrhundertperspektive und weist zugleich auf die Problematik und Aporetik seines Ansatzes hin. Der Autor: Harald Seubert, Prof. Dr. phil., geboren 1967, ist nach Stationen u. a. in Erlangen, Halle/Saale, Poznan und München seit 2012 Ordentlicher Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel. Nebenamtlich lehrt er seit 2010 an der Hochschule für Politik München. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Vorstandes der Martin Heidegger-Gesellschaft. Zuletzt erschien bei Alber: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen (2014); Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie (2017).
Meinen Lanthanontinnen und Lanthanonten aus vier Generationen
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Martin Heidegger, Lithographie von Hans Kock, 1964 © Hans Kock Stiftung Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49052-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82086-5
Inhalt
Prolog
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort und Dank
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 22
Erster Teil: Intuitionen und Anfänge I. II. 1. 2.
Ambiente und Lebenslinien als Vorklang. Oder: Wie Heidegger geboren wurde, arbeitete und starb . . . . Das Eigenrecht des Denkens: Logik und Phänomen . . . . Logische Form und vortheoretisches Leben . . . . . . . Aus dem Strudel des Ersten Weltkriegs: Die Anfänge des Philosophen . . . . . . . . . . . . . . Gravitationsfelder seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . Der Denkansatz: Konturen der Einen Frage nach dem Sein der Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologische Interpretation – Zunächst ohne Aristoteles . . . . . . . . . . . . . Heideggers Denken in nuce: Das geniale Netz der NatorpAusarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie als Ontologie oder: Die Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . Das urchristliche Zeitverständnis: Ruinanz ins Eschaton .
27 44 44 58 58 63 70 79 89 93
7
Inhalt
III. 3. 4. 5.
Logik als Frage nach der Wahrheit. Marburger Denkjahre – Auf Sein und Zeit zu und darüber hinaus . . . . . . . . . . Entwicklung einer Logik des Denkens und der doppelte Anfang der griechischen Metaphysik . . . . . . . . . . ›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik . . Der Sophistes: Heideggers Platon . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische lógos der Dialektik . . . . . . . Platonische Seinsforschung: Die Fundamentalanalyse von ›Sein‹ und ›Nichts‹ . . . . . . . . . . . . . . . Platonische Linienzüge . . . . . . . . . . . . . . . . .
98 98 113 122 124 130 140
Zweiter Teil: Kristallisationen IV. 7. 8. 9. 10. 11.
Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt Werk in Vorläufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dasein in der Fundamentalanalyse . . . . . . . . . . . . Dasein als ›In-sein‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganzseinkönnen des Daseins in der ›Sorge‹ . . . . . . . Zeitlichkeit: Destruktion und Umstrukturierung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Ein zweiter Teil: ›Zeit und Sein‹ ? . . . . . . . . . . . . V.
Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹: Heideggers Metakritik zu Sein und Zeit . . . . . . . . . .
VI. Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück: Heideggers Beiträge zur Philosophie und Verwandtes 13. Das Strukturprinzip der ›Fuge‹ . . . . . . . . . . Anklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprung: Performativität des ›Satzes‹ . . . . . . . Erster und anderer Anfang: Konfrontation . . . Einfachheit und ›Zerklüftung‹ . . . . . . . . . . Vorblick in den Grund . . . . . . . . . . . . . . Denken und Schweigen . . . . . . . . . . . . . 8
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
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. . . . . . . . .
145 145 153 159 163 172 179
185
200 200 203 205 205 207 208 210 216
Inhalt
14. Paralipomena und insistente Fragewiederholung: Die Geschichte des ›Seyns‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Koinon als Grundbestimmung metaphysischer Sätze? . . 16. Den undenkbaren Anfang denken . . . . . . . . . . . .
218 224 229
Dritter Teil: Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze 17. Nach Sein und Zeit: Heideggers Kant. Eine Wegmarke . Metaphysik der Metaphysik als Lehre von der Zeit . . . 18. Das Davoser Höhengespräch: Cassirer und Heidegger . . 19. Freiburger ›geschichtliche‹ Vorlesungen: Fast ein mündliches Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . 20. Heideggers Hegel. Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21. Heidegger und Nietzsche: Die irritierende ›Auseinandersetzung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Nietzsches Metaphysik‹: Das Problem einer Trennung . Affinitäten im Bruch: Mit Nietzsche gegen Nietzsche denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genealogie und Anamnesis einer Zwiesprache . . . . . Zarathustras Verwindung des ›Geists der Rache‹: Ein Endpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Nietzsche: Summa summarum . . . . . . . . . . . . Ernst Jünger: Ein Exkurs zu Nietzsche in dürftiger Zeit . 22. Von Nietzsche weg: Auf Hölderlin zu . . . . . . . . . . 23. Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holzwege: Inszenierte Aporetik der Seinsfrage . . . . . Wegmarken: Hinwege und Rückwege . . . . . . . . . . Im Hallraum der Gelassenheit: Heideggers ›Vorträge und Aufsätze‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24. Hörende Vorbereitung auf die Sprache des Seins: Hölderlins Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25. Grundworte, orphisch: Frühgriechischer Anfang – Heraklit und Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . .
233 233 246 253 267 279 280 289 292 300 303 311 313 316 316 322 338 347 356 9
Inhalt
Vierter Teil: Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte 26. NS – Heideggers pervertierte ›Große Politik‹ . . . . . . Dispositionen und Antidota . . . . . . . . . . . . . . . Ideologische Perversion . . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelzüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Die ›Überlegungen. Schwarze Hefte:‹ Schattenlinie und narrative Selbstverständigung . . . . . . . . . . . . . . Skandal-Stellen ohne Kontext . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen: Denk-Irrwege . . . . . . . . . . . . . . Der banal-böse Antisemitismus: Eine Selbststerilisierung Anmerkungen: Der Beginn von Heideggers spätestem Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363 365 378 379 386 386 390 410 415
Fünfter Teil: Die unerhörte Leichtigkeit des Seins: Heideggers späteste Philosophie ›Um Klarheit‹: Das Wegfeld des Denkens . . . . . . Die Technik und die Kehre . . . . . . . . . . . . . . Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache . . . Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare: Heideggers einer Denkweg im Gespräch mit der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Später Rückblick: Der Lehrer – Heideggers Kunst des Seminars . . . . . . . . . . . Wegscheiden der Metaphysik . . . . . . . . . . . . Augustinus’ ›Confessiones‹: noch einmal . . . . . . Aristoteles und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . 33. Zur Sache des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . 34. Grundsätze des Denkens . . . . . . . . . . . . . . .
28. 29. 30. 31.
10
. . 431 . . 434 . . 442
. . 457 . . . . . .
. . . . . .
476 476 479 481 485 500
Inhalt
Sechster Teil: Von Heidegger her 35. Rezeptionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36. Deutungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heideggers unthematische Methodologie . . . . . . . Der Mythos der ›gestifteten‹ Gesamtausgabe? . . . . . Heidegger im Zusammenhang der phänomenologischen Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidegger: Kritik und tiefere Bedeutung . . . . . . . .
. . . .
. 526 . 529
Epilog: Die Erneuerung der Philosophie und die Sache des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister
507 517 517 524
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Prolog
In seinem großen Roman um eine vergebliche Liebe ›Notre Dame‹ lässt Ulrich Schacht in der Reminiszenz an frühe Jahre unter der bleiernen Glocke des DDR-Regimes als Lektüreerfahrung HeideggerWorte aufklingen, die eine Andersartigkeit anzeigen, frei von Ideologie und in eine verdrängte Dimension von Sein und Geschichte verweisend. Der Erzähler mit klaren Zügen des Verfassers Ulrich Schacht schlägt Heidegger wie einen Kassiber auf, die Umwelt des DDR-Studentenwohnheims versinkt vor dieser Lektüreerfahrung in Nichtigkeit. Heideggers Worte erweisen sich gegenüber der marxistischen Lehre vom angeblich wissenschaftlich zu begreifenden Ziel der Geschichte und gegenüber der grau totalitären Diktatur als widerständig und gerade darin liegt ihre befreiende Kraft. Entnommen sind die Worte, die Schacht in besonderem Maß zu einer philosophischen Initiation wurden, Heideggers Anaximander-Abhandlung. 1 Heute ist die Beschäftigung mit Heidegger zumindest in der breiteren Öffentlichkeit nicht mit jenem Horizont einer befreienden Denkbewegung besetzt. Sie ist vielmehr an einem interpretatorischen Nullpunkt angekommen: Die dominierende und zugleich wohlfeile ›Hermeneutik des Verdachts‹ hat durchaus partiell Berechtigung. Die Schwarzen Hefte enthalten skandalöse Einträge. Doch darin geht selbst die Bedeutung der Schwarzen Hefte nicht auf, und schon gar nicht der Zusammenhang von Heideggers Denkweg. Wenn eine Interpretation es sich heute philosophisch allzu leicht macht, das Etikett an die Stelle ernsthafter Befassung setzt und die Denunziation zur Methode erhebt, so findet sie Gehör in einer Öffentlichkeit, die nach rechts und links das Maß verliert. Eben dadurch verliert aber jede Deutung den Grund der Solidität. Sie wird dann zu einer leeren Repetition der von Emmanuel Faye wirkmächtig in die Welt gesetzten These, dass Heidegger ein nur vordergründig als Phi1
U. Schacht, Notre Dame. Berlin 2017, S. 16 f.
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Prolog
losoph getarnter Nazi sei. 2 Auf der entgegengesetzten Seite steht der andere erratische Block derer, die apriori zu zeigen beanspruchen, dass es keine NS-Infiltrationen dieses Denkens geben könne. 3 Dann wird Heideggers Sprache eine Sprache jenseits der konkreten Zeitgenossenschaft in einem spirituellen Nirgendwo, was dem Gewicht und der Strittigkeit seines Denkens, aber auch der konstitutiven Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Zeitgenossenschaft in keiner Weise gerecht wird. Dieses Buch beansprucht, einen dritten Weg jenseits der Skylla der Verwerfung und diesseits der Charybdis der billigen Entschuldigungen zu finden. Vor allem aber ist es an Heideggers Denken selbst interessiert und geht von der Prämisse aus, dass jene Denkwege zu den Höhepunkten der abendländischen Weltphilosophie in zweieinhalb Jahrtausenden gehören und noch Wesentliches zu denken geben. Der Fokus der Heidegger-Beschäftigung legte sich seit 2014/15 auf die Edition des Nachlasses, die Schwarzen Hefte, die ohne Zweifel Gedankenketten und Andeutungen enthalten, die schwer erträglich sind, weil sie an ein Ressentiment rühren, das mit deutscher Schuld aufs engste verbunden ist. Wenn man jenes Nachlasskorpus, wie Friedrich-Wilhelm von Herrmann und Francesco Alfieri wollen, nur als kontingenten, philosophisch zweitrangigen Text missversteht, verkennt man die außerordentlich tief lotenden Aussagen, die neben dem Krebsschaden etabliert sind. 4 Wenn man es aber, wie u. a. Peter Trawny, als heimlichen Schlüssel zu Heideggers Gesamtwerk be-
2 Vgl. zu dieser Tendenz E. Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Berlin 2009, S. 23 ff. Die Tendenz dieser Enthüllungsexegese, bezogen auf GA 36/37, vermeint sich durch die Publikation der Schwarzen Hefte weiter bestätigt. In ihrer Zielrichtung bemüht sie sich indes um weit mehr als die ›Entsorgung‹ Heideggers, nämlich um die Erledigung eines nicht willfährigen Denkens selbst. 3 Nicht wirklich befriedigend ist vor diesem Hintergrund auch die Publikation F.-W. von Herrmanns und F. Alfieris, Martin Heidegger. Die Wahrheit über die Schwarzen Hefte. Berlin 2017. 4 Vgl. ibid. Ich habe mich zur Ambivalenz dieser Debatte geäußert H. Seubert, »Was fehlt, wenn Heidegger endgültig verschwindet?«, In: Scheidewege (2016/17), S. 208– 216. Und: »Heidegger heute. Antwort auf vier Fragen von Manuel Herder«, in: W. Homolka und A. Heidegger (Hg.), Heidegger und der Antisemitismus. Positionen im Widerstreit. Freiburg, Br. 2016, S. 342–353. Allerdings kann erst im größeren Bezugsrahmen dieser Monographie das Urteil im Ganzen annähernd geklärt und begründet werden.
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Prolog
nutzt, stellt man eine plötzliche Eindeutigkeit her, die Heideggers Denkwege auf vergiftete Botschaften reduziert. Die Restriktion Heideggers auf einen »Nazi«-Philosophen hätte zumindest ansatzweise die Kontrastfolie der faktischen NS-Philosophie in jener Zeit mit zu berücksichtigen. Diese aber hat mit dem Seinsdenken wenig bzw. gar nichts zu tun. Die Infiltration und die bis heute höchst inspirierende Qualität Heidegger’schen Denkens, einschließlich der Faszinationsgeschichten, die von ihm nicht zuletzt auf jüdische Denkerinnen und Denker ausgingen, gilt es vielmehr in einen Zusammenhang zu bringen. Ohne sie für eine Verharmlosung in Anspruch nehmen zu wollen oder zu können, sind gerade die Einsprüche von Denkern jüdischer Herkunft gegen eine rasche Entsorgung des Heidegger’schen Denkens beim Wort zu nehmen. Alain Finkielkraut äußerte in diesem Sinn, dass die Desavouierung von Heidegger zum Nazi den mörderischen Nazismus verharmlose und auch die Faszinationsgeschichten Lügen strafe. 5 Eine Verbindung, die es zu verstehen gelte, werde dadurch leichtfertig preisgegeben. Viele von denen, deren Namen man zu Recht noch kennt und unter den besten Namen des 20. Jahrhunderts nennt, waren seine Schüler und sahen sich ihm in besonderer Weise verbunden: von Leo Strauss über Hans Jonas bis Herbert Marcuse und, in besonders prekärer Weise mit Heidegger verbunden, Hannah Arendt. Hier bestehen Ligaturen, die noch weit über Heideggers Lebenszeit hinaus relevant bleiben: Ist doch durch Lévinas oder Derrida ein Heidegger-Aspekt tief in eine philosophische Linienführung von Denkwegen eingeschrieben, die sich gegen Heidegger wendeten, aber nicht ohne ihn auskamen. Sollte man diese große, benennbare Heidegger-Affinität als Naivität und Missverständnis abtun? Würde man dann nicht auch die Denker durch den abstrakten Moralismus der nachgeborenen Lügen strafen, deren Ansatz aufs engste mit Heideggers Fragen verwoben ist? Die um den Bestand von Philosophie und Denken insgesamt kaum mehr besorgten Verdachtshermeneutiker sind jede Erklärung schuldig geblieben, worin systematisch oder ideengeschichtlich der NS-Charakter von Heideggers Philosophie liegen soll und wie die A. Finkielkraut, »Philosophie und reines Gewissen«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse. Frankfurt/Main 1988, siehe aktualisierend und auf die jüngste Debatte bezogen ders. in www.franceculture.fr, 7. 10. 2017.
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Affinität sich über Behauptungen hinausgehend verifizieren lässt. Wenn die Verdächtigung schon in der Frage nach dem Sinn von Sein und dem tiefenphilosophischen Pathos oder dem Zug zu einem originären Denken liegen soll, ist entschieden zu widersprechen. Dann kommt mit diesen Entsorgungsversuchen ein Denken des »Gestells« und der Extraktion der Philosophie zu sich, das selbst keine Widerständigkeiten gegen die eigenen Ideologien duldet. Diese werden zwar mit dem Anspruch vertreten, mit ›dem Guten‹ selbst identisch zu sein, sie identifizieren sich in Jakobinischer Manier mit Fortschritt und den Idealen einer selbst reklamierten Aufklärung. Doch sie sind zu einer gleichermaßen anspruchsvollen und elementar kritischen Operation nicht in der Lage. Mit Heidegger soll dann auch die Spur spekulativer, über Meinung und Verfügbarkeit hinausgehender Philosophie ausgelöscht werden. Der Eindruck legt sich nahe, Heidegger sei gleichsam der nicht unschuldige Sündenbock, mit dem eine deutsche Öffentlichkeit ihre nachhaltige Entschuldung inszenieren und ihre ›Schuldarbeit‹ kompensieren möchte. Ich folge dabei dem Maßstab, den Heidegger an seine NietzscheDeutungen anlegte, und der eine Epoché gegenüber Odium, Legenden und Wirkungsgeschichten bedeutet. Heidegger – der Name steht für die Sache seines Denkens. Der Versuch, diese Sache in ihrer inneren Genese und Geltung zu denken und sie zugleich zu überprüfen, unterscheidet sich offensichtlich diametral von existenzialistischen Übungen, die Heidegger’sche Denkversuche zugleich als Lebensübungen begreifen wollen. 6 Einen Denker seines Ranges auf den ›Nazi‹ zu reduzieren, bleibt unstatthaft und selbst ein Akt von Phrase, Schlagwort und Denkverweigerung, von ideologischem Kitsch jenseits der Philosophie und der Sache des Denkens. Gerade die causa Heidegger nötigt dazu, zwischen Philosophie und Ideologie zu unterscheiden. Mit Verlaub bleibt, auch in der öffentlichen Diskussion, anzuraten, Heidegger nicht als solitären ›Sündenbock‹ mißzuverstehen, sondern die »gothic novels«, die sich um die deutschen geistigen Traditionen und ihre versuchte Bewältigung ranken, mit in den Blick zu nehmen. Wie tief irritierend sind bei einem feingeistigen Romantiker wie Achim von Arnim die scheußlichen Antisemitismen, deren Vergiftung nicht zu
6 Dazu jüngst P. Trawny, Heidegger-Fragmente. Eine philosophische Biographie. Frankfurt/Main 2018, S. 23 ff.
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beschönigen ist. Und selbst wenn sich Heidegger zeitweise einer Rebarbarisierung seiner Sache des Denkens schuldig gemacht hätte, wäre es eine wenig sinnvolle Barbarei, ihn seinerseits nach barbarischen Maßstäben zu beurteilen. Ich sehe, durchaus in Abweichungen vom Mainstream der Deutungen, Heideggers fragendes Denken als ein Movens der Unabschließbarkeit seiner Denkbewegung und damit in seinem Gestus als Gegenmittel gegen die Unkultur von technokratischen Ein-eindeutigkeiten, die auf beiden Seiten der Barrikade erwünscht sind. Von diesen Einwänden unterscheide ich eine andere Option: Es ist moralisch und lebensgeschichtlich allzu verständlich, wenn Menschen, die selbst oder in ihrer Familiensituation Grunderfahrungen mit dem Grauen des NS-Faschismus machten, Heidegger einzelne Sätze aus Überlegungen. Schwarze Hefte nicht verzeihen können. Zu ergründen, was es mit ihm auf sich hatte, mag für sie nicht die Priorität haben. Ihn zu vergessen, mag für sie angezeigt sein. Auch dies ist als persönliches Urteil legitim. Auch einige von ihnen standen mir bei der Arbeit an diesem Buch vor Augen, kritische Gesprächspartner aus Vergangenheit und Gegenwart, die mich nötigten, mir über Heidegger neu Rechenschaft zu geben. Man mag sich für immer von Heidegger trennen. Wissen sollte man, wenn einem philosophisch-geistige Gesprächsräume etwas bedeuten, welchen Verlust dies einschließen würde. Ob und wie der Mangel zu kompensieren ist, ist eine offene Frage. Es unbesehen zu tun, ist ein Akt der ›Mislogia‹, der gegenüber jeder Philosophie und Wahrheitssuche ein Verstoß ist, auch gegenüber Heidegger. Diese vielfältigen Konditionen führen mich bei der Arbeit an diesem Buch konsequent auf den philosophischen Weg zurück: Die Frage nach dem Denken Heideggers, dem ich meine erste, aus meiner Dissertation hervorgegangene Monographie widmete (2000). Mehr denn je wurde mir deutlich, dass Heideggers Denken eine scharfe innere Systematik enthält, dass es aber keine monilithischen Blöcke bildet, sondern in vielfältigen Ansätzen und Anläufen auf seine Sache zugreift. Dabei gibt es Wege und Abwege, Klärungen, Durchsichten und – philosophische – Irrtümer: Diesem komplexen Gefüge nachzudenken und es zur Klarheit zu bringen, stellte ich mir zur Aufgabe. Einer solchen Deutung kann man widersprechen, doch sie schreibt sich in das philosophische Problemfeld ein, das selbst Kritik ist, nicht unbeeinflusst von den Zeiten, in denen es sich abspielt, doch auch nicht auf sie zu reduzieren. Die Spannung zwischen dem ›Ende der 17
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Philosophie‹ und der ›Sache des Denkens‹, die diesem Buch den Titel gibt, könnte sich als das Proprium erweisen, an dem Grundzüge von Heideggers Philosophie erkennbar werden. In den Jahren 2014/15 schien es gängig zu sein, das Denken gar nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen, gegen eine Aufmerksamkeit, die in dekonstruierender und auch in argumentationsanalytischer Weise mit einer neuen subtilitas legendi sich vollziehen. Vielmehr wurde lediglich in immer neuen sterilen Wendungen gefragt, was die beispiellose Selbstdesavouierung bedeutet und welcher Art der nun – endgültig und endlich – festgestellte Antisemitismus Heideggers sei, seinsgeschichtlich oder metaphysisch? 7 Oder schlicht banal? 8 Tiefenhermeneutiker kamen auf den Gedanken, die Publikation jenes Nachlasskonvolutes könne die Falle sein, die sich der alte Fallensteller selbst am Ende gestellt hat, um ein für alle Mal unkenntlich zu werden. Wie dem auch sei: Unkenntlich würde damit, das ist die Überzeugung, die mich in allen Einwänden leitet, der bedeutendste Philosoph des 20. Jahrhunderts, ohne dessen Denken im Positiven oder Negativen die Philosophie der Gegenwart nicht fassbar wäre. All dies bezeichnet einen Nullpunkt, der es keineswegs als eine müßige Übung erscheinen lassen wird, wenn neu und mit größtmöglicher Prägnanz, die Schnittstellen und Umkehrpunkte von Heideggers, selbst so apostrophiertem Denkweg, auf ihre Struktur und ihren Sachgehalt hin seziert und befragt werden. Sie sollen aber zugleich in einen »Kontext« gerückt werden. Nicht zuletzt ist dieser Kontext durch Konstellationen mitbestimmt, die immer wieder auf die Husserl’sche Phänomenologie verweisen. Sinnvoll erscheint es auch, Heideggers Denken mit sachlichen Einreden von Schülern und Freunden zu konfrontieren. Differenzierung tut in jeder Hinsicht Not. Die fanatische Heidegger-Abwehr ist nicht zu verwechseln mit einer Heidegger-Skepsis, deren bleibende Argumentationsmuster in jeder Vergegenwärtigung Heidegger’schen Denkens mitzudenken sind. In der Philosophie nach
Dazu wieder H. Seubert, »Was fehlt, wenn Heidegger endgültig verschwindet«, In: Scheidewege (2016/17), S. 208 ff. 8 Vgl. die Übersicht H. Zaborowski, »›Das Geniale ist zwielichtig‹. Hermeneutische Überlegungen zur Diskussion über das Verhältnis Heideggers zum Nationalsozialismus«, in: Heidegger-Jahrbuch 5, Heidegger und der Nationalsozialismus Band II. Freiburg/München 2009, S. 13 ff. 7
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Gang der Argumentation
1945 gibt es, ungeachtet des »urbanisierenden« Statthalters Heidegger seitens der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers und seines Einflusses, 9 eine Reihe von bedeutenden, originären Denkern, die von Heidegger gerade nicht wissen wollten, aber durchaus, indirekt, seine Fragen aus eigenen Stücken aufnahmen: Dieter Henrich oder – besonders betroffen – Hans Blumenberg mieden dezidiert den ›Zauberer aus Meßkirch‹, ohne in eine Rhetorik einzustimmen, die ihn in die Nähe des »Todes, des Meisters aus Deutschland« rückten.
Gang der Argumentation Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe und Verpflichtung dieses Buches, Heideggers Denkwegen in einer Konstellation aus Nähe und Abstand nachzugehen. Dabei spielt die Rekonstruktion der Kritik, die Heidegger gegenüber seinen eigenen frühen Denkwegen äußerte, eine nicht unwesentliche Rolle, um Wegkreuzungen zu überblicken und Entwicklungen, die Heideegger selbst wählte, von anderen zu unterscheiden. Jede Überidentifikation und existenzialistische Pose, die sich als betrogenen Liebhaber Heideggers missvesteht, der ihm aus Gründen objektiver Bedeutung die Treue hält, liegt dem Autor fern. Ebenso sehr jede, wie auch immer motivierte oder scheinbar begründete Attitüde, die suggeriert, die Sache von Heideggers Denken sei für die eigene philosophische und intellektuelle Lage heute nicht mehr von maßgeblicher Bedeutung. Die Sache dieses Denkens, das so nicht ersetzbar oder simulierbar ist, ist in bestimmter Hinsicht mit den Skandalmomenten von Heideggers Lebensweg verbunden. An dieser ›hermeneutischen Situation‹ kommt keine künftige Heidegger-Interpretation vorbei. Aus jenem Horizont ergibt sich eine Achitektur des Gedankengangs in fünf Teilen: Ich gehe im Ersten Teil nach einigen biographischen Hintergrund-Ansichten von Heideggers Anfängen aus, die ihn von der Logik und dem Reich der Geltung zu den Grundphänomenen und der Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit führten. Die Berührungen So die berühmte Äußerung von J. Habermas, Hans-Georg Gadamer. »Urbanisierung der Heidegger’schen Provinz (1973)«, in: ders., Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/Main 1987, S. 392 ff.
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mit dem Neukantianismus und mit Husserls Neubegründung der Philosophie als ›Strenger Wissenschaft‹ sind alles andere als zufällig. Was Heidegger nach dem Ersten Weltkrieg, vorbereitet durch seine Qualifikationsschriften, in genialen Abbreviaturen in seinen Vorlesungen und dem Natorp-Bericht anreißt, entfaltet er dann in einem weiten geschichtlichen Rahmen in den Vorlesungen seiner Marburger Zeit, die seinen legendären Ruf als Lehrer und König im Reich des Geistes festigten. Platon und Kant sind die Kristallisationspunkte im Denken der Marburger Jahre, die auf Sein und Zeit führen, aber, wie schon der Natorp-Bericht, auch darüber hinausweisen. Heideggers Denkbewegung besteht weder aus existentziellen Lebensakten und membra disiecta, noch ist es ein durchgebildetes Systemgefüge. Es verfolgt mit größter Konsequenz eine einzige Frage, die Frage nach dem Sein selbst, und gibt ihm vielfache Ausprägungen, nicht zuletzt in einer andauernden destruierenden oder erneuernden Zwiesprache mit der abendländischen Metaphysik – ein Thema mit Variationen. In einem zweiten Teil wird der genealogische Ansatz zunächst aufgegeben und es werden die beiden Gebilde einander kontrastiert, in denen Heidegger sein Denken zu einer durchgehenden Kristallisation brachte: Sein und Zeit (1927) als Fragment bleibende Ausarbeitung der fundamentalontologischen Frage nach Sein und Dasein und die Beiträge zur Philosophie (aus dem Nachlass 1989), in denen Heidegger die Frage nach dem »anderen Anfang« und dem Sein selbst als »Vorbereitung für eine künftige Ausgestaltung« skizziert. Zwei Zielpunkte und Kondensationen werden so miteinander ins Gespräch gebracht, Indiz für den einen Denkweg Heideggers in seinen beiden, auf den ersten Blick erkennbaren Filiationen. Ein dritter Teil nimmt dann den Denkweg nach Sein und Zeit wieder auf und wendet sich zunächst, und vergleichsweise detailliert, Heideggers Kant-Buch von 1929 zu, weil es am ehesten den Versuch einlöst, Sein konsequent von der Temporalität her zu denken und weil es, meines Erachtens, einen Ansatz exponiert, den Heidegger mit großem Gewinn hätte weiterverfolgen können: Eine transzendentalphilosophisch begründete Ontologie. Im Kraftfeld des KantBuches steht dann nicht ohne Grund auch die epochale Disputation mit Ernst Cassirer in ihren ›Vertauschten Fronten‹, auf die immerhin Bezug genommen werden muss. Den Weg des Kant-Buches ist Heidegger bekanntlich, trotz bedeutender weiterer Ansätze, nicht gegangen. Die Verflüssigungen, Möglichkeiten aber auch Verstellungen seines Denkens in den frühen 20
Gang der Argumentation
Dreißiger Jahren sind deshalb aus seinen Vorlesungen, vor allem der Gegenübersetzung zu Hegel und Schelling und der »Auseinandersetzung« mit Nietzsche zu rekonstruieren. Nietzsches ›Grundlehren‹ nahmen Heideggers Denken massiv in Beschlag, nicht ohne Grund fühlte er sich von ihnen zeitweise überwältigt und bedroht. Anzudeuten ist schon hier, was Heidegger in den wohlkomponierten Bänden seiner Abhandlungen, die nach 1945 erschienen, von diesen ›Wegen‹ mitteilte, ohne dass sich die Intensität und immer wieder auch die Obsession seines Denkansatzes hätte erkennen lassen. Die Unterscheidung des esoterischen vom exoterischen Gedankenzug erweist sich gerade bei Heidegger als unhintergehbar. Die Überlegungen münden in eine Zwiesprache mit der Dichtung und dem vorsokratischen Anfang der Philosophie und weisen so in ein Offenes. Die Kehre und der Rückgang in den anderen Anfang von Heideggers Denken war bis zu den großen Nachlasseditionen, vor allem der Beiträge zur Philosophie anlässlich von Heideggers 100. Geburtstag 1989, nur aufgrund einzelner Abhandlungen sichtbar. Diese Texte sind für Heideggers Wirkungsgeschichte allerdings nach wie vor wichtig; sie erschienen in einem Zeitraum von den dreißiger bis in die fünfziger Jahre in den großen Abhandlungsbänden Wegmarken und Holzwege. Dass der Weg von Sein und Zeit aufgegeben wurde, erschloss sich aufmerksamen Lesern durch diese indirekten Mitteilungen. Dass sich zumindest in der hermetischen Binnenlogik eine strenge philosophische Gliederung in dieser Mitteilungsform verbarg, war allerdings nicht ohne weiteres zu erkennen. Erst in einem Vierten Teil – und nicht zufällig – in der genauen Mitte des Buches wird die Ideologisierung Heidegger’scher Philosophie als eine Pervertierung und Selbstverfehlung gedeutet. Heideggers Aussage: Wer große denke, irre auch groß, 10 ist immer wieder als Indiz für eine verfehlte Apologetik verstanden worden. Dass Heideggers Denken aufgrund seines Ranges und seiner Optionen eine immense Fallhöhe hatte, ist aber unverkennbar. Sie macht seinen Fall exemplarisch. Vor diesem Hintergrund gilt es, den Gedankenweg der – keineswegs zweitrangigen – Schwarzen Hefte paradigmatisch zu überblicken. Siehe zu dieser und ähnlichen Äußerungen Heideggers in ihrem Kontext die vorzügliche Dokumentation GA. Band 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. 1919–1976, hg. von H. Heidegger, S. 454 ff. Ebenso bleibt hier das SPIEGELGespräch vom 23. September 1966, ibid., S. 652 ff.
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Im fünften Teil gehe ich davon aus, dass Heidegger eine Spätphilosophie entwickelt, die gegenüber dem fundamentalontologischen und dem seinsgeschichtlichen Denken nochmals eine beachtenswerte Eigenständigkeit und einen Neuanfang erkennen lässt, der in manchem an die ersten Ansätze nach dem Ersten Weltkrieg anklingt. Mitunter verfängt sich der Gestus in nahezu dadaistischen Sprachspielen, dann aber ist auch immer wieder die bewundernswerte Klarheit der Anfänge präsent. Im abschließenden Sechsten Teil wird der Versuch unternommen, den philosophischen Blick Heideggers späten Denkens in eine Fermate zu führen, soweit sie mir jetzt möglich zu sein scheint. Dabei wird das, was Heidegger dachte und was von ihm her zu denken ist, nochmals in den Blick genommen. Unter anderem ist zu prüfen, wo Heidegger Methodologie oder Argumentation ansetzt. Mir liegt daran, die Sache des Denkens und die Philosophie nicht auseinanderzureißen, sie aber gegenüber jedweder Ideologisierung umso schärfer abzugrenzen.
Dank Dank gehört zum in-der-Welt-sein: Ohne die akademischen Lehrer, die ich erfahren durfte, hätte ich keine erkennbare Position zu Heidegger gewonnen. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert entstand meine Promotionsschrift über Heidegger und Nietzsche unter der Ägide meines mir unvergessenen Lehrers Manfred Riedel (1936– 2009). Was ich bei ihm und dann, um nur die auf Dauer wichtigsten zu nennen: bei Dieter Henrich, Werner Beierwaltes, Stephan Otto und Rudolph Berlinger und einigen anderen lernen durfte, ist oftmals erst später wach geworden und tief in die eigene Signatur eingegangen. Ich danke auch den wenigen Lebenden, auf die ich höre und die teilweise sehr viel kritischer von Heidegger denken als ich selbst, dass sie mich dennoch durch Zuspruch oder Warnung darin bestärkt haben, dieses Buch zu schreiben. Damit meine ich auch, dass die, an deren Freundschaft mir existentiell liegt, sie mir nicht kündigten, da ich mich noch einmal eingehender mit Heidegger befasst habe. Der Familie Martin Heideggers danke ich für ihr Vertrauen, das sie mir auch in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Vorstands 22
Dank
der Martin Heidegger-Gesellschaft entgegengebracht und im Lauf der Zeit erhalten hat. Lukas Trabert bin ich für die Betreuung des Buches im Verlag Alber und seine kritische Lektüre sehr dankbar. Mein Freund Dr. Reinhard Knodt, Denker der Korrespondenz, aber eben nicht Philosoph par profession, hat es auf sich genommen, den Text im Ganzen zu lesen. Dr. Silja Luft-Steidl hat dem Text Sympathie, Vertrauen und Zuwendung entgegengebracht. Reinhard Knodt nahm ihn mit korrespondenztheoretischer Weisheit und stilistischer Feinsinnigkeit auf. Dr. Silja Luft nahm das Manuskript in ihrer tiefen sachlich-anteilnehmenden Perspektive wahr, einer Resonanz, die für mein Denken sehr wichtig ist. Meinen wunderbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Basel danke ich für ihre Geduld und Zuwendung, auch wenn mein sujet nicht das ihre und meine Zeitvorstellungen nicht die ihren sind. Heidegger belehrt uns über die synousía in gespaltener Temporalität: Ich darf sie auch von den nun viel Jüngeren erfahren. Pars pro toto nenne ich die Herren Dominik Portmann, Jens Binfet und die Damen Hanna Weber, geb. Rebiai, und Anna Tabea Rohlfing. Auch allen jüngeren Kollegen und Freunden, die mit mir arbeiten wollen und mich, auch extra facultatem, durch ihre Klugheit und ihre Fragen inspirieren, bin ich tief dankbar. Pars pro toto nenne ich Dr. Manuela Massa und Jasmin Siebert. Eine der unhintergehbaren Heidegger’schen Einsichten sei an dieser Stelle als Leitfaden für das Folgende genannt: Die Suche nach dem Sinn von Sein legt einen Bereich frei, der allem theoretischen Erkennen zugrunde liegt, selbst aber nicht in eine esoterische Dunkelheit abgleitet. Das Seindenken wäre der Rechenschaft nicht mehr fähig noch bedürftig. Heidegger nennt diese Dimension ›Denken‹, und man muss zugeben, dass er nicht sonderlich bemüht war, sie ins Licht der Vernunftrationalität einer Selbstaufklärung zu rücken. Doch sie schöpft, näher betrachtet, die Sinndimension von Philosophie in zweifacher Richtung vollständig aus, in Richtung auf ›Transzendenz‹ und ›Reszendenz‹, den Ausgriff auf das Fernste und Nächste. Dieser Gestus ist meines Erachtens unabgegolten. Zur Zitationsweise: Die starke Bezugnahme auf Heideggers Denken bringt es mit sich, dass ich immer wieder exemplarisch in seine Texte und deren Binnenstruktur eintauche. Daraus ergibt sich die Zitationsweise unmittelbar nach der einschlägigen Stelle im Text mit 23
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Bandzahl der GA und Seitenzahl. Lediglich Sein und Zeit wird nach der weitverbreiteten, im Halleschen Niemeyerverlag erschienenen Ausgabe zitiert. Nürnberg, Basel, München im Frühjahr 2019.
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Erster Teil: Intuitionen und Anfänge
I. Ambiente und Lebenslinien als Vorklang. Oder: Wie Heidegger geboren wurde, arbeitete und starb
Heidegger wurde zum Philosophen in einer Epoche der Ungleichzeitigkeiten, in der verschiedene Milieus und Grundströmungen aufeinandertrafen. Meßkirch in Oberschwaben, sein alteuropäischer katholischer Herkunftsort, wo er 1889 geboren wurde, ist von einer gelebten und öffentlich wirksamen Katholizität geprägt, deren Grundlinien von Gegenreformation und Barock bestimmt wurden und die bis in das späte 19. Jahrhundert hinein ihre Prägekraft behielt. Bei aller fundamentalen denkerischen Oppostion an der Christlichkeit und ihren Festschreibungen erwähnte Heidegger im Rückblick auch den »Reichtum« dieser Herkunft und was er ihm bedeutete. 1 Immer wieder sind auch negativ-fragwürdige Züge von Heideggers Denken, vor allem sein vermeintlicher oder tatsächlicher Antijudaismus und Antisemitismus damit in Verbindung gebracht worden. Man kann die Begegnung mit dieser Herkunft gewiss nicht auf Ideologien und Clichées einer Abraham a Sancta Clara-Imitation reduzieren, zu der der junge Heidegger zeitweise geneigt haben mag. Heideggers akademische Anfänge würde man nur als Teil des Zeitkolorits registrieren können, wenn er nicht der Philosoph geworden wäre, der er de facto wurde. Es ist der katholische »Integralismus« und Antimodernismus, der Heideggers Denken zunächst formt. Daraus eine lebenslange konservativ-reaktionäre Grundhaltung Heideggers abzulesen, besteht keine Berechtigung, 2 denn die Brüche dieHeidegger, Aus der Erfahrung des Denkens. Frankfurt/Main 1983, S. 163 ff. Siehe auch ders., »Mein Weg in die Phänomenologie«, in: Heidegger GA Band 14. Zur Sache des Denkens, Frankfurt/Main 2007, S. 93 ff. 2 Zum Ambiente anschaulich: R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München, Wien 1994, S. 20 ff., siehe auch H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie. Frankfurt/Main, New York 1988, die sich im Feld der Faktenforschung sehr verdient machte. Die Entlarvungstendenz dominiert dagegen bei V. Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus. Neudruck Berlin 2003. An einer umfassenden Biographie arbeitet seit Jahren Alfred Denker, vgl. vorläufig 1
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Ambiente und Lebenslinien als Vorklang
ser Denkform sind von Anfang an, seit den Debütschriften unverkennbar. Schon in seinen philosophischen Anfängen meldet sich eine existentielle und philosophisch durchdrungene Grunderfahrung, die über jedes Milieu hinausweist. Sie bildet den Hallraum, in dem die Zeitlichkeit der Zeit eine nachhaltige Rolle spielt. Auch deren Bedeutsamkeit erschließt sich ihm aber zunächst nicht unabhängig von den Dimensionen der Katholizität, namentlich dem Stundengebet. Jenseits allen konkreten Glaubens erinnerte Heidegger die Freundin Elisabeth Blochmann noch in den zwanziger Jahren daran und an die Gliederung des Übergangs vom Tag in die Nacht. 3 Und Max Müller berichtet, dass Heidegger sich mit dem Weihwasser bekreuzigte, wenn er in Kirchen oder Kapellen kam, mit der Aussage, hier sei so viel gebetet worden, da müsse Gott gegenwärtig sein. 4 Dass es der katholische Theologe und Philosoph Carl Braig, einer der letzten Exponenten der Tübinger Schule, war, der ihm mit Brentanos Schrift über die mannigfaltige Bedeutung des Seins bei Aristoteles bekannt machte, 5 mag ein Zufall sein. Es ist aber für Heideggers intellektuelles Erwachen nicht ohne Bedeutung. Gerade die positive Christlichkeit forderte Heidegger heraus, nachdem er ihr in seinen akademischen Anfängen noch als Hintergrund seiner philosophischen Bemühungen weitgehend gefolgt war. Philosophisches Denken und Glauben wurden für ihn zunehmend zwei miteinander unvereinbare Wege. Die Todfeindschaft, die er zwischen ihnen im Jahr 1928 konstatierte, erwies sich zunehmend als unversöhnlich. 6 Zu fragen ist auch, wie es dazu kam und wie stringent diese Trennung ist. ders., Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger. Stuttgart 22011; siehe auch die sehr instruktiven Beiträge: A. Denker (Hg.), Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Heidegger-Jarbuch 1 (2006). 3 Heidegger, »Brief an Elisabeth Blochmann 12. September 1929«, in: Heidegger, Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, S. 31 f. Dieser Brief ist für Heideggers Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche besonders wesentlich. 4 M. Müller, Auseinandersetzung und Versöhnung. Ein Gespräch über ein Leben mit der Philosophie, hgg. von W. Vossenkuhl. Berlin 1994, S. 258 ff. 5 Heidgger, GA 14, S. 93 f. Das grundlegende Werk, das Heidegger nach eigenem Zeugnis die Aristoteles-Ausgabe ersetzt hatte: F. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Freiburg/Br. 1872. 6 Diese Äußerung fällt in Heideggers Vortrag »Phänomenologie und Theologie« (1927), in: ders., Wegmarken GA Band 9, S. 66. Bei der radikalen Unterschiedenheit zwischen der Phänomenologie als der Grund- und Urwissenschaft und der von Heidegger behaupteten ›Positivität‹ der Theologie kann man sich freilich fragen, wie
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Die Krisenerfahrung des Ersten Weltkriegs riss im epochalen Bewusstsein eine Welt von Gestern (Stefan Zweig) in den Abgrund. Treffend ist jene Zeit, die auch für den frühen Heidegger formierend war, als »Jahrhundertkatastrophe des XX. Jahrhunderts« (George F. Kennan) bezeichnet worden. Heidegger unterscheidet sich schon in der biographischen Erfahrung von den rechten Denkern und Literaten der Konservativen Revolution und ebenso den linken Antipoden dadurch, dass ihm der Erste Weltkrieg nicht als Fronterlebnis im Verklärten oder Schlimmen, zur Urszene geworden ist. Die Welten der Herkunft und die des Krieges wurden von Heidegger mit einer eigentümlichen Vermeidungs- und Umgehungsstrategie besetzt: Zu Recht haben Biographen auf die Analogien zwischen der Verweigerung und der Flucht in die Krankheit im Priesterseminar und an der Front hingewiesen. Die phänomenologischen Erfahrungen der langen Weile, der ausfließenden und zugleich sich abriegelnden Zeit, die er später eindrücklich phänomenologisch beschreiben sollte, 7 dürften ihm existenziell sehr früh begegnet sein. Heidegger verweigerte sich dem Zeitmaß der eindeutigen Lebensform und zog sich in eine philosophische Welt zurück, die keiner dieser Sphären angehörte und auf einen Grund ging, der in ihnen allen präsent war und zugleich verkannt und vergessen wurde. Darin ist er vermutlich Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ nicht unähnlich. Über die verschiedenen Modi pathologischen, zerspaltenen Zeitbewusstseins äußerte er sich erst spät in den Zollikoner Seminaren. 8 Die philosophische Ortlosigkeit tritt allerdings, wie wir sehen werden, schon in seinen frühen Ansätzen unverkennbar zutage. Krisis und Niedergang einer alten Epoche sind implizit präsent, wenngleich nicht in formulierten politischen Einlassungen, als er nach den Qualifikationsschriften, Promotion und Habilitation, eigenständig zu philosophieren beginnt. Was häufig übersehen wird: Heidegger zeigt sich hier als Vertreter einer ›anderen Moderne‹ (Michael Stahl) und keineswegs als Antimoderner. Sein Denkansatz ist zunächst deutlich von der katholischen Tradition geprägt. Doch er folgt, sachlich berechtigt diese Bestimmung ist, die einen Antagonismus der Vergleichbarkeit voraussetzt. 7 Vgl. hierzu insbesondere die Analysen der Stufungen von Langeweile in der Vorlesung: Welt-Endlichkeit-Einsamkeit, GA 29/30, insbesondere S. 140 ff. 8 Dazu vorliegende Monographie weiter unten. Siehe auch den Sammelband M. Riedel, H. Seubert, H. Padrutt (Hgg.), Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Köln, Weimar, Wien 2003.
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bereits in seiner Habilitationsschrift, nicht der Scholastik, sondern dem Nominalismus und Scotismus. Dann nimmt er die philosophische Debatte seiner Zeit auf: Den Neukantianismus, vor allem in der Prägung durch Rickert, die Logiksysteme von Lotze und anderen. In diesem Licht kommt er auf die katholische Herkunft zurück. Sie ist ihm aber nicht mehr unmittelbare Prägung. Er nähert sich ihr nicht naiv, sondern allenfalls ›sentimentalisch‹, 9 aus einem reflexiven Abstand. Die Krisenhaftigkeit der Nachkriegszeit ließ zumindest die universitäre Öffentlichkeit für Heidegger in zunehmendem Maß zu einem ständigen Thema seiner Neubegründung von Philosophie werden. In dieser Zeit konkretisiert sich nach und nach die eine Frage, die Heidegger in seinem ganzen Denkleben fragen und umkreisen wird, die Frage nach dem Sinn von Sein. Sie liegt allen Denkwegen und Themen zu Grunde. Ihre erste Ausbildung findet Heidegger in der aristotelischen Unterscheidung verschiedener Weisen, vom Seienden zu sprechen (dem pollachos legomenon). Erschütterung und Aufbruch der eigenen Zeit kommen aber in der strengen ontologischen Sacharbeit mit ins Spiel. Undenkbar ist der gesamte Denkansatz ohne die Durchdringung von Dostojewski, die Erschütterung von Kierkegaard. Das eine und das andere scheint Heidegger von Anfang an klar unterschieden zu haben. Auffällig und bis weit in Heideggers Marburger Zeit bestimmend, ist, dass Heidegger mit grundlegenden Studien zur Logik beginnt. Die Begriffsschärfe und die Kenntnis der rein-logischen Struktur sind, ähnlich wie für Frege und für Husserl, aber auch für den frühen Wittgenstein 10 auch für Heidegger der Ausgangspunkt seiner Philosophie: nicht ein Existenzialismus, nicht eine Weltanschauung prägen ihn. So sehr die Dissertation noch einer katholischen Leitphilosophie folgt, so sehr greift Heidegger schon auf Husserls Arbeiten und die logische Grundlegung zurück, aus der auch die Phänomenologie mit ihrem Votum »Zu den Sachen selbst!« hervorging. HeidegIch greife hier auf die Begriffsbestimmmung in der Suche nach dem Grundethos der Kunst und des Dichters im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller zurück. Die ›sentimentalische‹ Haltung ist jene, der jedweder bestimmte Lebensbezug sich nur in Reflexivität erschließt. 10 Vgl. zur Erneuerung der Philosophie als Erster Wissenschaft, die bei allen diesen Denkern angezeigt ist und die sich auch im Neukantianismus spiegelt, vor allem bei Hermann Cohen, M. Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie. Frankfurt/ Main 1988. 9
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gers frühe Freiburger Vorlesungen beschreiben bereits eine schrittweise Freilegung der inneren Struktur des Daseins und der Kategorien der Existenz, die er in Sein und Zeit entwickeln wird. Wie in einer Andeutung von Hauptmotiven ist das Wesentliche schon sichtbar. Das Phänomen des ›in der Welt‹ seienden Daseins ist, wie Heidegger zeigt, temporal bestimmt. Es ist nicht nur in der Zeit, sondern zuinnerst zeithaft. Dabei nähert sich Heidegger dieser Struktur über mehrere Schichten an. Lange und zunächst die Sprache der Philosophie der eigenen Zeit zu sprechen, 11 hielt er für eine unabdingbare Notwendigkeit. Dies bedeutete bis weit in seine Marburger Zeit hinein, den differenzierten Überlegungen der Neukantianer zu Erkenntnistheorie und Typik von Wissenschaften nachzugehen, das Idiographische, am Einzelnen Orientierte, und das Nomothetische, auf die Gesetzmäßigkeit Bezogene miteinander zu verbinden. Heidegger war vermittelt über Rickert auch von Max Webers Diagnosen und der Lehre von Werturteilsfreiheit, entzauberter Moderne mit bestimmt. 12 Es ist nicht zu ignorieren, dass Heideggers eigentlicher philosophischer Lehrer Heinrich Rickert Webers maßgeblicher philosophischer Ratgeber war. Die erkenntnistheoretische Unterscheidung, die eben benannt wurde, ist in jedem Fall idealtypisch in dem Weber’schen Sinn. Heideggers Anfänge liegen also einerseits im Bereich einer ›Christlichen Philosophie‹ und den sich zerschlagenden Optionen, einen entsprechenden Lehrstuhl einzunehmen. Die intellektuelle Möglichkeit einer jeden Verbindung von kirchlich dogmatisch gebundenem Glauben und Philosophie zog der spätere Heidegger massiv in Zweifel. Zwischen Philosophie und Theologie müsse »Todfeindschaft« bestehen, dekretierte er deshalb 1928 im Seminar des theologischen Freundes Rudolf Bultmann. 13 Eine Aussage, auf die wir noch mehrfach zurückkommen müssen. Die Qualifikationsschriften Vgl. dazu die sehr erhellenden Rekonstruktionen bei Denker (Hg.), Der frühe Heidegger, a. a. O. Noch in den Vorlesungen der Freiburger Zeit wird dieser Spur nachzugehen sein. 12 Klassisch zu der Entzauberungsdiagnose D. Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Tübingen 1952, siehe ferner: W. Schluchter, Die Entzauberung der Welt. Sechs Studien zu Max Weber. Tübingen 2009. 13 Vgl. dazu auch den Briefwechsel Rudolf Bultmann-Martin Heidegger, Briefwechsel 1925–1975. Tübingen 2009, vor allem die Briefe der1920er Jahre. Die Korrespondenz spricht die völlige Gegenläufigkeit des jeweiligen Fragefeldes nur mit großer Zurückhaltung aus. 11
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galten dem Umbruch von der scholastischen Theologie in den Nominalismus, der nur Einzeldinge als existent anerkannte. Doch in den Ausblicken der Habilitationsschrift ist die Moderne des 19. Jahrhunderts in einer bemerkenswerten Weise im Fokus: Die Tonlage der Frühromantik von Friedrich Schlegel und Novalis vergegenwärtigt am Ende jäh die Überlegungen zum Verhältnis von Sein und Begriff. Dahinter lag eine, von Heidegger erst spät, im Zusammenhang seiner Evokation »Wege nicht Werke«, also im Umkreis der Gesamtausgabe, ausdrücklich verdeutlichte Moderneerfahrung, die ihm als frühe Lektüren Dostojewski ebenso wie Kierkegaard nahebrachte. Doch vor diesen Pluralisierungen und Erschütterungen, die Heidegger nicht ausblendete, sondern in seiner Denkform vertiefte, hatte der Philosoph, der als »Sohn des Mesmers« in seiner Heimatstadt die Glocken geläutet hatte und das spezifische Verhältnis zur Zeit auch darauf zurückführte, schon im Gymnasium eine präzise philosophische Schulung erfahren. Er erhielt von Conrad Gruber, einem seiner Mentoren, Brentanos Studie Über die mannigfaltige Bedeutung des Seienden bei Aristoteles. Sie habe ihm die fehlende Aristoteles-Ausgabe ersetzt, wie er später bemerkte. Dass vom Seienden in vielfacher Weise gesprochen wird (pollachos legomenon), als Substanz oder Attribut, als Kausal- oder Relationsaussage: diese grundsätzliche Unterscheidungen legte Franz Brentano auseinander. Dass sich die Bedeutung von ›Sein‹ keineswegs von selbst versteht, dass ›Sein‹ aber unauffällig allgegenwärtig ist, lernte Heidegger hier. Bei allen Varianten und Revisionen seines Denkens bleibt es erstaunlich, wie ausschließlich er die eine Frage nach dem Sinn von Sein lebenslang erwog und thematisierte. Die frühen Vorlesungen sind zunächst durchaus Beiträge zu der philosophischen Situation der Zeit, und dies in mehrfachem Sinn. Einerseits wird eine Neubestimmung der akademisch universitären, auch institutionellen Situation nahegelegt. Züge der Verbindlichkeit eines Ethos und einer eigenen Form von Erschlossenheit und Entschlossenheit treten zutage, in Verbindung mit einem jugendbewegten Neuaufbruch. In der Rektoratsrede des Jahres 1933 werden manche dieser Motive wiederkehren, dann aber in Verbindung mit dem privaten Nationalsozialismus des Rektors der Universität Freiburg, der Heidegger nur für ein Jahr 1933/34 bleiben sollte. Der sachliche Kern, mit einem kühlen Pathos war 1918/19, greifbar, 1933 glitt er in Ideologie ab. Auch Max Weber und viele andere fragten in jener Zeit nach Wissenschaft und nach Politik als Beruf. 32
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Eine ineinander greifende Motivkette wird in den frühen Vorlesungen deutlich, die sich bis weit in seine Marburger Zeit hinein erstreckt: (1) Heidegger nähert sich bereits der Frage der Wahrheit. Dies geschieht im Durchgang durch die ›Logik‹, so wie sie in der nachhegelschen und nachkantischen Epistemologie, namentlich von Trendelenburg, entwickelt worden war. (2) Zum anderen thematisierte er den Historismus und die Grundlinien der Hermeneutik, die vor allem von Dilthey bestimmt war. Dass Einfühlung und ein übergreifender Lebensbegriff das Verstehen bestimme, dass Geschichte Gegenwart ist, dass das ›Ontische‹ und das ›Geschichtliche grundsätzlich als Formen menschlichen Seins voneinander zu unterscheiden sind, sind Gedanken, die von jenen Studien in nuce ausgingen und in Sein und Zeit fast ein Jahrzehnt später Eingang finden sollten. (3) Über dem Schreibtisch des jungen Heidegger hing, nach dem Bericht von Augenzeugen, ein Bild Luthers. 14 Die frühen religionsphänomenologischen Vorlesungen ziehen eine Linie von Luther zu Augustinus und zurück zu Paulus und den neutestamentlichen Briefen, wo ein singuläres Zeitbewusstsein Ausdruck findet: Zeit in ihrem apokalyptisch befristeten Charakter, der Eintritt des Eschaton in die Gegenwart, der Neue Bund, der nur auf kurze Zeit überhaupt in dieser Welt existiert, dann aufgehoben wird. Aus Luthers RömerbriefVorlesungen formt sich eine Vergegenwärtigung dieses eschatologischen Zeitverständnisses, die Ahnung, in einer Zeit zu existieren, die im Grunde keine Gegenwart kennt, die Verräumlichung des Zeitbewusstseins, wie sie fast gleichzeitig Bergson kritisierte, und den linear-»vulgären« Zeitbegriff bricht Heidegger schon hier auf, zugunsten eines ek-statischen, Vergangenheit und Zukunft verschränkenden Zeitbewusstseins. Die überlieferten Vorlesungstexte geben nur sparsame Kommentierungen zu den lateinischen Originalen. Der Text erinnert an Glossen aus mittelalterlichen Folianten, die auch eher hervorheben, widersprechen, dem Text folgen, als einen Interpretationszusammenhang zu geben. Große philosophiehistorische Standardvorlesungen entwickelte Heidegger seinerzeit nicht. Auch wenn er dies späteren Schülern, wie beispielsweise Karl Löwith, nahelegte. 15 Was sich aber als eine 14 15
Vgl. B. D. Crowe, Heidegger’s Religious Origins. Bloomington 2006, S. 17 ff. Vgl. dazu den sehr instruktiven Briefwechsel Martin Heidegger-Karl Löwith,
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seiner auszeichnendsten Eigenschaften als Philosoph erweisen sollte, kann man schon hier erkennen: Die Radikalität des Fragens, das das Selbstverständliche auffällig machte und auf sonst unbeachtete Zusammenhänge den Finger legte. (4) Die frühen Ausarbeitungen zielen neben der Temporalstruktur der frühen christlichen Zeugnisse auf eine Neuaneignung griechischer Philosophie, deren Kraft erstaunlich war und aus den historischen sowohl wie den systemarchitektonischen Bestimmungen der Zeitgenossen sich löste. Diese ›phänomenologische Interpretation‹ ausgewählter aristotelischer Passagen, der Nikomachischen Ethik und der Metaphysik liegt nur sporadisch als Vorlesungstext, primär aber in der »Natorp«-Ausarbeitung vor, die Heideggers Berufung nach Marburg mit begünstigte. Die aristotelischen Termini löste Heidegger souverän, wie bei einem ersten Blick augenfällig wird, von dem scholastisch lateinischen Begriffsinstrumentarium. Sie werden auf ihre »Temporalität«, ihren Verbalsinn im Griechischen hin aufgebrochen, sodass die unmittelbare Wortbedeutung und damit die Abhebung der Begriffssprache aus konkreten Wortwurzeln freigelegt wird. Heideggers Deutungen machen sichtbar, dass der pragmatische Zugang zur Welt dem theoretischen vorausgeht. Das »Wissen, dass« ist erst eine späte Abstraktion des ›Wissens Wie‹, eines know how, wie es später in der analytischen Philosophie benannt werden wird. Dabei befasst er sich besonders mit der diagnostischen Denkform von Aristoteles. Gnomisch-feststehendes Wissen wird aus dem Erfassen des Hier und Jetzt Gegebenen, dem Verlauf einer Krankheit, gewonnen. 16 Hinter Aristoteles zurück bahnte sich der junge Heidegger den Weg in ein Grundgefüge des In-der-Welt-seins, das er mit einer beeindruckenden Frische, der Erzeugung des Gedankens im Reden, in dem Kolleg ›Ontologie. Hermeneutik der Faktizität‹ zeigte. Kosmologisch kosmogonische Bewegungszusammenhänge der Vorsokratiker und eine gnostisch-christliche Lehre von Abfall und Wiederherstellung in Orientierung an Augustinus brachten ihn zu einem Briefwechsel 1919–1973, hgg. und kommentiert von Alfred Denker. Freiburg/Br. und München 2017, S. 162 ff. mit sehr konkreten Vorschlägen, die Heidegger seinem habilitierten Schüler über die Ausrichtung von dessen Vorlesungen macht, mit der Auflage, die Konzessionen an die Bildung seiner Hörer so minimal wie möglich zu halten. 16 Dieses Umgangswissen hat später unter anderem M. Polanyi herausgearbeitet und es gewann von dort aus eine große Bedeutung für die analytische Diskussion. Vgl. M. Polanyi, Implizites Wissen. Frankfurt/Main 1986.
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phänomenologischen Gegenhaltsverhältnis zwischen der hinwegreißenden, zerstörerischen Zeit und dem Ethos, dem Aufenthalt in der Welt. Eine grundlegende Fuge und ein elementares Motiv Heidegger’schen Denkens war damit erstmals situiert. Die Auseinandersetzungen mit der eigenen Herkunft machen verständlicher, dass und wie Heidegger von seinen Prämissen her die ›Todfeindschaft‹ zwischen Philosophie/Phänomenologie und Theologie bzw. Glauben so deutlich artikulierte, wie er es tat. Welche Wirkung hatte diese Sonderung für Heideggers Denken? Auch danach wird man fragen müssen. Der Weg, auf den ihn das durch Brentano mitbestimmte Aristoteles-Studium brachte und mehr noch die Lektüre von Husserls Schriften mit ihrem Prinzip des ›methodischen Atheismus‹ musste zur strikten Trennung von dem Integralismus führen, den Heidegger bei seinem ersten Mentor Carl Braig aufgenommen hatte. Das katholische Thema ist bereits in der von Braig betreuten Dissertation Nebenthema gegenüber einer stringenten Behauptung des Eigenrechts des Logischen. Schon in dem frühen Aufsatz ›Das Realitätsproblem in der modernen Philosophie‹ (1912) betont Heidegger die primäre, ja ausschließliche Geltung der logischen Kategorien. Kant und Hegel weist der Neophyt als verwirrende und vernebelnde Denker noch zurück. Einen eigenen Stand, diesen Klassikern gegenüber, lässt er noch nicht erkennen. Eher sind es Abwehrbewegungen, die noch den Integralisten oder schon den logischen Phänomenologen erkennen lassen. Die Grenzen sind fließend. Berufungsinstanz ist, mit Emil Lask, das Logische als Reich der Geltungen und Werte: Die Wertephilosophie verbindet Heidegger auch mit Heinrich Rickert, dem späteren Promotor seiner Habilitation. Das Geltende muss sich gegenüber zwei konkurrierenden Seinssphären Präsenz verschaffen: dem sinnlich Seienden und dem metaphysisch Seienden. Ein direkter Zugriff auf Metaphysik und ihre Gehalte verbietet sich. 17 Der junge Heidegger versucht seinerzeit gerade nicht, die aristotelische Ontologie zu restituieren. Dies scheint ihm obsolet Vgl. E. Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1911; sowie ders., Die Lehre vom Urteil. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1912. Siehe dazu jetzt auch: U. B. Glatz, Emil Lask. Philosophie im Verhältnis zu Weltanschauung, Leben und Erkenntnis. Würzburg 2001. Nicht zuletzt im Blick auf die Auseinandersetzung mit der Weltanschauungsproblematik bewegt sich Heidegger lange Zeit auf Spuren von Lask.
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zu sein. Er registriert dabei sehr aufmerksam die explosionsartigen Innovationen und Inventionen der modernen Naturwissenschaften. Er unternimmt aber keinen Versuch, sich der Instrumente der Transzendentalphilosophie zu bedienen und sie für eine erkenntnistheoretische Erfassung der Realität in Anspruch zu nehmen. Dass das axiomatische Reich des Geltenden die aristotelische dogmatische Philosophie im Ganzen erfassen soll, ist Heideggers Forderung (Frühe Schriften, GA 1, 49 ff.): Doch letztlich überlagern sich drei Tendenzen: Die Behauptung eines logischen und ontologischen Holismus einerseits, die Perzeption der herandrängenden Moderne, die diese Ganzheit bestreitet und nicht einfach antimodern abgewehrt werden kann und die Suche nach der zugrundeliegenden Frage nach dem Sinn von Sein, die durch die phänomenologische Logik allein nicht zu erfassen ist. * An diesem Punkt, an dem wir einen Querschnitt in Heideggers Frühphilosophie gewonnen haben, lässt sich die Frage stellen: Wäre es angemessen, so wie Heidegger es selbst in einer Aristoteles-Vorlesung tat, von ihm zu sagen: »Er wurde geboren, arbeitete und starb« – oder sind die biographischen Linien, einschließlich jenen der Zeitgenossenschaft, die vereinzelt bis zum Reduktionismus herangezogen werden, doch unerlässlich für sein Denken? Gewinnt man aus Briefwechseln, nicht-philosophischen Textzeugen, dem sehr vertraue Umgang mit seinem Bruder Fritz, der auch politische und zeitgenössische Untiefen enthält, Unerlässliches? Oder gar aus den zumindest partiell dokumentierten und dokumentierbaren Liebesbeziehungen Heideggers, die vielfältig waren und die eine bleibende Ehe mit der einen Gefährtin überlagerten, zu der er sich ganz am Ende auf dem Titelblatt der Gesamtausgabe bekannte? Eine flächige elegant geschriebene Biographie liegt seit 1994 vor, die allerdings die philosophischen Konturen nur unzureichend und letztlich an der Identität von Heideggers Denkform vorbeigehend, zutage bringt; 18 eine dreibändige wird vorbereitet, 19 die fokusartigen Jahre um 1933 zogen wie selbstverständlich subtile und weniger subtile Deutungen auf sich. 20 18 19 20
R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. München 1994, 354 ff. pass. Alfred Denker ist mit ihr beschäftigt. Vgl. die gründliche erste Terrain-Vermessung: H. Zaborowski, Eine Frage von Irre
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Der legendäre Satz, den Heidegger von Aristoteles sagte, gilt und er gilt nicht von ihm selbst. Er gilt, weil es unerlässlich ist, das philosophische Denken in seinen Intentionen, seinen Strukturen und Argumenten hervorzuheben. Er gilt nicht, weil ein eminentes Denken niemals frei ist von Kontexten, Verwicklungen und Vermischungen. Alles andere wäre eine Illusion. In den Jahren 1937/38, als noch nicht Fünfzigjähriger und in einer Phase, in der sich Heidegger zehn Jahre nach Sein und Zeit, fünf Jahre nach dem Rektorat in Freiburg in einer immensen Produktivität, aber auch einer Aporie seines Denkwegs sah, formulierte er eine kleine Skizze: Rückblick auf den Weg (66.409). Ausdrücklich charakterisiert er diesen Weg zunächst philosophisch ohne jede Rücksicht auf Lebenswelt und Biographica. Er sagt, dass seine Rückschau »aus dem Gesichtskreis der Metaphysik und ihrer Überwindung noch nicht aus dem Seyn selbst« (ibid.). gewonnen sei. Heidegger betont, was er auch in anderen, vergleichbaren Skizzen hervorhebt, dass sein eigener Weg sich erst im Nachhinein deutlicher geworden sei, »zur wachsenden Klarheit gezwungen« (411), orientiert auf das »ganz Andere, was eines Tages vielleicht sogar ein ›Selbstverständliches‹ werden muss«. Seinen Qualifikationsschriften, der Dissertation und der Habilitationsschrift, widmet er sich dabei besonders. Ihnen kommt im Rückblick eine zentrale Bedeutung zu. In der Dissertation habe er nach Geltung geforscht, damit aber in einer ersten Annäherung die Frage nach der Wahrheit des Wahren zutage zu fördern gesucht; 21 in der der Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus gewidmete Habilitationsschrift habe er einen ersten geschichtlichen Zugang zur Ontologie gebahnt und dabei zugleich nach der Sprache gefragt (412). Obwohl Heidegger die Reichweite dieser Ausarbeitungen und »pflichtmäßigen Mitteilungen« nicht überschätzt und ihren konventionell akademischen Charakter betont, wird post festum doch – in Verbindung mit der Habilitationsvorlesung – die nach Sein und Zeit, in Abhebung von der Ewigkeit und »der Herkunft des Nicht« fragte (ibid.), Zeitlichkeit und Negation also miteinander verband, die Anzeige von Markierungen deutlich, die auf Heideggers späterem Weg eine entscheidende Bedeutung einnehmen und Schuld? Martin Heidegger und der Nationalsozialismus. Frankfurt/Main 2010, siehe außerdem die verdienstvolle Zusammenstellung Heidegger und der Nationalsozialismus. Dokumente. Heidegger-Jahrbuch Band 4. Freiburg/Br., München 2009. 21 Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, GA 14, S. 93 ff.
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sollten. Heidegger legt selbst die Fährte, dass die Qualifikationsschriften je spezifisch sich der Seinsfrage näherten. Hinter dieser Anzeige früher Spuren zeigt sich die weitreichende Aussage, dass die Seinsfrage die eine und einzige Frage sei, die er in seinem Denkleben umkreiste. Nicht die Biographie, sondern ihre abbreviative Verdichtung und Verkürzung macht daher den Ansatz des frühen Heidegger’schen Denkens sichtbar. Der »wirkliche[n] Einarbeitung in das Verfahren der ›Phänomenologie‹« Husserls weist Heidegger dann aber eine klärende Bedeutung zu. Von Husserl habe er die methodische Fragesicherheit gelernt, und dieser Anstoß ließ ihn in den Jahren 1920–23, der Freiburger Privatdozentenzeit, weiter nach Sprache, Sein und Geschichte fragen. Dies vermerkt Heidegger. Zugleich hält er eine klare Abgrenzung gegenüber Husserl fest. Die, wie er selbst es nennt, cartesischneukantianische Orientierung (412) der Phänomenologie sei bei ihm »ohne jede Zustimmung« geblieben. Heidegger deutet seinerzeit 1937/38 auch an, dass »diesen ganzen bisherigen Weg verschwiegen die Auseinandersetzung mit dem Christentum mitging« (415). Damit meldet sich erstmals die autobiographische Dimension, und es expliziert sich eine Frage von Verwurzelung und Entwurzelung, die sich durch die spätere Marburger Bekanntschaft mit dem protestantischen Christentum noch erweitert habe. Die Abwendung wird deutlich formuliert. Begreift er doch das Christentum »als Jenes, was von Grund aus überwunden, nicht aber zerstört werden muß« (415). Diese Rückschau ist in ihrem Wahrheits- und Wahrhaftigkeitscharakter unmittelbar evident: Die Studien, die Heidegger in seiner Frühzeit anstellte, waren lange Zeit von der akademischen Situation der Zeit mitgeprägt. Man sollte sich auch ins Gedächtnis rufen, dass er keineswegs als Solitär gegen seine Zeit begann. Man müsse für eine lange Zeit die Sprache der Philosophie der eigenen Zeit sprechen, betonte er nicht ohne Grund. Anekdoten sagen auch hier manches. So ließ Heidegger seine Schüler die umfänglichen Logik-Studien von Trendelenburg, für den er eine besondere Präferenz entwickelte, studieren und sagte, mit der eigentümlichen List, das habe er ihnen zumuten müssen, damit sie begreifen würden, wo überall er selbst habe hindurchgehe müssen. 22
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Trendelenburg, Logische Untersuchungen 2 Bände. Berlin 1840.
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Die Schulphilosophie und die Affiziertheit von der Moderne, von Rilke und Dostojewski, die in Heideggers Einleitung zu seinen ›Frühen Schriften‹ aufscheint, bilden zwei letztlich disparate Sphären, in denen er sich gleichermaßen bewegte: eine der Heidegger’schen Ambivalenzen oder Verborgenheiten, von denen es manche gibt. Dass Heidegger Einwurzelungen, die seinen Weg vereinfacht hätten, abstreifte, oder sich, auch aufgrund eines hochsensiblen Nervenkostüms daraus löste, ist ein unübersehbares und interpretationsbedürftiges Moment seiner Anfangsjahre. Für Krisen und Depressionszustände blieb er lebenslang empfänglich. Fast noch bevor sein eigener philosophischer Weg Konturen gewinnt, beginnt die Arbeit an der Seinsfrage als Aristoteles-Aneignung und als Studium des Grundphänomens des Lebens, insbesondere der »religiösen Erfahrung« und ihrer Zeitlichkeitsstruktur. Gadamer sprach in einem Heidegger’sche Konturen weichzeichnenden Rückblick von »Heideggers theologischen Jugendschriften«, 23 in Analogie zu der Epoche machenden Edition von Hegels einschlägigen Jugendschriften, die Herman Nohl im Jahr 1900 vorlegte. Der Natorp-Bericht, der, wie einige Jahre später Sein und Zeit, wegen externer Veranlassungen in kurzer Zeit niedergeschrieben wurde und eine ›Phänomenologische Aristoteles-Interpretation‹ entwickelte, löst die Suggestion des Theologischen keineswegs ein. Es geht darin ganz und gar nicht in einem inhaltlichen Sinn um Theologie, sondern darum, die aristotelischen Untersuchungen fruchtbar zu machen, sie aus dem Odium eines erstarrten scholastifizierten Systems zu befreien. Damit stößt man auf eine bemerkenswerte Bifurkation: Heidegger, der in die philosophische Erinnerung eher als »raunender« Lehrer einer geheimen ›Seinsbotschaft‹ eingeht, beginnt als subtiler Kenner der Logik, mit scharf umrissener Problemarbeit. Betrachtet man seine Anfänge, so wären vielfältige Entwicklungen möglich gewesen. Die Aristoteles-Rekonstruktion ist einer der prominentesten Monolithen der frühen Philosophie. Doch sie ist eingewoben in die sachliche Frage der Transformation der Phänomenologie, wenn sie H.-G. Gadamer, »Heideggers ›theologische‹ Jugendschrift«,in: Dilthey-Jahrbuch 1989, S. 228 ff., diese Formulierung ist selbstverständlich Herman Nohls Topos von Hegels theologischen Jugendschriften, nach den Handschriften der Kgl. Bibliothek in Berlin. Tübingen 1907.
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Mitvollzug des Lebens wird und nicht auf die Präsenz des eidetischen Bewusstseinsstroms bezogen bleibt. Heideggers Aristoteles-Interpretation legt einen Vorrang der praktischen Philosophie offen, des Wissens »wie« vor dem propositionalen Wissen »dass«: Ein Moment, das später Michael Polanyi fruchtbar machen 24 und das im Zusammenhang der Rehabilitierung praktischer Philosophie im 20. Jahrhundert ausgegriffen werden sollte. 25 Die praktische Klugheit ist aus guten Gründen nicht in die Begrifflichkeit der Metaphysik einzuzeichnen. Die Kategorienlehre und Metaphysik des Aristoteles entwickelte sich, so zeigt Heidegger, aus der praktischen Vernunft, der phronesis. Der Poietik, der herstellenden techné kommt dabei eine bedeutsamere Rolle zu als der reinen Epistemologie. Dauerhafte kategoriale Strukturen werden durch die Wiederholungen der techné, etwa der Diagnose-Kunst des Arztes, ausgebildet. Deutlich wird damit auch, dass das theoretische, erkennende Weltverhältnis sekundär ist, primär hingegen ein In-der-Welt-sein, dem Dinge und Sachverhalte »Pragmata« sind, im Umgang erschlossene Tatsachen. Vor dem Hintergrund dieses Paradigmas, das auf die griechische Philosophie zurückgreift, bleibt nach wie vor das ganz andere Paradigma einer Zeitlogik der biblischen parousia sichtbar. Heidegger sollte erst später, was im Licht der Schwarzen Hefte und einer Aburteilung christlicher und jüdischer Offenbarung erst seine ganze Brisanz erhalten würde, die »Todfeindschaft« zwischen Philosophie (Phänomenologie) und Theologie zur Ausschließlichkeit erheben. In der Frühzeit bewegt er sich zwischen beiden. Er interpretiert dabei aber immer die Offenbarung im Licht der Philosophie, in einer Eindeutigkeit, die ihren Richtungssinn niemals ändert. Sein Denken changiert gleichsam zwischen ›Athen‹ und ›Jerusalem‹, es geht aber beiden in ihrer ganzen Tiefe nach. Die Anekdote, dass Heidegger hinter seinem Tisch ein LutherBild hängen hatte. Dies mag Inszenierung gewesen sein: Mit Paulus und Augustinus gehört Luther aber tatsächlich in den Bestand des
M. Polanyi, Implizites Wissen, a. a. O., S. 230 ff., dazu H. Mai, Michael Polanyis Fundamentalphilosophie. Studien zu den Bedingungen des modernen Bewusstseins, Freiburg i. Br. 2009, S. 32 ff. 25 Dazu die magistrale Sammlung M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bände. Freiburg/Br. 1970. 24
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frühen Heidegger. Doch er betrachtete die Glaubensformen nur noch als Phänomenologe, aus nüchternem Abstand. Die Strukturen der Existenz beschreibt Heidegger (wie wir sahen) in dem Band ›Ontologie. Hermeneutik der Faktizität‹. Hier werden erstmals die Existenzialien entwickelt, Weisen des Lebens in seinem Weltzusammenhang, der aller cartesianischen Subjekt-ObjektTrennung vorausliegt. Jene Kategorien zeigen sich gerade als Korrelationen. Sie erschließen sich, wenn der Lebensvollzug des Daseins in eine Form dichter Beschreibung gefasst wird: Dasein ist in fundamentaler Weise in-der-Welt-sein, gleichsam in einer Einlösung des auf Heraklit zurückgehenden Satzes, dass die Seele bei dem sei bzw. selbst das werde, was sie berühre. 26 Mit Ruinanz, Reluzenz und anderen Kategorien umschreibt Heidegger ein immer schon korrelativ auf Welt bezogenes Denken, das die Egologie des Bewusstseinsstroms in Husserls später transzendentaler Phänomenologie aufbricht und sich immer schon »draußen« bewegt. Es ergibt sich eine Aufenthaltsdeutung, die die Existenzkategorie der Verfallenheit (Ruinanz) als Fortgerissensein in der Zeit dem Gegengewicht des Ethos, des Aufenthaltes entgegensetzt. Daraus formt sich keine Dialektik, auch keine Goethe’sche Polarität, wohl aber eine strenge, protologisch an Heraklit orientierte Figurierung »gegenstrebiger Fügungen«. Heidegger verstand sich in dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als er als charismatischer philosophischer Lehrer hervortrat, in eminenter Weise als Phänomenologe, nicht aber als Teil des Husserl’schen Schulzusammenhangs. Dass er seine Vorlesungen und Seminare in der frühen Freiburger Zeit als »phänomenologische Interpretationen« umschrieb, tat er später als Referenz vor seinem »Lehrer Husserl« ab. 27 Dies mindert doch den Husserl’schen Einfluss mehr, als es in der Sache nahelag. Denn noch der ganz späte Heidegger kam wieder auf die Anregungen zurück, die er Husserl verdankte. Lehrer in einem akademisch stringenten Sinn war Husserl gerade nicht. Dies war Heinrich Rickert, Neukantianer aus der Freiburger Schule, der Heideggers Habilitation begleitet hatte. Der Gesprächszusammenhang mit Husserl reichte allerdings tief und er war zugleich von Anfang an viel freier, als ein Schülerverhältnis es hätte Aristoteles, Peri Psyches, Über die Seele. Hamburg 1986, Erstes Buch. R. Cristin, »Phänomenologische Ontologie. Heideggers Auseinandersetzuntg mit Husserl« (1916–1928), in: Heidegger-Jahrbuch 6, Freiburg/Br. 2012, S. 43 ff.
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sein können. In die Tiefenschichten verweist der Umstand, dass der frühe Heidegger Hermeneutik und Phänomenologie miteinander verschränkt. Das Ergebnis ist, dass sich ein Drittes und Anderes herausbildet. Die Begründung von Phänomenologie als eigentlicher erster Philosophie verändert sich: Nicht der Charakter der ›strengen Wissenschaft‹ ist für ihn dominierend, wie für Husserl – und die Egologie, die Präsenz der Phänomenalität der Phänomene im Bewusstseinsstrom wird zum Epiphänomen. Heidegger spricht nicht explizit von ›Erster Philosophie‹ wie es Husserl auch vor dem Hintergrund seiner fundamentalen Kritik am Psychologismus tat. Vielmehr geht es ihm um eine Art ›archäologisches‹ Unterfangen, das die grundlegende Seins- und Weltstruktur freilegen soll. Er nennt den Weg zu diesem Grund eine »Destruktion«, die Schichten der Schulbildung, vor allem des Cartesianismus und Kantianismus, abbaut, um zu einem Grundphänomen zu gelangen, das sich aber, ihm zufolge, nicht in der monadischen Abgeschlossenheit des Bewusstseinsstroms zeigen wird. Vermerkt sei, dass alle spätere ›Dekonstruktion‹, namentlich von Derrida, auf Heideggers Konzept einer abbauenden, in die Anfänge zurück verweisenden ›Destruktion‹ errichtet ist. Der eidetische Anspruch, der sachliche Kern von Husserls Verständnis der Phänomenologie als Urwissenschaft, wird von Heidegger in Sein und Zeit allerdings festgehalten; Auffälligerweise ist von der ›Seinsidee‹ die Rede. Dies ist Indiz dafür, dass Heidegger wie Husserl eine Eidetik zugrundelegt, die auf die formale Struktur des inder-Welt-seins verweist, die die Existenzialien prägen. Es sind allerdings dynamische, im Lebensstrom sich einstellende Ideen. Heideggers Frage ist, wie die neuangelegte »gigantomacheia tes ousías« sich zu dem Defizit, das Heidegger gegenüber Husserl ausdrücklich vermerkte, verhält: Dass dessen Phänomenologie nicht nach dem Sein der Phänomene frage. Das Hauptwerk, das aus diesen Auseinandersetzungen hervorging, Sein und Zeit ist selbst in der veröffentlichten Version Fragment geblieben. Es setzt einen Kulminations- und Endpunkt unter Heideggers frühes Denken. Die Geschichtlichkeit, die Heidegger vor Augen hat, beschreibt die Verschränkung der Zeiten, die als Elementarformel das bezeichnet, was Gegenwart sein könnte. Die Suche nach dem zweiten Teil des Hauptwerks, in dem von der Zeitlichkeit her das Sein expliziert werden sollte, inspirierte Generationen von Heidegger-Forschern und -editoren. Doch lediglich das zweite Kapitel des ersten Teils ist in einer viel gröberen, dem Vorlesungsgestus geschul42
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deten Textur ausgearbeitet worden. 28 Dass Heidegger die Möglichkeit, an die Tektonik des Hautpwerkes anzuschließen, später mit großer Zurückhaltung bewertete, muss nicht überraschen. Man kann sich die Struktur des fragmentierten Hauptwerks, dieses Alluvionsgebildes, 29 in dem sich die frühen Ablagerungen verbinden, auf unterschiedlichen Ebenen vergegenwärtigen. Denkbar ist es, sich die Texturen, die Heidegger aufgenommen hat; nicht selten, indem er die Spuren verwischte, ins Gedächtnis zu rufen. Der Rayon von Referenztexten reicht dann von der ›Gigantomachheia tes ousías‹, der platonisch-vorplatonischen Seinsfrage über das pollachos legomenon des Aristoteles zu Augustinus’ Verschränkung der Zeitsinne. Er setzt neu bei der Cartesischen Transzendentalphilosophie und Kants Transzendentalphilosophie ein und er reicht in den Vorlesungen der Freiburger Zeit bis zu Hegel, dessen Vermittlungsdenken und Zeitphilosophie vor allem bei der Explikation der Geschichtlichkeit herangezogen wird. 30
GA 24. Die Grundprobleme der Phänomenologie. Vorlesung Sommersemester 1927. Zu der systematischen Frage eines zweiten Teils von Sein und Zeit weiter unten. Zur Erläuterung des Status auch: F.-W. von Herrmann, Heideggers ›Grundprobleme der Phänomenologie‹. Zur zweiten Hälfte von Sein und Zeit. Frankfurt/Main 1991. 29 Ich greife hier einen Begriff zur Beschreibung von Heideggers Hauptwerk auf, den Nietzsche für Platons Politeia in Anschlag brachte. Vgl. Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen WS 1871/72 bis WS 1874/75. Kritische Gesamtausgabe Band II.4, Berlin 1995, S. 79. Dazu auch mein Aufsatz: »Zur Eröffnung: Sein und Zeit im Licht von Heideggers Denkweg«, in: H. Seubert (Hg.), Neunzig Jahre Sein und Zeit. Freiburg/ Br., München 2019, S. 13 ff. 30 Deshalb sollte die kommentierende Wahrnehmung von Sein und Zeit die Verwebung des Gedankengangs mit den – teils verwischten – Spuren vergangenen Denkens verbinden. Weitgehend immanent, darin aber sehr wichtig bleibt der Kommentar von F.-W. von Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Band 1. Einleitung. Frankfurt/Main 1987 und die Folgebände 2005 und 2009. Siehe auch Th. Rentsch (Hg.), Martin Heidegger, Sein und Zeit. Berlin 2001. 28
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II. Das Eigenrecht des Denkens: Logik und Phänomen
1.
Logische Form und vortheoretisches Leben
1. Die bei Carl Braig, 1 dem letzten Exponenten der Tübinger Schule katholischer Theologie, die aus der Auseinandersetzung mit Hegel und Schelling sein Profil gewonnen hatte, eingereichte Promotionsschrift vertieft die Explikation einer Geltung des Logischen unabhängig von subjektiven Einstellungen. In logikhistorischer Perspektive war Heidegger seinerzeit ein Platoniker, der an der situationsinvarianten Geltung des »Kosmos noetos« festhielt: Logik ist der Zugang zur Wissenschaftlichkeit, zu einem »letzten Ganzen«, das Heidegger als Horizont einer letzten Wirklichkeit verteidigt (FS, 187). Den Weg über die Klassische deutsche Philosophie, der seinem Mentor Braig noch selbstverständlich gewesen war, kürzte der junge Heidegger ab. Er spricht, was philosophische Systematik angeht, die Sprache der Philosophie seiner Zeit. 2 Dass man dies zunächst tun müsse, betonte Heidegger immer wieder. Die grundsätzliche Affinität zu Husserls Wissenschaftsbegriff, soweit dieser bis dahin ausgebildet war, zeigt sich in der »rein logischen Urteilslehre«, der auch der Neukantianismus der südwestdeutschen Schule verpflichtet ist. Dieser Urteilslehre folgt Heidegger markant darin, dass er aller psychologistischen und naturalistischen Reduktion der Geltung von Urteilen auf deren Genesis entschieden widerspricht. Zugleich betont er mit Lotze und in einer Haltung, die ähnlich auch so unterschiedliche Denker wie Frege oder Hermann Cohen einnehmen würden, 3 dass die reine Logik der einzige gültige 1 Vgl. zu Braig: D. Esch, Apostolat der Dialektik. Leben und Werk des Freiburger Theologen und Philosophen Carl Braig (1853–1923). Diss. theol. Freiburg 2004. – Buchausgabe: Freiburg/Breisgau 2004 (Freiburger Dissertationsreihe; 1). 2 Siehe dazu unter anderem Theodore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s ›Being and Time‹. Berkeley 1995, S. 29 ff. 3 Vgl. W. Künne, Die philosophische Logik Gottlob Freges. Frankfurt/Main 2010,
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Weg sei, um zu metaphysischen Bestimmungen, einem noetischen Reich, zu kommen. 4 Das Metaphysische werde aber »nie mit der Unmittelbarkeit erkannt«, »die uns beim Innewerden des fraglichen Etwas zu Gebote steht« (FS, 169 f.). Metaphysik ist also nur indirekter Annäherung über Axiomatik und Kategorialität zugänglich. Sie wird vom Geltungsbereich der Logik abhängig gemacht. Der Zugriff auf einen logisch-noetischen Kosmos in der Dissertation kann immerhin als erste Formgebung einer Ontologie verstanden werden. Dabei folgt Heidegger keineswegs einer transzendentalen Struktur, sondern einem gegebenen seienden Ganzen von Ideen, das unabhängig vom Subjekt artikuliert werden kann. Damit zeigt sich ein wiederkehrendes Strukturmerkmal von Heideggers Denken, das vielfach variiert gerade seine spätere und späte Philosophie bestimmen und auch den Weg des Seinsdenkens der Kehre auszeichnen wird. Es ist vorläufig als ein ontologischer Holismus zu beschreiben, als der Ausgang von einer gegebenen Welt und die Einklammerung des denkenden Subjektes. Natürlich sieht man solche Entsprechungen erst im Rückblick. Sein und Zeit erweist sich dann als Abbiegung von diesem Weg, weil es eine transzendentalphilosophische Fundierungsstruktur entwickelt; und das Kant-Buch von 1929 verfolgte diese Linie noch konsequenter, indem es die transzendentalphilosophische Linie in die Fundamentalontologie umzuzeichnen versuchte (Dritter Teil, 17. Kapitel). In Darstellung und Kritik folgt Heidegger der Eigensphäre des Logischen. Er setzt sich dabei zunächst ausführlich mit reduktiven Konzeptionen der Urteilslehre auseinander. Ein erster reduktionistischer Ansatz besteht darin, die Geltung von Urteilen auf faktisch vollzogene Urteilsakte zurückzuführen. Heidegger diskutiert Wilhelm Wundts Position: Die These, dass Urteilsformen und -strukturen von der apperzeptiven Geistestätigkeit abgeleitet sei (66 ff.). Die Wundt’sche Urteilstheorie folgt, wie Heidegger beobachtet, einer psychologistischen Problemverkürzung. Dann widmet sich Heidegger Heinrich Meiers Rekurs auf die Urteilstätigkeit in Urteilsakten, worin das Wundt’sche Problem nur variiert wird. Und er diskutiert
S. 43 ff., zu Hermann Cohen u. a. G. Edel: Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik. Die Entwicklung der theoretischen Philosophie Hermann Cohens. Alber, Freiburg 1988. 2. Aufl. Gorz, Waldkirch 2010. 4 Starke Bezüge setzt Heidegger hier auch zu Heinrich Rickerts wesentlichster Schrift zur Kategorienlehre: »Das Eine, Die Einheit und die Eins«, in: lógos II (1911).
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Das Eigenrecht des Denkens
weiter Brentano, Marty und Lipps mit deren zentraler These, dass das Wesen des Urteils auf ein Verstehen des Subjektes zurückgehe, das sich den Forderungen des Gegenstandes angleiche (125 ff.). Heidegger merkt dazu kritisch an, Hans Lipps’ Urteilstheorie habe darin ihre Grenze, dass »das Urteil der Logik an das Ich geknüpft ist, durch eine Tat dieses Ich allererst möglich wird« (155). Der V. und letzte Abschnitt formuliert dann Ergebnis und eigene Position. Deshalb sind diese Passagen besonders aufschlussreich: Die Inadäquatheit einer psychologistischen Fragestellung gegenüber dem logischen Gegenstand wird nicht als Verkennen, sondern Nicht-kennen expliziert (161), gegen das eine rein-logische Urteilslehre vorbereitet wird. Die Nähe zu Husserl ist offensichtlich: Es ist gerade die Heidegger am Ende seines Denkwegs noch einmal eindrücklich beschäftigende kategoriale Anschauung, die das Gelten von Urteilen in ihrem phänomenalen Charakter rekonstruiert. Die Grundstruktur eines vorliegenden Einzeldings, eines ›Etwas‹, über das geurteilt wird, sei gerade nicht-psychisch (169), sie beruhe auf dem Vorliegenlassen des Seienden in seinem Sein und frage, was davon ›gelte‹. Heidegger wird später Hinweise in der Richtung geben, dass damit schon die Protoform der ontologischen Differenz, als Differenz zwischen Gelten und empirisch erscheinendem Seienden umrissen sei. 5 Damit äußert sich Heidegger bereits explizit als Phänomenologe. Rein logische und phänomenologische Denkformen überlagern sich. Doch noch ein weiterer, für Heideggers späteres Denken maßgeblicher Zusammenhang kommt hier zur Entfaltung: den Inhalt des Urteils expliziert Heidegger als Sinn. Die Rede ist noch nicht vom »Sinn des Seins«, wohl aber vom »Sinn des Sinnes«. Sinn erweist sich nicht als homogen, wohl aber als gegliedert. Das gewählte Beispiel ist die Proposition: »Der Einband des Buches ist gelb«. Er besage, in seine Geltungsbedingung zerlegt und damit analytisch artikuliert: »Vom Einband gilt das Gelbsein« (173). Das Urteil beschreibe insofern eine unumkehrbare Relation zwischen dem (determinierten) Gegenstand und dem (determinierenden) Bedeutungsgehalt (182). Einen besonderen Fokus legt Heidegger auf das negative Urteil. Die Negation bestimmt das Urteil als Ganzes. Sie konstituiert einen
Vgl. dazu insbesondere den starken Husserl-Bezug in: »Zeit und Sein (1962)«, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, S. 3 ff., und in dem nachfolgenden Protkoll ibid., S. 31 ff.
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Sinn eigener Art, nicht einen ›Unsinn‹. Was nicht gilt, ist nicht eine Abwesenheit von Gelten, sondern eine negierte Form des Geltens. Heidegger wird später die komplexen Verschränkungen von Abwesenheit und Anwesenheit untersuchen, er wird verfehlte Modi von Gestimmtheit doch als Weisen der Gestimmtheit begreifen. In der Dissertation wird dieser Bereich das erste Mal vorsichtig und noch in einem rein logischen Horizont kartographiert. Die Negation unterscheidet sich im Bereich des Geltens grundsätzlich von nur ontologisch verneinten Existenzaussagen. »Wenn etwas nicht existiert, kann ich nicht sagen: es existiert« (184). Die elementare und grundsätzliche, Heidegger dauerhaft bestimmende Einsicht ist, dass die Negation primär in der Kopula situiert ist. Damit nimmt Heidegger einen ersten Anlauf, um die Verflochtenheit von Sein und Nichts zu denken. So unübersichtlich die Frage als Ganze seinerseits noch gewesen sein mag und so wenig eine Platonische Verbindung von Sein und Nichts im Sinn der Verflechtungen des Sophistes in der Habilitationsschrift schon eingeholt ist: Die Verknüpfung in der Kopula wird zu einem Leitmotiv auf dem Weg zur Seinsfrage werden. Nachdrücklich artikuliert Heidegger das Geheimnis der Kopula ›ist‹, ihre unauflösliche Rätselhaftigkeit. Ein weiteres derartiges Leitmotiv expliziert Heidegger mit dem »impersonalen Urteil«, subjektlosen Sätzen wie »Es blitzt!« (185). Dieses Urteil bezeichnet für den jungen Heidegger ein »Ereignis«; in ihm spricht sich Wirklichkeit aus, Existieren als dynamischer Akt. Daher beziehen sich, wenn man Heideggers spätere Begriffssprache auf diese Anfänge orientiert, das negative und das impersonale Urteil nicht auf Seiendes. Das negative Urteil bezieht sich auf die Geltung eines »seienden Nichts«, das impersonale Urteil aber auf die Struktur des Ereignisses (186): In beiden Urteilen deutet sich die Frage nach dem Sein selbst an. Anders gesagt: Eine erste Ausprägung der ontologischen Differenz ist hier urteilslogisch aufgenommen. Durchaus klarsichtig kann Heidegger am Ende der Dissertation formulieren: Reine Logik müsse auf- und ausgebaut werden, damit die erkenntnistheoretischen Probleme mit größerer Sicherheit gewonnen werden können und damit auf diese Weise auch Sein gegliedert und strukturiert wird. Dies ist ein großes Programm und es wird zu fragen sein, ob Heidegger es jemals einlöste und wann er ihm am nächsten kam. In den Blick genommen wird eine auf reine Logik fundierte Phänomenologie, die die innere Struktur des Seins zur Explikation bringen soll. 47
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2. Die 1916 erschienene, von Heinrich Rickert betreute Habilitationsschrift über Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus entwickelt eine Toplogie der Transzendentalien der scholastischen Philosophie, also des Unum (Einen), Verum (Wahren), Bonum (Guten) und ihrer wechselseitigen Konvertibilität. Im Horizont der Transzendentalien expliziert Heidegger das Kategorienproblem weiter. Er expliziert methodisch seinen Ansatz im Bereich des reinen Geltens, was eine eigene Epoché zur Folge hat: Die Zeit »wird gleichsam ausgeschaltet« (196), reklamiert Heidegger als methodische Maxime. Dem Zeitproblem widmet er sich dann erstmals ausführlich in seiner Freiburger Antrittsvorlesung. Die Arbeit soll hier keineswegs, wie mitunter an anderen Stellen, als akademische Pflichtübung gelesen werden, die sich sehr weit in Einzelfragen spätmittelalterlicher Philosophie verstrickt. Wir rekonstruieren sie vielmehr als Mosaik unterschiedlicher Spuren, die für Heideggers späteres Denken konstitutive Bedeutung haben sollten. Es ist erstaunlich, wie diese Spuren schon beim frühen Heidegger zusammenschießen. Dass nicht nur die Zeit, sondern auch die Geschichte ausgeschaltet und eine unmittelbare systematische Diskussion mit vergangenen Argumenten eingegangen wird, ist ein methodischer Vorgriff, wie er uns ähnlich in der heutigen analytisch-philosophischen Debatte mit mittelalterlichen Denkern – mit beachtlichen Ergebnissen – begegnet. In beiden Fällen ist das Ziel eine stringent logisch-semantische Zugriffsweise, die sich mit dem spätmittelalterlichen Denken auf eine Diskursebene begibt. Sachlichkeit wird zu einem atemporalen Objektivismus, Unterschiede der Weltbilder wie Glauben oder NichtGlauben kommen nicht zur Sprache. Die Problematik soll »zentripetal auf das Problem an sich gerichtet«, hinkristallisiert werden (196). Nichts könnte von der Dilthey’schen Hermeneutik der Einfühlung und der Rekonstruktion vergangener Erlebnisse durch Einfühlung in die Erlebnisstruktur der zu deutenden Texte prima facie weiter entfernt sein. In der Forschung ist längst betont worden, dass dennoch ein Grundton von Lebensphilosophie die Habilitation durchzieht. 6 Heideggers frühes Denken ist mehrdimensional und enthält durchaus Vgl. dazu den Sammelband von A. Denker, Der frühe Heidegger, Heidegger-Jahrbuch 1 (2006). Siehe auch schon M. Riedel, »Wie ist eine Ethik der Natur möglich? Heidegger und die Notwendigkeit des ›anderen Anfangs‹ der Philosophie«, in: Ders.,
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widersprüchliche Züge. So hält er fest, dass Denken die Funktion eines Lebenswertes und einer Lebensdienlichkeit hat. Solche Dimensionen dürften kaum a-temporal zu rekonstruieren sein. In diesem Sinn betont Heidegger den zur Versenkung neigenden Typos des mittelalterlichen Menschen, der noch nicht fähig oder willens ist, sich in einer methodologischen Metaperspektive über die zu untersuchenden Sachverhalte zu verständigen. Die Spannung zwischen Zeitfreiheit und Zeitlichkeit wird nicht aufgelöst. Sie besteht zumal zwischen den Analyseteilen und dem hinzugefügten Schlusskapitel, in dem mit Friedrich Schlegel, und in deutlich punktierter Abwendung vom Neukantianismus, die »Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit« (410) evoziert wird: Wenn Heidegger dieser Linie weiter gefolgt wäre, so hätte eine kraftvolle Vergegenwärtigung oder gar Erneuerung des mittelalterlichen Denkens nahegelegen, das eine Verbindung des Idealen und Realen zu gewinnen erlaubt und dabei, wie Heidegger eigens hervorhebt, sich von einer Systemkonstruktion in der Folge Hegels deutlich unterschieden hätte. Die Ambivalenzen zwischen Tradition und Modernität, die das akademische Debüt kennzeichneten, setzen sich mithin in der Habilitationsschrift unterschwellig fort. Für den späteren Heidegger initiatorisch wirkt sich aber ein weiterer Gedanke aus, der Heideggers Befassung mit Geschichte und Geschichtlichkeit des Denkens in Atem halten wird und den er nicht im Widerspruch zu der geforderten Zeitfreiheit sah: Alle Philosophie sei »Auswicklung bestimmter Probleme« (197), sodass Fortschritt als Vertiefung und Verknüpfung dieser Problemstrukturen zu denken ist, nicht aber als grundsätzliche Revision. Auch dass ein Problem für die Denker, die es zunächst in ihrem Horizont zu erfassen suchten, in seiner ganzen Vielschichtigkeit verborgen blieb, ist eine hermeneutische Grundeinsicht, deren sich Heidegger später in anderer, viel umfassenderer Weise wieder bedient, nämlich bezogen auf die Figur der Seinsvergessenheit der abendländischen Metaphysik, die auf einem für diese Metaphysik konstitutiven Nichtwissen um Sein als ihren Grund und Abgrund beruht. Erstmals hier scheint die Hermeneutik der ungedachten, bzw. ihrer selbst nicht bewussten Gedanken auf.
Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik. Frankfurt/ Main 1990, S. 259 ff.
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Das Eigenrecht des Denkens
Die Bedeutungslehre bereitet die phänomenologische Einsicht Heideggers vor, wonach die »Bedeutung das Primäre« sei. 7 Sie wird in seinen frühen Freiburger Privatdozentenvorlesungen eine wesentliche Rolle spielen. In der Habilitationsschrift ist die Bedeutungspriorität noch durch die leitende Frage verdeckt, wie sich Bedeutungsund Kategorienlehre zueinander verhalten; eine Struktur, die Heidegger in seiner Phänomenologie und Hermeneutik der Faktizität wiederholen und so abbauen wird, dass die Bedeutung möglichst unverstellt zutage tritt. 8 Auch die Thematik der Habilitationsschrift sollte Aufmerksamkeit erregen. Es ist nicht die katholisch-scholastische Denkform des Neuthomismus, deren sich Heidegger annimmt, sondern die kategoriale Fassung von Gegenständlichkeit überhaupt. Die Transzendentalien sind mithin kategoriale Erfassungen der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, und nicht einer spezifischen Ontologie, die sich auf die Ableitungen der Arbor Porphysiana Gattung und Art bezieht. An diesem Problem entlang kann Heidegger gleichsam intuitiv und bezogen auf Duns Scotus schon einen ersten Grundriss des späteren Seins- und Transzendenzbegriffs formulieren. Das ens, so entnimmt er den Texten von Duns Scotus, 9 bedeute »den Gesamtsinn der Gegenstandssphäre überhaupt, das sich durchhaltende Moment im Gegenständlichen, es ist die Kategorie der Kategorien« (215) – und gehört deshalb zu den »maxime scibilia«, den ausgezeichneten Gegenständen der Erkenntnis. Darin sieht der frühe Heidegger, weit über eine bloße Rekapitulation hinausgehend, den Grundsatz der Grundsätze präfiguriert, der später im Zentrum seines Kant-Buches exponiert werden wird. Das ens bedeute nämlich »nichts anderes als die Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandserkenntnis überhaupt« (ibid.). 10 Noch wird dies ohne jeden Bezug auf Kant expliziert. 7 Vgl. exemplarisch A. Vigo, »Wahrheit, lógos und Praxis. Die Transformation der aristotelischen Wahrheitskonzeption durch Heidegger«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1994, Heft 1, S. 73 ff. 8 M. Riedel, »Die Urstiftung der hermeneutischen Phänomenologie. Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl«, in: Ders., Hören auf die Sprache, die akroamatische Dimension der Hermeneutik, a. a. O., S. 70 ff. 9 Heidegger bezieht sich vor allem auf die Quaest. Sup. Met. Lib VI. Über die Berechtigung dieser Interpretation soll hier nicht im Einzelnen geurteilt werden. 10 Man kann also durchaus, in aller Vorsicht, in der Kategorien- und Bedeutungslehre auf die Suche nach späteren Grundmotiven Heideggers gehen. Wenig verständlich, wenn Autoren wie Matthias Jung darin nur eine arbiträre Konstellation sehen. Vgl. vor allem M. Jung, »Die ersten akademischen Schritte (1912–1916)«, in: D. Thomä
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Zumindest die Vermutung kann naheliegen, dass Heidegger sich im Licht dieser relativ feststehenden Einsicht später Kants Denken aneignete. Ohne dass Einzelheiten der Heidegger’schen Rekonstruktion der Transzendentalien behandelt werden könnten: Das ›Unum‹ bezeichnet die eidetische Einheit der Zahl, ihre (platonische) Diskretion und Distanz gegenüber dem konkreten, gezählten Seienden (244 ff.). Dagegen richtet sich das ›Verum‹ auf verschiedene Wirklichkeiten, die mathematische Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Natur und die Wirklichkeiten der Metaphysik, die durch Analogien miteinander verbunden sind, wobei Analogie immer Identität und ein noch größeres Moment von Differenz verbindet. Heidegger unterscheidet die Identität der Bedeutung und die Verschiedenheiten der Anwendungsbereiche (257). Einheit selbst, bemerkt er, ist das eigentliche »genus metaphysicum«. Auch die »haecceitas«, die Kategorie des Hier und Jetzt, die bei Duns Scotus im Rahmen der nominalistischen Absage an das eigenständige Sein von Allgemeinbegriffen neuartig ist, der Fokus auf dem seienden singulären einzelnen Seienden und seinem Vorrang gegenüber Allgemeinbegriffen, wird von Heidegger in den Bezugsrahmen der Analogie einbegriffen. Das ›Verum‹ betrifft und strukturiert auch »die logische und die psychische Wirklichkeit« (265), und es bezeichnet die Beziehung der Gegenstände auf Erkenntnis, also die Intentionalität des Bewusstseins auf eine Gegenstandswelt. Heidegger verstärkt hier noch einmal die Interpretation des Urteils als Sinn (281), dessen »Hingeltungscharakter auf die zu erkennenden Objektbereiche [zutreffe] (sunt applicabiles)« (ibid.), und damit die Explikation des Charakters des Seienden als Sinngebilde (287). Nur angedeutet wird, dass es nicht nur die kategoriale Ordnung der Seienden (Entia) gibt, sondern einen eigenen Kategorienbereich der Logik, eine »Logik der Logik« (288). An dieser Schnittstelle greift Heidegger wieder das »non ens« auf: Das Negativ-Urteil, das er schon in seiner Dissertation als Wesensmoment der Erkenntnis erfasste; und er problematisiert die Fiktionalitäts- und Möglichkeitsdimension des Erkennens, die
(Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Weimar 2005, S. 5 ff., sowie ders., »Fundamentalontologie und Glaubenswissenschaft. Schwierigkeiten einer theologischen Heidegger-Interpretation«, in: H.-J. Höhn (Hg.), Theologie, die an der Zeit ist. Paderborn 1992, S. 81 ff. Siehe zu den Hintergründen F. Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters. München 2018, S. 320 ff.
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»figmenta« und »privationes«. Auch in ihren Variationen und Fiktionen ist das Bewusstsein intentional auf Gegenständlichkeit gerichtet. Ein eigenes Kapitel widmet Heidegger dem Zusammenhang von Sprache und Bedeutung. Im eidetischen Reich des Geltens konstituiert sich das Logische vor und außerhalb der Sprache. Es ist gerade nicht auf sprachliche Handlungen und Manifestationen angewiesen (289 ff.). Soweit würde wiederum die Übereinstimmung mit Frege oder dem frühen Wittgenstein tragen. Heidegger fügt aber hinzu, in der Sprache manifestiere sich erst Bedeutung, wobei die sprachliche Bedeutungswahrheit auf dem Zeichencharakter von Sprache beruht (294 ff.). Auch damit wird ein bis in Heideggers spätestes Denken leitendes Motiv erstmals angedeutet: Dass Sprache ›Zeige[n]‹ und als solches Aufweisung des Seienden ist. Als eminente Einsicht erkennt Heidegger dabei, dass Bedeutung bei Duns Scotus von Realitäten abgelöst ist (301), dass es ihr völlig fremd ist, überhaupt zu existieren (301). Der Bedeutungsbereich hat, anders als der logische Urteilsbereich, eine Freiheit gegenüber dem »Leistungssinn der Stellungnahme« (301). Unthematisiert schwingt hier der Gedanke mit, dass Bedeutung allererst den Schritt der phänomenologischen Epoché ermöglicht, die sich in ihrer freischwebenden Aufmerksamkeit von der Generalthesis, der Annahme eines Bezugs des Seienden auf eine bestimmte Existenznorm lösen kann. Bei allen erkennbaren Hinweisen auf spätere Denkmotive ist doch auch die Differenz unverkennbar: Während der spätere Heidegger den Zugriff der Logik wiederholt abwertete und betonte, dass die sich eröffnende Wahrheit des Seins sich der Logik entziehe und während er in seinen wiederholten denklogischen Kollegs die Logik an ihre Grenzen und über sie hinaustrieb: Auf den lógos als Frage nach der Wahrheit, akzentuiert Heidegger hier eine gleichberechtigte Korrelation von Logik und Bedeutung, aus der sich allmählich der Primat der Bedeutung herauskristallisiert. Bedeutung wird durch den Akt selbst gegenständlich und geformt (309). Nicht nur die Enthaltung gegenüber Realitätsurteilen lässt in Heideggers Rekonstruktion die Bedeutungslehre zu einer Präformation der Phänomenologie, und das heißt seinerzeit auch: einer sachlichen, weitgehend unvoreingenommenen Philosophie, werden. Er sieht in ihr auch die noetischnoematische Korrelation vorgebildet: den grundlegenden Sachverhalt, dass jedem noetischen Akt ein Noema (ein Gegenstand) zugeordnet ist (311 ff.). Durchgehend differenziert Heidegger dabei in detaillierten In52
Logische Form und vortheoretisches Leben
terpretationen Was, Dass und Wie-sein. Bedeutungen, die sich im Aktcharakter der Sprache einstellen und artikulieren, differenzieren sich nach diesen Hinsichten: »Die Bedeutungsideen sind die Gestaltideen der möglichen konkreten Bedeutungen« (323). Je nach der Ausrichtung der Bedeutung und der intentionalen Einstellung differenziert sich die Perzeption der Gegenstände. Die konkrete Formenlehre der Bedeutung umfasst Nomen, Pronomen, Verb und Adverb: Heideggers detailreiche Bestimmungen und Beobachtungen können hier nicht im Einzelnen rekonstruiert werden. Geäußert werden kann aber die Vermutung, dass die differenzierte logische Semantik von Duns Scotus Heidegger auch hilft, in hoher Flexibilität etwas zu denken, was er wenige Jahre später »Kategorien der Existenz« nennt: Die verbalisierte, temporal dynamische Ausrichtung seiner frühen Kategorienlehre und die relationale Konzeption seines frühen Denkens ist zunächst nicht nur von Aristoteles, sondern auch von der Beschäftigung mit Duns Scotus inspiriert. Von philosophischer Bedeutung ist insbesondere der Befund, dass ›ens‹ (Seiendes) und ›est‹ (das Ist) wesensverschieden sind, obwohl sie semantisch dasselbe zu bedeuten scheinen (382). Die Wesensverschiedenheit äußert sich darin, dass im Urteil »das Subjekt als Materie, das Prädikat als Form zu betrachten« ist (382), was Heidegger in unmittelbare Verbindung mit Einsichten von Emil Lask bringt. 11 Ähnlich bringt er Duns Scotus, einen von ihm durchgängig mit höchstem, systematisch begründetem Respekt behandelten Denker, nun ansatzweise in Verbindung mit Hegel’schen Einsichten, die er wenige Jahre zuvor noch rundweg verworfen hatte: Die pronominalen, auf Einzelnes (Diese, Jenes) bezogenen Aussagen sind selbst ein Allgemeines. Einbezogen ist in dieses Kategorienraster auch das Ich: »Dieses auch wenn es sinnlich ist, Hier, Jetzt. Ebenso wenn ich sage Ich, meine ich Mich als diesen alle Anderen ausschließenden, aber was ich sage, Ich, ist eben jeder« (380 f.). 12 Das Schlusskapitel der Habilitationsschrift wurde später für die Drucklegung eingefügt. Die starke Betonung der Lebensbedeutsamkeit der Kategorien lässt diesen Passus wie ein membrum disiectum erscheinen. Auf die Unentschiedenheit und Mehrstimmigkeit des Ansatzes wurde bereits hingewiesen. Auffällig ist, dass, ohne dass Vgl. vor allem E. Lask, Die Lehre vom Urteil. 1912, S. 58. Heidegger bezieht sich auf G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, ed Lasson, Hamburg 1911, S. 55 ff. 11 12
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sich Heidegger um eine Integration der Perspektiven bemühen würde, Philosophie in den weiteren Bezugsrahmen von Weltanschauung eingefügt wird, eine Vermischung, der Heidegger schon in seinen ersten Nachkriegsvorlesungen nach 1918 deutlich widersprechen wird und eigentlich hier schon widersprechen könnte. Beste Voraussetzungen dazu hatte er, da er so konsequent auf das eidetische Reich des Logischen orientiert war. 13 Eine Abweichung gegenüber der Dissertation ist erkennbar und begründet die Vermutung, dass Heidegger über diesen Punkt in eine intensive Nachdenklichkeit kam, bedingt vielleicht durch die ›Haecceitas‹ bei Duns Scotus. Er folgt in dem Schlusskapitel gerade keinem logischen Objektivismus, sondern plädiert für die »Hineinstellung des Kategorienproblems in das Urteils- und Subjektivitätsproblem« (401). Gegebenheit sei als erkannte Gegebenheit immer auf die fundamentalen Strukturen von Subjektivität bezogen. Zwar betont Heidegger das Problem der »immanenten und transeunten (›außerhalb des Denkens‹ liegenden) Geltung der Kategorien« (404). Doch dieser Bezug könne sinnvoll nur im Licht des subjektiven Gebrauchs von Logik hergestellt werden. Er führe also zu einem Changieren zwischen Immanenz und Transzendenz. Eine später bei Heidegger in den Vordergrund tretende Abwehr des Subjektivitätsbegriffs und seine Ersetzung durch die Rede vom ›Dasein‹ ist in diesem Argumentationszusammenhang noch keineswegs erkennbar. Man kann sich im Blick auf den frühen Heidegger fragen, ob dieser Schritt der starken Abwehr von Subjektivität wirklich zwingend war. Eine Theorie von Subjektivität oder gar eine angemessene Aufnahme der Transzendentalphilosophie findet sich in diesen frühen Texten nicht. Es finden sich aber auch keine Indizien, dass ein solcher Weg abgeschnitten gewesen wäre. Deshalb sei immerhin die Frage erlaubt, wie sich Heideggers Denkweg verändert hätte, wenn er länger und konsequenter dem Korrelationsapriori gefolgt wäre? In Sein und Zeit wird Heidegger mit dem ›in der Welt seienden Dasein‹ ein Gegenbild zur Cartesischen und Cartesianischen Subjektivität entwickeln. Wie stark die Gegenbildlichkeit ist, wird später, in der holistischen Wendung, die zum Sein selbst führt, immer klarer. 14 Von diesem Ansatzpunkt bleibt Heidegger geprägt, als er bis zu seinem Kant-Buch die Frage der transzendentalen Deduktion und die Subjektivitätsstruktur gegenüber der logischen Apodiktizität in den Hintergrund treten lässt. 14 Vgl. vorliegende Monographie weiter unten Zweiter Teil, VI. Kapitel. 13
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Mit dem Ende der Habilitationsschrift waren konkrete Schritte in diese Richtung jedenfalls noch nicht vorgezeichnet. Dass »Hegel« das letzte Wort der Monographie ist, ist vermutlich nicht nur zufällig. Es verweist in einen Bereich, der weder in Rickerts Neukantianismus noch in Husserls Phänomenologie vorgezeichnet ist. Es ist die Gegenständlichkeit des Gegenständlichen, die auf die Frage nach dem Sinn von Sein und dem Seinsverstehen verweist. * Heideggers Antrittsvorlesung vom 27. Juli 1915 widmet sich der Frage nach der Zeit, also einem Topos, der in der Habilitationsschrift nicht nur unthematisiert geblieben, sondern ausdrücklich ausgeklammert worden war. Physikalische Zeit und die gegliedert-geordnete Zeit der Mathematik werden einander gegenübergestellt. Heideggers knappe Bestandsaufnahme des naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs legt einen Querschnitt von Galilei bis Einstein und Max Planck: Heidegger konstatiert dabei, dass »Gegenstand der Physik […] die Gesetzlichkeit der Bewegung« (421) sei; Zeit werde nur funktional, nicht ihrem Wesens-Was nach bestimmt. Ihre zentrale Funktion sei es »Messung zu ermöglichen« (423). Auch das revolutionierende Novum der Relativitätstheorie, so expliziert Heidegger weiter, bleibe in diesem Rahmen. Es begrenze sich auf das Problem der »Zeitmessung«, nicht der Zeit an und für sich. Die nicht-euklidische, also (mehr als dreidimensionale) Geometrie bringe Zeit als vierte Dimension neben dem Raum zur Darstellung. Aufgrund dieser Zuordnung von Zeit zu den Dimensionen werde der »homogene, quantitativ bestimmbare […] Charakter« (424) der Zeit treffsicher erkannt. Die Probevorlesung weist den jungen Heidegger als präzisen Kenner der avanciertesten physikalischen Theoriebildungen aus; eine spezifische Kompetenz, die er mit seinem späteren Antipoden Ernst Cassirer teilt. 15 Aus Gründen der Präzision hätte es nahegelegen, auch später nicht von dem wenig prägnanten Topos eines »vulgären Zeitbegriffs«, sondern eben von dem funktional-mathematischen zu sprechen, und davon den eigenen Ansatz abzuheben. Der didakti15 Vgl. E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. (erstmals 1910). Siehe auch H. Bredekamp und C. Wedepohl, Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch: Kepler als Schlüssel der Moderne. Wagenbach, Berlin 2015
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schen Übertreibung, die George Steiner zu Recht als Merkmal der späteren Heidegger’schen Texte benannte, 16 widersetzen sich solche Differenzierungen zwar, doch in der Sache würden sie den eigenen Denkansatz mitunter näher an das Feld philosophischer Sachklärungen heranführen. Mitunter begegnen beim frühen Heidegger Subtilitäten und, gut phänomenologisch, wertungsfreie Begriffsverwendungen, die später in eine Rhetorik der Seinserfahrung eingedampft werden. Der Leser kann darin auch einen Verlust erkennen. Zurück zur Struktur der Antrittsvorlesung: Heidegger kontrastiert das physikalische Zeitverständnis sodann mit dem Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft. Die historische Zeit folgt inneren Sinnstrukturen, die sich in Epochen abbilden lassen und zu Verdichtungen und Kristallisationen führen (431). Heidegger bietet hier eine eigenständige Variation auf die seinerzeit im Umkreis von Rickert viel diskutierten Korrelation zwischen den nomothetisch verfahrenden Naturwissenschaften und den idiographisch arbeitenden Kulturwissenschaften. 17 »Das Qualitative des historischen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation – einer in der Geschichte gegebenen Lebensobjektivation« (431). Dem bis heute unveränderten Genus der Probevorlesung und den einschlägigen Erwartungen einer großen Fakultät wird Heidegger gerecht, indem er eine sehr übersichtliche, aber wenig komplexe Darstellung bietet. Der naturwissenschaftliche und der kulturwissenschaftliche Annäherungsweg werden gerade nicht in eine Verschränkung bzw. Korrelation überführt oder gar dialektisch expliziert. Sie bleiben statisch nebeneinander geordnet, unverbunden und erweisen sich letztlich als disjunkte Gegensätze. Das Programm am Beginn der Vorlesung, das eine berechtigte erkenntniskritische Wendung der Philosophie konstatiert und darin auch eine »bald verdeckte, bald offen zutage tretende Tendenz zur Metaphysik« (415) konstatiert, die die wesentlichen philosophischen Fragen zu Ende denke, wird in dem Text nicht wirklich eingelöst. Das spekulative Motto von dem »Lese- und Lebensmeister Eckhart« verdichtet diese Spur, die Heidegger in dem präsentierten Diskurs nicht einzulösen vermag. »Zeit ist das, was sich wandelt und mannigfacht, G. Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung. München 1989, S. 25 f. Dazu das grundsätzliche Muster H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Stuttgart 1986; dazu heute auch V. Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften. München 2018.
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Ewigkeit hält sich einfach«. 18 Wer lesen kann, sieht darin die Problemanzeige eines Denkens, das der Zeithaftigkeit von Zeit selbst nachfragen und über den funktionalen und epistemologischen Zeitbegriff hinausgehen müsste. In der Antrittsvorlesung fällt aus der Rückschau auf, dass der ›eigentliche‹ Bereich zu einem Teil unthematisiert bleibt. * Hier ist knapp zu resümieren: Mit den frühen Publikationen, die in seinen ›Frühen Schriften‹ gesammelt sind, zeigt sich Heideggers frühes Denken an einem Scheideweg: Auf das Materie-Form-Problem, auf das er seinerzeit wiederholt zu sprechen kam, kann man Sujet und Methode seines frühen Denkens beziehen. Die Materie ist noch stark von der mittelalterlichen lingua franca katholischer Philosophie in ihrer aristotelisch-thomasischen Ontologie geprägt. Die Formgebung greift auf den Neueinsatz von Logik und Phänomenologie zurück. Dass sich Heidegger der anti-scholastischen Linie eines Duns Scotus besonders zuwandte, könnte auf die Verbindung hindeuten, in die für ihn beides, Materie und Form, zu bringen waren. Beschrieben ist damit eine Aufgabe, die erst später gelöst werden konnte. Heidegger gab später selbst wiederholte und eindrückliche Hinweise auf die Zusammenhänge, die seine Anfänge mit der späteren Denkarchitektur verbinden. Dabei ist zu erkennen, dass die eine, für Heidegger grundlegende Frage nach der Wahrheit des Seins sich früh andeutet, und nicht nur von Aristoteles’ pollachos legomenon, sondern auch von der logischen Rekonstruktion der Ontologie, im Licht des Duns Scotus, inspiriert ist. Deutlich wird auch, dass sich Heidegger nicht unmittelbar dem Problematon der Metaphysik widmet. Er konkretisiert eine indirekte, erkenntnistheoretische Annäherung, die die ontologische Problematik eher einklammert und die auf das Wesen des Seienden als Seienden, die Gegenständlichkeit der Gegenstände bezogen ist. Augenfällig ist auch, dass im Umkreis der Habilitationsschrift Husserls phänomenologische Konzeption präsenter ist als die Erkenntniskritik von Heideggers unmittelbarem Lehrer Heinrich Rickert. 19 18 Meister Eckhart, Deutsche Werke, Band II. hg. von J. Quint. Stuttgart 1971, S. 133 f. 19 Vgl. C. Strube (Hg.), Heidegger und der Neukantianismus. Würzburg 2009, pass.
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Eine hier anzudeutende Lektüre, die Andeutungen und Spuren zwischen den Zeilen folgt, vermag in der Frühphase implizite Ansätze zu ahnen, die später zu expliziten Denkbewegungen wurden. Sie wirft aber auch erstmals die in diesem Buch weiter beschäftigende Frage nach Seiten- und Nebenwegen auf, denen Heidegger hätte folgen können. Denkanfänge eröffnen immer Möglichkeitsräume. Heideggers Denken war von den Sinnlinien und Fragestellungen, die er verfolgte, zu einer Formgebung disponiert, die keinen geschlossenen Bau entwirft, sondern verschiedenen Wegrichtungen folgt. Sie kreist zwar um eine durchgehende Frage, die Frage nach dem Sinn von Sein und der Wahrheit des Seins, doch diese Frage war keineswegs nur auf einem einzigen Weg zu entwickeln. Diese Neigung nicht zum Werk, sondern zu Wegen, Exkursen und mitunter Abwegen ist freilich für eminente Philosophie duruchaus üblich. Man muss Heidegger ernstnehmen und zugleich fragen, ob die Wegbahn, die er wählte, die bestmögliche war, oder ob andere Wege zu mehr Klarheit und Sicherheit geführt hätten: freilich um welchen Preis?
2.
Aus dem Strudel des Ersten Weltkriegs: Die Anfänge des Philosophen
Gravitationsfelder seiner Zeit In seinen Privatdozentenvorlesungen und einigen Ausarbeitungen nach dem Ersten Weltkrieg wird Heidegger deutlicher als systematisch eigenständiger Denker erkennbar. Er lässt sich nicht auf Weltanschauungsphilosophie und Lebensphilosophie ein und folgt auch nicht Schul- und Standardproblemen der Phänomenologie. Vielmehr verfolgt er von Anfang an mit großer Konsequenz die eine, für ihn maßgebliche Frage nach dem Sein, als Frage nach dem Sinn von Sein ausgewiesen, ausgehend von dem Geheimnis des aristotelischen pollachos legomenon, der mannigfachen Bedeutung des Seins zwischen Vielheit und Einheit. Die Wege der klassischen Philosophie erschließt er sich erst im Horizont dieser Frage näher. Vor ihrer Folie liest er Kant, Augustinus, Platon und vertieft sich in die Philosophie der Zeitgenossen. Die Erschütterungen der zeitgeschichtlichen Umstände dürfen nicht übersehen werden. Die Öffentlichkeit, in die der junge Heideg58
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ger kam, war nicht in erster Linie die Öffentlichkeit der bürgerkriegsähnlichen Situationen und der Klassenkämpfe nach dem von Döblin beschriebenen November 1918. Es war ein Binnenraum, die kultivierte Publizität der deutschen Universität im Anschluss an die Zeit der großen Krise: eine Universität, in der hierarchische Strukturen vorgegeben waren, die sich noch von geheimrätlichen Ordinarien bestimmt zeigte, aber zugleich eine junge Generation hervorbrachte, die dem großen Sturm und den nachfolgenden Ideologien zuneigte. Institutionell und personell war es eine Institution, die Potenziale zu Regeneration und Neuformierung hatte. Dies zeigt sich in der Philosophie in besonderem Ausmaß: Husserl begründete mit einem durchaus epochalen Anspruch und sachlichen Pathos die Phänomenologie als Erste Philosophie neu; damit verband sich auch eine Abständigkeit gegenüber Weltanschauungen und Ideologien, wie sie in ähnlicher Weise Neukantianer wie Hermann Cohen oder Heinrich Rickert formulierten. 20 Die Geltung der Gedanken ging nicht in ihrer Genesis auf. Weder die Psychologie der Weltanschauungen noch eruptive Denker außerhalb der akademischen Zucht sollten das letzte Wort haben. Heideggers Zugehörigkeit zum akademisch-philosophischen Kulturraum verstand sich im Licht seiner Herkunft nicht von selbst. Er brachte eine radikale, an die Wurzel gehende Geste in seinen frühen Vorlesungen zum Ausdruck, die durch die Phänomenologie teilweise gedeckt war, in der aber auch Husserl selbst das Antipodische sehen musste. Dass Heidegger aber nicht nur in dem akademischen Bereich mit seinen breitgestreuten Kant-Gesellschaften und seinen von wenigen Ordinarien wie Natorp maßgeblich bestimmten Lehrstühlen reüssierte, sondern durch Sein und Zeit in kurzer Zeit, aus der Provinz kommend, die aber eben in der deutschen Ideengeschichte Bewegungsprinzip und Ort der eigentlichen Neuerungen ist, 21 zu einem Gesprächsgegenstand im allgemeinen Bewusstsein aufrückte und einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte, weit über die Philosophie hinaus, ist erstaunlich. Auf diese Weise wuchs ihm eine neue Dimension von Öffentlichkeit und Wirksamkeit zu, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielte: Einerseits auf der Ebene der europäischen Dazu H. Holzhey, Cohen und Natorp. 2 Bände. Basel 1986, insbes. Band 1, S. 32 ff. Dieses Phänomen hat mit der »verspäteten Nation« zu tun, die eben keine bindende Hauptstadt hat, sd. verschiedene Zentren. Vgl. klassisch H. Plessner, Die verspätete Nation. EA. Stuttgart 1959.
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philosophischen Avantgarden, nicht zuletzt der jungen jüdischen Eliten. Hannah Arendts schönes Wort vom »geheimen König im Reich des Geistes« 22 formuliert vortrefflich, welchen Ruf sich Heidegger schon durch eine faszinierende und nachdrückliche mündliche Lehre erworben hatte, ehe noch Sein und Zeit erschienen war. 23 Wenn Heidegger auch später beharrlich gegen Fehlrezeptionen anschreibt, auch im Zug seiner Selbstauseinandersetzungen, so dokumentieren doch gerade die Fehlinterpretationen, dass er binnen kurzem und in hohem Maß öffentliche Aufmerksamkeit fand, gehandelt neben den Schauspiel- und Theaterattraktionen der roaring twenties. Ein Philosoph, den man nicht lesen musste und in dessen frühem, mit einem noch jugendlichen Schwung verfassten Hauptwerk sich doch die Tendenzen der Zeit auf den Punkt gebracht sahen. Diese fast lyrisch-evokative Kraft macht jenes Werk zum Faszinosum, obwohl es zugleich in seiner transzendentalphilosophischen Kontur und seinen Destruktionen der metaphysischen Tradition eine philosophisch hochkomplexe Struktur aufweist. Die Lesbarkeit auf unterschiedlichen Ebenen ist erstaunlich. Gerade dies macht das Buch auch zu einem typischen Exempel der stereoskopischen, mehrstimmigen zwanziger Jahre. Demgegenüber sind die Vorwürfe des Missverstandenhabens arbiträr, die Heidegger seinen frühen Leserinnen und Lesern öffentlich und in privaten Briefwechseln machte: Auch das Missverstehen und Verlesen ist in der Verschränkung von parousia und apousía eine Form des Verstehens. Heidegger wies viele Lesarten seines Denkens mit Verve zurück, die existenzialistisch ontische oder die psychoanalytisch-anthropologische, die existentialistische und die nihilistische. Doch lagen sie nahe und waren auch in einer jahrzehntelangen Rezeptionsgeschichte nicht gänzlich in den Hintergrund zu drängen. Die Mehrdeutigkeit und Komplexität des Heidegger’schen Hauptwerks ist sui generis: auch wenn die Zeit in der es entstand, eine Zeit vielfacher Aufbrüche war: der neuen jüdischen intellektuellen Selbstbesinnung bei Martin Buber und Franz Rosenzweig, der protestantisch-theologischen Rückbesinnung auf die Macht der Offenbarung bei Karl Barth oder Emil Brunner, der Neugenerierung einer katholischen Weltanschau-
H. Arendt, »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: G. Neske und E. Kettering (Hgg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen 1988,S. 232 ff. 23 Dazu auch E. Lévinas, Bewunderung und Enttäuschung, in: ibid., S. 183 ff. 22
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ung bei Romano Guardini, der fulminanten marxistisch-messianischen Aufbrüche bei Bloch und Lukács. Die mehrdeutige Komplexität aber, das Spurenlegen und -verwischen Martin Heideggers hat kaum ein Pendant, nicht in Heideggers eigener Zeit und nicht in der philosophischen Geschichte der Moderne. Sie erinnert, auch in der Rezeptionsgeschichte, an die Findlinge aus anderen künstlerischen Genera, die Unabgeschlossenheit des Torso, die zur eigenen Form wird. Sein und Zeit gab so viele Rätsel auf wie Kafkas Erzählungen und Rilkes Gedichte, wie Mahlers Symphonien oder die Freud’sche Seelenlehre. Auch innerhalb dieser Kontexte kann und sollte Heideggers Denken wahrgenommen werden: Als philosophischer Teil einer umfassenden Moderne, die an Innovationskraft und Verzweiflung mit der Romantik konkurrieren kann. Dies galt cum grano salis für die Phänomenologie insgesamt, doch war Husserls Aufbruch immer stärker auf das Feld unendlicher Detailuntersuchungen angelegt, während Heidegger wie eine Eruption wirkte: Es ist das Phänomen Heidegger, dass die Bruchlinien der Zeit bei ihm zusammenlaufen, eine Reduktion auf einen einheitlichen Subtext aber schlechterdings in die Irre führt. Heideggers Dynamik des Fragens entwickelt keine obsolete Systematik. Sie ist selbst changierend, wechselhaft, im Duktus sprengt sie, als sie öffentlich wird, das akademisch-universitäre Feld auf. Als Heidegger seine Qualifikationsschriften abgeschlossen hatte, wurde er mit den frühen Vorlesungen der Freiburger Privatdozentenzeit sehr schnell als Denker eigenen Charakters und sui generis erkennbar. Was Publikationen anging, übte er fast ein Jahrzehnt lang eine große Askese und Zurückhaltung. Eine Promotions- und eine Habilitationsschrift lagen hinter ihm, die durchaus bereits an markanten Punkten die Herauslösung aus der philosophischen Sprache seiner Zeit erkennen ließen und, wie wir sahen, den Kanon der Betreuer Braig und Rickert durch ein unverkennbar phänomenologisches Profil erweiterten. Textuell geschickt einkomponierte Ausblicke auf Hegel und die Frühromantik ließen ein weiter gefasstes Terrain erahnen. Die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war angesichts aller Erschütterungen günstig für grundsätzliche Neutarierungen und dafür, Fragen von hoher und grundsätzlicher Relevanz aufzuwerfen. Dahin gehörte auch die Frage nach der ›Bestimmung der Philosophie‹, was sie ihrem Wesen und ihrem Anfang nach sei. Hei61
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degger trägt, zunächst in der überschaubaren Öffentlichkeit des Hörsaals, zu diesen Fragen bei. Immer klarer sind die Prägungen der Husserl’schen Phänomenologie zu erkennen, zugleich aber der Neueinsatz. So entwickelt Heidegger die Idee der Philosophie als einer Urwissenschaft und betont nachdrücklich, dass der Philosoph eine »wissenschaftliche Geisteshaltung« (GA 56/57, 23) ausbilden müsse. Diese Haltung wird eindeutig gegenüber der seinerzeit omnipräsenten Weltanschauungslehre eingeführt. Mehr als jede Philosophiegeschichte evoziert Thomas Manns Zauberberg diese Kumulierungen und Überlagerungen von Weltanschauung, zwischen dem Humanisten Settembrini und dem obskurantischen und zugleich revolutionären Gegenpart Naphta. Dass eine solche Szenerie im Duell enden muss, ist kein Zufall. Eine Philosophie aber, die sich ihrem Ursinn nach als Phänomenologie erweist, ist mit Weltanschauung schlechterdings nicht vereinbar. Dies betont Heidegger jedenfalls immer wieder. Kaum jemand außer Husserl konstatierte in jenen Jahren, in denen sich Weltanschauungen im Wirbel der Zeitereignisse ballten und die geistige Signatur der Zeit prägten, den nicht-philosophischen Charakter von Weltanschauungen in dieser Klarheit. Dass Heidegger das apodiktische Urteil aber auch immer wieder aufbrach, und auf die Omnitudo realitatis vertiefte, zeigt, dass er die unzureichenden Weltanschauungsanalysen auch als Vorgriff auf den Weltbegriff der Philosophie versteht. Weltanschauung sei überhaupt keine Aufgabe der Philosophie, auch nicht als Grenzphänomen. 24 Soweit bewegt sich Heideggers Ansatz noch ganz in der Linie von Husserl. Umgekehrt wird, in einer von Husserls Gestus abweichenden Dialektik oder Zweideutigkeit aber auch eine Identität von Weltanschauung und Philosophie behauptet. Denn die großen Philosophien der Vergangenheit führten zu Abschlussgedanken, die das Ganze und Letzte aufnehmen. Sie evozieren einen metaphysischen Grund, der Welt in einer bestimmten Erkenntnisform wahrnehmen lässt. Offensichtlich sind die beiden dabei verwendeten Weltanschauungsbegriffe nicht identisch. Doch
Dies ist eine deutliche Abgrenzung gegenüber den existenzialistischen Implikationen von Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, vgl. dazu Heidegger, GA 9, S. 1– 45. Vgl. ferner den Aufsatz R. Mehring, »Heidegger und Karl Jaspers.Zerfall einer ›Kampfgemeinschaft‹«, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2005, S. 337 ff.
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auch die zweite, philosophisch strukturierte Form von Weltanschauung würde Heidegger gerade nicht mit der Radikalität phjilosophischen Fragens identifizieren. Sie scheint obsolet, und bildet Gehäuse, die es zu destruieren gilt. In der zeitlichen Umbruchsituation mit dem Ende des Ersten Weltkriegs erhebt Heidegger zugleich mit der Neubegründung der Philosophie auch die Forderung einer neuen Ordnung und Geformtheit von Institutionen. Allem voran gilt dies für die Universität. Sie soll Ort strenger sachlicher Forschung und zugleich eines neuen Konzeptes von Bildung sein: Die Physiognomik des wissenschaftlichen Menschen und der existenzielle Appell zur Verwesentlichung (5) sind eng benachbart, womit alle Elemente in einer originären Klarheit gegeben sind, die Heidegger 1933 in der Rektoratsrede wiederholen wird, allerdings in einer, mit Thomas Mann gesagt, »verhunzten« Form, die der Annäherung an die NS-Ideologie geschuldet ist 25 und frei von dem konkretisierten philosophischen Aufbruch in der Frühzeit.
Der Denkansatz: Konturen der Einen Frage nach dem Sein der Phänomene Philosophie ist für Heidegger gleichsam die ›Urwissenschaft‹ der universitas litterarum. Sie ist selbst auf die Gewinnung von Ideen und eidetischer Apodiktitzität konzentriert. Philosophisches Denken ist dabei in eine Zirkularität einbezogen. Es muss »in gewisser Hinsicht« bereits wissenschaftlich fundiert sein, 26 um seinerseits wieder fundierend wirken zu können. Eine lineare Letztbegründung schließt Heidegger aus; vielmehr neigt er dazu, Wiederholungen, Itinerationen als charakteristisch für den einkreisenden Gestus der Philosophie zu erkennen. Er kommt immer wieder auf die zyklische Struktur der philosophischen Sphäre zurück. Wenn der Standpunkt einmal eingenommen wurde, so zeige die phänomenologische Methode »ihre Zu dieser Perversionsanzeige klassisch Th. Mann, »Bruder Hitler«, in: ders., Schriften zur Politik. Frankfurt/Main 1970, S. 136 ff. Dazu jetzt R. Mehring, Thomas Manns philosophische Dichtung. Vom Grund und Zweck eines Projekts. Freiburg/Br., München 2019. 26 Seiendes wird hier immer auf seine modalen Manifestationen, seinen pros ti-Charakter befragt. Vgl. H.-G. Gadamer, »Vorgestalten der Reflexion (1966)«, in: Gadamer, Gesammelte Werke Band 6. Griechische Philosophie II. Tübingen 1985, S. 116 ff. 25
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gleichsam schöpferische Enthüllung von neuen Problemsphären« (16). Auch die Geschichte der Philosophie konstituiert sich für Heidegger erst im Licht dieser phänomenologischen Eigenheitssphäre, womit er über die Husserl’sche im Wesentlichen ahistorische Tektonik deutlich hinausgeht. Der eidetische Blick ist für den frühen Heidegger Ausgangspunkt der urwissenschaftlichen Methode. Er nimmt in der programmatischen Vorlesung der ersten Nachkriegszeit nach 1918 allerdings Rickerts Wertphilosophie, in Verbindung mit Windelband und Lotze, stärker in den Blick als Husserl. Einige Spuren, die in den Qualifikationsschriften angedeutet waren, werden vertieft. Ähnlich wie in Dissertation und Habilitation können hier bereits entscheidende Eigenheiten des späteren Heidegger’schen Denkens sichtbar werden; vor allem der Vorrang des welt- und bedeutungshaften Denkens vor einem nur theoretischen Zugriff. Dies wird vordergründig noch in der Begrifflichkeit der Wertphilosophie expliziert. Das Grundphänomen von Theorie, das auf »Wahrsein« führt, wird programmatisch gegenüber dem Wertnehmen als ein bloß theoretisches Verhalten expliziert. Im Wahrsein bleibe ich außerhalb der verifizierten oder falsifizierten Sachverhalte, während dagegen das Wertnehmen mir etwas antut: »es dringt in mich ein« (49). Wahrheit wird dabei zwar als propositionale Satzwahrheit expliziert. Es deutet sich aber, in den knappen Ausführungen, schon der Blick auf ein die Propositionalität von Sätzen aufsprengendes Verhalten zum Wahrsein an. Heidegger setzt sich in diesem frühen, für seine philosophische Klärung wichtigen Kolleg mit der psychologischen Problematik und ihrer Objektsphäre ausgiebig auseinander. Er weist den Diskurs der zeitgenössischen Philosophie und ihrer Abarbeitung am Psychologismus keineswegs zurück. Doch Bedeutung hat dieser Diskurs in seinen Vorlesungen nur in einem vorletzten Sinn. Denn mit Husserl weiß Heidegger, dass die Gegebenheit von Phänomenen in einem Bewusstsein nicht auf psychologische Zusammenhänge reduzierbar ist. Erstaunlicherweise zeichnen sich im zweiten Teil des Kollegs bereits, in einer noch ganz der Diskurslage um 1918 verpflichteten Form, Einsichten ab, die für Heideggers späteres Denken zentral sein sollten: Wertlehre und -axiomatik verlagern sich, sodass sich eine Wegkreuzung ergibt, an der, wie er notiert, »über Leben und Tod der Philosophie überhaupt« entschieden wird (63). Darin manifestiert sich eine strikte Bifurkation: Entweder in den Abgrund, das Nichts, das Heidegger hier mit der Reduktion der metaphysischen Fragen in eine 64
Aus dem Strudel des Ersten Weltkriegs: Die Anfänge des Philosophen
äußerste Neutralität und Sachlichkeit gleichsetzt, oder »in Welt« (62). An dieser Stelle klafft eine Differenz auf, an der Heidegger bis in sein spätes Denken hinein die Distanz etwa gegen den ›Logischen Positivismus‹ Carnaps aufrechterhalten wird. Die Fragen nach Sein wird in der frühen programmatischen Phänomenologievorlesung erstmals auf die Verbalform ›Es gibt‹ hin rekonstruiert. Diese erweist sich protologisch als Frage nach Sein, nicht nach Seiendem. Denn sie führt immer über die konkrete Intentionalität eines ›Etwas‹ (Es gibt x) hinaus (68 ff.). Auf den wenigen einschlägigen Seiten werden diese Gedanken an der Fragestruktur verdeutlicht, genauer, am Erlebnis des Fragevollzugs. Dass das Erlebnis »außerhalb« ist, die Thesis des Ich in den Hintergrund tritt und das, was »es gibt« gerade nicht das Ich selbst ist, deutet Heidegger bereits in seiner frühen expliziten Absetzung von Husserls Egologie an. Ebenso wird zwischen den Zeilen aber deutlich, wie stark die Husserl’sche Suche nach einer eidetischen Begründung der Urwissenschaft Heideggers Untersuchungsbewegung in Atem hält. Aus Heideggers Sicht war die innerphänomenologische Debatte mit Husserl lange Zeit alles, nur kein Antipodenverhältnis. 27 Er wusste sich zu Recht, bei aller Revolution seines Denkens noch am Ende in Husserls Schuld: Die Husserl’sche Urwissenschaft brachte ihn erst auf die eigene Bahn. Dass in diesen frühen Explikationen bereits eine Analyse der Umwelt exponiert und dass der Bewandtniszusammenhang von Welt am »Kathederbeispiel« angezeigt wird, 28 der phänomenologischen Analyse der Weise, wie das Katheder gegeben ist, gehört ebenso in den frühen Echoraum, der für die Faszinationsgeschichte Heideggers wichtig ist, wie die Rückführung – oder ›destruierende‹ Lesart des »Umwelterlebnisses« auf das »Ereignis«. Diese erste Nennung eines der wichtigsten und prominentesten späteren Heidegger’schen Topoi
Vgl. zu dieser odiumhaften Beurteilung Husserls: Chr. Jamme, »Eine Urlaubslektüre und ihre Folgen: Husserl liest Heidegger«, in: Heidegger-Jahrbuch Band 6: Heidegger und Husserl. Freiburg/München 2012, S. 218 ff. und ibid., H. R. Sepp, »Husserl, Heidegger und die Differenz«, in: ibid., S. 233 ff. Ferner den Sammelband G. Figal und H.-Gander (Hg.), Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven. Frankfurt/ Main 2009, darin insbes. Figal, Phänomenologie und Ontologie, ibid., S. 9 ff. 28 Das Beispiel von dem Katheder, dessen Wesen sich erst aus der Brechung der verschiedenen Hinsichten aufweisen lässt. Die Einheit und Ganzheit der Zeitlichkeit im Bewusstseinsstrom ist davon aber nicht betroffen. 27
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ist sehr knapp gehalten. Sie nimmt nur einige wenige Zeilen ein. Darin werden Grenze und Sinn des frühen Ereignisgedankens allerdings recht spezifisch auf den Horizont des Phänomenologen als Subjekt hin thematisiert: »es ist ein Erlebnis eigens für mich, und so sehe ich es auch; es ist aber kein Vorgang, sondern ein Ereignis (Nicht-Vorgang, im Frageerlebnis ein Rest von Ereignis)« (75), und einige Zeilen später, noch tastend, aber intuitiv schon die wesentliche grammatikalisch semantische Struktur von Korrespondenz fassend, »ich selbst er-eigne es mir, und es er-eignet sich meinem Wesen nach« (75). Damit soll selbstverständlich keineswegs behauptet sein, dass der elaborierte Einsatz bei der Kehre und dem Ereignis nach Sein und Zeit hier bereits präfiguiert wären. Wohl aber verfügt Heidegger aus seiner Frühzeit bereits über ein andeutungsweises Begriffsinstrumentarium, in das die späteren Gehalte eingetragen werden konnten und das einer Erweiterung zugänglich war, die erst nach Jahrzehnten und nach dem Weg von Sein und Zeit aufgenommen wurde. Dass ein solches ›Verfügen‹ eher unthematisch und implizit vorzustellen ist, versteht sich von selbst. In welche Richtung Heidegger hätte gehen können, wenn nicht in jene, die er tatsächlich wählte, ist in einem sinnenden Phantasieren vielleicht zu ahnen, aber nicht zu fixieren: Immerhin deutet sich an, dass der Heidegger’sche Weg auch über die verstärkt sprachliche Analyse von Fragestruktur, Erkenntnis und Weltzugang hätte angebahnt werden können, und dass die Topologie des anderen Anfangs alles andere als eine zufällige Erfindung ist. Heidegger analysiert vor diesem Hintergrund die Voraussetzungsstruktur von Erkenntnis, er thematisiert, dass in dem »Voraus« ein Ordnungszusammenhang gewonnen werden kann, der eine Gesamtordnung von Dingen und Sachverhalten ergibt. Die Urwissenschaft führt allerdings über diese epistemologische Ordnung der Dinge noch hinaus und hinter ihre Vorprägungen zurück. Deshalb versteht Heidegger sie als »vortheoretisch«. Dass die Erkenntnisproblematik primär theoretisch angesetzt wird, schließt ein, dass die Grundgebung der Erkenntnis exterritorial zu der ausgebildeten Epistemologie zu sehen ist. Damit verbindet sich die prinzipielle Frage nach dem Ausgangspunkt der Theoriebildung. Heidegger weist in diesem Zusammenhang noch einmal nachdrücklich auf Emil Lask hin (88), den Einzigen, der den Zusammenhang von Theoriebildung und phänomenologischer Begründung »gesehen« habe. Eine Affinität zu den philosophischen Linien jener Zeit ist dadurch hergestellt, 66
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dass auch Ernst Bloch 29 seinerzeit Lask, der im Ersten Weltkrieg gefallen war, als den »sehenden Mann« bezeichnete. Denn Bloch erkannte ebenso wie Heidegger, dass Theorie selbst in einem Zirkel gefangen bleibt, aus dem sie sich als Theorie nicht lösen kann. Wenn, wie Heidegger es hier tut, die Dimension einer »Urwissenschaft« berührt sein soll, dann muss sie paradoxerweise in einem Feld ansetzen, das noch nicht Teil von Theorie und Wert-axiomatik ist. Dies führt nach Heideggers eigener Evokation in eine grundlegende Auseinandersetzung mit einer teleologischen Erkenntniskonzeption, einem Systemzusammenhang, der das »Außerhalb« gar nicht zulässt. Als dessen Paradigma wird hier, wie so oft, Hegels Philosophie benannt. Tatsächlich richtet sich die Kritik aber gegen den Ansatz einer Geschlossenheit der deskriptiven Phänomenologie und damit gegen Husserl, insbesondere gegen dessen Aussage, dass sich die phänomenologische Methode, ungeachtet der transzendentalen Epoché in einer Reflexionsbewegung vollziehe, in der rekurrierend »der Strahl des Scheinwerfers diesen selbst und seinen ersten Strahl absucht« (99). Das Erlebnis bzw. der Erlebniszusammenhang, auf den sich der phänomenologische Blickstrahl richtet, wird von Heidegger als Objektivierung, bzw. Reifizierung bestimmt. Mit Paul Natorp gesprochen, werde damit der »Strom stillgestellt« (101). Die theoretischen Voraussetzungen phänomenologischer Arbeit können aber grundsätzlich gerade nicht extern beobachtet werden. Die fundamentale Kritik am Denkansatz der Husserl’schen Phänomenologie ist schon in den frühen programmatischen Vorlesungen Heideggers unverkennbar: Sie beruhe auf einer Korrelation zweier Denkgeschehnissabläufe, zwischen Objektivierung und Subjektivierung. Die Fundamentalgleichung des Bewusstseins, 30 die später eine Achse in Heideggers Kant-Auseinandersetzung sein wird und die er hier auch auf Natorp und dessen Rekonstruktion der Platonischen Idee als »syllabein eis hen« bezieht, 31 werde in der Husserl’schen PhäM. Riedel, Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung. Frankfurt/Main 1994, S. 35 ff., siehe auch zu den Grundprägungen Blochs H. Gekle, Der Fall des Philosophen. Eine Archäologie des Denkens am Beispiel von Ernst Bloch. Frankfurt/Main 2019. 30 Dazu jetzt: D. O. Dahlstrom, »Husserl and Heidegger on Bedeutung«, in: Heidegger-Jahrbuch 6, a. a. O., S. 200 ff., sowie ibid., S. 9–41 den Dokumentationsteil: Der Briefwechsel zwischen Martin Heidgger und Edmund Husserl. 31 Dazu P. Natorp, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Hamburg 1994. 29
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nomenologie fixiert, sodass das ursprüngliche in-der-Welt-sein verfehlt werden müsse. Damit ist bereits in diesem frühen Vorlesungszusammenhang aus Heideggers Sicht die Bruchstelle zwischen Husserl und Heidegger markiert und es zeichnet sich ab, dass Heidegger die Husserl’sche Phänomenologie im neuzeitlichen Subjektivitätsdenken situiert, in dem Subjektivität und Objektivität gegeneinander konstruiert würden. Dem Natorp’schen Einwand, dass eben aus einer reflexiven Theoretisierung die Unmittelbarkeit gerade nicht gewonnen werden könne, schließt sich Heidegger an. Doch er gibt auch wieder Husserl gegenüber Natorp und anderen Kritikern recht: Sie erfassen den Ansatzpunkt der Phänomenologie nicht. Denn sie erreichen nicht die ›Standpunktlosigkeit‹ (109), das Absehen von einem jeden Standpunkt, das für die Husserl’sche Phänomenologie der Dreh- und Angelpunkt ist. Die phänomenologische Urintuition wird daher mit einer, angesichts der Radikalität der Absage erstaunlichen Nachdrücklichkeit bekräftigt (110): In diesem Grundcharakter einer basal fundamentalen Sympathie mit dem Gesamtzusammenhang des Lebens gründe überhaupt erst die Strenge der Phänomenologie und auch ihre Methodizität. Damit wurzelt sie, wenn sie konsequent der Sache nach verstanden ist, konsequenter, als dies bei Husserl geschieht, in einem Bereich jenseits der Muster von Subjektivität und Theorie. Zwischen dem lebendigen, vortheoretischen Lebenszusammenhang und der Erkennbarkeit müssen sich Stufen der Entlebung einschreiben. Die Konturen des vortheoretischen am-Leben-seins und in-der-Welt-seins werden nicht näher bestimmt. Es wird aber verdeutlicht, dass das »Etwas der Lebendigkeit« grundlegend vom ›Etwas der Erkennbarkeit‹ zu unterscheiden ist. Eben hier trägt Heidegger in den phänomenologischen Grundriss eine hermeneutische Intuition ein; und in dieser Lesart macht er sich ihre Urintuition zu eigen. Der Text ist zu abbreviativ und knapp, als dass eine wohlbestimmte Relationierung der Momente von Zustimmung und von Ablehnung möglich wäre. Allerdings wird deutlich, dass die vortheoretische Urwissenschaft sich nur im gleitenden Zusammenhang von Phänomenologie und Hermeneutik erschließt. Diese hermeneutische Linienziehung ist in dem Kolleg vom Sommersemester 1919 Die Bestimmung der Philosophie weiter ausgeführt. Es ist konventioneller angelegt, hat stärkeren Referatcharakter und ist an den kulturtheoretischen und historistischen Diskursen der Zeit orientiert. Heidegger verfolgt auf diesem Weg die Grundlegungsproblematik, die dem Neukantianismus und dem phänome68
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nologischen Neueinsatz gemeinsam war, und geht insbesondere dem phänomenologischen Grundsatz, dem »Prinzip der Prinzipien« nach. Es ist vor allem der normative Charakter der Philosophie, die dabei gegenüber dem zeitgenössischen Historismus in den Fokus gerückt wird. Heidegger greift insbesondere auf Windelbands apophatische Urteilslehre und die Differenz zwischen ›Urteil‹ und ›Beurteilung‹ zurück, die auf Brentano verweist. Während das Urteilsprädikat eine fixierte (theoretische) Bestimmung sei, sei die Beurteilung praktischprädikativ. Beurteilung impliziert immer eine praktische Beziehung des Bewusstseins auf den Gegenstand (GA 56/57, 151 f.). Die Differenz zwischen der theoretischen und der praktischen Seite wird noch einmal deutlich expliziert. Heidegger verknüpft sie nun aber nicht mehr mit der urwissenschaftlichen Problematik. Es sind eher die einzelnen philosophischen Topoi der geistigen Situation der Zeit, einschließlich Diltheys Denkansatz und des Historismus, die im Licht der Theorie-Praxis-Relation evoziert werden. Die Frage, welchen Weg Heidegger im Einzelnen selbst gehen würde, bleibt in der Auseinandersetzung, die primär wiederum mit Rickert, sekundär mit Husserl geführt wird, noch weitgehend offen. Dass das Urteilen, das Stellungnehmen zu Werten nicht nur für die Ethik maßgeblich ist, sondern auch für die Theorie, hält Heidegger fest. Durchaus hätte von hier eine Denkbewegung ausgehen können, die von der Axiologie des Urteils aus eine theoretische Konzeption des faktischen Urteilens entwickelt hätte. Keineswegs ist in dem frühen Nachkriegskolleg ein Vorrang des Praktischen vor dem Theoretischen schon klar umrissen. Heideggers Augenmerk scheint eher dem Theoretischen zu gelten, dessen Voraussetzungen er aber freizulegen versucht. Es fehlt die Explikation des Urteilsvollzugs, der wenig später an Aristoteles und einer vertiefenden Ausfigurierung der arché-Forschung orientiert werden sollte. Man kann an der Debatte mit Rickert erkennen, dass Heidegger aus guten Gründen den axiologisch-wertetheoretischen und damit auch ethischen Weg nicht ging. Dieser Zugang erschien ihm schlicht als zu dogmatisch und fixierend. Vielleicht hätte er einen werttheoretischen Weg gewählt, wenn dieser aus dem vortheoretischen Bereich heraus entwickelt worden wäre. Insbesondere ist es die Orientierung der Philosophie auf eine ›reine Wertlehre‹, vor allem die Interpretation von Wahrheit als Wert, die Heidegger unbefriedigt zurücklässt. Rickert habe nie begründen können, dass Wahrheit werthaft sei. Indem Rickert zwischen 69
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Seins- und Wertbegriff unterscheidet und als Kriterium die Negation wählt, fasst er Heidegger zufolge das Sinnphänomen zwar in den Blick. Doch er versteht Sinn nicht als mit dem Leben mitgehende Sinnrichtung, in der sich dieses Leben selbst auslegt. Sinn sei bei Rickert eine erst zu begründende Entität, die sich über Abstraktionen erschließe. Entwickelt wird in dieser und den anderen frühen Vorlesungen Heideggers die Vorgeschichte, vor der sich Sein und Zeit als eigenständiger Ansatz zu profilieren hatte. Jene Spuren sind, ebenso wie andere Spuren auch, in dem Hauptwerk unkenntlich gemacht und verwischt worden.
Phänomenologische Interpretation – Zunächst ohne Aristoteles Auch die phänomenologische Interpretation zu Aristoteles setzt im Wintersemester 1921/22 grundlegend an, bei der Frage, was Philosophie sei. Die Definition von Philosophie könne überschätzt und unterschätzt werden, hält Heidegger fest, und nimmt die Bifurkation zwischen den Extremen, der strengen Wissenschaft und der Weltanschauung auf. Verfehlt werde auf beiden Seiten die grundlegende Anforderung, dass eine Definition von Philosophie selbst philosophisch sein müsse. Nicht die Gewinnung einer abstrakten Bestimmungsnorm, sondern dies, den Gegenstand und seine Gegenständlichkeit so zu zeigen, wie sie ursprünglich zugänglich werden, sei das Proprium der Philosophie. Philosophie versteht Heidegger also, noch einmal ganz mit Husserl, per se und in ihrer Zielbestimmung als Phänomenologie (GA 61. 20 f.). Phänomenologie fasst er in diesem Sinn als ›Urwissenschaft‹. Die Akzentuierung liegt aber nun auf dem Wie-sein, der Enthüllung des Seienden in seiner genuinen, nur ihm zukommenden Erscheinungsweise. Das Wie-Sein erschließe sich gerade nicht über den Allgemeinbegriff, der sich auch nur in Resultaten darstellen lasse, sondern die Selbstbewegung des Gedankengangs, die Heidegger an dieser Stelle ausdrücklich als »formal anzeigend« benennt (20); ein viel berufener methodischer Zusammenhang, den er bei der ersten Explikation nur knapp charakterisiert: »dass ich mich nicht ›kehre‹ an dem Gehalt. Sie ist ›formal‹ anzeigend, der ›Weg‹ im ›Ansatz‹« (19 f.). Damit sei eine »gehaltlich unbestimmte, vollzugshaft bestimmte Bindung« (20) vorgegeben, die den Weg, den man im Einzelnen wähle, im Vorhinein umreiße. Erschließen wird sich der Weg aber erst, indem er begangen wird. In Heidegger’scher Be70
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grifflichkeit ist auf diese Weise der Gestus der Husserl’schen Phänomenologie und die reine zu den Sachen selbst führende Bestimmung bekräftigt: nicht strategisch-taktisch, sondern mit allem sachlichen Nachdruck. Doch zugleich ist ein eigener Ansatz von Philosophie und Phänomenologie nun gefestigt, der eben auf den welthaften Vollzugssinn in actu gerichtet ist, nicht, wie bei Husserl auf den Aktcharakter der transzendentalen Subjektivität. Erst in der Dynamik der phänomenologischen Arbeit, wenn die Sache phänomenologisch enthüllt ist, kann gleichsam ihr Prinzip gewonnen werden. Indem die methodische Grundhaltung der formalen Anzeige mit Husserl geteilt wird, lässt sich zugleich die Differenz bestimmen: Dieses Prinzip sollte Heidegger zufolge nicht transzendental-egologisch apriori vorausgesetzt werden. Heidegger formuliert dafür keine Begründung, aber eine deutliche Abwehr. Ich vermute, dass es die Ausblendung der Transzendentalphilosophie in Heideggers frühem logischen Holismus (Dissertation, Habilitation) gewesen ist, die ihm den Cartesianischen Weg Husserls entfremdete, ihm aber zugleich nahelegte, bei der Seinsfrage anzusetzen. Frei von der genaueren Auseinandersetzung mit der philosophischen Situation der Zeit, mit Natorp und Rickert, entwickelt Heidegger mithin hier noch einmal die Profilierung der ›Urwissenschaft‹. Bewusst legt er dabei Wert auf den formalen Charakter des Anzeigens, einen Verweis auf modale Auffächerungen, in denen die Phänomene in den Facetten ihrer Phänomenalität erscheinen. Dies unterscheidet die ›formale Anzeige‹ nun systematisch von jedweder Weltanschauung, bei der vom konkreten materialen Gehalt gerade nicht abgesehen werden kann. Erforderlich ist auf dem Weg der Phänomenologie eine Sinnklarheit gegenüber der Situation des Verstehens, eine Selbstaufklärung, die Heidegger wieder in genauem Anschluss an Husserl als »Nachsehen« begreift (39). Es ist der phänomenologische Blick, der dem sich zeigenden Phänomen nachgeht, ihn nicht im Vorhinein entwerfen kann. Dies macht den Charakter des Philosophierens aus, den Heidegger am Verständnis wissenschaftlicher Philosophie misst. Die Haltung, letztlich das Verhalten zum Seienden, erweist sich damit als der eigentlich philosophische Habitus. An diesem Punkt bringt Heidegger, wiederum in Übereinstimmung mit Emil Lask, 32 der sich als ein geheimer Referenzautor er32
Siehe vor allem E. Lask, Die Lehre vom Urteil, a. a. O., S. 50 f.
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weist, die hermeneutische Konfiguration des ›als‹ ins Spiel: Dies geschieht, entgegen dem Titel der Vorlesung, weniger im Sinn einer Aristoteles-Deutung, als einer Explikation einzelner Sätze aus dem platonischen Denkzusammenhang: Sie werden auf ihre hermeneutische als-Struktur hin analysiert: sophisteo »ich handle wie ein Sophist, verstecke etwas«, wird in Analogie zu aletheuo entwickelt: »ich bin wahrhaftig«, aufrichtig, ich entberge in die Wahrheit. Was seit jeher in der spekulativen Selbstbesinnung eine drängende, aber offene Frage blieb, die u. a. bei Platon und Hegel leitend ist, der sich aber beide nicht explizit stellten, die Frage, wie man eine Philosophie der Philosophie, oder eine Topologie des Philosophischseins entwickeln könne, skizziert Heidegger aus dem Umkreis von Ich-Prädikationen, die im ›als‹ eine Seinsweise artikulieren. Philosoph sein bedeutet ein »erkennendes Verhalten« zur Welt zu haben (54 f.). Heidegger definiert von hier her Philosophie als Ontologie, in dem präzisen Sinn, dass sie »erkennendes Verhalten zu Seiendem als Sein« sei. Die Seinsfrage meldet sich in der an Aristoteles’ on he on anklingenden Form (60). Der Seinssinn sei gerade nicht als Ding oder Sache zu verstehen. Von den Pragmata, im Sinn der aristotelischen praktischen Philosophie, ist hier noch nicht die Rede. Es wird aber festgehalten, dass sich Sein über Bedeutung erschließe, den Seinssinn, der gerade Reifizierungen aufbreche. Damit ist in wenigen Sätzen eine ontologisch-semantische Struktur angezeigt, die sich dafür eignet, den vortheoretisch urwissenschaftlichen Bereich des Lebens auf die Seinsfrage des existierenden Subjektes zu beziehen und ihn in größter möglicher Sinnklarheit zu erfassen. Damit ist die Exposition eigener Kategorien der Existenz nahegelegt und weitgehend vorbereitet. Zunächst ist auch denen entgegenzuhalten, die in philosophischer Blindheit und Verkennung des formal-anzeigenden Gestus bereits den ontologischen Gestus bei Heidegger als protototalitär verunglimpfen, dass Heidegger nur freilegen möchte, was in aller Konstitution der Lebenswelt, aller Ego und Alter-Ego-Konstellation bereits vorausgesetzt ist. Er legt seinem Selbstverständnis nach nur eine Dimension frei, die bei Husserl nicht expliziert sei, die er aber implizit voraussetzen müsse. (84 ff.). Dies hat prima facie nichts mit mythischer Suche nach den Ur-Urgründen, oder dem Faustischen Weg zu den Müttern zu tun. Ein solcher Ansatz ist einzig und allein, freilich konsequent, der philosophischen Frage nach der vortheoretischen Ursprungsdimension allen Kategoriengebrauchs gewidmet. Heidegger tut, was Philosophie sehr häufig in fruchtbarer Weise tut und 72
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was sich exemplarisch bei Platon, 33 Kant 34oder Hegel 35 durchgeführt findet: Er übt Vorurteilskritik an bestehenden Denkwegen und -strukturen. Es ist pure Willkür, dem Heidegger’schen Lebensbegriff eine faschistoide, Reflexion verweigernde Totalität zuzuweisen, den Husserl’schen Lebensstrom aber im Sinn einer legitimen Dynamik phänomenologischer Selbstkonstitution zu verstehen. 36 Wie immer Heideggers Denkweg sich weiter entwickelt haben mag, er ist in seinen Anfängen Husserl noch sehr nahe. Es mag eine gewisse philosophische Unsicherheit darin angezeigt sein, dass Leben stärker an den Dilthey’schen ›Erlebnis‹-Begriff als an einem phänomenologischen Bewusstseinsstrom angenähert wird. Es ist aber selbstverständlich nur eine philosophisch völlig unmusikalische Reifizierung, wenn in der jüngeren Diskussion permanent Heideggers ontologische Versuche auf den Mangel an Intersubjektivität, Leiblichkeit oder gar einen konkreten ethischen Appell hin angeklagt werden. 37 Diese Evokationen hat man in der Heidegger-Kritik mit einer gewissen Stereo-
Zu Platon vgl. H. Seubert, Platon- Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, a. a. O., S. 123 ff. u. ö. 34 Zu Kant siehe W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, S. 293 ff. 35 Die Strukturen der Vorurteils-Aufhebung bei Hegel hat Dieter Henrich geradezu zum Grundton seiner Hegel-Deutungen gemacht. Vgl. pars pro toto: Anfang und Methode der Logik; Hegels Logik der Reflexion und: Hegels Theorie über den Zufall, in: ders., Hegel im Kontext. Frankfurt/Main 1971, S. 73 ff., S. 95 ff., S. 157 ff. 36 Das Discrimen zwischen Heidegger und Husserl ist legitimerweise aus systematischer Argumentationsanalyse und eben nicht aus ihren vermeintlichen bzw. tatsächlichen Situierungen in der Geschichte zu gewinnen. Auch die Annahme, dass Husserl einer dialogischen Korrelationsontologie das Wort rede, während Heidegger in der zwingenen Totalität des Seins verhaftet sei, ist argumentativ eben nicht begründet. Vgl. die mustergültige Interpretation bei D. Zahavi, »Phänomenologie und Transzendentalphilosophie«, in: Figal u. a. (Hgg.), Heidegger und Husserl, a. a. O., S. 73 ff. 37 Exemplarisch für diese billige, Philosophie grundsätzlich nur auf der Ebene von ›Weltanschauung‹ und Ideologie wahrnehmende Perzeption sind die Arbeiten von E. Faye und S. Kellerer. In dem Sammelband M. Heinz und S. Kellerer (Hg.), Martin Heideggers ›Schwarze Hefte‹ lässt sich vor diesem Hintergrund ein auffälliges Interesse daran erkennen, die ›Einheit‹ von Heideggers Denken zu fixieren, um diese Einheit eben auf eine Ideologielastigkeit oder zumindest -gefährdung hin zu positionieren. Demgegenüber geht es mir darum, diese Einheit in ihren Bifurkationen und Denkoptionen freizulegen. Jetzt auch zur Ausweitung auf ›Sein und Zeit‹: M. Heinz und J. Bender (Hgg.), ›Sein und Zeit‹ neu verhandelt. Untersuchungen zu Heideggers Hauptwerk. Hamburg 2019. 33
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typie zu erwarten. Sie sind längst steril geworden und sie ergeben, wenn überhaupt, erst diesseits der Ursprungsdimension Sinn. Heidegger geht es zunächst um viel Fundamentaleres: Er sucht eine Grundschicht auf, die Intersubjektivität und Leiberfahrung vorausliegen muss: die phänomenologische urwissenschaftliche Haltung. Eine Fundamentalkritik an seinem Anspruch müsste diese Frage desavouieren und ihre Fruchtbarkeit bestreiten. Heidegger versucht, die Dilthey’sche (nicht die auf Ludwig Klages zurückgehende, vorrationale) Lebensstruktur selbst auf ihren Grundsinn hin freizulegen. Bis zu diesem Punkt kommen die ›Phänomenologischen Interpretationen‹ weitgehend ohne Aristoteles aus. Stattdessen macht Heidegger die Struktur des Sorgens thematisch, und er exponiert erstmals einige der späteren Grundbegriffe von Sein und Zeit. Sorge bezeichnet, wie Heidegger darlegt (97), eine vor-reflexive Lebensstruktur. Sie umfasst Dasein in seiner Umwelt und Mitwelt. Erstmals im Zusammenhang des Sorge-Topos kann die Frage berechtigt sein, warum der Intersubjektivität, dem Verhältnis von Subjekt und anderem Selbst in Heideggers Denkansatz nicht eine fundamentale ontologische Bedeutung zukommt. Auch hier lässt sich Heidegger noch damit rechtfertigen, dass er eine Lebensstruktur freilegt, die vor der Unterscheidung von Ego und Alter Ego situiert ist. Es wäre aber erforderlich, in der Kontinuität zu Husserl zu zeigen, wo die Bifurkation der Intersubjektivität aus dem Lebensstrom hervorgeht. In Sein und Zeit wird dieses Problem dann freilich aufgenommen, auch wenn es Heidegger nie zur zentralen Frage geworden ist. Die fundamentale Lebensstruktur benennt Heidegger in einer Phänomenologie der Vertrautheit mit sich selbst als »Neigung« und »Wie des Mitgenommenwerdens« (100 f.). Die Neigung bringt dann Korrelationen zur Umwelt mit sich, die Heidegger einmal als »Abstand« versteht, als eine distanzierende Einstellung zur Faktizität. Die Abständigkeit wird immer dort relevant, wo sich »Bedeutung« konstituiert. Mit der weiteren Existenzkategorie der »Abriegelung« (105 ff.) bringt er ein Momentum ins Spiel, das auch die Husserl’sche Phänomenologie kennt, das sie aber unterbelichtet: die Verfehlung des intentionalen Sinns der Phänomene. Grundlegend durchzieht die Analysen das Bewusstsein, dass das Selbst, das mit sich umgeht, vertraut zu sein scheint, aber eigentlich unvertraut ist. In der Sache folgt Heidegger damit der grundlegenden platonischen Konfiguration von Wahrheit, die sich immer erst im Gegenüber zum Verfehlt-sein, zum 74
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Versehen, konstituiert. Verfehlen ist, in platonisch-aristotelischen Kategorien das Unbegrenzte, apeiron, weshalb es nahezu unendliche Möglichkeiten des Verfehlens gibt, aber nur eine des, auch den Einzelfall treffenden, Wahren. 38 Heidegger erläutert in einem Passus, der über die Dilthey’sche Lebensphilosophie weit hinausgeht, dass die Frage nach dem Leben und seinem Bewegtheitszusammenhang auf das Sein dieser Lebendigkeit korreliert ist. Dies ist die systematische Abbreviatur der Epimeleia-Struktur, die er an anderer Stelle seines Frühwerks explizit an exemplarischen Aristoteles-Auslegungen entwickelt. 39 Damit rekonstruiert er noch einmal das »Prinzip der Prinzipien« Husserls, auf das er auch bis in seine späteste Philosophie immer wieder nachdrücklich verwies: »jede originäre gebende Anschauung [ist] eine Rechtsquelle der Erkenntnis, alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär darbietet, [ist] einfach hinzunehmen, als was es sich gibt, aber auch nur in den Grenzen, in denen es sich gibt«. 40 Heidegger entwickelt seine eigene Denkbewegung in Beachtung dieses Prinzips, indem er fragt, was es eigentlich bedeutet. Es wird ihm, könnte man sagen, zu einer Art Orakel, so wie Sokrates das Delphische Orakel verwendete, um zu fragen, welche Bewandtnis es mit ihm habe. So fragt Heidegger nach der prinzipiellen Gegebenheit des Seins von Bewegung. Über Husserl geht er nur insofern hinaus, als er diese Gegebenheit der Bewegungsprinzipien als umfassende Artikulation in einem verbindenden lógos (112) auffasst und nicht primär als Teil des Bewusstseinsstroms des Subjektes. Die Rede vom Seinssinn findet ihre Präzisierung abbreviativ in Begriffen, die an den großen Gattungen des Sophistes orientiert sind: on – ousía – kinesis – phýsis. Exemplarisch wird so die Protoform der Sorgestruktur entwickelt. Auch hier begegnen bereits in Grundzügen spätere Heidegger’sche Kategorien: dass die Abstandstilgung ein reluzentes Moment hat: den Charakter des Wegsehens, bereitet in einer reinen Formalität die spätere Erörterung des ›Man‹ vor. Eine kulturkritische Lesart ist in dieser Protoform aber noch an keiner Stelle präsent. Vgl. dazu u. a. Heidegger, GA Band 34: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und ›Theätet‹ (Vorlesung WS 1931/32). Frankfurt/Main 1988, S. 55 ff. 39 M. Heidegger, »Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation«, in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 237–270. 40 Husserl, »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologische Philosophie«, in: Husserliana III. 1, Den Haag 1976, S. 51. 38
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Die Reluzenz hängt nach Heidegger eng mit der Prästruktion zusammen, einer Form der Sicherung, in der das Leben, das in seinem Weltbezug Sorge ist, sich und damit seiner Wahrheit ausweicht. Der Prästruktion spricht Heidegger seinerzeit bereits den Charakter des Hyperbolischen zu; ein Begriff, der in den Beiträgen in der Seinskategorie des machenschaftlich ›Riesenhaften‹ aufgenommen wird. 41 Mit der Sorgestruktur ist dem Leben, Heidegger zufolge per se, ein Abstandscharakter gegeben. Es ist sich voraus. Vorgreifend sucht es sich aber in seinem ungeigentl. Modus in einer flachen Gegenwärtigkeit einzuholen. Die zweite große Bewegungskategorie ist die ›Abriegelung‹ ; in die Heidegger die Fluchtbewegung seienden Lebens von sich weg fasst. Von einem gnostisch-religiösen Ansatz ist hier explizit ebensowenig die Rede, wie beim ›Man‹ von der Kulturkritik. All diese ideengeschichtlichen Kontexte lagen in der Luft und sie mögen Heideggers Denken mit beeinflusst haben. Doch der philosophischen Anfangsintuition gehören sie nicht an. Er betonte zwar selbst, dass Philosophie nur Philosophie sei, wenn sie die Philosophie ihrer Zeit ist. Doch aus diesen Konstellationen kristallisiert sich eine eigene philosophische Fragebewegung heraus, die von diesen Zeitumständen weitgehend unabhängig ist. Dominierend ist zunächst die sachliche Frage nach der phänomenologischen Selbstentfaltung des allem Seienden unterliegenden Lebens. Sie führt zu einem weiteren kategorialen Grundkonzept, der »Ruinanz«, die hier noch ausschließlich als eine Gegenbewegung des Lebens zu sich selbst verstanden ist, die es von sich selbst abhält, die Endlichkeit zu verschleiern sucht und sich so an die eigene Nichtigkeit verliert. Heidegger analysiert auf diesen wenigen Seiten eine Selbst-distanz und Selbstverdecktheit von Leben, die weder in dem »immer schon« des Dilthey’schen Erlebnisses noch in der Husserl’schen Intentionalitätsstruktur erfasst werden kann. Und nochmals besteht, wenn man dieser Gedankenlinie folgt, keinerlei Grund dafür, hier einen Ausgriff ins Irrationale und Vorrationale zu vermuten. Es geht um eine Gegen- und Vorstruktur, die dem Bewusstsein vorgängig und, eben aufgrund der Eigenmacht des Vortheoretischen, in den Intentionalitätsstrukturen des Bewusstseins nicht einholbar ist. Wenn man sich nach der eigentlichen Nachbarschaft dieses in der Analysestruktur mit bewegten in-der-Welt-seins fragt, so kann man durchaus auf die Psychoanalyse stoßen; eine 41
M. Heidegger, GA 65. Beiträge zur Philosophie. Frankfurt/Main 1989, S. 133 ff.
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Intuition, die Heideggers frühe Schüler, Karl Löwith oder Oskar Becker, mit Recht verfolgten und die Heidegger aus eben so guten Gründen zurückwies, weil die Analyse eben in einem wissenschaftlichen Begriffsrahmen bleibt und ontischen Charakters ist. Eine konstitutive Grenze, die Freud nie bestritten hätte. Offensichtlich ist auch, dass die Berührung gar nicht in der konkreten materialen Besetzung der Psychodynamik liegen kann, wie der Libido oder dem Ödipuskomplex. Man kann, um Analogien zu ziehen, auch an die eminente Kunst der Zeit denken, an den Stachel der Andersheit des Lebens gegen sich selbst, wie sie sich bei Kafka oder Picasso oder in der Zwölftonkomposition abzeichnen. Heidegger nähete sich explizit dieser Kunst der Moderne erst später an. Dennoch ist solchen Spuren nachzugehen, um Heideggers Denken als eine Tiefenhermeneutik der Moderne zu rekonstruieren: Eine Spur, die ihre Zukunft noch vor sich hat. Anders als bei Philosophen, die sich selbst ausdrücklich jener Avantgarde zurechneten, wie Benjamin oder Adorno, sind diese Berührungen bei Heidegger Dialoge unter Abwesenden: Der Heidegger’sche Denkkanon öffnet sich der Ästhetik der Moderne, zumal in der Annäherung an Hölderlin und Trakl, und er übergreift diese ästhetische Öffnung im Seinsdenken zugleich. An dieser Stelle kann wieder resümiert werden: Heidegger gewinnt in seinen frühen phänomenologischen Vorlesungen eine Art Protologie zu Sein und Zeit, die noch Strukturelemente enthält, die das Hauptwerk nicht mehr kennt oder die es terminologisch und sachlich umbesetzt – so vor allem die enge Verbindung von Ruinanz und Sorge, die einschließt, dass das Sorgeverhältnis per se sich gegen sich selbst wendet. Akzentuiert wird von Heidegger ein methodischer Zugang, der der transzendentalen Husserl’schen Epoché folgt: Die formale Anzeige, die immer einen verwehrenden, abhaltenden Charakter habe. Sie ist prohibitiv. Die Unterscheidung des Ontischen vom Ontologischen ist in der frühen Vorlesung noch nicht ausgearbeitet. Wenn Heidegger die Charaktere der Ruinanz in einer tastenden Systematik als tentativ (verführerisch), beruhigend (quietiv) entfremdende (alienativ) und schließlich vernichtend (negativ) versteht, so ist diese elementare Vierheit grundlegend, sie bildet aber ein offenes System und muss nicht das Kriterium der Vollständigkeit erfüllen. Weiterhin ist sie unter dem Vorbehalt zu sehen, dass damit Strukturen, nicht fixierte Eigenschaften bezeichnet sind. Es scheint mir für ein einigermaßen angemesse77
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nes Verständnis Heideggers unerlässlich, diesen methodologischen Vorbehalt der »formalen Anzeige« beim Wort zu nehmen, einschließlich der stringenten Abgrenzung gegenüber einer »ontologischen Metaphysik des Lebens« (141 f.), für die Heidegger exemplarisch Bergson oder Scheler nennt und der er gerade nicht folgt (141). Der metaphysische Vorbehalt, den Heidegger in seinen Qualifikationsschriften nahelegte und der nicht zwingend zu einer Metaphysikkritik hätte führen müssen, ist eine Erweiterung der Epoché. Der Vorlesungstext mündet in die Kategorie der Gegenständlichkeit des Gegenstandes: Gegenständlichkeit isoliert sich aus einem dynamischen Horizont gelebten Lebens. Die Frage nach dem Prinzip des Lebens ziele letztlich auf ein unmittelbares Gegebensein der Phänomene in ihrem Erscheinen. Eben hier greift wieder Heideggers Befragung der Voraussetzungen der Husserl’schen Phänomenologie. Die Phänomenologie setzt Gegebenheit nach dem Prinzip der Prinzipien voraus. Heidegger verweist aber darauf, auch mit sporadischen Rückgriffen auf Hegel, »dass die Unmittelbarkeit«, formal gesprochen, schon vermittelt sei, nicht aufgrund einer Metareflexion, sondern aufgrund der Lebensbewegung selbst. Eine Unmittelbarkeit phänomenalen Erscheinens wird zurückgewiesen. Die Bewegung der Ruinanz findet ihren Gegenhalt zunächst in der Fraglichkeit, in der die Lebensdimension insgesamt in den Blick genommen und gegen ihre eigene faktische Ruinanz gleichsam transparent gehalten wird. Erst an späterer Stelle wird als Gegencharakter von Ruinanz das Ethos, im Sinn des Aufenthaltes bei der Welt, expliziert. Heidegger betont dabei den prohibitiven Charakter der formalen Anzeige als eine permanente Selbstsicherung gegen den RuinanzCharakter, der auf allen Ebenen phänomenologischer Interpretation aufrechterhalten werden müsste. 42 Die Subtilität dieser Abstandwahrung, die damit intendiert wird, ist in Sein und Zeit nur bedingt eingelöst. Dies hat auch mit einem Verlust der Kategorie der Abschattung in dem Hauptwerk zu tun. Die Berechtigung eines phänomenologischen Schrittes hinter Husserls Ansatz zurück, eher als über ihn hinaus, lässt sich an dieser Stelle besonders offensichtlich aufweisen. Vgl. dazu B. Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls. Frankkfurt/Main 1988. Vgl. ferner M. Riedel, »Die Urstiftung der hermeneutischen Phänomenologie«, in: ders., Hören auf die Sprache, a. a. O.
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Heideggers Denken in nuce: Das geniale Netz der Natorp-Ausarbeitung Die erst aus dem Nachlass 1999 edierte Natorp-Ausarbeitung Heideggers lässt deutlicher als die Vorlesungen und so klar wie kein anderer Text der frühen Freiburger Zeit die Fragerichtung von Sein und Zeit bereits im Grundriss erkennen. Als Gegenstand philosophischer Forschung weist Heidegger in der einleitenden Anzeige der »hermeneutischen Situation« auf, dass das Dasein (hier noch mit dem zusätzlichen Indikator ›menschlich‹ ausgezeichnet) »der Gegenstand der philosophischen Forschung« sei, »als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter« (Dilthey JB 1989, 238). Die Faktizität dieses Daseins bezeichnet, so Heidegger, seinen singulären, individuellen Charakter, der nicht auf ein »Dasein überhaupt« zu abstrahieren ist. Bewusst und obwohl er sich gegen den amorphen und – außerrationalen – Lebensbegriff der Lebensphilosophie wendet, hält Heidegger an der indikatorischen Kraft des Lebensbegriffs fest. Aus seiner Exposition entwickelt sich der methodische Zentralbegriff in Heideggers Frühzeit: die »formale Anzeige« (239 f.) Obwohl es um die Klärung und Erhellung faktischen Lebens geht, soll dieses nicht in seiner materialen Konkretheit entwickelt werden. Es soll auf seine »konstitutiven Elemente« hin durchsichtig gemacht werden, was in einer, seinerzeit bei Heidegger noch nicht thematisierten Spannung zu dem Anspruch stehen wird, dass die philosophische Forschung selbst Teil des Mitvollzugs gelebten Lebens und seiner temporalen Bewegung ist (239). Welt begegnet daher immer in Hinsichten, in Spezifizierungen des Wie-seins und in vor-theoretischen, auf den Lebensvollzug bezogenen Abstandnahmen und Hinsichten (241). Es liegt nahe, dass vor diesem Hintergrund der spezifizierenden Urteilskraft eine Schlüsselbedeutung in Heideggers Denken zukommen musste. Sie richtet sich auf die Bedeutung, die Seiendes für ein jeweiliges In-der-Welt-sein hat und aus der »die bestimmt gerichtete() und gestufte() Theorieentwicklung (241) sich in Stufungen herauskristallisiert. Das Aristotelische pollachos legomenon versteht Heidegger ganz in diesem Sinn als Auffächerung der Verschiedenheiten von Bedeutungen und ihren Motivquellen. In exemplarischer Klarheit legt Heidegger auch das Grundphänomen der »Sorgensbewegtheit« (242) und die jenseits ethischer oder wertetheoretischer Differenzierungen sich abspielenden Facetten unterschiedlichen Besorgens und Bekümmerns frei, die vom 79
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Topos der Durchschnittlichkeit des Sorgens, als der neutralen Mitte ausgehen (242 f.). Augenfällig ist dabei zweierlei: (1) Heidegger hält sich mit dem Charakteristikum der »Durchschnittlichkeit« an Husserls Epoché, die alle jeweiligen Geltungsansprüche ausblendet. 43 Das genuine Grundphänomen und die Aberration erweisen sich deshalb als Gradationen auf einer und derselben Ebene. Allerdings überträgt Heidegger (2) die Epoché in ein viel komplexeres Bewegungsgefüge als es der Husserl’schen Phänomenologie vor Augen stand: Einerseits öffnet er das phänomenale Grundgefüge hin auf eine geschichtliche Tiefendimension, die damit verbundene Zwiesprache mit Aristoteles und den Grundkategorien von dessen Praktischer Philosophie, andererseits entwickelt er eine Phänomenologie des faktischen gelebten Lebens. Damit zeigt Heidegger in der Phase der Natorp-Ausarbeitung einen klaren und eindeutigen Vorrang der praktischen Philosophie für die Kategorialität einer Phänomenologie des Lebens an. 44 Man sollte nicht übersehen, dass er damit einem Paradigma folgt, wie es zumindest in der Konstitution der Ersten Philosophie in der Antike, bei Platon im Ausgang der axiologischen Bestimmung der höchsten Idee von der Grundform der Gerechtigkeit, und damit aller Tugend vorgeprägt war: dem Ausgangspunkt von der praxis, um zu einem begründeten Verständnis von theōría zu gelangen. 45 Heidegger ist sich selbst dieses Theorieansatzes in der ›Querelle des anciens et des modernes‹ bewusst, der weniger bei ihm selbst als bei einigen seiner Schüler eine starke Wirksamkeit entfaltete. Neuzeitliches und zeitgenössisches Denken geht, wie er selbst andeutet, nicht in dieser Weise vom Vorrang der praktischen Philosophie aus. So hält er explizit fest: »Die Philosophie der heutigen Situation be-
Diese starke und bleibende Nähe wird häufig ausgeblendet, vgl dazu K. Held, »Husserl und Heidegger über den Anfang der Philosophie«, in: Heidegger-Jahrbuch Band 6, a. a. O., S. 69 ff. 44 Dies ist besonders prägnant im Sinn eines Handelns ohne Präferenz herausgearbeitet worden bei R. Schürmann, Le principe d’anarchie. Heidegger et la question de l’agir. Paris 1982. Es ist aber zu berücksichtigen, dass auch umgekehrt die Praxis in eine bestimmte Struktur des Erkennens transformiert wird, sodass gerade die starre Frontstellung zwischen ›theoretischer‹ und ›praktischer‹ Philosophie selbst preisgegeben wird. 45 So die Tendenz bei M. Riedel, a. a. O., Siehe auch Vigo, »Wahrheit, lógos und Praxis. Die Transformation der aristotelischen Wahrheitskonzeption durch Heidegger«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1994, S. 73 ff. 43
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wegt sich zum großen Teil uneigentlich in der griechischen Begrifflichkeit« (249). Die Vorzeichnung der fundamentalontologischen Problemstellung ist darin tektonisch weitgehend vollständig, dass Heidegger den Zusammenhang zwischen Tod (bzw. der Weltauffassung des denTod-Habens), Zeitlichkeit und der unvollendbaren Vollständigkeit des faktischen Lebens ins Relief treibt. Auf existenzialistisch zu lesende Aufladungen verzichtet Heidegger weitgehend und gibt lediglich lakonisch zu Protokoll: »Der als bevorstehend gehabte Tod in der ihm eigenen Weise des Sichtbarmachens der Lebensgegenwart und Vergangenheit ist als Konstitutivum der Faktizität zugleich das Phänomen, aus dem die spezifische ›Zeitlichkeit‹ menschlichen Daseins explikativ zu erfassen ist« (244). Betont wird dabei auch, dass die Zeitlichkeit zu einem Verständnis der Geschichtlichkeit führt, während es unmöglich wäre, Geschichtlichkeit aus einem bestimmten Verständnis von Historizität zu gewinnen. 46 Die Relationalität und Relativität der Ontologie als Hermeneutik des Faktischen wird so bestimmt, dass die Grundproblematik der Philosophie prinzipiell Ontologie ist, allerdings im Bezug auf das Sein der bewegten Dinge in ihren Korrelationen zur Welt. Husserl verdankt sich dabei vor allem der Gestus einer radikalen Sachforschung, die Heidegger auf die am Lebensphänomen orientierte und damit ontologische Fragestellung hin explizieren möchte. Der prinzipielle philosophische Ansatz ist, wie er betont, an der Klärung der Gegenständlichkeit des Gegenstandes ausgerichtet, er ist daher immer schon ontologisch orientiert. Von hier her erschließt sich der hochkomplexe Zusammenhang zwischen Systematik und Geschichte, wie Heidegger ihn hier entwickelt und wie er notwendigerweise auf den Blickkreis der ›Destruktion‹ führt. Heidegger betont die radikale Geschichtlichkeit zunächst in dem Sinn, dass eine eigene Zeit sich ihre philosophischen Grundorientierungen niemals von einer anderen Zeit »erborgen« könne (238). Dies bedeutet auch, dass keine Zeit einer späteren Zeit Paradigmen vorentwerfen kann (ibid.). Jede Zeit ist also auf sich selbst verwiesen. Bis zu diesem Punkt wäre der Problemansatz auch einer historistischen Deutung zugänglich. Heidegger liest den Historismus aber gerade in dem Sinn, dass das uneigentlich Mit-Thematisierte, Dazu treffend R. Marten, »›Der Begriff der Zeit‹. Eine Philosophie in der Nußschale«, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 22 ff.
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der uneigentliche Vorgriff, selbst thematisch gemacht werden muss. Dies erfordert ein Denken, das das für selbstverständlich Gehaltene in seiner Wirkungskraft und Abständigkeit sichtbar machen muss. Das Negierte wird gerade zum eigentlichen Konstitutivum. Das Gegenstandsverständnis, das sich etwa mit dem Substanz- oder dem Akzidenzbegriff verbindet und längst nicht mehr auf einer Denkerfahrung beruht, wird deshalb relationsontologisch auf das konkrete Dasein bezogen (245). Von Existenzialien ist dabei nicht explizit die Rede; vielmehr wird das Wie der Forschung auf Gegenständlichkeit und damit eine Kategorialität bezogen, in der »faktisches Leben mit sich selbst spricht« (246). Vergangenes Denken ist daher gerade in seiner verschütteten Tiefendimension die grundlegende Voraussetzung, vor der die Gegenwart ihre Seinsbezüge offenlegen kann. In der Sache führt die Destruktion auf die Einsicht, dass Ontologie und Logik als theoretische Axiologien des Denkens auf die vortheoretische Urschicht zurückbezogen werden müssen. Die ›Ontologie‹ auf eine Phänomenologie des sich selbst auslegenden und seine Lebensbewegung denkenden Daseins, die ›Logik‹ auf die Hermeneutik, in der sich dieses Dasein selbst ausspricht. Der Rahmen des Historismus wird darin radikal aufgesprengt, dass Geschichtlichkeit im Zusammenhang des Problemtitels von Destruktion als Freilegung der urwissenschaftlichen Motivquellen sich erweist. Die phänomenologisch-historischen Interpretationen, die damit aufgegeben sind, sollen allerdings nicht eine urwissenschaftliche Ewigkeitsbedeutung haben, wie sie Husserl durchaus beanspruchte. 47 Sie bleiben insofern geschichtlich, als sie in dieser Form nur in ihrer eigenen Zeit möglich sind. Die geschichtlichen Grundparadigmen nennt Heidegger wie in einer Verdichtung seiner frühen Freiburger Vorlesungen in der einleitenden Anzeige der hermeneutischen Situation: geschichtlich bestimmt und geprägt sei die gegenwärtige Situation von der »griechisch-christlichen Lebensauslegung« (250). Gadamer nannte, mit Recht, was die »Anzeige der hermeneutischen Situation« angeht,
Vgl. u. a. E. Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt. Text nach Husserliana Band IV, hg. von M. Somer Hamburg 1984 und: Ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die Philosophie. Hamburg 41980, S. 34 ff. Zur Hermeneutik der Konfrontation: B. Waldenfels, »Indirekte Beschreibung«, in: Heidegger und Husserl, Heidegger-Jahrbuch Band 6, S. 269 ff.
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den Text Heideggers theologische Jugendschrift. 48 Gefragt wird nach der ontologischen Verfasstheit der mittelalterlichen Gottesbestimmung, von Paulus und Augustinus über Thomas und die Vertreter des Nominalismus. Die Klassische deutsche Philosophie versteht Heidegger in dem weiten Bogenschlag, den er andeutet, primär von der Theologie her und den spekulativen Grundreihen, die sie entwickelt. Wie in nuce, wird damit die Programmatik einer faktisch-geschichtlichen Auslegung im Licht der Destruktion bestimmt: »Die hier wirksame Idee des Menschen und des Daseins weist in die griechische Philosophie, die griechisch fundierte patristische Theologie, in die Paulinische Anthropologie und in die des Johannesevangeliums« (251). Bemerkenswert ist dieser Ansatz auch darin, dass er noch keinerlei Spuren von der »Todfeindschaft« zwischen Philosophie und Theologie zu erkennen gibt. Er markiert in der Folge von Husserl und des Neukantianismus lediglich einen »methodischen Atheismus«, der der sachlichen phänomenologisch-hermeneutischen Ansatzweise gemäß wäre. Nur eine solche Philosophie, bemerkt Heidegger, sei »ehrlich, […] gemäß der ihr als solcher verfügbaren Möglichkeiten vor Gott« (251 f.). Offensichtlich hätte sich in Fortsetzung der Linie der Natorp-Ausarbeitung eine völlig andere Grundhaltung Heideggers zu Theologie und christlicher Überlieferung und damit wohl auch ihrer jüdischen Fundierung ergeben als sie später, ausgehend von Phänomenologie und Theologie bis in die Konstellation von Teilen der späten Überlegungen. Schwarze Hefte, dominierend sein sollte: 49 Die Konstellation nämlich einer philosophischen Epoché gegenüber der theologischen Beziehungssetzung zwischen Gott und Mensch, um in größtmöglicher Reinheit und Klarheit den Seinscharakter dieses Grundverhältnisses herauszuarbeiten. Exemplifiziert wird dieser Ansatz dann an ausgewählten phänomenologischen Aristoteles-Interpretationen. Einleitend versucht Heidegger zunächst, das Paradigma des Seins des Seienden nach Aristoteles zu exponieren. Geht es dabei doch um die Weise, wie Gegenständlichkeit zunächst begegnet. Dies eben ist nicht eine theoretische Relation zum erkennbaren Seienden, sondern zu der »Umgangs- und Gebrauchstendenz« des Hergestellten (poiesis). Aufgenommen wird
So die Nomenklatur bei Gadamer, »Heideggers theologische Jugendschrift«, in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 228 ff. 49 Vgl. dazu vorliegende Monographie weiter unten S. 391 ff. 48
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damit der Befund, dass die antike Ontologie auch den Kosmos zunächst nach den Maßstäben der hergestellten Dinge betrachtet und beurteilt. In diesem Sinn sei auch der Substanzbegriff (ousía) ursprünglich an der »Habe« den hergestellten Dingen abzulesen. Forschung sei von Aristoteles her also als Explikation eines ›hinsehenden Bestimmmens‹ aufzufassen, das durch die bewegten Dinge hindurch zu der tiefsten Motivquelle vordringt. Der Zusammenhang des Bewegt-seins und gerade nicht einer statischen Deduktion leitet diese Explikation an, die als Episteme auf die aitia (Ursache, Hinblick) und Grund (archē´: Von woaus) führt. Zu ihrer Entsprechung hat sie aber die Seinsverwahrung der techné, dessen, was zu bewerkstelligen und somit herzustellen ist. Bis in die spätere Bestimmung des Kunstwerkes als »Ins WerkSetzen der Wahrheit« 50 ist dieser theoretisch-praktische und poietische Gesichtspunkt bestimmend und führt auf Umgangsweisen mit dem Wahren zurück Der erste Aristotelische Grundtext, von dem Heidegger dann exemplarisch ausgeht: (1) Eth. Nic. VI., mit der Unterscheidung der ethischen und der noetischen Tugend, verweist auf zwei Typen von Wissen und Seinsverstehen: sophía, das eidetische Hinsehen einerseits und die phrónesis, als »fürsorgende Umsicht« andererseits (255). Intentionalität, also ein spezifisches Wie des Ansprechens kommt dabei allen Wissensformen zu, auch bereits der sinnlichen aisthesis, deren Wahrheitscharakter nicht erst als Derivat des lógos verstanden werden kann. sophía und phrónesis rekonstruiert Heidegger als je spezifische Weisen des Wahrheitsgeschehens, durch die sich die Seele auf das Seiende als Seiendes bezieht. Die archai im Feld der sophía versteht Heidegger nicht als abstrakte axiologische Prinzipien, sondern als Hinsichten des Seins des Seienden, die es als das, was es ist, und gemäß seiner bleibenden Gestalt zeigen. Die phrónesis dagegen zeigt, orientiert an einem jeweiligen zeithaften kairós, epitaktisch konkret das Seiende als Zusammenhang eines Besorgens. In Deiktika, Verbal- und Partizipialformen erhellt Heidegger die Dynamik solcher Seinsverwahrungen. Der Bewegung kommt deshalb eine so fundamentale Bedeutung zu, da sie die entelecheia ateles, das Noch-nichtErreicht-haben ihres télos formuliert. Dieser unvollendete Charakter
50 M. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege, GA Band 5, S. 1–75, insbes. S. 43 ff.
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ist bekanntlich auch der menschlichen Lebensform eigen, die ihr letztes Ziel eben nicht erreicht hat. 51 (2) Die phänomenologische Interpretation des zweiten Passus Met. A 1 und 2 zeigt demgegenüber, wie sich der Grundsinn der Philosophie als einer theoretischen und nicht um den Vollzugssinn des Daseins bekümmerten Lebensform gleichsam aus der Dynamik des faktischen Lebens herauslöst und den Sinn der weitgehenden Abstraktion gewinnt. Heidegger charakterisiert diesen Schritt prägnant so: »Das Womit des verrichtenden Umgangs wird zum Worauf des bloßen Hinsehens« (262). Dies wird von Aristoteles als »Mehr« an Sehen bestimmt, als »malista eidenai«, das sein Korrelat in der göttlichen Weise des Weltbezugs findet: dem Gottesbegriff als »noesis noeseos«. Dieses umfassende Sein ist Inbegriff und Idee von Bewegung, die gerade nicht von anderem bewegt wird, sondern ausschließlich selbst bewegend ist. Sie ist in der Reihenfolge des Erkennens das Zweite, an und für sich selbst aber das Erste: das Prinzip, von dem nicht ausgegangen werden darf, auf das aber der Bewegungszusammenhang der Philosophie hinführt. (3) Die letzte interpretierte Passage wendet sich der Bewegungsanalyse der Aristotelischen Physik zu. Heidegger bestimmte die Physik an anderem Ort als das Grundbuch abendländischer Metaphysik. Faszinierend, meines Erachtens in hohem Maß der Anknüpfung wert, ist Heideggers Ausgang von der ›Arche‹-Forschung, an den er später in dieser Prägnanz nicht wieder anknüpfen sollte. Sie führt die Anfänge des Eleatismus und der ionischen Naturphilosophie nicht auf eine Seinsvergessenheit, sondern stellt notwendigerweise die kritische Anfrage: »Hat sie [die vorausgehende Philosophie] das als phýsis intendierte Seiende so in die Vorhabe gebracht, dass der entscheidende phänomenale Sachcharakter desselben […] – die Bewegung – zur Verwahrung und ursprünglichen Explikation komme« (264). Oder, so die gegenläufige Möglichkeit, erschöpft sich die Mitteilung in ›Theorien‹, die den Zugang zu der originären Faktizität verstellen? Nicht nur kraft ihrer Kritik hat die Arché-Forschung eine Schlüsselstellung, sondern auch darin, dass gleichsam die grundlegende Schicht der Epistemologie gelegt wird. Insofern firmiert sie als vortheoretisch. 51 Dazu grundsätzlich W. Wieland, Die aristotelische Physik. Göttingen 31982, S. 59 ff. Wieland greift mit großer Konsequenz Heideggers Hinweis auf, dass die Aristotelische Physik als ein Grundbuch der griechischen und europäischen ›Metaphysik‹ verstanden werden muss.
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Doch betont Heidegger, dass die arché immer vermittels des lógos anzusprechen ist, die arché sich als der Grund eines jeweiligen Wieseins spezifiziert. Arché-Forschung ist insofern die Forschung, die sich auf Modi des Wieseins bezieht, und eben nicht Prinzip für das Sein des Seienden überhaupt ist. Wie Wolfgang Wieland später gezeigt hat, folgt diese Struktur genau dem »hinsichtlichen Sein«, dem pros ti, nach dem sich auch das Aristotelische Denken richtet. Die Kritik vollzieht sich, wie Heidegger in seiner Ausarbeitung zeigt, die darin eigentlich die Skizze eines größeren Korpus ist, auf drei Ebenen: Einmal indem ein lógos von Bewegung entwickelt wird und vermittels dieses lógos die Arché-Forschung der physei onta in Gang gesetzt wird (266). Dies geschieht gerade im Blick auf die poiesis, das Exempel der hergestellten Bildsäule aus Erz. Damit wird jener Bereich philosophisch erfasst, von dem es nach der Platonischen Ideenlehre, die in diesem Punkt allerdings im Timaios und Philebos grundlegend korrigiert wird, 52 keine Wissenschaft geben kann. Im II. Buch der Physik exponiere Aristoteles dann zum anderen die Frage, »welche Möglichkeiten des theoretischen Befragtwerdens (aition-warum)« in der kategorialen Grundstruktur des bewegten Seienden angelegt und motiviert sind (266). Dabei verweist Heidegger nicht nur auf den Ursprung und explikativen Ort der Vier Ursachen-Lehre, sondern auch auf die ontologische Explikation von tyche oder das Charakteristikum des automaton, das also, was im alltäglichen Leben geschieht. (267). Der innere Sachgehalt dieser Explikationen sei bis heute unübertroffen, er sei noch nicht einmal begriffen worden. Das III. Buch der Aristotelischen Physik macht deutlich, dass Bewegung eine metakategoriale Zugangsweise erfordert. Sie bezeichnet ein Phänomen, das sich seinerseits in letzten Strukturen zeigt, die Konstellation von dýnamis-energeia und entelecheia, die dem kategorialen Gefüge ihrerseits zugrunde liegen. Damit wird die Rationalität von Heideggers Grundentscheidungen in der Bauform von Sein und Zeit deutlicher fassbar: Es wird besser verständlich, weshalb Heidegger vom Phänomen der Lebendigkeit ausgehen muss; zugleich wird deutlich, weshalb er die Existenzialien als Kategorien faktischer, in Bewegung seiender Existenz ansetzt. Vgl. Philebos 17a-18e, mit der Mischung eines Lebens aus Vernunft und aus Lust. Dazu, im Anschluss an Gadamers Philebos-Rekonstruktion Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, a. a. O., S. 590 ff.
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Die Natorp-Ausarbeitung mündet in den Ausblick auf einen zweiten Teil der Untersuchungen, der sich vor allem den Büchern Z, H, T seiner Metaphysik zuwendet. Offensichtlich ist dieses Stück der Deutung nicht so elaboriert wie der erste Teil. Es gehe darum die ontologischen Kategorien aus dem Bewegtheitscharakter zu gewinnen, und zwar so, dass dieser nicht verlorengeht, wohl aber eine »objektive«, noetisch-eidetische Sichtweise expliziert wird. Heidegger expliziert dabei nochmals das poietisch bedingte Sein des Aussehens eines Seienden. Exemplarisch nennt er das Haus, das als poietisch insinuiertes Werk jeweils in eine Umwelt eingefügt ist, wobei diese Umwelt als »Voll erfahrene« wahrgenommen wird. Das noetische Aussehen aus der Bewegtheit seiner Bewegung, aus den Vollzugssinnen von kinesis, poiesis und praxis zu bestimmen, expliziert Heidegger als die Aufgabe. Doch er geht ihr nicht soweit nach, dass sie tatsächlich die Genese des theoretischen, auch theologischen Grundsinnes mitzudenken erlauben würde. Hier zeichnen sich erste Spuren einer Kritik an der Seinsvergessenheit in dem Sinn ab, dass schon bei Aristoteles selbst unter dem Druck einer erkenntnistheoretischen (erkenntnislogischen) Fragestellung der Herkunftssinn der Kategorien aus dem Blick verloren wirke und sie durch eine ausgeformte Ontologie verschüttet wäre (269). Auch von »Verfallenheit« ist in diesem Zusammenhang die Rede. Eingestandenermaßen fällt es leicht, darin ein Heideggers Denkarchitektur prägendes Momentum zu erkennen. Umgekehrt ist aber nicht ohne weiteres in dieser Matrix auch der systematisch fruchtbare Ansatz Heidegger’schen Denkens zu erkennen: Gerade die theologisch-philosophische Grundform, die er eindrucksvoll von Hegel bis zurück zu Augustinus und in die mittelalterliche Hymnologie der Kirche entwickelt, erreicht er in der NatorpAuslegung nicht einmal ansatzweise. Er nähert sich ihr zwar in manchen Vorlesungscorpora zum Religionsphänomen an, doch sie bleibt insgesamt terra incognita. In einer solchen Rekonstruktion läge, so scheint mir, ein ungeborgenes Potenzial. Wenn man Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit aber beim Wort nimmt, kann es nicht repetitiv gehoben werden, sondern in der geschichtlichen Existenz der jeweils eigenen Zeit, sodass sich eine auf Sachverhalte und Hinsichten bezogene Struktur von Urwissenschaft ergibt. Es wäre denkbar, dass aus diesem Umfeld eine philosophische Konzeption gewonnen wird, die die Dynamik eines in offenen Prozessualitäten und Fluktuanzen verfahrenden Denkens mit der Klarheit ontologischer Seinsforschung verbindet und die Moderne, Nachmoderne und klassisches 87
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Paradigma zu verbinden weiß. Schon deshalb lohnt der Versuch einer solchen Annäherung. Was in der Natorp-Ausarbeitung eindrucksvoll wie eine Vorzeichnung von wesentlichen Schritten des späteren Heidegger’schen Weges zur Abhebung gebracht wird, verdichtet sich pointiert in der Rezension zu Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. Heidegger widerspricht Jaspers’ Orientierung an der Subjekt-Objekt-Trennung und dem Postulat der Wertfreiheit. Jaspers’ ordnende, gleichsam wie ein Okular auffangende Methode ist Heidegger zufolge gerade den existenziellen Einstellungen nicht angemessen, die Jaspers doch zu bestimmen versucht. Existenz könne deshalb, so wendet Heidegger gegen Jaspers ein, nur als Seiendes neben anderem Seienden verstanden werden. Leben versteht Jaspers als einen Totalitätszusammenhang, dessen Ende und Vollständigkeit in den Blick zu nehmen ist. Er geht also, so Heideggers hauptsächlicher Einwand, von einer ästhetischen Gegenstandskonstitution der Dinge aus, aber gerade nicht von dem fluiden Am-Leben sein (9.41). Jaspers spricht dies ausdrücklich an, wenn er festhält, dass für ihn ein Gegenstand »nur das [sei], was bisher da ist. Alle Betrachtung neigt dazu, dieses für das Ganze zu nehmen« (nach ibid. 37). Die Verschränkung von Seinssinn und Bewusstseinszusammenhang nehme Jaspers aber nicht in den Blick, immerhin hält er die Subjekt-Objekt-Unterscheidung als grundlegendes Faktum der Erkenntnis fest (ibid., 25 f., 30). Heidegger bemerkt deshalb, dass Jaspers’ Vorgriff dem Phänomen, das er zu erfassen sucht, eben dem gelebten Leben, gerade unangemessen ist. Mehr noch, der Jaspers’sche Vorgriff sei »der mitlebendigen Tendenz […] zuwiderlaufend«, eben weil es nicht zu einer geschichtlichen Selbstentgegnung des faktischen Lebens mit sich selbst komme. Deshalb entgehe Jaspers, wie Lebensphänomene in ihrer vollen Existenz da sind und dass diese Modalität sich gerade von der Seinsweise von Steinen auf einem Brett unterscheidet, »die nur neu geordnet werden sollen« (ibid., 38). In existenziellen Grundentscheidungen geht es vielmehr um ein »Erfahren des Ich«, in seiner Selbstvergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (32 f.). Dies bedeutet, dass Existenz erst in den verschiedenen Weisen und Formen des Selbstumgangs erfasst werden kann.
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Phänomenologie als Ontologie, oder: Die Hermeneutik der Faktizität Die Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Sommersemester 1923) setzt unmittelbar an diesem Punkt ein, indem sie den Fokus auf das (menschliche) Dasein richtet und Faktizität als Richtungssinn des Daseins expliziert. Der klassischen und der neuzeitlichen Ontologie entgehe dieser Horizont, da sie sich von vorneherein auf Gegenstand und Gegenständlichkeit reduziere (GA 63, 7 f.). Auch das Husserl’sche »Prinzip der Prinzipien« konstituiert sich nach Heidegger allererst vor dem Fluss des Lebens. Zugleich findet die Phänomenologie als strenge Wissenschaft hier ihre Grenze. Wenn hinter diese Grenze zurückgegangen werden soll, so wiederholt und präzisiert Heidegger nun den Ausgriff ins Vortheoretische der frühen Vorlesungen, so verschiebt sich der Akzent von der ›Phänomenologie‹ auf die ›Hermeneutik‹, die wie die Husserl’sche Phänomenologie es auch einforderte, eine Haltung ausmacht, nämlich das »Wachsein« des Daseins im Umgang mit sich selbst (19). Heidegger thematisiert damit erstmals konsequent die Temporalität der Lebensstrukturen. Die Abständigkeit formaler Anzeige wird als ›Zeitigung‹ in die Faktizität hinein ausgelegt, die Daseinsstruktur, die nie ganz präsent gemacht werden kann. Im Kern entwickelt Heidegger im Horizont des am-Leben-seins eine erste Destruktionsbewegung; sie gilt dem Begriff des ›Menschen‹ und seinen metaphysischen (animal rationale) bzw. theologischen Bestimmungen des humanum als eines Geschöpfs Gottes. Die Anthropologie kam in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als eigenständige philosophische Richtung auf, und Husserl war sich durchaus mit Heidegger einig, dass Anthropologie den philosophischen Impetus, der auf Grundfragen zielt, stillstelle. 53 Die von Scheler erneuerte Begrifflichkeit des Aktcharakters im Menschsein wird deshalb von Heidegger ebenso destruiert wie die phänomenologische Redeweise von »Ich«, Person, oder Ichpol« (ibid., 29). Ich spielt in seinem Denkansatz bekanntlich keine zentrale Rolle.
Vgl. die hervorragende Rekonstruktion des anti-anthropologischen Vorbehalts Husserls bei H. Blumenberg, »Phänomenonologie und Anthropologie«, in: ders., Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass hgg. von Manfred Sommer. Frankfurt/ Main 2006, S. 17 ff., S. 48 ff. Grundlegend ist hier Husserls Vortrag: »Phänomenologie und Anthropologie«, mit dem er im Juni 1931 auf Vortragsreise ging. Husserliana 27. Aufsätze und Vorträge, hg. von H. R. Sepp. Dordrecht 1989, S. 184–181.
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Die Preisgabe der Egologie ist selbstverständlich von größerer Tragweite, denn damit verabschiedet sich Heidegger von einem Drehund Angelpunkt der Phänomenologie und zugleich einer der Grundformen neuzeitlicher Philosophie. Dieses Absehen von der Subjektivität ist für Heideggers Explikation des Daseins als in-der-Welt-sein charakteristisch. Damit ist noch nicht die Frage beantwortet, ob es auch zwingend, oder auch nur schlüssig begründet ist. In einer philosophischen Systematik, die die transzendentalphilosophische Imprägnierung nicht preisgibt, wird es auch darum gehen müssen, die unterliegende Lebensstruktur, wie sie Heidegger herausarbeitet, mit dem Subjektivitäts-Gedanken zu verbinden: ein Schritt, den heidegger in seiner Konzentration auf die Seinfrage ausblendet. Der Rückbezug auf Dasein bzw. Leben verbindet sich in Heideggers Analyse eng mit dem situativen Rückgriff auf das Heute und seine intellektuelle und philosophische Situation. Der Vorbehalt der formalen Anzeige wird dabei weniger deutlich thematisiert, als die reale Situation von Universität und geistiger Situation nach dem Ersten Weltkrieg. Heidegger adaptiert sich im Zusammenhang seines Aufweises der unterliegenden Schicht der Lebendigkeit erstmals in dieser Konsequenz nicht an die strenge wissenschaftliche Philosophie, sondern an die Gegenwartsdiagnostik, die Versuche, ein geschichtliches Heute zu bestimmen, wobei er Sprengler einen Primat zuweist. In den Horizont der Diskurse einer ›Konservativen Revolution‹ 54 sind diese Überlegungen dennoch nicht einzuzeichnen. Denn Heidegger kann und will, trotz der signalisierten Nähe, die philosophisch-phänomenologische Frage nach einem Zeitsinn des Daseins, der dem »Platonismus der Barbaren« (42), einer Gewinnung des »Zeitlosen im Historismus« sich entzieht und so die Grundschicht des Lebens freilegt, mit der politisch aufgeladenen Zeitkritik unmittelbar verknüpfen. Bemerkenswert ist es, dass er an dieser Stelle eine ausdrückliche und harsche Zurückweisung der dialektischen Methode formuliert. Darin folgt er, unabhängig von der Verabschiedung der transzendentalen Subjektivität, nochmals konsequent Husserl und dessen Ausgangspunkt von der Gegebenheit der Phänomene: 55 Der systematische Kern von Heideggers Kritik besagt, dass die Dialektik richtungslos bleibe, »wenn nicht ein bestimmter Grundblick auf die Vgl. S. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1995. Siehe dazu L. Landgrebe, Faktizität und Individuation. Studien zu den Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg 1982, S. 7 ff.
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Sache, eine fundamentale Rationalität entscheidend ist« (45). Die reluzente, in der Ruinanz liegende innere Verkehrung ist also gerade das, was Heidegger – zugegebenermaßen verzerrt – mit einer Dialektik gleichsetzt, die »vom Tisch der anderen« lebe. Sie beansprucht, dem Lebenszusammenhang selbst abgelesen zu sein. Damit verbindet sich die Programmatik einer auf das Ganze von Erkenntnis gehenden, der Sache folgenden und darum objektiven Philosophie: Dies impliziert ein ausdrückliches Plädoyer für die eine Ontologie der Relationen, worin Heidegger eine unterschwellige zentrale Einsicht Husserls weiterführt: Hermeneutik nähert sich stets dem Grundphänomen des Da, das sie dann weiter auf die Verhältnisse befragt, in denen es steht, sein »als Was« (66). Was Heidegger als Hermeneutik bezeichnet, ist eine Ontologie, die vom Primat der Bedeutung und damit von einer Relationalität des Seienden in seinen Bewandtniszusammenhängen ausgeht: Im Licht dieser Relationenontologie macht er sich die Haltung der Phänomenologie explizit zu Eigen, die er als »kritisch-warnende Leitung des Sehens im Rückgang auf dem Wege des Abbaus kritisch festgestellter Verdeckungen« beschreibt (76). Der Anspruch sei es, den Weg zum Phänomen selbst radikal phänomenologisch zu gehen. Hier klärt sich die Verklammerung von Phänomenologie und Hermeneutik weiter auf, die als Grunddatum von Heideggers philosophischen Anfängen zu tage tritt: Die Hermeneutik vertieft und problematisiert die Phänomenologie auf die Bezüge des Lebenszusammenhangs. Sie verneint dabei ausdrücklich »das Vorurteil der Standpunktfreiheit« (82). Alles Sehen folge einer Perspektive, diese müsse jedoch »kritisch« gereinigt werden. Ein Objektivismus kann deshalb keine angemessene Folgerung aus der phänomenologischen Annäherung an »die Sache selbst« sein. Die Phänomenologie leistet gerade die Klärung und methodische Durchsicht durch die jeweiligen gewählten Perspektiven. Sie gewinnt daher in der Vielheit der Perspektiven den objektiven Sachzusammenhang. Vor diesem Hintergrund wird auf wenigen Seiten in einer Protoform der Tektonik, die in Sein und Zeit ihre reife Ausarbeitung finden sollte, der »Begegnischarakter« der Welt aus Existenzkategorien vom »mitweltlichen Vorschein«, der Vertrautheit und deren Störung im »Unberechenbar – Komparativischen« entwickelt. Dabei kommt dem Derangement der Gesichtspunkte durch ein »Anders als man dachte« (100) eine Bedeutung zu, die in Sein und Zeit nicht mehr anklingt. Die deutliche Negativitätssignatur von Ruinanz und Relu91
Das Eigenrecht des Denkens
zenz aus den vorausgehenden Ausarbeitungen tritt zurück. Ob man von einer Revision sprechen muss, oder ob Heidegger eher eine andere Akzentuierung vorschwebt, lässt sich aus dem Text alleine nicht entscheiden. Eine solche Entscheidung ist wohl auch nicht fruchtbar und liegt nicht in Heideggers Interesse. Negativität und Wendung der Phänomene gegen das phänomenologische Sehen erscheinen in dem neuen Kontext als relational-ontologischer Aufweis des Anders-Seins. Dem Grundriss eines in-derWelt-Seins, das aus dem ›Wie des Begegnens‹ schöpft, fehlt das Grundmoment, das dann in Sein und Zeit die eigentliche Kern- und Leitfrage bezeichnet, den Bezug auf den Sinn von Sein und den Konnex von Sein und Seiendem. Eminent ausgeprägt ist dagegen der Aspekt der Zeitlichkeit, dies, dass das Sein in seiner sorgenden BegegnisBeziehung zur Welt je schon in der Zeit steht. Im Hintergrund steht die Einsicht in die radikale Geschichtlichkeit und damit Historizität des Seienden selbst. Dies ist zumindest Heideggers Antwort auf die Historismusproblematik seiner Zeit, die nicht durch vulgär-platonisierende Versuche eines relativen Absoluten aufgehalten werden kann. Ein solches relatives Absolutes ermöglicht keinen Halt im Fortriss der Zeit. Damit erweist sich die phänomenologische Situation für Heidegger unter der Hand und per se als historisch gegeben. Diagnostisch ist dem Historismus und seiner Relativierung metaphysischer Selbstverständlichkeiten nicht zu widersprechen. Auch die Phänomenologie wird deshalb keinen Ewigkeitscharakter annehmen. Doch sie fragt über die historische Tatsachenwahrheit hinaus in die Temporalität des Seienden: Phänomenologisches Verstehen sei immer im Vollzug einer Zeit situiert. Die ontologische Dimension, die Heidegger gegenüber der Husserl’schen Phänomenologie anmahnt, verbindet sich mit der temporalen Dimension. Das Instrumentarium, jene Historizität durch eine eigene Temporalität des Daseins zu grundieren und damit auf eine zeitliche Ontologie des Dasein zu treffen, eben die Geschichtlichkeit, hat Heidegger durch seine Explikation der ›Kategorien der Existenz‹ im Wesentlichen entwickelt. Die frühen phänomenologischen Vorlesungen liefern ein umfassendes Repertoire, wobei es nur noch darauf ankommt, die verschiedenen Wege zusammenzuführen. Dafür ist es erforderlich, deren Richtung festzulegen. Die Weichenstellungen dazu nimmt Heidegger in seiner Marburger Zeit vor; hier kommt er auf das Problem der Logik zurück, und schärft die frühen Intentionen an Platon, Aristoteles und Kant. 92
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Das urchristliche Zeitverständnis: Ruinanz ins Eschaton Für die materiale Anleitung der frühen Heidegger’schen Phänomenologie sind die detaillierten Auslegungen zu einer ›Phänomenologie religiösen Lebens‹ einschlägig und unhintergehbar. Es sind biblische Texte, vor allem des Paulus, mit ihrer Evokation unmittelbarer Naherwartung einer befristeten Zeit, an denen Heidegger seine Interpretationen von Zeitlichkeit orientiert. Daneben stehen eminente Glaubenszeugnisse und Zeugnisse der Theologie, namentlich von Augustinus und Luther, die den eschatologischen Zeitsinn der christlichen Theologoumena vertiefen. Heidegger griff mit großem Nachdruck darauf zurück, und wie in Abbreviatur, nahm er diese Spuren auch in Sein und Zeit auf. Man kann und muss fragen, ob zu diesem Zeitpunkt der Bruch zwischen Glauben und Denken schon die Ausprägung hatte, die ihm Heidegger später gab. Ausgangspunkt einer temporal-ontologischen Interpretation ist ein phänomenologischer Zugriff, in dem »der Vollzug der geschichtlichen Situation des Phänomens« gewonnen wird (GA 60. 84). Damit verbindet sich die Forderung einer Umkehr der Begrifflichkeit, die für das Spannungsfeld zwischen antiker Ontologie und der Kerygmatik der biblischen Texte naheliegend ist. Selbstverständliche Begriffe dürften nicht aufgegriffen werden, wenn es darum geht, die temporale Situation zu erfassen. Es ist die Fremdheit, die durch dogmatische Überlagerungen unkenntlich gemachte Dimension originär Paulinischer Verkündigung, die Heidegger zufolge ein anderweitig mögliches Verfahren ad absurdum führt: die Einfühlung. Gerade deshalb dürften die frühchristlichen Zeugnisse für Heidegger ein solches Interesse haben. Der Situationsbegriff wird an dieser Stelle wieder aufgenommen, allerdings nicht mehr zur Beschreibung der historischen Situation, sondern nur in der formalen Bedeutung einer »Einheit des Mannigfaltigen« (92). Im selben Zusammenhang weist Heidegger implizit die Husserl’sche Rede vom Bewusstseinsstrom zurück. Er thematisiert sie, ohne auf die transzendentale Konstitution Bezug zu nehmen. Situationen seien jeweilige Relationen, sie bestimmten sich immer als Verhältnis von Einheit und Vielheit (92 f.). Die Situation greift damit über die Trennung von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt hinaus. Sie ist eine Weise des in-der-Welt-seins. Deshalb ist sie geeignet, auch das spezifische Welt- und Zeitverhältnis der frühen Christen zu erfassen. Die Situation werde näher konstituiert durch die Spannung zwischen dem Umkehr- (Metanoia-)Ruf der paulini93
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schen Briefe und dem bestehenden Zustand, zwischen in der Zeit ausgedehnter Existenz und der Parusieerwartung. Heidegger hebt die besondere Wissensform hervor, die Paulus im 1. ThessalonischerBrief den Thessalonichern zuweist: Ein Glaubenswissen, das auf radikaler Zurückverwiesenheit auf sich selbst beruht. In einem radikal phänomenologischen Sinn die Phänomenologie zu explizieren, (eine Maxime, auf die Heidegger in den frühen Vorlesungen immer wieder hinweist) bedeutet, sich in einen umfassenden Korrelationszusammenhang hineinzuversetzen, bei dem immer Bedeutung das Primäre ist. 56 Vor diesem Kriterium unterscheidet Heidegger auch den Galaterbrief, der einen nur dogmatischen Inhalt habe und damit christliches Glaubenswissen hypostasiere, vom 1. Thessalonicherbrief, der situativ die Parusieerwartung thematisch macht. Das eschatologische Problem wird nicht in einer Form von Wissen, auch nicht einem Glaubenswissen exponiert, sondern in der Haltung, die diesem Zeitsinn gemäß ist: für Paulus der Haltung des Wachens und Wartens. 57 Es ist ein Ethos, das aus dem reinen Selbstsein hervorgeht. Christliche Pneumatik ist, wie Paulus betont, auf Wachheit und Nüchternheit ausgerichtet. Sie hebt sich daher auch von dem Enthusiasmus anderer Mysterienreligionen ab; sie destruiert sogar die manische Bewusstseinssituation dieser Religionen. In den Aufzeichnungen im Anhang des (leider völlig unzureichend edierten) 58 einschlägigen Bandes der Gesamtausgabe wird deutlich, wie weitgehend Heidegger seinerzeit noch von theologischen Interessen getrieben wurde. Ein Ungenügen an Neuscholastik und überkommener Dogmatik wird dokumentiert. Wenn Edith Stein später Heideggers ›Geworfenheit‹ der christlichen ›Geborgenheit‹ kontrastierte, war von vornherein eine Inkommensurabilität gegeben, womit aber keineswegs gesagt ist, dass der Topos der ›Geborgenheit‹ bei ihm obsolet sei. Heideggers phänomenologischer Ansatz verbindet sich in dem frühen Kolleg bereits, in der Folge Overbecks, mit dem Versuch, die
Dazu nochmals D. O. Dahlstrom, »Husserl and Heidegger on Bedeutung«, in: Heidegger-Jahrbuch 6, S. 200 ff., und John Sallis, The Import of Intentionality, ibid., S. 187 ff. 57 GA 59/60, S. 130 ff. Dazu grundsätzlich berechtigt M. Jung, Das Denken des Seins und der Glaube an Gott. Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Martin Heidegger. Würzburg 1990, S. 37 ff. 58 Unzureichend, weil die Zuordnung zu den einzelnen Corpora nicht erkannbar ist. 56
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»Christlichkeit christlicher Theologie« offenzulegen. 59 Die Christlichkeit, also eine Christusbezogenheit, die nicht material, sondern nur formal anzeigend aufgewiesen werden soll, ist die materiale Folie, die in ein Verhältnis zur radikal phänomenologischen Besinnung gebracht werden muss. In einer der Notizen im Anhang notiert er: »als positive Forderung einer neuen Problemstellung, die mich selbst eigentlich treibt!« (135). Der Begriff der Theologie bleibe zunächst in der Schwebe. Angedeutet ist damit, dass er Teil der grundlegenden Umstrukturierung und ›Destruktion‹ der abendländischen Philosophie werden muss. Der Destruktionsbegriff bezieht sich bei Heidegger nicht nur auf Metaphysik. Er ist zunächst an christlicher Theologie und Religionsphilosophie geweckt worden. All dies ist von nochmals zugespitzter Bedeutung, wenn man bedenkt, dass Heidegger später den Hiatus zwischen Glauben und Denken gleichsam verabsolutierte und schon in dem Vortrag Phänomenologie und Theologie von einem Verhältnis zwischen Todfeinden sprach, 60 ein Gestus, der sich in einschlägigen Aufzeichnungen der Schwarzen Hefte erweitert und vertieft. 61 Es ist dieses Andere, an dem die Grenze einer innerphilosophischen, teilweise auch bei aller Programmatik zur Ersten Philosophie inner-psychologischen Orientierung der Phänomenologie Husserl’scher Prägung Heidegger deutlich wurde und das er von seiner Herkunft her sehr gut kannte. Aufgabe dieser frühen Phänomenologie der Religion ist es gerade nicht, Bestandstücke aus dem religiösen Leben in die allgemeine Analyse der Faktizität des Daseins einzufügen. Diese Tendenz zu einer Kryptotheologie ist immer wieder konstatiert worden, wenn Existenzbestimmungen aus Sein und Zeit aus ihrem biblischen oder gnostisch-manichäischen Kontext abgeleitet wurden. Einwände gegen Heideggers Denkform setzten an dieser Stelle ein. Die Aneignung ist aber bei Heidegger in jedem Fall hoch bewusst geleistet. Sie ist in jedem Fall gefiltert, und bewegt sich am Leitfaden einer formaDer Anschluss an Overbeck ist offensichtlich bei Heidegger, Phänomenologie und Theologie, a. a. O., S. 51 ff. unter dem Rubrum der ›Positivität der Theologie‹. F. Overbeck, »Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie«, in: Ders., Werke und Nachlass, Band 1. Basel 1994, S. 155 ff. 60 Heidegger, Phänomenologie und Theologie, a. a. O., S. 66. 61 Vgl. dazu weiter unten, im Blick auf eine durchgehende Linie in den ›Aufzeichnungen‹, die primär antijüdischen, sekundär auch einen gegen die christliche Offenbarung gerichteten Charakter hat: Vierter Teil. 27. Kapitel. Dazu auch A. Denker (Hg.), Zur Hermeneutik der Schwarzen Hefte. Freiburg/Br., München 2018. 59
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len Anzeige in Heideggers Sinn. Nicht die christlichen Gehalte, sondern das temporale, formal-kategoriale Gerüst scheint auf; die Rede vom ›Wie‹ und ›Wann‹, bzw. die Unterscheidung der frühchristlichen Gemeinschaft von ihrer Umwelt im Horizont der Eschatologie geben dem nähere Umrisse. Deren Topos umkreist Heideggers Phänomenologie religiösen Lebens als ein in die Gegenwart einfallendes Bewusstsein der Endlichkeit, der Ausrichtung der Zeit in einen ewigen Horizont, der sie auf ihr heilsgeschichtliches Gedächtnis und die Vorerwartung des Eschaton hin entzentriert. Die phänomenologischen Interpretationen zu Augustinus, insbesondere zu Confessiones X und zur christlichen Mystik bilden einen losen Zusammenhang mit der Phänomenologie religiösen Lebens. Die Memoria-Analyse zeichnet auf einer reflexiven Ebene das Wissen um sich selbst aus den Vollzügen von Erinnerung vor. Heidegger betont deshalb auch, dass sich die Memoria als Staunen entzünde. Heideggers Interpretation erstaunt und weckt Erstaunen über die Mannigfaltigkeit, die in die Erinnerungsstruktur eingeht. Theoretische Akte und ihre Differenzierung setzen den umfassenden Gedächtnisraum voraus. Wissen präzisiert er damit zu einem Unterscheidungswissen zwischen verschiedenen Formationen des Gedächtnisses. Niemals später thematisierte Heidegger in ähnlicher Tiefenschärfe Gedächtnis und Vergessen. 62 Heidegger betont völlig zu Recht, dass auch das Vergessen intentional gerichtet ist und in relationsontologischen Bezügen steht. Augustinus führt in eine Bewegung des Suchens und Findens, dem Absolutpunkt, den Heidegger insbesondere an der »beata vita« verdeutlicht, und dem Durchbruch zu einem gaudium de veritate. Für die Ausarbeitung von Sein und Zeit unverzichtbar waren, auch wenn man sie nicht kryptotheologisch verstehen will, insbesondere die Anzeigeformen zu ›tentatio‹ und Verfallenheit an die Welt. Was mit Reluzenz und Prästruktion als Formen der Ruinanz, eines sich gegen sich selbst stellenden Lebens in der Phänomenologie des Lebendigen angedeutet war, findet nun in der phänomenologischen Deutung von Augustinus eine Entsprechung. Es sind nicht einfach Gleichwohl ist das Denkphänomen des ›Versehens‹ und ›Verfehlens‹ bei Heidegger durchaus präsent. Doch die Phänomenologie des Vergessens selbst kommt im grundsätzlichen seinsgeschichtlichen Sinn der ›Seinsvergessenheit‹ zur Thematisierung und dann wieder in den ›Zollikoner Seminaren‹. Vgl. zum ideengeschichtlichen Hintergrund H. Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997, S. 40 ff.
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Augustinische Denkformen, die Heidegger übernimmt: Er fasst sie selbst in der ›formalen Anzeige‹ so auf, dass ihre theologische Überschüssigkeit in den Abstand gerückt wird. Die Differenz erscheint als unüberwindbar. Tentatio ist, formuliert Heidegger, »kein Geschehnis, sondern ein existenzieller Vollzugssinn, ein Wie des Erfahrens« (ibid., S. 248). Da nach einer Augustinstelle nahegelegt ist, dass das ganze Leben Tentatio sei, ist sie das Gesamtgefüge von ›Bedeutsamkeiten‹ (255), die jederzeit »in verkehrte, unechte Bedeutsamkeiten« kippen können. Wir ziehen wieder ein vorläufiges Resümee: Im Blick auf die Religionsphänomenologie ist das immer wieder gebrauchte Epitheton von ›Heideggers theologischen Jugendschriften‹ nicht angemessen. Es sind ganz und gar philosophische Korpora, die aber aus einem Phänomenalitätsbereich gewonnen sind, in dem Dasein und in der Welt-Sein in eminenter Weise auf seine eigene Zeitlichkeit bezogen ist. Heidegger verwendet die biblischen und theologischen Zeugnisse in einer Indifferenz, die die theologische Denkform aber in völliger Offenheit belässt.
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III. Logik als Frage nach der Wahrheit. Marburger Denkjahre – Auf Sein und Zeit zu und darüber hinaus
3.
Entwicklung einer Logik des Denkens und der doppelte Anfang der griechischen Metaphysik
Die Exposition des Problems der Logik innerhalb der Vorbereitung von Heideggers phänomenologischer Exposition der Fundamentalontologie während der Marburger Jahre weist bekanntlich auf frühe Impulse zurück. Dieser Aspekt von Heideggers Denken wird deshalb ausfürlicher dargestellt. Denn es wird sich zeigen, dass die logische Annäherung an die Seinsfrage einen eigenen Weg bezeichnet, der nur teilweise in ›Sein und Zeit‹ eingeht. Dass Heidegger immer wieder auf Fragen der Logik zurückkam, hat Gründe, die in seiner Dissertation und seiner Habilitationsschrift über die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1915) ersten Niederschlag finden. Ein noch tiefer wirkender Impuls ist, bis tief in die Marburger Jahre hinein, durch Husserls Logische Untersuchungen markiert. Vor diesem Hintergrund entfaltet er in seinen Marburger Jahren ›Logik‹ als Frage nach der Wahrheit. Dabei ist eine Einheit in Heideggers Fragelinie unverkennbar. Es zeigen sich aber auch Revisionen, Abbrüche und Neueinsätze des Fragens. In der Vorlesung ›Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs‹ aus dem Sommersemester 1925 (GA 20) versteht Heidegger im Sinne des phänomenologischen Selbstverständnisses Phänomenologie als deskriptive Analyse dessen, »was an ihm vorfindlich ist als das, was sein Sein ausmacht«. Sie ist »Deskription der Intentionalität in ihrem Apriori« (20. 106 ff.), wie Heidegger die von Husserl formulierte Maxime der Phänomenologie: ›zu den Sachen selbst!‹ ausdeutet. In jenen Verständnissinn gehört wesentlich die Einsicht, dass die im Begriff der Phänomenologie angezeigte ›Bedeutungseinheit‹ von phainomenon und lógos der phänomenologischen Forschung ihre Grundrichtung vorzeichnet (ähnliche Bestimmungen sind in Sein und Zeit eingegangen). Phänomenologie ist als Forschung demgemäß: »die Arbeit 98
Entwicklung einer Logik des Denkens
des freilegenden Sehenlassens« (GA 20. 118). Dabei weist Heidegger darauf hin, dass der lógos, wenn er von seinen metaphysischen Verdeckungen befreit wird, selbst einen phänomenologischen Grundzug hat. Der lógos richtet sich nicht nur auf Seiendes. Er lässt sehen. Als Inbegriff von Phainomenon begreift er in diesem und in verwandten Zusammenhängen »das, was sich selbst zeigt« (111), die Aristotelische Bestimmung des lógos apophantikos weist diesen selbst schon als ein ›Offenbar-machen‹ aus. So wenig der apophantische lógos mit dem originären Sinn des lógos gleichzusetzen ist, so sehr kann doch das legein ta phainómena mit dem apophainesthai ta phainómena gleichgesetzt werden: legein heißt »das an ihm selbst Offenbare von ihm her sehen lassen« (ibid., 117). Heidegger formuliert also in seiner Marburger Zeit fundamentallogische Untersuchungen, die einen sachlichen Fragezusammenhang explizieren, der nur partiell in Sein und Zeit behandelt werden wird. Zugleich trägt die Abarbeitung an der Frage der Logik zumindest vordergründig unübersehbar Züge des Vorläufigen an sich, die aus dem Rückblick nur wenige Jahre später offensichtlich hervortreten. Er löst sich später sogar programmatisch ganz von der Frage nach der Logik. In der Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (1929) wird im Blick auf das Verhältnis der logischen Verneinung zu dem ›Nichten des Nichts‹ bemerkt, dass im Feld der »Fragen nach dem Nichts und dem Sein« die Macht des Verstandes ›gebrochen‹ werde und dass sich »die Idee der Logik selbst« im Wirbel »eines ursprünglicheren Fragens« auflöse (GA 9. 117). 1 Die Exposition der Marburger Logik-Vorlesungen gewinnt wesentliche Grundlinien aus dem zweifachen Rückgang in die Platonische und Aristotelische metaphýsische Entfaltung antiker Philosophie. Dies zeigt sich sinnfällig an der Sophistes-Vorlesung des Wintersemesters 1924/25 (die den Boden Platonischer Seinsforschung im Blick auf Aristoteles gewinnt) und in den ihr vorausgehenden ›Grundbegriffe(n) der aristotelischen Philosophie‹ (SS 1924). Im Blick auf Aristoteles hält Heidegger in der Sophistes-Vorlesung als die
Vgl. zum Hintergrund: H. Holzhey (Hg.), Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Zeugnisse kritischer Lektüre. Basel 1986. ›Logik‹ wird aber in den dreißiger Jahren als Frage nach der Wahrheit erneut prominent. Nicht zuletzt zeigt sich dies im Blick auf Heraklits lógos-Begriff. Sechster Teil. 25. Kapitel. Stimmig ist es daher, wenn Heidegger einer NS-Hörerschaft entgegengehalten haben soll: »Ich lese Logik«.
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Grundstruktur des (apophantischen) lógos fest, etwas als etwas sehen zu lassen (GA 19. 182). Und er verweist auf den Synthesis- und Dihairesis-Charakter allen Ansprechens, ein Zug, der schrittweise entfaltet werden wird. Leitend ist aber zunächst die Freilegung der Grenze des lógos. Heidegger betont, dass der lógos von jeher nicht genuin in der Lage ist, zu enthüllen (aletheuein) oder zu verstellen (pseudesthai). Er ist »nicht die Stätte, in der das aletheuein zu Hause, bodenständig ist« (GA 19. 182). Dies wird sinnfällig daran, dass es in der unmittelbar sinnlichen Wahrnehmung, der aisthesis, und ebenso am anderen Extrempunkt, in der rein noetischen theōría »kein legein mehr« gebe, »kein Ansprechen von etwas als etwas« (ibid., 183). In jenen beiden, einander entgegengesetzten, doch gleichermaßen elementaren Weisen des Aufdeckens entfällt daher auch die Möglichkeit der Täuschung, ein Umstand, der für den Gang der Sophistes-Vorlesung von größter Bedeutung ist. Der lógos kann das aletheuein lediglich ›übernehmen‹ und dokumentieren. Er ist aber nicht ein Modus des Wahrheitsgeschehens. Vielmehr muss er es »von dem jeweiligen noein und dianoein bzw. der jeweiligen aisthesis« schöpfen« (196 f.). Auch die Platonische Vollzugsweise des lógos, das dialektische Durchsprechen von Fragen, bleibt Heidegger zufolge vorbehaltlich und vorläufig. Sie hat die Tendenz auf ein noein, in dem sie an ihr Ziel käme (197). Die Fortdauer des (durchprüfenden und durchsprechenden) dialegesthai zeigt an, dass jener der Täuschung enthobene Punkt nicht erreicht ist. Von daher kann Heidegger den »eigentliche(n) Ursprung der Logik« freilegen (205). Sie entspringt der Dialektik und bildet den Leitfaden der »konkrete[n] Seinsforschung« (205). Die Frage der Dialektik ist daher die Frage nach dem Sein des Seienden, »sofern es Angesprochenes, Besprochenes, legómenon, ist« (205), ein Fragehorizont, den Aristoteles festhält, obgleich er von der Platonischen Dialektik Abstand nimmt und sie aufgrund ihrer Vorläufigkeit eben nicht innerhalb der Ersten Philosophie und ihrer arché-Forschung verortet. Dass der lógos auch bei Aristoteles die Rolle eines Leitfadens behält, ist nach Heidegger auf den genuinen Grundzug im griechischen Seinsverständnis zurückzuführen, nämlich darauf, »dass das on, das Sein des Seienden selbst, primär als Anwesenheit interpretiert wird und der lógos die Art ist, in der ich mir etwas, nämlich das, worüber ich spreche, primär vergegenwärtige« (225). Geradezu als Methodenregel des Sophistes begreift es Heidegger (Sophistes 218c4 ff.), dass »eher die Sache selbst zu finden und in ihr 100
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übereinzustimmen (ist) auf dem Weg des Besprechens, als lediglich übereinzustimmen im Wort (lógos).« Dass der lógos nicht der genuine Ort des Wahrheitsgeschehens ist, führt Heidegger auf die Grundannahme, der die Behandlung der Logik in den anderen einschlägigen Marburger Vorlesung folgen wird: nämlich dass hinter die griechische Auffassung des lógos zurückzugehen ist; was aber gerade einschließt, dass auch über die ›Behandlungsart‹, nämlich den lógos wesentliches erfahrbar sein soll, wenn der Weise des Besprechens der Sache nachgegangen wird. Der lógos wird dabei nicht nur als grundlegend für die Definition des Sophisten erkannt, sondern als Mitte in dem Sophistes-Dialog und darüber hinaus in dem Platonisch Sokratischen Philosophieren. Dass Sokrates in seinem Philosophieren zu größtmöglicher Sinnklarheit über den lógos zu gelangen versucht, bedeutet zugleich, dass er sich selbst dabei aufdeckt. Von hier her ist es bemerkenswert, dass Heidegger die ›dialektische Fundamentalbetrachtung‹, die in der Fassung des mé on (als denk- und aussagbares heteron) als Möglichkeitsgrund der Dialektik bestimmt, die ihrerseits in einer Analyse des lógos wurzelt. Die Dialektik so wie sie im Platonischen Sophistes entwickelt wird, zeigt, dass zwischen der einen und der anderen großen Gattung, dem on und heteron, Mischungsverhältnisse möglich sind (GA 19. 577). Eben dies wird auf dem Weg zur Auffindung einer Definition des Sophisten gezeigt. Die Platonische Wendung »lógos hemin gégonen« (Soph. 259 e6) gibt zu verstehen, dass der lógos »mit unserem Sein selbst schon da ist« (577). Dies ist aber nur dadurch möglich, dass das Seiende selbst sich in Artikuliertheit und in Verbindungen mit anderem Seienden erschließt. Heidegger zieht dabei ein, auch bereits in Rücksicht auf die frühen Freiburger Vorlesungen beachtenswertes Resümée: nämlich dass es unter den fünf großen Gattungen des Sophistes die Bewegung (kinesis) ist, die den Leitfaden für die dialektische Fundamentalbetrachtung abgibt. Kinesis ist nichts anderes als der Lebensvollzug der Seele. Kinesis bezeichnet daher den Vollzug des Daseins als seine mögliche Entdeckbarkeit durch sich selbst. Das legein ist, so zieht Heidegger die Folgerung, »nichts anderes als das Gegenwärtig-machen der Sichtbarkeit des Seienden selbst« (579). Damit verbindet sich eine bis in Sein und Zeit maßgeblich durchscheinende Einsicht: Dass nämlich die fundamentalontologische Frage nach dem Dasein zwar in der Möglichkeit des lógos gründet, aber ihrerseits voraussetzt, dass sich das Sein ›gelichtet‹ hat, sodass im lógos das mé on zur Erscheinung kommt. 101
Logik als Frage nach der Wahrheit
Die Sophistes-Vorlesung mündet in eine auf Platons Dialog bezogene Analyse der lógos-Struktur. Diese legt eine dreifache, im lógos angelegte koinonia frei: 2 1. 2.
3.
den Zusammenhang zwischen onoma und rhema, eine intentionale Gemeinsamkeit, die darauf beruht, dass jede Aussage eine Aussage von etwas ist. Jene (wie Heidegger betont: von Husserl wiederaufgedeckte) Intentionalitätsstruktur verweist darauf, dass lógos qua Rede seinem Inneren nach ›Aufdecken‹ ist (598). Das ›Wovon‹ der Rede im Ganzen spezifiziert sich in ein Sagen ›von Etwas als Etwas‹. Der ›Als-Charakter‹ verweist darauf, dass immer nur »ein Vorgegebenes eigentlich in die Präsenz gebracht« werden kann (601). Zum dritten gibt der lógos eine delotische Struktur frei: das Wie seines Zeigens, das enthüllend und verhüllend sein kann und das über das konkrete Seiende in die Struktur von Dasein und Sein führt.
In seiner ein Semester zuvor gehaltenen Vorlesung Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie hat Heidegger dem lógos einen nicht weniger zentralen Ort zugewiesen. Er betont auch hier, der lógos sei dem ›Sein-in-der-Welt‹ verhaftet (GA 18. 265), er ist nicht mit dem Vollzug des aleteheuein einfach gleichzusetzen, wohl aber verfügt der lógos »über die jeweilige Entdecktheit und Aufgeschlossenheit der Welt«, er ›bewahrt‹ sie gleichsam in sich (269). Die in der SophistesVorlesung vorausgesetzte Differenz zwischen lógos und dem Vollzug des ›aletheuein‹ wird von hier her weitergehend bestimmt. Heidegger verweist darauf, dass der lógos Träger der Ausgelegtheit eines Daseins ist (276). Zugleich ist er der Topos (Ort), an dem überhaupt erst das Phänomen der Täuschung eintreten kann. Vorausgesetzt ist hier die Freilegung der parousia des Nicht-Seins (mé on) im lógos, die in der lógos-Analyse der Sophistes-Vorlesung vorgezeichnet wurde. Ohne auf ihre reichhaltigen Interpretationen selbst verweisen zu können, die sich zwischen Physik, Metaphysik und Eth. Nic. bewegen und dabei eine phänomenale Mitte in den Befindlichkeitsanalysen der Damit ist eine unterschiedene und zugleich geeinte Struktur des lógos-Gebrauchs angedeutet, die aber noch keineswegs zwingend auf eine Einzelheit aufbrechende Allgemeinheit (koinonia) verweist. Vgl. demgegenüber der Koinon-Begriff im Zusammenhang der Seinsgeschichte, Heidegger, GA 69. Weiter unter S. 237 ff.
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Rhetorik finden, ist festzuhalten, dass die Aristoteles-Vorlesung geradezu kontrapunktisch zu dem Sophistes-Kolleg verfährt: Sie entwirft am Leitfaden seines lógos als des Miteinandersprechens und Sichaussprechens die Konturen des Daseins als psyches energeia. Demgegenüber hatte Heidegger im Sophistes vom lógos her den Ort der Bewegung aufgewiesen. Erst die Komplementarität beider Richtung umschreibt den Ort der ›Logik‹. In dem Logik-Kolleg des Wintersemesters 1925/26 begreift Heidegger Logik in einem radikalen Sinn als Frage nach der Wahrheit, näher: dem Wahr-sein. Heidegger bezieht sich in den ›Prolegomena‹ der Vorlesung eingehend auf Husserls Kritik am Psychologismus, die darauf abzielt, in der eidetischen Abstraktion Wahrheit selbst zum Gegenstand zu machen und nicht psychische Urteilsvollzüge (Vgl. GA 21. 61, mit Bezug auf Husserl, Log. Untersuchungen I, 229 f.). Heidegger notiert aber als Husserls ›Versehen‹, den Punkt, an dem Husserl das Phänomen nicht angemessen erfasst, den Urteilsgehalt als ein ›Allgemeines‹ zu den Urteilsakten aufgefasst zu haben, wodurch die phänomenhafte Wurzel des Wahr-seins verfehlt werden müsse. Deshalb hebt Heidegger im Vorfeld des Kollegs Satzwahrheit und noetische Anschauungswahrheit gegeneinander ab. 3 Dabei wird von vorneherein gefragt, warum die Anschauungswahrheit zur Wahrheit des Satzes transformiert wurde. Dabei wird die Frage im Sinn einer Destruktion auf das Problem zugespitzt: »Kurz: Warum ist Wahrheit Selbigkeit – warum ist das Sein des Wahren das zeitlose Gelten?« (GA 21. 124). Dieser eigentlich in Frage stehende Sachverhalt ließe sich auch als Frage nach der Theoriehaftigkeit der Wahrheit fassen. Im Rückgang auf Aristoteles kann Heidegger in dem Kolleg die Grundstruktur des lógos freilegen, die für den gesamten weiteren Gedankengang leitend bleibt: lógos ist ein Verhältnis, aber nicht »zwischen zwei Seienden, die vorhanden sind« (164), sondern, ohne jede Analogie mit einer Relation zwischen seienden Entitäten, des Daseins zu der Welt, die mit ihm aufgeschlossen und entdeckt ist. Die Synthesisleistung des lógos ist daher selbst in einem zweifachen Horizont zu verstehen, »aus dem Seienden selbst und dessen Sein, Vgl. dazu J. Sallis, »Zur Logik des Denkens«, in: Figal (Hg.), Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven, a. a. O., S. 185 ff. In Frage steht dabei das Verhältnis der propositionalen zur nicht-propositionalen Wahrheit. Siehe auch R. Enskat, Wahrheit und Entdeckung. Frankfurt/Main 1986.
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bezüglich dessen der lógos ist, was er ist« und aus dem welthaften Verhalten des Daseins. Wahrheit ist aufgrund des Wesenszuges der Synthesis ›Entdecken‹, gleichermaßen als ›Charakter‹ des Seienden und der Verhaltens- und Vollzugsweise des Daseins (ibid., 169). Der lógos wird dabei im ersten Hauptteil der Vorlesung, mit Aristoteles als apophantische aufweisende Aussagewahrheit, erörtert. Sie ist eine bestimmte Art von Rede, der es eigen ist, ›wahr‹ und ›falsch‹ sein zu können (129). In Übereinstimmung mit dem Sophistes- Kolleg wird bekräftigt, dass, wenn doch zum Satz essentiell das Entweder-Oder von Wahr und Falsch gehört, er »gerade nach Aristoteles ganz und gar nicht das (ist), was sein muss, damit Wahrheit sein könne, was sie ist« (ibid.). Der lógos vollzieht sich, gemäß Platonischer und Aristotelischer Bestimmung, im Einzelnen in der Doppelstruktur von synthesis und dihairesis. Dabei scheint sich zunächst ein Zusammenhang zwischen Bejahung (Zusprechen) mit der synthetischen (verbindenden) und Verneinung (Absprechen) mit der dihairetischen (trennenden) lógos-Verfassung nahezulegen (139). Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Eindruck aber als trügerisch. Vielmehr ist, vor der Voraussetzung, dass zur Rede essentiell das Offenbarmachen, deloun, gehört (und dass mithin Bejahung und Verneinung Weisen des deloun sind), nach einem Phänomen zu fragen, »das an ihm selbst Verbinden und Trennen ist und vor sprachlichen Ausdrucksbeziehungen und deren Zusprechen und Absprechen liegt« (141); ein Phänomen, das es erst ermöglichen kann, dass ein lógos wahr oder falsch, entdeckend oder verdeckend sein kann. Dies führt in den Bereich vor der propositionalen Aussagewahrheit zurück. Heidegger legt mithin auf diesem Weg die dem Phänomen des wahr und falsch sein könnenden apophantischen lógos vorprädikativ vorgängige ›als-Struktur‹ frei, die andeutungsweise bereits in seiner Frühphilosophie eine Rolle spielte. Als-Verhältnisse sind in der elementarsten Dimension des Umgangs leitend und so ›ursprünglich‹, eigentlich: ›unvordenklich‹, dass ein ›als‹-freies Erfassen nur künstlich konstruiert werden muss. Grundlegend sind Weltdeutung und -umsicht immer in als-Verhältnissen gegeben. Mithin kann die alsPrädikation auch als phänomenologischer Grund des lógos aufgefasst werden. Heidegger unterscheidet dabei das ›hermeneutische Als‹ als die primäre Verstehensstruktur von dem ›apophantischen Als.‹ Das ›hermeneutische Als‹ ist der Grundbezug, der der Einheit der Aus104
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sage von Synthesis und dihairesis vorausgeht (149). Es ist »ein je schon im Woher des Bedeutens und Verstehens sich aufhaltendes Zurückkommen auf ein Begegnendes« (148). Im ›apophantischen Als‹, das im Akt des Bestimmens verortet ist, wird der als-Charakter nicht aus dem verrichtenden, umgehenden Bezug, sondern an ihm selbst als Angesprochenes ›entdeckt‹. Indem das ›Wozu‹ des Umgangs aber in einem ›Worüber‹ der Rede explizit gemacht wird, tritt die umgangshafte Dimension zurück. Erst aufgrund dieser Thematisierung und Freilegung des Aussagecharakters kann die Unterscheidung von Wahr und Falsch getroffen werden. Sie ist also, wie Heidegger hier unzweideutig zu verstehen gibt, immer schon Teil des Aussagezusammenhangs. Am Übergang zwischen dem ersten und zweiten Teil der ersten Marburger Logik-Vorlesung rückt vor diesem Hintergrund der Aufweis der Möglichkeiten des Falschseins einer Aussage in den Mittelpunkt. Dabei ergibt sich eine Fragerichtung, die sich in großer sachlicher Nähe zum Platonischen Sophistes bewegt. Heidegger hat an früher Stelle in der Vorlesung an die Platonische Frage in eben jenem Dialog erinnert, wodurch denn »die Mannigfaltigkeit von Wörtern, die aufeinanderfolgen, eine Gemeinsamkeit (koinonia) bilden könne (142). Es wird deutlich, dass die hermeneutische und zugleich ontologische ›als‹-Struktur vorprädikativ dieses (durch Synthesis gewonnenen) ›Beisammen-sein‹ und damit immer auch die Verbindung des lógos mit dem mé on ermöglicht. Heidegger unterscheidet dabei drei Möglichkeitsbedingungen des ›falschen‹ lógos, wobei es gerade auf ihren inneren Zusammenhang ankommt. 1. Es muss eine ›unterscheidende‹ und ›erkennende‹ Tendenz auf ›Entdeckung‹ hin vorausliegen, wenn etwas als etwas entdeckt werden soll, das es nicht ist. 2. Die zweite Bedingung besteht darin, dass dieses ›Worüber‹ des lógos das Seiende ›von anderem her‹ sehen lässt. »denn nur auf Grund dieser Struktur besteht die Möglichkeit des Ausgebens von etwas als etwas« (187). An späterer Stelle spricht Heidegger auch, in weiterer Ausziehung einer im Sophistes-Kolleg angelegten Linie, von einer ›delotischen Synthesis‹ (208). 3. Es ist das der Aussage und sogar der thematisch werdenden Entdeckung vorgängige Beisammen (koinon) von etwas mit etwas anderem, das in diesem Sehenlassen vorausgesetzt werden muss. Dies begreift Heidegger als ontische Synthesis (ibid.). 105
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Die Spezifizierung der als-Struktur des lógos auf die Möglichkeitsbedingungen des Falsch-sein-Könnens verweist aber auf eine Voraussetzung der von Aristoteles begründeten apophantischen Wahrheit, die auf dem Boden der antiken Ontologie, wie Heidegger zeigt, selbst nicht zum Austrag kam. Die Frage nach der Wahrheit bedarf daher der Radikalisierung vor einem Fragezusammenhang, den Heidegger als Chronologie exponiert. 4 Die phänomenologische Chronologie soll Teil phänomenologischer Fundamentalbetrachtung sein. Sie legt offen, dass das Aristotelische und darüber hinaus das antike Verständnis von Sein als ›Anwesenheit‹ und Wahrheit als ›Gegenwart‹ (parousía) (GA 21. 193, 203) auf Zeit-charakteren beruht. Dabei ergibt sich, auf das Ganze der Vorlesung hin, eine ›Wiederholungsstruktur‹. Die Analyse der Bedingungen der Möglichkeit logisch apophantischer Wahrheit in der Synthesis ist erst in einem zweiten Schritt eigens auf ihre Temporalität hin durchsichtig zu machen. Die Temporalität gibt der Schlusslogik gleichsam ihren Horizont vor, in dem die Möglichkeit des lógos, wahr und falsch sein zu können, immer schon anzutreffen ist. »Mit anderen Worten, diese Phänomene müssen auf den Seinszusammenhang zurückgebracht werden, indem sie sind, was sie sind« (209), was bedeutet, dass die Grundzüge des lógos als dem Dasein eignende ›Seinsphänomene‹ zu begreifen sind. Der Gang der Erörterung führt deshalb auf die ›Sorge‹ als Sein des Daseins, jene Grundart, in der es dem Seienden, um sein Sein selbst geht. Die Erörterung verweist zugleich auf die in Sorge beschlossene phänomenale Mannigfaltigkeit und Mehrfältigkeit, in Seinsstrukturen und Möglichkeiten, als die Heidegger das ›In-der-Welt-sein‹, das ›Sein mit Anderen‹ und das ›Sein um sich selbst‹ (229) thematisch macht. Zudem sind eigentliche und uneigentliche Weise zu sein in ein und derselben Sorgestruktur verankert. Entscheidend ist es freilich, dass eine Analyse des Seins des Daseins als Sorge »bei der bloßen Kenntlichmachung dieser mehrfältigen Strukturen natürlich nicht stehen bleiben« darf (227); die verschiedenen Grundmöglichkeiten modifizieren sich erst aus einem ihnen vorgängigen Einheitssinn, den Heidegger aus dem Kantischen Grundsatz »Das: Ich denke muss alle meine Vorstellungen begleiten können«, schöpft (K.r.V. B 131). Zu den Hintergründen: J. Greisch, »Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–32. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 115 ff.
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Die synthetische Einheit der Apperzeption führt auf das Problem einer Einheit in der Mannigfaltigkeit des Daseins, die nicht nur die Modi der Sorge, sondern auch Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins zusammenhält. Heidegger zeichnet die Einheit des Besorgens, die aller Zerstreuung vorausgeht, auf den Richtungssinn der Sorge weiter, dem gemäß es dem Dasein in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Dieser Seinssinn der Sorge gibt zu verstehen, dass das Dasein sein eigenes Seinkönnen stets und beständig ›ist‹, in einer temporalen ›In-ständigkeit‹, wie es in der Sophistes- Auslegung hieß, aus der die ontologische Auffassung der Wahrheit als ousía (parousia) überhaupt erst gewonnen werden konnte. Im Richtungssinn des ›es geht um‹ ist das Dasein sich aber je schon selbst vorweg-bei-seiner-Welt: eine Verhaltung, die auch die Möglichkeit des lógos, wahr oder falsch sein zu können, ihrerseits grundlegt. Die Seinsverfassung der besorgenden Sorge ist mithin nicht von ihrer Zeitstruktur zu trennen. Spätestens an dieser Stelle muss man sich über den von Heidegger gewählten Modus phänomenaler Analyse eigens Rechenschaft ablegen. Es tun sich – so hat sich Heidegger an dem Punkt, an dem er das Temporalitäts-Phänomen ins Spiel bringt, Rechenschaft gegeben – zwei mögliche Wege auf, um, was Aufgabe der Logik-Vorlesung ist, den Weg zu einem »eigentlich philosophischen Verständnis [.] des Satzes, d. h. des traditionellen Themas der traditionellen Logik«, zu bahnen (206). Der erste müsste die Idee der philosophischen Chronologie, auf die die Untersuchung nur erst ›dogmatisch‹ gestoßen sei, am Leitfaden der Frage, »Warum und wie Sein aus Gegenwart verstanden werden muss« (206), entfalten. 5 Diese Wegrichtung wird aufgrund ihrer Umwegigkeit nicht eingeschlagen, da die Temporalität, wie Heidegger voraussieht, auf den Phänomenzusammenhang von Satz, Aussage und Wahrheit nicht mehr zurückzuführen sein würde. Heideggers Weg besteht stattdessen in einer Wiederholung des Themas vor dem Leitfaden der Zeit. Heidegger hält unmissverständVerschiedene Wege, die abbiegen und die Einsicht des einen Weges auf dem anderen verloren gehen lassen, bilden ein wiederkehrendes Problem bei Platon und im Platonismus. Zur Orientierung im Hintergrund A. Denker und H. Zaborowski (Hg.), Heidegger und die Logik. Amsterdam 2006; sowie M. Steinmann, Die Offenheit des Sinns. Untersuchungen zu Sprache und Sinn bei Martin Heidegger. Tübingen 2008, S. 17 ff.
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lich fest, dass dabei nur temporale einzelne Charaktere, nicht aber die gesuchte Temporalität selbst in den Blick kommen kann. »Der Leitfaden ist zwar ein bestimmter, aber doch dunkler, ein mattes und flackerndes Licht, mit dem wir dem Gang der Untersuchung voranleuchten« (206). Gleichwohl sei der ›Mangel‹ auf diesem Wege leichter zu beheben: In ihren temporalen Strukturen zeige sich die Zeitlichkeit der Zeit indirekt an. Dieser Hinweis wird an dem Punkt besonders akut, an dem die Temporalität der Sorge ans Licht gebracht werden soll. Denn spätestens damit muss der Spielraum zwischen den Temporalitätsstrukturen und dem Wesen der Zeit selbst in den Blick kommen. Warum? Der temporale Richtungssinn der Sorge, ihr ›Sichvorweg-sein‹, ›fällt‹ offensichtlich nicht in die Zeit, da die Sorge als Sein des Daseins nicht Seiendes ist, das überhaupt nur ›in‹ die Zeit fallen kann. Wenn das Dasein zeitlich existiert, muss ihm eine eigene, andersartige ›Zeitbestimmung‹ zukommen, die an dieser Stelle freizulegen bleibt. Damit wird klar, dass Sein kein Phänomen ist, sondern der von den Phänomenen her erschlossene Zusammenhang der verschiedenen Sorgeverhältnisse des Daseins – Sorge selbst hat keinen Ort, in den sie »fallen« kann. Wir sorgen vielmehr nach verschiedenen Richtungen – vorwärts, rückwärts, leiblich, geistig. Die Orientierung an Jetzt-Zeit und Gegenwärtigen im Sinne der ousía wird dabei preiszugeben sein. Heidegger verweist überdies darauf, dass die beiden Zeitbestimmungen, jene, die dem Seienden und jene, die dem in-der-Welt seienden Dasein zukommt, originär durch eine ontologische Differenz voneinander getrennt sind. Denn das ›Schon‹ und ›Vor‹ der Sorge sind »nicht Bestimmtheiten eines Seienden, sondern eines Seins« (243). Heidegger wählt, vor der leitenden Untersuchung der Temporalität der Sorge, den Weg über die philosophischen Interpretationen des Zeitbegriffs zwischen Aristoteles, Kant und Hegel. Er hält dabei fest, dass der Aristotelische Begriff der Zeit vom Jetzt (nyn) her auf den Zusammenhang von Zeit Welt verweist: Es ist die als Jetzt-Zeit verstandene Zeit, in der Vorhandenes begegnet, Inbegriff des ›vulgären Zeitbegriffs‹. Die Auseinandersetzung mit Hegels Deutung der Zeit in der Enzyklopädie und – in der Vorlesung – in einem Nachtrag, der für die Text- und Problemgestaltung in Sein und Zeit von zentraler Bedeutung sein sollte: der Jenenser Logik, und der Verweis auf die Aristotelischen Einflüsse innerhalb ihrer kann vor unserem Fragehorizont nicht im Einzelnen verfolgt werden. Er ist als Seitenstück des Welt-Geschichts-Abschnittes von größter Bedeutung; als eine 108
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Keimzelle des Kant-Buches muss die daran anschließende Explikation der tragenden Bedeutung der Zeit in der Kantischen Kritik verstanden werden. Im genealogischen Zusammenhang ist es alle Aufmerksamkeit wert, dass die Logik-Vorlesung des Wintersemesters 19245/ 26 Keimzellen zu beiden Werken in sich verbindet, womit ein Vorgriff auf den Problemzusammenhang, der zwischen ihnen besteht, nahegelegt ist. Unter der Überschrift ›Grenze der Kantischen Interpretation‹ führt Heidegger diese Auslegung auf ihren sachlichen Hebelpunkt. An der bezeichneten Grenze tritt die existenziale Zeitbestimmtheit in den Blickkreis so, dass »das Gegenwärtigen […] allererst Bedingung der Möglichkeit dafür [ist], dass so etwas wie ›Jetzt‹ als jetzt das, jetzt dieses ausdrücklich werden kann« (401). Die grundlegende Jetztfolge, das ›freie Gegenwärtigen‹ im ›Ich verbinde‹ der Kantischen Synthesis, affiziert, wobei sie selbst unthematisch bleibt und »gleichsam ständig zurücktretend und verschwindend in ihren ständigen Weisungen etwas sehen lässt« (400). An diesem Punkt kommt der ausgezeichnete Charakter der Gegenwart aus dem strukturalen Vollzugssinn des Gegenwärtigens in den Blick. Gegenwart ist, so hält Heidegger fest, der primäre Strukturbegriff des Daseins; ein Grundverhältnis, das Kant in den Blick nehme und das sich im Verhältnis zwischen »Ich denke als Spontaneität der Apperzeption« und Zeit als »ursprünglich reiner Selbstaffektion« (404) aufschließe. Kant hält Heidegger zufolge phänomenologisch vollständig zutreffend sowohl die Nichtobjektivität und Ungegenständlichkeit des ›Ich denke‹ als auch der Zeit fest. Er macht dies aber nicht ›positiv‹ verständlich, was heißen würde, dass die Einheit des ›Ich denke‹ »als das Wofür des Begegnenlassens« als die Zeit selbst »qua reines Gegenwärtigen« (406) erkannt würde. In dieser prägnanten Defizitanzeige, im Horizont einer grundlegenden Übereinstimmung, legt Heidegger offensichtlich die Grundlagen für sein Kant-Buch. Damit ist unmittelbar vor dem Ende des Erörterungsganges der Vorlesung der Schlüssel für die phänomenale Erfassung der Logik als Frage nach der Wahrheit freigelegt, soweit er in dem Kolleg thematisch werden kann. »Das reine, freie Gegenwärtigen […]« – dem die Grundeigenschaft des lógos, zu verbinden und zu trennen, folgt, erweist sich als »der eigenständige, aber abkünftige Modus eines ursprünglichen Gegenwärtigens des faktischen Daseins selbst« (407). 109
Logik als Frage nach der Wahrheit
Der Grundcharakter der Logik, der Anschauungs- und Satzwahrheit gleichermaßen ermöglicht und ihnen zugrunde liegt, zeichnet sich ab, wenn Zeit in diesem Sinn ›als Existenzial‹ begriffen ist. Allen Urteilen und Aussagen ist ein Doppelcharakter eigen: Sie sind einerseits Aussagen über weltlich Vorhandenes; die ›Als‹-Struktur, als hermeneutische Indikation genommen, indiziert aber andererseits die allem kategorialen Setzen vorausliegende Daseinsstruktur des Gegenwärtigens. Die Verborgenheit der Zeit auf dem gewählten phänomenologischen Untersuchungsweg erschließt, vom Ende her betrachtet, ihre wesensmäßige Verfassung: Dass sie sich zumeist und wesentlich verbirgt, ist die phänomenale Voraussetzung dafür, dass sie sich als Grund der sich-gebenden Phänomenalität zeigt. Die Verborgenheit der Zeit wird nicht explizit mit dem verborgenen der Wahrheit als aletheia zusammengedacht. In der Sache ist dieser Zusammenhang aber strukturell nur naheliegend. Die Richtung der Seinsgeschichte auf die Erscheinung des Verborgenen, also die Intention, dass das verborgene Sein der Lichtung des Seins des Seienden vorausgeht, scheint hier erstmals auf. 6 Der lógos als apophainesthai beruht auf einem Gegenwärtigen, dem phänomenologischen Anwesendsein-Lassen des jeweiligen Seins des Seienden (414). Dies zeigt sich im ›ist‹-Sagen, das jedem Urteil, ob ausgesprochen oder nicht, eigen ist. Das ›Ist‹ hat, wie Heidegger nachgerade apodiktisch festhält, »nicht die Funktion der Kopula, sondern zeigt den phänomenalen, auf den Daseinssinn bezogenen Grund jeder Aussage an, dass sie gegenwärtigt und sehen lässt. Logik ist daher in ihrem Grund dies Sehenlassen und reine Anschauen, was im griechischen Begriff des Erkennens als »reines theorein« (415) einen äußersten Ausdruck findet. Über diesen Horizont greift die Vorlesung nicht in ›radikalere zeitliche Möglichkeiten‹ hinaus: In weiterem Sinn lässt sich mit ihr vielmehr das Resümée ziehen, dass alle überlieferte Philosophie im Grunde ›Logik‹ ist, insofern sie der Auffassung des lógos als einem ›Gewärtigen‹ folgt. An jenen radikaleren Möglichkeiten, die über Wahrheit als in Satzgestalt gefügte Anschauungswahrheit, als theōría, hinausführten, wäre mithin der »traditionelle(n) Logik und Ontologie« eine wesentliche Grenze gesetzt.
6 Vgl. D. Neu, Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion. Zur Gründung in Heideggers ›Beiträge zur Philosophie‹ unter Heranziehung der Derridaschen Dekonstruktion. Berlin 1997.
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Entwicklung einer Logik des Denkens
Im Vergleich mit der ausgearbeiteten und abgeschlossenen Tektonik von Sein und Zeit fällt auf, dass Heidegger den Weg der logischen Annäherungen nicht in der zentralen Weise entfaltet und systematisch vertieft hat, wie es von seinen Logikvorlesungen her möglich gewesen wäre. Die logische Grundlegungsfrage wird zwar gestreift, aber nicht systematisch ausgearbeitet. Hier zeigt sich ein anderer Annäherungsweg, der nicht primär am Dasein, sondern an der Vernunft- und damit lógos-Struktur selbst entlang entwickelt worden wäre. In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommersemester 1927 kommt der Logik eine enger umgrenzte Rolle zu. Dies ist für die Annäherung an die Struktur von Sein und Zeit charakteristisch. Ihr ist die Kantische These über das Sein zugewiesen, deren »phänomenologisch-kritischer Diskussion« der erste Teil des Kollegtextes gilt. Sie schließt sich mithin an die Kantische These, »Sein ist kein reales Prädikat«, 7 die von Aristoteles begründete, in der mittelalterlichen Ontologie bestimmende These der zwiefachen Seinsverfassung des Seienden als Was-Sein (essentia) und Dass-Sein (existentia) und die res extensa-res cogitans-Unterscheidung als These der neuzeitlichen Ontologie seit Descartes an. Dieser Tektonik gemäß werden wesentliche Fragezusammenhänge daher nicht am Leitfaden der Logik behandelt, die ihr in der ersten Logik-Vorlesung selbstverständlich zugeordnet waren: So wird etwa die Frage der gestreuten Mannigfaltigkeit von Seinsweisen und der Einheit der Idee von Sein im Licht der Problematik neuzeitlicher Ontologie freigelegt. Der ›These der Logik‹ kommt gleichwohl eine herausragende Bedeutung zu. Denn sie gibt den Vorgriff auf den Wahrheitscharakter des Seins, die ›veritas transcendentalis‹ (GA 24. 25). Im Vorgriff wird zudem deutlich, dass der veritative Charakter des Seins zuinnerst mit der Seinsweise des Daseins verflochten ist: Das Dasein existiert ›in der Wahrheit‹, da ihm die Seinsweise der Aufgeschlossenheit zugehört. In ihrem elementaren Grundriss behauptet die ›These der Logik‹, dass sich in der Kopula ›ist‹ alles Seiende, ohne Rücksicht auf seine Seinsweise gleichermaßen ansprechen lässt. Eine phänomenologische Befragung der Logik hat daher die Aufgabe, den »Zusammenhang des Vgl. die späte Summe Heidegger, »Kants These über das Sein« (1961), in: Ders., Wegmarken, a. a. O., S. 445 ff.
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›ist‹ als Kopula mit dem radikal aufzuwerfenden ontologischen Grundproblemen aufzuhellen. Zu diesem Ende nimmt Heidegger charakteristische Erörterungen der Kopula in der Geschichte der Logik von Aristoteles über Hobbes (Bestimmung der Kopula als Aussage der essentia) John Stuart Mill (als Aussage der essentia und existentia) bis hin zu Lotzes Lehre vom Doppelurteil, 8 das in seinem ›Hauptgedanken‹ die Verbindung von Subjekt und Prädikat ausdrückt, in seinem Nebengedanken aber das Wahrsein eben dieser Verbindung, auf. In jenen Ausprägungen lässt sich erkennen, dass in der Kopula ›ist‹ eine, im Lauf der Denkgeschichte ihrer Bestimmung zunehmend ans Licht tretende, Bedeutungsmannigfaltigkeit angelegt sein muss, in der sich die mannigfaltige Bedeutung des Seienden ausspricht, ohne dass doch eigens nach ihr gefragt werden könnte. Innerhalb der Logik kann, so kann Heidegger resümierend festhalten, das Phänomen der Aussage nicht zureichend erfasst und umgrenzt werden: Der Phänomenologie stellt sich, zumal auf dem Methodenweg der Destruktion, das Problem, die Aussage selbst in ihrem Strukturgefüge freizulegen. Sie geht auf die der Aussage vorgängige ontologische Voraussetzung zurück, die in der ersten Logik-Vorlesung thematisch geworden war, wonach Seiendes als dem in der Welt seienden Dasein Enthülltes vorgegeben sein muss, um Gegenstand einer Aussage sein zu können. Der kopulative Sinn des ›ist‹ wird, in methodischer Ergänzung zur ersten Logik-Vorlesung, nicht übersprungen, sondern reflektiert. Er wird in seinem Derivationscharakter durchsichtig gemacht: als Kopula kann Sein im Satz nur fungieren, da das Sein des Seienden als Seienden wesentlich eine ›Verbindung‹, ein ›Beisammen‹ (syn) meint. Der in der Aussage vorausgesetzte Enthüllungscharakter gibt damit einen Blick auf den inneren Zusammenhang mit der Seinsfrage frei, der in der zweiten großen Logik-Vorlesung der Marburger Zeit im Blick auf den Satz vom Grund entfaltet werden wird. Das Enthüllen wird auf den (verbal gefassten) griechischen Ursinn von aletheuein als Wahrsein bezogen, worin sich Seiendes erst in seinem Sein zeigen kann. Solches Wahrsein ist aber zugleich (und unablösbar davon) »eine Seinsweise des Daseins selbst, seiner Existenz« (308). Dass sich das Sein von Seiendem erst in der Wahrheit gibt, hängt daher zuinnerst davon ab, dass das Dasein sich
8 Vgl. H. Lotze, System der Philosophie. Erster Theil. Drei Bücher der ›Logik‹.Leipzig 1874.
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›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik
in der Weise des Wahrseins, also Enthüllens, verhält; ein Zusammenhang, der ebenfalls im Erörterungsgang der Vorlesung über die Metaphysischen Anfangsgründe der Logik differenziert werden wird. Die skizzierte Destruktion der These vom Sein als Kopula in der Logik bringt, vor der Einsicht in die notwendig ›existenziale Seinsart der Wahrheit‹, im Grundzug den notwendigen Zusammenhang von Sein und Wahrheit ans Licht. Sie ist es daher, die, anders als die anderen ›kritisch phänomenologisch‹ diskutierten Thesen, auf die im zweiten Teil der Vorlesung entfaltete fundamentalontologische Frage nach dem Sinn von Sein hinweist. Eben hier ist ein weitausgreifender Zusammenhang bis zu den späteren Logik-Vorlesungen der Freiburger Zeit angedeutet, die den Entgegensetzungen, die sich im Sinn von Sein verbergen, nachgehen (Vgl. etwa GA Band 45 und Band 51). Je näher wir dem ›ist‹ rücken, so hält Heidegger fest, als umso rätselhafter erweist es sich. Die in sich gänzlich indifferente Form der Kopula nämlich bezieht sich auf die je spezifische Enthülltheit des Seienden und wird innerhalb seiner nachgerade unkenntlich. Nicht nur Was-sein und Wie-sein, sondern zugleich das Enthülltsein in seiner Spezifik, treten aus der Indifferenz der Kopula ans Licht.
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›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik
Die Vorlesung ›Metaphysische Anfangsgründe der Logik- im Ausgang von Leibniz‹, die Heidegger im Sommersemester 1928 hält, setzt in genetischer Perspektive in dem Zusammenhang an, der in der ersten Marburger Logik-Vorlesung mit größter Sorgfalt freigelegt worden war, nämlich bei der Einsicht, dass die »gigantomacheia peri tou ontos« (Platon, Sophistes 244a; Frontispiz von Sein und Zeit) ihr Feld im ›menschlichen Dasein‹ hat. Deshalb sei das Dasein in seiner Struktur als Kampfgrund der ›gigantomacheia‹ originär auf die Seinsfrage hin auszuarbeiten, wobei es Heidegger als »die einzige Aufgabe« begreift, einzusehen, »dass dieses menschliche Dasein selbst ein Seiendes (ist), zu dessen Seinsart es wesenhaft gehört, dergleichen wie Sein zu verstehen« (GA 26. 20). Die Fragerichtung nach dem Dasein richtet sich dabei zunächst auf das Fundament philosophischer Logik: Logik soll auf ihre Grundsätze hin transparent gemacht werden, die zugleich die Grundsätze des Denkens selbst sind. Diese Grundsätze begreift Heidegger als »Grün113
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de für Sätze überhaupt, Gründe, die Denken ermöglichen« (24), als was sie sich wiederum nur erweisen können, indem sie »Gründe für Verstehen, Existenz, Seinsverständnis, Dasein, Urtranszendenz« sind (24). Damit wird das Grundproblem der Logik auf eine doppelte Problemstruktur hin vorentworfen: Es verweist zum einen auf die Gesetzlichkeit des Denkens, diese enthülle sich aber als Problem der menschlichen Existenz, näher: als Problem der Freiheit (25). Es ist der Satz vom Grund, der die Mitte aller Erörterungen ausmacht. Heidegger bespricht ihn in zwei Schritten: Der erste Schritt gilt einer freilegenden Destruktion der Leibnizianischen Urteilslehre, der zweite sucht die ›Metaphysik‹ des Satzes vom Grund als das genuine ›Grundproblem der Logik‹ freizulegen. Leibniz’ Urteilslehre ist als Inklusionstheorie zu verstehen, die in ihrem Grundgefüge Aristoteles folgt (De Interpr. 3, 16b10 f.), da das, was mit Recht von einem Subjekt ausgesagt werden soll, in ihm enthalten sein muss (hyparchē´in auto). Bei Leibniz nimmt dies die Form an, dass das Prädikat als Folgerung (consequens) im Subjekt enthalten sein muss, das seinerseits antecedens ist. Die Inklusion hat ihrerseits sowohl logischen als ontischen Charakter (44), wie Heidegger unterstreicht. Der Einschluss also bezieht sich auf Prädikat und Subjekt und gleichermaßen auf »das Sein des mit dem Prädikat Gemeinten mit dem im Subjekt genannten Seienden« (44). Dieses Inklusionsverhältnis indiziert eine Identität: Er verdeutlicht, dass das Urteil nach Leibniz eine connexio realis ist. Des näheren ergibt sich das Verhältnis, dass Identität im urteilslogischen Formalsinn auf der ontischen Identität beruht. Die Leibnizianische Idee der Erkenntnis findet nach Heideggers Auslegung in der cognitio intuitiva ihren höchsten Punkt. Diese verweist, orientiert am Ideal Gottes, als ens simplicissimum, das direkt zu erfassen und nicht weiter zu analysieren ist (79), auf den Inbegriff von Identität im Sinne der »Einstimmung des Verschiedenen« (84). In ihr wird der Begriff der ›connnexio realis‹ als Identität sinnfällig, der strictu sensu besagt: »Was in dem nexus steht und in der connexio erfasst wird, fällt nicht auseinander, widerstreitet sich nicht, sondern alles ist in sich einig und betrifft als Bestimmtheit das eine und selbe Was – das Identische in seiner Identität« (84). Es ist jener Zusammenhang der Identität mit der Wahrheit, aus dem sich eine phänomenologische Interpretation der Leibnizischen Fassung des ›Seins des eigentlich Seienden‹ als Monade erklärt, bei deren Ausdeutung Hei114
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degger auf ihren ›Drangcharakter‹ abhebt, auf den Vollzug des einigenden Einen. Die Doppelung der formalen Identität im Urteil mit der ontischen Übereinstimmung wird zum Leitfaden dafür, dass Logik und Ontologie in ein Verhältnis gebracht werden können. Dieses verweist auf die innere Gabelung des Bezugs in ›Intentionalität‹ und ›Bestimmung‹ (in Entsprechung zu dem Verhältnis von ›hermeneutischem‹ und ›apophantischem Als‹ in der ersten Logik-Vorlesung): der intentionale Bezug des Aussagens ist ›in sich‹ zugleich beziehendes Bestimmen von Etwas als Etwas. Im ›ist‹ eines jeden Urteils (A ist B) lässt sich, wie Heidegger zeigt, diese Ursprünglichkeit der Gabelung freilegen. Dieser Aufweis steht am Ende des Destruktions-Teiles der Vorlesung. 9 Die Destruktion führt nun erstmals zu der Einsicht, dass die Logik in der Metaphysik gründet. Sie ist strictu sensu nichts anderes »als die Metaphysik der Wahrheit« und der auf Wahrheit gegründeten Identität (132). In dem damit freigelegten Umkreis bewegt sich im zweiten Hauptstück der Vorlesung der Aufweis des Grundproblems der Logik. Es kann dabei um nichts anderes gehen als darum, den Grundsatzcharakter des Satzes vom Grund seinerseits zu klären. Heidegger bestimmt die Problemdimension aus der Ambivalenz der Wortbedeutung von aitia, was ebenso wohl Argument (als ›Grund eines Fürwahr-haltens‹ oder ›Beweisgrund‹) wie auch ›Ursache‹ bedeuten kann. Anders gesagt hat die Rede vom Grund in der Episteme (im lógos) und in der techné ihren Ort, ein Zusammenfall, der nach Heidegger keinesfalls zufällig ist. Lógos und Episteme aber sind als die beiden Verhaltungen zu verstehen, an denen das Seiende offenbar wird. Der Grund steht in einem nun zu erhellenden Wesensbezug zur ausssagbaren Wahrheit. Heidegger bezieht sich eben in jenem Zusammenhang auf das letzte eingehende Gespräch mit Max Scheler aus dem Dezember 1927, das um eine radikalere phänomenale Fassung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt gekreist habe, was sich mit der Erinnerung an die beiden gemeinsame Aussage verbindet, dass der Überschritt in die »eigentliche Metaphysik« wieder gewagt, sie also »von Grund auf« entwickelt werden sollte. Dabei hält Heidegger nun im Rückblick auf sein ein Jahr früher publiziertes Hauptwerk 9
Vgl. M. Steinmann, Die Offenheit des Sinns, a. a. O., S. 143 ff.
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auch fest, dass die originäre Bestimmung des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt in beider originärer Seinsart »eine der vorbereitenden Hauptaufgaben von Sein und Zeit« gewesen sei, die aber noch kaum über eine erste Wegbahnung hinausgelangt ist. Hier sollte die Intentionalität den Leitfaden abgeben. Die Husserl’sche Fassung der Intentionalität ist Heidegger zufolge defizitär. Ihr Konstitutivum fasst er zugleich als ihre Grenze auf: Sie bleibt nämlich eingegrenzt auf das noetische Verhalten zu Seiendem. Indes bleibt das Intentionalitätsproblem selbst im Bereich einer Vorfrage. Seine Radikalisierung führt auf die Frage der Transzendenz als Verhaltung des Daseins, die nach Heidegger ex origo mit dem Charakter von dessen ursprünglichem »In-der-Welt-sein« eins ist (ibid., 170). Transzendenz ist damit von Intentionalität zu unterscheiden. Diese ist nur auf dem Grund von jener überhaupt möglich, womit die Einsicht erreicht ist, dass das Wesen der Wahrheit überhaupt nur als »Transzendenzproblem« aufzuklären ist (171). Der Vorblick auf das Wesen der Wahrheit, der in Übereinstimmung mit Heideggers erster Logik-Vorlesung die Verwurzelung des Wahrheitsphänomens in einem »Schon-seinbei« freilegt und die Einheit des Bestimmens von etwas als etwas im Wahr-sein als Enthüllen fundiert (160 f.), erschließt sich nun in der Zugehörigkeit der Wahrheit zur Transzendenz. Dabei ist der auf die Metaphysik der Logik gerichtete Schritt nicht zu überspringen, demzufolge zu klären ist, dass Grund »irgendwie mit Wahrheit zusammenhängt« (152), was aber im Sinn des von Heidegger begangenen Erörterungsweges nur aus dem Vorgriff auf das Wesen der Wahrheit einsichtig gemacht werden kann. Die Rückerinnerung an das Problem von Sein und Zeit haftet an der Klärung des originären Transzendenzcharakters des Daseins: Dabei ist in unserem Zusammenhang nur das Ergebnis jener Erörterung festzuhalten. Es weist dem Problem des Grundes seine ›Dimension‹ zu. Diese ist aber, im Sinn der Grundfrage der Metaphysik, mit der »zentrale (n) Fragerichtung der Metaphysik« identisch (195). Das bedeutet auch, dass das Problematon der Transzendenz überhaupt nur innerhalb der Vorzeichnung des Seinsproblems zum Tragen kommen kann. Dies hat zwei, gegenüber Sein und Zeit sich zuspitzende Implikationen: Nämlich dass für die Seinsfrage die »Subjektivität des Subjektes«, die im Horizont der zweiten Logik-Vorlesung mit der »Transzendenz des Daseins« gleichgesetzt werden kann (vgl. 194), »die zentrale Frage« sei, denn Sein »existiert nur«, sofern Dasein existiert, sich also in der Weise der Transzendenz verhält. Er gibt aber an spä116
›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik
terer Stelle zugleich zu verstehen, dass im in-der-Welt-sein »der Begriff der Subjektivität und des Subjektiven von Grund aus verwandelt« sei (252). Dies bedeutet gleich wesentlich (in kritischer Spitze gegen den ontischen Intentionalitätsbegriff der Husserl’schen Phänomenologie, die nicht mehr nach dem Sein des intentionalen Bewusstseins frage), dass sich das Dasein sein Sein gibt, wenn Seiendes sich, namentlich in episteme (lógos) oder poiesis enthüllt. Die zweite Zuspitzung betrifft die in sich differente Artikulation des universalen, einen Seins. Heideggers spricht bekanntlich, in dem nicht vorgetragenen Entwurf des Verhältnisses von ›Fundamentalontologie und ›Metontologie‹ davon, dass die Fundamentalontologie, wird sie nur hinreichend radikal gefasst, aus sich heraus einen Umschlag (metabolé) auf die Totalität des Seienden, eine »Kehre« (201) impliziert. Metonotologie als ›metaphysische Ontik‹ läuft thematisch auf das Seiende hin zurück, in dessen Umkreis sie sich hält. Im ausgeführten Vorlesungstext erweist sich dies als die ›Grundartikulation des Seins‹ (193), die als sich vollziehende Unterscheidung von Sein und Seiendem, eben als ›ontologische Differenz‹ (193), das Seinsverständnis überhaupt erst ermöglicht. Es kann in diesem Zusammenhang nur um die Freilegung des Denkortes jener Kehre gehen: Heidegger bildet den Doppelbegriff der (Aristotelischen) Grundlegung der Metaphysik in prote philosophia und theologia auf die in sich unterschiedene Einheit von Fundamentalontologie und Metontologie ab: Diese in der Fundamentalontologie selbst liegende ›kehrige‹ Richtung konkretisiert die ontologische Differenz, sodass erst auf ihrem Grund »Philosophie« als »die zentrale und totale Konkretion des metaphysischen Wesens der Existenz« möglich ist (ibid., 202). Damit wird auch dem Problem des Grundes die ihm eigene Problemdimension vorgezeichnet, was zugleich heißt, dass sein eigenster Ursprung »gleichsam aus der Gegenrichtung« (193) angebahnt wird. Der Ursprung des Problems des Grundes kann als »innerer Zusammenhang von Sein und Wahrheit« und das heißt zugleich: als »Wahrheitscharakter des Seins« erkannt werden. Von diesem Punkt aus ist es nun auch möglich, die Frage, wie Wahrheit und Grund zusammenhängen, sachgemäß zu exponieren. Das Problem des Grundes wird thematisch, indem (nach der Abtragung der Gegenrichtung) gleichsam »wie von selbst« Phänomen und Wesen des Grundes zur Abhebung gebracht werden kann (203). Dieser methodischen Vorzeichnung ist im weiteren zu folgen, wobei der von 117
Logik als Frage nach der Wahrheit
Heidegger explizierte Erörterungsgang in der Vorlesung eine weit ausgreifende Vorbildung der Abhandlungen ›Vom Wesen des Grundes‹ und ›Vom Wesen der Wahrheit‹ enthält, die deren sachliche Klammer deutlicher hervortreten lässt. Entscheidend ist, dass das Phänomen des Grundes unmittelbar am Transzendenzcharakter des Daseins sichtbar wird, wenn dieses, wie Heidegger in Abhebung vom Kantischen Begriff der Transzendenz verdeutlicht, als »die ursprüngliche Verfassung der Subjektivität eines Subjektes« (211) begriffen wird. Hier ist von Subjekt und Dasein in synonymer Bedeutung die Rede. Wie bereits zu erkennen war, ›existiert‹ das Dasein wesentlich transzendierend, was nur zu verstehen ist, wenn der Richtungssinn dieses Transzendierens mitgedacht wird. Es richtet sich auf Welt in dem transzendentalen Begriffssinn der Kantischen Rede von ›Welt‹, 10 wobei Heidegger in einer weitreichenden Kontraktion Kants Rede von ›transzendental‹ mit ›ontologisch‹ gleichsetzt. Dies aber bedeute, so erläutert Heidegger weiter, nichts anderes als ›fundamentalontologisch‹ (218 f.). Als Grundcharakter von Welt wird in Abhebungen, die sich im Spielraum zwischen Kant und Platon bewegen, auf dem Weg über die Bestimmung von Welt als ›Reich der Ideen‹ und – Platonisch: epekeina tes ousías das »Umwillen« thematisiert. Leitfaden dafür ist, was vor dem Hintergrund der ersten Marburger Logik-Vorlesung alles andere als selbstverständlich ist, die antike Ontologie der Parousía. Mit der Transzendenzformel des epekeina tes ousías wird die idea tou agathou namhaft gemacht, die »Platon und vor allem Aristoteles« als »das Worumwillen« schlechthin verstehen (ibid., 237). Das ›Umwillen‹ (und mit ihm die Platonische idea tou agathou) ist als Umschreibung des Wesens des Grundes zu verstehen- es transzendiert Heidegger zufolge die Gesamtheit der Ideen und gibt ihnen gerade darin »die Form der Ganzheit«, die koinonia der inneren Zugehörigkeit (237 f.) In diese Vorzeichnung tritt nun ›Freiheit‹ ein. Die Orientierung des ›Umwillen‹ kann nur als Selbstwahl, aus Freiheit, die in ontologischem Sinn gefasst werden muss (245), gedacht werden, wobei Hei-
Zu der Situierung Kants bei Heidegger vgl. F. Schalow, The Renewal of the Heidegger-Kant Dialogue. Action, Thought, and Responsibility. Albany 1992. Mir geht es hier darum, relativ nuanciert und differenziert die Kategorien und Beschreibungen zu rekonstruieren, die Heidegger von Kant her gewinnt. Deshalb bleibt eine detaillierte Kant-Diskussion im Licht der Kant-Forschung und ihrer abweichenden Ergebnisse.
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›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik
degger die Freiheit pointiert als »die innere Möglichkeit von Willen« (246) denkt. Hier tritt zumindest in einem inneren Verständnis am ehesten die Konzeption von Sein und Zeit in den Bereich der Sichtbarkeit. Der vollzugshafte Grundcharakter des Daseins ist daher freies Sich-entwerfen in ein Worum-willen, worin sich aber wiederum eine Duplizität, ein Gegenhalt, auftut. Das Dasein ›hält sich‹ in dem Entwurf so, »dass dieser freie Halt bindet« (248), »d. h. dass er das Dasein, in allen seinen Dimensionen der Transzendenz, in einen möglichen Spielraum der Wahl stellt« (248). Damit bestimmt sich das Inder-Welt-sein erst vollständig, denn Welt wird »in der Freiheit wider diese selbst gehalten« (ibid.). Die Welt und das in seinem Wesen welthafte Dasein begreift Heidegger als ›überschüssig‹ gegenüber dem einzelnen faktischen Seienden. Doch erst aufgrund des Daseins kann einzelnes Seiendes Eingang in die Welt finden. Dieser Überschuss, auch als ›Übertriftigkeit‹ und Übertreffen begriffen, wäre auch als Überschwung auszuzeichnen, worin Seiendes ›übersprungen‹ wird. Welt erweist sich in diesem Sinn als Nichts, nämlich: nicht als ein Seiendes. Damit ist freilich selbst nur eine Problemanzeige gegeben: Zu fragen bleibt, welcher Art von Nichts die Welt ist. Dies weist auf Heideggers, bislang nicht behandelte Exposition der »Negativität« zurück, »die im Begriff der Wahrheit als a-letheia liegt« (159) und die sich, in größter Dichte mit dem Enthüllungscharakter, dem Begegnenlassen verbindet, das im griechischen aletheuein ausgesprochen und wiederum verdeckt worden sei. Die Antwort auf die Weise, welcher Art Nichts die Welt ist, kann erst im phänomenalen Aufweis der Zeitlichkeit gegeben werden, die ihrerseits in Fortbildung der ersten Logik-Vorlesung als innere Möglichkeit von Transzendenz freigelegt wird. Für den Erörterungszusammenhang der Logik mag es hinreichend sein, darauf zu verweisen, dass die ekstatische Einheit der Zeit als die (zeitliche) Bedingung der Möglichkeit von Welt erwiesen wird, worin sich wiederum die Welt als das »Nichts« erweist, »das sich ursprünglich zeitigt, (als) das in und mit der Zeitigung Entspringende schlechthin« (272). Sie ist mit dem schulmetaphysischen Ausdruck, das nihil originarium, jenes Nichts, das in und mit der Zeitigung entspringt. Damit erst ist das Wesen des Grundes selbst in seiner Vollständigkeit enthüllt: Das ›Umwillen‹, jener primäre Weltcharakter, erweist sich als das Urphänomen von Grund überhaupt. Anders könnte das Dasein nur ›faktisch nach Seiendem‹, nicht nach dem Warum fragen (276). Da es sich aber notwendig welthaft verhält, bezieht es sich stets auf das Umwillen der Welt. Die Grundfrage liegt den modi 119
Logik als Frage nach der Wahrheit
essentiae und existentiae, dem Was-Sein und Dass-sein des Seienden voraus. Es transzendiert sie auf den Sinn von Sein hin. Heidegger kann die Frage nach dem Grund, wie in einer Vorzeichnung der noch unthematisch bleibenden Grundfrage der Metaphysik auch in die Form bringen: »Warum das Warum?«: womit sich keinesfalls ein regressus ad infinitum eröffnet, sondern womit in eine unendliche Frage nach dem Grund, das Wesen des Grundes selbst, eingeführt wird: Das fragende Warum gründet im Erfragten. Hier tut sich, wie Heidegger zeigt, ein doppelter Problembezirk auf, der offensichtlich auf den Zusammenhang von Fundamentalontologie und Metontologie zurückweist. Zum einen wird der »Ursprung der Manngifaltigkeit von Gründen«, und das ist: die Streuung und das Auseinandertreten in verschiedene Formen von Grund freigelegt (278). Zum anderen wird gezeigt, dass der Grund wesenhaft in seinen Grund zurückläuft, womit wir die Freiheit, die sich an das Umwillen bindet, gleichzusetzen haben. Es könnte zunächst scheinen, als solle nur eine strukturelle Übereinstimmung zwischen dem Gefüge von Fundamentalontologie und Metontologie und der doppelten Problemlage des Grundes festgehalten werden. Dies griffe aber zu kurz. Heidegger kommt nämlich im letzten Abschnitt der Vorlesung auf die »tiefe Einsicht« zurück, die in dem griechischen Wort für Wahrheit, aletheia, ihren Niederschlag fand. Sie besteht darin, dass das Seiende erst durch seinen »Welteingang«, erst indem es in das Umwillen des Weltbezugs eines Daseins genommen wird, »der Verborgenheit entrissen wird« (281). Seiendes aber kann erst aus der Welt verstanden werden, weshalb der Grund »wesenhaft zum Sein« gehört (282). Und noch deutlicher: Der Grund als primärer Charakter von Welt wird mit dem im »Seinsverständnis verstandenen Sein« gleichgesetzt, aus dem sich aller erst Seiendes als Seiendes verstehen lasse. Die Grundfrage der Metaphysik ist insofern konstitutiv für die Seinsfrage. Gegenüber der bei Leibniz zugespitzten, ›überlieferten Ordnung‹ ist daher festzuhalten, dass nicht die Identität erster »Grundsatz der Logik« sein kann, sondern dass es der Satz vom Grunde sein müsse, womit die Logik als Frage nach der Wahrheit an ihrer Radix als Metaphysik aufgewiesen ist. Höchst aufschlussreich ist zumal die Verhältnisbestimmung zur Metaphysik. Heidegger meint, mit diesen Bestimmungen lediglich an den Punkt zurückgeführt zu haben, an dem Plation in Politeia VI, 509b 6–10 stand. Den Satz: »all’ ethi epekeina tes ousías presbeia kai dynámei hyperechontos« übersetzt er mit den Worten: »Das Umwillen aber (die Transzendenz) ist nicht 120
›Logik‹ als Grundfrage der Geschichte der Metaphysik
das Sein selbst, sondern was es überschreitet und zwar, indem es das Seiende an Würde und Macht überschwingt«. Die Vulgärfassung des Satzes vom Grund: nihil est sine ratione: omne ens habet rationem unterschlägt, wie Heidegger pointiert festhält, den Vorzugs- und das meint: Überschwungs- und Transzendenzcharakter des Grundes, sein potius quam. Der Gang von Heideggers Marburger Befassungen mit der Logik lässt den Befund zu, dass damit die Frage nach der Wahrheit auf den Weg einer originären Kategorienforschung im temporalen Horizont gebracht wurde. 11 Sie nimmt in Marburg ihren Ausgang bei der fundamentalen lógos-Analyse im Sophistes, namentlich der Verbindung von lógos und mé on, von der her der Kinesis-Vollzug des Daseins in seinem Seinsverständnis allererst ›gelichtet‹ werden kann. Sie tritt in den Aufweis des abkünftigen Charakters der Aussage aus dem ›Gegenwärtigen‹ ein, worin die Frage ›Was ist Wahrheit?‹ eine erste eindringende Ausarbeitung erfährt (GA 22). Dabei bringt die ›Logik‹ zugleich (GA 22, GA 24) den Zusammenhang von Wahrheit und Sein ans Licht. Und sie führt am Ende der Marburger Jahre (GA 26) in die tief lotende Erörterung des Zusammenhangs von Grund, Freiheit, Wahrheit – in einer fundamentalontologisch auf das Dasein fokussierten Fundamentalanalyse des Sinns von Sein. Eindringlich wird in Heideggers Phänomenologie der ›Logik‹ die Tendenz zu einer Urschöpfung der (dem welthaften Dasein eigenen) temporalen Kategorialität erkennbar. Keineswegs nur in destruierender Wegrichtung gilt sein Interesse ganz der Freilegung des Ursinns der ›Logik‹ selbst, zum anderen zeigt sich, dass die ›Logik‹-Vorlesungen im Sinn der berühmten Formulierung Kants in seinem bekannten Brief an Markus Herz ›Metaphysik der Metaphysik‹ zu sein beanspruchen, dies aber im Sinn einer phänomenologischen Fundamentalanalyse der Metaphysik. Die innere Kehre von der Fundamentalontologie zur Metontologie weist ebenso darauf hin wie die von Heidegger exponierte, aber nicht zur Gänze ausgeführte methodische Trias der Phänomenologie in phänomenologische Reduktion, Konstruktion (freies Entwerfen des Seienden auf sein Sein) und Destruktion Vgl. den wichtigen Sammelband E. Mazzarella (Hg.), Heidegger a Marburgo. Genua 2006; siehe zu den weiteren Hintergründen auch T. Keiling (Hg.), Heideggers Marburger Zeit. Themen, Argumente, Konstellationen. Frankfurt/Main 2013.
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Logik als Frage nach der Wahrheit
(GA 24. 27 ff.). Daher geschieht in ihnen ein Gutteil der ›Verwindung‹, die in der seinsgeschichtlichen Ausarbeitung der Seinsfrage vorausgesetzt wird. Es kann in der in diesem Kapitel gebotenen Blickbegrenzung auf die Marburger Zeit nicht entschieden werden, wo sich die Frage nach der Wahrheit der Fassung der Logik entziehen musste und sich die Abkehr von der ersten Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein innerhalb der ›Logik‹-Problematik abzeichnete. Sie war indes geeignet, die Grundstruktur der a-letheia, den veritativen Zug der Seinsfrage zu entfalten: Dabei scheint sie selbst den Charakter jenes ›Zwischen‹ zu haben, das einen Phänomenzusammenhang nur erkennen lässt, indem es selbst verschwindet. Insofern bleibt sie unerlässlicher Bestandteil der hermeneutischen Phänomenologie. Weiterhin ist nicht zu übersehen, dass sie auch in den zweiten, seinsgeschichtlichen Ausarbeitungsweg der ›Grundfrage‹ eingeht, wobei die ›Logik‹ auf den Bereich der Aussage begrenzt zu sein scheint und ihr Wahrheitsbegriff, wenn man an die Vorlesung Grundfragen der Philosophie – Ausgewählte ›Probleme‹ der ›Logik‹ denkt (WS 1937/38 GA 45), auf die Richtigkeit (orthotes) eingeschränkt wird. Die vielfältige Problematik der ›Logik‹ ist in die Wesung der Wahrheit des Seins als ihren Grund zurückgeführt, gleichwohl schickt sich eben darin das Sein in der Sprache zu, die im Schweigen gründet und ihr Maß hält.
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Der Sophistes: Heideggers Platon
Georg Picht hat in einem Erinnerungstext von einem denkwürdigen Spaziergang berichtet, den er mit Heidegger in den ersten Nachkriegsjahren unternahm, ein Schwarzwaldgang: »Ich fasste mir ein Herz und versuchte ihm zu erklären, weshalb mich seine Deutung von Platons Höhlengleichnis nicht überzeugte. Das war ein zentraler Punkt, denn daran hing seine ganze Interpretation der europäischen Metaphysik […]. Nach einer Reihe von treffenden, genauen, mit verhaltener Leidenschaft gestellten Fragen, denen ich nicht auswich, blieb er stehen und sagte: »Eines muss ich Ihnen zugeben, die Struktur des platonischen Denkens ist mir vollkommen dunkel.« Es folgt eine lange Pause des Schweigens: »Jetzt sollten wir wohl umkehren«. 12 G. Picht, »Die Macht des Denkens«, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, a. a. O., S. 175 ff., hier S. 181 f.
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Der Sophistes: Heideggers Platon
In der Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/25 hat Heidegger diese Struktur, soweit es ihm nahelag, radikal aufzuhellen versucht. Die differenzierten Analysen bereiten wesentliche Einsichten in die ›Ontologie des Daseins‹ vor; vor allem das Feld von Wahrheit und ihrer Verfehlung im Irrtum und einem Vorbei-Sehen; an Selbst und Welt. Deshalb weist die Vorlesung zum Platonischen ›Sophisten‹ in das Zentrum von Heideggers Ontologie des Daseins. In seinen späteren seinsgeschichtlichen Verortungen Platons folgte er dieser Deutung aber nur in einem gröberen Raster, das Picht vor Augen gehabt haben dürfte: Platons Idee ist das erste Joch, unter das das anfängliche Sein gefügt wird. 13 Als leitenden Gesichtspunkt (skopos) des Platonischen Sophistes legt er im Vorgriff einen Zug frei, der in den Ausführungen des Kollegs zurücktreten wird: nämlich dass eine äußerste Möglichkeit menschlicher Existenz angezeigt werde, die Existenzmöglichkeit der Philosophie. »Und zwar zeigt Platon indirekt, was der Philosoph sei, indem er auseinanderlegt, was der Sophist sei« (12). In diesen Horizont fügt sich die, gleichfalls im voraus, als Sachgehalt des Sophistes angezeigte Problem-Verknüpfung zwischen der Aufklärung von Schein und Täuschung und der Erhellung der Strukturen des Seins des Seienden. Und Heidegger gibt eine erste prägnante Charakteristik der aletheia, deren privativer Bedeutungssinn in zweifache Richtung verweise: Zum einen ist sie als Relation auf die entdeckende Hinsicht auf Seiendes auszulegen, zum anderen aber als genuiner Seinscharakter des Daseins, das ›entdeckend‹ im Modus des aletheuein ist. In diesem gleichen, ersten Vorgriff wird auch festgehalten, dass das aletheuein sich zunächst am legein zeige (17), namentlich insofern dieses ausgezeichnete Seinsweise der ›entdeckend‹ seienden Seinsweise des Lebenden, der Psyche, ist. In einem Zusatz hat Heidegger die Platonische Rede von Psyche mit »LebenDasein« gleichgesetzt und als Zwischenwesen »im Horizont von kinesis und stasis« verortet.
So im Grundzug Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit« (1931/32, 1940), in: GA 9. Wegmarken, S. 203–239. Dazu W. Beierwaltes, »EPEKEINA. Eine Anmerkung zu Heideggers Platon-Rezeption«, in: Ders., Fußnoten zu Plato. Frankfurt/Main 2011, S. 371 ff. Beierwaltes’ treffende Kritik gewinnt im Licht der differenierten ›Sophistes‹Aneignung Heideggers ein deutlicheres Profil. Von dem ›Sophistes‹-Kolleg ausgehend wäre es denkbar gewesen, dass Heideggers Denkweg eine platonisch-aristotelische Spur genommen hätte.
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Logik als Frage nach der Wahrheit
Der phänomenologische lógos der Dialektik Der von Heidegger aufgewiesene Leitfaden hat eine phänomenologische und eine hermeneutische Spitze: »Wir bringen uns von Aristoteles her in die rechte Haltung, die rechte Weise des Sehens, nach dem Seienden und dessen Sein zu fragen«. Dieser Leitfaden soll der alten hermeneutischen Maxime, »Vom Hellen ins Dunkle« zu gehen, Rechnung tragen, er ist aber offensichtlich nicht geeignet, das eigentlich Dunkle, die Platonische Dialektik, seinerseits aufzuhellen. Heidegger muss daher von vorneherein in seine Maxime die Unterscheidung der Aristotelischen Abgrenzung von Dialektik und Sophistik gegen die Erste Philosophie aufnehmen und die Aristotelische Bestimmung der ›Weise des dialektischen Könnens‹ zitieren, die nur dazu reicht, »den Versuch mit etwas« zu machen (peiran labein) (Sophistische Widerlegungen I, 11). Er meint gleichwohl, dass der Aristotelische ›Leitfaden‹ prädestiniert ist für den Rückgang in das ›Verworrene‹ und ›Verwickelte‹ der Platonischen Problemlage. Nur an ihm entlang kann die »Fundamentalfrage der griechischen philosophischen Forschung« als »die Frage nach dem Sein, bzw. nach dem Sinn des Seins und charakteristischerweise die Frage nach der Wahrheit« aus der dialogisch dialektischen Untersuchung, zumal des Sophistes freigelegt werden (190). Das Verhältnis zeigt eine Ambivalenz an: Das Seiende werde in der griechischen Seinsforschung thematisch nur, insofern es on legómenon, angesprochenes Seiendes ist (224). Einerseits wird damit die Abhängigkeit auch des Aristotelischen noein, eines adihaireton und einer lógos-freien letzten arché vom legein, und letztlich auch von der Platonischen Dialektik, festgehalten. Dass »die Grundbestimmung des on, die ousía, den Charakter des hypokeimenon hat«, erschließt sich erst in der Sprache. Denn das hypokeimon meine, »was in einem Sprechen über etwas, was im Besprechen eines seienden Zusammenhanges im Vorhinein vor allem Sprechen für dieses da ist, nämlich das, worüber gesprochen wird« (ibid., 224). Dies verweist darauf, dass Heidegger durchaus dem Platonischen Dialog ein Eigenrecht gegenüber dem ›Leitfaden‹ zuerkennt (insofern auch archē´ und theōría: nous noch als Weisen des legein zu beschreiben sind). So bedeutsam für ihn die Auffindung des Leitfadens ist, um überhaupt in das Dickicht der Platonischen Seinsforschung Licht zu bringen, so deutet Heidegger doch zugleich an, dass er nur eine propädeutische Funktion hat. Am ›Verworrenen‹ der Fragebewegung 124
Der Sophistes: Heideggers Platon
Platonischer ›Sachforschung‹ soll gerade die phänomenologische Sacharbeit einsetzen, denn an einer späteren, aufschlussreichen Stelle wird bemerkt, dass es nicht darauf ankomme, »sich [nicht] von der Vergangenheit frei zu machen, sondern umgekehrt die Vergangenheit für uns frei zu machen, frei zu lösen aus der Tradition, und zwar der unechten Tradition, die das Eigentümliche hat, dass sie im Geben, im tradere, […] die Gabe selbst verunstaltet« (413). Dies wird in Gegenwendung gegen eine phänomenologische ›Romantik‹ festgehalten, die meine, sich gleichsam ›mit einem Sprung‹ von der Überlieferung lösen und ins Freie gelangen zu können. Heidegger hatte schon zu Beginn des Sophistes-Kollegs festgehalten, dass Aristoteles mit Platon konvergiere, er sage das Selbe nur »radikaler, wissenschaftlicher ausgebildet« (11 f.). Heidegger macht nun vor diesem Hintergrund von dem Aristotelischen Leitfaden namentlich im Blick auf den Begriff der aletheia Gebrauch. Er deutet aletheia und aletheuein als den Boden Platonischer Seinsforschung, der bei Platon selbst indes nicht thematisch werde und nicht offengelegt worden sei. Dabei beschreibt er, wie an der Abhebung der fünf Weisen des aletheuein, der dianoetischen Tugenden nach Eth. Nic. VI (episteme, techné, phrónesis, sophia, nous), und schließlich der Frage nach dem Vorrang von sophia oder nous angezeigt wird: das derart in Modifizierungen tretende aletheuein als Abwandlung in der Orientierung des menschlichen Daseins. Die Methode der Aristotelischen Untersuchung werde, so betont Heidegger, durch die Phänomenologie menschlichen Daseins vorgezeichnet. 14 Bei allem Befremden darüber, dass sich gerade aufgrund der erhellenden Sophistes-Auslegung Heideggers einstellen kann, dient die Grundlegung offensichtlich dazu, die Fragegänge im Platonischen Dialog auf das Medium des aletheuein und die ihm entsprechende Eine gewisse Oszillation zwischen tiefreichenden Einsichten in die Struktur Platonischen Denkens und einer bestehen bleibenden Fixierung auf Aristoteles zeigt sich darin, dass Heidegger die Aristotelische Rhetorik, auf die sein Kollege im Wintersemester 1923/24 fokussiert gewesen war, als Realisierung jener Idee begreift, »die Plato mit Hilfe seiner Dialektik positiv ausgearbeitet hat« (ibid., S. 338). Diese Lesart resultiert, worauf es hier primär ankommt, keineswegs zwingend aus Heideggers Interpretation, sie schränkt aber die Reichweite der Dialektik als phänomenologischer Methode ein. Zum Zusammenhang von Dialektik und Rhetorik vgl. die Explikation bei J. König, Einführung in das Studium des Aristoteles an Hand einer Interpretation seiner Schrift über die Rhetorik, hg. von N. Braun. Göttingen 2000.
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Logik als Frage nach der Wahrheit
Daseinsorientierung hin transparent zu halten, ohne dass, wie in Heideggers späteren Platon-Auslegungen zuweilen, eine Grundstellung zur aletheia vorausgesetzt würde. Der von ihm konstatierten Platonischen Ungeklärtheit hat Heidegger systematisch dennoch einige wichtige Einsichten abgewonnen. In einem Zusatz zur Sophistes-Vorlesung bemerkt er: »Andererseits hat er in dieser genialen Unklarheit die Sachen aufgerührt. Genial, weil sie echte Wurzeln der Aufdeckung in sich trägt. Keine phantastische sachblinde Unklarheit«. Und in ähnlicher Weise deutet sich seine Ambivalenz gegenüber der Dialektik an: Als Daseinsart denkenden In-der-Welt-seins verstanden, ist das dialegesthai »Sein bei, Kennen und Wissen des Seienden«, es gelange aber, anders als die Aristotelische theōría, niemals zur vollen Sicht. Wenn aber, wie wir festzuhalten hatten, auch noetisches Aufdecken meta tou logou bleibt, so bekundet sich gerade in dem dialektisch vollzogenen lógos Temporalität, die Herausbildung jenes Grundzugs, den Heidegger in den Logik-Vorlesungen der Marburger Zeit aus der griechischen Seinsforschung zu erheben suchte: dass sie Sein als ›Anwesendheit‹ (parousia) fasste. Bei Platon nimmt das Problem näher die Gestalt der Frage an: »welchen Sinn haben die Charaktere des Seins, die universell jedem Seienden, sofern es ist, zukommen, im Hinblick auf das jeweilige konkrete Seiende?« (223). Denn als den gegenüber Parmenides epochalen Einschnitt begreift er es, »dass der Boden, auf dem die Frage nach dem Sinn des Seins gestellt wird, jetzt konkret wird« (205). Jene Frage zielt einerseits auf die jeweilige Begegnisart des Seienden. Bei aller Unhintergehbarkeit des legein als Aufdeckung des Seienden entgeht Heidegger freilich keinesfalls, dass die Platonische Stellung zum lógos »zwiespältig« (308 f.) ist, auf der Bruchlinie zwischen der Selbstunterscheidung der Philosophie von Rhetorik. Der phänomenologischen Erörterung dieses Zwiespalts dient die Einfugung einer Deutung entscheidender Passagen des Phaidros in die Sophistes-Vorlesung. Sie läuft einer näheren Kennzeichnung von Platons dialektischem Grundverfahren noch voraus und setzt sich zur Aufgabe, den Sinn der Vorrangstellung »des lógos in der Fragestellung der wissenschaftlichen Philosophie« zur Klärung zu bringen (320). Es ist deutlich, dass der phänomenologische Grundsinn dieses Vorrangs bereits in der Sokratischen lógos-Liebe gefunden wird (vgl. Phaidros 22b6 ff.), als Freude am ›entdeckenden‹, sich aussprechenden lógos, der Sokratisch zugleich ein Sich-selbst-dabei-Aufdecken bezeichnet. 126
Der Sophistes: Heideggers Platon
Die Phaidros-Interpretationen haben vor allem den Zweck, die Selbstscheidung des lógos, die die Sokratische lógos-Liebe trägt, transparent zu machen: Die elementare Bestimmung der Redekunst als peithous demiourgikós (Ausbilddung einer Ansicht) beruht auf einem ›Sehen des Wahren‹ (319), das im (rhetorischen) lógos keinesfalls notwendig aufzufangen ist. Dieser ist deshalb, noch vor allen seinen Täuschungsversuchen, über seine eigenen Bedingungen der Möglichkeit desorientiert. Dies ›Sehen der Wahrheit‹ werde in der ›Dialektik‹ vollzogen, deren Zug als zétema proton Heidegger in dem Zwischenstück an der Dialektik-Bestimmung des Phaidros thematisch zu machen versucht. In einem ersten Schritt werde das, »wovon überhaupt gesprochen wird« (319), »ins Auge gefasst« und dann sein Gehalt gegliedert. Auf der Grundlage der sehenlassenden dialektischen Methode erst kann die wahre Rhetorik, das eu legein, als »techné psychagogía tis dià lógon« (216a7 f.), »ein sich-Auskennen im Führen der Existenz der Anderen auf dem Wege des Sprechens mit ihnen«, wie Heidegger übersetzt (319) exponiert werden. Jene lógos-Forschung hat, wie Heidegger dem Phaidros sehr konsequent abliest, keineswegs den Charakter der norma, eines Maßes der Redekunst. Sie liegt jeder Rede (also ausdrücklich auch der alltäglichen und der täuschenden) zugrunde. Dabei zeigt Heidegger im Blick auf den zweiten Teil des Phaidros, dass der lógos einen abgeleiteten Charakter hat, ist er doch auf das Sehen (horan) angewiesen. Dieses aber findet im dialegeshtai seine, jedweden lógos, auch jenen der Rhetorik, fundierende Vollzugsweise. Es sei »die primäre Art des Erschließens des Seienden selbst, sodass dadurch das legein […] seinen Boden erhält«. (vgl. 335 und 339). Aus dem Phaidros kann nun, in Ergänzung zu der Ausgangsbestimmung der dihairese als einer Spaltung und Scheidung, die Doppelnatur der Dialektik freigelegt werden. Sie ist als Verbindung und Trennung: synagoge und als dihairesis verfasst. Die (in den ersten, am Sophistes orientierten) Kennzeichnungen nicht in Betracht gezogene ›Synagogé‹ versteht Heidegger dezidiert phänomenologisch, wobei er insonderheit auf die »Betonung des Sehens« im Phaidros-Text (263d4) hinweist (S. 330) und das synagogische Verfahren als eine Sammlung und Zusammensicht des zu untersuchenden Grundbestandes begreift, in dem das »›gesamte Konkrete‹, von dem gehandelt werden soll« (331), aus einer Sicht (eis mian idean: auch ›als eine Sache selbst‹) »gesehen« werden soll. Dabei kommt »den ersten Betrachtungen und vorläufigen Deskriptionen« (ibid.) besonderes Gewicht zu. Sie haben 127
Logik als Frage nach der Wahrheit
nämlich die Aufgabe, erst den phänomenalen Boden für die Zerlegung der Idee selbst zu gewinnen. 15 Die Synagoge geht also der Dihairese voraus, die damit als Schnitt und Zerlegung der ›einen Idee‹ begriffen werden kann. Es komme darauf an, dass bei den Durchschneidungen (vergleichbar den Schnitten, die beim Zerlegen eines Tieres anzulegen sind, ohne dass ein Teil herausgebrochen würde), »die Gelenke sichtbar werden«, sodass der Organismus der mia idea, der einen Sache, in seinen Artikulationen ans Licht kommt. Erst in einem dritten Schritt, und im Rückgriff auf den ersten Teil des Dialoges (249b), verweist Heidegger auf den anamnesis- oder mneme-Charakter der ›einen Idee‹, womit er sich auf die Symploke zurückbezieht. Sie sei »Befund, etwas, was aufgefunden wird« (ibid., 334), was Behaltenkönnen verlangt. Sie verweist zugleich auf die Seelenbeschaffenheit des ›Dialektikers‹. Er muss das »ursprüngliche Verhältnis der Sachen« ausgebildet haben und aus seiner Seele ans Licht bringen können. Die in hermeneutischen Platon-Arbeiten in der Spur Gadamers allzu sehr ins Licht tretende ›Schriftkritik‹ im zweiten Teil des Phaidros und im VII. Brief bezieht Heidegger durchaus im Sinn des Platonischen Dialogganges auf die Anzeige eines phänomenologischen Defizits; sie hat ihre Bedeutung also nur vor der Folie der Phänomen erschließenden Kraft der Dialektik. Die Schriftzeichen (grammata) sind nur demjenigen nützlich, der die Sache gesehen hat; doch sie geben sie von sich aus nicht zu sehen. Dies Sehen legt unter Berücksichtigung aller Übergänge die Herkunftsgeschichte des Seienden frei, auf das es sich richtet. Summierend versteht Heidegger die Untersuchung des Ganges der Dialektik bis zu diesem Punkt als ein »hinblickendes Sprechen über« (349), bei dem noch nicht unterschieden werde, ob das Thema der dialektischen Untersuchung ein einzelnes Seiendes ist, wie der Angelfischer oder der Sophist: Die Ausformung der Dialektik im Sophistes gegenüber jener im Phaidros beschreibt daher den Übergang von einer Untersuchung von ›konkret Seiendem‹ zu einer Untersuchungsweise, die sich auf die »Zusammenhänge der Seinsstrukturen als solcher« (352) richtet.
Es ist zu registrieren, dass Heidegger seine phänomenologische Rekonstruktion und Einsichtigmachung klar von »historischer Dialektik« oder der Orientierung an einer Ausprägung formaler Logik abgrenzt, die über »den wirklichen Zusammenhang« der Platonischen Dialektik keine Aufklärung erbringen könnten.
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Der Sophistes: Heideggers Platon
Diese Untersuchung kommt offensichtlich über den Umweg des me on in Gang. Es ist die in der Deutungsgeschichte des Sophistes seit je in ihrer Sonderstellung bemerkte 6. Definition der Sophistes-Auslegung, 16 an die Heidegger anschließen kann. Dabei führt die 6. Definition auf eine Verschärfung der dihairesis auf die diakrisis, ein ›Gegeneinander-Abheben‹, im Sinne des Unterscheidens. Als eine Form der diakrisis, nämlich die Kontrast bildende Abhebung, wird die katharsis begriffen, die die nähere Verfassung hat, Schlechteres und Besseres zuerst voneinander zu trennen und dann das Schlechtere wegzunehmen (357), was zugleich die Grundbestimmung des elenchos sein soll (359: elenchos als »an den Pranger stellen, offenbar werden lassen«). In eins mit diesem elementaren Grundverweis auf den hinter aller Fragemethode sichtbar werdenden Vollzugssinn der Sokratischen Befragungsweise verweist Heidegger zu Recht darauf, dass in der 6. Definition die positive Beschreibung sophistischer Lebens- und Denkform gegeben werden. Diese beruht nämlich auf der symploké der Verflechtung der Gattung des Seienden mit dem Nicht-Seienden; eine vor dem Hintergrund des Parmenideischen Präludiums der Ontologie in der Tat unerhörte Feststellung. Es wird, vor dem Hintergrund der 6. Definition, erkennbar, dass daraus eine begründete Abhebung und Aufsuchung des Sophisten nicht unmittelbar gewonnen werden kann. Vielmehr tritt er nur in einem Ähnlichkeitsverhältnis in den Blick, der Ähnlichkeit mit der ›echtbürtigen Sophistik‹, als die die Philosophie zu bezeichnen bleibt. Jene katharsis, die im Elenchos geleistet werden soll, ist Reinigung der agnoia, des Nichtwissens, die im Fragefokus auf den Sophisten die para-phrosyne, ein Danebensehen zur Abhebung bringen muss, das nicht bloßes »Nichtsehen« ist, »sondern eine viel radikalere Missgestaltung, eben: ›Danebensichtigkeit‹, also ein Sehen« (367). Jene Grundverfassung deutet Heidegger zugleich in einem Sinn, der unmittelbar auf das Grundphänomen menschlichen »In-der-Weltseins« zielt und daher in den engsten Umkreis der existenzialen Ontologie des Daseins gehört: es wird festgehalten, dass nicht nur im Ganzen unübersichtlich und umdunkelt ist, sondern von vorneherein durch eine Unkenntnis (agnoia) in die Irre geleitet: eine »Kenntnis Vgl. K. Gloy, Einheit und Mannigfaltigkeit. Eine Strukturanalyse des ›und‹. Berlin 1981 und M. Frede, »Die Frage nach dem Seienden«, in: Kobusch, Mojsisch (Hg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen. Darmstadt 1996, S. 1 ff., ferner Seubert, Platon, a. a. O., S. 440 ff.
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der nächst-gegebenen Welt, die zugleich eine Unkenntnis ist, eine bestimmte Verranntheit in den nächst-gegebenen Augenschein, aus dem heraus das weiter Begegnende von der Welt gedeutet, befragt und erklärt wird« (369) (In Sein und Zeit haftet an dieser Grundstruktur der ganze Hof des ›Man‹ und der nicht zu überspringenden ›Alltäglichkeit‹).
Platonische Seinsforschung: Die Fundamentalanalyse von ›Sein‹ und ›Nichts‹ Die vollständige Aporie in der Aufsuchung des Sophisten und damit zugleich der Deutung des Doxa-Phänomens nötigt, vor dem Hintergrund der Klärungen des Elenchosstruktur, in eine ontologische Fragestellung. Methodisch und epistemologisch wird an dieser Schnittstelle deutlich, dass Heidegger trotz der späteren Bemerkungen gegenüber Georg Picht stark an Platon orientiert ist. Der elenchos führt seinerseits noch nicht zu einem vollständigen skopos oder eidos des Sophisten. Deshalb kann er sich verbergen: und zwar gerade in seiner Rede (nicht nur im Protagoras-Satz, sondern auch in Berufung auf den Parmenideischen Seins-lógos). Heidegger hat eindrücklich genug festgehalten, dass damit der ›Kern‹ des Dialogs freigelegt sei, der im Folgenden, also in der ontologischen Erörterung und der lógos-Analyse, nur »in seiner Struktur freizulegen« bleibt (412). »Es gibt hier keine Schale, sondern nur einen geschlossenen Zug der Untersuchung« (ibid.), eine rücksichts- und vorbehaltlose Sachforschung, die sich auch nicht gegenüber der Weisung des Parmenideischen Lehrgedichts, dass nur das Eine ist, zurückhält. Sie kann ihren Ausgang von der in der 7. Definition aufgewiesenen Verfasstheit des Sagens des sophistischen lógos nehmen, der ansprechend etwas sehen lässt es dabei aber nicht in seinem So-sein aufdeckt, und darin zugleich sich als etwas zeigt, das er doch nicht ist, nämlich als Philosoph (406 f.). Die Sachforschung scheint aber unmittelbar in eine nicht auflösbare sachimmanente Problematik zu geraten: Denn es scheint nachgerade unüberwindliche Probleme aufzuwerfen, wenn sinnvoll der Ausdruck mé on überhaupt ausgesprochen werden soll. Der Grund dafür zeigt sich in der elementaren Intentionalitätsstruktur der Phänomenologie legein ist sinnvoll nur als legein ti. In dem Sagen von Etwas ist aber eine weitreichende, komplexe Struktur impliziert. 130
Der Sophistes: Heideggers Platon
Nämlich dass das ›etwas‹ Seiendes ist und zugleich ein abgrenzbares ›Eines‹. Dies bedeutet, wie Heidegger durchsichtig macht, zum einen, dass »jedes Ansprechen von Nichtseiendem als seiend« in sich eine Verflechtung (symploke) von Nichtsein und Sein birgt (419). Damit muss sich die weitere Untersuchung korrelativ in einer »Revision des lógos« und des Seinssinnes bewegen, wenn denn Nicht-Sein ansprechbar sein soll. Die größere, »höchste und erste Schwierigkeit« wäre aus dieser ersten herauszulösen, dass nämlich wenn sich das mé on nicht in die Strukturführung des legein ti fügt, über es nicht gesprochen werden kann, was auch hieße, dass über – und damit gegen – den Sophisten nicht zu sprechen ist, gerade wenn sein spezifischer lógos-Umgang anvisiert ist. Heidegger weist zu Recht darauf hin, dass auch der bislang verfolgte Erörterungszug nur Sinn unter der Voraussetzung hat, dass über den Sophisten überhaupt etwas ausgemacht werden könnte: Er destruierte sich also ganz in der Folge des Parmenideischen Lehrgedichts selbst, wenn das mé on nicht sagbar wäre. Diese in höchste aporetische Verwicklungen führende Verfassung des legein ti soll indessen die weitere Erörterung tragen. Heidegger deutet sie im Sinne des phänomenologischen Intentionalitätsbegriffs weiter aus, wobei er freilich gerade herausstreicht, dass Intentionalität nicht auf »ausdrückliches Aufmerken, ein Intendieren im eigentlichen Sinne« begrenzt sei (425), sondern mit dem in-derWelt-sein mitgeht. Den Satz in der Nachschrift des Hörers Moser: »Sondern Intentionalität ist eine Struktur, die zum Lebenden hinsichtlich seines Seins selbst gehört« (424, FN 4) hat Heidegger zwar mit einem Fragezeichen versehen, er zielt an seiner originären Intention aber nicht vorbei. Indem eine symploke zwischen Seiendem und Nichts in den Blick genommen wird, muss der Grundsatz des Parmenides seinerseits durchdrungen werden, denn anders blieben die Phänomene, die sich mit der Sophistischen Denk- und Existenzweise verbinden, doxa, eidolon, eikon als Ähnlichkeitsbild alle gleichermaßen dunkel und opak. Damit steht, wie Heidegger zeigt, erstmals im Sophistes das Problem des Hinzukommens eines ›Anderen Seienden‹ zu dem Parmenideischen Einen, im Mitgesagtwerden im Blick (422), das erst im Aufweis der eigenständigen großen Gattung des heteron aufgelöst werden wird. Es zeichnet sich damit eine Modifikation des Sinnes von Sein ab, die in einer Verschränkung von Sein und Nichtsein sich in die intentionale Fassbarkeit jedes Seienden hinein fortsetzt: »d. h. dass das on nicht so nicht ist wie das mé on, sondern 131
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anders, und das mé on nicht so ist wie das on, sondern anders, hos esti katá ti«. Dieser Schritt über die Schranke des Parmenideischen Lehrgedichts hinaus bedeutet nicht weniger als die Befragung der ontologischen Indifferenz des Parmenides und der scharfen Trennung von Sein und Nicht. Die ›gigantomacheia tes ousías‹, deren Wiederholung Heideggers Hauptwerk gewidmet sein sollte, hat nun in Auseinandersetzung mit den beiden zu Platon zeitgenössischen Lehren, jene die das Sein als soma, und den anderen, die es als eidos identifizieren, »die Entdeckung des Seienden, das dem Sinn von Sein eigentlich genügt« zum Thema (466). Die Vertreter des körperlichen Seins, wenn sie nur das minimale Zugeständnis treffen, dass es irgend ein Seiendes gebe, das den Charakter des Unkörperlichen (asomaton) hat, müssen einsehen, dass mit dem Sichtbaren und Nicht-sichtbaren das Sein als grundlegend Mögliches mit-da ist (vgl. Sophistes 246e-248a). Diese Bestimmung sei an der in Rede stehenden Stelle des Dialoggangs ›vorgegeben‹: Auf dies Mögliche müssen sie hinsehen, wenn »sie beides« irgend als seiend ansprechen. Erst später wird sie eingehende Behandlung finden, was aber eben nicht heißt, dass sie nur ›vorläufigen‹ Charakter hätte. Die Deutung dieser Möglichkeit schärft sich zur dýnamis koinonias, der Möglichkeit des Miteinanderbestehens. Heidegger formuliert deshalb, dass diese Möglichkeit nichts anderes zu verstehen gebe als den »Sinn von Sein«. Im Licht jenes Möglichkeitsbegriffs zeichnet sich aber auch ab, dass dann auch der Bewegung der Seele, Leben und Erkennen, ›Sein‹ zukommen muss (vgl. 482 f.). Die gigantomacheia, deren eine Seite seiend als körperlich, und damit widerständig, begreift, und die andere, die es auf das in reinem Vernehmen gewonnene eidos zurückführt, führt nun Platons Begriff des Seins als parousia dynámeios koinonía, also als ein sich (wie auch immer: körperhaft oder eidetisch) zeigendes Erscheinen des Miteinander-Bestehenkönnens, mit der potentiellen Verflechtung zusammen. Heidegger liest diesen Erwägungszusammenhang im Sophistes vordergründig dem Dialoggang der kritischen Diskussion der gigantomacheia zwischen den Vertretern des körperlichen Seins und den Ideenfreunden (megarikern) ab. Indirekt bleibt aber die Auseinandersetzung mit dem ›Vater Parmenides‹ leitend, und daher die Freilegung einer Herkunft der Par–ousía der Seinsbestimmungen aus der kinesis, die vor allem die Bewegung der sich epitaktisch verhaltenden, befragenden Seele ist. In der dem Sophistes-Kolleg vorausgehenden 132
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Aristoteles-Vorlesung war Heidegger vor diesem Hintergrund der Aristotelischen Bestimmung des menschlichen Daseins als zoe praktiké nachgegangen, und er hatte damit letztlich die Absicht verbunden, menschliches Dasein als den Boden der ontologischen Begrifflichkeit aufzuweisen: Die kinesis als Leitfaden, der auf die Seinsverfassung des Seienden führt, weist zudem auf die frühen Intentionen der Ontologie als Hermeneutik der Faktizität zurück, auf die Bestimmung des Daseins als am-Leben-sein. Eine dialektische Fundamentalbetrachtung schließt sich an. Wir nähern uns damit Heideggers Nachzeichnung der Platonischen Seinsforschung selbst: Die Frage nach der koinonie der großen Gattungen begreift als Aufgabe der Dialektik, das Sein des Seienden in seiner ›Gegebenheitsweise‹ in seinem ›Wie‹, als vorfindliches apriori, namhaft zu machen (524). Die dialektische Fundamentalbetrachtung verschiebt die Problemlage gegenüber dem Aufweis des atomon eidos am Beginn des Sophistes und den Grundlinien der Dialektik im Phaidros, insofern die lógos-Strukturen als Seinsstruktur in den Blick kommen: »Es handelt sich also nicht einfach um ein Ansprechen des Seienden in der natürlichen nächsten Art des Beredens der Dinge, sondern die logoi selbst werden thematisch« (523), sodass sie die Verfasstheit des in ihnen Begegnenden zeigen (deixein). Seinsforschung ist daher immer als ein sich-Auskennen im lógos begriffen. Denn der lógos ist das Milieu, innerhalb dessen die Platonische Seinsfrage sich bewegt: mehr noch, an dessen Befragung die Differenz der Befragung des Sinnes von Sein und seiner Wendung auf Seiendes sich allererst einstellt. Abbreviativ hält Heidegger an anderer Stelle fest, dass das legein gleichermaßen Charaktere des Seienden und des Seins anspreche (ibid., 530). Es umgreift also die ontologische Differenz. Mit dieser bislang vollständigsten phänomenalen Bestimmung der Dialektik tritt auch hervor, dass der lógos die Zugangsart zum Seienden ist, innerhalb deren die Möglichkeiten, vom Sein des Seienden zu handeln, umgrenzt sind. Auch in diesem Horizont der Dialektik der großen Gattungen bleibt nach Heidegger der Vorrang der Verbindung (symploke) vor der Trennung (dihairesis) festgehalten. Die Sammlung muss vorausgehen, wenn die dihairesis ihre Schnitte anlegen soll, um »aus dem, was schon da ist, dem génos, zu der Gegenwart des Konkreten« zu gelangen (ibid., 525). Phänomenal auszuweisen und zu sehen ist also 133
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das legomenon on, so wie es im lógos zur Erscheinung kommt, und vor der Hypothese der dýnamis koinonias sollen die sichzeigenden Seinsstrukturen auf eines zurückgeführt werden (eis en synágein), »sodass von diesem Einen her die ganze Seinsgeschichte eines Seienden bis zu seiner Konkretion verfolgt werden kann« (533). Die einzige Hypothesis, die den dialektischen Einschritt der Seinsforschung trägt, erkennt Heidegger in der dýnamis koinonias, jener hypothetischen Idee des Seinsbegriffs, die auf dem Boden antiker Ontologie selbst keiner weiteren Explikation fähig sei, die aber auch die symphilosophierende Situation allererst ermöglicht Heidegger begreift ihn als »Aufweisung der Möglichkeiten des Miteinander-Anwesendseins im Seienden, sofern es im lógos begegnet« (ibid., 530). Heidegger unterscheidet nun die ›dialektische Fundamentalbetrachtung‹, also die Dialektik der großen Gattungen (Sophistes 254b–257a) ausdrücklich von der lógos-Analyse (261c–263d). Von vorneherein ist es augenfällig, dass er die Schwierigkeit der Fundamentalbetrachtung weder semantisch noch auf der Ebene der Argumentation verortet, sondern darin, dass der phänomenale Gehalt deutlich gemacht werden kann. Hier scheint damit zu rechnen zu sein, dass mit Transparenzen und Durchsichtigkeiten in einer Hinsicht Verdeckungen in anderen Hinsichten einhergehen. Von den höchsten Gattungen (Angesprochenen) werden ›einige‹ herausgenommen. Es wird also eine Auswahl getroffen, die aber Glieder isoliert, welche universalontologische, durch alles hindurchgehende Bedeutung haben (535). 17 Kinesis und stasis sind dabei ›vorgegeben‹, da wie sich zeigte, an ihnen alle Formen des aletheuein, die Erkenntnis aber auch ihre Verfehlung in der Täuschung aufgehen. Sie sind in ein Verhältnis wechselseitigen Ausschlusses zueinander gesetzt, wobei aber beide in Gemeinschaft mit dem Seienden (on) stehen. Der erste dialektische Schritt wird Heidegger zufolge aber erst vollzogen, wenn thematisch wird, dass in »jedes von beiden heteron und tautòn« eingeht (538), damit wird der ›hinzuzubringende‹ Strukturzusammenhang phänoIn diesem Zusammenhang zeichnet sich aber ein geregelter ontologischer Übergang von einer Gedankenbestimmung in die andere ab; sie sind gerade nicht analytisch ineinander enthalten: Düsing spricht deshalb zu Recht auch bei Platon von ›synthetischen Urteilen a priori‹. Dabei werden diese großen Gattungen aber nur insoweit ins Spiel gebracht, als sie zur Klärung des Fragezusammenhangs beitragen, der eigentlich in Rede steht: auszuweisen, »dass in der Tat das Nichtseiende ist« (S. 535). K. Düsing, »Ontologie bei Plato und Hegel«, in: Hegel-Studien 15 (1980), S. 95 ff.
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menal ausweisbar gemacht. Die Ausschließungsrelation von stasis und kinesis und den Zusammenhang beider mit dem Sein führt darauf, dass tauton und thateron in beide eingeht, ohne dass doch eine von ihnen mit tauton und heteron identisch werden: Die damit in den Blick tretende Aufgabe: »Es muss also verständlich gemacht werden, dass beiden Selbigkeit zugesprochen werden kann, ohne dass sie das Selbe sind, und dass jedem Verschiedenheit zugesprochen werden kann, ohne dass jedes das Andere ist« (541), begreift Heidegger erst als den eigentlichen Problemknoten. Denn damit, dass die Fragerichtung auf die Eigenständigkeit von tauton und heteron geht, muss das heteron zugleich in seiner Beziehung auf Sein (on) befragt und offengelegt werden, ob es ihm gegenüber Eigenständigkeit beanspruchen kann. Dabei ist nun entscheidend, dass in dem heteron eine Struktur pros ti: in Beziehung auf Etwas liegt (545 f.). Heidegger hat gerade in diesen Passagen, in denen Platon zu einem neuen Begriff des ›gegen‹ vordringe, gegen die Auffassung, alles könne sich mit allem verbinden und die etwa auf Antisthenes zurückgehende Leugnung jedes antilegein (543) eine Ungeklärtheit seiner Begriffsprägung notiert: dass nämlich der Begriff des heteron selbst noch ambivalent bleibe und zwischen ›ein Anderes‹, das Anderssein und der Idee der Andersheit schwanke. Ebenso wenig werde aufgeklärt, dass das pros ti keineswegs nur die Hinsicht auf anderes, sondern auch den Selbstbezug bezeichnet. Die pros ti-Relation kann auch auf ein Seiendes selbst zurückgewendet werden. Obgleich Heidegger die begriffliche Ungeklärtheit notiert, ist doch offensichtlich, dass das durch alle ›großen Gattungen‹, in der Art der Vokale hindurchgehende heteron aufgrund seiner »Fundamentalstruktur des pros ti« (556/558) selbst noch als Absprechen den Grundcharakter des »deloun hat«, »es macht offenbar, es lässt etwas sehen« (559). Die in einer Reihe von Vorklärungen eingekreiste dihairesis hat in dem, von der leeren Entgegensetzung des formal Entgegengesetzten enantion zu unterscheidenden heteron den Grund ihrer Möglichkeit. Wenn nämlich nach der Platonischen Bemerkung im Sophistes jedes eidos vieles ist (poly), so bedarf es zur Herauslösung seiner Wasgehalte aus dem Mitgegenwärtigten des Schrittes der Heterologie. Im heteron also, so resümiert Heidegger zunächst, bildet sich ein »erschließendes Nicht« aus. »Das Ver-nichten im legein, das Nein-Sagen ist ein Sehenlassen« (560) und nicht, wie die Ausschließung ein »Verschwinden-lassen des Gesagten«. Es führt allererst auf die Bestimmbarkeit in einem WasGehalt (poion) und ist, als die Grundbedingung der dihairesis, seiner135
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seits auf die in der dialektischen symploké angelegte Ausweisung des Wie begründet. Die Struktur des heteron wird als antithesis angegeben, was Heidegger- vor dem Hintergrund der Maxime einer Umwechslung in kleinere Münze in dem Platonischen Dialog so versteht, dass Andersheit wesentlich als Konkretisierung, als Bezug auf ein einzelnes Anderes, charakterisiert ist (562 ff.). Diese Konkretion hat freilich den weiteren ausweisbaren Sinn, dass das einzelne Eine und das einzelne Andere in Bezug aufeinander expliziert ›sind‹: Anders als im ›Absprechen‹ ›sind‹ sie also beide in der Weise des Verschiedenseins zur Erscheinung (parousia) gebracht. Auch wenn Heidegger symploke und dihariesis nicht dezidiert auf die Vollbestimmung der Platonischen Dialektik bezieht, zeigt er doch, dass diese auf dem heteron als einem Seinsbegriff beruht: indem sie dem Richtungssinn der heterotes folgt, kann sie die eide: »in der jeweiligen Hinsicht, in der gesprochen wird, und in Bezug auf das, wohin die Hinsicht leitet« (569) ans Licht bringen. Daher kann im Sophistes festgehalten werden, dass die Unterredenden makroteros: »um ein starkes Stück« das ›Verbot‹ des Parmenides überschritten hätten. Die apodeixis des sachlich Neuen gegenüber Parmenides fasst Heidegger apodiktisch scharf in die Worte: »das mé on selbst wurde als eidos sichtbar gemacht« (567). Die dialektische Fundamentalbetrachtung hat, wie an diesem Punkt noch einmal festzuhalten ist, für Heidegger eine ontologische Bedeutung. Sie klärt die Sinnstrukturen des Seienden, das als Besprochenes und damit als aufgewiesenes in den Blick kommt. Dagegen wird die Parmenideische Seinslehre, die den »universalen Charakter des Da«, des einai (571), im Sinne einer parousia ans Licht gebracht habe, diese Nicht-Unterscheidung im Parmenideischen ›Einen Seienden‹ als Identifizierung mit der ontischen Bestimmung des Seienden im Ganzen begriffen. Heidegger lag daran, die dialektische Fundamentalbetrachtung von der lógos-Analyse zu unterscheiden, sie bewegt sich, wie er in einer logisch und ontologisch differenzierten Betrachtung zu verstehen gibt, »noch nicht im Feld des lógos«, sondern in dem noetischen Gefüge der fünf Eide, on kinesis, stasis, tauton und heteron. Die Trennung ist freilich nur heuristisch sinnvoll und muss vor einer Übersicht über den Erörterungsgang der Fundamentalanalyse tatsächlich zurückgenommen werden: Denn die Beziehung von kinesis und stasis im Denkvollzug verwies auf das Erkennen (gignoskein), dessen Platonische Figurierung Heidegger mit dem noein und dieses wiederum mit dem legein gleichsetzt. Es ist Sinn dieser Trennung, 136
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dass der lógos in der dialektischen Fundamentalanalyse je schon mit thematisch zu machen war – und dies im Sinn des legein als ›sichbesprechen der Seele‹ und als Bewegung (kinesis). Am Ende dieser Thematisierung kann sogar noch mehr gesagt werden, nämlich, dass der lógos das Kernphänomen sei, innerhalb dessen sich die aufzusuchende Daseinsweise des Sophisten und die erprobte des Philosophen aufhalten muss. Und zugleich erkennt Heidegger darin »die Frage nach dem zoon politikon, dem Sein des Menschen in der Polis« (577). Die lógos-Analyse selbst bewegt sich in dem Seinsstrukturen sehen lassenden lógos-Gefüge: Zum ersten erschließt sich die onomatische und delotische Struktur des legein, die in jedem lógos in einer Gemeinschaftlichkeit (koinonia) verbunden sind. Erst aus der delotischen Struktur des lógos heraus können beide voneinander abgegrenzt werden. »Im onoma wird aufgedeckt und gezeigt das, um was es sich handelt, und das rhema deckt auf das Sich-handeln um« (591), oder das onoma deckt das pragma, das rhema hingegen den Vollzugssinn von praxis auf. Die zweite Station gibt erst Aufschluss »über die Aufgedecktheit an einem Angesprochenen«, ihm eignet eine zweite koinonia, die sich in Platons grundlegender Intentionalitätsformel ausspricht, wonach jeder lógos ein lógos tinos, ein Aussagen von etwas ist. Die fundamentale Intentionalität hat die Verfassung der Rede von ›Etwas als Etwas‹. Heidgger klassifiziert jene Etwas-als-Etwas-Struktur in der Sophistes-Vorlesung noch nicht als ›hermenutische‹, sondern als eine logische koinonia. Und er grenzt davon eine letzte, die delotische koinonie ab, die die weitere lógos-Struktur freilegt, wonach der lógos immer in einem Wie ist, nämlich aufdeckend oder verstellend. Auch diese Struktur ist mit dem legein ti im Grundzug schon mitgegeben. Etwas kann als das, was es ist, gezeigt und sichtbar gemacht und es kann eben darin verdeckt sein. Mit dieser entdeckenden, oder verdeckenden, als Struktur ist das ›als‹ erst hinreichend in seinem Doppelcharakter gekennzeichnet; und damit ist die koinonie des lógos mit tauton und heteron aufgedeckt: im Blick auf die des heteron. Gerade im Horizont der prima facie überraschend differenzierten Einsichten zu Platon in Heideggers Marburger Zeit wird die strukturund themenbildende Bedeutung des Sophistes relevant. In diesem Horizont ist unschwer zu sehen, dass Heidegger sich niemals intensi137
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ver auf die Struktur der Platonischen Denkens, das ihm doch ›dunkel geblieben sein soll,‹ eingelassen hat als in der Marburger SophistesVorlesung des Wintersemesters 1924/25. Und es kann zumindest skizzenhaft noch einmal gezeigt werden, dass Heideggers eigene phänomenologisch hermeneutische Seinsforschung hier einen Vorwurf entnehmen konnte, der Differenzierungen enthielt, wie sie auf anderen Wegen nicht ohne weiteres zu erreichen waren. Hans-Georg Gadamer hat im Vorwort zum Neudruck seiner Habilitationsschrift über ›Platons dialektische Ethik‹ auf eine frühe Intention hingewiesen, dass er versucht hätte, die griechische Philosophie »mit neuen Augen zu sehen« 18 (X). Mit Heideggers phänomenologischer Frageradikalität sei er zu der Vorstellung gelangt: »Ich fühlte mich wie ein erster Leser Platos, der die neue Unmittelbarkeit des denkenden Zugangs ›zu den Sachen selbst‹, die die Parole der Husserl’schen Phänomenologie war, an einem klassischen Text zu erproben suchte« (IX). 19 Diesen Anspruch hat Heidegger kongenial aufgenommen. Es kann damit noch deutlicher werden, dass Heidegger mit dem Sophistes-Kolleg einen Faden aufgenommen hat, der die Linie seiner phänomenologischen Aristoteles-Interpretationen durchaus gleichberechtigt an die Seite gesetzt werden kann. Doch er hat diese Linie nicht fortgesetzt und sie ging nicht in vergleichbarer Weise in die Strukturierung von Sein und Zeit ein. Als Beleg für den Abbruch reicht die zentrale These in ›Platons Lehre von der Wahrheit‹ aus, wonach die idea die Herrschaft über die Wahrheit als aletheia gewinne (GA9, 230), die aletheia also unter das Joch der idea komme. Heideggers seinsgeschichtliche Verortung Platons gibt die Folie für eine zunehmende Abwendung. Die Angleichung des ›Vernehmens‹ noein an die idea bedinge einen Wesenswandel der Wahrheit (aletheia) in orthotes, die an der Idee sich ausrichtende ›Richtigkeit des Vernehmens und Aussagens‹ (231). Der privative Zug im Wesen der aletheia bleibe allererst selbst zu erfahren, was im ersten, PlatoZu den näheren Konturen von Heideggers Platon-Auseinandersetzung vgl. M. Ralkowski, Heidegger’s Platonism. London 2009. 19 H.-G. Gadamer, Platons dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum ›Philebos‹. Tübingen 1913. Trotz der philologischen Schulung, etwa bei Friedländer, habe er sich diesen Zugang erhalten, bemerkt Gadamer in der Rückschau von Jahrzehnten. Ausdrücklich, S. IX ff. spricht er freilich nur von Heideggers Aristoteles-Kollegs, nicht von seiner Platonvorlesung; und er nennt neben anderen explizit nur Heideggers spätere Platon-Arbeiten. 18
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nischen, Anfang abendländischer Metaphysik nicht geschehen sei. In den Beiträgen fasst Heidegger den Zusammenhang noch deutlich schärfer, wenn er die idea als die Auslegung der aletheia bestimmt, aufgrund deren die »Frage nach der aletheia als solcher für die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie [sc.: also wohl bis hin zu Nietzsche] notwendig unterbunden« werde (ibid., 208). Später schweigt Heidegger meist über die Potenziale Platonischen Denkens. Eine Rückspiegelung in die phänomenologisch hermeneutischen Möglichkeiten, die die Aufklärung des Platonischen dialektischen lógos geboten hätte, zeichnet sich in der Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet im Wintersemester 1931/32 ab. Heidegger schreibt hier die These weiter aus, dass die Platonische Dialektik in ihrem ontologischen Grundsinn »das Sein des Seienden« sichtbar mache und daher an die originäre Seinsfrage zurückerinnere, die auf der Wegbahn abendländischer Metaphysik in Vergessenheit gerate (GA 19. 523, 447). Am Ende einer Theätet-Auslegung kann Heidegger festhalten, dass der Schein »eine Weise des Offenbar-seins« sei, und gerade dadurch auf die wesensmäßige Verborgenheit (den Lethe-Charakter) der aletheia hinweise. Platon indessen treffe das Phänomen der Wahrheit nur, indem er es »in Richtung des lógos« deute – »nicht im Zusammenhang mit dem ursprünglichen Wesen der Wahrheit, d. h. der Unverborgenheit des Seienden« (GA 34. 320). Dass Platon sich nicht mehr auf den Ursinn der aletheia bezog, versteht Heidegger als »ein Geheimnis des Geistes selbst« (ibid., 320). Die Aufweisung der Platonischen doxa führt allerdings aus sich heraus einen Phänomenzug vor Augen, den Heidegger seinerzeit »Entbergsamkeit« nennt (321) und den er zum Zeitpunkt der Niederschrift der Platon-Abhandlung mit der ontologischen Differenz in Verbindung bringt. 20
Auffällig ist, dass sich hier im Bereich der ›Doxa‹ eine Art von ›ontologischer Differenz‹ abzeichnet. Die doxa hat eine innere Gabelung, die anzeigt, dass »das Sein« (als Idea) »im voraus im Erstrebnis gehalten sein (muss), damit Seiendes uns vertraut werden kann« (ibid., S. 321). 20
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Platonische Linienzüge Heidegger hat in den einschlägigen Passagen, etwa der ersten Marburger Logik-Vorlesung vom Wintersemester 1925/26, aber auch in Sein und Zeit, nicht ausdrücklich an die Problemerörterung in der Sophistes-Vorlesung angeschlossen, so sehr er sich in der Sache auf sie und keineswegs nur auf Aristotelische Referenzen bezog. Dies betrifft die genuine lógos-Struktur, also das hermeneutische und ontologisch-phänomenologische »als« in Unterscheidung von dem thematisch machenden apophantischen »als« und es betrifft nicht weniger die Freilegung des lógos als des Ortes möglichen Wahr- und Falschseins. In Sein und Zeit fasste Heidegger den lógos als aletheuein und apophainesthai auf, und verwies darauf, dass er »die Strukturform der Synthesis« habe, wobei das ›syn‹ »rein apophantische Bedeutung« habe und besage, »etwas in seinem Beisammen mit etwas, etwas als etwas sehen zu lassen« (ibid., 33). Dass Heidegger den Linien der Platonischen Dialektik in der Platonischen Seinsforschung nicht weiter nachgegangen ist, vielleicht, weil er seiner Auffassung vom Aristotelischen Vorrang endgültig nachgab, bedeutet nicht, dass deren Ergebnisse und Wegstrecken nicht weitergehend fruchtbar gemacht werden könnten. Auch hier liegen Potenziale, die Heidegger selbst nur teilweise ans Licht hob. Heidegger hat aus dem Platonischen heteron Züge einer umgrenzenden Verneinung herausgelesen, die das Phänomen erst in seinem eidetischen Wie- und Wassein zeigt. Damit markiert die Platonische Seins- und lógos-Dialektik des Sophistes einen lógos, der sich mit Sein (on) verbindet und deshalb phänomen-aufweisende Kraft hat. Anders gesagt: Es ergibt sich die Möglichkeit eines an dem durch ihn Gesagten sich selbst weiterbestimmenden intentionalen legein, dessen Schrittfolge zu jener der Destruktion in der Urteilslogik umgekehrt verlaufen könnte. Heidegger hat frappierende Einblicke in die Platonische Dialektik genommen. In Aristoteles’ Spuren hat er sich ihr nicht anvertrauen wollen. Womit die Frage nach einem aufweisenden, sehen lassenden lógos akut blieb. Die Gliederung zwischen onomatischem, intentionalem, logischem und delotischem lógos zeigt dies eindrücklich (606). Sie macht die Abhebung des hermeneutischen vom apophantischen lógos als eine phänomenale Fortbestimmung thematisch, nicht als Sprung von der praxis des Umgangs zu einer theoretischen Explikation. Daher ist Klaus Düsing nicht ohne weiteres zuzustimmen sein, wenn er 140
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meint, »Heidegger [bleibe] in seiner Platon-Deutung und -Weiterführung auf dem Boden der überlieferten Ontologie der Vorhandenheit.« 21 Wenn sie so linear wäre und es dabei bliebe, dann käme Heideggers Platonrezeption nicht die Weg weisende Bedeutung zu, auf die hier hinzuweisen war. Dagegen spricht schon, dass das dialegesthai in der Aufsuchung des Sophisten und im Selbst-Ausweis des Philosophen als spezifische Seinsweise des Daseins ans Licht tritt; (die Insistenz auf der psyche und ihrer kinesis zeigt gerade dieses Interesse). Heideggers spätere Erinnerung an die Gabelung der doxa und das vorgreifende Seinserstrebnis gibt davon eine Erinnerung, nicht anders als die Frage nach ontologischer Differenz oder Indifferenz in der Vorlesung über ›Grundbegriffe der antiken Philosophie‹, »ob überhaupt mit einem indifferenten Begriff von Sein auszukommen ist«: »Sein ist nicht Einfaches und wird primär im lógos zugänglich« (GA 22. 142 und 143). Die Gewinnung der aletheia, des aletheuein, als ›entdecken‹ begriff Heidegger als den Boden der Seinsforschung im Sophistes; jenes ›Entdecken‹ wird durch die ›heterotes‹Struktur des Irrtums (pseudesthai) in den Blick gebracht. Zwar weisen die Seinsstrukturen des aletheuein, wie Platon sie im Sophistes entwickelt, nicht in die Verborgenheit der lethe zurück, die Blickrichtung auf ein pseudos, das von der aletheia her zu verstehen wäre (GA 34. 320; Theätet) wird aber nicht genommen. Allenfalls darin zeigt sich eine solche Richtung, dass sich Wahrheit nur über die Aufklärung der Möglichkeit von Täuschung erhellen lässt. Ein weiterer Versuch, die mit der Sophistes-Auslegung gezeichneten Lineaturen als ein von Heidegger heutigem phänomenologisch hermeneutischem Philosophieren Zugespieltes, Aufbehaltenes weiter auszuziehen, muss hier unterbleiben. Er hätte sich im Feld hermeneutischer Logik nach Dilthey und Husserl sachlich zu orientieren. Es liegen jedenfalls weite Wegstrecken zwischen Heideggers umsichtiger Freilegung des Platonischen koinonia-Begriff und der Rede vom koinon als der »seinsverlassene(n) Verfassung des Seienden« (GA 69. 223). Denkbar wäre auch eine seinsgeschichtliche Perspektive, die sich stärker dem Leitfaden des Platonischen lógos anvertrauen würde und die geeignet wäre, Brüche und Umbrüche in der Seinserfahrung zu thematisieren. K. Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit. Darmstadt 1983, S. 171.
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Zweiter Teil: Die Kristallisationen
IV. Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
7.
Werk in Vorläufigkeit
Heidegger schrieb sein Hauptwerk im Wesentlichen 1926 als noch nicht Vierzigjähriger. Es war Summe von vorausgehenden gründlichen Aneignungen und Auseinandersetzungen: Ein Werk im Aufbruch, das insofern zu Recht mit Hegels Phänomenologie des Geistes auf eine Stufe gestellt wurde. Sein und Zeit ist vielleicht am besten als das zu beschreiben, was im Blick auf Platons Politeia Nietzsche ein »Alluvionsgebilde« nannte: zusammengefügt aus verschiedenen Kontexten und abgelagert, dass sich daraus ein neues Ganzes ergibt, ein geschichtet-vielschichtiges Gebilde. Die rasche Entstehungszeit muss nicht sonderlich verwundern. Die wichtigen Fäden waren gesponnen. Sie mussten nur verbunden und verknüpft werden. Es ist das Hauptwerk Heideggers, das zusammenhängende Buch und zugleich ein riesiger Torso, dessen Wegrichtung Heidegger gerade nicht weiterverfolgen konnte. Ein Werk, das die Struktur des Daseins in seinem In-der-Welt-sein und in seiner Temporalität nachzeichnet. Heidegger weiß um die Dimension, in die zu fragen ist. Es ist nichts geringeres als die gigantomacheia tes ousías, der große Kampf um den Sinn von Sein, der im Platonischen Sophistes alludiert wird. Deshalb zitiert Heidegger auch eine sprechende Passage aus dem Sophistes am Beginn des Buches. In diesem Gigantenkampf wird das Unauffälligste und doch überall gegenwärtige, eben die Kopula »ist« näher bestimmt. Philosophie tut, was sie zumeist zu tun hat, das unscheinbar Präsente auffällig zu machen. In dem Rückblick aus den Jahren 1937/38, der, wie Heidegger selbst betont, noch aus dem Umkreis der Metaphysik, nicht des anderen Anfangs formuliert ist, kommt Heidegger auf Sein und Zeit zurück. Er hält fest, dass Sein und Zeit ein erster Weg, allerdings »von Grund aus« gewesen sei (66.413), dessen systematischer zweiter Ab145
Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
schnitt nicht habe abgeschlossen werden können und deshalb vernichtet worden sei. Einen Anlauf dazu habe die Vorlesung vom Sommersemester 1927 unternommen (GA 24), die man von hier her autorisiert als Ersatz jener Heidegger’schen Ausarbeitung verstehen kann. Als Desiderat versteht Heidegger aber dies, »alles von Grund in die erneute Fragebewegung« zu bringen (414), wodurch erst »die Übergangsstellung des ganzen Fragens« deutlich geworden sei (415). Was Heidegger selbst an diesem Werk fraglich und fragwürdig blieb, kann auch bezogen auf seine Selbstauseinandersetzung dann erörtert werden. Manche Fehlurteile, die wie selbstverständlich kursieren, müssen dann korrigiert werden: Heidegger hat Sein und Zeit niemals »zurückgenommen«. Doch bereits in den dreißiger Jahren setzt er zu einer detaillierten und differenzierten Selbstauseinandersetzung mit diesem Hauptwerk an, in dem er dessen Kategorienbildung und Fragestellung in Richtung auf den anderen Anfang bedenkt und prüft. Sie stellen, seit sie ediert sind, eine unabdingbar wichtige Perspektive auf Heideggers Hauptwerk dar (vgl. Dritter Teil, V. Kapitel). Andrerseits hält sich das Vorurteil, Sein und Zeit sei als Ausarbeitung zu akademischen Zwecken sehr schnell, ja hastig geschrieben worden. Auch dies trifft nicht zu. Tatsächlich ist das Werk 1 ein komplexer Zusammenhang von Ansätzen, Verästelungen, Reflexionen aus früheren Texten und Gedankenbewegungen, die hier erstmals zusammengeführt und in ihrem Zusammenhang belichtet werden. Wenn es bei Platon die aporetischen Frühdialoge über die Tugend sind, so sind es hier Heideggers frühe phänomenologische Anläufe auf dem Weg zur einen Frage nach dem Sein. Vorausgesetzt sind Überlegungen und Besinnungen zu der einen Seinsfrage, die Heidegger in der wissenschaftlichen Textur in seinen Qualifikationsschriften entfaltet und die er in seinen frühen Vorlesungen skizziert, mit denen er als außergewöhnlicher Lehrer das Katheder betritt. Keineswegs also ist Sein und Zeit eine ingeniöse Skizze. Es ist Zusammenführung von Studien, Konzeptionen und Klärungen, die über zwanzig Jahre vorausgingen. Was Nietzsche mit der Rede vom ›Alluvionsgebilde‹ nicht sagt, zeigt sich an Sein und Zeit: Auch bei Platon war die Politeia nicht der Letztpunkt. Seine späten Dialoge über die Verbindung und Nicht1 Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen WS 1871/72 bis WS 1874/75, KGA II.4, S. 79.
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Verbindung von Grundbegriffen fassten in den Blick, was in der Politeia unthematisiert geblieben war: wie es eine Wissenschaft von Werden und Vergehen geben kann und dass auch Widersprüche zu denken waren. 2 Daher wären Alluvionsgebilde in einer Janusköpfigkeit zu verstehen: Sie erlauben Rückschau und Vorblick. Die eigentlich leitende Frage des Hauptwerks war dessen zweitem Teil vorbehalten. Im letzten Satz des Werkes deutet Heidegger diese Wendung an: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (437) Dieser Schritt war so in den Konstitutionsbahnen von Sein und Zeit nicht zu gehen. Die Zuwendung zu den Grundfragen der Metaphysik und zur Metontologie, der Rückwendung von der Seinsfrage auf das Seiende nach der Publikation von Sein und Zeit nahmen dazu Anlauf. Heidegger selbst erklärte im Rückblick, dass vor dem transzendentalen Ansatz und dem Horizontbegriff ein solcher Schritt nicht möglich gewesen wäre. Die Vorlesungen aus dem Wintersemester 1928/29 ›Einleitung in die Philosophie‹ (GA 27) und aus dem Wintersemester 1929/39 (GA 29/30), die als Nukleus des zweiten Teils von Sein und Zeit verstanden werden, können auf der Reflexionsebene des Jahres 1927 eine Ahnung davon geben, was dieser zweite Teil hätte enthalten können. Dass sie ein Ersatz oder Surrogat dieses ungeschriebenen zweiten Teils seien, behauptet aber eine Harmonie, die so nicht haltbar ist. Der Weg, den Heidegger dann selbst ging, ist der Weg der seinsgeschichtlichen ›Kehre‹. Ob er der argumentativ und in der Stimmigkeit der Anlage des Heidegger’schen Denkens überzeugendste Weg war, ist zu fragen. Wie andere Wege hätten aussehen können, sollte in einer argumentativen Deutung zumindest erwogen werden. Heidegger quittierte selbst spätere Aussagen, er sei »nicht über Sein und Zeit hinausgekommen« eher lakonisch. Wie solle man sich ein solches Hinauskommen vorstellen? 3 Ähnlich wie er über den hermeneutischen Zirkel in seinem Hauptwerk aussagt, es komme darauf an, in diesen Zirkel in der richtigen
2 Vgl. dazu die Dialoge Timaios und Philebos. Im Einzelnen Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, a. a. O., S. 507 ff. 3 Vgl. dazu Heidegger, »Laufende Anmerkungen zu Sein und Zeit«, in: GA 82, S. 15 ff. Heidegger bemerkt auf dem Titelblatt: »nach zehn Jahren erstmals wieder ›gelesen‹ (1936)«. Es dürfte kein Zufall sein, dass die stringente Gestaltung des Denkens des »anderen Anfangs« eben nach dieser Neuaneignung von Sein und Zeit wieder einsetzt.
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Weise hineinzukommen (SuZ. 151), 4 so kam es ihm selbst darauf an, auf den seinsgeschichtlichen Bahnen tiefer in die Aporetik der fundamentalontologischen Frage zu gelangen. Eine Entwicklungsstruktur oder ein Phasenmodell (Heidegger 1 und Heidegger 2, ähnlich wie Wittgenstein 1 und Wittgenstein 2) bleibt in jedem Fall unangemessen. Deshalb ist es auch keineswegs verwunderlich, sondern nur konsequent, dass er später immer wieder auf Sein und Zeit zurückkam, etwa in der Zwiesprache mit dem Arzt und Psychologen Medard Boss und dass gerade in solchen Explikationen die komplementäre, wechselseitige Erhellung von Sein und Zeit und der Seinsgeschichte möglich wird. Ein weiteres ist nicht zu übersehen: Sein und Zeit war ein philosophischer Welterfolg, der seinen Schatten warf. Heidegger wurde an diesem Werk gemessen. Die Resonanz brachte zugleich eine Reihe von Urteilen mit sich, in denen Heidegger nur Fehlurteile sehen konnte. Ein Autor, der in solchem Maß mit einem Buch identifiziert wird, sieht sich inneren und äußeren Schwierigkeiten ausgesetzt, weiter zu gehen. Dies wiegt umso schwerer, als Sein und Zeit Heideggers Buch ist: Kein zweites Mal konstituierte er einen Text derart aus einem Guss, aus einem Fragehorizont. Spätere Buchveröffentlichungen Heideggers haben einen anderen Charakter: Es sind zum Teil Sammlungen von Aufsätzen und Abhandlungen, oder wie die zweibändige Nietzsche-Monographie Zusammensetzungen von umfangreichen Vorlesungskonvoluten: ein Nachlass zu Lebzeiten, dem sich der spätere Nachlass mit den seinsgeschichtlichen Fugen in den Beiträgen an die Seite stellen lässt. Dem Denkansatz und den markanten Schnittstellen von Heideggers fundamentalontologischer Fragestellung soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei geht es, auch in systematischer Hinsicht, um die Frage, welche Problemata und Gedankenkonstellationen in Heideggers fundamentalontologischem Hauptwerk zusammenlaufen und wie sie sich weiter entfalten. Sein und Zeit artikuliert als seine Frage den Charakter des Seins von Seiendem, mit der Aristotelischen ontologischen Grundformel: ›on … he on‹, wobei das Sein, das Seiendes bestimmt, selbst kein Sein und Zeit zitiere ich gemäß der Ausgabe Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1984, deren Paginierung sich in der Edition GA 2. Frankfurt/Main 1977 unschwer nachweisen lässt.
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Seiendes ist. Heidegger exponiert in diesem Zusammenhang »die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Wiederholung »der Frage nach dem Sein« (2). Eindrücklich gemacht wird dies bereits mit dem Motto, mit dem Sein und Zeit überschrieben ist: »delon gar hos hymeis men tauta […] palai gignóskete, hemeis de pro tou men oometha nun d’eporekamen« (Sophistes 244a). In der von Heidegger angeführten Übersetzung: »Denn offenbar seid ihr doch schonlange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen« (1). Diese Verlegenheit, das Auffälligmachen des Unauffälligen, ist das zentrale Thema von Sein und Zeit vor der Notwendigkeit, die Wiederholung der ontologischen Frage zu begründen. Heidegger verwendet darin Topoi, die auch in seinem späteren Denken immer wiederkehren: Sein sei das »katholon malista panton«, das Allgemeinste von allem (3), der Seinsbegriff sei undefinierbar (4) und schlechterdings selbstverständlich. Für die formale Struktur der Frage nach dem Sein (von Seiendem) bedeutet dies, dass sie offensichtlich in einen Zirkel führt. Diese Zirkularität ergibt sich daraus, dass Sein in den Fragen und Topologien von Seiendem »vorausgesetzt« ist, aber nicht auf den Begriff gebracht und auch gar nicht ex ipso exponiert ist (8). In gewisser Weise findet man auf den ersten Seiten von Sein und Zeit also bereits den Gedanken der Seinsvergessenheit in eine Strukturanalyse transformiert. Den Einwand der Zirkularität weist Heidegger zurück, er gesteht aber ein, dass die fundamentalontologische Frage eine »Rückund Vorbezogenheit« (8) entfaltet, ein Wesensmerkmal, das die Analyse in Sein und Zeit begleiten wird, bis zur explizierten Bestimmung der Zeitlichkeit. Dass die verborgene Seinsfrage einen ontologischen Vorrang vor allen eidetischen – oder gar empirischen – Bestimmungen von Seiendem hat, hält Heidegger fest (8 f.). Heidegger erläutert dies seinerzeit noch in einem später preisgegebenen Konzept transzendentalphilosophischer Konstituierung. Alle Ontologie bleibe »im Grunde blind und eine Verkehrung ihrer eigensten Absicht, wenn sie nicht zuvor denn Sinn von Sein zureichend geklärt und diese Klärung als ihre Fundamentalaufgabe begriffen hat« (11). Auch für die Grundlegung von Wissenschaften ist, wie Heidegger hier expliziert, die Seinsfrage die schlechterdings fundamentale Frage. Sie wird in der Exposition von Sein und Zeit als Frage nach dem »Sinn von Sein« ausgewiesen: Darin ist in Auslegung des Topos vom ›Richtungssinn‹ eine doppelte 149
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Bewegung angedeutet, aber noch nicht expliziert: jene vom Grund des Seins auf das Seiende, und die gegenläufige auf das Sein zurück. Dass der privilegierte Zugang zur Frage nach dem Sinn von Sein von der Strukturanalyse des Daseins ausgeht (der Terminologisierung von »Mensch«) (11 f.) begründet Heidegger letztlich mit Rückgriff auf Aristoteles’ ›De anima‹-Schrift, namentlich auf den Satz: »Die Seele des Menschen ist in gewisse Weise das Seiende« (14). 5 Es sei das Charakteristikum dieses Seienden, dass es allein dadurch ausgezeichnet ist, dass es per se mit verschiedenem Seienden zusammenkommen kann. 6 Diese ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, dass es in sich selbst und zugleich ontologisch ist. Denn es geht »diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst« (12). Darin liegt die weitreichende Behauptung, dass Dasein nicht auf Subjektivität und das Ego perspektiviert ist, sondern auf sein Sein und damit auf Sein selbst. Erst später 1929, in den großen Abhandlungen ›Was ist Metaphysik?‹ und das ›Wesen des Grundes‹ 7 wird Heidegger diesen Seinsbezug als ein Hineingehaltensein in die Abgründigkeit von Sein und damit von Nichts näher explizieren. Zunächst ist es nur die Nicht-Festgelegtheit, der ekstatische Charakter der Existenz, der dafür Indizien formt. Emmanel Lévinas kritisierte die rekursive Struktur der Aussage vom Dasein, dem es in seinem Sein nur um dieses Sein selbst gehe, als eine monologische in sich abgeriegelte Grundhaltung. 8 Das ist sie gerade nicht, sowenig sie sich aber umgekehrt auf das Sein des Anderen öffnet. Sie geht transzendierend in ihren Ermöglichungsgrund zurück. In der Tat ist es verwunderlich, wie Sein und Zeit als eine Anthropologie gelesen werden konnte – und kann, wenn man die klaren und abgrenzenden Aussagen Heideggers in den Blick nimmt: »Die so gefasste Analytik des Daseins bleibt ganz auf die leitende Aufgabe der Ausarbeitung der Seinsfrage orientiert« (17). Dasein ist also nicht reflexiv, aber transparent auf Seiendes in seinem Sein und damit auf den Seinssinn. Womit sich zum anderen eine enge Beziehung des Aristoteles, De anima Gamma 8, 431 b 21, und 5, 430a 14 ff. Hier rekurriert Heideggger auf Thomas von Aquin, Quaestiones de veritate qu. I. a 1. 7 Vgl. Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 103–123; S. 303–313; S. 365–385 (›Was ist Metaphysik?‹ mit begleitendem Vor- und Nachwort); sowie 123–177: Vom Wesen des Grundes. 8 Vgl. u. a. E. Lévinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg/Br., München 21987, S. 57 ff. 5 6
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Seins des Daseins auf Zeit verbindet, die Heidegger wieder zunächst ganz rudimentär daraus erklärt, dass das Dasein auf seine Zukunft hin entworfen werde. Methodisch expliziert Heidegger den Ansatz als ›Destruktion‹ von Ontologie, als Abbau von Umlagerungen und damit Verfremdungen der Fundamentalstruktur von Dasein. Es sind die ursprünglichen Denkerfahrungen (22), die den Maßstab für diesen Rückbau bilden, für den einerseits die antike Ontologie und sodann Descartes und Kant genannt werden (24). Dekonstruktion ist das Vorbild par excellence aller späteren Dekonstruktionen, die indes eher die Tendenz haben, den Bereich von Philosophie und Denken zu verlassen und in ein anderes Umfeld, sei es das Unbewusste, seien es Mechanismen der Wirtschaft, sei es die Genderfrage auszuweichen. Dazu verhält sich Heidegger kontrapunktisch. Er zielt in den Bereich, der allem Denken seinerseits zugrunde liegt. Später wird Heidegger nicht mehr von ›Destruktion‹ sprechen. Doch grundsätzlich ist die Einsicht, dass das zu Sagende und zu Denkende eben ungesagt und ungedacht blieb, auch der Tenor, der auf dem seinsgeschichtlichen Weg verfolgt wird. Die Exposition der beiden Teile von Sein und Zeit (39 f.) lässt, für sich genommen, noch nichts über die wahrscheinliche Anlage des zweiten Teils von Sein und Zeit erkennen. Von den drei Abschnitten des ersten Teils sind die ersten beiden ausgearbeitet und integraler Bestandteil des Werks: 1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins und 2. Der Zusammenhang von Dasein und Zeitlichkeit. Der 3. Teilabschnitt, der zumindest eine Kehre des Titels anzeigt, Zeit und Sein ist nicht formuliert, sondern nur skizziert. Was vom zweiten Teil und seiner triadischen Gliederung genannt wird, lässt noch keinerlei Aufschlüsse über die systematische Tektonik und Binnenstruktur dieses Stückes zu. Vielmehr werden nur die Referenzen und Anschlußstellen benannt. Behandelt werden sollte 1. Kants Schematismuslehre »als Vorstufe einer Problematik von Temporalität« (40). 2. Das ontologische Fundament des Cartesischen ›Cogito sum‹, wobei Heidegger vor allem der Übernahme der mittelalterlichen Ontologie in der res cogitans-Konzeption nachgehen wollte und schließlich 3. Die Aristotelische Zeitabhandlung »als Diskrimen der phänomenalen Basis und der Grenzen der antiken Ontologie« (40). Über Einlösung und Abbrechen dieser Themenfelder kann man sich leicht eine Übersicht verschaffen: (2) gelangt über Andeutungen 151
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in Sein und Zeit und in späteren Vorlesungen nicht hinaus; (3) ist in Heideggers Aristoteles-Interpretationen zumindest angedeutet, (1) ist in nuce in das Kant-Buch aufgenommen. Doch die systematische Umkehrung führt in die Seinsfrage hinein und ist in Sein und Zeit eben nicht dokumentiert. Damit verbindet sich auch die mit Kant angedeutete Einsicht, dass »die Sache selbst tief eingehüllt« ist (26), und dass deshalb auf diese Sache nicht unmittelbar zugegriffen werden kann, sondern nur in »Wiederholungen« – ein Kierkegaard’scher Begriff – und Annäherungen über die Verhüllungen des Phänomens. An die Seite der Destruktion rückt Heidegger die phänomenologische Methode als Haltung und Verfahren, die ihrerseits durch den Rekurs auf den lógos Gestalt gewinnt. Heidegger unterscheidet schon hier einen vulgären von einem phänomenologischen Phänomenbegriff. Letzterer besteht darin, dass das, was unthematisch in jeweiligen Erscheinungen sich »mit zeigt«, zur Erscheinung gebracht wird. Dabei betont Heidegger, in einer Linie, die seit seinen frühen Freiburger Privatdozentenvorlesungen erkennbar ist, 9 dass Phänomenologie ›entformalisiert‹ werden muss: Dass sie nicht nur ein formale Strukturanalyse der Phänomenalität der Phänomene entwickeln darf, sondern das Sich-Zeigen des Verborgenen, und dies bedeutet: des Sinns von Sein, entfaltet. Destruktion, die Methode, die mit Sein und Zeit weitgehend gleichgesetzt wird, 10 ist daher nur die Kehrseite der Ontologie, denn es soll freigelegt werden, was verdeckt blieb, oder in die Verdeckung zurückfiel (35). Damit hängt die weitergehende enge Verflechtung von Phänomenologie mit Hermeneutik zusammen. Nach Heidegger ist phänomenologische Deskription in sich selbst Auslegung. Hier geht die Phänomenologie unmittelbar in eine ›Hermeneutik der Faktizität‹ über. Noch in konstitutionsanalytischer transzendentaler Bedeutung formuliert Heidegger, dass die Phänomenologie ebenso wie die Hermeneutik Vorbedingungen von Ontologie seien (37), Ontologie aber nur als Phänomenologie möglich sei (38). Darin liegt noch keineswegs die Tendenz zu einer umfassenden Metaphysikkritik, sondern zu einer Klärung der Sache und des Wesens von Metaphysik. Weder
Vgl. Erster Teil II. Kapitel des vorliegenden Buches. Zur Denkoperation der ›Entformalisierung‹, die aber den Gestus der ›formalen Anzeige‹ gleichwohl nicht preisgibt. Dazu nochmals die bereits erwähnte Abhandlung von R. Cristin, a. a. O., und B. C. Hopkins, »Entformalisierung und Phänomen bei Husserl und Heidegger«, in: Heidegger-Jahrbuch 6, S. 87 ff.
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Phänomenologie noch Hermeneutik werden freilich als Bezeichnungen für eine Schulrichtung gebraucht, sondern als Möglichkeit die den Vorrang vor erreichten Wirklichkeiten habe. Schließlich ist für den methodischen Grundansatz das Phänomen der Transzendenz von erschließender Bedeutung. In einem noch ungeklärten Sinn begreift Heidegger Sein gegenüber dem Seienden, das es durchdringt und über das es doch hinausgeht, als transzendentale Erkenntnis. Denn Sein ist gegenüber dem Seienden transcendens schlechthin, das Übersteigen aus einzelnen Intentionalitäten in den Grund von Intentionalität selbst. Allerdings ist dies, wie Heidegger hinzufügt, »der Fall, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt (38). Auch hier kann man fragen, ob diese Individuation im Horizont der »formalen Anzeige« wirklich zu gewinnen war. In der Programmatik von Heideggers Hauptwerk ist sie in jedem Fall beabsichtigt. Mit diesem hermeneutischen Ansatzpunkt hängt zusammen, dass die Seinsfrage in Sein und Zeit als Frage nach dem Seinsverständnis und dem Seinssinn immer im Blickpunkt des Daseins geformt wird. Dies ist eine fundamentalontologische und zugleich transzendentale Fokussierung, in der das metaphysische Gefüge der Seinsfrage noch nicht entwickelt ist.
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Bereits in seiner Frühphilosophie umkreiste Heidegger immer wieder die hohe Relevanz einer Relationenontologie. Es ist denkbar, dass nicht zuletzt darin ein Grund für die Affinität jüdischer Philosophen, die jeweils spezifisch diesen Ansatz verfolgten, zu Heideggers Denkform liegt (vgl. weiter unten Sechster Teil. 34). Entwickelt wird diese Relationalität des Daseins in der Exposition seiner Analytik (§ 9): 11 sein Wesen liege in seinem ›Zu-sein‹, einer Zukünftigkeit und gerade keiner Fixierung auf einen Zustand. Daher ist dieses Wesen weiter nicht auf Vorhandenheit, sondern auf Existenz bezogen. Damit verbindet sich bei Heidegger bekanntlich die Individualitätssignatur, die »Jemeinigikeit« des Daseins. In den sprachlichen Analysen, die Heidegger in diesem Zusammenhang anstellt, wird darauf verwiesen, Dazu D. Frede, »Stichwort: Sein. Zum Sinn von Sein und Seinsverstehen«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 80 ff., vgl. auch E. Tugendhat, »Heideggers Seinsfrage«, in: Ders., Philosophische Aufsätze. Frankfurt/Main 1992, S. 108 ff.
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dass die »Jemeneinigkeit« durch die Selbstaussage »Ich bin« – »Du bist« artikuliert wird, wobei diese Seinsaussagen nicht Zustände fixieren, sondern die Existenzstruktur des Entwerfen-Könnens benennen. Heidegger betont ihre »ontische Indifferenz«. 12 Es ist also gerade der jeweilige Möglichkeitshorizont, der sich in der Selbstaussage eröffnet und nicht ein statisches Vertrautsein. Zugleich formuliert Heidegger damit einen Kontrapunkt zu den an Extremsituationen ansetzenden existenzialistischen Konzepten von Karl Jaspers. Jene »Indifferenz« bewahrt die Haltung der Phänomenologie, deren Epoché eine Leerheit gegenüber der Weltgeltung zur Folge hat. Gerade am Punkt der (Epoché) ist stärker, als es in der Regel geschieht, in der Fundamentalontologie noch das Erbe der Phänomenologie zu erkennen: Denn es ist diese Leere, die Differenzen erst erkennen lässt. Sie ermöglicht damit eben die ontologische Frage nach dem Sein des Wesens Mensch, nachdem in Anthropologie, Biologie oder Lebensphilosophie nur nach einem Seienden gefragt werde (47 ff.) – durchaus in Analogie zu der metaphysischen Bestimmung des »zoon logon echon« oder der Gottebenbildlichkeit (Gen i, 26). Nicht so sehr auf Diltheys Einfühlungshermeneutik, sondern vielmehr auf Husserls Phänomenologie der Person und relationalen Erschließung orientiert Heidegger seine Exposition des Daseins. Dies ist eine Nähe, die Heidegger über die Differenzen von Fundamentalontologie des Daseins und Husserl’scher Egologie hinweg offensichtlich einnehmen kann. Die korrelationsontologische Konzeption wird bereits bei der »Vorzeichnung« des in-der-Welt-seins des Daseins unverkennbar deutlich. Dasein ist durch In-sein ausgezeichnet, ein »Wohnen bei«, »Vertrautsein mit« (54), das strictu sensu von der Zuordnung zu vorkommenden Dingen unterschieden wird. Es ist ein korrelativer Begegnischarakter, der dem Dasein zukommt, und der die Möglichkeitsbedingung all seiner Verbindungen zur Welt ausmacht (57). Dasein ist in seinem weitesten Horizont nicht intentional auf einzelne Gegenstände bezogen, sondern auf Welt selbst; damit fundiert das Insein auch die Leiblichkeit und den Raumbezug des Daseins (56). Doch Ich-Du-Philosophie und Personalismus, wie sie in der zeitgenössischen Philosophie in je verschiedener Weise von Martin Buber, Ferdinand Ebner und phänomenologisch von Max Scheler entwickelt werden, sind bei Heidegger also nicht einfach ausgelöscht Sie spielen implizit durchaus eine Rolle.
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setzt dies wiederum den Grundcharakter des Inseins voraus, der die leibliche und geistige Verfasstheit des Daseins umgreift. Diese Aussagen werden im Blickpunkt der Ontologie dann zu der Einsicht führen, dass Dasein ontologisch ›Sorge‹ ist, die in der Exposition das erste Mal aufscheint (54 f.). Heidegger konnte zeigen, dass dem Dasein in sich selbst Weltlichkeit eignet. Heidegger unternimmt auch hinsichtlich des Weltbegriffs eine Abbildung auf die ontologische Differenz – und eine ontisch-ontologische Unterscheidung, an deren Validität er später selbst Zweifel hegte. 13Neben der in Sein und Zeit so noch nicht benannten Seinsvergessenheit kann eine ›Weltvergessenheit‹ konstatiert werden, ein Überspringen des Weltzusammenhangs des Daseins (65 f.), das Heidegger gleichsam als Grundakt der Metaphysik auffasst. Mit dem Phänomen der Weltlichkeit geht einher, dass die Erkenntnis von Welt selbst nur eine abgeleitete Seinsweise von dem praktischen In-der-Welt-sein ist, dem Umgang (Pragma) mit dem Zeug und dem ›Besorgen‹. Heidegger verdeutlicht dies exemplarisch an der menschlichem Gebrauch nutzbar gemachten Natur, die zugleich Teil der Lebenswelt ist, ein Haus (oikos), in dem das Dasein sich von vorneherein als in der Welt seiend begreift (68–72). Das Dasein transzendiert die Grenze zwischen Innen und Außen, was für die Destruktion der Cartesianischen Subjekt-Objekt-Differenz konstitutiv ist. Heidegger kann damit auf die Aristotelische Analyse der Zweckhaftigkeit, das hou heneka zurückgreifen, die vom Umgang mit den pragmata bis auf die höchste Ebene der theōría führt. Diesen Faden nimmt er in dem tektonischen Blickpunkt auf, dass das ›praktische‹ Verhalten ›nicht theoretisch‹ sei (69). Im Hintergrund zeichnet sich die ebenfalls von Aristoteles herrührende grundlegende Unterscheidung zwischen poiesis und praxis ab. Während poiesis, als Herstellung, 14 zu einem vorhandenen Werk führt, ist die praxis immer auf ›Zeug‹ angewiesen, das in Relationen zum alltäglich handelnden und operierenden Dasein steht. Ausdrücklich erinnert Heidegger im Problemzusammenhang des Weltphänomens (72, FN) an die Um-
U. a. in den ›Laufenden Anmerkungen‹, GA 82, S. 170 ff. Siehe zur Systematik der Selbstauseinandersetzung Heideggers den folgenden Abschnitt Zweiter Teil, V. 14 Vgl. dazu Th. Ebert, »Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), S. 12 ff. 13
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weltanalysen der ›Hermeneutik der Faktizität‹, die hier repliziert werden. In diesen Umweltanalysen wird zugleich die anthropologischbiologische Sicht auf das ›In-sein‹ aufgebrochen: In-sein bedeutet nur sekundär ein inkludierendes und raumhaftes Verhältnis, in erster Linie aber das In-sein in einem Bezug, sodass damit immer auch eine ek-sistente Inhärenz verbunden ist. Vor diesem Explikationszusammenhang wird die Widerständigkeit der Welt thematisch, ein Aufleuchten des Zeugs in seinem Eigensinn, das sich nicht in die Formen der Innerweltlichkeit zurückführen lässt. In seiner Gebrauchsdimension ist das Zuhandene in der Regel unauffällig und unaufdringlich (75 f.). Es wird als Phänomen eigener Güte gar nicht kenntlich. Dies geschieht erst, wenn seine Funktion gestört ist, wenn sich das Zeug also als ›unbrauchbar‹ erweist. In der Kunstwerk-Abhandlung erweiterte Heidegger diese Gebrauchsdimension, über den nur pragmatischen Gebrauch hinausgehend, auf die Eminenz des Werkes, das erst im Gebrauch seinen Sinn erschließt und, im Sinn der Heidegger’schen Spätphilosophie, Welt und Erde aufgehen lässt. 15 Exemplarisch für den Charakter des Zuhandenen firmiert der Verweisungscharakter der Zeichen,- ein Eröffnen der Dienlichkeit, an dem sich das ›Um zu‹ (78) als eine konkrete Ermöglichung orientieren kann. Zumindest von der Zugangsweise her wird somit der Vorrang der praktischen vor der theoretischen Philosophie bestätigt. Heidegger nimmt indes einen Zeichenbegriff in den Blick, der gerade auf die Destruktion, die Verborgenheit des Angezeigten, des Seins selbst, unter dem Anschein ihres Gegenteils hinweist. Diese Form der Bedeutsamkeit leitet den aletheischen Zugang zum Sein, sie ist aber in dem pragmatischen Zugang der Fundamentalontologie selbst noch nicht thematisch (82 f.). Die Bestimmung der Weltlichkeit der Welt als Bewandtnis- und Bedeutungszusammenhang wird in Sein und Zeit horizonthaft verstanden. Sie bezeichnet jenen Horizont, auf den hin sich das Dasein in seinen Weltbezügen entwirft. Dies führt zu der Einsicht, dass am Dasein schon in ontischer Weise Zuhandenheit entdeckt wird (87). Schließlich ist dies auch der Ausgangspunkt, um den Cartesianischen Dualismus und die Reduktion von Welt auf die Ausgedehntheit der ›res extensa‹, zu destruieren. Diese Korrelation zeichnet sich erstmals im Kunstwerk-Aufsatz von 1935 ab und wird dann in das ›Spiegel-Spiel‹ des Gevierts weiter entfaltet.
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Im § 20 wird ein wichtiger Schritt von dem ontischen Bewandtniszusammenhang auf die ontologische Bestimmung von Welt vollzogen. Mit ihrer Bestimmung als ›res extensa‹ bei Descartes sieht Heidegger einen Endpunkt erreicht, der für die Verdecktheit der Seinsfrage entscheidend ist. Bereits die mittelalterliche Ontologie habe den Sinn von Sein nicht eigens erfragt, sondern sei bei Eigenschaften des Seienden im Allgemeinen stehen geblieben: vor allem bei der Unveränderlichkeit (92 f.) und Allgemeinheit (93). Die analogische Rede vom Sein des Seienden beruht darauf, dass Sein selbst nicht erfragt und nicht vernommen werden kann. »Weil ›Sein‹ in der Tat nicht als Seiendes zugänglich ist, wird Sein durch seiende Bestimmtheiten des betreffenden Seienden, Attribute, ausgedrückt« (94). Was später in immer neuen Anläufen als ›Seinsvergessenheit‹ erscheint (weiter unten VI. 13–16), wird hier in einer ersten Annäherung aus der Cartesischen Ontologie der dem Subjekt entgegenstehenden Welt als res extensa ausgewiesen: als Weltlichkeit der ausgedehnten Substanz, die den Bestimmungen des Subjektes ihre Härte entgegensetzt. Die res extensa ist zugleich der Begriff der naturwissenschaftlich messbaren und bestimmbaren Natur. Heidegger verbindet mit dieser Defizitanzeige vier Warum-Fragen, von denen zumindest drei in seiner späteren Abarbeitung an der Seinsgeschichte eine Rolle spielen, aber nicht immer den Fragehorizont von Sein und Zeit wahren: 1. Warum der ontologische Grundsatz des Parmenides, der die Selbigkeit von Denken und Sein behauptet (100), das Phänomen der Welt überspringt. 16 Dieser Grundsatz zeigt sich bei Heidegger später als eine Aussage der Unmittelbarkeit der Seinserfahrung. Der Bezug zum Weltbegriff wird aber preisgegeben. 2. Die zweite der Warumfragen verfolgte Heidegger ebenfalls nicht weiter. Sie lautet: »Warum springt für das übersprungene Phänomen das innerweltlich Seiende als ontologisches Thema ein?« (100): Das innerweltlich Seiende, das damit bezeichnet wird, ist Seiendes im Modus der konstanten Anwesenheit: der parousia,
Entscheidend ist hier der Kantische Weltbegriff, mit dem sich Heidegger in seinen Kant-Vorlesungen der Marburger Zeit eingehend auseinandergesetzt hat; v. a. GA 24 und GA 25. Vgl. dagegen die Kosmologie und Kosmogonie seines Schülers Eugen Fink, der viel stärker im mythischen Raum der Vorsokratiker bleibt. E. Fink, SeinWahrheit-Welt, Gesamtausgabe Abteilung II. Band 6.
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die zumindest begrifflich die Platonische Ideation mit der christlichen Offenbarungsidee zusammenspannt. 17 Die Genealogien der Seinsvergessenheit hätten ein völlig anderes Profil angenommen, wenn Heidegger diesen beiden Fragen weiter nachgegnagen wäre und wenn er damit den Begriff von Welt weiter problematisiert hätte. Dies geschah noch im Umkreis seines Kant-Buches und der Vorlesungen der Marburger Zeit, aber nicht mehr im Zusammenhang des Weges der ›Kehre‹. 18 Was der Verlust dieser Frage bedeutet, kann klar angegeben und systematisch präzisiert werden: Von ihm her würde sich die Seinsfrage auch und zuerst als Frage nach Welt ausnehmen. Als dritte Warumfrage expliziert Heidegger die Frage, warum das Seiende, das an die Stelle des begründeten Weltbegriffs tritt, von Descartes in der Natur aufgefunden werde (100). Erst diese Frage lässt sich im Licht der Analysen zur Seinsvergessenheit weitergehend aufklären: Natur ist für Heidegger dann das Paradigma des erstlich aufgehenden und sich zeigenden Seins, phyein als Wachstum und von sich her – Erscheinen, die in die Wesensnatur umgedeutet wird. Die vierte Frage wird noch im Umkreis der Logik und Wertelehre von Hermann Lotze entwickelt. 19 Heidegger liest diesen Zusammenhang hier als zusätzliche Anhaftung der Werte an den Dingen, die als deren Bejahung, bzw. ethisch als Bedingung einer Vorzugswahl erscheint. 20 Die Problematik, warum sich die »als notwendig erfahrene Ergänzung solcher Weltontologie« (100), die sich offensichtlich als defizitär erweist, »unter Zuhilfenahme des Wertphänomens« vollzieht, wird Heidegger in einem ganz anderen Rahmen verfolgen: in der Linie der Nietzsche’schen ›Umwertung aller Werte‹.
Offenbarungsgeschichte ist dagegen selbstverständlcih ein Wechsel von Sich-zeigen und Sich-entziehen des Geheimnisses Gottes. 18 Ansatzweise in diese Richtung geht die berechtigte Frage: D. Thomä, »Stichwort ›Kehre‹. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 134 ff. 19 H. Lotze, System der Philosophie. Zweiter Teil. Drei Bücher der Metaphysik. Leipzig 1874. Heideggers intensive Aneignung der theoretischen Philosophie und der großen Logik-Systeme des späten 19. Jahrhunderts ist eine wichtige Zugangsweise, durch die er sich überhaupt erst den Klassikern nähert. 20 Vgl. dazu den Begriff der ›Prohairesis‹ bei Aristoteles, Vgl. EN 1111b 27 ff. und EE 1226 a 8–11. Vgl. M. Riedenauer: Orexis und Eupraxia. Ethikbegründung im Streben bei Aristoteles »Epistemata« Philosophie. Würzburg 2000. 17
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9.
Dasein als ›In-sein‹
Von der Weltlichkeit des Daseins her werden zwei weitere Modi zur Abhebung gebracht. Zum einen die ›Räumlichkeit‹, zum anderen die Formen von Selbstsein und Mitsein. Gegenüber der Temporalitätsanalyse, die eine Schlüsselstellung einnimmt, tritt die Raum-Analyse in den Hintergrund. Sie ist dennoch von erschließender Bedeutung. Mit Kant geht Heidegger davon aus, dass der Raum in seiner Ganzheit erschlossen wird und dass sich das In-der-Welt-sein des Daseins über den Raum erschließt. Dabei sind die Beziehungen von Nähe und Ferne von aufschlussreicher Bedeutung, wobei sie von Heidegger in die Dynamik des »Ent-fernens« einbezogen werden: »Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe« (105). Relativ zum Dasein erschließt sich der Raum im Zusammenhang seiner Gegenden und der in ihnen angezeigten und gegliederten Orte. Kant konstatierte, von Heidegger zitiert, dass das »bloße Gefühl des Unterschiedes« meiner zwei Seiten, der rechten und der linken, zur Orientierung nicht beitrage, solange nicht eine Welt bekannt ist. 21 Daher ist der Raum in seiner Subjektimmanenz gerade nicht hinreichend erfasst. Das Dasein selbst ist raumhaft, sonst würde der Raum nicht als apriorische Kategorie gelten können. Raum erschließt sich also nicht vom Seienden her, sondern von der Weltlichkeit der Welt aus; Raum ist somit ein Absolutum für das Subjekt – das sich selbst in den Raum hinein entwirft. Er ist aber relativ zur Weltlichkeit von Welt zu denken. 22 Die Problematik von Subjektivität und Intersubjektivität des Daseins kann man adäquat nur verstehen, wenn man sie als nicht-egologische Variante der Husserl’schen Explikation der Eigenheitssphäre denkt. Auch Husserl ging bekanntlich davon aus, dass sich der Andere in meinem Bewusstseinsstrom als anderer, oder andere als meinesgleichen ausweist. Das in-der-Welt-sein sei insofern immer Mitdasein mit Anderen, doch betont Heidegger gerade nicht den Alteritätsaspekt. »Die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht (sc. Hervorhebung im Original H. S.) unterscheidet, unter denen man auch ist« (118). Dasein konstituiert sich dabei
Zu der Kantischen Problematik vgl. R. Enskat, Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes. Reihe: Quellen und Studien zur Philosophie Band 13). Berlin, New York 1978. 22 Vgl. im Blick auf Kant K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff. Bonn 1986, S. 54 ff. 21
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aber nicht aus den Anderen, es bleibt auf seine Eigenheitssphäre verwiesen, schlichtweg, weil es um die »Jemeinigkeit« dieses Daseins geht. Dagegen können aus der Dialogphilosophie Einwände eingebracht werden, die die Vorgängigkeit des Angeredetseins vor der Monologizität behaupten. Sie haben sprachtheoretisch relational eine gewisse Evidenz. Häufig folgen sie aber auch einem wenig reflektierten Gestus, wonach der Vorrang des Anderen durch eine primäre Intersubjektivitätsstruktur besser berücksichtigt werden könne. Dann betrifft das wohlfeile Vorurteil, im Schacht des Ich gefangen geblieben zu sein, Heidegger – und es beträfe mit ihm die Klassische deutsche Philosophie und auch Husserl. Das Deiktikum Ich ist in Sein und Zeit abkünftig aus den Bewandtniszusammenhängen eigenen in-der-Weltseins: Es ist ein Ich, das »in« Relation zur Welt ist. Heidegger lässt aber keinen Zweifel daran – und eben hier werden Philosophien der Intersubjektivität, wie unter anderem Lévinas, kritisch ansetzen, 23 dass auch das Mitdasein immer das Mitdasein des jeweiligen Daseins ist. Es werde nicht durch den Anderen konstituiert und nicht zerstört, wenn kein Anderer vorhanden sei. Auch wenn Heidegger die monadologische Konstitution des alter ego in der Husserl’schen Phänomenologie selbstverständlich nicht aufnimmt, so nimmt er sich doch auch seinerseits der Unterscheidung zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, vorhandenen Dingen, »zuhandenem Zeug« und dem Dasein des Anderen an. Das Sein des Anderen, das sich im Mitsein erschließt, »wird dann zur Projektion des eigenen Seins zu sich selbst ›in ein Anderes‹« (124). Deshalb ist der Andere nicht das Primäre, es ist vielmehr die Welt, in die hinein sich verschiedene Jemeinigkeiten teilen. Daraus formt sich, im Sinn der genannten phänomenologischen Epoché und des Vorrangs der Alltäglichkeit, das alltägliche Miteinandersein, das Heidegger als ›Man‹ artikuliert (127 ff.). Es ist erstaunlich, dass das Heidegger’sche ›Man‹ als kulturkritischer konservativer Topos und als Heideggers Kritik an der modernen Massengesellschaft gelesen wurde. Der Wortlaut in Sein und Zeit weist eindeutig in eine andere Richtung: »Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins« (129). Das Man ist in denkbar neutraler Weise als »Wer« E. Lévinas, Die Spur des Anderen, a. a. O., S. 108 ff. Vgl. auch die Übersicht W. Stegmaier, Heidegger und Emmanuel Lévinas. Bruch mit der Neutralität des Seins, a. a. O., S. 417 ff.
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neutralen Miteinanderseins verstanden. Allerdings ist die fundamentalontologische Verbindung von Welt und Dasein in der Wer-Frage nicht präsent. Deshalb kann nur an deren Destruktion entlang überhaupt erst das eigentliche Dasein expliziert werden. Wo die Neutralität der Alltäglichkeit allesbestimmend ist, zeichnen sich die Phänomene ab, deren Analyse zu den bekanntesten Topoi von Sein und Zeit gehörten: Gerede, Zweideutigkeit und das ›Verfallen‹, das die ontologische Struktur verfehlt. Verfehlt würde sie aber auch in einer ontisch orientierten Kulturkritik. 24 Verfallen, das Heidegger von (marxistischer) Entfremdung oder der (psychoanalytischen) Nachtansicht abgrenzt, zeigt gerade im Modus des Verfehlens die Struktur des in-der-Welt-seins als eine Weise der Geworfenheit an. Erst in den §§ 36 und 37 wird die phänomenologische Neutralität des ›Man‹ verlassen, und es werden Phänomene kulturkritisch evoziert, die der unmittelbaren Zeitgenossenschaft angehören. Dass gerade die Neugierde von Heidegger darunter summiert wird, deutet auf einen Abstand zu dem für die Neuzeit konstitutiven Forschungsprozess der ›Curiositas‹, dessen Rehabilitation Hans Blumenberg detailliert nachzeichnete. 25 Neugierde sei durch ein »Unverweilen«, eine Neigung zur »Zerstreuung« gekennzeichnet ebenso wie die moderne, medial vermittelte Öffentlichkeit durch das Charakteristikum einer Zweideutigkeit, die sich im »Betrieb« hält, den Vordergrund und die Betriebsamkeit für das Eigentliche ausgibt und sich dadurch ständig »versieht« (173 f.). Bruchlos konnte Heidegger daran in den Expositionen zur planetarischen Technik und zum Gestell anknüpfen. Es ist nicht zu verhehlen, dass dieser Ausweis einer Pathologie der Moderne die phänomenologische Neutralität verlässt und deshalb, nicht ganz zu Unrecht, den Vorwurf des »Jargons der Eigentlichkeit« auf sich ziehen konnte. 26 Systematisch besteht keine Notwendigkeit, die neutrale Lesart des Man aufzugeben. 24 Die Grenze dieser Ebenen wird in den »Anmerkungen. Schwarze Hefte« immer wieder überschritten. Darin zeigt sich das methodologisch Unzulässige ihrer Vorgehensweise. Methodisch bedeutet dies eine Preisgabe der »formalen Anzeige«. Faktisch wird auf diese Weise die Grenze zwischen ›Philosophie‹ und ›Ideologie‹ überschritten. 25 H. Blumenberg, »Der Prozess der theologischen Neugierde«, in: Ders., Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt/Main 21988, S. 263 ff. 26 Th. W. Adorno, Der Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/ Main 1964 u. ö., womit Adorno undifferenziert die ›Existenzphilosophie‹ kritisiert und zwischen Heidegger und Jaspers keinen wesentlichen Unterschied erkennen lässt.
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Es wäre im Sinn des Aufweises e contrario wohl stimmiger gewesen, Heidegger hätte das Insein, einschließlich seiner Befindlichkeit und Bestimmtheit, gegenüber diesem Man zur Abhebung gebracht. Auf diese Weise würde die Alltäglichkeit, die in Uneigentlichkeit umkippen kann, tatsächlich einer transzendentalen Epoché, einer Ausklammerung folgen, anstatt dass sie ein bestimmtes Weltverhältnis voraussetzt. Hier schreibt Heidegger nun die »Hermeneutik der Faktizität« in das Alluvionsgebilde ein; sie macht deutlich, dass Dasein zugleich Entdeckendsein ist und gleichursprünglich mit seinem Sein Welt erschließt. Aus der Einsicht in den frühen Vorlesungen, dass »die Bedeutung das Primäre« ist, erwächst eine Analyse der Befindlichkeit des Daseins, die in ihrem tieferen Bedeutungssinn zu Stimmungen werden kann. Die Aussagen über ›Furcht‹ in diesem Zusammenhang sind aber zunächst nur vorläufig, weil sich die Stimmungsanalyse erst temporal einlösen lassen wird. Entscheidend ist, wie die Relationen- und Bedeutungsontologie des In-seins nun (§§ 31–34) auf den Zusammenhang von Verstehen und Auslegen transparent gemacht wird (142 ff.). Das Sein des Da, in seinem exzentrischen Charakter, wird wesentlich als Verstehen begriffen, womit der Begriff der Hermeneutik aus der Sphäre der Textualität in die ontologische Dimension ausgreift. Verstehen fasst Heidegger zugleich als Entwurfscharakter auf, in dem aus jeweiligen Gegebenheiten die Möglichkeitshorizonte veranschlagt werden. Es ist auch gerade der Zusammenhang Von Weltauslegung und Verstehen, den Heidegger als Ursprungspunkt von Freiheit begreift. Dasein ist insofern sein eigener Selbstentwurf, der sich-immer schon vorweg ist. Eben aus dieser hermeneutischen Verfasstheit werden ontologische Grundtatbestände begründet. Dies ist insofern legitim, als Heidegger der Phänomenologie, in ihrem Zusammenhang mit der Hermeneutik, zugestanden hatte, der eigentliche und einzige Weg zur Ontologie zu sein. Allerdings ist dies nicht im Sinn eines reduktiven Verständnisses aufzufassen, sondern so, dass damit auch das Verstehen seinerseits in seinem Seinsbezug aufgewiesen wird. Wieder ergibt sich zumindest vordergründig ein Zirkel, aus dem nicht herauszufinden ist, in den man aber in der richtigen Weise hineinkommen soll. 27 Heidegger hat diesen H. Mörchen, Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung. Stuttgart 1981. 27 Vgl. SuZ, a. a. O., S. 51.
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Zirkel zugestanden und von ein circulus vitiosus dadurch abgegrenzt, dass sich im Verstehen erst zeige, was und wie Dasein ist: Seine Vorstruktur und sein Sein-Können kommen darin zu sich. 28 Zentral ist die Fokussierung des Problems auf die zwingende Zirkularität der Vor-Struktur, in der sich die Als-Struktur des Verstehens, ›Etwas als Etwas‹ zu verstehen (150–152), erst als solche erschließt. So wie die Theoriebildung erst aus dem pragmatischen Weltverhältnis hervorgeht, so wird auch die Aussage als »abkünftiger Modus« (153 f.) des Verstehens kenntlich gemacht. Die ›Als‹-Struktur von Aussagen, das apophantische als, beruht in einer ursprünglicheren ›Hermeneia‹, einem Ausgelegtsein, das sich verstehend artikuliert. Und schließlich ist hier das Phänomen der Rede als der originären Weise des Sich-Aussagens des Daseins thematisiert. Heidegger gibt damit erste Andeutungen für die spätere Exposition der Sprache als ›Zeige‹ und der Phänomenalität von Rede, die umgekehrt den Phänomenzusammenhang des Hörens und Schweigens voraussetzt (162 f.). Während die Husserl’sche Phänomenologie auf die Sichtbarkeit und damit die parousie des Gegenstandes bezogen blieb, evoziert Heidegger gleichursprünglich den komplexen akroamatischen Problemzusammenhang: tektonisch-systematisch darauf orientiert, dass das Dasein sich seinsverstehend auf Welt hin entwirft und artikuliert.
10. Ganzseinkönnen des Daseins in der ›Sorge‹ Seit Aristoteles’ Nikomachische Ethik ist der philosophische Topos unauflöslich, dass menschliches Leben niemals ganz sein Ziel gewinnen kann, so sehr es auf sein eigenstes eigentliches Umwillen zielt. Es ist auf Vollendung hin ausgerichtet, bleibt aber eben entelecheia ateles, fragmentiert in seinem Sich-Voraussein, weil durch die Kontingenz des Todes die Ganzheit des Daseins abgeschnitten ist. Dieser Problematik ist sich Heidegger bewusst, wenn er eine Formel für diese Strukturganzheit anzugeben versucht. Es ist zunächst wieder die Formel für das alltägliche Dasein, das in sich selbst zweideutig ist. Hier greift wieder die phänomenologische Epoché, die alle Modifika-
Ibid., S. 53 ff. Dieses Verstehen erweist sich in eins als Selbst-verstehen des Daseins und als Verstehen von dessen Grund.
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tionen des Daseins zulässt, ohne sie zu beurteilen. 29 Es ist das »verfallend-erschlossene, geworfen-entwerfende In-der-Welt-sein, dem es in seinem Sein bei der ›Welt‹ und im Mitsein mit Anderen um das eigenste Seinkönnen selbst geht« (181). Dabei soll der innere Bereich erreicht werden, in dem Dasein in seiner ontologischen Verfassung gezeichnet wird. Über die Befindlichkeiten (Stimmungen) hinaus ist es die Grundbefindlichkeit der Angst, die diesen Bereich aufschließt: Angst ist, anders als Furcht, nicht intentional bestimmt auf einzelne Anlässe begrenzbar (186 f.). Sie richtet sich vielmehr auf das In-derWelt-sein selbst (187). Daher kommt in ihr das In-sein des Daseins in seiner Entzogenheit und seinem Nichtigkeitscharakter erst zur Aufdeckung. Dies bedeutet auch, dass die Angst vereinzelt. Die nur begrenzte Intersubjektivität verstärkt sich an der Zurückgeworfenheit auf das einzelne Selbstsein, das solus ipse, die unverkennbar mit Kierkegaards Topologie der Verzweiflung in Zwiesprache tritt. Dass in der Angst durch ihre Vereinzelung der ausgezeichnete Zugriff auf das Sein des Seienden im Ganzen liegt, hält Heidegger fest. Schon von Zeitgenossen ist versucht worden, die erschließende Dimension der Angst als Nihilismus zu bezeichnen und durch ›Weltanschauungen‹ zurückzuweisen, etwa im Licht der ›Geborgenheit‹. 30 Die phänomenale Evidenz der Angstanalyse ist dennoch originär gegeben. Sie teilt sich nicht primär durch den vereinzelnden Charakter mit, sondern vielmehr durch das Zurückweichen der geordnetstrukturierten Wirklichkeit, in den Schwebezustand, in dem Sein und Nichts in einander übergehen. Wenn man sich an diesem Phänomenzusammenhang stört und man noch immer in die Kritik an der vermeintlich nihilistischen Struktur dieses Denkansatzes verharrt, 31 sollte man sich fragen, ob es denn irgend ein Gegenphänomen der Freude oder Vollkommenheit geben kann, das eine ähnliche Vorgriffsstruktur realisiert. Der Sorgestruktur kommt, wenn man sie fundamentalontologisch neutral versteht, ein singulärer Erschließungscharakter zu. Sie nimmt, auch wenn davon bis zu dieser Begründungsstelle in Sein und Zeit nicht explizit die Rede ist, die Verklammerungen der TemVgl. weiter oben II. 1 und 2. Vgl. E. Stein, Anhang zu dies., »Endliches und ewiges Sein: Martin Heidegger Existentialphilosophie«, in: ESGA 11/12, S. 445 ff. 31 Diese Elemente waren bereits in der zeitgenössischen Rezeption von Sein und Zeit ein unverkennbarer Grundton, gegen den sich Heidegger in den ›Laufenden Anmerkungen‹, GA 82 zu Recht durchgängig verwahrt. 29 30
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poralität vorweg. Sie ist als »Sich-vorweg-Sein« als »Schon-sein bei« grundsätzlich formal vorausliegend, was mit verschiedenen existenziell faktischen Inhalten gefüllt werden kann. Dies akzentuiert Heidegger etwa an der Differenz zwischen einem inneren Trieb, einem »Hin-zu« in Abgrenzung vom »Nachhängen«, der Tendenz, »von der Welt ›gelebt‹ zu werden« (195). Die Zeugnisse der Dichtung legen diese Grundformation von Sorge für das welthafte Dasein nahe. Deshalb bleibt die Sorge bei dem blinden, alten Faust als Mangel und Schuld ihn längst verlassen haben. Die Fabel Hygins Die Sorge geht über den Fluss 32 (197 f.), die Heidegger als vorontologisches Zeugnis aufnimmt, spricht von der Sorge als dem Dritten neben der chthonischen Verfasstheit (homo: von humus) und der geistigen Transzendenz des Menschen, das ihn von Anfang an gebildet habe. Sorge, cura, antwortet darauf, indem sie sich auf das doppelte Wesen des Daseins, Geworfenheit und Entwurf zu sein, gleichermaßen bezieht. Bemerkenswert ist dabei auch, dass die Sorge anderen existenzialen Phänomenen, wie jenem des Lebens vorausgeht. Sie können ontologisch erst im Horizont der Sorge verstanden werden, nicht umgekehrt (192). Mit der Strukturganzheit der Sorge ist schließlich ein vorläufiger Schlusspunkt erreicht. Im Licht dieses Grundphänomens ist es möglich, die Frage nach einer Transzendenz der Gegenstände außerhalb des Ich, nach Beweisen für die Existenz der Außenwelt und schließlich den Streit zwischen Idealismus und Realismus hinter sich zu lassen: Als Skandal der Philosophie begreift es Heidegger, dass solche Beweise für die Existenz der Außenwelt erwartet werden, nicht etwa, dass sie nicht möglich sind (205). Heidegger votiert dabei allerdings für den Vorrang einer idealistischen Position, insofern sie das Sein des Seienden nicht auf die Vorhandenheit von Seiendem (von einzelnen Dingen) bezogen denkt (207 f.). Daraus rechtfertigt sich auch die Rede von der Seinsidee, die die Konzeption des Sinns von Seins anleiten soll. Idealismus in diesem weiten Sinn sei dann die Kondition von philosophischen Fragen, und Aristoteles sei nicht weniger als Realist aufzufassen Kant.
32 Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 197 f. Zu Hygin vgl. Stephen M. Trzaskoma, R. Scott Smith (Hrsg.): Apollodorus’ Library and Hyginus’ Fabulae. Two Handbooks of Greek Mythology. Hackett, Indianapolis 2007, S. 95–182 (kommentierte englische Übersetzung). Siehe auch die eigenständige philosophische Fortbildung bei H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss. Frankfurt/Main 1987.
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Heideggers Destruktionen führen dabei immer zugleich zu einer Rekonstruktion des jeweiligen Problembestandes, der gerade die fundamentalontologische Tiefendimension noch nicht trifft: Erschlossenheit von Welt muss sowohl den Lebensvollzügen, von denen Dilthey ausgeht, wie der Analyse des Widerstandes, im Verhältnis von Drang und Geist, vorausgehen (208 ff.). 33 Dies führt zu einem der Höhepunkte der Analyse, in denen das Cartesische cogito-Argument auf das sum umorientiert wird. Es besagt dann, »ich-bin-ineiner-Welt«, was mich befähigt, verschiedene Welteinstellungen anzunehmen. Deutlich unterscheidet sich eine solche Tektonik grundlegend von der Cartesischen, die nach Heidegger folgendermaßen schließt; »cogitationes sind vorhanden, darin ist ein ego mit vorhanden als weltlose res cogitans« (212). Offensichtlich ist diese Rekonstruktion eine Verkürzung, die nicht auf die Dynamik der Selbstbewusstseinsstruktur, sondern auf die res cogitans begründet ist. An einem destruierten und dann neu konstituierten Cartesischen Ansatzpunkt der Begründungsstrukturen sollte Heidegger später nicht mehr arbeiten. Hier ist aber ein Faden gelegt, der weiter fruchtbar gemacht werden müsste, wenn der Weltbezug des Daseins nicht in die Seinsfrage aufgelöst und wenn die Erkenntnisform der Seinsfrage explizit werden soll. 34 Destruktion und Rekonstruktion aus dem gewonnenen in-derWelt-sein sind dann auch im abschließenden Teil des ersten Abschnitts eng miteinander verschränkt. Heidegger zeigt die unthematisiert bleibenden Voraussetzungen der klassischen gängigen Definition von Wahrheit als »adaequatio intellectu et rei«. 35 Er rekurriert dabei im Grundriss auf seine eigenen frühen Aristoteles-Interpretationen und deren Wahrheitsimplikation. Aletheia werde, notiert er, mit pragma bzw. phainomena gleichgesetzt, was aus dem phänomenologischen Kontext mit Husserls Votum »Zu den Sachen selbst« zu verbinden ist (218). Das Interesse an der Wahrheit wird dadurch mo33 Zu letzterem M. Scheler, »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, in: Ders., Späte Schriften, hgg. von M. S. Frings. München 1976, S. 7–73. 34 Dabei ist die Eigenständigkeit des Erkenntnisaktes nicht in alle Dimensionen der vortheoretischen Grundphänomene hinein aufrechtzuerhalten. Sie begleitet aber den phänomenologischen Erkenntnisweg. Offfensichtlich würde dies auch eine Stärkung der Kant-Rezeption Heideggers bedeuten, die sich zu Anfang der dreißiger Jahre verliert. 35 Siehe L. B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritischsystematische Darstellung. Darmstadt 1978, S. 15 ff.
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tiviert, dass der Seinscharakter von Urteilen und Erkenntnis offengelegt werden soll. Damit wird der Übergang von einem logischen in ein ontologisches Wahrheitsverständnis vollzogen. Wahrheit ist für Heidegger ein Entdeckungszusammenhang, 36 der sich im Dasein auf ein Entdeckt-sein und Entdeckend-sein hin spezifiziert (220). Vor diesem daseinshaften Wahrheitsverständnis deutet sich Heideggers spätere Explikation der Wahrheit als Unverborgenheit (aletheia) an. Die Entdeckung sei grundsätzlich ein ›Raub‹, eine ›Privation‹, die in das Verborgene eindringt. Werde Seiendes aber als Vorhande begriffen und der lógos dann, was ein phänomenologischer Intentionalitätsbegriff zulässt, als lógos tinos (lógos von etwas), könne jenes Entdecken, das die Phänomene im Wie ihrer Gegebenheit zeigt und so, wie sie in Wahrheit sind, gar nicht spruchreif werden. Bemerkenswert ist, dass Heidegger Wahrheit zunächst an das Sein des Daseins bindet. Dieser Zusammenhang ist dadurch vorbereitet, dass Dasein als Erschlossenheit und als Seinsverstehen thematisiert wird. Dasein kann nur in-der-Welt sein, sofern es in einem Vorgriff auf Wahrheit ist. An diesem Endpunkt des ersten Abschnitts wird die für Sein und Zeit und Heideggers Denken insgesamt essentielle Vorgriffstruktur verdeutlicht. Das heißt bis zu diesem Punkt: Vom in-der-Welt-sein und dann der Auszeichnung des Strukturganzen der Sorge, von der Verbindung von in-der-Welt-sein und Verstehen konnte nur im Vorgriff auf Wahrheit überhaupt die Rede sein. Auch der Index von Subjektivität, die jeweilige Selbstidentifikation als ›ich‹ setzt die Frage nach der Wahrheit voraus. Dieser Vorgriffstruktur folgt Heidegger prinzipiell auch am Überschritt in den ›Zweiten Abschnitt‹. Allerdings verbindet sich damit nun ein Wechsel in eine tiefere Fragedimension. Der erreichte Punkt wird von Heidegger in dem Sinn bezeichnet, dass das Dasein als »verstehendes Seinkönnen«, als Ausgangspunkt der fundamentalontologischen Frage freigelegt worden sei und dass dieses Dasein »jeweils ich« sei (231). Doch die Antwort auf eine weitergehende Frage steht noch aus: Es ist die Frage nach der Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt (231), der »Möglichkeit einer raDazu grundlegend, mit analytischem Interpretationsinstrumentarium R. Enskat, Wahrheit und Entdeckung. Logische und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagenkontexte, Frankfurt/M. 1986, S. 54 ff.
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dikalen Ausarbeitung [der Seinsfrage als] dieser Grundfrage aller Ontologie« (231). Die Unterscheidung zwischen dem uneigentlichen und dem eigentlichen Daseinsverständnis sollte Heidegger in späteren Selbstkommentaren in Frage stellen. Hier zeigt sich schon, dass die Uneigentlichkeitsannahme ihren Sinn darin hat, phänomenologische Neutralität zu sichern (wie zu zeigen war: vor allem gegenüber einer überdeterminierten Existenzphilosophie), dass die Distinktion sich aber auf dem Weg zum Ganzseinkönnen des Daseins zunehmend auflöst. Die Crux ist, dass nun wieder ein Vorgriff eingelöst wird, der bislang implizit geblieben war: Das eigentliche Ganz-sein-können des Daseins, das als Sorge erwiesen worden war, wird erst auf den letzten Horizont seiner Temporalität hin ausgelegt. Dabei rekurriert Heidegger auf einer nochmals tieferliegenden Ebene auf die Unabgeschlossenheit des Daseins, (235 f.). »Solange das Dasein als Seiendes ist, hat es seine ›Gänze‹ nie erreicht. Gewinnt es sie aber, dann wird der Gewinn zum Verlust des In-der-Welt-seins schlechthin. Als Seiendes wird es dann nie mehr erfahrbar« (236). Es ließe sich auch sagen, dass das Ganzsein-können vor dem Paradox dieses Nicht-mehr-sein-könnens führt. Die nicht endenden Versuche, aus Heideggers ›Vorlauf zum Tod‹ eine Frontkämpferideologie des Ersten Weltkriegs zu machen, haben ihre Quelle im Hinblick auf Heideggers praktisches Ausweichen gegenüber jenen »heroischen« Anforderungen, haben sie auch ihre lebensweltliche Absurdität. 37 Solche Versuche sind nicht einfach unerlaubt. Doch sie weichen dem Anspruch und der Selbstdeklaration des fundamentalontologischen Gedankens aus. Nachweisbar zugrunde liegt bei Heidegger das mit Aristoteles entwickelte Paradox der entelecheia ateles, das in Religionen und zugegebenermaßen auch innerweltlichen Ideologien nach Auflösung sucht: einer Vervollkommnung endlichen menschlichen Lebens, die in dessen Endlichkeit nicht vollständig zu realisieren ist. Mit dem Tod ende auch alles Mitsein; er vereinzelt: Deutlich wird damit, dass die Vereinzelung, die für die Konstitution des inder-Welt-seins so zentral gewesen war, schon im Vorgriff auf den Vgl. zu den biographischen Lesarten R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, a. a. O., S. 75 ff. Safranski spricht zutreffend von Heideggers »Philosophieren trotz Geschichte«.
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Tod und die in ihm sich herauskristallisierende Dominanz der Temporalität des Daseins formuliert wurde. Der Tod wird dabei elementar als »unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit« (250) bestimmt, die in keiner Weise eine Stellvertretung erlaubt. Dies macht bereits sichtbar, dass eine Harmonisierung Heidegger’schen Denkens mit den Erlösungs- und Auferstehungserwartungen christlicher Religion auf der fundamentalontologischen Ebene auszuschließen ist. 38 Der Tod ist ein faktischer Endpunkt; Zeit ist in ihm als Frist gesetzt, deren Ablauf im Vorgriff des in-der-Welt-Seins unwiderlegbar bevorsteht. Auch wenn Heidegger dazu keine weitergehenden Aussagen trifft, konvergieren an diesem Punkt alltägliche und eigentliche Selbstauslegung des Daseins, sodass die Unterscheidung zwischen ihnen gleichsam zurückgenommen ist, weil das uneigentliche Dasein zwar versuchen kann, dem absoluten Endpunkt auszuweichen, weil es dies aber nicht wird durchhalten können. Der Tod ist demnach – in seiner Unbezüglichkeit – die »eigenste Möglichkeit des Daseins« (263), die in dem Sinn in dem Heidegger die Kriteriologie anzeigt, unüberholbar und gewiss sei (264). Dabei ist entscheidend, dass der Tod das Dasein im Ganzen durchdringt, gemäß der Formulierung des Hymnus »media in vita« und der Aussage im Ackermann aus Böhmen des Johannes von Saaz, 39 dass es für den Menschen Zeit ist zu sterben, sobald er geboren ist. Damit ist deutlich markiert, dass der Tod für Heidegger nicht nur eine, auf einen bestimmten Zeitpunkt zu datierende Sterblichkeit meint, sondern dass sich in ihm ein Grundakt menschlichen Lebens zeigt, und damit die faktische ›Freiheit zum Tode‹. Das Entscheidende ist gar nicht, dass (wie andere Deutungen von Tod und Sterblichkeit zeigen 40), der Vollzug der Sterblichkeit im faktisch eingetretenen Tod an sein Ende gelangt ist. Vielmehr tritt damit
Darin ist noch nicht anti-christliche und anti-jüdische Polemik grundgelegt, die Heidegger in den Überlegungen. Schwarze Hefte ansetzt. Wohl aber ist eine strukturelle Nicht-Tangierbarkeit zwischen der theologischen und der fundamentalontologischen Grundlegungsfrage angelegt. 39 Vgl. dazu Johannes de Tepla, civis Zacensis, Epistola cum Libello Ackerman und Das Büchlein Ackerman. Nach der Freiburger Hs. 163 und nach der Stuttgarter Hs. HB X 23, herausgegeben und übersetzt von Karl Bertau. Berlin 1994. Bd. 1: Text und Übersetzung. 40 So beispielsweise der übereinstimmende Tenor bei H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluss, a. a. O., S. 218 f. und R. Berlinger, Das Nichts und der Tod. Dettelbach 3 1996, S. 273 ff. 38
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die »eigenste unbezügliche Möglichkeit« in ihrer Unüberholbarkeit ein (264). Der modaltheoretische Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, durch dessen Explikation Heidegger die Grundkonstellation der europäischen Metaphysik umkehrt, kommt so in der Phänomenologie des Todes an seinen Zielpunkt. Dem entspricht auch eine spezifische Dimension von Sprache und zugleich von Welthaftigkeit, die Heidegger im ›Gewissen‹ als dem »Ruf der Sorge« (274 f.) kulminieren lässt. Der Gewissensruf richtet sich an das Dasein im Ganzen; in ihm wiederholt sich die Vorlauf- und Vorgängigkeitsstruktur der Daseinsanalyse: das »Schonsein-in« und »Sich-Vorweg-sein« (277); worin sich auch die akroamatische Dimension noch einmal bestärkt. Denn zu hören ist im Gewissen eine eigentlich unhörbare Stimme, sodass sich ein Anrufverstehen einstellt, das nach Heidegger auf das Gewissenhaben-Wollen verweist. Auch das Gewissen ist »Phänomen des Daseins« (279), jedoch in einer Weise, die aber nicht auf Seiendes gerichtet ist, sondern auf das dahinterliegende Nichts. Konstitutiv ist dabei die Doppelstruktur jenes Rufes, dass er »aus mir« und zugleich »über mich« kommt. In Heideggers Interpretation geht es im Wesentlichen um die Verschränkung der exterritorialen und zugleich innerlichen Dimension der Gewissensartikulation und damit um den Vollzug eines Gewissen-Haben-Wollens. 41 Bezeichnenderweise wurde in der Heidegger-Diskussion weitgehend übersehen, dass diese fundamentalontologische Einkreisung des Gewissens durchaus den möglichen Vorentwurf für einen ethischen Reflexionszusammenhang gibt. In ihr wiederholt sich das Gefüge von Faktizität (als Geworfenheit) – Existenz als Entwurf und Verfallen. 42 Die Struktur der Jemeinigkeit kommt hier in Korrespondenz mit dem Schuldigwerden am Anderen, das Heidegger aber von Rechts- und Regelverletzungen deutlich unterscheidet. Seine spätere Abwehr beider Horizonte, u. a. im Umkreis des SPIEGEL-Gesprächs, bedeutet keineswegs, dass eine Verantwortung für den Anderen und an ihm in Heideggers Philosophie keinen Ort hätte. Der fundamen-
Zum philosophischen Begriff und zur Sache des Gewissens L. Honnefelder, Was soll ich tun, wer will ich sein? Berlin 2007. 42 Vgl. dazu Erster Teil II., v. a. über Ethos und Ruinanz, sowie M. Riedel, »Die Urstiftung der hermeneutischen Phänomenologie«, in: ders., Hören auf die Sprache, a. a. O., S. 70 ff. 41
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talontologische Zugriff fasst diese Dimension sogar in einer großen Radikalität, als »Grundsein für einen Mangel im Dasein eines Anderen, so zwar, dass dieses Grundsein selbst sich aus seinem ›Wofür‹ als mangelhaft bestimmt« (282). 43 Wenn Heidegger eine explizite und expressiv starke philosophische Konzeption von Intersubjektivität entwirft, dann nimmt sie ihren Ausgang am Nullpunkt der Schuld, wobei auch über die privatio–boni-Konzeption weit hinausgegangen wird, in die Eigendynamik der Nichthaftigkeit. Es ist damit zugleich eine Konzeption, die, im Sinn der klassischen Ethik, der Sterblichkeit und dem Vergehen standhalten soll. Erst vor der Antizipation des zum Tode-Seins kann die existenziale Struktur des Daseins in ihrer Ganzheit erfasst werden. Auch an dieser Stelle ist die Affinität zum Husserl’schen Bewusstseinsstrom unverkennbar. Heidegger verweist darauf, dass »echte Methode […] im angemessenen Vorblick auf die Grundverfassung des zu erschließenden ›Gegenstandes‹, bzw. Gegenstandsbezirkes« (303) begründet ist. Doch diese Totalität bleibt immer endlich und damit exzentrisch. Vor jenem Hintergrund nimmt Heidegger auch die Rede von der ›Situation‹ aus seiner Frühphilosophie auf. Dies ist der Akut, der Höhepunkt, im jeweiligen Augenblick, der die phänomenologische Ontologie mitbestimmt. Damit geht die zeitliche und räumliche Individualität in einer, ebenfalls oft übersehenen, Weise in die Heidegger’sche Denktektonik ein. Später gab Heidegger im Licht des Seinsdenkens diese Implikation auf. Doch nichtsdestoweniger spielt sie zunächst in seinem Denken eine entscheidende Rolle. Er setzt dabei die Ineffabilität des Individuums keineswegs außer Kraft, sondern legt sie gerade zugrunde. Bei der Konstitution der Ganzheit des Daseins wird die »vorlaufende Entschlossenheit« (305) strukturell eingeführt. Hier sollte man nicht einen amorphen Dezisionismus heraushören, sondern den Sinnklärungen folgen, die Heidegger zugrunde legt: zum einen ist dann offensichtlich, dass Entschlossenheit im Licht der Erschlossenheit entwickelt wird, die Heidegger seinerseits als »die ursprüngliche Wahrheit des Daseins« versteht (297). Entschlossenheit artikuliert diese Wahrheit vor dem Horizont des absoluten Endpunktes, vor dem das Dasein in keine Stellvertreterposition ausweichen kann. Die Über die Intentionalitätsstruktur des ausstehenden Mangels vgl. R. Bernet, »Phänomenologische Begriffe der Unwahrheit bei Husserl und Heidegger«, in: HeideggerJahrbuch 6, a. a. O., S. 108 ff.
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Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
entelecheia ateles ist damit auch als Entzogenheit des nach wie vor in den Blick genommenen télos verstanden, im Sinn einer Fragmentiertheit, wie sie für Metaphysik und Kunst der Moderne charakteristisch ist. 44 »Entschlossenheit besagt: Sichvorrufenlassen auf das eigenst Schuldigsein. Das Schuldigsein gehört zum Sein des Daseins selbst, das wir primär als Seinkönnen bestimmten« (305). Vor dieser phänomenalen Gesamtstruktur steht Dasein immer im Artikulationszusammenhang der Sorge.
11. Zeitlichkeit: Destruktion und Umstrukturierung der Metaphysik Dass Sein und Zeit eine Destruktion und Neugewinnung von metaphysischen Gedankenstrukturen miteinander verbindet, wird im Licht der letzten Kapitel deutlich, mit denen der zweite Abschnitt von Sein und Zeit endet und in die das Fragment einmündet. Sie geben eine Skizze, die Heidegger allenfalls in einigen Vorlesungen weitergeführt, niemals aber ausgearbeitet hat. Dabei wird in der Terminologie von Schuld, Gewissen, Entschlossensein ein eigentlich aletheischer Grundzug entdeckt. Der Grundcharakter des Daseins muss aus der Verdeckung gewonnen werden, oder, wie es Heidegger selbst formuliert, »das Sein dieses Seienden [muss] gegen seine eigene Verdeckungstendenz erobert« werden (312). Methodisch und bezogen auf die Fragestellung deutet sich im zweiten Abschnitt bereits eine systematische Kehre an. Denn es geht nun nicht darum, am Leitfaden des Daseins zum Sein vorzudringen. Vielmehr wird Dasein aus seinem Bezug zur Wahrheit und damit zur Enthüllung des Seins selbst entwickelt (310 f.). Die Sorge bezieht sich auf diesen Grund des Seienden im Ganzen; in ihr manifestiert sich daher auch die Selbstidentifikation des Daseins als ›Ich‹. Heidegger geht dabei allerdings nicht vom Ich-Bewusstsein, sondern vom performativen Akt des Ich-sagens aus, der Artikulation des jeweiligen
Man denke an Kafkas Tagebücher und die dort wiederholt verbatim oder doch im übertragenen Sinn aufscheinende Überlegung, es gebe Erlösung »aber nicht für uns«. F Kafka, Tagebücher 1910–1923. Frankfurt/Main 1991, S. 54 ff. … Siehe dazu exemplarisch M. Brod, Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas. Frankfurt/Main 1959, S. 54 ff.
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Zeitlichkeit: Destruktion und Umstrukturierung der Metaphysik
in-der-Welt-seins, 45 das sich dann auch gegenüber dem Du zu verstehen ist. Wenn Heidegger, sowohl in früheren wie auch in späteren Ansätzen, 46 eine durchgehende Distanz gegenüber der Husserl’schen Egologie und ihrem transzendentalphilosophischen Erbe artikuliert, so ist dies in Sein und Zeit deutlich anders. Die Verbindung zur Husserl’schen Egologie wird unzweideutiger festgehalten. Gegenüber Kant vermerkt Heidegger, dass das ›Ich‹ nicht in seiner Phänomenalität entwickelt wird; es bleibt transzendentales Subjekt, wobei Heidegger daran erinnert, dass subiectum ursprünglich der Begriff für Substanz ist. Damit deutet sich eine Linie von Kant über Husserl zu Heidegger an. Die Kritik an Kant betrifft den cartesischen Nebenaspekt. Kant beziehe daher das ›Ich‹ auf Vorhandenheit und situiere es einseitig in der Dimension der Vorstellungen und Gedanken. Dagegen wird aber die Möglichkeit eröffnet, umgekehrt Ich aus der »Existenzialität als Konstitiutivum der Sorge« zu verstehen. Nicht Essentialität, sondern die Existenzialität konstituiert das Dasein. Es ist deshalb keineswegs ein Zufall, dass Heidegger den Daseinsbegriff, der in der klassischen Metaphysik das Vorhandensein von Seiendem bezeichnet, auf das Selbstsein bezieht. Die Temporalitätsanalysen, die den Titel des Hauptwerks erst einlösen auch wenn man trefflich darüber nachdenken könnte, ob nicht ›Dasein und Sein‹ die sinnvollere Bezeichnung gewesen wäre schließen den ersten Teil von Sein und Zeit ab. Gemäß der Vorgriffstruktur machen sie nur thematisch (offenkundig: in der Weise der delosis), was von Anfang an im Vorgriff stand. Der Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit zeigt sich in der Zeitanalyse im relativen Vorrang der Zukunft innerhalb der miteinander verklammerten Zeitekstasen. Der ebenso einfache, elementare wie weitreichende Schritt Heideggers gegenüber der Geschichte der Zeitphilosophie besteht in der Einsicht, dass Dasein in sich selbst zeitlich ist und sich in der Verklammerung von ›Sich-vorweg-sein‹, ›Schon-sein-in‹, ›immer schon Gewesen sein‹ zeigt, worin das »to ti en einai«, als einer der Aristotelischen Substanzbegriffe anklingt 47 und sich zugleich eine VersiegeVgl. für eine Subjektivitätstheorie, die in der Lage wäre, Heideggers Defizienz aufzubrechen, die allerdings selbst bedauerlicherweise an Husserl vorbeigeht: D. Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt/Main 2007. 46 Vgl. weiter unten Fünfter Teil, Kap. 29–31, wo deutlich wird, dass auch Heideggers ›späteste Philosophie‹ sich der egologischen Dimension weitgehend enthält. 47 Vgl. u. a. Aristoteles, Met. Z, 4 und Z, 17. Die Verbindung von Wesen und »Gewesenheit« ist immer wieder aufgenommen worden, u. a. auch bei Hegel. 45
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Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
lung der Gegenwart zeitigt. Diese Zeitigung begleitet sein in-derWelt-sein. (325 ff.). Die Heidegger’sche Temporalitätsformel verbindet daher Geworfenheit und Entwurfscharakter des Daseins. Entwickelt wird die Verschränkung der Zeit-Ekstasen gegenüber dem, was Heidegger den »vulgären Zeitbegriff« nennt, der bei allen verschiedenen Theorieformationen, die er annehmen kann, doch vor allem durch eines gekennzeichnet ist: die Anmutung einer unendlichen Ausdehnung. Erst mit der Temporalität wird der Charakter des Daseins als eines in Zeit seienden Seins- und Weltbezugs deutlich (332), den Heidegger in Abgrenzung von Hegel weder als Substanz noch als Subjekt auffasst, sondern als »Selbständigkeit der Existenz« (ibid.). Indendiert ist damit eine wirkliche ›Revolution der Denkart‹. Hier greift dann ein Denken der »Situation« als einer Folge korrespondierender Akte in ihrer Jeweiligkeit. Zeitlichkeit wird dann wieder in einem dreifachen Umkreis buchstabiert: vor dem Zusammenhang der Alltäglichkeit. Damit verbindet sich das Verständnis von Epoché, jener Leerheit, der gegenüber der Sachcharakter der Phänomene abgehoben wird; dann der Geschichtlichkeit, worin eine Wurzel der späteren Seinsgeschichte angezeigt ist und schließlich der Innerzeitigkeit als eines Anfangsgrundes des vulgären Zeitbegriffs. Im ersten Horizont wird der Grundvollzug des Daseins, Verstehen zu sein, zeithaft entwickelt: aus dem Erwarten, dem Modus der Zukunft, die sich in den Horizonten des Gewesenen erschließt. Immer wieder ist die Rede von Heideggers vermeintlicher Unterbestimmung der Gegenwart. Dies ist ein Missverständnis, das mit einer Akzentuierung des Jetzt aus der ›Innerzeitigkeit‹ korrigiert werden soll. Heidegger wendet sich aber (in Referenz aber zugleich Abgrenzung gegenüber Kierkegaard und Jaspers) dem Augenblick zu: einer anderen Formulierung für die ›Situation‹, in die das Dasein gehalten ist und in der sich die anderen Zeitsinne, Vergangenheit und Gegenwart, begegnen können. Die bezeichnende und tatsächlich Grund stürzende Revision der Phänomenologie liegt darin, dass die Zeitlichkeit erst den Vorrang der Bedeutung vor einer klassischen Deskription oder transzendentalen Analyse sichtbar macht. Die Modi der Zeit kommen, wie Heidegger betont, (334 ff.) nicht nebeneinander in einem unendlichen Zeitstrom vor. Genau dies war das Husserl’sche Modell des Bewusstseinsstroms. Sie durchformen das Dasein in seinen Vollzügen und machen diese Vollzüge als temporale Akte verständlich. 174
Zeitlichkeit: Destruktion und Umstrukturierung der Metaphysik
Sie bestimmt daher die Grundbefindlichkeiten. Angst erweist dabei ihre besondere Affinität zur ›Gewesenheit‹, während die Verfallenheit einen fehlenden bzw. fehlgehenden (fehl-sehenden) Aufenthalt in der Gegenwart bezeichnet. Verfallenheit artikuliert sich als Zerstreuung, wohingegen die Zeitlichkeit des Besorgens, erst recht in seiner Verbindung mit Umsichtigkeit auf das Zukünftige verweist. Schließlich wird das Problem der Transzendenz von Welt aufgeworfen. Heidegger expliziert es als Zeitigung der Welt. Jede Weltbeziehung des Daseins und jede Erscheinung von Welt für das Dasein stellt sich erst aufgrund der Ekstasen des Daseins ein (365 f.). Auf das einzelne Seiende kommt das Dasein aus dem Horizont der Welt zurück und nicht kann Welt als Summation oder Zusammenfügung von Seiendem verstanden werden. Deshalb wendet sich Heidegger auch gegen eine simplifizierende Kategorienlehre: »Die Bedeutsamkeitsbezüge, welche die Struktur der Welt bestimmen, sind daher kein Netzwerk von Formen, das von einem weltlosen Subjekt einem Material übergestülpt wird« (366). Der Vorrang der Zeitlichkeit vor der Räumlichkeit wird in Sein und Zeit sinnfällig gemacht, so, dass erst aus dem temporalen Entwurf von Welt das Dasein auf den Raum zurückkommen kann: »Nur auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des Daseins in den Raum möglich« (369). Eine der Revisionen der Spätphilosophie wird darin bestehen, dass Heidegger diesen Primat aufbricht. Auch Geschichtlichkeit, der zweite Topos, leitet sich aus der Zeitlichkeit her. Auch ihr eigentliches Verständnis kontrastiert Heidegger einem uneigentlichen, das sich in der bloßen historisch-historiographischen Abfolge erschöpft, die Vergangenheiten konstatiert und erklärt. Geschichtlichkeit wird wiederum in einer formalen Anzeigestruktur gefasst – in der Verschränkung der Zeitekstasen, in der Gewesenheit »als gegenwärtigendes-zukünfiges«. Die Konstitution von Geschichtlichkeit verbindet daher die Zukünftigkeit mit dem Gewesenen, Erinnernden, im jeweiligen Augenblick, womit Heidegger die Grundformulierung der seinsgeschichtlichen Zugangsweise andeutet. Dies gilt nicht nur für die Verklammerung des Gewesenen (des Anklangs) auf das Künftige (den Sprung), wie sie in den Beiträgen entwickelt wird und für die Strukturierung des Verhältnisses zwischen erstem und anderem Anfang entscheidend ist. 48 Es verifi-
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Dazu weiter unten: Zweiter Teil VI. 13.
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ziert sich auch methodisch darin, dass das Verdeckende unerlässlich für den Vorlauf auf Neues ist. Es sei hinzugefügt, 49 dass Heidegger auch einer Geschichtskonzeption des Gedächtnisses auf Zukunft hin und damit dem Zusammenhang zwischen Memoria und Wissen implizit und vermittelt manches verdankt. 50 Heidegger thematisiert selbst Schicksal als Grundzug von Geschichte; womit keineswegs einem amorphen Begriff von Fatum bzw. Fatalität das Wort geredet werden soll. Eine Irrationalität oder Regression von Geschichte sollte keineswegs mit Heideggers Geschichtlichkeits-Begriff verbunden werden. Geschichte ist vielmehr aus der Seins-Weltbeziehung des auf seine Ganzheit erstreckten des Daseins gedeutet und zu einer hohen Sinnklarheit gebracht. In diesem Geschichtlichkeits-Verständnis liegt deshalb auch die Ursache für Heideggers Grenzziehung zwischen ›Geschichte‹ und ›Historie‹. Mit dem angezeigten Grundriss verbindet sich, dass Geschichte in ihrem Wesen Welt-Geschichte ist, bezogen auf den Weltcharakter des Daseins selbst. Diesen Zug nimmt Heidegger auf, indem er mit Dilthey und dem Grafen Yorck von Wartenburg die Differenz zwischen dem ›Ontischen‹ und dem ›Historischen‹ thematisiert (399 f.); wobei es nicht verwunderlich ist, dass in der Korrespondenz ein emphatischer Begriff von ›Geschichtlichkeit‹ begegnet. Das Selbstverständnis Leopold von Rankes, der den Historiker als »Okular« auffasst, also die Vorstellung vom Historiker als dem Okular und der zusammenfassenden Perspektive, bleibt auf den rein ontischen Bereich begrenzt (402 f.). Die »virtuellen Kraftübertragungen« aber, die Yorck aus der Geschichte erwartete, transzendieren diesen Bereich. Innerzeitigkeit schließlich zeigt, wie der vulgäre Zeitbegriff auf die Aufeinanderfolgen von Zeitstellen (›Erst‹ – ›dann‹ …) begrenzt ist und einen Ablauf konstituiert. Die Interpretationen changieren dann darin, ob Zeit »als subjektiv« oder als »objektiv« wahrgenommen werden kann. Zeitlichkeit ist im Sinn der lethehaften Herkunft zwar Dies zeigt sich insbesondere von der mehrfachen Annäherung an Augustinus Confessiones X und X her. Eine Verbindung schlug immer wieder P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004. 50 Dies gilt für eine tiefergreifende Frage nach ›Memoria‹, Erinnern und Vergessen. Siehe das klassische Werk von M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/ Main 1991. Für die heutige Diskussionslage sei nur insgesamt auf Jan und Aleida Assmann und ihre Publikationen hingewiesen. 49
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der verborgene Ursprung des vulgären Zeitbegriffs. Doch kann es zu diesem vulgären Zeitbegriff nur kommen, wenn der Grund der Zeitlichkeit nicht thematisiert wird. Die gedankliche Strukturanalogie zum Ursprung der Metaphysik aus dem – vergessenen – Sinn von Sein liegt erneut auf der Hand. Zeitlichkeit, die selbst Ursprung von Welt und Signatur des Daseins ist, soll im vulgären Zeitbegriff, dessen Knotenpunkte Heidegger vor allem bei Aristoteles 51 und Hegel ausmacht, selbst vermessen und abgegrenzt werden, sodass sie auf die Angabe von Strecken innerhalb des Innerzeitigen reduziert ist. Die Jetztfolgen erweisen sich als Sequenzierung von Vorhandenem, eine Topologie, die schon Platons Bestimmung der Zeit als »Abbild der Ewigkeit« (423) zugrunde liegt. Endlichkeit reduziert sich auf bloße Sterblichkeit: Der Schlusspunkt von Sein und Zeit zeigt, dass sich Seinsvergessenheit in Heideggers Denken zunächst als Vergessenheit der Zeitlichkeit artikuliert, die ein Vergessen von Welt in sich schließt. Noch einmal, im Kant-Buch von 1929 verfolgte Heidegger die Temporalitätslinie, ehe sie in dem umfassenden Topos der Seinsvergessenheit aufging. * In den beiden letzten Sätzen seines Hauptwerks und damit am Endpunkt des fundamentalontologischen Weges stellt Heidegger nochmals Fragen, die von großer Tragweite sind. »Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (437). Diese Aussagen beschreiben die Struktur des geplanten, vermutlich vernichteten, jedenfalls nie publizierten zweiten Teils. Dessen systematische Architektur hätte, wie angedeutet wurde, in die Verflechtungen der Geschichtlichkeit geführt, in Auseinandersetzungen mit Descartes, Kant und im Rückgriff auf Aristoteles. Die systematische Struktur der Seinsfrage war darin jedenfalls nicht zu erkennen. Heidegger hätte in einem solchen zweiten Teil, wenn er ihn denn realisiert hätte, nur weiter instrumentiert, was am Endpunkt von Sein und Zeit grundsätzlich erreicht war. Vgl. differenziert A. G. Vigo, Zeit und Praxis bei Aristoteles. Die Nikomachische Ethik und die zeit-ontologischen Voraussetzungen des vernunftgesteuerten Handelns. Freiburg/Br. 1996.
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Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
Dies bedeutet aber auch, dass die systematische Kehre, von der Daseinsstruktur zur Daseinsauslegung aus dem temporalen Sein zumindest als Skizze in Sein und Zeit angelegt ist. Sein und Zeit rechtfertigt in Abweichung von dem schönen Diktum von Walter Schulz über Heidegger und Heraklit die Aussage, dass er denke, als schaue ihm Aristoteles über die Schultern. 52 Heidegger schöpft die neuen Kategorien der Existenz aus der Sprache. Dies gibt der Diktion des Hauptwerkes, die nicht mit jener von späteren Heidegger’schen Schriften verwechselt werden sollte, eine Dynamik der Selbst- und Weltauslegung. Heidegger entzieht sich schon in seiner Sprachform aber auch den apperzeptionsfremden Terminologien des damaligen Neukantianismus und der Phänomenologie, die in ihrem Definitionsanspruch zugleich Grenzen des Denkens und des zu Denkenden anzeigen. Er kommt zu großen, eindrücklichen Phänomenbeschreibungen, die oftmals isoliert wahrgenommen werden, ebenso wie manche Aussagenketten in Hegels Phänomenologie des Geistes aus ihrem Kontext gelöst wurden: Die ZeugAnalyse, das Gewissen, der Vorlauf-zum Tode, markante Stellen und Topoi, die sich mit Heideggers Denken im kulturellen Gedächtnis verbinden und an die zahlreiche Einzeluntersuchungen anschließen können. Dass er aber mit dieser Insistenz, die eine Frage nach dem Sein und seiner Wahrheit verfolgte, in einer Strenge, die beanspruchen kann, über die Stringenzansprüche der Systeme hinausgeht, gerät dabei leicht aus dem Blick. Umso leichter, als schon Sein und Zeit in erstaunlichem Maß als Ausweichen vor dem genuinen Anspruch verstanden wurde. Heideggers hier besonders betonte relationenontologische Konzeption wird durch Partizip-Konstruktionen in Verbindung mit Deiktika und Verbalisierungen eingeführt: »Schon-sein-bei«, »ZuvorSein«; eidetische Zusammenhang (Weltlichkeit) werden in diese Dynamik eingetragen. So entsteht ein kategoriales Gefüge, das in Heideggers Selbstverständnis in einer durchaus überzeugenden Weise die gigantomacheia tes ousías, diesen Gigantenkampf, neu eröffnet. Nicht Dialektiken, nicht Polaritäten formen die Begriffsgestalt, sondern vielmehr das Vordringen der Relation von Dasein und Sein in den jeweiligen phänomenalen Ursprung, das immer mehrsträngig Schulz sprach freilich von dem Schulterblick Heraklits. Vgl. W. Schulz, ›… als ob Heraklit danebensteht‹, in: G. Neske (Hg.), Erinnerung an Martin Heidegger. Pfullingen 1977, S. 223 ff.
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Ein zweiter Teil: Zeit und Sein?
und auch polyphon ist. Man könnte es auch »stereoskopisch« nennen, in der Weise, dass verschiedene Ebenen ineinander geschlungen und miteinander verflochten werden: die Alltäglichkeit, die abkünftigen und verdeckenden Modi, die gesuchte Eigentlichkeit. Das eine wäre nicht ohne das Andere, die Aussagbarkeit muss stets das Nichtsein mitdenken, das selbst eine Weise zu sein ist. Man muss weit gehen, um eine vergleichbare Transformation von Kategorien zu finden: zum Urheber der leitenden europäisch-abendländischen Denkformen, Aristoteles, zur Hegel’schen Genealogie der Kategorien des Absoluten, vielleicht zu Fichte und zu Whiteheads Prozessphilosophie. Buchstäblich alle Denkformen von Subjektivität und Objektivität, Realismus und Idealismus, verflüssigen und verschieben sich, wenn man die Heidegger’sche Denkform mitvollzieht. Ein solches Werk konnte nicht zurückgenommen oder widerlegt werden. Heidegger selbst ist mit ihm ins Gericht gegangen und hat es doch als einen unüberschreitbaren Punkt seines weiteren Denkens festgehalten, in dem sich der Akzent auf dem Dialog zunehmend auf das Soliloquium verschob.
12. Ein zweiter Teil: Zeit und Sein? Wenn man ›Zeit und Sein‹ noch einmal in seiner inneren Tektonik übersieht, so wird, ausgehend vom Vorrang der Seinsfrage und der Spezifizierung auf den Horizont des Seinssinns insgesamt, die spezifische Verwiesenheit und Verwebung des (menschlichen) Daseins mit dem Sein exponiert. Hier schließt die vorbereitende Analyse des Daseins im Zusammenhang der Bewandtnisse und Interaktionen an, aus denen es sich bestimmt (§§ 9–13). So ergibt sich sich der Vorrang eines pragmatischen Weltverhältnisses und der gebrauchenden Bezogenheit auf Welt. Den zweiten durchgehenden Leitfaden entwickelt Heidegger (3. und 4. Kapitel des 1. Abschnitts) vom Weltbegriff und dem existenzialen Modus des ›in-der-Welt-Seins‹ als Anzeige der Seinsweise des Daseins her. Ihr abkünftiger Modus, das »Man«, wird in diesem Zusammenhang mit behandelt. Verknüpft werden beide Linien durch die Topologie des In-Seins, sowohl in seiner existenzialen wie auch in seiner alltäglichen Verfasstheit. Das Wesen des Daseins zeichnet sich im abschließenden Kapitel des ersten Abschnitts durch den Sinn der Sorge aus, der auf das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit und die Seinsart von Wahrheit als Entdeckung und Ent179
Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
bergung verweist. Insofern ist der tektonische Ansatz nicht auf eine raisonierende Fort- und Weiterbestimmung hin angelegt, sondern auf eine immer weitere, gleichsam archäologische Vertiefung des Ausgangsansatzes. Der zweite Abschnitt thematisiert dann das Dasein in seinem engen Zusammenhang mit der Zeitlichkeit (Temporalität). Er ersetzt die vorausgehenden Bestimmungen nicht und verwirft sie noch weniger. Doch er führt sie in den Horizont der faktischen Zeitlichkeitsanalyse ein: Von hier her vertieft sich die Sorgestruktur in das mögliche Ganzsein-Können des Daseins, das es in der Fragmentiertheit des ›Seins zum Tode‹ paradoxerweise findet. Der Sinn der Sorge und die gesamten vorausgehenden existenzialen Modi werden »ursprünglicher«, nämlich vor einem ontologischen Horizont erläutert. Dies geschieht in buchtechnischer Hinsicht in rückläufigen Entsprechungen: ausgehend von der Sorge (II. Teil, 2. und 3. Kapitel), dann rückgängig auf das In-Sein und seine Befindlichkeit im alltäglichen Modus (II. Teil, 4. Kapitel), bis der Bewandtniszusammenhang des Daseins (II. Teil, 5. und 6. Kapitel) auf Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit hin thematisiert wird. Die Kehre in der Fragerichtung, die der letzte Satz von Sein und Zeit nahelegt: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (437), hat im Licht der Gesamtstruktur von Sein und Zeit einen unschwer verständlichen Sinn: Von ihr hängt ab, dass der temporale Charakter des Seins aufgewiesen werden kann, der im zweiten Abschnitt behauptet wurde, sofern die Temporalisierung eingeführt wurde und von ihr her der Vollzugssinn des Daseins dann nicht länger ontisch, sondern ontologisch exponiert worden war. In der Heidegger-Forschung wird immer wieder davon ausgegangen, dass die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1927 (GA 24), ergänzt durch die Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 (GA 26), diese Lücke schließen würden. Das trifft zu und es trifft nicht zu. Die Vorlesung über ›Grundprobleme der Phänomenologie‹ geht von der Kantischen ›These‹ aus, dass Sein kein reales Prädikat sei. Sein sei dann aber ein logisches Prädikat. An dieser Aussage orientiert Heidegger dann die neuzeitliche Grundunterscheidung zwischen res cogitans und res extensa, die Bifurkation in die Grundweise des Seins der Natur und des Geistes (26.172 ff.). Zunächst wird man eher den Eindruck haben, dass damit eine Rekonstruktion der Gründe geleistet wird, weshalb die Cartesische Subjekt-Objekt-Trennung einer Destruktion bedarf. Heidegger blendet deshalb von der 180
Ein zweiter Teil: Zeit und Sein?
Kantischen Perspektive zurück zu Aristoteles’ Explikation des pollachos legomenon, die in der Kantischen Auffassung des Person- und Subjektseins ausgespart bleibe. Jedwede Klärung von Subjektivitätsstrukturen, so Heideggers Ergebnis, vollziehe sich am Leitfaden eines grundlegenden Seinsbegriffs. Subjektivität kann daher niemals das fundamentum inconcussum sein, sie ist vielmehr selbst auf ihr inder-Welt-sein bezogen (249 ff.). Auch nachdem Heidegger die umfassende Zurechenbarkeit und Bestimmbarkeit von ›Sein‹ durch die Kopula ›ist‹ thematisch macht, 53 und zugleich darauf verweist, dass die Aufgabe einer »fundamentalontologischen Interpretation des Daseins« (320) in ihrer Durchführung hoch komplex sei, erweist sich die Vorlesung eher als eine Vorbereitung des Kant-Buches, denn als eine wirkliche Durchführung des angezeigten dritten Teils und seiner Bestimmung der Temporalität des Seins. Aus der Durchführung der Bestimmungen der ontologischen Differenz resultiert letztlich, dass Sein nur im Horizont seiner Temporalität, also seinem aus den Ekstasen von Vergangenheit und Gegenwart hervorgehendem Maßstab im Sinne der Präsenz der Sorge verstanden werden kann (420 ff.). Eine präsenzhafte Deutung ist also zwar durchaus möglich, sie ist nicht ipso facto verfehlt. Doch sie verweist in die Entrückung in die apousía, die nicht jeweils präsenten Ekstasen von Sein. (452–455). Deshalb bemerkt Heidegger nun deutlicher als in Sein und Zeit selbst: »Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt« (454). Jene Zeitlichkeit bildet sich in der Relation des Daseins zum Seienden seinerseits ab, insofern dieses einerseits zum Seinsverstehen, andererseits und zugleich zum Verhalten zu Seiendem disponiert ist und in beiden Vollzugsweisen existiert (ibid.). An dieser Grundsituation deutet sich zugleich die Möglichkeit zweier Zugangsweisen von Wissenschaft an, die beide im Dasein begründet sind und in keiner Weise gegeneinander ausgespielt werden. Einerseits die Möglichkeit der positiven Wissenschaft als »Vergegenständlichung von Seiendem«, andererseits das Antidotum einer temporal-transzendentalen Wissenschaft, die die transzendentale Subjektivität noch einmal auf die ekstatischen Modi der Zeitigung zurückführe. Heidegger bemerkt, dass dieses Grundverhältnis von Temporalität unerlässlich ist, um Vgl. E. Tugendhat, »Heideggers Seinsfrage«, in: ders., Philosophische Aufsätze, a. a. O., S. 108 ff., ders., »Die Seinsfrage und ihre sprachliche Grundlage«, in: ibid., S. 90 ff.
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zwischen ontischer und ontologischer Dimension zu unterscheiden, sie aufeinander zuzuhalten und zugleich von einander zu unterscheiden. Insofern Heidegger in der Marburger Kant-Vorlesung von 1927 eine Skizze entwickelt, Temporalität und Aprioi miteinander zu verbinden, nähert er sich tatsächlich der Aufgabe, die im dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit zu leisten gewesen wäre. Nicht unwesentlich dürfte es dabei sein, dass Heidegger in Grundzügen die ontologische Durchsicht des Natorp-Berichts durch die antiken und mittelalterlichen Grundstellungen in diese Vorlesung aufnimmt (108–140) und sich dabei vor allem auf den Unterschied zwischen essentia und existentia konzentriert. Dabei trennt er die Thomistische Lehre der distinctio realis, von der Scotistischen einer nur modalen Unterscheidung schließlich von der Lehre des Suarez von der distinctio sola ratione. (124 ff.). Für die Rationalität des Zugriffs nicht minder wichtig dürfte es sein, dass sich Heidegger in dem offenen Schlussteil des Kollegs, »ohne nutzlose Polemik« (467) auf die Auseinandersetzung mit den Strömungen bezieht, die »heute die Philosophie aus allen Bezirken des geistigen Lebens« bedrohen und auf die er ebenfalls schon in seiner Frühzeit hingewiesen hatte, nämlich einerseits die Weltanschauung und andererseits eine begrenzende Fixierung der Philosophie auf den Rahmen positiver Wissenschaften (467 f.). 54 In der Vorlesung über die Metaphysischen Anfangsgründe der Logik (SS 1928,GA 26) folgt Heidegger dieser Spur einen wesentlichen Schritt weiter. Heidegger thematisiert hier vor allem den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Grund, wobei Wahrheit zur elementaren Voraussetzung die Korrelation von Denken und Seiendem, noema und noesis hat (26. 166). Er punktiert hier den entscheidenden Schritt einer Intentionalität, die das Bewusstsein und damit das Wesen der Vernunft selbst bestimmt (166 f.). Der wesentliche Schritt, den Husserl über Brentanos Intentionalitätskonzept hinausgehend vollzogen habe, bestehe darin, dass das Bewusstsein selbst durch Intentionalität charakterisiert werde. Seine rein innerpsychische Autonomie wird dadurch aufgebrochen, es wird in seiner Damit folgt er einer doppelten Abgrenzung, an der auch Husserl stets festhielt. Nur weil die Philosophie den Rahmen der positivien Wissenschaften aufsprengt, kann sie Erste Wissenschaft sein. Dazu wieder B. Waldenfels, »Indirekte Beschreibung«, in: Heidegger und Husserl, a. a. O., S. 269 ff.
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Richtung auf die noemata thematisiert. Doch Husserl gehe nicht soweit, dass die Seinsart des Daseins selbst in das Zentrum der Frage gestellt und damit einer Revolution unterzogen werde. Dies bestimmt Heidegger als den Ansatz der Fundamentalontologie, die voraussetzen muss, dass vor den Bestimmungen des Seienden das Sein dieses Seienden in den Blick genommen wird (185). Dem dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit ist damit in gewisser Weise noch deutlicher Kontur gegeben. Allerdings hilft keine Insinuierung darüber hinweg, dass dies nicht in einer systematischen Ausarbeitung, sondern lediglich in einer Skizze geschieht, so wie es im Vorlesungsgestus gängig und möglich ist. Zeitlichkeit bedeutet, dass die Ekstasen von Gewärtigen (des Künftigen), Behalten (des Vergangenen und Gewesenen) und Gegenwärtigen (des jeweils Präsenten) in ihre Unterschiedenheit auseinandertreten und sich so doch gerade einigen. Mit einem starken Bild spricht Heidegger von dem »Raptus« der Zeitlichkeit, der vom Dasein nach und nach nur durchlaufen werden kann, weil Zeitlichkeit von vorneherein eine Gasse gebahnt hat (263). Die prägnante Formel der Zeitlichkeit des Daseins, sein »Sich-vorweg-sein- im schon (gewesen) sein-in-einer-Welt« (SuZ, 192) wird in der Vorlesung von dem Grundphänomen des »Auf-sich-zu-kommens« her thematisch, das sich auf das Ganze des Gewesenseins beziehe. Heidegger formuliert in einer Verdichtung dieses Zusammenhangs, dass die »Freiheit zum Grunde […] das Schwingen im Überschwung [sei], was uns entrückt und Ferne gibt« (26. 284). Der Mensch sei deshalb »ein Wesen der Ferne«, das erst aus dieser Ferne in eine Nähe komme, die Gespräch und Zeitigung der Antwort »jener Menschen, die ihm nahe sein sollen« (285) erst hervorbringt. Wenn Heidegger diese Weglinie weiter verfolgt hätte, hätte er vermutlich zu einer metontologischen Philosophie des Dialogischen kommen können. Dies formulierte Heidegger nicht aus. Wohl aber skizziert er schon in den ›Anfangsgründen‹ die Konzeption der Metontologie. Heidegger umreißt hier den Weg von der Seinserfahrung selbst zurück in den Bereich des existenziell angeeigneten Seienden, auf dessen Ontik die Ontologie zurücklaufe (199). Der Begriff der ›Kehre‹ wird sogar ausdrücklich auf diesen metontologischen Rückgang bezogen: »Analytik der Temporalität des Seins. Diese temporale Analytik ist aber zugleich die Kehre, in der die Ontologie selbst in die metaphysische Ontik, in der sie unausdrücklich immer steht, zurückläuft« (201). Entwickelt wurde die Metontologie dann des näheren in der Vor183
Sein und Zeit: ›Alluvionsgebilde‹ und vorläufiger Gipfelpunkt
lesung Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, das in Abhebung von der »Weltlosigkeit« der Pflanze, der insistenten »Weltarmut« des Tieres zu der Weltbildung menschlichen Daseins gelangt (29/39.525 ff.), das den Charakter des Menschen als geworfener Entwurf als eine Aporetik auffasst. »Der Mensch ist jenes Nicht-bleiben-können und doch nicht von der Stelle Können. Entwerfend wirft das Da-sein in ihm ihn ständig in die Möglichkeiten und hält ihn so dem Wirklichen unterworfen« (ibid., 531). Diese Aporetik kann nahelegen, dass das Rätsel des Menschseins in die tiefer reichende Dimension der Frage nach dem Sein selbst, seiner Doppelung als Lichtung und Verbergung, übersetzt wurde. Einen wirklichen Ersatz, der den dritten Abschnitt des ersten Teils von Sein und Zeit bruchlos ergänzen würde, findet man nicht. 55 Die Einlösung des zweiten Teils des Hauptwerks blieb ebenso aus. Umso mehr Gewicht kommt deshalb Heideggers Auseinandersetzung mit seinem Fragment gebliebenen Hauptwerk zu (GA 82). 56
Auffällig vage ist die Umkehr zur Zeitlichkeit des Seins auch in Selbstanzeige. Martin Heidegger, Sein und Zeit. 1. Hälfte (1927), GA 44, 123–125. Vgl. demgegenüber F.-W. von Herrmann, Heideggers Grundprobleme der Phänomenologie, a. a. O., S. 23 ff. 56 Vgl. weiter unten Zweiter Teil VI. 55
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V. Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹: Heideggers Metakritik zu Sein und Zeit
In den Überlegungen. Schwarze Hefte 1938/39 notiert Heidegger an pointierter Stelle das über ihn kursierende Urteil, er sei nicht über Sein und Zeit hinausgekommen. Er selbst gibt diesem kritisch gemeinten Votum die Wendung, es könne nicht anders sein, wenn denn mit Sein und Zeit die zentrale Frage nach dem Sinn von Sein exponiert worden sei. Nicht eine Selbstkritik und -revision im herkömmlichen Sinne, wohl aber die Vertiefung und Transformation in das Denken des anderen Anfangs kann Heidegger auf dem Weg der ›Kehre‹ also aus seinem eigenen fundamentalontologischen Hauptwerk gewinnen. Seit der großen und umfassenden Edition der Bemerkungen zu Sein und Zeit im Rahmen der Gesamtausgabe (GA 82) ist nachvollziehbar, mit welcher Intensität Heidegger seine Selbstauseinandersetzung führte. Er erweist sich dabei als soliloquialer und zugleich als selbstkritischer Denker, als Denker, der auf dem Weg blieb. Nicht als Maske und inszenierte Selbstdarstellung, sondern als Werkstattbericht, der ins Innere von Heideggers Denkbewegung führt, sind diese Bemerkungen anlegt. Heidegger vollzieht damit gleichsam selbst noch einmal seine eigene denkerische Selbst-unterscheidung zwischen dem fundamentalontologischen ersten Anfang und der Anbahnung eines anderen Anfangs, den er in den Beiträgen entwickeln sollte. Im Licht dieser Anmerkungen kann man die Kontinuität des Denkweges klar erkennen. Als Chimäre erweist sich dann eine phasenweise Gliederung in einen Heidegger I »vor der Kehre« und einen Heidegger II nach der Kehre, wie sie allzu lange die Heidegger-Forschung prägte. 1 Es ist nicht unwichtig zu sehen, dass in der Zeit, in der Heidegger an die Ausarbeitung der seinsgeschichtlichen Fuge in den Beiträgen 1 Zu den Datierungsfragen D. Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910–1976.Frankfurt/Main 1990.
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Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹
zur Philosophie ging, die Wiederholung und Befragung seines Hauptwerks einsetzt. In den ›Laufenden Anmerkungen‹, die aus dem Jahr 1937 stammen, gibt er einen kursorischen Durchgang durch das Hauptwerk, der die §§ 1–44 genau erfasst und dann § 72 hinzunimmt. Heidegger betont, dass der Entwurf von Sein und Zeit einen Übergang bezeichnet. Er grenzt sich, als er nach genau zehn Jahren das Hauptwerk noch einmal aufnimmt und einer Prüfung unterzieht, pointiert von der doppelten Verlesung als Existenzphilosophie und als Anthropologie ab. Existenz ist nur als Seinsweise des Daseins von Bedeutung, betont Heidegger (82. 9) – man könne, weil vom Menschen als Da-sein ausgegangen werde, auch nach einer impliziten Anthropologie in Sein und Zeit fragen (8). Damit würden die Verhältnisse aber umgekehrt, denn in der Anthropologie begegne der Mensch stets als Art eines bestimmten ›Animal‹. Bemerkenswert im Vorverweis auf die Zollikoner Seminare ist Heideggers Antwort auf die seinerzeit und bis heute stereotyp wiederkehrenden Einwände, dass auf seinen gesamtem Denkweg der Leiblichkeit zu wenig Rechnung getragen werde. Nicht von der Spezifiierung der Animalität, sondern erst von der fundamentalontologischen Ausgangsbestimmung her könne geklärt werden, wie der Mensch auch leiblich sich manifestiert. Die ›Laufenden Anmerkungen‹. Sie können in einer Art Janusköpfigkeit gelesen werden: Einerseits weisen sie auf Sein und Zeit zurück, andererseits voraus auf die Beiträge zur Philosophie und andere Studien zur Seinsgeschichte. Heidegger betont, dass die Fundamentalontologie den ersten Anfang, also die Frage nach der Seiendheit des Seins, bejaht aber zugleich auf ihre Grundlegung hin transparent macht (7). Wie ein retardierendes Moment nimmt sich in Heideggers Sicht nun demgegenüber der Versuch im Kant-Buch aus, eine Grundlegung von Ontologie und damit Metaphysik zu entwickeln. Heidegger spricht nun von einer Para-Ontologie (7), die schon überwunden sei. Bereits am Gestus der ›Wiederholung‹ der ursprünglichen Seinsfrage setzt die Kritik an: Der Versuch der Wiederholung sei irrig und könne nur einen »ursprünglicheren Platonismus«, eine »ursprünglichere Metaphysik« ergeben (16). Übersehen sei in Sein und Zeit der grundlegende Charakter der Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem (13), womit Heidegger auch die Berechtigung des deskriptiv phänomenologischen Ansatzes und den Ausgang von Vorhandenheit, von Zeug und Dingen, in Zweifel zieht. Dass er sich selbst gegenüber einer existenzialistischen bzw. ontischen Lesart durch die »formale Anzei186
Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹
ge« immer verwahrte, macht er nun gar nicht mehr geltend: Er moniert selbst eine fehlende Entschiedenheit und existenzialistische Relikte in der Gedankenwelt der Fundamentalontologie. Eine Wieder-holung der Seinsfrage (16 f.) konnte, so der Grundtenor der ›Laufenden Anmerkungen‹, in Sein und Zeit gar nicht befriedigend geleistet werden; dies sei vielmehr erst »Wille des anderen Anfangs«, eine Entfaltung der Frage nach dem Sein des Seienden und seiner Seiendheit (17). Erst von der Seinsfrage her, erst im anderen Anfang sei eine Wiederholung möglich, die aber zugleich eine Transfiguration sei. Damit verbindet sich die Aussage, dass die Frage nach dem Sinn von Sein (oder ›Seyn‹, wie er nun schreibt) noch nicht »anfänglich« genug ansetze. Da-sein wird in den Anmerkungen nicht vom Bewandtniszusammenhang der Sorge her entfaltet, sondern als eine ›Inständigkeit‹ im Seinsgeschehen selbst. Damit hängt eine weitere grundlegende Umfigurierung zusammen: Dasein ist nicht je-meines, sondern auf das »ganz Andere« und »Fremde« bezogen, »das im Da und durch das Da übereignet ist« (26). Dies führt zu weitergehenden kritischen Überlegungen. Allerdings hält Heidegger noch als Voraussetzung fest, dass eine Transfiguration der Fundamentalontologie in das Seinsdenken überhaupt möglich ist. Er rekonstruiert noch einmal den Frageeinsatz von Sein und Zeit: dort hieß es, der »Vorrang der Seinsfrage sollte gezeigt werden auf Grund des Vorrangs des Daseins!« (28). Diese Vorrangfrage ebenso wie die Unterscheidung der ontologischen von einer vorontologischen Perspektive wird aber nun in Frage gestellt. Fundierung und Radikalisierung des Fragezusammenhangs spielen vor dem Hintergrund des anderen Anfangs keine wesentliche Rolle mehr. Die »Gründung« aus der denkerisch-dichterischen Wahrheit des Seins selbst (28) wird aus der philosophischphänomenologischen Unterscheidung gelöst und dem Doppelverhältnis von Denken und Dichten zugewiesen. Dies relativiert auch Unterscheidungen zwischen ›eigentlichem‹ und ›uneigentlichem Dasein‹, die sich, wenn überhaupt, so nur im Verhältnis auf Sein selbst erkennen lassen. Die Explikation des Daseins habe lediglich »Vorblick«Charakter auf eine, wie nun noch einmal wiederholt wird, Metaphysik des Daseins, die in Sein und Zeit aber nicht entfaltet worden sei (32 f.). Zu § 5 notiert Heidegger etwa, dass lediglich das Seinsverständnis aus dem Horizont der Zeitlichkeit exponiert wurde. Was und wie Sein selbst sei, habe Sein und Zeit aber nicht thematisieren können. 187
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Auch den phänomenologisch-hermeneutischen Zugriff erweist Heidegger nur als Übergang und als vorläufig. Damit verbindet sich die methodische Reflexion, ob Phänomenologie und Hermeneutik in ihrem Zusammenhang geeignet sind, ontologische Grundverhältnisse zu erfassen. Als Zentrum der Phänomenologie sei die Methodenmaxime zu den Sachen selbst bestimmt worden, deren Sachgehalt aber erst aus der Mitte, dem Ausgang vom Sein selbst, gewonnen werden könne. Heidegger benennt eine dreifache Täuschung (41) einen Schein der Phänomenologie (42 f.), die (1) suggeriere, Sein und Zeit weise sich an Gegebenem aus, die (2) die transzendentale Frage nach den Möglichkeitsbedingungen bemüht, »als sei so auf einen Grund zu kommen« und die (3) das Dasein auf das Phänomen von Existenz engführe, aber seine ursprüngliche Bedeutung nicht fassen könne. Jene dreifache Täuschung kann wohl als eine Art transzendentaler Schein der Fundamentalontologie verstanden werden. Angesetzt werde eine berechtigte Frage, die aber mit den gegebenen Instrumenten nicht eingelöst werden könne. Der phänomenologischen Absicht gesteht Heidegger zu, dass sie auf einen Ursprungsgrund des Seienden führen solle, der existenziellen, dass sie vor Entscheidungen stelle und der ontologisch-transzendentalen Tendenz, dass die Ursprungsbereiche systematisch dargestellt werden sollen (44). Gegenüber den antikatholischen Einschaltungen in den Schwarzen Heften fällt auf, dass Heidegger seine Anfänge auf Schalen und Relikte zurückführt, die »von der reichen katholischen Welt und Überlieferung und hohen Schätzung der Dinge« getragen worden seien (44). Sein und Zeit versteht er dagegen im Rückblick von zehn Jahren als Ablösung aus der Sphäre der Theologie und ihres Glaubens; es markiert eine Befreiung, aber noch nicht die Begründung jenes Freiseins. Heidegger hält in den ›Laufenden Anmerkungen‹ am Daseinsbegriff als Titel für das Innestehen in der Wahrheit des Seins als dem Welthorizont fest. Der Weltbegriff verschiebt sich ebenso: von einer metaphysischkantischen Bestimmung der »omnitudo realitatis« zu dem Gegenhalt von Welt und Erde, den Heidegger bereits in der Kunstwerk-Abhandlung im Jahr 1935 explizierte. Alltäglichkeit- und UmweltlichkeitsAnalysen (61) nimmt Heidegger nicht zurück, er sieht aber die Annahme als Irrtum an, dass vom Dasein aus ein »Weg zur Weltlichkeit überhaupt« führe (61). Welt erweist sich in den ›Laufenden Anmerkungen‹ vielmehr als verhüllter Grund der Phänomenalität der Phä188
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nomene. Deshalb ist es auch weniger ein Weltzusammenhang insgesamt, als die Dynamik des ›Weltens‹, »das Wesen der Wahrheit als Offenheit des Verschlossenen« (67), die in den Aufmerksamkeitsfokus rückt. »Welten« sei, bemerkt Heidegger, auch »Einrichtung der Dingheit der Dinge« (69), wobei der Akzent zunehmend auf die Verborgenheit, den Lethecharakter von Sein als anfänglichem Wahren verschoben wird. Grundsätzlich legt Heidegger eine Transposition der fundamentalontologischen Fragerichtung auf die Analyse von Seinsweisen nahe (Zeug-sein des Zeugs), die Frage nach dem Wie-sein, trete an die Stelle der eidetischen Konstruktion (Zeugheit des Seins) (63). Mitbedingt ist dies durch die Preisgabe der Seinsidee. Den GanzheitsKonstitutionen am Leitfaden des Daseins begegnet er mit kritischen Rückfragen. Er deutet die grundlegende Bedeutung der Dimension des Streites von Welt und Erde an; verweist aber, was in einem philosophischen Zusammenhang nicht unproblematisch ist und sich als folgenreich erweisen sollte, auch darauf, dass Kategorialität und Methodik gegenüber der Konstellation von Sein und Zeit im anzubahnenden anderen Anfang zurücktreten müsse (u. a. 64, 70). Bezogen auf die §§ 23 und 24 notiert Heidegger, was für die ZeitRaum-Analysen der Beiträge zentral werden sollte: dass Zeit und Raum in Unterschiedenheit und zugleich in ihrem Wesen zusammengehören. Raum sei insofern Raum der Ferne und Nähe, und das Verhältnis von Dasein und Raum sei so zu verstehen, dass es das »Sein des Raumes«, im Sinn eines »Genitivus mundi« (70) ausmacht. 2 Die Transformation deutet sich auch in den Stimmungsanalysen an (zu § 29 und 30). Stimmungen sollen nicht nur als Stimmungen des Daseins expliziert werden, sondern als Gestimmtheiten des Wesens des Seins selbst, die sich dem trans-intentionalen Dasein mitteilen (73). Zugleich wird aber, in Abkehr von den Konstitutionsanalysen, festgehalten, dass diese großen Stimmungen »geschaffen« würden: in der Weise einer hervorbringenden Charis (75). So sind es die Stimmungen, die »das Welten von Welt« tragen und das »Dass
Im Vorblick auf die späteren Zeit-Raum-Analysen nähert sich Heidegger also bereits der engen Verschränkung von Zeit und Raum an. Vgl. D. Franck, Heidegger et le problème de l’espace. Paris 1986 und R. Brandom, »Heideggers Kategorien in Sein und Zeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45.4 (1997), S. 531 ff.
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der Geworfenheit«: eine Rede, die hier noch in enger Verbindung mit dem Dasein entwickelt wird (77). Die geringere Gewichtung von Kategorialität und die Preisgabe der Jemeinigkeit führen auch dazu, dass der Topos des Verstehens deutlich zurückgedrängt wird. Diese Verschiebung bedingt auch die Rede von ›Zerklüftung‹ als der inneren Gegliedertheit des Seins und als Weise, »wie der Streit west (80). An dem hermeneutischen ›als‹ möchte Heidegger festhalten, doch nicht in der Formalität, in der davon in Sein und Zeit die Rede ist: Hier ist der tastende Gestus (82 ff.) besonders erkennbar. Es ist die Zerklüftung selbst, die sich als Natur, Kunst oder Geschichte mitteilt, so wie es der Konstellation der Beiträge dann zu entnehmen ist (81 ff.). Zerklüftung ist eine Selbststrukturierung des Seins, der ein einzelner Denkweg nur in nachträglicher Interpretation folgen kann. Dazu trägt bei, dass Heidegger einen veränderten, in der frühen Hermeneutik der Faktizität aber bereits angelegten Begriff von ›Philologie‹ reklamiert (85), dem zufolge es im Wesentlichen darum gehe, den ›Text der Wirklichkeit‹ zu lesen (zu § 32: Verstehen als Auslegung). Heidegger fixiert, ohne dies methodisch-begrifflich weiter zu verdeutlichen, den Begriff der ›Hermeneutik‹ nur insofern, als sie »grundsätzlich verschieden von ›Konstruktion‹ und intellektueller Anschauung des Deutschen Idealismus« sei (85). Denken wird so nachholendes Lesen der Spur des Wirklichen. Revisionen und denkerische Neuinventionen gelten auch dem Verständnis von ›Logik‹, deren Verständnis aus der Sprache und der Wahrheit des Seins geschöpft werden müsse. Logik sei, wie Heidegger bereits 1936 klar hervorhebt, als »Entwurf des Wesens der Sprache« zu verstehen (87). Der Grundriss von ›Unterwegs zur Sprache‹ ist hier in nuce schon angelegt. Damit hängt auch zusammen, dass Sprache aus der Grundstimmung und Ausgesetztheit in die »offene Stelle des Seyns« expliziert werden müsse: von Hören und Schweigen her, der Sigetik (88), die eindrücklich den Schlusspunkt der Beiträge setzt. Sprache ist für Heidegger im eminenten Sinn in der Dichtung realisiert: Doch er lässt auch hier einen Zwischenbereich zu, die artikulierte Gesprochenheit der Sprache, »die wächst und verfällt« (93). Dies rehabilitiert auch ein alltägliches Sagen, das gerade Wahrheit nicht verstellt, sondern sich zu ihr verhält. Denn Sprache, auch als »Gemeinsprache«, bewahrt den authentischen Ausdruck, die treffende Nennung. Wenn bis hier her der Eindruck entstehen könnte, als sei die 190
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Tendenz der Kritik ausschließlich und linear auf eine neue Dimensionierung des Seins und damit eine ›Relativierung‹ der Daseinsanalyse gerichtet, was auch eine Entfernung vom Gestus der philosophischen Traditionen, Methoden und Haltungen wie der Transzendentalphilosophie und der Phänomenologie bedeuten würde, so zeigen sich in den Anmerkungen bezeichnenderweise auch andere, sogar gegenläufige Tendenzen. Heidegger modifiziert die gnostizistisch anmutende jähe Entgegensetzung zwischen dem Verfallen des Daseins und dem eigentlichen Sein in Sein und Zeit. 3 Dies führt auch zu Modulierungen der Topik des ›Geredes‹ (92 f.). Sie sei nicht durch eine menschliche Verfallenheit, sondern den »Einsturz der aletheia« bedingt (92). Die Selbstkommentare im Licht der Seinsfrage führen dazu, dass Heidegger den kulturkritischen Implikationen in Sein und Zeit misstraut, den Voten gegen ›Öffentlichkeit‹ und das ›Man‹, die der konservativen Soziologie der zwanziger Jahre nahestehen, oder zumindest in dieser Nähe rezipiert wurden. 4 Umso verwunderlicher ist es, wenn er in den Schwarzen Heften die Seinsverlassenheit unmittelbar mit zeitdiagnostischen Befunden vermischt (94). Eine Transformation erfahren auch die Phänomene Sorge und Angst. Auch sie werden aus dem Strukturzusammenhang eines jeweiligen Daseins gelöst und in die Ausgesetztheit gegenüber einer Konstellation transformiert, die Heidegger als das Fernste, Fremdeste und Entgegenstehende expliziert hat. * An keiner Stelle wird der Bruch zwischen Fundamentalontologie und den Erfordernissen des Anderen Anfangs in den ›Laufenden Anmerkungen‹ so offenkundig betont, wie am Grundbegriff der Wahrheit. Heidegger bemerkt, dass die existenzial-ontologische Auslegung von Wahrheit nicht auf eine überzeugende Anzeige der Verfassung des Wahrseins führt und im Bereich einer transzendentalen Anzeige Auf die gnostischen Implikationen ist v. a. Hans Jonas, auch aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit der spätantiken Gnosis, früh aufmerksam geworden. Vgl. ders., Gnosis und spätantiker Geist.Teil I. Göttingen 1988, S. 1 ff., vgl. auch ders., Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rahel Salamander. Frankfurt/Main 2004. 4 Zu denken ist an Diskurse über ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ und an anti-moderne, die Modernität aufhaltende Autoren wie Hans Freyer oder Werner Sombart. Dass jede derartige ontische Lesart eine Reduzierung der Heidegger’schen Denkform voraussetzt, muss einem klar sein, falls man sich ihrer hilfsweise bedient. 3
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einer Bedingung der Möglichkeit bleibt. Dies bedeute zugleich eine »Verhaftung in Sätzen« und Dogmata (114). Wahrheit kommt also auf dem fundamentalontologischen Weg nicht über den Status eines voraussetzenden Entwurfs hinaus (115): Sie ist in die Dimension des Daseins einbezogen und ist »relativ auf das Sein des Daseins (117). Demgegenüber gelte es, Wahrheit aus der Verborgenheit und Entzogenheit von Sein selbst zu verstehen. Eigenständige Überlegungen gelten dem ›Willen zur Wahrheit‹. Auch hier ist erkennbar, dass Heidegger über den Willen eines jeweiligen Subjektes hinausdenkt, auf eine wahrheitliche Erschlossenheit des Seins selbst hin. Die Divergenz des ersten Teils von Sein und Zeit zu den Ansätzen, die sich in seinem seinsgeschichtlichen Denken anbahnen, fasst Heidegger knapp zusammen: Die fundamentalontologische Frage nach der Möglichkeit des Seinsverständnisses habe eben nicht einen ursprünglichen Frageansatz in den Blick gebracht (121). Sie habe damit auch die Zeitlichkeit zu kurzschlüssig als bloße ekstatische Temporalität exponiert, nicht aber Zeitigung von Sein. Als Grundmangel identifiziert er, dass Dasein zwar in seinem In-der-Welt-sein gegenüber der ›Vorhandenheit‹ zur Abhebung gebracht wurde, der Anfangspunkt von Welt bei der phýsis (dem aufgehenden Sein) aber verfehlt worden sei. Damit verbindet sich der weitere Einwand, dass die klare Bezugssetzung zwischen ›Welt‹ und ›Wahrheit‹ fehle, Welt also im Wesentlichen fundamentalontologisch nicht verstanden worden sei. Diesen wesentlichen Bezug deutet Heidegger als Sein von Welt und als das Einfallen der Götter an. Es ist nur konsequent, dass Heidegger sich dem zweiten Abschnitt von Sein und Zeit besonders zuwendet. Alle Überlegungen zu der Möglichkeit eines zweiten Teils, der die Umkehrung vollziehen würde, ausgehend von der Frage: »Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« (437), haben an diesem gegen sich selbst gerichteten Einwand einzusetzen. Heideggers scharfe Evokation der Vorläufigkeit von Sein und Zeit spitzt sich auf die Aussage zu, dass in den Analysen ein Maß vorgesetzt werde, das sie selbst sich nicht setzen könne, nämlich eine Eigentlichkeit aus der Zeitlichkeit. Die ›Behutsamkeit‹ des einholenden Entwurfs, »Der Entwurf eines (!) Sinnes von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit vollziehen« (125, SuZ, 235), womit eine Vorläufigkeit formuliert ist, die sich gegen den 192
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verbleibenden Dogmatismus der Fundamentalontologie richtet. Heidegger verweist in seiner retractatio zu Recht darauf, dass Philosophie auch Philosophie der Philosophie sein müsse. Damit ist ein grundlegender Topos benannt. Selten allerdings ist diese Meta-Dimension auch realisiert worden. Skizzen finden sich bei Friedrich Schlegel, 5 und Hegel hatte die Absicht, seine ›Logik‹ noch einmal mit der Realphilosophie zusammenzuschließen und zu einer ›Philosophie der Philosophie‹ zu formen. 6 Für Heidegger ist dieser Anspruch auf dem Übergang in den anderen Anfang einzulösen, so, dass die Evokation des § 63 von der existenzialen Sorge auf das sich-Vorfinden in der Mitte des Seins umgedeutet wird. Als unmöglich aber erweise sich gerade darin der Anspruch einer Selbstrechtfertigung und -begründung der Daseinsanalytik, weshalb Heidegger konzise bemerkt: Mit der ›Kehre‹ sei zwar Wesentliches bemerkt, »aber alles zu kurz und zu eng; existenziell verbogen und phänomenologisch maskiert« (129). Eine demgegenüber noch grundsätzlichere Revokation deutet Heidegger in seinen Bemerkungen zum II. Abschnitt von Sein und Zeit an: Wenn das Da-sein metaphysisch und nicht existenziell begriffen wird (130), so sei gerade nicht sein Ganzsein-Können zu konstruieren, wie er dies selbst im ›Vorlauf zum Tod‹ tat. Es erweise sich dann per se als un-ganz und fragmentiert. Sein Wesen und seine Urgenesis hängen damit gerade nicht von der Zeitlichkeit ab, sondern von seiner metaphysischen Einfugung in der Mitte des Seins des Seienden. Die ›Geschichtlichkeit des Daseins‹ weist damit über die Binnenperspektive des Hauptwerks hinaus. Dasein ist Übergang in das Ereignis und darin ist es geschichtlich. Die in ihrer Kairóshaftigkeit defizitäre Geschichtlichkeitsanalytik von Sein und Zeit ist daher in die Gründung und Grundgebung des Daseins im Sein selbst umzuzeichnen. Ob und erst recht wie eine solche Umfigurierung möglich ist, oder ob ein völlig neuer Denkeinsatz erforderlich wäre, klärt Heidegger nicht. Evoziert wird aber, dass Geschichte »Übereignung in das Ereignis« sei (152). Die Frage nach dem Seinsverständnis erweist
5 Einschlägig F. Schlegel, Transcendentalphilosophie (1801), vgl. dazu M. Frank, Einführung in die philosophische Frühromantik. Frankfurt/Main 1989, S. 232 ff. Letztlich ist das Problem der ›Philosophie der Philosophie‹ bereits das Problem der Selbstunterscheidung des Philosophen von den ihm sich verwandt ausgebenden Typen in Platons Spätdialogen Politikos und Sophistes. 6 Vgl. dazu H. Seubert, Hegel. i. E. 2020.
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sich dann als eine Art von Maske (Persona), hinter der sich der tiefere Sachgehalt verbirgt, »die Wahrheit des Wesens des Seins zu erfragen« (135). Worauf noch einmal ein selbstkritischer Einwand reagiert: dass die Antwort über den Seinscharakter 7 in Sein und Zeit ausbleibe, nicht weil sei nicht gefunden worden sei, sondern weil sie zu früh und eilig gefunden wurde, in einer Konstruktion, die gerade nicht in die Tiefe reicht. Ob man nun Heideggers Neueinsatz des ›anderen Anfangs‹ als eine Modifikation, vielleicht sogar Emendation, von Sein und Zeit versteht oder als gänzlichen Neueinsatz; als Heideggers Grundintention in den ›Laufenden Anmerkungen‹ ist festzuhalten, dass der ontologisch-metaphysische Ansatzpunkt auf eine tiefere Fragedimension bezogen werden muss, als sie Sein und Zeit zugänglich gewesen sei. In einem weiteren Konvolut ›Eine Auseinandersetzung mit Sein und Zeit‹ aus demselben Jahr 1936, das eng mit den Schwarzen Heften – Überlegungen II-IV verbunden ist – ein weiteres Indiz dafür, dass die Überlegungen nicht marginalisiert werden dürfen – expliziert Heidegger noch einmal den Weg- und Fragecharakter des Werkes. Sein und Zeit entwickle einen Fragezusammenhang, der auf das phänomenale Erscheinen des Daseins im Wie seines Gegebenseins bezogen ist. Eben darin folgt das Hauptwerk noch dem Husserl’schen Anspruch einer strengen ›Wissenschaftlichkeit der Philosophie‹, auf die sich Heidegger ausdrücklich bezieht (144) und die er seinerzeit noch nicht grundsätzlich von der ›Sache des Denkens‹ unterscheidet. Phänomenologie wendet sich zur Sache des Denkens als des »anfänglichen und notwendigen« Fragens (145): Sie ist also Urwissenschaft gerade in der Explikation der Urgenesis philosophischen Denkens. So formuliert Heidegger, dass seine Fragebewegung von Anfang an und im Voraus »über« der Phänomenologie stand (145). Er habe die Phänomenologie aber als eine grundsätzliche Denkhaltung angenommen (145), weshalb es nicht zu einer ›Absage‹ an sie kommen könne. Obwohl die Überlegenheit wertend konstatiert und nicht nur die Grundlegung in der vortheoretischen Urwissenschaft konstatiert wird, hält Heidegger zugleich fest, nur durch die Husserl’sche Phänomenologie sei Sein und Zeit möglich geworden. Nicht unwesentlich Daran wird eine künftige, primär auf Heidegger und primär auf die Sachfrage bezogene Forschung sich orientieren müssen. Vgl. D. Frede, »Stichwort ›Sein‹«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 80 ff.
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ist insofern, dass Heideggers Interpretation von Sein und Zeit mit Husserl eine anti-anthropologische Grundhaltung teilt; Heidegger spricht sogar explizit vom »anthropologischen Missbrauch« der Phänomenologie des Daseins und ihrer gedankenlosen Transformation auf ›Ich‹ und ›Wir‹ (156). Ausdrücklicher als in den ›Laufenden Anmerkungen‹ wird festgehalten, dass der ›andere Weg‹ mit Entschiedenheit gegangen werden müsse, eben »weil […] das Dasein einzig vom Ereignis sein Wesen hat« (155). Und ebenso klar wird der Weg von Sein und Zeit noch einmal im Ganzen überblickt und gewürdigt. Es sei eine »Vorläufigkeit«, aber eine solche, die »die ganze bisherige Philosophie umgreift und auf ihren und anderen und entfalteten Grund stellt« (162). Erforderlich sei daher ein Übergang als »Umsprung« (169), womit der Übergang in den Anderen Anfang gleichsam operationalisiert wird: Vorläufig wird dies als Transformation von der ›Grundlegungsforschung‹ in Sein und Zeit (169) in den ›metaphysischen Anfang‹ selbst charakterisiert. Heidegger hat diese Transformation noch deutlicher in einer Architektonik des Fragens exponiert, wobei er die verschiedenen Fragezüge zu exemplifizieren und zu explizieren versucht, die dann in den Beiträgen und den anderen großen Ausarbeitungen bis zum Beginn der vierziger Jahre weiter entfaltet werden. Dies wird im Versuch einer Strukturierung der Fragebewegung weiter verdeutlicht. Die Denkbewegung gehe von einer Vor-frage aus, die sich dem Problem widmet, wie Sein auf Zeit begründet ist und die eng mit der Leitfrage verknüpft ist (164). Diese Frage geht gerade nicht in der Leitfrage der Metaphysik auf, sondern fragt nach dem Entwurf des Daseins. Die Leitfrage gilt insofern dem Da-sein in seinem Verhältnis zum Sein selbst. Bemerkenswert ist, dass Heidegger, der seine Abarbeitung an vergangenen Grundstellungen der Metaphysik immer auf den Topos der Auseinandersetzung brachte, genau so auch mit sich selbst umgeht: Gerade im Bezug auf Nietzsche praktiziert er eine ›Auseinandersetzung‹ in der Topologie des Eintretens in das andere Denken und der Herauslösung aus diesem Denken. Im Fokus auf Nietzsche wird außerdem eine Fragearchitektur in der Spezifizierung von Vor- und Leitfrage entwickelt. Heidegger bedenkt indes auch das Problem, den eigenen zurückliegenden Denkweg und dessen vorläufige Manifestation öffentlich einer Kritik zu unterziehen. Hier deutet sich an, dass gewiss nicht ein zweiter Teil von Sein und Zeit, aber die Veröffentlichung einer eigenen Metakritik erwogen worden sein mag. 195
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Die Forschung muss erst zur Kenntnis nehmen, dass Heidegger als tiefsten Irrtum in Sein und Zeit einen Gedanken formulierte, der geradezu als Teil der Standardinterpretation von Sein und Zeit verfestigt wurde: 8 Dass es nämlich viel zu kurz greife, Sein selbst als temporal aufzufassen, obwohl nur die phänomenale Begegnungsweise von Sein, dessen ousía, zeithaft begegnet. Dies sei ein Irrtum, unter den Heidegger auch seine Interpretation des Schematismus im Kant-Buch summiert. Unzureichend sei die Auslegung des Zeithaften im Sein geblieben, aber auch die Vorgehensweise, die ihre Strenge noch in Sein und Zeit einem dem Denken äußerlichen Maßstab von Wissenschaftlichkeit unterstellt habe (176). Heidegger hält sich selbst vor, den eigenen Denkansatz zwischen Jaspers, Dilthey, Kierkegaard und dann im transzendentalen Rückgang über Descartes bis zu Kant eingekapselt zu haben. Diese Probleme werden resümiert. Heidegger beansprucht allerdings, dass der ›Übergang‹ (›Umsprung‹) von vorneherein mit im Blick gestanden hat. Deshalb wird zugleich die Evokation am Ende von Sein und Zeit betont, dass es die »eigentliche Aufgabe und Gestalt des Werkes« erfordere (212), Sein von der Zeit her zu denken. Ob Heidegger dazu je kam, wird von der Selbstauseinandersetzung her und dem Desiderat, das sie formuliert eine zentrale systematische Frage. Sie muss allerdings weitergehend auf die sachliche Berechtigung dieses Ansatzes hin überprüft werden. Einen Weg, der in diesem Buch als markante und wohlbegründete Option erwiesen wurde, nämlich den Rückgang in die Leitfrage der Metaphysik, mit dem Kant-Buch als Spitze, begreift Heidegger nun als ein »Zurückschwingen«, das in sich »unzureichend« geblieben sei. (231). Demgegenüber kann aus einer Metaperspektive gezeigt werden, dass gerade jene ontologische Wendung in der Folge Kants von konstitutiver Bedeutung für Heideggers Denkweg hätte sein können und dass damit die prophetischen Überhöhungen im anderen Anfang zu verhindern gewesen wären. Zum springenden Punkt wird dann, ob Heidegger in der Linie des Kant-Buches die Tiefendimension der Seinsfrage aus dem Blick verloren hätte oder nicht.
Vgl. etwa das Heideggerbild bei R. Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge 1989; sowie M. Sandbothe, Die Verzeitlichung der Zeit. Grundtendenzen der modernen Zeitdebatte in Philosophie und Wissenschaft. Darmstadt 1998, S. 23 ff. Heideggers Selbstrevision wird man vor diesem Hintergrund umso aufmerksamer zur Kenntnis nehmen müssen.
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Es ist das auf den Grund bezogene Nachdenken, das er an Sein und Zeit festhält und in den Aufzeichnungen jener Jahre gegen vordergründige Verrechnungen in der Richtung einer Zugehörigkeit zur Existenzphilosophie absetzt. Aristoteles, Parmenides und Heraklit, eher angedeutete Spuren, aber gerade nicht ein Kierkegaardianischer Existenzialismus sollen schon für Sein und Zeit bestimmend gewesen sein. Gegen alle Behandlung der Aussagen von Denkern wie »Propagandathesen« gerichtet (235), expliziert er die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ als die eine und einzige Frage, die er verfolgt habe: Die Aristotelische Frage, mit der das Kant-Buch geschlossen hat, »welche von alters her so gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels ist, die Frage ti to on« (1028b2 ff.), was das Seiende ist. Diese Orientierung allein auf der Seinsfrage als seiner einzigen und grundlegenden Thematik hatte Heidegger bereits überzeugend in der Debatte mit Cassirer in Davos 1929 zur Geltung gebracht. * In einer Reihe von früheren Aufzeichnungen aus den vierziger Jahren konzentriert sich der revidierende Rückblick auf Sein und Zeit eher auf den Charakter eines Zwiegesprächs als einer ›Auseinandersetzung‹. Heidegger geht dabei seinem eigensten Motiv nach, das ihn seit Brentanos Schrift über die Mehrfache Bedeutung des Seienden bei Aristoteles beschäftigt habe: was das pollachos legomenon des Seins sei. Er führt die Spuren dieser Einsicht auf die frühen zwanziger Jahre zurück und bringt sie mit der apousía, der Entzogenheit des Seins im ›Seienden‹ in Verbindung: Seinsvergessenheit ist also, so wird vor diesem Hintergrund betont, nicht als irgendeine Vergesslichkeit des Denkens aufgefasst, sondern als Entzogenheit des Seins selbst (221). Die Erfahrung der Vergessenheit ist also selbst »ein Geschickliches«, sie ist selbst mit dem Sinn von Sein eng verbunden. Zu erkennen sei damit, dass die Vergessenheit selbst für das Ereignis »unerlässlich« sei (226). Das Vergessensein geht selbst als Grunddifferenz in die Lichtung der Verbergung der aletheia ein. Dies sei in den Destruktionen von Sein und Zeit übersehen worden. Die Revision der Frage nach der Zeit wird ständig umkreist, um zu einer ähnlich eigenständigen Position gegenüber Sein und Zeit zu kommen, wie dies in anderen Problemfeldern (Wahrheit, Sein, Anfang) sich abzeichnete. Zeit klinge in der Seinserfahrung an, so ver197
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steht Heidegger den Konnex: Sie zeige sich in der parousia und lichte sich gleichsam als phýsis und lógos (247), als »Fülle des Wesens« – aber zugleich als schon vergessen (ibid.). Der ekstatische Zeitbegriff in Sein und Zeit habe jedenfalls nicht auf seine Einheit hin transparent gemacht werden können, eben weil die Einheit der Zeitekstasen sich allererst aus dem anderen Anfang erschließt (250). Zeit differenziere sich dann nicht nur in drei Ekstasen, sie seien vielmehr in einer vierten gehalten, nach der in Sein und Zeit nicht wesentlich gefragt werde: in ihren Ursprung aus der Wahrheit des Seins selbst. In einem undatierten Passus vermerkt Heidegger mit großer Transparenz die Richtung einer solchen Verhältnisbestimmung: »Das Epochale des ekstatisch Temporalen als das Aletheische der Differenz« (248). Wie eine Reihe von Aufzeichnungen und Skizzen verdeutlicht, ist in der Verwandlung des Zeitverständnisses »das Epochale«, durchaus in Reminiszenz an den Begriffssinn der Husserl’schen Epoché, für Heidegger in besonderer Weise bestimmend. In solchen Epochen werde Sein entborgen und verborgen. Nähe sei daher immer nur als »Ankunft des Ausbleibens« zu fassen, in einer unaufhebbaren Entzogenheit (251). In den ganz späten Mitteilungen ›Zur Sache des Denkens‹ aus den vierziger Jahren nimmt sich Heidegger erstmals wieder ausdrücklich dieser Konstellationen an. Dass die mythopoietische Figuration des ›Gevierts‹ die Struktur einer solchen Vierung auf Heideggers weiterem Denkweg abbilden sollte, ist naheliegend. Ebenso deutlich zeigt sich aber, dass sie die Konzeption von Zeit als aletheischer Differenz letztlich nicht klären kann. Auch in den umfangreichen nachgelassenen Textkorpora verlieren sich die einschlägigen Bestimmungen allzu sehr ins Änigmatische als dass dies möglich wäre. In dem Brief an F.-W. von Herrmann aus dem Februar 1964 wird die leitende Problematik des Seinsproblems sehr fassbar transparent gemacht: »Dabei stellte sich die Frage, ob die Zeit als Horizont des Entwurfs von Anwesenheit sich aus der und durch die Zeitlichkeit des Da-seins bestimme, oder ob diese als Zeit umgekehrt ihre Bestimmung aus ›Der Zeit‹ qua Entwurfsbereich von Anwesenheit empfange« (Zit. ibid., 402). Der kursorisch exemplarische Durchgang durch Heideggers Selbstauseinandersetzung macht deutlich, wie die entschiedene Kritik an missbräuchlichen oder missverstehenden Pseudoaneignungen des Denkens, in einem Zeitalter, das Hermann Hesse 198
Selbstkommentar und ›Laufende Anmerkungen‹
damals als »feuilletonistisch« bezeichnete, mit dem überaus intensiven Versuch einhergeht, selbst tiefer in die Voraussetzungen der Fundamentalontologie einzudringen und sie zu befragen. Die polemische Abwehr der Missverständnisse deutet Heidegger insofern immer auch auf einen Mangel und einen zu kurz greifenden Ansatz im eigenen Denken hin. Der fundamentalontologische Weg wird als einer Art vorläufiger Annäherung an die Frage nach dem Sinn von Sein sichtbar gemacht, die es ihrerseits zu befragen und auf ihren Grund zu führen gelte. Dies eben ist die eigentliche Initiation von Heideggers Annäherung an den ›Anderen Anfang‹. Heidegger erweist sich hier als eminent kritischer Denker, der die Aporie nicht vermeidet, sondern sucht und sich gegenüber seiner eigenen Fragebewegung und ihres temporären Scheiterns selbst eine stringente Rechenschaft abverlangt. Begründbar ist damit die These, dass vermutlich nicht das Gespräch (Heidegger führte es ansatzweise mit Jaspers, implizit mit Scheler, aber nur sporadisch mit den Mitgliedern seines Schülerkreises 9); sondern dass es die Selbstauseinandersetzung mit seinem eigenen, vorläufig dokumentierten Denkweg war, aus dem Heidegger das esoterische Potenzial und die Schärfung seines anderen Anfangs zog. Luzide kann er dabei sagen, was nicht, oder noch nicht angemessen erreicht worden sei; etwa im Blick auf die Zeit. Weniger deutlich kann er den anstehenden Weg vorzeichnen Eindrücklich wird neben der Aporetik aber auch eine hohe geistige Redlichkeit, eine Härte im Umgang mit sich und eine Fähigkeit zum argumentativen Ideenkampf, die das Erreichte eines Buches und eines Ruhms, der in den zwanziger Jahren seinesgleichen suchte, keineswegs einfach positiv verbuchte, sondern auf dem Maßstab der Sache bestand und das Unerreichte luzide festhielt.
Einschlägige Veröffentlichungen von Briefwechseln wie mit Löwith, Gadamer, Welte u. a. machen eine starke Zurückhaltung Heideggers im Gegenüber zu deren Denkansätzen unverkennbar. Fraglich ist vor diesem Hintergrund schon, ob man von einer Heidegger-Schule sprechen kann. Zumal nach Sein und Zeit scheint eine anfänglich durchaus gegebene engere Mitteilungsgemeinschaft zunehmend in den Hintergrund getreten zu sein. 9
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VI. Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück: Heideggers Beiträge zur Philosophie und Verwandtes
13. Das Strukturprinzip der ›Fuge‹ In den Jahren 1936–38, mitten in der NS Zeit, die Nietzsche-Vorlesungen flankierend, verfasste Heidegger ein Schriftstück, dessen Publikation zu Lebzeiten nicht vorgesehen war. In Entsprechung zu Heideggers Verfügungen über die Gesamtausgabe erschien der Text im Jahr 1989, zu Heideggers 100. Geburtstag. Der enigmatische und sprachlich nicht ohne weiteres sich erschließende Charakter erforderte ein tieferes Eindringen, ließ aber, wenn man dazu bereit war, plötzlich den Hintergrundsraum zu den großen Abhandlungen, wie sie in Holzwege und Wegmarken gesammelt waren, erkennen. Dass die ›Kehre‹, der seinsgeschichtliche Weg Heideggers, einen anderen, trans-metaphysischen Anfang meinte, dass das Verborgene der Wahrheit des Seins vom ersten Anfang, dem Rückschein der Metaphysik, unterschieden wurde, eben dies entwickelte Heidegger in einer eigenen Systematizität. Wiederholt ist in den Beiträgen die Abgrenzung gegenüber der Systemgestalt der neuzeitlichen, namentlich nachkantischen Philosophie, die auf einem transzendentalen, mit der Subjektivität eng verbundenen Grund beruhe, betont. Damit verknüpft Heidegger allerdings den Anspruch, dass jenes Denken strenger gefügt sein solle als die Systemform selber. Nietzsches Diktum, dass Systeme einen »Mangel an Redlichkeit« zu erkennen geben (GA 65, 293 ff.), 1 zitiert Heidegger zustimmend, versteht dies aber nicht als Lizenz zu einer Dissemination oder einer Auflösung der Systematik in Aphorismen. Daraus ist keineswegs die Konsequenz zu ziehen, dass die Strukturierung der Beiträge weniger streng angelegt wäre oder dass sie nur plurale Spuren eines ›Schwachen Denkens‹ entfalten würden. Man muss mit einer nicht-linearen Verflechtung der einzelnen ›Fugen‹ rechnen und ebenso damit, dass deren systematischer Zusammenhang und ihre Geschichtlichkeit ineinander greifen. Eine solche Kunst, die Beiträge zu lesen, ist bislang noch nicht entwickelt worden.
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Das Strukturprinzip der ›Fugen‹
Nicht von Begriffen ist die Rede, sondern von Grundworten. Frage und Anspruch an das zu Denkende dominieren den Gestus der Mitteilung. Eines jener Grundworte, das für die Beiträge von tragendem Gewicht ist, ist ›Fuge‹. Mehrdeutig und letztlich nicht auflösbar ist es. Dass Heidegger einen tieferen Eindruck von der Bach’schen ›Kunst der Fuge‹ gewonnen hatte und dass er hier eine Rolle spielte, ist eher unwahrscheinlich. Dass der lateinische Wortsinn fuga, als Flucht anklingt, aber auch die Verfugung in Holz und Stein ist unverkennbar. Die einzelnen ›Fugen‹ nehmen daher vielfach aufeinander Bezug, sie sind in einander gefügt und ergänzen sich. In einem ›Vorblick‹ wird die Sechszahl der ›Fugen‹ genannt, die Heidegger als Grundgestalt eines Übergangs von erstem und anderem Anfang und daher auch beider ›Krisis‹ (Entscheidung) einführt: »Der Anklang (I) das Zuspiel (II) der Sprung (III) die Gründung (IV) die Zukünftigen (V) der letzte Gott«. VI) Die ›Vorblick‹ genannten Prolegomena beschreiben den Anspruch und die Übergangsstruktur jenes Denkansatzes. Dabei geht Heidegger von einer Geschichtlichkeit der Wahrheit aus, der sich das Denken nicht entziehen könne. Während die ›Zeit‹ der ›Systeme‹ vorbei sei, sei »die Zeit der Erbauung der Wesensgestalt des Seienden aus der Wahrheit des Seyns […] noch nicht gekommen« (5). Von Anfang an sind diejenigen, die diesen Gedankengang mitvollziehen wollen, in eine Notwendigkeit verwiesen, da der andere Anfang, »der einzig andere aus dem Bezug zu dem einzig einen und ersten Anfang sein muss« (5). Seinsgeschichte ist daher ein im innersten systematischer Begriff, der anzeigen soll, wie sich das Sein selbst in Zukehr und Abkehr eröffnet, bzw. verschließt. Nur aus diesem emphatisch eminenten Begriff der Geschichtlichkeit, den Heidegger klar von Historie unterscheidet, ist verständlich, dass Geschichtlichkeit als der Ort verstanden wird, an dem, wie Heidegger immer wieder formuliert, über das künftige Denken entschieden wird. Die Seinsfrage sei dabei die Grundfrage. Sie führt über den Horizont der Metaphysik hinaus und bahnt die Wahrheit des Seyns selbst an, was sich durch die Rede vom Ereignis konkretisiert. Sein 201
Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück
›ereignet‹ oder es ›west‹, worin seine temporale Dynamik und sein Geschehenscharakter evident gemacht sind. Von Anfang an notiert Heidegger, dass das Seinsdenken »den Wenigen – den Seltenen« vorbehalten sei (11), es ist eine Art Colloquium über die Zeiten hinweg, in dem die Vorsokratiker oder Hölderlin unverwechselbare Positionen einnehmen. Methodische Bemerkungen, wie die Schwierigkeit und zugleich Notwendigkeit, eine Reinigung (Purgierung) der metaphysischen Sprache zu erreichen, verbinden sich mit Bemerkungen zum Pathos, dem Anklang an die Grundstimmungen, die das Seinsdenken fordert. »Erschrecken«, »Erahnen«, »Verhaltenheit«, »die Scheu« kehren dabei wieder. Die Beiträge zeichnen sich ebenso wie die anderen umfassenden Ausarbeitungen, die Heidegger der Seinsfrage widmet, durch Wiederholungen, Klärungsversuche und interne Bezugnahmen auf sein eigenes Denken aus. Sie sind ein großes Denkgespräch. Dabei ist auch der Bezug auf Sein und Zeit präsent, sodass die Verwandlung nicht nur der Metaphysik gilt, sondern auch dem fundamentalontologischen philosophischen Weg, dem er in einem eigenen erst seit 2018 vorliegenden Werk eine eingehende Selbstrevision gewidmet hat. 2 Die Selbstrevision und die Ausgestaltung des Seinsdenkens in den Beiträgen ergänzen einander. Explizit wird bereits im Abschnitt ›Vorblick‹ auf den Daseinsbegriff der fundamentalontologischen Annäherung an die Seinsfrage verwiesen und deutlich gemacht, dass das Dasein »im Ereignis und dessen Kehre« seinen Ursprung habe (31). Daraus resultiert nach Heidegger der archontische, gleichsam »herrschaftliche« und zugleich »anfängliche« Begriff der Philosophie. Für die Selbstunterscheidung zwischen Philosophie und Denken sind die Beiträge maßgeblich. Denken und Philosophie werden zunächst noch wie Synonyme verwendet. Der Denkvollzug erweist sich als »Notwendigkeit« (45), der keine externen Funktionen zuzuweisen seien, da Philosophie »als Besinnung jene Not nicht beseitigen, sondern ausstehen und begründen, zum Grund der Geschichte des Menschen machen muß« (45). Dies unterscheide Philosophie von Grund auf von
2 Die zeitliche Koinzidenz von GA 82 und den Beiträgen ist selbstverständlich auch eine sachliche Entsprechung.Vgl. zur Binnenlogik des Corpus F.-W. von Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ›Beiträgen zur Philosophie‹.Frankfurt/Main 1994 und D. Neu, Die Notwendigkeit der Gründung im Zeitalter der Dekonstruktion, a. a. O., S. 32 ff.
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Das Strukturprinzip der ›Fugen‹
aller ›Weltanschauung‹, den Ausprägungen von Ideologien, die immer eine Verfestigung und Verhärtung einschließen. Heidegger entwickelt schon in diesem Vorblick das Gefüge eines ›anfänglichen Denkens‹, das, obwohl an anderer Stelle eher anonym vom »Menschen« oder dem »Menschentum« die Rede ist, doch explizit die Frage nach dem ›Wer‹ des Menschen und seiner Existenz aufwerfe. Gebunden wird die Selbstbestimmung an die Bestimmung des Daseins. Die Frage nach der Selbstbestimmung hat ihrerseits eine kriteriologische Bedeutung; an ihr entscheidet sich nach Heideggers Evokation, ob »der Mensch ›Subjekt‹ bleiben will oder ob er das Da-sein gründet« (90). »Die Besinnung des anfänglichen Denkens ist vielmehr so ursprünglich, dass sie erst fragt, wie das Selbst zu begründen sei« (ibid., 67). Gleichfalls im Vorblick werden die eminente Bedeutung von Sprache, Nennkraft und ihre Grundlegung im Schweigen, der Sigetik als Schweigekunst, aufgewiesen. Am Begriff der Entscheidung, der zu okkasionalistischen bzw. dezisionistischen Deutung Anlass gab und daher mit Nietzsche bzw. Carl Schmitt gleichgesetzt wurde, 3 spiegelt Heidegger die Unzulänglichkeit herkömmlicher Begrifflichkeit. Er fragt, ob nicht ›Entscheidung‹ selbst in das kalkulatorische, berechnende Denken gehöre und bricht es dahin um, dass das »Zeitraumhafte der Entscheidung als aufbrechende Klüftung des Seyns selbst« (105), vom Sein ausgehe, was einer jeden anthropomorphen Setzung kontrastiert wird. ›Weltanschauung‹ in ihrer versteinernden und verhärtenden Dimension wird im ›Vorblick‹ gleicherweise und im Einzelnen sicher irrtümlich, mit der kirchlichen Lehre und der NS-Ideologie gleichgesetzt, die beide unendlich weit von Philosophie und erst recht der Sache des Denkens entfernt seien.
›Anklang‹ ›Anklang‹ verweist auf die Nähe des ursprünglichen Seins an die Seinsverlassenheit, die in Heideggers Begriffsverwendung sogleich
Diese gängige dezisionistische Lesart wurde begründet von Chr. Graf Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart 1958 u. ö. Dieses simplifizierende Raster wird immer noch wiederholt, wenn bestimmte Leitunterscheidungen es nahelegen, eine Einheit zwischen Denkansätzen zu generieren, die schon auf den fundamentalen Ebenen völlig divergieren.
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auf die ›Not der Notlosigkeit‹ und den äußersten Zerfall der Wahrheit zugespitzt wird (110 ff.). Der Anklang ist also, wie die immer wieder wiederholten Seinsverlassenheits-Überlegungen zeigen, keineswegs symphonisch-harmonisch, sondern nimmt die Verbergung bzw. Verschließung eines Zustandes der Seinsverlassenheit auf. Membra disiecta, so die spätzeitlich totalitäre und dem technischen Zeitalter zugewiesene Machenschaft und das, was der späte Heidegger als christliche Metaphysik bestimmt, verschmelzen zu einem Syndrom, das seinerseits »auf die Weltverdüsterung und Erdzerstörung« verweise (119) und zwar in dem dreifachen Sinn von ›Schnelligkeit‹, ›Berechnung‹, ›Anspruch des Massenhaften‹. Die Kurzschließung von seinsgeschichtlichen auf gegenwartsdiagnostische Momente, die in den Überlegungen der Schwarzen Hefte aufscheinen, begegnen im Grundzug bereits in einem philosophisch verdichteten und formalen Sinn in den Beiträgen. In diesen Zusammenhang trägt Heidegger mehrere Anläufe von Sätzen über die Wissenschaft ein, die eo ipso eine Form von Seinsverlassenheit sei, in der sich die aufscheinende aletheia auf »messende und rechnende Verfahren« (150) reduziert habe. Hier bereitet sich nicht nur das spätere Diktum vor, wonach Wissenschaft nicht denke; 4 thematisch wird auch, weshalb Heideggers Denken der Kehre nicht einfach am Husserl’schen Selbstklärungsvorgang von Wissenschaft durch die Philosophie als ›Erste‹ solcher Wissenschaften festhalten kann. 5 Eine bemerkenswerte Begriffsverschiebung trägt Heidegger am Leitfaden des Begriffs- und Bildfeldes von Experiment, experiri, experientia und intuitus vor (162 ff.). Im Hintergrund ist unstrittig Nietzsches experimentalphilosophische Programmatik erkennbar, wobei Heidegger die unter Laborbedingungen etablierte Wiederholbarkeit des Experiments einer Sein eröffnenden Erfahrung kontrastiert und die Frage aufwirft, ob eine Welterfahrung, wie eminent sie auch sei, überhaupt in den Anfang eines Seinsbezugs verweisen kann,
M. Heidegger, Was heißt denken?, E.A., a. a. O., S. 4. Siehe E. Husserl, Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Drittes Buch. Husserliana Band V. Hg. von M. Biemel. Den Haag 1952, sowie ders., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg 21982, S. 50 ff. Im Sinn von Phänomenologie und Theologie (1927) firmiert dabei die Theologie immer als positive Wissenschaft neben anderen.
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Das Strukturprinzip der ›Fugen‹
auch dort, wo sie wie bei Nietzsche auf die Nähe zu den nächsten Dingen orientiert ist.
Zuspiele Zuspiel und Anklang sind nach Heidegger eng miteinander verflochten. Erst aus dem »Anklang der Seinsverlassenheit« beziehe das Zuspiel seine Notwendigkeit. Expliziert wird dabei nicht so sehr die Konstellation von Sein und Zeit, sondern die Versuche einer »ursprünglichen Zueignung des ersten Anfangs«, die nach Heidegger zugleich »Fußfassen im anderen Anfang« (171) bedeuten. Diesen ›Übergang‹ expliziert Heidegger nun näher als eine geschichtliche ›Scheidung‹(177). Obwohl das Denkverfahren der ›Fuge‹ in sich als »geschichtlich« aufgefasst werden soll, expliziert Heidegger doch eben hier eine Relationierung zu den »geschichtlichen Vorlesungen«, weshalb die Vorlesungen in das Licht des Übergangs gebracht werden. Er nimmt vor diesem Hintergrund einen Querschnitt in den Blick: Er thematisiert dabei Leibniz’ »unergründliche Vielgestaltigkeit des Frageansatzes« (176), die an der Stelle der Monas – und damit der von Husserl geteilten Monadizität – das »Da-sein denken« lasse, Kants deduktive Hauptschritte, die eben das Da-sein an die Stelle des transzendentalen Ansatzes rücken, Hegels Systematik, die verlange, »ganz entgegengesetzt zu denken« – und programmatisch für die Nietzsche-Vorlesungen: »mit Nietzsche die Auseinandersetzung wagen als dem Nächsten und doch erkennen, dass er der Seinsfrage am fernsten steht« (176).
Sprung: Performativität des ›Satzes‹ Heidegger deutet in diesem Zusammenhang auch an, wie der Übergang zu verstehen ist. Die Methodizität wird man sich freilich in einer gewissen Freiheit von der textuellen Gestalt deutlich machen müssen, sind darin doch so verschiedene Grundverfahren wie der Übergang und der Absprung angedeutet, eine Überkreuzung von Bejahung und Verneinung. Der Absprung führt in eine Negation der Positionen des ersten Anfangs, ist aber, wie Heidegger betont, keineswegs nur eine Negation: Das Ja des »ersprungenen Sprungs« überhole vielmehr postfestum das Nein. Heidegger beschreibt solche 205
Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück
Gedankenverhältnisse, indem er sie vollzieht, schon gar nicht transformiert er sie in eine Logik oder Methodologie. Ein Begriff, der in Heideggers Nietzsche-Auslegung anleitende Bedeutung haben soll, nämlich der Begriff der ›Auseinandersetzung‹ (188 ff.), wird dabei zentral: Wiederholung des ersten Anfangs und der Sprung über ihn hinweg sind zwei ineinander gelegte spekulative Vorgänge, weshalb in der ›Auseinandersetzung‹ auch der ›erste Anfang‹ erst eigentlich präsent werden soll. In prägnanten Vorblicken wird als Erscheinen dieses ersten Anfangs die phýsis genannt, »die als Aufgehen«, also als Un-verborgenheit (aletheia) im Heidegger’schen Sinn erfahren werden könne (190 f.). Der Aufgang der phýsis hat gerade nicht den Charakter der techné: Der poietischen Herstellung in eine dauerhafte Gestalt. Rückgriffe auf einschlägige Vorlesungen (wie SS 1932 Der Anfang der abendländischen Philosophie, Anaximander und Parmenides GA 35 und Anklänge an die Abhandlung Vom Ursprung des Kunstwerkes) sind dabei unschwer zu bemerken. Die klarsten Explikationen aber gibt Heidegger weniger in einem begrifflichen als einem metaphorologischen, verbildlichenden Verständnis. So wenn er als Maxime festhält, »das Wesen der Zeit so ursprünglich (in ihrer ›Ekstatik‹) zu denken, dass sie als mögliche Wahrheit für das Seyn als solches begreifbar wird« (189), die zugleich auf den Raum bezogen ist. Erläuterung findet dies erst in der Topologie des ›Zeit-Raums‹, während der folgende Leitsatz auf den Gesamtzusammenhang hinweist: »Die Wahrheit des Seyns ist nichts geringeres als das Wesen der Wahrheit, begriffen und gegründet als lichtende Verbergung, das Geschehnis des Da-seins, des Wendungspunktes in der Kehre als sich öffnende Mitte« (189). Entscheidend ist dabei, dass Heidegger einer spekulativen Denkmethodologie ausdrücklich die Absage erteilt. Er versteht ›Denken‹, sofern es auf eine begründete Wissensform in der Weise der Hegel’schen Logik zielt, mit Platon und dann Hegel als begründeten, vermittelten Begriff, als Seins-Idee. Eine Seinsidee, sei immer schon auf eine bestimmte Formgebung von Sein bezogen und damit auf Seiendes. Das Sein selbst muss sie verfehlen. Mit einem näheren Blick auf Nietzsche, der erstmals die Bedeutung des Platonismus für die Ideation erkannt und den Übergang angebahnt habe, geht das Zuspiel in die thematische Abhebung des Sprungs über, als dessen Boden es bestimmt wurde.
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Erster und anderer Anfang: Konfrontation Heidegger hebt die gänzliche Andersheit des »anderen Anfangs« hervor, die über eine ›Umkehrung‹ hinausgehe. Damit sind ›Kehre‹ und ›Sprung‹ nicht einfach identisch zu nehmen, sondern selbst in ein Spannungsverhältnis zu bringen. Klar und begrifflich zentriert beschreibt Heidegger das Verhältnis so, dass im ersten Anfang, Platonisch, Sein die höchste Idee sei, die von der Hypothesis zum Anhypotheton transzendiert wird, »damit das Seiende selbst sich zeige« (229). 6 »Im anderen Anfang aber ist das Seiende, damit es die Lichtung, in die es hereinseht, zugleich trage, welche Lichtung west als Lichtung des Sichverbergens, d. h. des Seyns als Ereignis« (230). Leitfrage der Metaphysik nach der Seiendheit des Seienden und Grundfrage des anderen Anfangs treten in dieser Gegenstellung auseinander, wobei wiederum zwei inkunabelhaft ineinander gelegte Grundworte aufscheinen: Die Kluft bzw. »Erklüftung der Kehre des Ereignisses« (231) und die »Gründung des Grundes« (237), die auch mit dem Sprung bereits intendiert wird. Auffällig ist, dass Heidegger in einer Nummer dieser ›Fuge‹ den Sprung mit einem Epitheton bedenkt, das in Sein und Zeit exklusiv dem menschlichen Dasein vorbehalten gewesen war, nämlich dies, »geworfener Entwurf« zu sein (239). Immer wieder weichen die Bestimmungsversuche in ein bildhaft narrativ Nicht-begriffliches Element aus, in dem das ›Geviert‹, die Entgegnung von Menschen und Göttern als ›Erzitterung‹ und Grundgeschehnis evoziert wird, das das Dasein nur auszuhalten hat, das aber nicht von ihm zu bewirken ist. Man wird philologisch vergleichsweise leicht die Spurenelemente dieser Formierung erkennen können. Einerseits verweist sie auf eine Kondensierung frühgriechischer Philosophie, auf eher beschwiegene Momente der griechischen Tragödie und vor allem auf die Aneignung in Hölderlins Dichtung, in der Heidegger eine offensichtlich uneinholbare Grundartikulation der Seinserfahrung sieht. Orientierung gewinnt das Nachdenken in dieser Landschaft durch Kartographien, wie jene, dass die transzendentale Erkenntnisart, oder die ontologische Differenz innerhalb der Leitfrage nicht in den Bereich der »Eröffnung« der Lichtung des Seyns kommen, während der Sprung »Erfahrung der Geworfenheit sei und damit (die) Zugehörigkeit zum 6 Dazu W. Beierwaltes, »EPEKEINA«, in: ders., Fußnoten zu Platon, a. a. O., S. 371 ff., siehe auch ders., Gelassenheit, ibid., S. 389 ff.
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Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück
Seyn« nachweise (239). Die ›Zerklüftung‹ in der ›Kehre‹ verweist nicht nur auf die Entgegensetzung von Sterblichen und Göttern, sondern darauf, »dass die Verweigerung die erste höchste Schenkung des Seyns, ja dessen anfängliche Wesung selbst ist« (241), was auf die enge Verbindung hinweist, die zwischen Nichts und Sein besteht. Ist Sein doch gegenüber dem Seienden »Nichts«.
Einfachheit und ›Zerklüftung‹ Wiederholt expliziert Heidegger »das Quälende und Zwiespältige dieser Unterscheidung« (250), was sich im Text der Beiträge darin zeigt, dass die Textur zwischen formal-struktureller Analyse, sinnbildlicher Evokation und einer denkend-dichtenden Zwiesprache in Unentschiedenheit in der Schwebe bleibt; Korrelationen und Folgeverhältnisse herauszudestillieren, die für eine Klärung philosophischer Relationen unerlässlich wären, versagt sich Heidegger. Wenngleich unzureichend, so kann doch die Analogie zu einer mystischen Erfahrung oder Vision gezogen werden, die sich in ihrem Überlicht und ihrer nachfolgenden Entzogenheit der Begrifflichkeit entzieht, die aber zugleich derart besetzend ist, dass sie immer wieder umkreist werden muss. Das Schweigen, Signal des höchsten Punktes negativer Theologie, wird erreicht auf dem Umweg über Benennungen und Evokationen, deren Häufung und permanente Wiederholung. Auf den in herkömmlichen Folgerungen und Konstitutionstheorien nicht einzuholenden Ansatz der Seinsfrage verweist Heidegger, indem er von einer Weisung spricht, die das Sein als Ereignis sein lassen müsse. Damit aber ist wieder auf das Selbst in seinem ekstatischen Sinn verwiesen (265) »daß wir das Selbst eröffnend bestehen und im Selbst […] das Zu-sich und somit das Seyn als Ereignis sich verborgen öffnet« (265). Und wenig später: »Wenn so das Ereignis in die Selbstheit hineinscheint, dann liegt darin die Weisung zur Innigkeit« (265), wie sich die angeeignete »Zerklüftung« nun bestimmen lässt. Wenn man die begrifflich belastbare Linie näher herauszuarbeiten sucht, so stößt man auf Entsprechungen zwischen anderem und erstem Anfang. Nahegelegt ist eine Art von Metamorphose, wobei aber vor der Signatur des ›Sprunges‹ zugleich eine völlige Andersartigkeit angezeigt ist (279). Dies erweist sich belastbar in der Korrelation, die Heidegger zwischen der ›Zerklüftung‹ des anderen An208
Das Strukturprinzip der ›Fugen‹
fangs und den ›Modalitäten‹ des ersten Anfangs in mehreren Anläufen namhaft macht. Auch auf dem fundamentalontologischen Weg arbeitet er bereits mit solchen Entsprechungen: zwischen den Kategorien und den Existenzialien. Heidegger hebt auch im Licht der Zerklüftung den »Vorrang der ›Wirklichkeit‹ vor der Möglichkeit heraus (281), der energeia, die – mit Aristoteles – aus dem Umschlag (der Verwandlung) in das Wesen (die ousía) zuurückführt (281). Die Zerklüftung fasst Heidegger dann als Artikulation, aber zugleich als Herrschaftscharakter des Seins, also gleichsam, um im Aristotelischen Begriffsfeld zu bleiben, als architektonisch kybernetisches Vermögen, das sowohl von »Macht« wie auch von »Gewalt« unterschieden werden muss. Die anzitierten Ähnlichkeiten können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heidegger das Explikationsnetz vor allem durch stabile Verneinungen zieht, denen keineswegs Bejahungen und positive Aussagen über das Wesen des Seins entsprechen. Streckenweise entsteht der Eindruck, dass Heidegger die stabilisierenden Motive aus der standardisierten seinsgeschichtlichen Abfolge wiederholt, aber Verweise auf die Ausgestaltung des anderen Anfangs nur andeutet und selbst nicht zur Darstellung bringt. 7 Ob ihm dies subjektiv möglich gewesen wäre und wie weit eine geformte Ausgestaltung der Seinsfrage sinnvoll sein konnte, ist zunächst eine offene, aber keineswegs sinnlose Frage. So wird im Licht des »anderen Anfangs« auf das Einfache verwiesen, »in dem sich alle Wesung angesammelt hat« (278). In einer Spiegelung auf den ersten Anfang wird es in einen Bezug auf die transzendentale Einheit der Apperzeption in Kants transzendentaler Deduktion gebracht: »Einmal war dieses Zergliedern und das Festhalten einer Erfahrung als der Erfahrung nötig« (279). Damit verbindet sich aber die Einsicht in die geradezu verzweifelte aporetische Situation, der Heidegger sich an diesem Punkt inne war: »Was wollen wir da erwarten von unserem ersten Tasten, wenn es noch ein ganz Anderes gilt, dafür Kant nur ein entferntes Vorspiel sein kann und dies auch nur, wenn es schon aus der ursprünglicheren Aufgabe begriffen ist« (S 279). Weder die Zergliederung von Strukturen (280) noch ein »nur in 7 Vgl. Heidegger, GA 70, Über den Anfang, a. a. O., S. 17 ff. Zu den Konstellationen des Anfangs auch: K. Held, »Husserl und Heidegger über den Anfang der Philosophie«, in: Heidegger und Husserl, a. a. O., S. 69 ff. Siehe auch vor diesem Hintergrund den Dokumentationsteil, a. a. O., S. 9 ff.
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›Zeichen‹ stammelndes So-tun, als werde etwas ausgesprochen« (280) kommt der Aufgabe nahe, womit eine unübersehbare Abgrenzung zu Jaspers »Chiffern der Transzendenz« (280 f.) gezogen ist. Eine andere nachvollziehbare Spur einer parallelisierenden Übertragung bilden Topoi aus Sein und Zeit, vor allem das ›Sein zum Tode‹; firmiert doch der Tod auch im »Anderen Anfang« als wesentliches Spezifikum, das die Seinsfrage auf ihren Grund bringen und Dasein als »abgründigen Grund« eröffnen soll (286).
Vorblick: In den Grund In keiner Notiz des ›Vorblicks‹ kommt Heidegger auf die ›Gründung‹ zu sprechen. Auffällig ist, dass die Rede vom Dasein weitergeführt wird, dessen Charakteristikum im anderen Anfang aber, wie Heidegger nun bemerkt, »das uns noch ganz Befremdliche« (297) sei, wobei auch zu erkennen ist, dass die phänomenhafte Bedeutung des Daseins, dem es in seinem Sein nur um dieses Sein selbst geht, erst in der Artikuliertheit des anderen Anfangs auszuschöpfen ist. Häufiger begegnet bei Heidegger aber eine allgemeine Rede von »dem Menschen«, die aber die Spezifizierungen der Analyse des Daseins vermissen lässt. Heidegger setzt den Redegebrauch von der schulmetaphysischen Bedeutung als »omnitudo realitatis« ab (296), und verweist darauf, dass der Mensch sich ins Dasein gründe. Es selbst wird bestimmt als »der eigens sich gründende Grund der aletheia der physis, die Wesung jener Offenheit, die erst das Sichverbergen (das Wesen des Seyns) eröffnet und die so die Wahrheit des Seyns selbst ist« (296). Das Da der Ek-sistenz, so sagt Heidegger wenige Seiten später, sei selbst die »Wahrheit des Seyns« in dessen ›Inständigkeit‹ sich der Mensch aufhalten soll. Damit werde in dem ersten Durchgang in Sein und Zeit der Mensch aus allen anthropologischen Beziehungen herausgenommen. Da-sein wird deshalb in deutlicher Präzisierung gegenüber Sein und Zeit als das den Menschen in seiner Potenzialität auszeichnende Sein, der Grund von Sein, artikuliert. Deshalb sei Da-sein immer »seinsverstehend« (302 f.); seine Geworfenheit ist dem Sein und nicht einem Seienden selbst korreliert. In einem eigenen Unterprunkt b.) ›Das Dasein‹, die mit den laufenden Anmerkungen zu Sein und Zeit eng verknüpft ist, 8 umschrieb 8
GA 82, S. 80 ff., und S. 155 ff.
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Heidegger diese Sinndimension weiter, sodass die Verfassung von Dasein als »Wendepunkt in der Kehre des Ereignisses« (311) zu explizieren ist. ›Zukehr‹ und Abkehr, Seinsverlassenheit und die Charis des sich schenkenden Seins bilden dabei jeweils einen Gegenhalt, eine kontrapunktische Fügung. In einer Verständigung, die den Entwurfscharakter näher bezeichnet, spricht Heidegger auch von der Ein-bildung dieses Daseins »in die Lichtung« selbst (312); eindrücklich wird hier mit Bezug auf Kants Kritik der reinen Vernunft (312 f.) von ihm bemerkt, dass das Dasein gerade nicht aus dem Seienden herausführe, sondern dass alles Weltwissen nur soweit reiche, wie es im Dasein begründet sei. Eine Konzeption von Selbstheit wird angedeutet; »Die Schwingungsweite des Selbst richtet sich nach […] der Wahrheit des Seyns« (321), womit die allgemeinen anthropologischen Bestimmungen des Menschen als inadäquat destruiert wird, Menschsein sich also im Doppelsinn als ein ›Weg-sein‹ erweist. Selbstsein formiert sich nicht aus dem vorprädikativen Ich-bewusstsein, sondern aus der Beziehung des Daseins zur Wahrheit des Seins. Eben hier markiert Heidegger zugleich den Zusammenhang von Dasein und Volk, in einem Sinn, der, auch ohne dass dies expliziert werden müsste, an Hölderlins späte Hymnen anklingt, der Rückkehr aus dem Anderen ins Eigene. Wie vielfach in den Nietzsche-Vorlesungen, kommt es dabei zu einer metapolitischen Abwehrgeste, die den für die NS-Ideologie charakteristischen rassebiologischen Ethnizismus als Teil des Gestells begreift und, im Sinn politischer Ideengeschichte paradox, dem »Liberalismus« zuweist: »Nur vom Dasein her ist das Wesen des Volkes zu begreifen und d. h. zugleich jenes zu wissen, daß das Volk nie Ziel und Zweck sein kann und daß solches Meinen nur seine ›völkische‹ Ausweitung des ›liberalen‹ ›Ich‹-Gedankens zu der wirtschaftlichen Vorstellung der Erhaltung des ›Lebens‹ ist.« (319). In einem dritten Anlauf c) nähert sich der Abschnitt zur Gründung der Frage nach dem Wesen der Wahrheit selbst. Kaum etwas hat Heidegger insistenter und häufiger umkreist, als das Verständnis von aletheia als der ursprüngliche Sinn von phýsis, des von sich her Seins, das in seinem plötzlichen Aufscheinen (exaiphnès) zugleich sich entzieht und verschließt. Ihre Unfassbarkeit hat er selten so explizit thematisiert, wie in der Nummer 207: die aletheia verwehrt »ihrem Wesen nach jede Frage nach dem Bezug auf Anderes, etwa auf das Denken.« (329) Gefragt werden könne nach solchen Bezügen erst, wenn Wahrheit bereits, wie Heidegger es in der Platonischen Ideen211
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lehre erkennt, auf Richtigkeit geeicht und ihr aletheischer Ursinn preisgegeben ist. Die Unterscheidung zwischen ›Philosophie‹ und ›Denken‹ trägt dann relativ wenig aus, wenn sich aletheia, indem sie eben nicht »auf Zugänglichkeit und Offenbarkeit« festgelegt werden darf (333), jeder solchen Annäherung entzieht. Eine Annäherung, die Heidegger erst später auf dem Weg seines Sprachdenkens entfalten wird, kann an seine eigenwillige Zitation des Wortes aus dem ›Monologion‹ von Novalis anschließen, wonach die Sprache es an sich habe, nur um sich selbst bekümmert zu sein. 9 Für die Distanzierungsbewegung gegenüber dem ersten Anfang charakteristisch ist weiter die Aussage, aletheia bleibe überall »Unverborgenheit des Seienden, niemals die des Seyns; schon deshalb nicht, weil aletheia selbst in dieser anfänglichen Auslegung die Seiendheit (phýsis, Aufgang), idea, Gesichtetheit ausmacht« (332). Heidegger expliziert hier die Gleichursprünglichkeit der Wahrheits- und der Seinsfrage, sodass er beide auf ihren Grund führt, der sich aber zugleich wechselseitig als ›Abgrund‹ erweist. Hier zeigt sich besonders deutlich, dass nach Heideggers Auffassung die Fundamentalontologie noch dem ersten Anfang verbunden ist und auf ihrer Grundlage ursprünglich von der aletheia überhaupt nicht die Rede sein kann. Heidegger geht nun erst dem Grund und Abgrund des kohärenzund korrespondenztheoretischem Wahrsein seinerseits zugrundliegenden delotischen, aufdeckenden Geschehens der Wahrheit nach, 10 was in der bekannten Denkform geschieht, dass er das Geheimnis des Offenen seinerseits befragt. Das Offene ist in der Gegenrichtung des anderen Anfangs eben Ursprung des Offenen, sein Abgrund. Zugleich ist es »Sichverbergen, Versagung, in ihrem Offensein«; und eben darin gründet die Verhaltenheit und, in Anklängen an Meister Eckhart, »Gelassenheit«, die in Heideggers Spätphilosophie eine derart prominente Rolle spielt (340 f.). Überpointierungen verdeutlichen den Ansatz, so wenn Heidegger Wahrheit als »die große Verächterin alles ›Wahren‹« (331) bezeichnet, denn »dieses vergisst sogleich die Wahrheit« (ibid.). Lichtung setzt Heidegger damit als Erinnerungszeichen für das erste Aufleuchten der Wahrheit selbst. Die vergäng-
9 M. Heidegger, »Der Weg zur Sprache«, in: ders., Unterwegs zur Sprache, GA 12, S. 229 f. Siehe auch O. Pöggeler, Die Frage nach der Kunst. Von Hegel zu Heidegger, a. a. O., S. 23 ff. und D. Sinn, »Heideggers Spätphilosophie«, in: Philosophische Rundschau 14 (1967), S. 81 ff. 10 Sein und zeit, a. a. O., S. 212 ff.
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liche, endliche Lichtung, die Heidegger auch insistierend als »Lichtung für die Verbergung« umschreibt (351), werde, mit der Platonischen Ideation in eine unvergängliche Lichtmetaphysik transponiert. Ein eigener Unterpunkt (d.) widmet sich dann der Zugehörigkeit von Raum und Zeit zum Zeitraum: Auch hier liegt die Vermutung einer Metamorphose der transzendentalen Anschauungsformen von Raum und Zeit zugrunde. Wie Heidegger in seinen Selbstkommentaren zu Sein und Zeit betonte, habe er Raum und Zeit seinerzeit nicht ausreichend in ihrem Zusammenhang expliziert. Die Explikation des Zeit-Raums weist in diese Richtung. Sie verweist in den Ursprung der phýsis zurück, der aber seinen Ansatz und Ursprung im jeweiligen Dasein habe. Den Zeit-Raum, die Zugehörigkeit der beiden leitenden Kategorien des Endlichen, 11 versteht Heidegger dezidiert als »abgründig«, im Sinn der Bestimmung des Abgrundes als »die erstwesentliche lichtende Verbergung, die Wesung der Wahrheit« (380). Es zeigt sich also sehr wohl eine Bifurkation zwischen den beiden Grundbestandteilen, die aber nicht als Dialektik operationalisiert werden kann, wie Heidegger gegenüber einer denkbaren Hegel’schen Lesart immer wieder betont. Es sind wieder Bezüge des Gebens und Winkes, der aus der Ferne die Wahrheit des Seins annähert. Diese Berührungen von Scheu und Verhaltenheit können als die Leerstelle in dem Gefügezusammenhang verstanden werden, in die dann hörende Zwiesprache mit der Dichtung eingezeichnet wird. ZeitRaum bedeutet eine Verbindung und zugleich eine Disjunktion. Am Punkt eines der erstaunlich wenigen expliziten Bestimmungsversuche bemerkt Heidegger: »Raum ist die berückende Ab-gründung des Umhalts. Zeit ist die entrückende Ab-gründung der Sammlung« (385); womit der Raum, in transformierender Orientierung an Sein und Zeit und Kants Unterscheidung zwischen »innerem« und »äußerem« Sinn als Insistenz in Bezug auf die Welt erscheint, die Zeit aber als Ekstasis und als Sammlung der Vorstellungen thematisiert wird. Betont wird auch, dass der Abgrund nicht nur Negation ist, steresis oder privation, sondern Bezug auf den Grund in der Seinsweise des Versagten (379). Vgl. dazu G. Seubold, »Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 302 ff. und W. Ulrich, Der Garten der Wildnis. Zu Martin Heideggers Ereignis-Denken. München 1996, sowie Ph. Verstraeten, »Le Sens de l’Ereignis dansTemps et Etre«, in: Etudes philosophiques 1986.1, S. 113 ff.
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Heidegger lässt diese Überlegungen in die Aussage münden, Wahrheit sei selbst ihrem Wesen nach »Bergung«, und damit ein Geschehen-Lassen, sich Zeigen des Verborgenen, die Heidegger zugleich als »Bestreitung des Streits« thematisch macht, der zwischen Welt und Erde, Göttern und Menschen, sich abspielt. Die Fuge ›Die Zukünftigen‹ artikuliert eine große Erwartung an eine Zwiesprache der Lebenden und Toten, die die seinsgeschichtliche Wendung der Geschichte vorbereitet. Auf die Frage, wer jene Wenigen und Seltenen sind, die Heidegger auch die »Lanthanonten« nennt- nach Heraklit ist alles ›Edle‹ selten,- darüber gibt Heidegger letztlich nur den einen Namen ›Hölderlin‹ an. Auch wenn er unverkennbar Anspielungen aus dem ›Zarathustra‹ anführt, das »incipit tragoedia« in den Untergang und das Opfern dieser Wenigen, Seltenen evoziert, Nietzsche gehört in Heideggers Topologie nicht unter die lanthanontischen Existenzen. Bezeichnet er doch die letzte Grundstellung der Metaphysik und des »Willens zum Willen«. Einzig im lanthanontischen Zusammenhang wird deutlich, dass die Suche nach dem anderen Anfang mit dem Selbstsein eng verwoben ist; es mag das Selbstsein der exzentrischen Bahn Hölderlins sein, die zwischen Nähe und Ferne in ihrer Schwebe bleibt. Von den Lanthanonten, den Verborgenen, sprach unabhängig von Heidegger Walter Benjamin. 12 Auch in der Verbindung von Herkunft und Zukunft und in der Positionierung Hölderlins wäre eine Zwiesprache zwischen beiden möglich gewesen: 13 und der Beziehung lanthanontischer Existenz auf Hölderlin hätte Benjamin wohl kaum widersprochen. Doch eben hier hätte sich auch die vollständige Differenz zwischen Benjamins negativem Messianismus und Heideggers Seinsfrage ergeben. Hölderlin ist nach Heideggers Diktum »ihr [sc- der Lanthanonten] weitherkommender und daher zukünftigster Dichter. [Er] ist der Zukünftigste, weil er am weitesten herkommt und in dieser Weite das Größte durchmißt und verwandelt« (401). Walter Biemel, der bedingt durch seine schwere Kriegsverletzung Heideggers Freiburger Vorlesungen in den frühen vierziger Jahren hören konnte, erinnerte sich nachdrücklich daran, dass Heidegger niemals in der akademischen Lehre über Gott oder das Göttliche Vgl. zu diesen Korrespondenzen H. Seubert, »Über ›letzten‹ und kommenden Gott«, in: B. Vogel und M. Friedrich (Hg.), Der Mensch sein eigenes Experiment. München 2005, S. 327 ff. 13 Vgl. vorliegende Monographie weiter unten Dritter Teil 24. 12
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sprach. Die Anklänge an eine Gottessemantik, an eine denkende Soteria, die durch die Bezüge auf Gunst und Wink angedeutet waren, kommen allein in den zurückgehaltenen Ausarbeitungen und Schriftstücken, vor allem in den Beiträgen zur Ausformulierung und in der Rede vom ›letzten Gott‹ zu ihrem Ziel. »Der Gott«, im Anklang an den antiken monotheistischen Gottesbegriff, wird selbst in dem komplexen § 256 aus Gegensätzen heraus konstituiert; er, und nicht etwa der ›Übermensch‹, antwortet auf den mit Nietzsche festgehaltenen Tod Gottes; er wartet dem Menschen entgegen, geht aber, wie auch von Gott im 1. Buch Moses bezeugt, 14 vorüber. Nicht zu verkennen ist aber die Alterität und Gegentheologie zu jüdischem und christlichem Offenbarungsglauben: Ist doch für Heidegger der letzte Gott ausdrücklich der »ganz Andere« zu den Gewesenen, einschließlich dem biblischen. Die Problematik, dass Heidegger in sein Denken eine Mythopoietik einlegt, die eine religiöse Ausschließlichkeit markiert, muss (Vierter Teil, 27. Kapitel) eigens thematisiert werden. Sie ist alles andere als harmlos und mit dem antijüdischen Affekt aufs engste verbunden. Der ›letzte Gott‹ ist ein Mythologem, das an der Dionysos-Figur und der Gestalt des kommenden Gottes orientiert ist. Doch dieser Mythos wird von Heidegger erlösungstheologisch aufgeladen. Das Gefüge von Nähe und Ferne verdichtet sich an dem letzten, anderen Gott: »Die äußerste Ferne des letzten Gottes in der Verweigerung ist eine einzigartige Nähe, ein Bezug, der durch keine ›Dialektik‹ verunstaltet und beseitigt werden darf« (412). Ende und Anfang schließen sich in seiner Epiphanie wieder zusammen, die die Entsprechung von Mensch und Sein selbst erst ermöglicht, sodass das Seyn als ein Zwischen konstituiert ist. Der letzte Abschnitt ist, legitimiert durch einen Hinweis Heideggers auf eine zu wünschende Umstellung im Textbestand, dem Seyn selbst gewidmet. Er mündet in eine Fermate, eine höchst eindrückliche Konstellierung zwischen Sprache, Gottesfrage, Kunstwerk und Sigetik als Kunst des Verschweigens. 15 Vgl. dazu R. Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik. Frankfurt/Main 1962, S. 9 ff., aus exegetisch-theologischer Sicht G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes. Band 1. München 1963, S. 149 ff. 15 Diese Fügung führt die Beiträge auf einen Nullpunkt des Verschwiegenen, der sich weniger mit Manfred Riedels Hören auf die Sprache als vielmehr mit der absoluten Fermata der Dekonstruktion fassen lässt, womit ein Berührungspunkt zu J. Derrida erreicht wäre. Vgl. J.-G. Schülein, Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida, 14
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Am Beginn der letzten ›Fuge‹ resümiert Heidegger das Wesen der Metaphysik im Rückgang auf Aristoteles’ Verständnis der Ersten Wissenschaft als Wissenschaft vom Sein des Seienden im allgemeinen so, dass Metaphysik die »Rechtfertigung der Physik durch die ständige Flucht vor dem Sein sei (423); sie sei daher auch die »uneingestandene Verlegenheit zum Sein«. Abbreviativ notiert Heidegger, dass die künftige Philosophie Vorbereitung auf eine angemessene Auslegung Hölderlin’schen Denkens sei, ein Hören-können. Bei aller Entzogenheit und letztlichen Undenkbarkeit der Wahrheit des Seins bestimmt Heidegger Philosophie gerade als »Frage nach dem Sein« (424) doch so, dass diese Frage einen Geheimnischarakter birgt und die Philosophie auf eine Phänomenologie des dichterischen Wortes depotenziert und entzentriert. Heideggers Zuspitzung der Nietzsche’schen Frage nach dem »Nihilismus«, dem »unheimlichsten aller Gäste« spielt eine nachhaltige Rolle: Denn bestimmbar ist auf dem Weg der Metaphysik nur, dass es mit Sein selbst nichts ist, woraus die seinsgeschichtliche Inversion eine Ahnung gewinnt, dass Sein das Nichts zu allem Seienden sei. Heidegger umschreibt in der abschließenden Fuge Annäherungen an das Sein, die zugleich mehr oder minder erhärtete Verdrängungen sind, einerseits als »Meinen«, dann eine metaphysische Bestimmung, in der die Seinsidee als das »Allgemeinste«, koinon erscheint. Dies führt auf die Frage, weshalb nach dem Sein nicht gefragt werde? Weil, so Heideggers Auskunft, damit die unbefragtesten, schlechterdings vorausgesetzten Voraussetzungen (Kategorialität, Seiendes als Gegenstandserkenntnis) des ersten Anfangs erschüttert werden müssten: Dass er sich intentional immer auf Seiendes bezieht (444). Hinzukommt, dass Denken im anderen Anfang in eine passive Medialität versetzt wird, die aufnimmt, was vom Sein selbst ausgehen kann.
Denken und Schweigen Wenn Sein sich selbst in seiner Geschichtlichkeit zeigt und zugleich verbirgt, dann wird jeder Konstitution der Seinsfrage und aller transzendentalen Begründung damit die Absage erteilt. Die Destruktion gegenüber der gesamten metaphysischen Geschichte formuliert Hamburg 2016, wo das Schweigen als eine Art Mitte zwischen Metaphysik und Nicht-Metaphysik erwiesen wird.
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Heidegger selten deutlicher als in diesen Schlusspassagen. Seyn und die Annäherung daran, die Heidegger nun ein »Erdenken« nennt, sind isomorph. Das Erdenken muss also, in einer unauflöslichen Paradoxie, schon in der Mitte des Seins wurzeln, um die Wahrheit des Seins ahnen zu können. So hat »das Erdenken des Seyns […], sobald und sofern ihm der Sprung geglückt, sein eigenes Wesen als ›Denken‹ aus dem bestimmt, was das Sein als Ereignis er-eignet, aus dem Da-sein« (452). Gegenläufig zum ›Meinen‹ versteht Heidegger dieses ›Erdenken‹ des Seyns, als »Name des Fragens«, als einen Leitfaden, an dem entlang in die Nähe des Seins zu gelangen ist (458). Heidegger benennt aber an der angezeigten Stelle wieder eher die Schrittfolge der Destruktion verschiedener metaphysischer Grundstellungen seit Heraklit, als dass er den Übergang vollziehen würde (459). Bezogen auf Pathos und Verständnis des anderen Anfangs notiert er, dass der Seinsfrage, ähnlich wie den Begründungswegen der Klassischen deutschen Philosophie, eine Tendenz ins Titanische zukomme. »Wenn jedoch im Übergang aus der Metaphysik das Denken zum Erdenken des Seyns sich entscheiden muß, dann steigert sich die Gefahr der unumgänglichen Vermessenheit ins Wesentliche. Das Wissen von dieser Gefahr wandelt sich freilich auch, indem es, kaum jene nennend, die wesentliche Gefährdung verschweigt« (463). In diesen Zusammenhang des Seins fügt sich nach Heidegger die ›ontologische Differenz‹ ein. Sie gehöre, wie er notiert, in die »Grundstruktur des Da-seins selbst« (469) und zugleich ist die Relation von Seiendem und Sein in ihr präsent, was im Zusammenhang des Ereignisdenkens als »Ent-scheidung«, als eine Art innerer »Krisis« firmiert (470). Die eindringlichen Überlegungen zum Seyn führen dann zu einer Explikation des Da-seins als des »im Ereignis Ereigneten« (487), die die Schluss-sequenz der Beiträge, deren vielleicht markantesten Gedankenzusammenhang trägt. Die Beobachtung ist wesentlich, dass sich Heidegger auch in den Beiträgen noch um eine möglichst präzise Verschränkung des Daseins mit der Seinsfrage bemüht, auf das das Ereignis in spezifischer Weise zielt. 16 Sichtbar wird dies zum einen in der Aussage über die Sprache, die aus dem »Seyn« entspringe und deshalb zu ihm gehöre (501), die Dasein ist dabei nicht individuell und nicht personal aufgefasst. Vgl. O. Pöggeler, »Sein als Ereignis«, in: ders., Heidegger und die hermeneutische Philosophie. Freiburg/Br., München 1983, S. 71 ff.
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aber wesentlich im Schweigen wurzle. Die von Herder und Humboldt exponierte Frage nach dem Ursprung der Sprache wird auf den Riss, die offene Stelle des Gevierts bezogen. (510). Dieser verdichtet spekulative Gedanke hängt aufs engste mit der Tektonik des Ursprungs des Kunstwerks zusammen. Für den Ursprung des Kunstwerks bedeutet dies, dass es eben als Ins-Werk-setzen der schwebend flüchtigen aletheia ist, des Ursprungssinns von phýsis, der so in eine Dauer und ein Gefüge gebracht werden kann. Heidegger erkannte aber je länger je mehr, dass die Sprache die Grundvoraussetzung für Kunst ist: Sie fügt das Seiende in seinen Zusammenhang. Die Frage, die in ›Vom Wesen des Grundes‹ als Grundfrage der Metaphysik firmiert hatte, nennt Heidegger nun die ›Übergangsfrage‹, die in die »Schwebung des Seyns führe, und damit das »Warum?« des Topos: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?« mehr oder minder auflöse. Das Schweigen eröffnet den Bereich der ›Sigetik‹, einer Mäßigung, wie Heidegger formuliert, zugleich aber der Einweisung in jenen Riss, der sich zwischen erstem und anderem Anfang konstituiert.
14. Paralipomena und insistente Fragewiederholung: Die Geschichte des ›Seyns‹ In den folgenden Jahren schloss Heidegger an die Beiträge zur Philosophie verwandte Explikationen und Texte. Die Frage nach der Wahrheit des Seins, der Gang in den Grund, war offensichtlich bis auf weiteres unabschließbar und verlangte immer weitere Anläufe. So folgte im Jahr 1938/40 ›Die Geschichte des Seyns‹ und sehr viel knapper 1939/40 die Ausarbeitung koinon über die Reduzierung des Seinsbegriffs auf Allgemeinheit. Teilweise werden Aspekte thematisch gemacht, die in den Beiträgen im Hintergrund bleiben. Jene Texte sind bei weitem nicht so gründlich zur Kenntnis genommen worden wie die Beiträge, dabei setzen sie aber unverkennbar einen eigenen Akzent. Sie zeigen mithin auch die Mehrstimmigkeit des anderen Anfangs. Heidegger betont in der Ausarbeitung zur Seinsgeschichte noch einmal, dass das anfängliche Sein der Grund ist, der in der gesamten Geschichte der Metaphysik die Ausgestaltungen des ›als‹-Seins trägt. Er akzentuiert dabei die »aletheia der phýsis« (69.9). Doch zugleich weist er dem Seyn eine gleichsam eschatologische Dimension zu: »Das Seyn wird sich zu seiner Stunde des Gemächtes des Menschen erwehren und selbst die Götter noch in seinen 218
Paralipomena und insistente Fragewiederholung: Die Geschichte des ›Seyns‹
Dienst nehmen« (9). Der gegenwendige Streit von Welt und Erde wird dabei letztlich preisgegeben. In größter Deutlichkeit thematisiert Heidegger dabei, was in den Beiträgen angedeutet ist, die Machenschaft und das planetarische Gestell, und er bezieht beide auf den »geschichtliche[n] Augenblick: »1. Was herrscht: die Macht der Diktatur? 2. Wo ist das ›Ereignis‹ und die ›Kraft‹ der Überwindung?« (20): Eitelkeit der Mitläufer, Leere derjenigen, die in die Vergangenheit fliehen und der »Lärm der Dazugehörigen zur Gegenwart« (ibid.). Auch wenn Heidegger in den Konkretionen der »Seinsverlassenheit« als der Haltung am Ende der Metaphysik primär den Kommunismus in den Blick nimmt (39), sieht er in der Seinsverlassenheit der Metaphysik des Willens zur Macht das Sich-entziehen der Wahrheit des Seienden besiegelt und verweist damit auch auf den NS-Totalitarismus. Die Wahrheit des Seins und seiner Geschichtlichkeit wird durch den neuzeitlichen Historismus konterkariert (15 f.), den Heidegger pointiert in diesem Verständigungszusammenhang aufnimmt. Er firmiert bei ihm janusköpfig als ›Modernität‹, der die einen folgen würden, während andere »gegen die Zeit« sein wollten, sie aber »gleichwohl benützt[en] und ausmünzt[en] für die Gegnerschaft« (15 f.). An dritter Stelle nennt er den ›Sprung‹ der Wenigen und Seltenen, über die ›Zeit hinaus‹, »nicht nur in deren (der Gegenwart) ›Zukunft‹ sondern in eine wesentlich andere Geschichte« (16). Als verborgene lanthanontische Grundstimmung zu dem, was komme, begreift Heidegger die Haltung von »Groß- und Langmut« (ibid., 31), worin eine deutliche Abstandnahme gegenüber dem Gestus des NS-Totalitarismus sich abzeichnet, der, wie oft, wenn Heidegger sich dem weltgeschichtlichen Rayon zuwendet, mit der ganz anderen Heilsperspektive der christlichen Erlösung gleichgesetzt wird. »Der Verzicht auf ›Lebensinteressen‹ und ›ewige Seligkeiten‹ als Maßstäbe des Seienden und seiner Betreibung« (31), woraus eine »überwartende Zuversicht aus dem Wissen des Seyns« hervorgehe (31). Jenes Ende manifestiert sich in einem planetarischen Kommunismus, der weiter reicht als die marxistisch-bolschewistische Ideologie. »Das metaphysische Ereignis der Vollendung der Neuzeit ist die Ermächtigung des ›Kommunismus‹ zur geschichtlichen Verfassung des Zeitalters der vollendeten Sinnlosigkeit« (37). Heidegger beschreibt hier in großer Klarheit das Ende der Seinsgeschichte in der Verwirrung der Ideologie. Dabei werden Merkmale eines Verfehlens der Wahrheit des Seins expliziert, dem er selbst in seinen Überlegungen und ›Aufzeichnungen‹, den Schwarzen Heften, narrativ folgte. Einen Ansatz 219
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politischer Urteilskraft, die im historischen Sinn der totalitären Verführung der Überlegungen/Schwarze Hefte konterkariert, wird man nicht erwarten dürfen. Die einschlägigen seinsgeschichtlichen Bemerkungen können aber einen denkerischen Maßstab setzen, der Heideggers ideologische Tendenz aus seinem Seinsdenken als ein weiteres Symptom des Zeitalters nach dem Ende der Metaphysik aufweist. Bemerkenswert an dem besprochenen Konvolut ist, dass Heidegger ›das Seyn‹ in der letzten seinsgeschichtlichen Konstellation der Macht und Machenschaft kontrastiert. Er zielt dabei keinesfalls auf eine Einhegung von Macht, sondern auf die innere Krisis selbst (58 f.), in der aus der Macht der andere Anfang sichtbar werden könne. Die mit Nietzsches letzter Metaphysik etablierte Macht, »Ermächtigung ihrer selbst in die Übermächtigung«, »Macht ›ohne Ziel‹« (63) wird als Abstoßungspunkt jener Entscheidung exponiert, sodass zum Wesen der Macht »die Verzwingung in die Wahrheitslosigkeit« (65) gehört. Die Macht der Selbstermächtigung ist Bestimmung nicht nur dessen, was ›Recht‹ ist, sondern auch »was ›Größe‹ und ›Kampf‹ bedeutet« (ibid.). Die griechische Grundstellung von dynamis als Möglichkeit, wird völlig in der Macht-Topik aufgelöst. In jenen Passagen findet sich eine in der Diskussion um die Überlegungen, Schwarzen Hefte nicht herangezogene seinsgeschichtliche Anatomie der in politische Gewalt umschlagenden Seinsvergessenheit. Innerhalb ihres Blickkreises werde ein Grundsatz in Anspruch genommen, den auch die Metaphysik zuvor wiederholt in Anspruch nehme, die Aussage nämlich, dass »Freiheit« Notwendigkeit ist (67). Es bedarf keiner allzu eingehenden und tiefdringenden Studien, um zu erkennen, dass Heidegger diese Gleichsetzung auch wiederholt in Anspruch nimmt. Die Formulierung begegnet in Systemen des Deutschen Idealismus im transzendentalphilosophischen Fokus, bei Hegel und Schelling, 17 sie kann aber auch in der Kennzeichnung des Seinsdenkens eine Rolle spielen. Die seinsgeschichtlichen Bemerkungen erfordern hier eine schmale, doch klare Differenz: Denn im Horizont der Machenschaft versteht Heidegger die Identifikation von Freiheit mit Notwendigkeit als fulminanten Irrtum. Klassische und in der neueren politischen Philosophie wiederaufgenommene Unterscheidungen zwischen ›Macht‹ und ›Gewalt‹ thematisiert Heidegger Heidegger greift sie dementsprechend auf vor allem in GA 49 und in GA 68, S. 65 ff.
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nicht; 18 vielmehr bestimmt er Macht eo ipso schon auf Gewalt und ihre Zerstörung hin und versteht sie weiter als »Wesung des in seiner Wahrheit ungegründeten Seins« (69). Die Macht brauche Gewalt und sei daher auch mit »Verbrechen« im planetarischen Sinn, des Gestells und der planetarischen Technik verwoben. Das System werde vor diesem Hintergrund zu der Vorgehensweise, in der sich die Macht weitergehend etabliert. ›Unterwerfung‹ und ›Nivellierung‹, ebenso eine Öffentlichkeit, die aber nicht im Sinne von durchgreifender Publicität, also in der Kantischen Bedeutung von Öffentlichkeit (83), sondern von einer Antilektik der Verwirrung bestimmt ist und »Meinungsbildung zu untergraben« versucht, kommen ins Spiel. Dass sich darin eine kritische Position abzeichnet, die gerade auch auf die später weltweit vernetzte Gesellschaft bezogen werden könnte, ist nicht zu übersehen. 19 Sehr prägnant wird damit formuliert: »Das Wesen der Macht als Machenschaft vernichtet die Möglichkeit der Wahrheit des Seienden. Sie ist selbst das Ende der Metaphysik« (71). Das anfängliche seinsgeschichtliche Denken stößt sich gerade von jener machenschaftlichen Letztstellung ab, was sich in seiner ›Unvorhergesehenheit‹, seinem ›Ungewöhnlich‹-sein (84), aber auch im Grundzug des ›Geringen‹ zeigt: alles Figurierungen, mit denen Heidegger auf sein spätestes Denken vorausverweist. Ein zweiter Ankerpunkt jener Aufzeichnungen gilt der ›Geschichte‹ und Geschichtlichkeit und damit dem Grundverhältnis von menschlichem Dasein und Sein selbst. Wiederholt rekurriert Heidegger auf die Struktur von Sein und Zeit, so wenn er festhält: »Das Dasein wird im ersten Entwurf (Sein und Zeit) als das für diesen fortan Gegebene genommen und dann befragt. Gleichwohl ist das Da-sein nur in der Er-eignung und d. h. wesend in der erst anfangenden wesentlichen Geschichte« (57). ›Geschichte‹, wie Heidegger sie hier evoziert, wird konsequent sowohl von der Historie und dem durch sie bestimmten Historismus in seiner Relativierung und Pulverisierung dauerhafter Orientierungen als auch von »Geschehens«-Erzählung (93 f.) unterschieden.
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt. München 1970 u. ö., stark von einer ontologischen, auf Aristoteles zurückgehenden Lesart wieder aufgenommen bei M. Müller, Macht und Gewalt. Prolegomena einer politischen Philosophie. Freiburg/Br. 1999. 19 Vgl. dazu V. Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins. München 2012 und H. Seubert, Digitalität: Polis und Seele im Zeitalter ihrer virtuellen Simulierbarkeit. Baden-Baden 2019, S. 6 ff. 18
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Im Licht der Abgrenzung gegenüber ereignisgeschichtlichen Zugängen versteht es sich, dass narratologische Annäherungen an Heideggers Spätphilosophie auf einer vordergründigen Ebene bleiben. 20 Die Abgrenzung gegenüber Sein und Zeit wird dabei so formuliert, dass Geschichte gerade nicht vom Dasein her hinreichend begriffen werden könne (vgl.95): Denn »Geschichte ist die Gründung der Wahrheit des Seyns, so zwar, daß diese Gründung als solche Ereignung ist im Ereignis als Austrag« (95). Geschichte verdichtet sich dabei in den kairós des Ausbrechens des Seins, »aus dem Ereignis der Jähe – Steile und Sturz« (93). Eindrücklich grenzt Heidegger deshalb auch das ›geschichtliche Denken‹ gegen eine Legitimation aus naturwüchsigen Genealogien ab und desavouiert damit jede biologistische Deutung von Geschichte. Das nur biologisch gefasste Leben reicht an diese Dimension nicht heran, wie Heidegger in dem Nachlasskonvolut eindeutig vermerkt; in den Nietzschevorlesungen hätte streckenweise der Eindruck einer Durchlässigkeit des biotischen Lebensbegriffs auf die phýsis als Ursinn von Wahrsein und Sein aufkommen können (99). 21 Dieser Anschein verlor sich, je mehr sich Heidegger bewusst wurde, dass Nietzsche gerade nicht mehr den Anfang der phýsis berührt. Dem »billigen Absehen auf ›Volkstum‹ und dgl.« (100) wird eine Absage darin erteilt, dass solche Konzeptionen einen seinsvergessenen Historismus fortschreiben und im Bereich von Technik und Machenschaft bleiben. Das Konvolut formuliert Überlegungen zum »letzten Gott«, dem Kommen und Entgegenwarten und der Entgegnung von Welt und Erde als Austragung des Ereignisses (Nr VIII, 105–111). Ebenso wird versucht, die Topologie der Seinsgeschichte klarer zu fassen vor dem Hintergrund, dass Seyn in dieser Geschichte nur verborgen präsent sei. Deshalb sei das »vom Seyn er-stimmte Denken« nicht einfach »Umdrehung der Metaphysik« (117), ein Topos, den Nietzsche im Verhältnis zu Platon prominent gebrauchte. 22 Eine methodisch und veritativ überzeugende abschließende Version dessen, wie erster Vgl. A. Iorio, Das Sein erzählt. Heideggers narratives Denken. Frankfurt/Main 2017. Am ehesten ist eine solche Narrativität in Heideggers ›Schwarzen Heften‹ zu konstatieren. Ob die Denkform narrativ ist, ist auch hier allerdings zu bezweifeln. 21 Dazu W. Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen Band III. Berlin, New York 2000, S. 80 ff. 22 Vgl. Beierwaltes, EPEKEINA, a. a. O., und Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 87 ff. 20
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Paralipomena und insistente Fragewiederholung: Die Geschichte des ›Seyns‹
und anderer Anfang zueinander stehen, gelingt Heidegger aber nicht. Nicht so sehr von Verwindung ist hier die Rede, sondern vom »Aufgeben der Metaphysik schlechthin« (117) und von einem »Eindrehen« und »Erdrehen« der Wahrheit des Seins selbst. Wenn man die heterogenen Einzelzüge in Heideggers Nachdenken reflektiert, wird man wieder fast religiös soteriologische Sprachformen finden: Schenkung, Besinnung und Gnade (118 f.). Daneben aber schreibt Heidegger eher vordergründige Zeitanalysen in diese Konvolute ein. So Nr. 106 (119 ff.). über ›Russentum‹ und ›Deutschtum‹, die beide in dem Krieg des Jahres 1941 aufeinander trafen. Ausbeutung, Rohstoffnutzung, Machination werden als die »eigentliche Gefahr« evoziert und nicht etwa der Bolschewismus. In den vielfachen Wiederholungen pointiert Heidegger immer wieder den ›Übergang‹ und das Zwischen von erstem und anderem Anfang, in dem nichts zu Eindeutigkeit und Darstellungsklarheit komme (134) und die sich ereignende Wahrheit des Seyns nur vorbereitet werden könne (135). Die Fugen der ›Seynsgeschichte‹ verweisen auf die später auch in Vorlesungen mitgeteilte bis ins Paradoxe reichende Spannung innerhalb des ›Seyns‹, dass es »das Leerste und der Reichtum« sei, das »Allgemeinste und das Einzige«, das verständlich zutage liegende und eigentlich Verborgene (139). Es ist deshalb durchaus schlüssig, wenn die derart anigmatisch in einen Übergang führende »Geschichte des Seyns« in eine Schwebe des Schweigens, die Sigetik, gebracht wird: »Das Anfängliche sagen und so sagen, daß eine Erschweigung des Sichverschweigenden (des Seyns) von diesem er-eignet ist. […] Das Anfängliche sagen, so daß im ersten Anfang der andere anfängt« (135), wobei Heidegger hinzufügt, dass der Anfang »un-endlich« sei und deshalb in keiner Geschichte aufgehe. Seyn und Nichts konvergieren, genauso wie das »anfängliche Wort und die Verschweigung« hält Heidegger in Sätzen fest, die sehr nahe an eine religiöse Eschatologie rühren (140). Ein anderer Zugang zu der Verborgenheit deutet sich über eine Analyse von ›Stimmungen‹ an. Wenn Heidegger im Konvolut XIII. das ›seynsgeschichtliche Denken‹ im Licht der Stimmungsanalysen aufnimmt, so wird die Grundstimmung durch bekannte Topoi weiter erläutert. Das Fragen mündet in ein reines Finden des ›Reinentsprungenen‹, die Verbindung von »wesentlichem Denken« und Nennen des Wortes und wie Gedächtniszeichen, die für sich selbst stehen, schei223
Anderes Hauptwerk und arkanes Schriftstück
nen dazwischen Vorsokratiker- und Hölderlin-Sätze auf (173). Diskursiv einlösbar ist nur, dass Heidegger das Denken des Anfangs und die Philosophie noch aufeinander hin ordnet, allerdings so, dass er seinerzeit erklärt, die Philosophie müsse überwunden werden (169). Er setzt allerdings hinzu, jene Überwindung sei grundsätzlich etwas anderes als eine geringachtende Abwehr und Ablehnung. Wie auch an anderen Stellen, betont Heidegger vor allem, was der andere Anfang nicht ist. Er ist demnach nicht ›Kunst‹, nicht ›Politik‹, auch nicht Wissenschaft, wobei sich aus der Absage heraus auch die Frage stellt, ob im seinsgeschichtlichen Denken diese anderen Bereiche überhaupt noch eine eigene Existenz haben können. Dies ist das Problem einer Metontologie und eines Kanons oder sogar Systems des Seinsdenkens, das Heidegger mittlerweile grundsätzlich verneint. Er deutet an, dass diese Bereiche im Licht des anderen Anfangs »nicht mehr sein können« (167). Hier erheben sich weitere Fragen: Steht diese Radikalität noch irgend in einem Kontinuitätszusammenhang mit den Traditionen des ›ersten Anfangs‹, mit Anklang und Zuspiel, oder formt sich hier eine gnostische Entscheidung des reinen Entweder-Oder, die dann auch eine Formulierung wie jene Richard Rortys legitimieren würde, wonach es um die Alternative entweder der Politik oder der Philosophie gehe. Die Frage könnte auch dahin gewendet werden, ob sich die Sache des anderen Anfangs frei von den apokalyptisch-eschatologischen Einschlüssen gewinnen lässt.
15. Koinon als Grundbestimmung metaphysischer Sätze? Unter die Überschrift koinon bringt Heidegger den seingeschichtlichen Begriff der Machenschaft mit Nietzsches Wort von der Wüste, die wächst, in Zusammenhang. Wenn Metaphysik das Wesen des Seienden auf das koinon, die Allgemeinheit, summiert, so ist darin schon die Verwüstung und Machenschaft angelegt (47). Das koinon-Zeitalter ist die Epoche der sich vollendenden und überschreienden Metaphysik, die Zeit eines umfassenden Nivellements, in der nur »im Allgemeinen« und »überhaupt« auf Seiendes verwiesen wird. Heidegger geht aber nicht den Spuren einer Metaphysik des Einzelnen, der Individualität von Dingen und Personen, nach, wie sie sich zwi224
Koinon als Grundbestimmung metaphysischer Sätze?
schen dem ›to de ti‹ und der Leibnizischen Monade und ihren vielfachen Wiederaufnahmen abzeichnet. Anzumerken wäre, dass Metaphysik keineswegs eo ipso die Individualität vergessen und von ihr absehen muss. Machenschaft bedeutet, wie Heidegger bemerkt, dass die phýsis das von-sich-her-Sein in den Horizont einer umfassenden Machbarkeit einrückt und die Welt poietisch herstellt, in einen Bestand einrückt. All dies verbindet sich mit dem Riesenhaften und einer »totalen Mobilmachung«, die letztlich in den »totalen Krieg« mündet. Kontrastiv markiert Heidegger deshalb eine Macht aus der Ohnmacht, eben das Geringe und gänzlich Andere des ›anderen Anfangs‹: Weiter entfernt könnte ein Denken vom Zeitalter der Ideologien und den Rasereien des Faschismus kaum ansetzen, allerdings auch nicht weiter von konkreten Interventionen und Einwänden. Im Zeichen der Koinon-Frage werden deshalb auch bekannte Modelle des Verhältnisses von erstem und anderem Anfang revidiert und verworfen. An wenig beachteter Stelle vermerkt Heidegger: »39. Koinon Zu Gang Kein ›Übergang‹ und keine ›Überwindung‹ – dieses alles ist noch gedacht im Widerspiel zum Gemächte innerhalb der Machenschaft« (45). Und wenige Zeilen später diagnostiziert er unter demselben Rubrum: »›Übergang‹ und ›Überwindung‹ sind historisch-technische, keine seynsgeschichtlichen Bestimmungen« (ibid.) Ähnlich wie in Formen mystischer Religiosität, wo gerade die Abwesenheit des Göttlichen und die erfahrene äußerste Entfernung von ihm als dessen Nähe und Mitteilung wirksam sind, 23 bemerkt Heidegger im Sinn des ›Koinon‹: »Die Verwüstung und die Seinsverlassung und Verwahrung des Seyns in ihm selbst als dem verborgenen Austrag ist Geschichte des Seyns (Wesung seiner Wahrheit)« (ibid.). Die Aufzeichnungen am Ende der dreißiger Jahre bestätigen also den Eindruck, dass erst in der totalitären bzw. technokratischen Gegenzeit die Frage nach dem Sein selbst exponiert werden kann, zu der im Zeichen der Seinsverlassenheit ein Zugang überhaupt möglich ist. Die koinon-Passagen sind apokalyptische, aber nichtsdestoweniger eindrückliche Analysen der Weltlage 1939/40, die, von Nietzsche und Ernst Jünger ausgehend, die negativ-nihilistische Perspektive
Vgl. zu diesen Strukturen P.-L. Coriando, Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen Zeit-Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers ›Beiträge der Philosophie‹ (Vom Ereignis). München 1998, S. 14 ff.
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eines gegenwärtigen Weltalters umschreiben. 24 Nietzsche und Jünger deutet Heidegger dabei gleichermaßen als Symptome und als Diagnostiker der eigenen Epoche. Seinsgeschichtlich verknüpft er die Verheerungen und Zerstörungen im gegenwärtigen Weltalter mit der unifizierenden, Identität fordernden Indifferenz der Allgemeinbegriffe. Macht komme in ihr Wesen und erweise sich als »Sein des Seienden« (182), wobei sich als ihr Proprium zeigt, dass sie nicht nur »keine Ziele hat, sondern gegen jede Zielsetzung in der reinen Ermächtigung ihrer selbst sich behauptet« (ibid.). Dies eben erweise sich im Kampf um die Weltherrschaft. Eine Hegung und Eingrenzung der Macht, namentlich durch Rechtsform (184 f.), ist gänzlich unmöglich. Dass der Unterschied zwischen Krieg und Frieden schwindet, auch im Frieden die umfassende Machenschaftlichkeit tobt, beschreibt nach Heidegger jenen Weltzustand. Es ist nicht eine Projekton. Leitunterscheidungen der sittlichen und politischen Tradition sieht Heidegger gänzlich außer Kraft gesetzt, weshalb zwischen dem »demokratischen Schein« (189 f.) und der totalitären Innenseite einer Mobilisierung der Massen durch eine Partei kein Unterschied bestehe. Dass der ›Kommunismus‹-Begriff des koinon-Kapitels weiter reicht als die gängigen Charakterisierungen betont Heidegger selbst. Jede Einparteien-Herrschaft ist letztlich machenschaftlicher Kommunismus, denn erst durch die Herrschaft einer Partei würden die Massenbewegungen geformt, deren sich der Machtdrang bediene, sodass alle Widerstände in der Machtentfesselung überwunden würden. Erst recht bestehe er nicht in qualitativer Weise zwischen den Parteiungen des Weltbürgerkriegs. Zwischen den ausgerufenen ›Ideen‹ und ›Idealen‹ sieht Heidegger keinen Unterschied, weshalb man nicht zu weit gehen dürfte, wenn man den seinsgeschichtlichen Begriff des »Kommunismus« so weit fasst, dass er auch Faschismus und NSTotalitarismus mit umfasst. Beide sind sie geformt durch die »Einförmigkeit«, aber auch die Unterscheidung zwischen den Vielen und den Wenigen, der Massenpartei und den Kadern, die Heidegger prägnant herausarbeitet. Konstituiert werde der Zusammenhang jener Kader, äußerstes Gegenbild zu den Lanthanonten als den »Wenigen«, »Seltenen« (194), »in jenem kalten Mißtrauen, aus dem Jeder den AndeG. Figal, »Der metaphysische Charakter der Moderne. Ernst Jünger Schrift ›Über die Linie‹ (1950) und Martin Heideggers Kritik ›Über ›Die Linie‹‹ (1955)«, in: H.-H. Müller, H. Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. München 1995, S. 181 ff.
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ren überwacht und dergestalt sich an ihn bindet. Dieses Mißtrauen […] entstammt der tiefen Angst vor jeder ungemäßen Störung der Machtermächtigung« (194). Dass auch Moralität und Sitte zerrieben werden und deshalb am Ende des seinsgeschichtlichen Weges keine Gegeninstanzen sind, formuliert Heidegger an einer Stelle der koinon-Ausarbeitung in einer Klarheit, die man sonst nicht bei ihm findet und die auch den Abstand zu moralischen Grundbegriffen und -orientierungen, etwa im Humanismus-Brief, erst verständlich macht. Es müsse deutlich werden, »daß gerade der ehrlichste Kampf für die Rettung von Freiheit und Sittlichkeit nur der Erhaltung und Mehrung eines Machtbesitzes gilt, dessen Mächtigkeit deshalb keine Befragung duldet, weil der Vordrang der Macht als Sein des Seienden sich bereits der Moralität und ihrer Verteidigung als wesentliches Machtmittel bemächtigt hat« (183). Diese Diagnose könnte eine Ideologiekritik in der Art der Frankfurter Schule als vollständigen Verblendungszusammenhang, als fehlendes richtiges Leben im falschen verstehen. 25 Sie wäre mit Heidegger in der apokalyptischen Grundhaltung geeint, würde sich aber um die Abgründigkeit der Seinsfrage nicht kümmern, der Heideggers zentraler Blick gilt. Auch einem Heroismus wird sich der andere Anfang nicht verschreiben, gehöre er doch der vergehenden Welt der Machenschaft an (197), wohl aber ist es das ›Innestehen‹ in der Verheerung, ein Standhalten und Überwinden in einem Übergang, dessen Möglichkeit in konkreter Existenz Heidegger erwägt, und es ist damit der Schmerz, dessen Ethos er evoziert. Die Lanthanonten harren aus. Sie sind Exilierte im Eigenen. Darin ist ein Widerständigkeitsgestus angezeigt, den sowohl die Rektoratsrede wie auch die Gelassenheit der Feldweg-Gespräche vermissen lassen. 26 Er ist nicht mit politischen Maßstäben zu fassen, doch legen sich zumindest Formen der Dissidenz, wenn nicht der Verfolgung nahe. Was Heidegger in concreto dazu bemerkt, bleibt Andeutung. Wie in einem Kommentar zu den Rilke-Zeilen: »Wer spricht von Siegen/Überstehn ist alles« (197) kommentiert er, Überstehen sei das »hinüberstehende Erstehen einer Stätte des Kommenden« (197). Die Dimensionierung der Stille, das M. Pauen, Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne. Berlin 1994. 26 Vgl. auch, allerdings von einem politischen Fokus her, F. Grosser, Revolution und Denken. Heidegger und das Politische. München 2011, S. 280 ff. 25
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Verhältnis zur Inwendigkeit des Daseins: Topoi, die im späten Denken Heidegger den Klang bestimmen werden, sind hier vorgeprägt. Es ist deshalb gänzlich absurd, wenn man, wie jüngst wieder Claudio Magris, das Heidegger’sche Andenken der phýsis als vormodernen »Naturkitsch« zu desavouieren sucht. 27 Ganz im Gegensatz dazu ist die Verhaltenheit des Seinsdenkens in den koinon-Aufzeichnungen Gegenbild zu einem rasenden, sein Maß verlierenden Zeitalter. In diesem Zusammenhang kommt Heidegger damit auch auf den »kommenden Gott« zurück: »So ist der Gott, das Seyn zu seiner Not erwählend, der äußerste Gott der ein Machen und Vorsehen nicht kennt. Der letzte Gott verteilt keine Tröstungen (211). »Verweigerung« und »Fehl« dieses letzten Gottes zeigen sich gerade darin, dass er weder Schöpfer noch Tröster ist. Kritisch wird diese Konzeption erst, wo sie von Heidegger als Antidotum zu jeder personalen Gottesauffassung, zumal der jüdischen und christlichen, aufgefasst wird und auch den Gedanken des um den Menschen bekümmerten Gottes in der Platonischen Politeia zurückweisen müsste. 28 Ob darin nicht ein gnostischer Rest aufbewahrt bleibt, eine strikte Trennung zwischen ›Soteria‹ und der demiurgische Verfassung der Welt, bleibt zu fragen (222). Auch das Verhältnis des Gottes, die grundlegende Problematik zum Seyn bestimmt Heidegger näher: Es ist keine Identität, es ist auch kein Analogieverhältnis im Sinn einer Bestimmung des Gottes als »summum ens«, und es ist nicht so, dass Sein selbst als Schöpfung des Gottes zu verstehen wäre. Vielmehr bedarf er der Verortung in dem Sein selbst, das zwischen phänomenalem Sich-Zeigen und SichVerbergen zwiegespalten bleibt. In den Koinon-Aufzeichnungen betont Heidegger deshalb auch, dass Nationalismus und spätere Rasseideologie eine Folge der in Seinsverlassenheit ausgelaufenen Subjektivität (222 f.) und deshalb reine Epiphänomene der Machenschaft seien, was zugleich bedeutet, dass sie im Seinsdenken keinen Ort haben.
27 C. Magris, Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen. München 2011, S. 33 f. 28 Vgl. den Berührungspunkt von Pol. III und Nomoi XII mit der offenbarungstheologischen Figur des Gottes, der sich um dne Menschen kümmert. H. Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, a. a. O., S. 208 ff.
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Den undenkbaren Anfang denken
16. Den undenkbaren Anfang denken Während sich der Koinon-Band der ›Seinsgeschichte‹ und der Letztstellung der Metaphysik widmet, figuriert das 1941 entstandene Konvolut über den Anfang (GA 70) eben dieses anfängliche Denken noch einmal genau aus. Eine Methodizität der ›Fugen‹ wird dabei zwar nicht entwickelt. Doch folgt der Aufriss den ›Fugen‹ der Beiträge, fokussiert sie aber nun auf den ›Anfang‹ selbst. Auffällig ist die narrativ-methodologische Reflexion. Derzufolge ist sich Heidegger der Problematik bewusst, dass vom Anfang zu sprechen, immer den Anschein einer ›Darstellung‹ erwecke, die es in diesem erst anfänglichen Bereich, der noch außerhalb der Unterscheidung von Relativem und Absolutem (70,10) liege, streng genommen gar nicht geben kann. Eine herkömmliche Darstellung ist auf Verhältnisse des Vorund Nacheinander und der Aufeinanderfolge angewiesen. Demgegenüber scheint Heidegger zu suggerieren, dass im Anfang eine ineinander gleitende Gleichzeitigkeit bestimmend ist. Weiter wiederholt er die Einsicht, dass der Anfang im Einen und Einfachen stehe, gerade nicht in Pluralität und Vielheit: dem ›Einen des Seins‹, das sich im Ereignis lichtet. Deshalb ist der Anfang durchtragend, bestimmend; er ist gerade nicht punktuell momenthaft: eine bleibende Anfänglichkeit, von der Metaphysik und Wissenschaft zehren. Der Anfang ist damit anwesend und zugleich abwesend. Er zieht sich gleichsam zurück. Er kann in den Bestimmungen des Seienden und den Weiterbildungen der Metaphysik gerade nicht präsent sein. Deshalb ist dem Anfang eine Nähe zur Abgründigkeit und Verborgenheit eigen (13). Geradezu mantraartig wiederholt Heidegger, dass das Seyn der Anfang ist, in den das Dasein gehört, insofern es in der ›Lichtung‹ inne steht. Neben dieser Vereignung wird nachdrücklich betont, dass der Anfang in der Abgeschiedenheit ist (15, 18). Er wird auch gerade nicht als Früheres, sondern als Späteres verstanden, weil die Auffindung des Anfangs eine lange Inkubationszeit erfordert. Das Ereignis als Genese der Seinsgeschichte wird eben deshalb als die Entscheidung verstanden, die sich im Abschied vollzieht. In diesem Zusammenhang evoziert Heidegger die ›Verwindung‹, als Sein-lassen des Abschieds, als Eingehen und »Untergang in den Abschied« (19). Wenn durch solche Bemerkungen aufgrund von Heideggers Hinweis »die erste Klarheit auf dem langen Wege der ›Seins229
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frage‹ erreicht werden soll (19), ist aus der Anfangsperspektive viel konsequenter als zuvor nahegelegt, dass das Seyn gar nicht ausgesagt werden kann. Wie stellvertretend steht dafür nach Heidegger die phýsis ein (22). Seinsvergessenheit erweist sich von hier her noch weniger als bloßes Missgeschick, sie erweist sich als bedingt durch den Unterschied im Anfang, dass er sich lichtet und verbirgt. Nur im Verborgenen bleibe das Seyn, in einer Armut und Zurückgehaltenheit, während dem Seienden der Charakter des Aufstandes eignet.
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Dritter Teil: Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze
Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze
17. Nach Sein und Zeit. Heideggers Kant. Eine Wegmarke Metaphysik der Metaphysik als Lehre von der Zeit Auf keinen Denker ist Heidegger in der Phase seiner Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Metaphysik in solcher exegetischen Prägnanz und so häufig zurückgekommen wie auf Kant. Sein Kant-Buch aus dem Jahr 1929 ist in vielfacher Hinsicht ein Neueinsatz nach Sein und Zeit, der aber den Weg von Sein und Zeit weder für aporetisch erklärt noch ihn preisgibt. 1 In der differenzierten Kant-Aneignung sieht Heidegger vielmehr den aussichtsreichen Ansatz zu einer geklärten Explikation des ausstehenden zweiten Teils von Sein und Zeit, der Explikation der Temporalität des Seins. Heideggers Ausgangspunkt gegen gängige Formen des Neukantianismus ist dabei, dass die Kritik der reinen Vernunft als »Traktat von der Methode« nach der Möglichkeit von Metaphysik fragt und darin einen Grundriss von Ontologie entwickelt. 2 Zugleich ist es ein Kunstgriff, dass Heidegger bei jener Philosophie einsetzt, die eine Art lingua franca des philosophischen Denkens der Neuzeit bezeichnete: Das gilt für die Zeit des Neukantianismus, es gilt aber auch noch für die Gegenwart. 3 Offensichtlich lässt sich seitens einer gelehrten, die subtilitas legendi betonenden Kant-Interpretation Grundlegendes gegen Heideggers Annäherung einwenden und ist in der Wirkungsgeschichte des Kant-Buchs auch immer wieder eingewandt worden. 4 Heidegger entwickelt in jedem Fall in seinem Sinn eine phänomenologische, also an die Explikation der Sache heranführende Interpretation, die vor allem das Motiv von Kants berühmtem Brief an Marcus Herz aufnimmt, eine »Metaphysik der Metaphysik« zu entwickeln und eben 1 Vgl. F. Schalow, The Renewal of the Heidegger-Kant-Dialogue. Action, Thought, and Responsibility. Albany 1992. 2 In Ansätzen schon erfasst bei E. Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, in: Kantstudien 36 (1931), S. 1 ff., sowie H. Declève, Heidegger et Kant. La Haye 1970. 3 Vgl. als hinreichend komplexe, heutigen Problemstellungen gewachsene Deutung von R. Enskat, Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil. Göttingen 2015, S. 23 ff., und W. Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft. Göttingen 2001, isnbesondere S. 130 ff. 4 Vgl. besonders bedeutsam D. Henrich, »Über die Einheit der Subjektivität«, in: Philosophische Rundschau 5 (1955), S. 28 ff. mit einer schon seinerzeit subtil ausgearbeiteten, argumentationsanalytischen Sicht auf Legitimität und Nicht-Legitimität des Heidegger’schen Kant-Buches.
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Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze
nicht eine bloß genetisch rekonstruierende Physik der Metaphysik. 5 Die Nähe zu Kant ist durch eine Affinität bedingt, die deutlich wird, wenn man Heideggers Frühphilosophie hinreichend würdigt. Beide, Heidegger und Kant, nähern sich als Logiker den Fragen der Ontologie. Husserls Kantaneignung war vordergründig geblieben, er soll die Kritik der reinen Vernunft mehr oder minder nur angeblättert haben – auf der Suche nach einer Bestätigung. Schon durch die Intensität seiner Rekonstruktion weicht Heidegger davon grundsätzlich ab. In dem besagten Brief an Marcus Herz aus dem Jahr 1781 (Heidegger, 41) betonte Kant den labyrinthischen Charakter und die Schwierigkeit des Vorhabens seiner ›Metaphysik der Metaphysik‹. »Schwer wird diese Art Nachforschung immer bleiben«. 6 Die Kantische Frage versteht er als Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Ontologie und er rekonstruiert sie als ›Ursprungsenthüllung‹, die ihrerseits gänzlich durch Vernunft hervorzubringen sei. Die Intention der transzendentalen Methode versteht er dabei in einer gewissen Verwandtschaft zum Gestus der ›Destruktion‹ in Sein und Zeit es sei ein »auflockerndes Freilegen der Keime der Ontologie« (41). Leitfaden ist es, die verschiedenen Stufen dieser Grundlegung zunächst zu isolieren: eine weitgehend immanente Rekonstruktion, die das »Ursprungsfeld« in seiner Gliederung offenlegen soll, wobei Heidegger schon im Vorgriff festhält, dass das Erkenntnissubjekt in der Kantischen Kritik als endlich vorausgesetzt wird. Der Wesenszug der Endlichkeit wird durch die Zweiheit der Stämme der Erkenntnisse, Sinnlichkeit und Verstand, operationalisiert, da nur in ihrer Vereinigung und in der Begrenzung auf diese beiden Stämme Erkenntnis möglich ist. Heidegger geht, was hier nicht zu referieren ist, in einer idealtypischen Isolierung die fünf Stadien der Kantischen Grundlegung der Ontologie durch: Zunächst werden die Wesenselemente der reinen, doch endlichen Erkenntnis isoliert: Raum und Zeit als Anschauungsformen. Die Transzendentale Ästhetik wird dabei als Exposition jener ontologischen Wahrnehmungslehre (Ästhetik) entwickelt, die es ermögliche, »das Sein des Seienden« apriori zu entdecken. Auch das reine Denken ist im endlichen Denken verankert: Reine Verstandesbegriffe sind Notionen, die eine Vielheit von Fällen auf eine übergreifende Einheit transparent machen. Die Notionen firmieren dann als ontologische Prädikate (55 f.). Da reine Anschauung 5 6
Brief an Marcus Herz, 11. 5. 1781, AA X, S. 251 ff. Ibid., S. 250 f.
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(Synopsis) und die kategoriale Synthesis schon in sich Einheits- und Einigungsformen sind, sucht Kant, Heidegger zufolge, nach einer Einheit dieser Einheitsformen, um eine »ontologische Synthesis« zu gewinnen. Heidegger macht es sich dabei schwerer als in seinen späteren Nennungen, in denen er den Denkansatz der Kantischen Transzendentalphilosophie mitunter als eine Form von Subjektivitätsdenken abwertet und die Kantischen Abstraktionen der ›logischen‹ ›transzendentalen‹ Denkformen kritisiert. Maßstab seiner Interpretation ist vielmehr hier, dass die Ontologie »durch die Architektonik der äußeren Problemfolge und -prägung« hindurch sichtbar gemacht werden muss (68). 7 Dies bedeutet u. a., dass die transzendentale Deduktion, deren Schwierigkeit Kant selbst nachhaltig betont, nicht als eine »quaestio iuris« rekonstruiert werden kann. Die juridische Metaphorik sei vielmehr umgekehrt auf die genuine Fragestellung zurückzuführen. Diese besteht vereinfacht gesagt für Heidegger im Horizont der transzendentalen Deduktion, also darin, wie der Sachgehalt der reinen Begriffe die realen Gegenstände in ihrer Objektivität angemessen erfassen kann. Der Sachgehalt der Kategorien muss so bestimmt werden können, dass sie tatsächlich die Gegenständlichkeit der Gegenstände adäquat bezeichnen. Die Einheit der ontologischen Erkenntnis muss insofern, phänomenologisch gesprochen, die »Offenbarkeit des Seins des Seienden« (87) anzeigen und beglaubigen. Auffälligerweise lässt Heidegger die geforderte Begleitung aller Vorstellungen durch das ›Ich denke‹ zunächst in den Hintergrund treten. Als Kernstück der Grundlegung ontologischer Erkenntnis fasst er die Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft auf. Denn erst das reine Ins-Bild-Bringen kann die Gegenständlichkeit der Gegenstände in ihrer Reinheit sichtbar machen. Die Kantische Schematismuslehre bildet gleichsam den phänomenologischen Kern Kantischer Transzendentalphilosophie: Das ›Schema‹-Bild ist nicht einfach ein Imago, das Denkbare muss darstellbar werden können, denn der logische Begriff »bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema« (98). 8 Damit hat das Schemabild die Aufgabe, die »Regel in die Sphäre der möglichen Anschaulichkeit« Vgl. dazu auch M. Riedel, Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung. Frankfurt/Main 1989, S. 23 ff. 8 Heidegger verweist hier auf den schon in der nachkantischen und frühromantischen Philosophie sehr prominenten und wiederholt im Blick auf die Gewinnung einer Einheit und Ganzheit der Philosophie herangezogenen § 59 der K.U. Vgl. dazu u. a. M. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, a. a. O., S. 234 ff. 7
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Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze
einzuführen (99). Die eigentliche Zuspitzung von Heideggers Deutung ist aber, dass das reine Bild der Schematisierungen die Zeit ist: »Das reine Bild […] aller Gegenstände der Sinne aber überhaupt ist die Zeit« (A 142.B 182) (Heidegger, Kant 103). Zeit ist eo ipso Vorstellung eines einzigen, einigen Gegenstandes in seinen Variierungen, sodass die Schematisierung immer auf diese in sich artikulierte Einheit der Zeit bezogen ist. Heideggers Kant-Deutung bewegt sich mithin in einer gänzlich anderen Richtung wie die vieldiskutierte, von Klaus Reich etwa zeitparallel aufgewiesene Frage nach der Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel. 9 Das Ungenügen an der Extrapolation der Kategorien aus der Logik war es bekanntlich, das im Briefwechsel von Hegel und Schelling in ihrer Frühzeit zu der Aussage führt, Kant habe nur die Resultate geliefert, es komme darauf an dazu die Prinzipien zu finden. 10 Und die avanciertesten Ansätze des Neukantianismus, wie Hermann Cohens Logik der reinen Erkenntnis, setzen an diesem selben Punkt an. Heidegger kritisiert an der Kantischen Darlegung präziser, dass sie den Schematismus nicht weiter in seinem temporalen Charakter aufkläre. Zeit ist, so verknüpft Heidegger implizit den Kantischen Zeitbegriff mit Husserls Lehre vom Bewusstseinsstrom: »in jedem Jetzt fließend, ein Jetzt [] und je auch ein anderes Jetzt. Als Anblick des Bleibens bietet sie zugleich das Bild des reinen Wechsels im Bleiben« (107). Im Horizont jener Dauer im Wechsel vollzieht sich erst die Transformation der Kategorien der »Metaphysica Generalis«: wie sich insbesondere am Substanzbegriff zeigt. Substanz ist als Kategorie Relation zwischen Subsistenz und Inhärenz; sie ist auf das Anschauungsbild der Zeit bezogen Bleibendes im Fluss der stets sich in eine sich wandelnde Gegenwart hinein fortsetzenden Zeit. Zeit ist das reine Schematisierungsbild von Substanz dadurch, »dass sie in jedem Jetzt fließend, ein Jetzt ist, je auch ein anderes Jetzt. Als Anblick des Bleibens bietet sie zugleich das Bild des reinen Wechsels im Bleiben« (107), wie Heidegger formuliert und damit im transzendentalen Schematismus den inneren Möglichkeitsgrund von Substanzialität namhaft macht. Anders gesagt, geht es dabei um die Realität von allgemeinen, gültigen Begriffen für eine vortheoretische temporale Lebenssphäre. K. Reich, »Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Hamburg 2001, S. 3–113. 10 So Schellings Brief an Hegel vom 6. 1. 1795, in: Briefe von und an Hegel, Band 1, S. 13 ff. 9
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Das Schematismuskapitel steht Heidegger zufolge daher im Zentrum der Kantischen Transzendentalphilosophie: bereits in dem Kant-Buch sieht er im »obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile« (A158, B 197 f.) die abschließende Formulierung der Transzendentalphilosophie. Es ist jener Satz, den er auch in seiner Vorlesung über die Frage nach dem Ding 1935/36 wieder besonders hervorheben wird: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« (ibid.). Die Akzentuierung dieser Aussage und zugleich die Art, wie sie interpretiert wird, erhärten den phänomenologischen Ansatz exemplarisch. Kaum irgendwo ist die Nähe der Heidegger’schen Fragestellung zu dem Kant bekanntlich nur vordergründig rezipierenden Husserl so unmittelbar erkennbar wie eben hier: Erfahrung bedeutet einen Gegenstand »unmittelbar in der Anschauung darstellen« (A 156, B 195); es ist eine noetisch-noematische Korrelation des endlichen Bewusstseins; oder in der philosophischen Sprache der Zeit, die »Transzendenz« von der Subjektivität zum gegebenen Wirklichen. Die Möglichkeit von Erfahrung impliziert demnach zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, in einem jeweiligen Horizont, den das endliche Bewusstsein sich bilden kann. Heidegger begründet auf diese Weise mit einem Husserl’schen Impuls, doch unter der genuinen Anleitung von Kant, die Gegenstandsangemessenheit des Phänomens, in einer Weise, die die egologisch-transzendentale Konzeption Husserls umgeht und auf den Ansatz eines jeweiligen in-der-Welt-seins abzielt. Seine Rekonstruktion der Konstituierung der Gegenständlichkeit der Gegenstände kann also als eine nachträgliche Kantische Begründung des Ansatzpunktes von Sein und Zeit beim in-der-Welt-sein verstanden werden. Damit kommt jedoch ein Gedanke ins Spiel, der in Sein und Zeit noch keine Rolle gespielt hatte. Denn hier konstituiert sich der »transzendentale Gegenstand«, oder Gegenständlichkeit überhaupt, in der nach Kant zugleich die transzendentale Wahrheit als Fundierung jeder nur möglichen empirischen Wahrheit grundgelegt ist. Die transzendentale Deduktion, auf die sich das Zentrum der Kantforschung verlagerte, 11 tritt demgegenüber zurück. Nicht wegen des »Ich denke«, das alle Vorstellungen muss begleiten können und das Heidegger aufgrund seiner früh formulierten Kritik an der Egologie 11 Vgl. wiederum Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, siehe auch D. Henrich, Identität und Objektivität. Heidelberg 1976.
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zurückweist, sondern, weil auch im ›Ich denke‹ die Wirkung der Einbildungskraft bereits vorausgesetzt sei (127). Es ist die Einbildungskraft, die die Gegenwart eines Gegenstandes für das Ich überhaupt erst sichert. Im Licht dieser Gewichtung des Schematismus-Kapitels entwickelt er seine Interpretation der ›transzendentalen Einbildungskraft‹ als der gemeinsamen, bildenden Mitte und als dritte Wurzel der Erkenntnis neben Sinnlichkeit und Verstand (137). Heidegger spricht dies freilich nicht thetisch aus. Er formuliert diese entscheidende These ausschließlich als Frage. Reine Anschauung vollzieht sich als »ursprüngliche« exhibitio orignaris, in der Anschauung und Angeschautes konvergieren: Deshalb ist sie nicht auf die »Synthesis des Verstandes« zurückzuführen (142). In ihr zeigt sich eben eine Ganzheit des Angeschauten als grundlegende Voraussetzung des Schematismus. Sie ist gerade nicht intentional auf einzelnes Seiendes bezogen, sondern richtet sich anschauend auf das »ens imaginarium«, wie Heidegger betont: die Gegenständlichkeit des Gegenstandes, die selbst aber nicht die Form eines Gegenstandes hat. Grundlegend für die Möglichkeit von wahrheitsfähiger Ontologie ist also ein reiner, ungegenständlicher Anblick der Gegenständlichkeit. Raum und Zeit können nicht aus der Empirie konstituiert werden. Sie bleiben absolute Bedingung aller empirischen Anschauung. Diesen Charakter einer Synopsis kontrastiert Heidegger der Deutung von Raum und Zeit als ›Kategorien‹ im Marburger Neukantianismus. 12 Heideggers Kant-Deutung geht es darum, die Eigenständigkeit der transzendentalen Einbildungskraft zu zeigen, was nicht weniger bedeutet, als dass Denken nicht in erster Linie als »Urteilen« charakterisiert ist (149), sondern als Anzeige der reinen Apperzeption. Denken ist, so Heidegger, damit »reines Einbilden« (151). Gegenüber dem Neukantianismus pointiert Heidegger geradezu eine »Revolution des Denkens«, insofern es freies Entwerfen des sich ihm gebenden Gegenstandes, oder »reines Einbilden« bedeutet (151). Der Entwurfs-Gedanke von Sein und Zeit wird damit in einen Kantischen Rahmen einbezogen. Es sei angemerkt, dass Rudolph Berlinger in seinem eindrucksvollen, viel zu wenig rezipierten Konzept einer morphopoietischen MetaDies ist natürlich eine Simplikifation, die auf Cohen und Natorp nicht zutrifft. Vgl. dazu die treffende Übersicht H. Holzhey, Cohen und Natorp. 2 Bände, Basel 1986.
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physik, die das menschliche Individuum als Dreh- und Angelpunkt annimmt, implizit die Linie des Heidegger’schen Kant-Buches aufnimmt und fortschreibt, so wie Heidegger dies selbst nicht mehr tat: 13 Berlinger richtet sich in seinem Grundgedanken auf den Menschen als endliches Wesen, das Welt entwirft. Doch Berlinger greift gerade nicht auf Kant zurück, und er macht das Erbe der Husserl’schen Phänomenologie viel unkenntlicher als Heidegger in der Zeit seines Kant-Buches dies tat. Die Problematik einer Begründung von Metaphysik in der Individualgestalt des Menschen erweist sich indes als eine mögliche Option, der Heidegger nicht folgen wollte oder konnte. Darauf wird zurückzukommen sein. 14 Schon früh und von namhaften Kantforschern wie Dieter Henrich sind grundlegende Fragen an die Stringenz der Heidegger’schen Kant-Deutung gerichtet und ist eine transzendental- und subjektivitätsphilosophische Lesart dagegen positioniert worden. 15 Dies ist durchaus berechtigt; und es ist zuzugeben, dass die Heidegger’sche Kant-Interpretation selbst in hohem Grad »Gewalt« braucht. Die Kritik an Heideggers Kant-Deutung kann in einer Heidegger-Monographie nicht in die nötigen Verästelungen verfolgt werden. In ihr geht es vielmehr darum, zu zeigen, in wie hohem Maß ein – transponierter – Kant eine bestimmte Epoche von Heideggers eigenem Denken anleitet. 16 Die teils systematischen, teils vom Kant-Text ausgehenden Begründungen, die Heidegger anführt, werden nicht in jedem Fall und nicht in gleichem Maß einleuchten. Sie machen aber plausibel, dass Kants Deduktion einer Methodologie folgt, die eindeutig über die Logik hinausgeht, etwa in der Anmerkung: »Und so ist die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muss, ja dieses Vermögen ist der R. Berlinger, Die Weltnatur des Menschen. Morphopoietische Metaphysik. Grundlegungsfragen. Amsterdam 1988, S. 390 ff. Siehe dazu auch H. Seubert, »Sein und Freiheit am Weltbeispiel Mensch: Die Aktualität Rudolph Berlingers aus Anlass seines 20. Todestages«, in: Perspektiven der Philosophie 44 (2018), S. 3 ff. 14 Vgl. weiter unten, Sechster Teil. Kapitel 35. 15 D. Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, a. a. O. 16 Abgesehen von gewissen Unebenheiten, die sich nach Maßstäben der Kant-Philologie einstellen mögen, bleibt Heideggers Deutung auch im Blick auf eine Entwicklung der ontologischen Fragestellung, ausgehend von Kant, relevant, die eine entgegengesetzte Richtung nimmt, als jene, die sich in der Klassischen deutschen Philosophie abzeichnete. 13
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Verstand selbst« (KrV B 133). Einleuchtend und nicht länger befremdlich, so ein weiteres Argument, sei der Anschauungscharakter der reinen Anschauungsformen, obwohl sie selbst nicht »anschaulich« und nicht durch Sinnesorgane wahrnehmbar sind (155). Die systematische und philologische Evidenz der Heidegger’schen KantArchäologie wird strittig bleiben. Sie sollte indes in der Kant-Rekonstruktion eine ernsthafte Rolle spielen und nicht deshalb zurückgewiesen werden, weil sie von Heidegger stammt. Eine bemerkenswerte Pointierung der Kantischen Lesart der Einheit stiftenden Wirkung der reinen Einbildungskraft ist, dass in ihr Rezeptivität und Spontaneität geeint sind. Diese Linie führt Heidegger auf wenigen, aber tief dringenden Seiten in den Umkreis der Praktischen Philosophie weiter. Dass er »keine Ethik« gehabt habe, erweist sich nicht zuletzt von hier her als ein vordergründiger Topos. Heidegger formuliert eine ethische Pointierung in der Wirkung der transzendentalen Einbildungskraft, die die Synthesis des Sollens und des Handelns im Sittengesetz darstellt, aus der ein sittlich handelndes Selbst hervorgehen kann. 2. Zwischen der ersten und der zweiten Auflage der K.r.V. verschieben sich die Akzente so, dass die transzendentale Einbildungskraft in den Hintergrund tritt. Dies thematisiert Heidegger ausdrücklich. Er konstatiert, dass sich Kant in der Umarbeitung einem »Unbekannten« konfrontiert gesehen habe, der »unbekannten Wurzel«, vor der er zurückgewichen sei (161 f.). Mit der Depotentierung der transzendentalen Einbildungskraft veränderte sich die transzendentale Deduktion auf den Fokus des ›Ich denke‹. Kant habe sich durch diese Akzentuierung die Möglichkeit einer tieferen Grundlegung versperrt (166 f.). Vor dem Hintergrund der Umarbeitung gewinnt die zentrale These, dass die transzendentale Einbildungskraft die Wurzel ist, die Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand, ihrerseits zugrunde liegt, weiter an Profil. Erst von dieser Grundlegung aus werde die transzendentale Deduktion durchsichtig (140), weshalb sich Heidegger auf die Ausarbeitung der A-Auflage konzentriert. Auch die Subjektivitätsproblematik geht aus der transzendentalen Einbildungskraft hervor. Denn grundlegend ist die Einsicht, dass »das Einigende seinem Wesen nach das zu Einigende entspringen lässt« (140), was im Sinn einer Wechselbegrifflichkeit nur dadurch möglich ist, dass sich der Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit zeigt. Gründe und Ursachen für die »Abdrängung« der Einbildungskraft in der B-Auflage erkennt Heidegger in der Forderung, 240
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dass die Kantische Vernunft in »Reinheit« konstituiert werden sollte und dass die sinnliche Dimension, die in der klassischen Metaphysik bekanntlich als »cognitio inferior« bestimmt worden war, bei der Anmutung jener Reinheit störte. Das Konzept einer ›reinen Einbildungskraft‹ wird dann delegitimiert. Konrad Cramer arbeitete später die Struktur unreiner synthetischer Urteile apriori heraus; 17 wie so vieles in der Philosophie der Nachkriegsjahrzehnte auch lesbar als eine implizite und uneingestandene Referenz gegenüber der Heidegger’schen Rekonstruktion der fundamentalen Bedeutung der Sinnlichkeit. 18 Von größter Bedeutung in Heideggers Konzeption ist dabei die metaphysische, nicht etwa nur anthropologische Problematik der Endlichkeit menschlicher Subjektivität, die nicht zum Sonderfall eines »endlichen Vernunftwesens überhaupt« stilisiert werden kann. Wesentlich an diesem spezifischen Humanum ist gerade, dass die Sinnlichkeit bis in die Konstitution von Metaphysik eine fundierende Rolle spielt. Zugleich ist diesem Wesen seine Zeitlichkeit unhintergehbar, da die transzendentale Einbildungskraft aus der Zeit figuriert wird (175). Dass und wie Zeit prägend ist, verdeutlicht schließlich Heidegger im Durchgang durch die drei Formen von Synthesis, die Kant in der A-Auflage der K.r.V. expliziert Die Synthesis der Apprehension in der Anschauung ist nur möglich, insofern ein Kontinuum von Zeit dadurch gebildet wird, dass die Folge der Raum greifenden Eindrücke unterschieden werden kann (179). Die Synthesis als reine Reproduktion dagegen erfordert auch eine Unterscheidung der Zeit: Das Behalten des Vergangenen, die Bewahrung von »Früher« und »Damals« muss in den Zeitmodi von Gegenwart und Zukunft aufweisbar sein. Die reine Synthesis erschließt überhaupt erst die Möglichkeit des Gewesenen. Kant gibt ihr den Titel der »reinen Rekognition«, die scheinbar dem Zeitcharakter weder unterworfen noch affiziert ist. Sie ist der vorgängige Ausgangspunkt und Grund der beiden anderen Synthesen. In ihr ist die Möglichkeit für alles Identifizieren angelegt (186). Der vorläufige Haltepunkt der Rekonstruktion zeigt, dass Zeit reine, nicht etwa nur abgeleitete oder wirkende Selbstaffektion ist (190), die das Selbst insK. Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile a priori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Heidelberg 1985. 18 W. Wieland, Urteil und Gefühl, a. a. O., S. 220 ff. 17
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gesamt und seine Vernunfttätigkeit bestimmt. Sie ist »Grund der Möglichkeit der Selbstheit« (191), die Kant nicht essentiell vom ›Ich‹ unterscheidet. Von Zeit und Ich werden, wie Heidegger beobachtet, in der A-Auflage dieselben Wesensprädikate ausgesagt: Sie bleiben, verlaufen sich und wechseln nicht (192). Zeit ist demnach gerade nicht einfache Aufeinanderfolge. Um ihr vollständiges Wesen zu bestimmen, sei der Bereich der bloßen Innerzeitigkeit zu verlassen. Die ekstatische Explikation der Zeitlichkeit des Seins in Sein und Zeit wird so eingeholt. Heidegger versteht Kants Denken als »Grundlegung der Metaphysik«, als Ontologie, wobei die »innere Möglichkeit der Ontologie« in der temporal zu verstehenden Subjektivität des menschlichen Subjekts grundgelegt ist (205). Dass Heidegger im Kant-Buch diese Fragestellung auf anthropologische Überlegungen zurückspielt, hängt unverkennbar mit den philosophischen Debatten der Zeit zusammen, insbesondere mit der Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie Max Schelers. 19 Tatsächlich geht es ihm um den Kern des Selbst-seins und sich-Selbst-Wissens des Menschen, die Wesensbestimmung seiner als eines »endlichen, zeitlichen Weltwesens« (205). Auf diesen Kern einer philosophischen Anthropologie weist Heidegger prägnant hin; sie ist von den biologisch-anthropologischen Tendenzen der zwanziger Jahre gerade darin deutlich zu unterscheiden, dass sie implizit auf menschliche Individualität zielt und damit die Rede vom Dasein konkretisiert. Die Frage muss erlaubt sein, wie sich Heideggers Denken entwickelt hätte, wenn er dieser Spur weiter gefolgt wäre. Die Struktur der Kantischen Fragestellung rückt damit in eine legitimierende Nähe zu Sein und Zeit, ausgehend von der abschließenden und übergreifenden Frage nach der Gegebenheit des Seins von Welt. »Von wo aus ist dergleichen wie Sein, und zwar mit dem ganzen Reichtum der in ihm beschlossenen Gliederungen und Bezüge, überhaupt zu begreifen?« (224). Es entwickelt sich eine tektonische Struktur, die von der Gegebenheitsfrage ausgeht, sich damit auf das unthematische Sein, das allem Seienden zugrunde liegt, richtet, und die zeitliche Endlichkeit des (genuin) menschlichen Daseins als diesen Ursprungspunkt identifiziert (229). Von einem anderen Vgl. vor dem anthropologischen Hintergrund: H. Schmitz, Husserl und Heidegger. Bonn 1996, siehe auch M. Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz. Bonn 1991.
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Anfang, einer Verwindung oder gar Überwindung der Metaphysik ist in diesem Zusammenhang noch überhaupt nicht die Rede. War der Fortgang, den Heidegger tatsächlich wählte, unerlässlich oder doch zwingend? Heidegger weist am Ende seines Kant-Buches darauf hin, dass »ursprünglicher als der Mensch […] die Endlichkeit des Daseins in ihm sei« (229), womit Dasein als Modus des Seinsverstehens sehr nahe an die Kantische reine Einbildungskraft herangeführt wird. Im Kant-Buch wird eine Metaphysik des Daseins entwickelt, die weniger Destruktion von Metaphysik, sondern vielmehr deren fundamentale Grundlegung ist, eine Metaphysik der Metaphysik im Sinn von Kants programmatischem Brief an Marcus Herz. 20 Bemerkenswert und von Heidegger später nur noch ex negativo im Blick auf die Seinsvergessenheit weiterverfolgt, ist die Einsicht, dass Metaphysik nicht nur Produkt des Menschen sei, sie sei vielmehr mit dem menschlichen Sein und seinem Einbruch in die Mitte des Seins schon gegeben. Auf der mit Kant entwickelten Linie der Unhintergehbarkeit einer kritischen zeithaften Metaphysik hätte sich Heideggers Denken ab 1929 weiter entfalten können: in einer Tiefe, die zugleich am Gegenüber transzendentaler Rationalität und ihrer Maßstäbe gemessen worden wäre. Dies hätte vermutlich eine deutlich andere Tektonik gegenüber den klassischen Grundstellungen ›der Metaphysik‹ bedeuten können. Heidegger hatte einerseits gute Gründe, die sich in seiner Selbstauseinandersetzung mit dem fundamentalontologischen transzendentalphilosophischen Ansatz spiegeln, die Untersuchungen von Sein und Zeit zu transformieren. Der Ansatz des Kant-Buches ist dennoch nicht überholt. Denn er setzt eben hier an: Er evoziert nach der Destruktion eine »Wiederholung der Grundfrage der Metaphysik« (241), die auf das »innerste Geschehen im Seinsverständnis« antiker und späterer metaphysischer Ausprägungen verweist. Hier zeigt sich eine von Heidegger später in dieser Form philosophisch nicht mehr geäußerte tief humane Grundhaltung, wenn er mit dem Ausblick auf eine »philia« schließt, in der »allein die Zuwendung zum Seienden als solchem sich vollzieht, aus der die Frage nach dem Begriff des Seins (sophia) – die Grundfrage der Philosophie erwächst« (246).
Vgl. AA X, S. 251 ff. Von Bedeutung ist, dass Kant in der argumentativen Verflechtung dieses Briefes und eben weil der Mensch in seiner Endlichkeit eine »Naturanlage zur Metaphysik« aufweist, eine philosophische, metaphysische Freilegung des metaphysischen Ansatzpunktes fordert und eben nicht eine nur physisch-physiologische, wie sie etwa von David Hume zu gewinnen ist.
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In einer der Aufzeichnungen zum Kant-Buch bemerkt Heidegger: Es sei »ein Versuch, dem Ungesagten nachzudenken, statt Kant auf sein Gesagtes festzuschreiben. Das Gesagte ist das Dürftige, das Ungesagte erfüllt mit Reichtum« (GA 3. 246). Worin dieses Ungesagte besteht, wird wiederum in einer Randbemerkung zum Kant-Buch, vor allem zu K.r.V. B 322 ff. deutlich: Zentraler Ansatzpunkt sei das »Problem der Transzendenz«, eben die Frage, die er selbst als Gegenständlichkeit des Gegenstandes freilegt. Sie ist Voraussetzung der Explikation des Daseins als in-der-Welt-seins und der Herauslösung aus den Isolierungen des »ego cogito«. Spezifisch an Heideggers KantBuch ist, dass es nicht Auseinandersetzungen oder gar Polemik unternimmt, sondern sich auf der Ebene einer immanenten Interpretation zu halten versucht. Damit fundiert Heidegger den eigenen transzendental-ontologischen Ansatz von Sein und Zeit in dem Horizont, den er als Kants ursprüngliche Fragestellung versteht. Heidegger wies selbst Insinuationen zurück, das Kant-Buch sei eine Art »geschichtlicher Einleitung« zu Sein und Zeit; er sah es vielmehr als Gespräch mit Kant über die Seinsfrage. In genealogischer Rekonstruktion seiner Selbstauseinandersetzung zeigt sich auch, dass Heidegger mit dem transzendentalphilosophischen Ansatz in Sein und Zeit so weit zu gehen versuchte, wie es nur möglich war. Umso mehr Aufmerksamkeit verlangt dann die Abkehr von diesem Weg. Für die Komplementarität des Gesagten und Ungesagten aufschlussreich ist Heideggers bereits zitierte Bemerkung, dass das Kant-Buch den Versuch formuliere, »dem Ungesagten nachzudenken, statt Kant auf sein Gesagtes festzuschreiben« (249). Damit und mit der Aussage, dass das Gesagte das Dürftige sei, das Ungesagte aber erst »den Reichtum« entwickle, eröffnet Heidegger eine Linie seiner Auseinandersetzung mit vergangenem Denken, die auch auf dem seinsgeschichtlichen Weg erhalten bleiben wird; die aber das nahezu mystische Paradoxon mitschwingen lässt, dass Dürftigkeit und Reichtum letztlich eins und dasselbe seien. Auch wenn Heidegger die Distanz durch den Topos der ›Auseinandersetzung‹ klar markiert, nähert sich seine Rekonstruktion in einem Maß an Kant an, wie es methodisch in nachkantianischer Zeit und im Neukantianismus vorgezeichnet ist: Beide versuchen die ungehobenen aber naheliegenden Implikationen aus dem Kantischen impliziten Text freizulegen und daraus die systematische Konsequenz zu ziehen. In jedem Fall zieht sich eine durchgehende Linie von dem KantBuch und der Vorlesung aus dem Jahr 1935 bis zu den Beschwörun244
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gen der Dingheit des Dings in Heideggers späten Denkansätzen (vgl. weiter unten Fünfter Teil, 33). Der Kantische Ausgangspunkt ist dort nicht mehr erkennbar; er bleibt aber in einer eigenständig, eher meditativ entwickelten Gedankenstruktur, dem Ansatz eines »tautologischen Denkens« so präsent, dass man sich fragen kann, ob der gedankliche Weg hier nicht auf eine Position zurückführt, die im Verlauf der Seinsgeschichte in Vergessenheit geriet. * In der Vorlesung aus dem Wintersemester 1935/36 wendet sich Heidegger erneut Kant zu. Der Fokus gilt dabei noch einmal und direkt der Frage nach der Gegenständlichkeit des Gegenstandes und nach dem Ding. Der eigentliche Impuls, weshalb nach der Gegenständlichkeit des Gegenstandes gefragt wird, das Entgegenstehen-Lassen dessen, das sich gibt, ist in jenem Kolleg zurückgenommen. Er ist am Zielpunkt noch erkennbar, wenn Heidegger die Lehre von den Grundsätzen als Mitte der ›Kritik der reinen Vernunft‹ identifiziert. Der fundamentale Rang der transzendentalen, reinen Einbildungskraft tritt jedoch zurück in die allgemeinere Formulierung, dass die Frage nach dem Ding zugleich die Frage nach dem Menschen sei; sie reiche damit »über die Dinge hinaus- und hinter den Menschen zurück« (GA 41, 246). Beibehalten bleibt die Konzentration auf die Kantische Untersuchung der Möglichkeit von Erfahrung und die Schematisierung der Verstandesbegriffe. Heidegger arbeitet in der Struktur der obersten Grundsätze eine Zirkularität heraus. Die Grundsätze sind durch das Wesen von Erfahrung möglich, das sie selbst ermöglichen (244); konstituiert ist diese Möglichkeit »auf Grund der Einheit und Einigung der reinen Verstandesbegriffe mit den Formen des Anschauens, mit Raum und Zeit« (ibid.). Wenn man diese zyklische Struktur berücksichtigt, nähert man sich einer ›tautologischen‹ Verfassung des Denkens, wie sie Heidegger erst in seiner spätesten Philosophie thematisierte. Weitgehend hält sich Heidegger in der Ding-Vorlesung an die Kantische Urteilsstruktur, auch wenn er deren Formalisierung widerspricht. Dass die Urteilslogik grundsätzlich durch die reine, transzendentale Einbildungskraft aufgebrochen werde, thematisiert er allenfalls am Rand. Als Zielpunkt der Kantischen Systematik der Grundsätze des reinen Verstandes erkennt Heidegger die Formulierung des höchsten 245
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Grundsatzes, der konstatiert, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zugleich Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ist (245). 21 Dies verweise methodisch auf eine Mitte, ein Denken des Zwischen von Mensch und Ding, das sich erst im Vollzug des menschlichen Weltbezugs ausbildet und orientiert. In einer Begriffssprache, die schon auf die Seinserfahrung selbst bezogen ist, bemerkt Heidegger weiter, dass »dieses Zwischen als Vorgriff über das Ding hinausgreift und ebenso hinter uns zurück. Vor-griff ist Rück-wurf« (245). *
18. Das Davoser Höhengespräch: Cassirer und Heidegger Die Begegnung zwischen Heidegger und Cassirer auf den Höhen von Davos bleibt ein magisches Datum des 20. Jahrhunderts. Längst hat der Mythos, auch bedingt durch die weitere Geschichte der Epoche, die die Kontrahenten auseinandertrieb, die argumentativen Grundlinien überlagert. Dabei verselbständigte sich die zum Symbol erhobene Rolle der Gesprächspartner, hier der spätere NS-Rektor der Freiburger Universität, dort der Emigrant, der aus der Kulturnation, die er durch seine Deutungen wie kaum ein anderer prägte, schändlich vertrieben worden war. Hier der Denker der Konfrontation und des Aufbruchs, dort der Kulturphilosoph eines Ethos von Aufklärung und Zivilisiertheit und wie die Etiketten weiter zu ergänzen sind. Die Linien der Disputation selbst haben indes aufs engste mit den Einsichten des Kant-Buchs zu tun. In seiner eingehenden Rezension des ersten Bandes von Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ verwies Heidegger darauf, dass dessen Interpretation des mythischen Daseins einen wesentlichen Aspekt verkenne, nämlich dass der Mythos wie jede andere Verhaltensweise auf eine »radikale Ontologie des Daseins« (265) bezogen sein müsse. Unbestimmt genug spreche Cassirer wechselnd von »Bewusstsein«, »Leben«, Geist«, er gewinne aber keinen Begriff der Transzendenz des Daseins zur Welt. Kontingent bleibe daher auch die »Grundregel« der symbolischen Formen, »die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: dass der Siehe H. Hoppe, »Wandlungen in der Kant-Auffassung Heideggers«, in: Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Frankfurt/Main 1970, S. 284 ff.
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Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt« (nach Heidegger ibid., 269). Offen lässt Heidegger, ob die Systematik der ›Symbolischen Formen‹ zureichend sein kann, wobei in Kenntnis des Kant-Buches deutlich ist, dass er daran schon seinerzeit Zweifel äußerte, eben weil Cassirers Ausgangspunkt vom mythischen Denken eine standardisierte Kant-Interpretation spiegelt, die von der ungeordneten »Rhapsodie des Mannigfaltigen« zu der begrifflich-kategorialen Erkenntnis führt, nicht aber das Problem des Grundverhältnisses von Mensch und Welt in den Blick nimmt. Die Position des gerade erschienenen Kant-Buches lag nach den Aufzeichnungen und Protokollen Heideggers Äußerungen in Davos zugrunde. Die thesenhafte Form bedingt Zuspitzungen, die für das Verständnis des Kant-Buches durchaus aufschlussreich sind, so insbesondere in der Aussage, dass Kants kritische Philosophie in keiner Weise angemessen als »Erkenntnistheorie« verstanden werden kann. Sie löst vielmehr das Programm einer »Metaphysik der Metaphysik« ein und ist damit der erste, ausdrückliche Ansatz einer »Grundlegung der Metaphysik« (271). Mit diesem Anspruch widerspricht Heidegger wenig differenziert dem erkenntnislogischen Ansatz des Neukantianismus insgesamt und rückt jene Frage ins Zentrum, die die Neukantianer ausschlossen. »Der Ansatz in der Vernunft ist so gesprengt worden« (273), denn Kant habe sich »durch seinen Radikalismus vor eine Position gebracht, vor der er zurückschrecken musste« (273). Dass bis in die Parodie hinein 22 Cassirers Gestus die Haltung eines versöhnlichen, auf der Ausgewogenheit beruhenden Klassizismus war und dass er in diesem Sinn wahrgenommen wurde, kann man unschwer auch den knappen Nachschriften der Disputation entnehmen. Heidegger verabschiedet den Ansatz des Neukantianismus von vorneherein, während sich Cassirer auf dessen Position einlässt. Dass es bei der Beurteilung der transzendentalen Einbildungskraft keinen wirklichen Dissens gebe, ist eine Behauptung Cassirers, die letztlich argumentativ nicht plausibel gemacht wird. Heidegger formuliert in seinem Eingangsvotum noch prägnanter als in der MonoDie Anekdote will es, dass Emmanuel Lévinas mit gepuderter Haartolle im Satyrspiel auf dem Zauberberg den versöhnlich gestimmten Cassirer, Otto Friedrich Bollnow den neueinsetzenden Heidegger gab. Vgl. D. Kaegi und E. Rudolph (Hg.), Cassirer- Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation. Hamburg 2002, S. 12 ff., sowie R. Klibansky, Erinnerungen an ein Jahrhundert. Gespräche mit G. Leroux. Frankfurt/Main, Leipzig 2001.
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graphie, dass die Transzendentale Dialektik Kants als Lehre vom Schein Teil der Ontologie sei, womit die Verdeckung von Wahrheit als unerlässlich für Wahrheit sich erweist, »wie zur Natur des Menschen notwendig der Schein gehört« (275). Cassirers Auskunft, dass er mit dem Phantasiebegriff der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ den Impetus der Transzendentalen Einbildungskraft aufnehme, bleibt blass und systematisch unterbestimmt. Cassirer nimmt die Einwände aus Heideggers Rezension aus dem Jahr 1925, jedenfalls nach den publizierten Protokollen, nicht auf. Stattdessen greift er in der Form einer kantianisch-klassisch geprägten Kulturphilosophie auf die Ethik des Kategorischen Imperativs zurück und wirft die Frage nach einer Bindung des endlichen Ich an ewige, nicht-endliche Werte grundsätzlich auf. Und er beschwört, ganz im Sinn seiner eigenen Kant-Darstellung, die gesamte Tektonik des Kantischen Werkes, von dem durchaus unentschieden ist, ob und inwieweit es auf einen einzigen Grund zurückgeführt werden kann vor dem Fokus eines absoluten, zeit-übergreifenden Anspruchs. 23 Cassirers Kant-Lesart ist durchaus metaphysisch, aber in einem unbefragten Sinn. Heidegger dagegen fragt radikal nach den Möglichkeitsbedingungen der Metaphysik. Seine eigentliche Frage fasst Cassirer in die Form: »Will Heidegger auf diese ganze Objektivität, auf diese Form der Absolutheit, die Kant im Ethischen, Theoretischen und in der Kritik der Urteilskraft vertrete hat, verzichten?« (278). Heidegger insistiert demgegenüber auf dem Ansatzpunkt der transzendentalen Einbildungskraft, der exhibitio originaria, vom endlichen Menschen ausgehend, dem doch eine gewisse Form von Unendlichkeit eröffnet ist, die sich in den Horizont des Verstehens eines Sinnes von Sein einstellt. Von kreatorischer Unendlichkeit oder dem absoluten intellectus archetypus wird diese Haltung strictu sensu unterschieden. Auch die praktische Vernunft halte sich insofern im »Dazwischen« auf, als verabsolutierter Imperativ, der sich aber an der Kontingenz der seienden Dinge ausweisen muss. In diesem Sinn formuliert Heidegger seine Antwort auf Cassirers Bestehen auf ›ewigen Wahrheiten‹. Wahrheit sei nicht in einem ontischen Sinn endlich-relativ. Sie wird also gerade nicht in einen Vgl. die Analyse P. Aubenque, »Le débat de 1929 entre Cassirer et Heidegger«, in: J. Seidengart (Hg.), Ernst Cassirer. De Marbourg à New York. Paris 1990, S. 81 ff., sowie die anekdotische Verdichtung H. Blumenberg »Affinitäten und Dominanzen«, in: Ders., Ein mögliches Selbstverständnis. Stuttgart 1997, S. 161 ff.
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historistischen Relativismus reduziert. Doch sie kann überhaupt nur existieren, weil sie auf das endliche Dasein, die je-weilige Subjektivität bezogen ist. Damit wirft Heidegger im Rekurs auf das Wesen der Zeit die weitergehende Frage auf, wie die Anmutung von Ewigkeit und einer durchgehenden Substanzialität selbst in der Zeit grundgelegt ist. Die ekstatische Binnenverfassung von Zeit, wie Heidegger sie in Sein und Zeit niederlegte, gewinnt nun exemplarisch Profil aufgrund ihres »in sich horizontalen Charakter[s]«, »dass ich im zukünftigen, erinnernden Verhalten immer zugleich einen Horizont von Gegenwart, Künftigkeit und Gewesenheit überhaupt habe« (282). Die eigene Todes- und Angstanalytik habe ihren Sinn, so führt Heidegger diesen Gedanken weiter, in keiner anderen Zielsetzung als darin, die Endlichkeit des Daseins zu exponieren. Heidegger beharrt auf seiner einen, maßgeblichen und im Horizont der Moderne höchst explosiven Frage: der Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik selbst. Allgemeines kulturtheoretisches Raisonnement erscheint ihm demgegenüber als Ausweichen, das der systematischen Ursprungsfrage nicht gerecht werde. Man kann sich daran stoßen, dass damit die Eigenständigkeit der ethischen Frage und der Normativität in Zweifel gezogen wird. Heidegger scheint an diesem Punkt Cassirer sogar auszuweichen – und bestätigt dabei das gängige Vorurteil der fehlenden Ethik. Freiheit versteht Heidegger nicht normativ. Sie muss, so Heideggers Diktum, »in der Befreiung des Daseins im Menschen« (285) begründet sein, was aufs engste mit der identifizierten Grundfrage in Verbindung steht. Beide Philosophen registrieren, in unterschiedlicher Intensität, ein Ungenügen am Ansatz des Anderen, an dem der Bruch sichtbar wird. Cassirer vermerkt, dass Heidegger mit der transzendentalen Einbildungskraft einen »terminus a quo« gewinne, aber nicht zu einem »terminus ad quem« finde. Heidegger dagegen verortet Cassirer im Kontext einer Kulturphilosophie, die ihre »metaphysische Funktion« erst in ihrer inneren Dynamik und ihrer »Verwurzelung« freilegen müsse (285). Die Analyse der Gesprächsverläufe, diesseits von mythischsymbolischer Überhöhung, ergibt ein vielleicht überraschendes Bild: Cassirer antwortet auf Heideggers Fragen weniger einlässlich und eher en passant: Der ›Weg‹ des Menschen zur Unendlichkeit sei, so hält er fest, in der Form zu finden. Sie führe aus der Unmittelbarkeit zur eidetischen Gestaltgebung, wobei Cassirer die Schiller-Verse 249
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»Aus dem Kelche dieses Geisterreiches strömt ihm die Unendlichkeit« zitiert (286). Ein freies Zitat jener Verse steht bekanntlich am Ende von Hegels Phänomenologie des Geistes, eine Intertextualität, auf die Heidegger nicht anspielt. Heideggers zweite, vor dem Hintergrund seiner Daseinsanalyse scharf geschnittene Frage, ob das Unendliche nur eine Privation des Endlichen sei oder ein eigener Bereich, beantwortet Cassirer wiederum mit einem Goethe-Zitat; in der Sache hebt er, wohl an der Infintesimalrechnung orientiert, hervor, das Unendliche sei ein eigener Bereich des Seienden, wobei die Endlichkeit selbst ins Unendliche gehe, eine »vollkommene Auffüllung der Endlichkeit selbst« sei (286). Die Bestimmung der Freiheit, die Cassirer in wenigen Sätzen gibt, ist ein explizites Bekenntnis zum »Idealismus« und zu der geschichtsphilosophischen Idee eines »fortschreitenden Freiwerdens« der Menschheit (287). Doch gerade an diesem Punkt, der strittigen Freiheitsfrage, die vor dem politischen Hintergrund des Jahres 1929 und von Jaspers’ späteren Einwänden besonders markant ist und noch immer Sympathie verdient, meldet Heidegger Widerspruch an. »Die Freiheit habe ich mir nicht selbst gegeben« – hält er fest, sie liege letztlich im Dasein begründet und sei damit in einer ontologischen Struktur begründet. Auf die dokumentierte Frage des Diskussionsteilnehmers Pos, ob eine Übersetzbarkeit der Heidegger’schen in die Cassirersche Begrifflichkeit möglich sei (287), antwortet Heidegger mit großer Zurückhaltung gegenüber einer eventuellen Nivellierung der Standpunkte. Ziemlich unverhohlen lässt er sich aber auf die Begrifflichkeit Cassirers ein. So notiert er, dass bei Cassirer der terminus a quo ungeklärt bleibe, während der terminus ad quem für die Kulturphilosophie leitend sei. In seinem eigenen ›Terminus ad quem‹, den Cassirer moniert hatte, gehe es stattdessen um die Grundlegung einer Metaphysik aus der Endlichkeit. Die Einteilung der Philosophie in Einzeldisziplinen sei vor dem Gewicht der Grundlegungsfrage preiszugeben. Angestoßen durch die Cassirer’sche Fassung von Freiheit gibt aber Heidegger eine harsche und abweisende Selbstdeutung zu erkennen: Dasein als Bewusstsein zu reformulieren (was seither viele Interpreten versuchten, etwa Ernst Tugendhat 24), führe in die Irre (289 f.), denn eine bewusstseinsphilosophische Annäherung solle gerade zurückgewiesen
E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt/Main 1979, S. 164 ff.
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werden. Damit ist auch die Differenz zur Husserl’schen Phänomenologie wieder klar beleuchtet. Cassirers Versöhnlichkeit wird in seinem abschließenden Votum explizit. Um nicht in einer historistischen Relativität zu verharren, komme es darauf an, nach dem »gemeinsamen Zentrum in unserem Gegensatz« (292) zu fragen. Cassirer zielt von hier her auf Sprache, die er ein »Urphänomen« nennt, das eine Sphäre objektiven Geistes konstituiert und in der die Verschiedenheit der Sprachansichten auf Welt verbunden sei. Der spätere Ansatzpunkt der Gadamer’schen Hermeneutik mit der Implikation: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« 25 liegt, so kann man den Eindruck haben, näher an Cassirers als an Heideggers Denkansatz. Cassirer bleibt jedenfalls im Rekurs auf Sprache als symbolische Form an einer transzendentalen Denkarchitektur orientiert. Mit Cohen rekonstruiert er den Typus transzendentaler Argumentation als Ausgangspunkt von einem Faktum der Vernunft, das dann auf seine Möglichkeit hin untersucht werden soll (295). Die Frage nach dem Sinn von Sein sieht Cassirer damit von vorneherein im Licht der transzendentalphilosophischen Transfiguration. Dagegen ist es Heideggers starke Konzentration auf diese eine zentrale Frage nach dem Sein, die er programmatisch und inszeniert gegenüber dem Cassirer’schen sinnenden, assoziativen und ästhetischen Diskurs ins Feld führt. Heidegger rekurriert seinerzeit nicht explizit auf die vorplatonische Philosophie. Ausdrücklich verweist er aber darauf, dass es Platon und dessen metaphysische Grundfrage was das Seiende ist, selbst zu wiederholen gelte. Nicht Standpunkte und Positionen machen die eigentliche Differenz aus, so Heidegger; vielmehr sei der Streit zwischen den Positionen der eigentliche Ansatzpunkt der Philosophie (349 f.). In einer vielleicht tieferen Weise, als es 1929 sich abzeichnete und zudem über vielfache Engpässe und Schwierigkeiten, trifft Cassirer den springenden Punkt, wenn er die Sprache als den gemeinsamen Grund in der Debatte benennt: Zwischen ihrer Funktion in der Philosophie der symbolischen Formen und in Heideggers späten Anbahnungen von Unterwegs zur Sprache liegen weitreichende Differenzen. Doch Heidegger gibt Cassirer insofern Recht, als auch das Seinsdenken auf das Problem der Sprache führt. Wäre im Sprachdenken doch das Ungesagte in beider Gespräch zu finden? 25
H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke Band 1, S. 478.
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In die Strittigkeit der Davoser Disputation geht durchaus zentral Heideggers Auseinandersetzung mit Cassirers Rezension seines Kant-Buches ein. 26 Die methodische Differenz wird hier besonders klar benennbar. Cassirer verkenne, dass es Heidegger »um die Herausarbeitung eines Problems« geht (301) und nicht um die »richtige Interpretation« eines »Kant an sich«. Die neukantianische Fixierung auf die reinen Verstandesbegriffe stellt Heidegger im Licht der vielberufenen Formulierung von der ›Metaphysik der Metaphysik‹ Kants an Marcus Herz seinerseits in Frage: Mit einem philologisch bemerkenswerten Argument, dass Kant gemeint habe, er werde »binnen 3 Monathen« fertig sein, tatsächlich aber 10 Jahre zum Abschluss seines Hauptwerks benötigt habe. Allein diese Divergenz verweise auf die Komplexität der Problemstellungen und die erforderlichen Zwischenschritte, die Cassirer ignoriere. Bemerkenswert ist auch, dass Heidegger in der Annotation Cassirer »ohne weiteres« zugibt, »dass meine Interpretation gewaltsam und übersteigernd« ist (302) und dass er seinerseits die Absicht unterstreicht, einen gemeinsamen Boden zu gewinnen. In Frage stehe aber, ob das Problem der Metaphysik anders entfaltet werden könne und ob sich Kant nicht tatsächlich und de facto auf dem Boden bewegen müsse, den Heideggers Interpretation freilegt. Eine Interpretation des Davoser Höhengesprächs liegt mithin nahe, die nicht nur die Gegensätzlichkeit betont, die unübersehbar angelegt ist, sondern auch die Möglichkeit einer Sachdiskussion und Verständigung auf gemeinsamen Grund ins Auge fasst. Die Einsicht in die Sprachlichkeit des Denkens hätte zumindest eine Kontinuierung des Gesprächs erlaubt. Davos ist damit auch Indiz dessen, was im Jahr 1929 noch möglich gewesen wäre und was dann unwiederholbar zerbrach. Die Gründe liegen unübersehbar in den Brüchen der Zeit. Sie liegen aber auch in der weiteren Genese Heidegger’schen Denkens, das seit den frühen Dreißiger Jahren in eine andere Richtung abbog. Es ist keineswegs nur eine Frage des Timbres und der Stimmungen, dass Heideggers Voten in Davos mehr faszinierten, dass bei ihm die philosopische Sprache einer neuen Generation sichtbar wurde, auch und gerade, wenn die politischen und ethischen Sympathien bei CasE. Cassirer, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, in: Kantstudien 36 (1931), S. 1 ff.
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sirer lagen. Es ist schlicht die philosophische Konsequenz und Kompromisslosigkeit, die Fähigkeit eine metaphysische Frage radikal zu exponieren und zu Ende zu denken gegenüber einem lose geknüpften, systematisch nur bedingt sich einlassenden Diskurs, die beide trennt. Cassirer bleibt in der Regel bei Voraussetzungen und vorgeprägten Begriffen, während Heidegger den Fragen auf den Grund zu gehen versucht und die Begriffsstrukturen aufbricht. Vor dieser argumentationsanalytischen Differenz ist es also durchaus nachvollziehbar, dass Franz Rosenzweig von »vertauschten Fronten« sprach; 27 einer philosophischen Annäherung in der Tiefe, die er, der jüdische Denker, gegenüber Heidegger empfand, auch wenn er politisch, kulturell und ethisch zu Cassirer neigen musste. 28 Auch wenn Toni Cassirer in ihren Memoiren Heidegger als protototalitären und barbarischen Antipoden gezeichnet hat 29 und auch wenn die Authentizität einer solchen Schilderung schon mangels Quellenfunden vom Nachlebenden unwidersprochen bleiben muss, sollte die Davoser Debattenlage keinesfalls von Anfang an auf den symbolischen Horizont reduziert werden, so als sei die Behauptung Rortys doch noch zu bewahrheiten, Philosophie müsse in ihren harten Wahrheitsimplikationen gegenüber den Ansprüchen der Demokratie abdanken. 30
19. Freiburger ›geschichtliche‹ Vorlesungen: Fast ein mündliches Hauptwerk Man findet bei Heidegger den von ihm selbst so benannten Gestus der »Gewalt brauchenden« Interpretation, einer Interpretation mithin, die die Texte der Tradition destruiert, um das Unausgesprochene, zu Denkende explizieren zu können. Dass solche Auslegungen und Siehe die Analyse Chr. von Wolzogen, »Vertauschte Fronten: Heidegger und Rosenzweig«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 46, No. 2 (1994), S. 109 ff. 28 Erstpublikation des Rosenzweig-Textes in: Der Morgen, April 1930, S. 85 ff. 29 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer. Darmstadt 2003, S. 250 ff. Cassirers Schilderungen sind menschlich sehr verständlich, v. a. angesichts der späteren Erfahrungen in der Emigration. Sie bilden allerdings nicht unbedingt in jeder Hinsicht verlässlich Heideggers zeitgenössische Wirkung ab. 30 So die Tendenz R. Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: Ders., Solidarität oder Objektivität. Drei philosophische Essays. Stuttgart 2013. 27
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Auseinandersetzungen gerade nicht »Sekundärliteratur« oder der Philologie zugehörig sind, betont Heidegger nachdrücklich. Dies sollte nicht heißen, dass nicht auch aus dieser Sicht Einwände legitim formuliert werden können. 31 Sie müssen sich dabei allerdings auch ihrer eigenen Prämissen versichern. Auch wenn die Disruption zwischen Denkgeschichte und Systematik in der gegenwärtigen philosophischen Situation vielfach befördert wird, nötigt Heideggers Denken zu einem antireduktionistischen, beide Dimensionen zusammensehenden Zugriff. Die Freiburger Vorlesungen zeigen auf den ersten Blick eine andere Struktur und einen anderen Duktus als die Kollegs der Marburger Zeit. Heidegger tritt nun als ein Lehrer an das von ihm selbst so eingehend beschriebene Katheder, der mit seinem frühen Hauptwerk Weltruhm erlangte und für viele, nicht nur für Hannah Arendt als König im Reich des Geistes erschien. Zugleich bildet die Abfolgezeit jener Vorlesungen eine Suchbewegung ab und sie ist von massiven, schwerwiegenden Krisen durchzogen. Der moralische und intellektuelle Tiefstpunkt des Jahres 1933 bildet sich auch in diesen Vorlesungen ab. Sie versuchen dann zunehmend diese Nullstelle zu überwinden, vor allem auf dem Weg der kontinuierlichen Nietzsche-Interpretationen. Ob dies gelungen ist und ob jener Weg der taugliche Weg war, bezweifelte Heidegger selbst immer wieder. Zumindest fünf Schwerpunkte lassen sich dabei im Vorblick auf das Vorlesungswerk voneinander unterscheiden: 1. Für die Auseinandersetzung mit der Metaphysik, die er selbst terminologisch als Ineinssetzen und Heraussetzen verstand, wählt Heidegger neben Nietzsche die klassische Philosophie des Deutschen Idealismus als Gegenpart. Dabei ragt das Kolleg vom SS 1929 (GA 28) über den Deutschen Idealismus heraus, weil es von Fichtes Ichphilosophie her den Hegel der Phänomenologie Immer wieder haben sich hervorragende Kenner authentischer Grundstellungen der Metaphysik in diesem Sinn gegen Heidegger gewendet, z. B. Hans Blumenberg, Dieter Henrich oder auch Werner Beierwaltes. Diese subtile Dekonstruktion gewisser Heidegger’scher Evokationen erwies sich in jedem Fall als fruchtbarer denn der Versuch, Heideggers Ansatz zu kopieren und für die Nachzeichnung vergangener Denkweisen zu übernehmen.
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des Geistes und den Schelling der frühen Naturphilosophie rekonstruiert. Zwei Mal interpretiert Heidegger dann Schellings Freiheitsschrift (SS 1936, GA 42 und SS 49, GA 49), die einerseits den Abschied vom Systemdenken markiert und die eine besondere Affinität zur Struktur der Seinsfrage aufweist. Daneben steht eine einlässliche Deutung von Hegels Phänomenologie des Geistes, während Heidegger die Logik, von markanten Stellen im Nachlass abgesehen, weitgehend außer Acht ließ. Die Frage nach der Logik, als dem Zugang zur Wahrheit des Seins wird weiterverfolgt. Die Einsicht aus Sein und Zeit, dass der lógos das Phänomen erschließe und die Wahrheit des Seins erhelle, wird dabei im Licht des anderen Anfangs verwandelt und fortgeschrieben. Die Fragen jener ›Logik‹ des Denkens expliziert Heidegger auch als Grundfragen der Philosophie – (WS 1937/ 38, GA 45) oder Grundbegriffe des Denkens (SS 1941, GA 51). Der Gesamtrayon von Sein und Zeit brachte eine Reihe von systematisch dominierten Vorlesungen hervor, mit denen ein Gesamtaufriss der Zwischenphase von erstem und anderem Anfang versucht wurde. Dabei fallen die Umkreisungen der Wahrheitsund Freiheitsfrage besonders ins Gewicht (SS 1930 GA 31). Unter die Vorlesungen mit systematischem Anspruch gehören auch Korpora, die einen schwerwiegenden Tribut an den Zeitgeist entrichten und zur Identifikation des Daseins mit dem »deutschen Dasein« neigen, vor allem die Vorlesungen aus den Jahren 1933/ 34 (GA 33). Die Aristoteles- und Platon-Auslegungen sind ihrerseits deutlich auf seinsgeschichtliche Grundkonstellationen bezogen, die an anderen Orten nicht oder nur verhüllt zur Sprache kommen: Wesen und Wirklichkeit der Kraft (WS 1930/31, GA 32), bzw. der Idee als Joch der anfänglichen Erfahrung von phýsis (WS 1931/32, GA 34). Die Spannungen der ›Auseinandersetzung‹ haben ihr Gegengewicht in der »hörenden Zwiesprache«, die Heidegger in zwei Zusammenhänge führt. In sie münden die Denkwege gegen Ende des Zweiten Weltkriegs: Das Hören auf Hölderlins Dichtung und der Versuch, den Anfang der Philosophie in der Zweistimmigkeit von Parmenides und Heraklit als verborgenem und nicht bedachten Anfang in der abendländischen Metaphysik zur Geltung zu bringen.
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Wie kaum ein anderer Denker des 20. Jahrhunderts schärfte und exponierte Heidegger seinen Denkweg in Gespräch und Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundstellungen von mehr als zweitausend Jahren. Diese Auseinandersetzungen weisen verschiedene Grade von Nähe und Ferne auf. Die Urteile über vergangenes Denken fällt Heidegger, wie jeder große Systematiker, im Blick auf seine Frageansätze und er ignoriert Stimmen in jenem Denken, die diesen Ansatz konterkarieren könnten. Im Zentrum der Freiburger Vorlesungen der zweiten Periode stehen die Nietzsche-Vorlesungen. Sie lassen sich deshalb zweifach interpretieren, einmal nach den Revisionen und unterschiedlichen Beurteilungen Nietzsches in Heideggers Philosophie. Zum anderen bilden sie selbst ein kategoriales Gefüge des Endes der Metaphysik aus, das Heidegger zunehmend mit Nietzsche identifiziert. 32 Der Nietzsche-Auseinandersetzung entsprechen in der Struktur von Heideggers Vorlesungen in besonderem Maß die Einlassungen auf die andere Konstellation des Endes neuzeitlicher Metaphysik, die er immer wieder benennt: den Deutschen Idealismus. Beide Wege enden nach Heidegger in einer Verabsolutierung neuzeitlicher Subjektivität und Seinsvergessenheit. Kontrapunkt dazu ist in Heideggers innerer Denkbewegung daher die hörende Zwiesprache mit Hölderlins Dichtung und die Provokation durch die Fragmente und Gnomai des frühgriechischen Denkens, flankiert von Verständigungen zur Einführung in die philosophische Denkbewegung und das Wesen der ›Logik‹. Damit ist, vom Zentrum der Nietzsche-Auseinandersetzung her, die Struktur von Heideggers in der Lehre dokumentierter Denkbewegung umschrieben. Seine erste Freiburger Vorlesung hielt Heidegger im Wintersemester 1928/29 unter dem Titel Einleitung in die Philosophie. Sie ist später als ideale Einleitung in Heideggers Denken charakterisiert worden. 33 Auf Sein und Zeit konnte er zu diesem Zeitpunkt resümierend zurückgreifen. Doch noch bestimmender ist in jener Vorlesung die Nähe zum phänomenologischen Wahrheitsverständnis, das an das noetisch-noematische Korrelationsapriori anschließt. Thematisch
Dazu H. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., siehe auch Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, a. a. O., v. a. S., 231 ff. 33 Vgl. dazu auch J. Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–32. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, a. a. O., S. 115 ff. 32
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geht Heideggerer von einem Sinn von ›Destruktion‹ aus, der den originäreren Zugang als die umfassendere Wahrheit und Wirklichkeit versteht, sodass die Satzwahreit als prädikative Beziehung in einer originäreren veritativen Beziehung grundgelegt wird (GA 27. 125 ff.) Wahrheit zeichnet sich somit in einem möglichen doppelten Verständnis ab, als ›Erschlossenheit‹ des vorhandenen Seienden und umfassender und elementarer, als Entdecktheit des Daseins selbst. Das Dasein ist und lebt, indem es wesenhaft auf ein Wahrsein, verifieri, hin orientiert ist. Die wissenschaftliche Weltorientierung, der bios theoretikos, ist daher ein sekundär abkünftiger Modus von diesem in-der-Wahrheit-sein, womit Heidegger die wissenschaftliche Urhandlung, das Sein lassen des Seienden (183), gegenüber jeder wissenschaftlichen Bestimmung hervorhebt. Um zu erkennen, ist im Sinn der phänomenologischen Epoché ein explizites Außer Kraft-setzen erforderlich, das die pragmahafte elementare Beziehung des schon-seins- bei einer Welt stilllegt. Gezeigt wird damit auch, dass das Vorliegenlassen von Seiendem als Seiendem, als Positum, keineswegs voraussetzungslos ist. Phänomenologie setzt Ontologie voraus, ein Verständnis, in dem das Seiende hinsichtlich seines Seins angesprochen wird. Hier markiert Heidegger eine bis heute historisch und systematisch markante Zäsur: Niemals nämlich kann, Heidegger zufolge, die Phänomenologie die Ontologie ersetzen oder unnötig machen. Die phänomenologische Intentionalität, das Verständnis des legein als legein ti, Aussagen des Seienden in einer bestimmten Hinsicht, besage, wie Heidegger betont, gerade noch nicht, »das so Angesprochene in seinem Wesen [zu] begreifen« (GA 27.200). Dies ist allenfalls möglich, wenn das Seiende auf seinen verborgenen Grund bezogen wird. Philosophieren selbst wird dabei als »Ausbildung des Seinsverständnisses«, als transzendierendes Seinlassen des Daseins zu seinem Grund aufgefasst (220), ohne die die spezifische ontisch-positive Ausweisung der Wissenschaft gar nicht möglich wäre, ohne die aber auch menschliches Dasein nicht existieren kann, weshalb es einen Ort außerhalb der Philosophie nicht geben könne (219). Heidegger hatte, wie der Blick auf seine frühen Vorlesungen zeigte (II.), von Anfang an die Konturierung der Philosophie nicht nur gegenüber der Wissenschaft, sondern auch gegenüber Weltanschauung und Geschichte im Blick. Dies ließ sich geradezu als Kern seiner phänomenologischen Anfangsintentionen verstehen. Der Blick auf die Wissenschaften bleibt in der ersten Freiburger Vorlesung 257
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letztlich unrealisiert, der Fragebereich zur Weltanschauung dagegen wird in Wiederaufnahme eines Impulses der frühen Nachkriegszeit nach 1918 entwickelt und nimmt sich wie eine überfällige Katharsis gegenüber der Weltanschauungsbezogenheit der zeitgenössischen Philosophie aus. Dies hat gute Gründe. Heidegger musste sich auch gegenüber der Verkennung von Sein und Zeit als eines Stücks Existenzphilosophie und damit Weltanschauungsphilosophie sichern. Es ist schwer verständlich, dass von dieser Immunisierung gegenüber Weltanschauungen wenige Jahre später, 1933, nicht mehr die Rede ist. Den Weltanschauungsbegriff legt Heidegger wesentlich tiefer an, als dies durch zeitgenössische Autoren wie Dilthey, der inneren Entwicklung einer Relation vom Leben zum Weltbild, aber auch der Pluralität möglicher Weltanschauungen nach Jaspers und der Soziologie der Weltanschauungen nach Scheler nahelag. Heidegger greift auf den vom Neuen Testament her geprägten schulmetaphysischen Weltbegriff zurück, der auf das »Seiende im Ganzen [bezogen ist] und zwar als das entscheidende Wie, gemäß dem sich menschliches Dasein zum Seienden stellt« (244), und das von den spiritualia unterschieden wird. Den eigentlichen Ansatzpunkt erreicht Heidegger jedoch im Spannungsfeld des Kantischen Weltbegriffs. Die cosmologia rationalis frage zugleich nach der Idee der Metaphysik, den Bestandteilen einer Welt. Damit thematisiert sie das weitergehende Problemfeld, was »Ansatz und Aufriß der Grundlegung der Metaphysik« sei (257). Seine volle Bestimmung erreicht der Weltbegriff erst im Begriff des ›transzendentalen Ideals‹, des Kantischen Gottesbegriffs, der von einer »absoluten Totalität« (281), als »Totalität der Erscheinungen« ausgeht. Weltanschauung konstituiert sich daher in einem übergreifenden Sinn, einer Totalität, die im Licht der kritischen Philosophie der Vernunft gar nicht zugänglich ist. Weltanschauung wird daher resümierend von Heidegger in einem zweifachen Verständnis aufgefasst, als antike, vorphilosophische Bergung im Mythos und als Halt im mythischen Weltzusammenhang (357) einerseits und, im Licht der Neuzeit, als »Haltung« und spezifizierte Auseinandersetzung mit dem Seienden im Ganzen. Hinsichtlich der Grundstrukturen kann Heidegger auf seine frühen Freiburger Privatdozentenvorlesungen zurückgreifen: Philosophie muss von Weltanschauung strikt unterschieden werden, zugleich zielt sie aber auf einen Weltbegriff im Ganzen. Was die gängigen Weltanschauungskonzeptionen nicht erkennen können, kann 258
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daher erst aus der philosophischen Metaperspektive deutlich gemacht werden: dass nämlich Weltanschauung als Haltung gerade in die Abgründigkeit und Schwebe verweist und sich nicht zuletzt darin von der Tektonik antik unterscheidet. Grundlegend ist dabei, dass die Einheit von Sein und Welt thematisch wird. Oder, wie Heidegger pointiert formulierte, das »Seinsproblem entrollt sich zum Weltproblem, Weltproblem bohrt sich zurück in das Seinsproblem, – das sagt, beide machen die in sich einheitliche Problematik der Philosophie aus« (394). Es kann fruchtbar sein, die erste Freiburger Vorlesung im Licht von Husserls viel rigider zurückweisender Weltanschauungskritik zu verstehen, auf die immerhin angespielt wird, wenn Heidegger vom »philosophisch-transzendentalen Begriff des Phänomens« (395) spricht, das sich weltanschaulicher Vereinnahmung entzieht. Philosophieren ist damit keineswegs vom Denken unterschieden, sondern eine Engführung von erstem und anderem Anfang ist etabliert. Antike Kosmologie und neuzeitliche Haltung zur Welt erscheinen zudem nicht in einer seinsgeschichtlichen Abstiegslinie, sondern als zwei Epochen des Weltbegriffs. Nicht überraschend ist deshalb von der »Konstruktion der Transzendenz, Ursprünglichkeit und Strenge der Erkenntnis, wie sie Wissenschaft nie haben kann« (400) die Rede. Diesem Motiv, das Heidegger auch als ein sich Versetzen auf die Höhe des Großen verstanden hat, folgt in einem neuen Anlauf die Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus im folgenden Semester, die hoch konzentriert an Fichtes erster Wissenschaftslehre, dem Verhältnis der ersten drei Grundsätze von ›Ich‹ und Nicht-Ich, ansetzt, auf die dann eine abbreviative Skizze des darauf folgenden naturphilosophischen Ansatzes bei Schelling und des Grundrisses der Phänomenologie des Geistes bei Hegel folgt. Diese Linie zog Heidegger erkennbar in den folgenden Jahren weiter aus, worin sich auch der Initialcharakter der Einleitungsvorlesung zeigt. Einerseits geschah dies in GA 32, dem Kolleg über Hegels Phänomenologie des Geistes, dann in GA 42, der späteren Freiburger Vorlesung über Schellings Freiheitsabhandlung, die er zwei Mal interpretierte. Auch GA 41, die Kant-Vorlesung zur Frage nach dem Ding, bewegt sich nicht nur im Umkreis von Heideggers KantAuseinandersetzung seit dem Kant-Buch des Jahres 1929, sondern der Schärfung dieser Linien, einer Positionierung des eigenen Gestalt gewinnenden Denkens zur Klassischen deutschen Philosophie. Die Hegel-Vorlesung verfährt mit einer erstaunlichen Askese, die man auch aus zu Lebzeiten publizierten Hegel-Abhandlungen Heideggers 259
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kennt, indem sie Hegels Begründungsstrukturen weitgehend folgt und den Akzent auf die Hegel’schen Binnenstrukturen, nicht die ›Auseinandersetzung‹ legt. Die Stufen des Zusichselbstkommens des Geistes beruhen, so zeigt Heidegger in einem Auslegungskontext, der die Kapitel ›Bewusstsein‹ – ›Wahrnehmung‹ – ›Selbstbewusstsein‹ der Phänomenologie zugrunde legt, schon auf dessen Absolutheit. Diesen Vorgriff könne und wolle Hegel nicht abstreifen. Deshalb könne die Interpretation nicht rekonstruktiv bleiben, sie müsse »dem, was jeweils dargestellt wird und wie es dargestellt wird, immer schon um einen Schritt voraussein – und zwar um den Schritt, der durch die Darstellung gerade gemacht werden soll« (48). Auf diese Einsicht, den Vorgriff vom Absoluten her, kommt Heidegger am Ende des Kollegs, das eigentlich einen Abbruch darstellt, nochmals zurück. Damit kommt die Frage auf, ob das Absolute in der Phänomenologie des Geistes »wirklich wirklich« werde (215). Im Licht dieser Frage wird auch die Hegel’sche Konstruktion selbst problematisch, dass das Recht des Anfangs erst durch das Ende erwiesen werde (215). Dies bedeutet nichts anderes, als dass das Ende schon im Anfang leitend sein muss; damit aber verschiebt sich die Tektonik auf den Ort ›des Menschen‹, des endlichen sterblichen Daseins, und danach, ob er den ›Sprung‹ ins Absolute vollziehen kann. Es ist nicht mehr ›formal anzeigend‹ vom Dasein, sondern vom Menschen die Rede. »Soll der Mensch und kann er wahrhaft als der Übergang von sich selbst abspringen, um sich als das Endliche zu verlassen, oder ist sein Wesen nicht gerade die Verlassenheit selbst, in der allein im Besitzbares Besitz wird?« (216). 2. Auf Schellings Freiheitsabhandlung bezieht sich Heidegger gerade nicht als auf das Einzelne, das es aber in der Philosophie niemals geben könne, also nicht in jenem Sinn, in dem Hegel sie mit nachhaltigem Wohlwollen und dennoch kritisch beurteilte. 34 Aufgrund der inneren Spannung zwischen System und Freiheit, an der Schellings Systemanspruch zerbrach, versetzt die Abhandlung in das Zentrum der Systemanstrengung selbst. Schelling spricht an einer von Heidegger zitierten Stelle (42. 37) von der »alten, jedoch keineswegs verklungenen Sage«, wonach der Begriff der Freiheit »mit dem System Schelling, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Theorie-Werkausgabe Band 20, S. 453 ff. Bei allen späteren Differenzen ist diese grundlegende Zustimmung leitend geblieben.
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überhaupt unverträglich sein soll« (ibid.) – und er extrapoliert ein »System der Freiheit als Gegenbild zu dem Spinozanischen« System, das Schelling »eigentlich [als] das Höchste« erkannt habe. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn die Vorlesung mit einer tiefdringenden Explikation über die Systematizität der Philosophie beginnt, deren Gleichgültigkeit und Desavouierung seit Kierkegaard und Nietzsche Heidegger eingangs thematisiert. Heidegger greift zurück auf die mathematisch-geometrische Systemstruktur des 17. und 18. Jahrhunderts und akzentuiert den Neueinsatz mit dem Kantischen Systembegriff, der das tektonische Wesen der Vernunft selbst bezeichnet (61 f.). Als zwei elementare Ausgestaltungen des Systemanspruchs der nachkantischen Philosophie zeigt er, dass Wissen als »intellektuale Anschauung« nicht in der Extrapolation eines göttlichen Wesens, sondern als Wissen des Menschen selbst aufgefasst werden kann. 35 Der zweite Weg thematisiert aber das, was bei Hegel und zuvor schon bei Schelling Phänomenologie des Geistes hieß, 36 dass »Geschichte als Weg des absoluten Wissens zu sich selbst« erwiesen werden könne. Als den Ansatz der Freiheitsabhandlung legt Schelling deshalb offen, dass die Frage nach dem Seienden und nach Gott, die Grundfrage des Systems, in einen Zusammenhang von Geschichte gebracht werden. Intellektuale Anschauung und Geschichte werden deshalb miteinander verbunden, nach dem Paradigma einer Vorprägung des Systems im göttlichen Urwesen selbst (89 f.), die, wie Heidegger kongenial freilegt, den Zustand der Philosophie selbst, mit Schelling deren »innersten Mittelpunkt« (103), in der Spannung von Freiheit und Notwendigkeit entfaltet. Damit werde die idealistische und mit ihr die egologische Frage selbst an ihre Grenze geführt. Der lebendige Begriff von Freiheit sei »Sichselbstwollen« (160), das aber keineswegs nur in der menschlichen Subjektivität, sondern im Wesen des Seyns selbst angelegt ist. Die Annäherung des eigenen Seinsdenkens an Schelling wird von Heidegger weit getrieben: Spricht er doch, wo es um das Verhältnis von ›Grund‹ und ›Existenz‹ geht, von einer Seynsfuge, eben mit dem Begriff, der für die Explikation des anderen Anfangs in den ›Beiträgen zur Philosophie‹ vorbehalten bleiben wird. Es ergibt sich ein umgekehrt proportionales Verhältnis zu der HegelDazu vor dem Hintergrund einer mittlerweile weit verzweigten und teilweise ausgezeichneten Literatur Seubert, Der Denkweg der Klassischen deutschen Philosophie. Baden-Baden 2019 (im Erscheinen). 36 Ibid. 35
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Interpretation. Diese besticht durch ihr Eindringen in die Hegel’sche Systementwicklung, ohne prima facie den anderen Anfang damit in Verbindung zu bringen. Der Blick auf Schelling operiert dagegen immer wieder mit Engführungen. Heidegger geht davon aus, dass sich sachliche Klärungen faktisch nur in der Verbindung mit der Interpretation klassischer Texte, ihres Expliziten und Impliziten, gewinnen lassen, die er nach wie vor als ›Destruktion‹ beschreibt, im Sinn der Rückführung auf den anzunehmenden tiefsten Punkt der Problemkonstitution. 37 Heidegger zeigt darin eine hochgradige Sensibilität für Schellings Stillage, die die inneren Widersprüche der Seinsfuge in seiner, Heideggers eigener, Sprech- und Denkweise mit prägt. Der Schelling’sche Denkstil ist Heidegger näher als Nietzsches Kunst, in Aphorismen zu philosophieren. Dies zeigt er in expliziten Referenzen auf Schellings Sprache. Schellings Stil sei unauffällig andeutend, er halte sich in einer verbindlichen Unverbindlichkeit und subtilen Annäherung an eine »innere Notwendigkeit einer eigenen Art« (42.101), die mit Goethe verwandt sei, nicht aber die Härte und das Herrische zutage treten lasse, das bei Hegel dominiere. Bezogen auf Schelling scheint Heidegger ein Idealbild philosophischen Sprechens zu entwerfen, dem er selbst nicht immer gerecht geworden ist. Bei Heidegger können wir beides finden: die »herrische Härte« in den Abhandlungen und in Teilen der nachgelassenen Texte, die Zurückhaltung gerade in der Spätphilosophie, ein Sinnen und Raten des Seinsrätsels, das sich allerdings von den konzisen Argumenten der Transformation der Metaphysik entfernte (105). Was Heidegger an Schellings Freiheitsabhandlung fasziniert, ist eine grundsätzlich veränderte Dimensionierung des Freiheitsbegriffs. Dieser ist keineswegs wie bei Kant auf die praktische Philosophie eingeschränkt, sondern auf das Gefüge des Seienden im Ganzen und seine Darstellbarkeit in einer universalen Systematik bezogen. Versuchsweise kann gefragt werden, ob nicht eben hier eine Korrektur des Jaspers’schen Diktums von Grund auf möglich wäre, dass Heidegger nichts von Freiheit verstanden habe. Jaspers’ Diktum wird sich bis zum Skandalösen, im Feld ethischer und politischer Urteilskraft bestätigen. Auch für Heideggers Topos von der Seinsschickung hat es
Siehe dazu auch Chr. Iber, »Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 194 ff.
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Plausibilität. Doch gilt es gerade nicht im Bereich der Metaphysik und ihrer Verwindung: ein innerer Widerstreit, der Heideggers Philosophie durchzieht. Heidegger präzisiert an einschlägiger Stelle (205 ff.) die Seynsfuge dahingehend, dass sie im Sein des Seienden im Ganzen selbst aufbreche, was Schelling terminologisch in der Unterscheidung von ›Grund‹ und ›Existenz‹ formuliere. Schelling zeige dabei die Bedingung der inneren Möglichkeit des Bösen aus dem Wesen Gottes und seines Verhältnisses zur Welt. Man bemerkt, dass Heidegger, der in den stärksten Auseinandersetzungen mit vergangenem Denken gerade nicht sich selbst und seine eigenen Fragen finden, sondern die Abbiegungen der Metaphysik in die Seinsvergessenheit explizieren wollte, in der Freiheits-Abhandlung eine erstaunliche Nähe zum anderen Anfang erfasst. In keinen anderen Denker legt er sonst Begriffe des anderen Anfangs hinein, auch nicht in Nietzsche. Die in Gott wurzelnde Gegenläufigkeit von ›Grund‹ und ›Existenz‹ soll offensichtlich die Affinität der Schelling’schen Strukturform mit dem Grundverhältnis von ›Welt‹ und ›Erde‹ anzeigen, das Heidegger in seiner Kunstwerk-Abhandlung exponiert hatte: »Je gründlicher (in den Grund strebender) und zugleich je lichter (zur Einigung strebender) die Scheidung wird, um so weiter gehen die Geschiedenen, Grund und Existenz, auseinander; aber um so tiefer kommt das Einigende aus dem Grunde, und um so weiter strebt die Einigung ins Licht« (236). Eigenwille und Universalwille sind im Menschen angelegt und voneinander abtrennbar, worin Schelling die conditio sine qua non von Freiheit erkennt, zugleich aber damit eng verbunden, die Bedingung einer Realisierung des Bösen. 38 Der gegen das Absolute gewendete menschliche Wille hat zugleich eine Synthetisierungskraft. Er formiert Einheit. Die Ungefügtheit bestimmt Schelling als Emanation des Geistes, weshalb das Böse eben nicht Trieb ist und auch nicht nur als Mangel an Gutem (privatio boni) missverstanden werden sollte. Die Geisthaftigkeit wird nicht nur behauptet, sondern phänomenal plausibel gemacht: »In diesem Sich-selbst-erblicken ist die Eigensucht in den Geist hinaufgehoben, damit nicht etwa abgeschwächt und ab38 Vgl. zur Problemverbindung Th. Buchheim, Einleitung in: Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hamburg 1997, S. IX ff., sowie ders., Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie. Hamburg 1992.
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gebogen, sondern erst recht in höhere Möglichkeiten ihrer Mächtigkeit gesetzt« (42. 243). Voraussetzung für die Konstellation der Freiheitsschrift ist nach Heideggers Bestimmung eine freie Beweglichkeit der beiden Pole von Grund und Existenz aufeinander. Das Böse, oder wie es bei Schelling auch heißen kann: die Bosheit, manifestiert sich als »Lossein« von ihrem Grund, die »sich nun über das ganze Dasein legt und es beherrschen will« (248). Die kategoriale Ermöglichung der Seinsfuge lege Schelling in seinem Identitätskonzept an, das Sein als Indifferenzpunkt auffasst und auf die Signierung der Übereinstimmung in der Copula ›ist‹ bezieht. Die Nähe verdeckt einen nicht zu unterschätzenden Differenzpunkt: Heidegger ist in seinen eher sporadischen Bemerkungen über die Zusammenhänge der Schelling’schen Freiheitsabhandlung zu Meister Eckhart und Jacob Böhme vermutlich entgangen, dass er sich letztlich einer auf die Ausbuchstabierung kabbalistischer, mystisch der Hebräischen Bibel folgender Explikation bediente. Der grob schematischen Abwehr von Jerusalem im Namen eines Denkens, das ausschließlich von ›Athen‹ her legitimierbar wäre, hätte er andernfalls eine Korrektur hinzufügen und sich herausgefordert sehen müssen. * Unabhängig von Schelling war Heidegger in seiner Einleitung in die Philosophie. Vom Wesen der menschlichen Freiheit im Sommersemester 1930 bereits dem Ganzen der Philosophie und der Frage der Freiheit im besonderen nachgegangen. Hier scheint ein Philosophiebegriff auf, den Heidegger später, unter dem Eindruck der Totalitätsperspektive der Seinsgeschichte, nicht weiter akzentuierte, dass nämlich »das Ganze nur im wirklich gefaßten einzelnen Problem offenbar« gemacht werde (31.14 f.). Philosophie ist auf dieses Ganze hin entworfen, doch ergeben sich von der Wahl der einzelnen Grundprobleme her spezifische Verflechtungen und Verbindungen immer neu. So bemerkt er auch, im Rückblick auf die vorausgehende ›Einleitung‹ aus dem Wintersemester 1928/29, dass er dort die Verwebung der philosophischen Fragebewegung aus dem Zusammenhang der Wahrheitsfrage gewonnen habe und dass die Freiheitsfrage dazu die komplementäre Perspektive eröffne. Nun wird ein perspek264
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tivischer Neueinsatz bei der Freiheitsfrage versucht: Kennzeichnend für die Kollegs als Heideggers »Verschiebebahnhöfe«. – Im Rückgriff auf Kants Freiheitsverständnis zeigt Heidegger, wie Freiheit im Zusammenhang des ontologisch-kosmologischen Problems insgesamt situiert ist, nämlich auf Kausalität, Bewegung und die Bedeutung des Seienden als solchen verweist (31.24 ff.). Vor diesem Hintergrund kommt er auf die Leitfrage der Philosophie zurück, die er als die aristotelische Grundfrage, als die Frage ti to on freilegt: Was ist das Seiende in seinem Sein? Der vorbegrifflichen Vieldeutigkeit des antiken metaphysischen Grundwortes ousía (Wesen) entnimmt er den Hinweis auf die »unbewältigten Probleme im Erwachen des Seinsverständnisses« (45). Ousía bedeutet »Wesenheit«, die sowohl in die Anwesenheit wie auch andererseits in die Abwesenheit tendieren kann, Präsenz und Entzogenheit zu sein vermag. Deshalb hängt mit der Bestimmung des Seinscharakters des Seienden die Frage der Bewegung aufs engste zusammen, die umgekehrt zugleich die Frage nach dem Bleiben-Können im Fluss von Werden und Vergehen einschließt (61). Die Leitfrage differenziert und klärt sich weiter in einem antiken Horizont und indem Sein auf den Substanzbegriff bezogen wird, den Heidegger in der aristotelischen Bestimmung des Wahrseienden (alethes on) als »kryiotaton on« (Metaphysik Theta 10) rekonstruiert. Seine aus Sein und Zeit bereits bekannte These wird dabei wiederholt, dass das Wahrsein nicht primär auf Propositionen und Satzaussagen bezogen sei, sondern auf das Seiende selbst und seine Wirklichkeit, weshalb Metaphysik Theta 10 als Schlussstein der Aristotelischen Metaphysik verstanden werden müsse. Das in ausgezeichneter Weise wahre Sein wird dort durch Einfachheit, Einheit und Beständigkeit charakterisiert: die Wesensmerkmale der Substanz, um die die Philosophie zwischen Aristoteles und Hegel kreist und die in der metaphysischen Tradition grundlegend für die »Erkenntnis der Wahrheit« sei. Die Leitfrage wird dann in eine Grundfrage der Philosophie umgezeichnet, die das, was Heidegger als Licht und Helle jener Grundfrage bezeichnet hatte (109), den Zusammenhang von Sein und Zeit eigens thematisiert. Heidegger spezifiziert sie in der zweiten Freiburger Einleitung so, wie es für den zweiten Teil von Sein und Zeit sein Konzept gewesen sein wird: »Was ist das Wesen der Zeit, daß Sein in ihr gründet und in diesem Horizont die Seinsfrage als Leitproblem der Metaphysik entfaltet werden kann und muß?« (ibid., 116). Im Interesse einer Verfolgung von argumentativ abzweigenden 265
Verflüssigungen, Möglichkeiten, Abstürze
Wegstrecken hätte eben hier gerade im Licht der Freiheitsproblematik eine Weggabelung bestanden, die auf eine Metaphysik der Zeit und deren Ontologie hätte führen können. Wäre Heidegger dieser Linie gefolgt, so hätte er den Faden seines Kant-Buches von 1929 und die Linie seiner Schelling-Auseinandersetzung konsequenter aufnehmen können. Von einem »Angriffscharakter« (129 f.) auf das alltägliche und das schulmetaphysisch eingeschliffene Verhältnis ist hier die Rede, wobei die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit selbst in das Strukturgefüge der philosophischen Leitfrage »eingebaut« sei (31.130 f.), das sich auf die Konstellation von Sein und Zeit hin entfalte. Die leitende Einsicht der Schelling-Interpretation ist also bereits festgehalten, dass das Freiheitsproblem einen ontologischen Charakter hat. Die Intention ist dabei, wie Heidegger ausdrücklich bemerkt, »in den Gang der Forschung« einzuführen (137), auch wenn dabei das Ganze aus dem Blick zu geraten drohe. Noch einmal verfolgt er offensichtlich eine implizit Husserl’sche Programmatik. Entwickelt wird dies in einer von Husserl so detailliert nie ausgeführten KantInterpretation, die auf die ›Analogien der Erfahrung‹ konzentiert ist (zu Einzelheiten vgl. Kant-Kapitel Dritter Teil 17), in denen Kant Zeit und ›Ich denke‹ miteinander verknüpft; es geht mithin, wie Heidegger im Horizont seines Kant-Buches bemerkt, um die weitergehende Aufklärung des Wie-seins des Menschen, der Modalitäten des Daseins, die nur grob charakterisiert sind, wenn von Menschen als endlichem, zugleich vernunfthaften, zur Transzendenz befähigten Subjekt die Rede ist. Die Differenz zur klassischen Metaphysik markierend, exponiert Heidegger die Crux der Analogien der Erfahrung so, dass »nicht das Vorhandensein von Substanzen« (170) behauptet werde. Kant gebe vielmehr »die apriorische Anweisung«, um in den temporalen Erscheinungen das aufzufinden, was den Anforderungen der Substanzialität, also der Beharrlichkeit genüge. Dies ist der umfassende Horizont eines Weltbegriffs, der seinerseits aus der »Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik« (203), und damit der Möglichkeit der Erfahrung als endlicher Erkenntnis des Seienden« (ibid.), hervorgegangen ist. Hätte Heidegger also diesen Weg weiterverfolgt, so wäre unter Umständen nicht die ›Verwindung‹ der Metaphysik, sondern eine Metaphysik der Metaphysik im Fokus auf den Weltbegriff in das Zentrum der Untersuchungen gerückt. Freiheit wird im Sinn der dritten Antinomie als Anfang einer unbedingten Kausalität verstanden. Heidegger fasst sie als Frage nach einem »Ursachesein für Erscheinungen außerhalb der Erscheinungen 266
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und Bedingungen der Zeit« (ibid.), 39 die mit der lückenlosen empirischen Kausalität zusammen bestehen können muss. Freiheit ist also mit Kant als intelligible Kausalität fassbar, unter der die Totalität der natürlichen Erscheinungen gesehen werden kann. Es fällt auf, ist aber im Rahmen einer Kant-Deutung höchst konsequent, dass und wie Heidegger das Sittengesetz der reinen praktischen Vernunft gerade nicht von ihrem sittlichen Gehalt her auffasst, sondern lediglich als Form des reinen Willens. Der sittliche Weg zur Freiheit wird als zweiter Weg ausdrücklich von dem ontologischen Weg unterschieden. Die Formierung sittlicher Freiheit kommt allerdings in Verbindung mit der Freiheit im Weltbegriff zustande. Der Dialog mit dem Schelling der Freiheitsschrift ist darin antizipiert, dass Heidegger hier die Freiheitsproblematik als Voraussetzung der Seinsfrage thematisch macht. Sei Freiheit doch »die Bedingung der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem, des Seinsverständnisses«, weshalb das Freiheitsproblem auch dem Kausalitätsproblem vorausgehen müsste. Die Einleitung in die Philosophie, ausgehend von Grundworten wie Wahrheit und Freiheit und die Auseinandersetzung mit den differenzierten und anspruchsvollen Begründungsprogrammen der Klassischen deutschen Philosophie flankieren also Heideggers Nietzsche-Auslegung.
20. Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts Aus den Jahren 1938 bis 1941 sind, vor dem Hintergrund einschlägiger Vorlesungen, die eingehendsten Studien Heideggers zur Hegel’schen Metaphysik entstanden, einer Metaphysik der Dialektik und unbedingten Vermittlung, die er mitunter als letzte metaphysische Konstellation auffasste und insofern als den, neben Nietzsche, anderen Strang jenes Endes der Metaphysik interpretierte. Die Konfrontierung der eigenen Suche nach dem anderen Anfang mit Hegels spekulativ-metaphysischer Dialektik hat Heidegger
Vgl. dazu L. Kreimendahl: »Die Antinomie der reinen Vernunft. 1. und 2. Abschnitt«. In: G. Mohr, M. Willaschek (Hrsg.): Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (= Klassiker Auslegen). Berlin 1998, S. 413 ff.
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nicht in den Hegel-Vorlesungen und -Abhandlungen niedergelegt, sondern in den Aufzeichnungen dieses Nachlasses zu Lebzeiten. 40 Die Hegel-Ausarbeitung aus dem Jahr 1938 nimmt den Anfang der Hegel’schen Logik, die Unterschiedenheit und Identität von reinem ›Sein‹ und ›Nichts‹ in den Blick. Heidegger fasst dieses Moment, dessen Kontingenz im gesamten Begründungsverlauf der Logik nicht aufgehoben, bzw. ›getilgt‹ worden ist, als »ganz abstrakte, begriffslose (›gedanken‹-lose)« (68. 17) Übergangsbewegung, die sogar von einem unbestimmten Vorstellen nochmals abstrahiert sei. 41 Die Gleichheit und zugleich totale Unterschiedenheit von Sein und Nichts hat, Heidegger zufolge, keinerlei Durchsichtigkeit auf die ontologische Differenz zwischen Seiendem und Sein. Auch die Hegel’sche bestimmte Negation, die das Negierte als Anderes gegen ein Anderes zur Abhebung bringt (»Etwas und das Andere. Das Andere als das Andere des Anderen« 68.13) kann nicht aus dem Anfang der Hegel’schen Logik gewonnen werden. Obwohl die Transformierbarkeit ausgeschlossen wird, legt Heidegger doch eine Vergleichsperspektive auf das unvergleichliche nahe. ›Sein‹, das Grundwort der Philosophie, bedeute für Hegel »Wirklichkeit«, »Seiendes als Vorgestelltheit der absoluten Vernunft« (68. 10). Die Vergleichsperspektive zwischen Hegel und Heidegger ist damit keineswegs ausgeschöpft. Unscharf ist diese Charakterisierung schon insofern, als Heidegger die »Vorstellung«, die Hegel dem Bezug zum Absoluten im Modus der Religion zuweist, auf die Philosophie überträgt. 42 ›Sein‹ in Hegels Begrifflichkeit meine, so zieht Heidegger die Konsequenz, die reine, weiter nicht bestimmte Gegenständlichkeit. Ähnliche Unschärfen zeigen sich, wenn Heidegger ›Standpunkt‹ und ›Prinzip‹ der Hegel’schen Philosophie in einer sehr prägnanten, pädagogischen Zuspitzung zu charakterisieren versucht. Standpunkt sei jener »des absoluten Idealismus«, der wiederum als Vorstellen im Sinn unbedingter Subjektivität thematisiert wird (GA 68. 12), ohne dass Hegels Kritik an Bewusstseins- und Subjektphilosophie irgend in Rechnung gestellt würde; Prinzip aber sei »der tragende Grund« Diese Benennung, die Robert Musil für wichtige, aber unabschließbare Komplexe seines Werkes gebrauchte, kann man treffend auch für Heideggers hochgradig geplanten Nachlass verwenden. 41 D. Henrich, »Hegels Theorie über den Zufall«, in: ders., Hegel im Kontext, a. a. O., S. 157 ff. (ursprünglich der Heidelberger Habilitationsvortrag von 1956). 42 Hegel, Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe Band III, S. 27 ff. 40
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der maximenhaften Sentenz aus der Phänomenologie des Geistes, wonach die Substanz sich zum Subjekt erheben muss. Der Gestus des ›Erhebens‹, die Prozessualität in diesem Zusammenhang wird aber nicht thematisiert. 43 Heidegger nähert sich der Hegel-Auseinandersetzung vor der Frage der Negativität, wobei er anzeigt, dass das unbestimmte Nichts, die Nicht-Gegenständlichkeit nicht Ausgangspunkt der Negativität sein könne, ist sie doch ungedacht und bestimmungslos. Als eine bestimmte Negation befragt Heidegger die Hegel’sche Anfangskonstellation, deren Kontingenzcharakter im gesamten System nicht eingeholt wurde: 44 »Warum die absolute Negativität vom Einen und Anderen (Anderssein) her, nicht einfach vom ›Nichts‹, wo doch offenbar das Nichthafte und Negative gleichsam in persona erscheint?« (18). Heidegger fixiert Hegels Denken damit auf die Subjekt-Objekt-Differenz, das Unterschiede setzende Bewusstsein (17), das eine Negativität hervorbringe, die die Energie der gesamten Systembewegung in sich enthalte. Keine Rolle spielen dabei offensichtlich die unterschiedlichen Tektoniken in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik und übersehen wird, dass die letztere gerade nicht mehr Ausdruck von Bewusstseinsphilosophie ist und in ihrer Dynamik das Subjekt als Begriff voraussetzt. 45 Heideggers Deutung greift darin zu kurz, dass sie Hegel auf eine mit Descartes ansetzende Subjektivitäts- und Reflexionsphilosophie reduziert. Dass die Konstellierung von Sein und Nichts bei Hegel nicht entwickelt wird, trägt in der Ausarbeitung den Einwand, dass Hegels Metaphysik gerade nicht ›geschichtlich‹ verfasst sei. Geschichtlich nämlich sei »im Anfang das Sein selbst das Seiendste nach der Art des Seienden im Ganzen« (21). Deshalb evoziert Heidegger auch den scharfen Einwand, dass das sich selbst bestimmende Absolute Negativität zwar in sich schließe, damit aber eben »nicht ernst« nehme (24). Heidegger unterstellt Hegel eine Verweigerung von Ge-
Darauf kam Hegel im Zusammenhang seiner Restitution des ontologischen Argumentes allerdings zurück. Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, a. a. O., S. 247 ff. 44 Dazu wieder Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, a. a. O., und ders., »Anfang und Methode der Logik«, in: Henrich, Hegel im Kontext, a. a. O., S. 73 ff. 45 Dazu K. Hartmann, Hegels Logik. Berlin 1999, siehe auch L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels. Bonn 1973, S. 35 ff. 43
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schichte, 46 wo Hegel doch Ontologie und Geschichte gerade in der Phänomenologie des Geistes korrelativ zueinander entwickelte. Der Tod als absoluter Herr, von dem Hegel in der Phänomenologie des Geistes spricht, ist daher nach Heidegger selbst nur gedacht und in eine idealistische Begriffsform integriert. In Heideggers Lesart wird Hegels System zu einer Art von idealistischer Transzendentalphilosophie, die Geschichte als Gedankenkonstrukt in sich aufnehme. Die Negativität manifestiert sich bei Hegel als begriffliche Unterscheidung, »sofern er das Unterschiedene als das Andere in seiner Zugehörigkeit zum Einen gerade bejaht und so das Eine selbst erst zum Anderen macht« (26). Jener Unterschied tritt operativ bei jedem Akt: »Ich denke Etwas« ein. Es mag sein, dass die gerade angemahnten grundlegenden und jeder Standardinterpretation einleuchtenden Differenzen für Heideggers Blickbahn auf die Metaphysik gar nicht entscheidend sind und dass es für seinen »Gewalt brauchenden« Zugriff ausreichend ist, dass er die Prozessualität der Hegel’schen Dialektik auf eine begriffliche Negation bezieht. »Das Scheiden« sei die »absolute Macht«, »der innere Quell aller Tätigkeit«, 47 zitiert er Hegel und fügt kommentierend die Spitzensätze an: »das Negative ist daher im Grunde das Selbst des absoluten Selbstbewusstseins. Das Negative ist die ›Energie‹ des (absoluten) Denkens« (27). Die eigene phänomenologische Einsicht in Geschichtlichkeit wird aber von Heidegger nicht explizit mit Hegel im Gespräch gebraucht. Deshalb liest Heidegger die Logik von dem Beginn her der Absage »an das Seiende, d. h. an die Unterscheidung von Seiendem und Sein« als Explikation einer Unmittelbarkeit des Begriffes, aus der überhaupt erst Sein als absolute Idee oder Gedachtheit aufgefasst werden kann (33). Was Heidegger im Zusammenhang seiner eingehendsten Auseinandersetzung mit Hegel, der Ausarbeitung des Jahres 1938, formulierte, macht aber grundsätzlich klar, dass den metaphysischen Grundstellungen gerade nicht mit Vorhaltungen der Defizite einer Systemform begegnet werden kann, schon deshalb weil diese System-
Dies ist ein Grundtenor von Heideggers Kritik an Hegel, dessen Denken sich doch gerade im Proprium der Spannung von System und Geschichte artikuliert. Vgl. dazu u. a. die Beiträge in H. Chr. Lucas und G. Planty-Bonjour (Hg.), Logik und Geschichte in Hegels System. Stuttgart, Bad Cannstatt 1989. 47 Hegel, Theorie-Werkausggabe Band 3, a. a. O., S. 69, siehe auch S. 307 ff. 46
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formen nicht als Gestaltungen und individuelle Antworten einzelner Philosophen zu verstehen sind. Sie bezeichnen vielmehr metaphysische Notwendigkeiten und daher Haltungen der Seinsvergessenheit. Grenze und Konstitution eines solchen Denkens führt Heidegger deshalb zusammen als einen negativen Vorentwurf des zu Denkenden. Das Vergessene sei gerade nicht das Liegengebliebene, sondern der Vorentwurf selbst (34), den je spezifisch prägende Denkkonstellationen wie der absolute Idealismus umreißen und der am ausführlichsten und in denkbar größter Weite mit dem Platonischen Anfang abendländischer Metaphysik festgelegt worden sei. Solche Vorentwürfe sind für die jeweiligen Denkformen schlechterdings konstitutiv. Fraglos bleibe in den metaphysischen Denkoperationen der Grund, dem eigentlich Fragwürdigkeit zukommen müsse. Dass die Negativität selbst fraglos bleibt, begreift Heidegger als das eigentliche, tiefergehende Problem innerhalb der Metaphysik, die aber auf der Wegbahn des Hegel’schen Systems selbst nicht befragt worden sei. Deshalb charakterisiert er auch seinen eigenen Zugriff auf Hegel als Versuch, »dieses Unterschiedene zur Entscheidung zu stellen« (41). Dass Heideggers Hegel-Aneignung auswählend und fragmentiert blieb, ist nicht zu bestreiten und wäre von ihm selbst wohl nicht geleugnet worden. Auch in Vorlesungen und Seminaren behandelte er nach dem Zeugnis von Schülern wie Walter Biemel nur wenige ausgewählte Seiten, vor allem aus dem Anfang der Logik. 48 Eine extensive Hegel-Interpretation, die das System in seinen Begründungen im Ganzen sichtbar gemacht hätte, legte Heidegger gerade nicht vor. Er stellte vielmehr die Anfangs- und Begründungsfrage ins Zentrum seiner Deutung. Zielsetzung der verkürzenden Interpretationen ist, durchaus legitim, die Selbstverständigung des Seinsdenkens mit Hegel. In einem Satz, der aus dem ›Sprung‹ in den anderen Anfang gewonnen ist, formuliert Heidegger diese Differenz im Gegenüber zum Anfang der Hegel’schen Logik: »Das Nichts ist niemals das ›Nichtige‹ im Sinne des bloß Unvorhandenen, Unwirksamen, Unwertigen, Unseinden, sondern Wesung des Seyns selbst als des ab-gründig-abgrundhaft Nichtenden« (47). Mit dieser Voraussetzung, weder die onotlogische Differenz, noch, in Heideggers Begriffssprache, »NichGespräche mit W. Biemel in Walberberg Anfang September 2005, in denen er u. a. auch verdeutlichte, dass das Denkbild des ›kommenden Gottes‹ für Heideggers Lehrveranstaltungen in den späten vierziger Jahren keine Bedeutung hatte.
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tung und Lichtung« zu denken, wobei erstere »die Einräumung der Reinheit der Not der Gründung« (46), letztere »der offene Abgrund« ist, aus dem heraus sich Seyn als je spezifisches Seyendes sichtbar machen kann, berührt sich Hegels spekulative Metaphysik mit der Metaphysik Nietzsches, auch wenn beider Methoden weit voneinander entfernt sind Die Voraussetzung der Hegel’schen ›Negativität‹ gilt es einzuholen. Dies ist zugleich der Gestus der ›Verwindung‹ der Hegel’schen Metaphysik. Heidegger artikuliert sie so, dass sich das Seyn in seiner Abgründigkeit gerade als das Nichts erweist. »Das Nichts ist das äußerste Gegenteil zu allem Nichtigen« (48), es bestimme sich, »je nachdem die Seiendheit begriffen wird« (49). In den weiteren Interpretationen zu Hegel in der V. Abhandlung thematisiert Heidegger nicht nur die Aufeinanderfolge der Synthesis (Thesis-Antithesis-Synthesis), die Schrittfolge der Phänomenologie des Geistes von Bewusstsein und Selbstbewusstsein zur Vernunft und die Realisierung des absoluten Gedankens (51). In erster Linie punktiert er nochmals das Anfangsthema bei Hegel und im eigenen anderen seinsgeschichtlichen Anfang. Er zeigt, dass Hegel mit dem »Anfang« anfange, von dem seine Begriffsbewegung ausgehe und in dem sie eigenglich bleibe. Dieser Anfang ist im Sinn der Hegel’schen Logik die reine Unmittelbarkeit des Übergegangenseins von ›Seyn‹ und ›Nichts‹. Kraft eines solchen Anfangs bewege sich aber, wie Heidegger nun die ›Ungeschichtlichkeit‹ Hegel’schen Denkens näher begreift, der sich realisierende Begriff in seiner eigenen Sphäre und bleibe damit, ungeachtet aller begrifflichen Vermittlung im Bereich der Unmittelbarkeit (52). Die ungetilgte Hegel’sche Anfangskontingenz wird von Heidegger also mit einer letztlichen Unmittelbarkeit des Vermittlungsdenkens identifiziert. Hegel gewinne damit einen »höheren Standpunkt«, das Momentum des Selbstbewusstseins des Geistes, sodass die eigentliche Metaphysik in den schulmetaphysischen Bereich der metaphysica generalis verlegt wird, die sich von ihrem Gegenstand dem absoluten Sein her bestimmt und immer schon bei sich selbst sei. Hegels Standpunkt sei im Begreifen von Wirklichkeiten außerordentlich fruchtbar. Zugleich aber, wie Heidegger polemisch anführt, sei er durch eine »vollständige Langweiligkeit« (54) gekennzeichnet, »daß nichts mehr geschieht und geschehen kann«, weil diese Wirklichkeit determiniert ist. Hegel rückt dadurch wiederum in die Nähe seines Gegenparts Nietzsche, des itinerierenden »Willens zum Willen«. Im Recht sei Hegel darin, dass er das jeweils fixierte Seiende und 272
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Wirkliche als »abstrakt verstehe«, Doch sein »Allseitiges, Beigebrachtes, Wahres ist doch ›nur‹ die (scheinbar) unbedingte Rechtfertigung des Abstrakten« (54), das im Sinn des spekulativ vermittelten Wahren gedacht werden soll. Die Voraussetzung, die Hegel in der Gleichgültigkeit des Unbedachten lasse, sei eben die »Wahrheit des Seyns selbst«, das schlechthin Ungefragte und Unfragbare (54). Die Itineration des ›Willens zur Macht‹ ist durch die Kriteriologie des Absoluten aufgehalten, gleichwohl wirft Heidegger die Frage auf, weshalb der Ich-Ding-Bezug nicht ins Unendliche weitergehe (55). Anfang und Vollendung, so deutet er in dem Konvolut an, werden in Hegels Wissenschaft der Logik in eine Identität zusammengeführt. Darin ist angelegt, dass Hegel, der Philosoph der Vermittlung, mit dem Epitheton der Unmittelbarkeit belegt wird. Dies ist als Hegel-Interpretation sicher unbefriedigend, auch wenn es unter Umständen den unabgegoltenen Anfang der Hegel’schen Logik anzeigt. 49 Doch Heidegger ist es ein Indiz der Rückstrahlung auf die Parmenideische Einheit von Denken und Sein, die auch Unmittelbarkeitscharakter habe. 50 Was bei Heidegger nicht reflektiert ist, wäre eine Nähe des unmittelbaren Hegel’schen und des unvermittelt Nietzscheschen Denkens zum Gestus des anderen Anfangs in seiner Nicht-Vermitteltheit, der je länger je deutlicher zutage trat. Für die Berücksichtigung des Gesichtspunkts des anderen Anfangs formuliert Heidegger, dass es nicht darum gehen könne wie in einer titanischen Überbietung, »einen noch höheren Standpunkt« zu wählen (56), und dass nicht die metaphysisch bestimmte Seiendheit des Seienden den Takt vorgebe, sondern der Rückgriff in das Seyn selbst (56). Und maximenhaft fügt er hinzu: »Die Auseinandersetzung darf nie zu einer bloß ›einfallenden Reflexion‹ 51 werden; d. h. der Standpunkt muss »als metaphysische Grundstellung begriffen, bzw. aus dem Grunde ihres eigenen Fragens zurückgenommen werden« (56), was weiterhin bedeutet, dass die Grundstellung Hegels und Nietzsches nicht nur im Licht der Leitfrage der Metaphysik, sondern der Grundfrage aufgefasst werden sollen. Dies bedeutet in jedem Fall eine Entdifferenzierung, sodass es nicht verwundern muss, wenn in
Dazu nochmals Henrich, Anfang und Methode der Logik, a. a. O., S. 73 ff. Dazu grundlegend Heidegger, »Moira«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 223 ff., dazu auch Hartmann, Hegels Logik, a. a. O., S. 12 ff. 51 Heidegger verweist hier auf Hegel, Wissenschaft der Logik, Vorrede, S. 21, ed. Lasson. 49 50
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das Hegel-Konvolut Skizzen zu weiteren seinsgeschichtlichen Abhandlungen eingefügt sind, vor allem zu ›Die Metaphysik als Geschichte des Seyns‹, die Heidegger später als integralen Bestandteil in das Nietzsche-Werk (II 399–454) einführte. Mit dem Gestus der ›Auseinandersetzung‹ verbindet Heidegger aber auch im Bezug auf Hegel den gegenläufigen Anspruch, dessen Denken nicht aus einer externen Perspektive, sondern aus seiner eigenen Mitte zu begreifen. Es ist dieser Gestus, der auch dazu Veranlassung gibt, Hegel nicht nach externen Gesichtspunkten, sondern ausschließlich nach seiner eigenen Denkstruktur zu befragen. * Die nachgelassenen Hegel-Abhandlungen enthalten in ihrem zweiten Teil deshalb eine elaborierte Interpretation zur Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, die die spätere Holzwege-Abhandlung vorzeichnet. Hier greift Heidegger die Hegel’sche Textur deutlich differenzierter auf. Die metaphysische Grundstellung im Verhältnis zum Deutschen Idealismus erweist sich aber als identisch. Die Differenz des Phänomenologie-Systems im Verhältnis zum Enzyklopädie-System wird zunächst doxographisch als Problem genannt. Das Enzyklopädie-System zeige, im Unterschied zur Tektonik der Phänomenologie des Geistes ein Zurückschwingen »in das Grundgefüge der bisherigen Metaphysik« (71): Mit der Logik als Erbin der metaphysica generalis und der metaphysica specialis, wobei Hegel die Folgebildungen der herkömmlichen rationalen Theologie spekulativ interpretiere. Kosmologie und Psychologie sind demnach den Systemstellen der Naturphilosophie und Lehre vom subjektiven Geist zuzuordnen. Diese recht konventionellen Einordung würde die jüngere Hegel-Forschung, cum grano salis, bestätigen. Hans Friedrich Fulda betonte in seinen Hegel-Studien immer wieder den Zusammenhang. 52 Die seit Generationen wiederkehrende klassische Forschungsfrage, ob die Phänomenologie des Geistes Einleitung in das System ist, Systemteil oder erste Durchführung des Systems wird von Heidegger aufgenommen. Die Zweideutigkeit und eigentliche Absurdität einer ›Einleitung‹ in die Philosophie sieht Heidegger, in dieser GroßVgl. Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. München 2003, S. 75 ff. Vgl. auch Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, a. a. O., S. 41 ff.
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flächigkeit durchaus mit Kant oder Hegel übereinstimmend, in der implizierten Annahme, der Mensch könne jemals außerhalb des Bereichs der Philosophie sein (72 f.). Er halte sich aber immer schon in deren Bereich auf. Die Einleitung kann dann offensichtlich nur Vorbereitung zu einem Sprung sein, die aber den Sprung in gewisser Weise selbst schon vorwegnehmen muss. Sie führt in einen Bereich, in dem der Mensch immer schon ist. Die Tektonik des Sprunges verweist terminologisch auf den anderen Anfang und die Frage nach der Wahrheit des Seins, in einen Bereich, in dem sich der Mensch immer schon aufhält. Hegel geht es darum, »Sein als das Absolute absolut, in absoluter Weise zu denken« (74); was dezidiert als Erfahrung geschieht, also vom erkennenden Bewusstsein her erfasst wird. »Alles Seiende«, so hat es Heidegger pointiert gesagt, »ist jetzt das Wesen des Seins alles Seienden« (78). Die Erfahrung und Genese des Bewusstseins ist damit der Genese der Gegenstandskonstitution selbst korreliert. Das, was Hegels Metaphysik trage, sei die in der ›Einleitung‹ angedeutete Grundtatsache, dass das Absolute bei ›uns‹, in der Nähe unseres Erkennens sein kann und soll. Deshalb hat, mit einem anderen von Heidegger bevorzugt evozierten Zitat, »das Wesen des Universums […] keine Kraft in sich, welche dem Muthe des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich vor ihm auftun und seine Reichthum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben« (68.71). 53 Dem entspricht die Aussage, das Absolute sei »als Werkzeug« »an und für sich« bei uns. Die Erscheinung des Absoluten muss selbst eine absolute sein, was, wie Heidegger überaus treffend erkennt, anzeigt, dass die klassische Philosophie des Absoluten gerade nicht Abfall von der ›Kritik‹ im Kantischen Sinne ist (82), sondern sie in ihrer Unbedingtheit begreife. Dieses Sich-darstellen des erscheinenden Wissens liest Heidegger in einem Gestus, der, anders als in den der Wissenschaft der Logik geltenden Fragmenten (68, 3–65), weitgehend der Immanenz der Hegel’schen Begriffsform folgt. Er legt deshalb genau den Gang des erscheinenden Wissens »als Gang in die Wahrheit seines eigenen Wesens« (82 ff.) offen. Unverändert bleibt Heideggers Auffassung, dass Hegel vom Absoluten ausgehe, auch wenn die dialektische Dynamik Aus der akademischen Antrittsrede zu Beginn der Berliner Lehrtätigkeit am 22. 10. 1818, Heidegger zitiert sie nach der Freundesvereinsausgabe Band XIII. Berlin 1833, S. 6.
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seines Denkens einen anderen Anschein erwecke. Korrelativ zu dem »Weg der Verzweiflung«, dem Absolvieren und Abarbeiten vorausgehender Manifestationsformen, sei die Synthesis, die teleologische Konstitution des Absoluten, stets vorausgesetzt. Deshalb müsse »das darstellende Denken allem voraus die Synthesis denken und aus ihr her erst die Thesis und Antithesis« (89), wobei die Synthesis aber nicht von den menschlichen Denkakten ›gemacht‹, sondern nur vollzogen werde. Das Bewusstsein aber werde als absolut vorausgesetzt. Der Gang der Phänomenologie und die Prüfung ihrer einzelnen Formen sind, so betont Heidegger, vom Aspekt der Bewahrung geleitet, wobei fundamental die Auffassung ist, dass das Bewusstsein einen immer reicheren und tieferen Begriff von sich gewinne und sich dabei in seiner Identität konserviere (WW II, 66) Heidegger (GA 68.87). Das Bewusstsein ist und bleibt in den Akten seiner Gegenstandserkenntnis sich selbst wissendes Wissen von sich. Maßstab und Wesen der Prüfung werden gleichermaßen aus dem Bewusstsein entnommen, wie Heidegger in einem III. Abschnitt verdeutlicht, das seine Grundthese noch einmal auf die Abschnitte 9–13 der ›Einleitung‹ zur Phänomenologie des Geistes bezieht. Die Hegel’sche Philosophie des absoluten Bewusstseins bleibt in Heideggers Lesart Erweiterung der Kantischen transzendentalen Deduktion und Bewusstsein der Synthesis. Es misst sich freilich den Gegenstand nicht an, sondern folgt darin ganz der »kopernikanischen Wendung« Kants (K.r.V., B XVI), sodass der Zuschauer nicht das ganze Sternenheer um sich drehen lasse, sondern sich selbst drehe, um die Sterne fassen zu können. In dem auseinanderlegenden Erscheinenlassen (68.94) gibt das Bewusstsein seinen Maßstab vor. Das absolute Bewusstsein prüft die Erkenntnis der jeweiligen relativen Manifestationsformen von Bewusstsein (II. 68 f.). Die Relation zwischen dem ›Absoluten‹ und seiner Erkenntnis im Selbstbewusstsein umschreibt Heidegger als ›Strahl‹, gleichsam als Variierung des Sonnengleichnisses der Politeia. Es begegnet also dezidiert nicht als eine ›Strecke‹ zwischen Absolutem und Bewusstsein, sondern ist so angelegt, »daß wir das Kommen als einen Gang selbst gehen, indem wir ihm entgegenkommen.« (XXX). Indem Heidegger Hegels Spekulation des Absoluten auf eine bewusstseinsphilosophische Matrix reduziert, wird klar, dass er ihm jede reale Geschichtlichkeit absprechen kann. Dieser Gang setzt nicht außerhalb des Absoluten ein, um es dann einmal zu erreichen. Er ist vielmehr immer schon beim Absoluten im Sinne der ursprünglichen, 276
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»d. h. der vom Strahl bestrahlten Synthesis der Elevation« (99). Dabei betont Heidegger am Hegel’schen Text, dass die von Hegel evozierte »Erfahrung« Leiden, Schmerz, ein »Durchmachen« als »Hinausgerissenwerden in die Wesenshöhe der verborgenen und unbedingten Elevation« (102) sei, ein Ankommen an dem Punkt, an dem das Denken immer schon war. Dies kann aber zu der Frage führen, ob nicht eben hier eine tiefe Gemeinsamkeit zum eigenen Seinsdenken besteht. Auch dieses kann ja nicht anders, als schon bei dem Grund zu sein, den es dann explizit aufsucht. Abschließend sucht Heidegger das ›Wesen der Erfahrung des Bewusstseins‹ zu exponieren (106 ff.), wobei er, in Abhebung von der Aristotelischen empeiria (der Vorhabe dass etwas sich so verhält) und dem Kantischen Erfahrungsbegriff (der Vorstellung der Ursache-Wirkungs-Synthesis) (108), die Manifestation des Absoluten heraushebt. Es komme bei Hegel nicht punktuell und in einer originären Reinheit zur Erscheinung, sondern in der Arbeit des Bewusstseins. Die Subjekt-Objekt-Relation erweist sich dann so, dass »Gegenstand« der »neuzeitliche Name für das dem sich selbst wissenden Vor-stellen wirklich Entgegenstehende« ist, das ›Objekt‹ für das Subjekt« (111). Heidegger rekonstruiert den entscheidenden Schritt in der Phänomenologie des Geistes als Umkehrung während der Gegenstandskonstitution, in der schrittweise das »neue Wahre« zu tage trete, was dem Bewusstsein selbst eine Umkehrung abfordere (123 f.), 54 sodass das Bewusstsein in einer transzendentalen Drehung nicht seiner selbst, sondern der Gegenständlichkeit des Gegenstandes inne wird und, wie Heidegger gegenüber dem Hegel’schen Text spezifiziert, in eine zweite Umkehr des Bewusstseins kommt, worin die totale Entäußerung sich vollzieht. Erst so sei der reine Blick auf das »Unbedingte« geöffnet und die Rückkehrperspektive zu ihm ermöglicht (123). In prägnanten kongenialen Formulierungen hält Heidegger fest, dass der Weg das Bewusstsein selbst »als Entstehung seiner Wahrheit« (125) sei; oder: »Die Erfahrung als transzendental-systematischer Gang in die Wahrheit des Bewusstseins ist als Aufzeigen zugleich die Darstellung des erscheinenden Wissens« (ibid.). An-sich 54 Vgl. dazu auch K. E. Kaehler und W. Marx, DieVernunft in Hegels Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/Main 1992, S. 21 ff. und nach wie vor grundlegend H. F. Fulda, Das Problem einer Einleitung in Heges ›Wissenschaft der Logik‹. Frankfurt/ Main 1965.
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und Für-uns-sein des Absoluten können mithin konvergieren, aber eben nur, indem sie durch Entscheidungen hindurchgeführt sind und den Arbeits- und Schmerzcharakter der Erfahrung durchlaufen haben (134 f.). Eben hier bleibt auch die Negativitätsform bewahrt: »die Gewalt des Negativen manifestiert« sich in der Erfahrung. (135). Sie kann sich aber anders als bei Schelling seit der Freiheits-Schrift nicht System sprengend zeigen, weil sie in die Aufhebungsbewegung des Gedankens eingeschlossen ist. 55 Dass Hegel später die Rede von der ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‹ preisgibt und in die Phänomenologie des Geistes überführt, hält Heidegger als »unerklärlichen Befund« fest. Gerade an diesem Punkt kann aber der »andere Anfang« ansetzen, als »Anstoß zu einem Nachdenken, das sich dadurch in die Auseinandersetzung mit der absoluten Metaphysik gestoßen sieht und so auf den Schmerz der Entzweiung mit ihr vorbereitet wird« (136). Die Grundstimmung der beiden zusammengefügten HegelKonvolute weicht also ab, ohne dass zwischen ihnen vermittelt würde. Während im ersten die Abgrenzung gegen die ›ungeschichtliche‹ von vorneherein in ihrem eigenen Bereich wurzelnde Hegel’sche Denklogik überwiegt, wird der Eigencharakter der Umkehrung und der Negativität in den Interpretationen zur Phänomenologie des Geistes deutlich expliziert. Selbstverständlich könnte man dies auf den unterschiedlichen Charakter beider Werke und eine Präferenz Heideggers für die Phänomenologie des Geistes zurückführen. Das Grundverhältnis ist aber komplizierter. Denn Heidegger konstatiert: »Die absolute Metaphysik des Deutschen Idealismus [ist] nicht ein voreiliges Übersteigen der Grenzen, sondern der Ernst des Ernstmachens mit dem Aufgegebenen. Nicht voreilig, sondern die höchste Bedachtsamkeit, die zuerst und entschieden das Bedenken in allem festhält, was es hier gibt (das Unbedingte)« (141). Er möchte offensichtlich keineswegs den Anspruch des Denkens des Absoluten preisgeben. Denn Heidegger fügt hinzu: »Noch ganz anders bedachtsam ist das seynsgeschichtliche Denken, von dem aus erst das Wesen der absoluten Metaphysik aufleuchtet« (141). Eine deutliche Abwehr, bezogen auf die zeitgenössische Gegenwart und jedwede Ideologie, gibt eine Notiz gegen ein zweifaches Extrem, dessen beide Seiten desaströs seien: »Entweder blinde = verstandlose Ablehnung der absoluZu solchen Divergenzen: Vgl. H. Seubert, Konstellationen. Die klassische deutsche Philosophie. 2019, i. E.
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ten Metaphysik oder gleich blindes Nachreden und das in der schlechten Form der Zurechtmachung für Zeitbedürfnisse« (142). Die Behutsamkeit, die Heidegger an den Entwürfen Hegels und Schellings immer erkannte, und die auch im anderen Anfang gefordert sei, widerspricht beiden Tendenzen. Hier ist wieder kurz zu resümieren: Es ist offensichtlich und vielleicht auch der unmittelbaren Bekanntschaft und Zeitgenossenschaft geschuldet, dass Heidegger an keiner Stelle mit Husserl in ›Auseinandersetzung‹ und Zwiesprache getreten ist, wie mit der Klassischen deutschen Philosophie seit Kant und dann wieder mit Nietzsche. Die Phänomenologie als transzendentale Konstitution des Gegebenen war für Heidegger eine Haltung, die er selbst teilte. Sie war aber, wie man insbesondere aus dem Zusammenhang der Schwarzen Hefte entnehmen kann, keine metaphysische Grundstellung. Dort, wo Heidegger die polemische Abwehr gegenüber Husserl betont, begründet er die Distanz auf ontologische und temporale Defizite in Husserls Denken. 56 Phänomenologie ist dennoch eine Grundhaltung, die Heidegger meinte, vertiefen und erweitern zu können, von der er sich aber niemals grundsätzlich distanzierte. Sie muss auf eine vor- und außertheoretische Dimension befragt werden, doch kann sie nicht als eine eigene metaphysische Grundkonstellation fixiert werden, in der es mit dem Sein nichts ist.
21. Heidegger und Nietzsche: Die irrititierende ›Auseinandersetzung‹ Zu den schwer verifizierbaren, unter anderem von Hans-Georg Gadamer vielfach kolportierten Aussagen Heideggers, gehört, dass Nietzsche Heidegger zerstört, wörtlich »kaputt« gemacht habe. 57 Die sogenannten Schwarzen Hefte ähneln, so ist auch bei nur vordergründiger Analyse schnell bemerkt worden, 58 auf einer vordergrünVgl. weiter oben Erster Teil, II. Siehe auch R. Cristin, »Phänomenologische Ontologie«, in: Heidegger-Jahrbuch 6, S. 43 ff. 57 Dazu B. Babich, »Poesie, Eros und Denken bei Nietzsche und Heidegger. Heideggers Nietzsche-Interpretation aus der Sicht der Nietzsche-Forschung«, in: A. Denker u. a. (Hgg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, a. a. O., S. 239 ff. 58 Die Formbestimmung des Denkgestus der Schwarzen Hefte bleibt schwierig. Die aphoristische Zuspitzung Nietzsches fehlt vielfach, doch dass das Verschwiegene ne56
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digen Ebene am ehesten den Nietzscheschen Aphorismenbüchern. Ihre Polemik, die aus dem Gewebe von allgemeinen Meditationen und sehr konkreten an Zeitphänomene anschließenden Diagnosen konstituiert ist, ihre Übertreibungen und Hypostasen lassen zumindest im rhetorischen Gestus bis hinein in dessen Maßlosigkeit an die »Philosophie in Aphorismen« denken, auch wenn Heidegger die Oberflächlichkeit aus Tiefe und den brillierenden stilistischen Glanz Nietzsches nicht ohne weiteres erreicht. Narrative werden dabei entwickelt, keine das System an Stringenz übertreffenden Fugen mehr konstruiert, wie es in den ›Beiträgen zur Philosophie‹ in eminenter Weise der Fall ist. Ist das Bonmot, das Gadamer überliefte, ein Ergebnis des Eintauchens in die Nietzschesche metaphysische Grundstellung, die Heidegger als Ende der Philosophie sah, die wie der Abgrund zurückschaut, in den einer nach Nietzsches bekanntem Diktum zu lange geblickt hat? Eine Gorgo Medusa des Endes, die sein Denken selbst durchdrang? Einer Antwort wird man nur näherkommen, wenn man Heideggers ›Auseinandersetzung‹ mit Nietzsche nochmals in den Blick nimmt.
›Nietzsches Metaphysik‹: Das Problem einer Trennung In ähnlicher Weise, wie er den Grundriss des ersten Anfangs von Parmenides und Heraklit aufruft, deutet Heidegger unmittelbar in der Katastrophe von 1945 auch Nietzsches Denken in einem knappen Grundriss. Die über ein Jahrzehnt andauernde ›Auseinandersetzung‹ scheint dabei zur Ruhe zu kommen. Sie führte, wie wir sehen werden, zu unterschiedlichen Blicken auf Nietzsche, wobei eine Nähe am Anfang zunehmend in Abwehr und Entfernung umgedeutet wird. Doch das eine und das andere hängen zusammen, insofern Heidegger sich klar wird, dass der andere Anfang erst an jenem Ende der Metaphysik ansetzen kann, das Nietzsche als den in sich kreisenden Willen zur Macht beschreibt. An dem Punkt, an dem sich Sein nicht mehr lichtet, tritt die Kehre ein, die nach dem untergründig Ermöglichenden und Bestimmenden des Seins fragen lässt. All dies steht im Hintergrund, wenn 1941 Nietzsches Metaphyben dem Gesagten eine ebenso zentrale Rolle spielt, ist offensichtlich. Vgl. zu den Deutungsperspektiven A. Denker (Hg.), Zur Hermeneutik der Schwarzen Hefte. Heidegger-Jahrbuch. Freiburg/Br., München 2017.
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sik noch einmal ins Relief getrieben wird. Sie wird dabei als »Metphysik« des Willens zur Macht‹ expliziert, sodass Wille und Macht in sich kreisende Ergänzungen sind: Übermächtigung und weitergehende Machtsteigerung (o. 15) greifen ineinander. Charakteristisch und die anderen Nietzsche-Interpretationen Heideggers programmatisch an Eindeutigkeit übertreffend, erweist sich die Benennung der Nietzscheschen Metaphysik als einer ›Metaphysik des Willens zur Macht‹ in jedem Fall als Reduktion. In ähnlicher Verdichtung und nochmaliger Deklination der maßgeblichen Nietzscheschen Aussagen fasst Heidegger Nietzsches Begriff des Nihilismus als Umkehrung und Übersteigerung der Metaphysik. Es ist dieser ›aktive Nihilismus‹, in dessen Perspektive der »Grundcharakter des Seienden«, das »letzte Faktum« ist, zu dem das Denken kommt. Heidegger spricht anders als in früheren Nietzsche-Kontexten nicht mehr davon, dass es in der nihilistischen Geschichte der abendländischen Metaphysik mit Sein nichts sei. 59 Die Differenz zwischen dem ›abgründlichstem Gedanken‹ der ewigen Wiederkehr und dem letzten Faktum trifft er hier nicht. Auch die existentia–essentia-Unterscheidung und die Einsicht, dass die existentia auf den Wegen der Seinsgeschichte meist unbedacht geblieben sei, werden nicht mehr in ähnlicher Weise thematisch gemacht wie in den früheren Vorlesungen, die in dem zweibändigen Nietzsche-Werk von 1961 dokumentiert sind. 60 Bestimmend ist ein Gestus des Verkürzens und Kondensierens. Die ewige Wiederkehr durchmisst Heidegger als Annäherung einer Welt des Werdens an eine Welt des Seins. Man gewinnt den Eindruck, dass er nicht mehr anerkennen möchte, dass die Wiederkehr Kontrapunkt zum Willen zur Macht ist. Es bleibt nur die technisch-kybernetische Wiederkehr, die sich in sich selbst wiederholt. Sie ist vom Willen zur Macht abhängig, eine Wahrheit des Seins im Zeichen des Nihilismus. Ähnlich deutete Walter Benjamin die machinale Entfremdung, als Zustellen von Stückwerken in einem technischen Prozess. 61 Auch der ›Übermensch‹ wird in dieses Pentagramm der Nietzscheschen Metaphysik eingetragen. Er ist, in textlicher und gedanklicher Nähe zu Nietzsches Ansatz, Subjekt einer Metaphysik nach Dazu differenziert Müller-Lauter, »Heidegger und die Überwindung des Nihilismus«, in: ders., Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 231 ff. 60 M. Heidegger, Nietzsche 2 Bände. Pfullingen 1961 u. ö. 61 W. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, Erste Fassung, in: W. Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt/Main 1974, S. 431 ff. 59
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dem Tod Gottes, das »vorstellende[] Vor-sich-bringen[] alles Begegnenden« (50.44). Eine Umkehrung und zugleich Übersteigerung liegt vor, wenn die Subjektivität von der Einheitsinstanz des ›Ich denke‹ zu einer Subjektität des Willens zur Macht wird und sich selbst an die Stelle des metaphysischen Gottes und der Ideen setzt (50.45). »Er ist als das höchste Subjekt der vollendeten Subjektivität das reine Machten des Willens zur Macht« (51). Chaos und damit Grenzenlosigkeit werden mit dem ›Willen zur Macht‹ und dem ihm korrelierten Menschentypus verbunden. Nicht ein amor fati, sondern die schaffende, ausgleichende Gerechtigkeit als die Setzung der Ordnung schließt Heideggers letzte und vollständigste Darstellung von Nietzsches Metaphysik ab (72 ff.). Damit wird der Perspektivismus aufgenommen, das »Umherschauen«, das nach verschiedenen Gesichtspunkten und Wertungen blickt. Offensichtlich ist eine Gerechtigkeit im Blick, die keine Berufungsinstanzen zulässt, sondern die nur den Vollzug des ›Willens zur Macht‹ seinerseits rechtfertigt. In Notizen, die dieser Vorlesung hinzugefügt wurden und die phänomenologisch-beschreibende Auslegung modifizieren, deuten sich aber Differenzierungen an, die im Vorlesungstext selbst nicht mehr vorkommen. So wird Metaphysik ihrem Wesen nach nicht nur auf den Aufriss von essentia und existentia hin befragt. »Essentia, Existentia, Geschichte, Menschenwesen« (83) werden auch auf die drei Kantischen kanonischen Fragen projiziert. Demnach führen sie zu der vierten Frage nach der Bestimmung des Menschen und münden in eine fünfte, die Frage nach der »Wahrheit des Seienden als solchen« (83). Erst mit ihr werde der Ring geschlossen. In jenen Notizen macht Heidegger auch deutlich, wofür Nietzsche »Name« und Zeichen sein soll: Er stehe für ein Weltalter, »die Epoche der Entfaltung und Einrichtung der Herrschaft des Menschen über die Erde. Der Mensch als Subjekt des Herstellens. Die Erde als der Kernblock der Gegenständlichkeit der Weltnutzung« (85). Im Horizont dieser symbolischen Interpretation des NietzscheNamens versucht Heidegger, sein eigenes Denken von jenem Nietzsches zu unterscheiden. Der Topos der ›Auseinandersetzung‹ fokussiert dabei Nähe und Ferne zugleich. Heidegger formuliert abbreviativ: »Je weiter das Auseinander, je weilender die Nähe. Je verweilter die Nähe, je entschiedener die Entfernung. Je entfernter das Nahe, je wesender das Gewesene« (87). Die Tektonik der ›Auseinandersetzung‹ arbeitet am Ende der Nietzsche-Zwiesprache nicht mehr mit 282
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Begriffen wie der ›Innigkeit‹ oder dem ›Riss‹: im anderen Anfang. Es scheint so, als erweise sich Nietzsche als unumgänglich und geradezu als Falle auf dem Weg in den anderen Anfang des Seinsdenkens, als verfange sich Heideggers Fragen in jenen Willen zur Macht, dem Nietzsches Denken erlegen sei. Die mehrfach zitierte Aussage, dass Nietzsche ihn »kaputt gemacht« habe, wird auf diese Weise nochmals bekräftigt. Im Wintersemester 1944/45 begann Heidegger eine Vorlesung, die in den Wirren des Kriegsendes abgebrochen werden musste und die sich noch einmal auf Nietzsche bezieht, nun allerdings vor dem Hintergrund der beiden Topoi, die seine Vorlesungen der vierziger Jahre umkreisten: Einmal der ›Einleitung in die Philosophie‹, mit dem Topos dass man in die Philosophie eigentlich nicht einleiten könne, da menschliches Dasein sich immer schon in ihr aufhalte (90 f.); andererseits dem Verhältnis von ›Denken‹ und ›Dichten‹. Während man bei dem Textkorpus von 1941/42 den Eindruck haben kann, dass Nietzsche als ein letzter Findling des metaphysischen Weltalters resümiert wird, rückt vor dem Hintergrund der Spannung zwischen Denken und Dichten das Nietzsche-Problem noch einmal sehr nahe, und es zeichnet sich ab, dass das Nietzsche-Problem auch ein Problem des anderen Anfangs bleibt. Heidegger trifft deutlicher als in den vorausgehenden Vorlesungen die Unterscheidung zwischen Nietzsches Haupt- und Grundgedanken, ersterer der Gedanke des Willens zur Macht, letzterer jener der ewigen Wiederkehr, wobei der Hauptgedanke die »Essenz« des Seienden bestimme und auf eine Metaphysik der Schaffenden, eine poietische Existenzform hinführe. Der Grundgedanke Nietzsches eröffne dagegen eine ›Grundstimmung‹ und damit ein Seinsverhältnis, das Heidegger als »Heimatlosigkeit« und Vergessen charakterisiert. Verbunden ist damit nicht die später zur Mode werdende Evokation einer »transzendentalen Obdachlosigkeit«, 62 sondern vielmehr die Stimmung des Gedichtes An den Einsiedler, das er an prominenter Stelle aufnimmt. Heimatlosigkeit changiert zwischen dem Verlust des Seienden im Ganzen, der omnitudo realitatis, und der konkreten planetarischen Verwüstung, die die Erde zu einem Irrstern verformt. So die Charakterisierung der bürgerlichen Welt bei Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. München 1994, S. 47.
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Mit und gegen Nietzsche führt Heidegger in die innere Verflechtung des Denkens im Dichten ein. Die Relation ist, soweit die knappen Andeutungen eine Analyse erlauben, im Sinn einer komplexen Analogie zu fassen; durch das Gleiche soll das Verschiedene und durch das Verschiedene das Gleiche aufgefasst werden, in einer Spiegelung von Identität und Differenz (138), wodurch aber an dritter Stelle erst das erblickt werden soll, »was im Vergleich steht« (ibid): als Grundphänomen am Indifferenzpunkt von Denken und Dichten. Heidegger äußert die Erwartung, dass sich daraus ein Maß für das Verhältnis von erstem und anderem Anfang ergeben kann, wie es anderwärts nicht zu gewinnen wäre. Auch dabei weist er dem zu hörenden Wort in seinem Ausgesagtsein und im Schweigen eine Schlüsselbedeutung zu. Zu einer weitergehenden Verhältnisbestimmung von Denken und Dichten kommt es nicht (144 f.). Heidegger betont aber, dass beide auf das Fragwürdige verweisen: auf den Grund und Abgrund der Wahrheit des Seins in einem anderen Anfang. Fragwürdige Fragen sind für Heidegger solche Fragen, die in einer tautologischen Bewegung zu sich selbst zurückkehren. In den fragmentarischen Ausarbeitungen im Anhang der Vorlesungen wird, bezogen auf den Brennpunkt des Zusammenhangs von Denken und Dichten, klar, dass darin eine diametral andere Akzentuierung als bei Hölderlin angezeigt wird. Während Hölderlin im Blickpunkt Heideggers der ›Dichter des Wesens des Dichters‹ ist, dessen Dichtung daher zu denken gibt, ist Nietzsches Dichtung einschließlich der Gestalt des Zarathustra eine letzte, neuzeitlich figurierte Form von Mythopoiese, von poetischer Metaphysik. Sie verweist selbst nicht in den anderen Anfang. Am katastrophischen Nullpunkt des Jahres 1945 verschmilzt deshalb noch einmal der ›Wille zur Macht‹ mit dem ›Gedanken der Gedanken‹, der ewigen Wiederkehr (159 f.). Der sich selbst ermächtigende Wille formuliert den Gedanken »unbedingte[r] Herrschaft nicht nur über das Seiende, sondern über das Sein« (160). Damit kommen die Wege der ›Auseinandersetzung‹ mit Nietzsche doch in eine erstaunliche Eindeutigkeit: Sie führt zur Absage, mit der sich Heidegger von Nietzsche trennt. Was folgt, hat den Charakter eines Sein-Lassens, bzw. eines versöhnlichen Rückblicks. Die neue Leichtigkeit in Heideggers spätester Philosophie verdankt sich auch dem Abschied von Nietzsche. Es sei nur angedeutet, dass er sich damit der Leichtigkeit in Nietzsches Philosophie des Vormittags und der durchlebten Gegenwart annähert. 284
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Mit und gegen Nietzsche entwickelte Heidegger die Formationen zwischen erstem und anderem Anfang des Denkens. Sein 1961 herausgegebenes zweibändiges Nietzsche-Werk, in das in der Quintessenz die Vorlesungen eingehen, dokumentiert in mehreren Anhängen zugleich die wesentlichen Episoden der Seinsgeschichte. 63 Diese Verbindung ist nicht zufällig. Im Gestus der seinsgeschichtlichen Abhandlungen, der Suche nach einem Denker, der dem Gedanken gewachsen sein könnte, gelangt Heidegger zeitweise zu einer Art Identifikation oder Überidentifikation mit Nietzsches Verkündigungsgestus, eine Neigung, die er selbst sehr kritisch sah. Denn solche Imitationen gehören gewiss nicht zu seinen stärksten philosophischen Aussagen, sie kommen aber nicht von ungefähr. Nietzsche spielt bei Heidegger von den Anfängen an eine unübersehbare Rolle. Im Vorwort zu seinen Frühen Schriften im März 1972 nennt er an erster Stelle die Edition von Nietzsches ›Willen zur Macht‹-Fragmenten. 64 Diese Spur scheint in einem überraschenden Kontext auf, der unvermittelt in Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus zum Tragen kommt. Heidegger verweist nämlich im Kontext der Explikation einer reinen Bedeutungslehre und der Zurückweisung jedes Psychologismus auf das »Bestimmtsein aller Philosophie vom Subjekt her«, das »Nietzsche in seiner unerbittlich herben Denkart und plastischen Darstellungsfähigkeit auf die bekannte Formel vom ›Trieb der philosophiert‹ gebracht habe (GA 1.18). 65 Zumindest intuitiv schwingt beim frühen Heidegger die Tendenz auf eine Philosophie des am-Leben-Seins mit, auf Abschattungen des ›Wie‹, in denen sich Lebensvollzüge zeigen. Der primäre Ansatzpunkt der Heidegger’schen Bezugnahme auf Leben liegt indes nicht bei Nietzsche und schon gar nicht in der Lebensphilosophie der Zeit, sondern im Umkreis einer phänomenologischen Hermeneutik und insbesondere bei Emil Lask. 66 Doch im Hintergrund ist die phäHeidegger, Nietzsche II, a. a. O., S. 399 ff., Die Metaphysik als Geschichte des Seins. Vor der Publikation der Beiträge war dies der einzige und grundlegende Zugang zu Heideggers seinsgeschichtlichem Denken. 64 Heidegger, »Vorwort zur ersten Ausgabe der ›Frühen Schriften‹«, in GA 1, S. 55–59. 65 Dazu N. Kapferer, »Entschlossener Wille zur Gegen-Macht. Heideggers frühe Nietzsche-Rezeption 1916–1936«, in: G. Althaus und I. Staeuble (Hg.), Streitbare Philosophie. Margherita von Brentano zum 65. Geburtstag. Berlin 1988, S. 193 ff. 66 Vgl. insbesondere E. Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form. Tübingen 1911, S. 23 ff. 63
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nomenologische Generationenprägung durch Nietzsche unverkennbar. Heidegger wendet sich mit seinem Nietzsche-Impuls auch gegen Jaspers. Der habe diese Form von am Leben seiender Faktizität methodisch nicht aufnehmen können. Existenz sei für ihn ein Seiendes neben anderem Seienden. Auch Subjektivität, das Ich bin, müsse auf Lebensfaktizität bezogen sein, auf die Verbindung mit dem wahrnehmenden Dasein, nicht »wie Steine auf einem Brett, die nur neu geordnet werden sollen« (GA 9.38). Es wäre trotz solcher Spuren nicht stimmig, den Nietzsche-Impuls eines ins Leben eingeschriebenen, seinen schwersten und abgründigsten Gedanken suchenden Denkens als zentrale Intuition von Heideggers früher Phänomenologie und Hermeneutik der Faktizität zu verstehen. So artikuliert ist die Nietzsche-Deutung seinerzeit noch nicht, dass Heideggers phänomenologische Freilegung des Vollzugssinns des Daseins ohne weiteres auf Nietzsche zu beziehen wäre. 67 In das Ensemble der Bestandstücke der frühen Zeitlichkeitsanalysen geht aber ein Nietzschescher Grundton ein, der gerade gegenüber der Philosophie der Jaspers’schen Existenzerhellung verdeutlicht wird. »Statt das oft gesagte ›individuum ineffabile est‹ immer neu zu wiederholen [sei] zu fragen, welchen Sinn denn dabei das ›fari‹ haben soll« (39 f.). Der Nietzsche-Impuls reicht damit immerhin 68 in die Selbstauslegung des Lebens hinein, in der von der »humilitas animi« die Rede ist. Explizit ist zwar beim frühen Heidegger nicht von »amor fati« die Rede. 69Doch in der Sache klingt dieser Gedanke bereits an. Auch wenn Heidegger gegenüber den Abstraktionen eines Logizismus die Dimension des »Bedeuteten« und »Gemeinten« thematisch macht, klingt eine grundsätzliche Erinnerung an das Hören auf den Gesamtklang der Welt nach, das gerade der frühe Nietzsche entwickelte. 70 Noch offensichtlicher ist die Nietzschesche Gestimmtheit Dazu Kapferer, a. a. O., vgl. auch Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., S. 30 ff. 68 Ibid., S. 32 ff. 69 Auf den Grundgedanken des ›amor fati‹ wird Heideggers Schüler Karl Löwith später den Akzent legen. Vgl. K. Löwith, Gesammelte Schriften. Band 6: Nietzsche. Stuttgart 1987, S. 89 ff. 70 Hier folge ich Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., siehe auch M. E. Zimmermann, »Die Entwicklung von Heideggers Nietzsche-Interpretation«, in: Heidegger und Nietzsche, Heidegger-Jahrbuch Band 2, S. 97 ff., siehe ferner den sehr hilfreichen Dokumentationsteil ibid., S. 11 ff. 67
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der Unzeitgemäßheit, 71 die Heidegger in seine eigenen Bestimmungen der hermeneutischen Situation nach 1918 mit einbezieht und die Nietzsches Impuls eines Gegentons gegen den Zeitgeist aufnimmt: in eine Konfrontation der wiederkehrenden Zeit. Aus diesen Reprisen ergibt sich keine durchgehende Systematik. Doch wird Nietzsche in Heideggers Denken bis hin zu Sein und Zeit an neuralgischen Drehpunkten seines Denkens erwähnt, die sein weiteres Nachdenken und Sinnen beeinflussen. Eine flächige Bestimmung der Nietzscheschen Metaphysik bleibt gerade aus. Nicht im Sinn der Einflussforschung, aber der Konstellationen, die Gedankenimpulse freisetzen und in der Entstehung von Denkformen eine Rolle spielen können, 72 ist darüber nachzudenken, ob Heideggers Kontrastierung von Historie und Geschichtlichkeit nicht wesentliche Impulse aus Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung empfing. Dieser Eindruck verstärkt sich in Sein und Zeit noch. Heidegger nimmt dort die drei Nietzscheschen Typen der Historie: antiquarisch-kritisch-monumentalisch auf, als Hinweis auf eine »in die Einheit ihrer ausgefalteten Gliederung« entwickelte Einheit von Geschichtlichkeit (324, 327). Mit Nietzsche gilt, wobei Nietzsche gerade die monumentalische Historie in den Blick nimmt: »In der wiederholenden Aneignung des Möglichen liegt zugleich vorgezeichnet die Möglichkeit der verehrenden Bewahrung der dagewesenen Existenz« (SuZ 396): Dass aus dem Gewesenen eine lebendige Virtualität, ein Vorentwurf des Zukünftigen zu entwerfen ist, kann Nietzsches Verschränkung der wiederkehrenden Zeiten entnommen werden. In diesem Sinn werden unterschwellig und behutsam Nietzsche-Spuren in den Text eingezeichnet. Dies zeigt sich immer dann, wenn Heidegger Nietzsches Namen ausdrücklich nennt: »Das Dasein behütet sich, [zum Tode] vorlaufend, davor, hinter sich selbst das verstandene Seinkönnen« zurückzufallen und ›für seine Siege zu alt zu werden‹ (Nietzsche) (264). Oder es ist die Gewissensanalyse aus der Genealogie der Moral, die Heidegger in den Blick nimmt. Wenn Heidegger das Gewissen als Innen und Außen-sein zumal beschreibt, so kann man darin eine Implikation aus Nietzsches genealogischer Gewissenskritik wiederfinden. »Alle Instinkte, welche sich nicht nach 71 Vgl. dazu D. Jähnig, Maßstäbe der Kunst- und Geschichtsbetrachtung Jacob Burckhardts. Basel 2006, S. 34 ff. 72 Vgl. die singuläre Rekonstruktion philosophischer Werkgenese bei D. Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten. München 2011.
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Außen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne« (KSA 5, 321 f.). Die große Gesundheit, Jenseits von Gut und Böse, versteht Nietzsche als Heilung gegenüber jener metaphysischen Krankheit. Heidegger folgt seinerzeit diesem prophetischen Gestus nicht. Er trägt ihm aber indirekt Rechnung, indem er das Dasein immer schon als in der-Weltsein versteht. Tiefer als in einzelnen Begriffsstücken prägte das Pathos der Unzeitgemäßheit bereits in den dreißiger Jahren Heideggers Selbstverständnis. So evoziert er in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik im Sommersemester 1935 das »freiwillige Leben in Eis und Hochgebürge« als Abstandnahme von der eigenen Zeit (10). Und in den Vorlesungen der vierziger Jahre kehren dann Nietzchesche Sinnbilder wieder, die diese Gegenbildlichkeit zur eigenen Zeit thematisieren, vor allem das Bild von der anwachsenden Wüste. 73 Das Epitheton der Unzeitgemäßheit bleibt in einer phänomenologischen Schwebe. Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ wird dagegen in der Rektoratsrede von 1933 zum zentralen Emblem. Nietzsche habe gesagt, was ist, bemerkt Heidegger, wobei es eher der Nietzsche zugeschriebene Heroismus ist, der hier bestimmend wirkt. Auch das Epitheton des Kampfes 74 spielt in der Rektoratsrede eine ungebrochene Rolle. Der Kampf wird auf Eris, den gegenwendigen Streit im frühgriechischen Denken zurückgespielt und Nietzsche damit aus der NS-affinen Rolle des Verkündigers der sich selbst behauptenden Universität in die Schwebe des späten Metaphysikers zurückgeführt, der aber mit dem frühen griechischen Anfang in einer Korrespondenz steht. 75 Erst 1935 kommen in der Abhandlung vom Ursprung des Kunstwerkes wieder Nuancierungen ins Spiel. Die Hinwendung zum Kunstwerk ist in besonderem Maß auf Nietzsches Artisten-Metaphysik, den Zusammenhang von Kunst und Leben und die Spannung von Denken und Dichtung bezogen. Genau hier setzt der Spannungsbogen an, den Heideggers Nietzsche-Vorlesungen dann beschreiben werden. Vorgebildet war all dies in den Jahren 1929/30, deren luzide Einsichten unter den ZusammenVgl. Heidegger, Was heißt Denken?, a. a. O., S. 11 f., und S. 61 ff. Siehe auch Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 140 ff. 74 Vgl. Heidegger, Die Rektoratsrede. Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. E.A. Breslau 1933, S. 9 ff. 75 Dazu Müller-Lauter, a. a. O., siehe auch M. E. Zimmermann, »Die Entwicklung von Heideggers Nietzsche-Interpretation«, in: Heidegger-Jahrbuch 2, a. a. O., S. 87 ff. 73
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ballungen des Jahres 1933 zerstört wurden. Nietzsches Rede vom Menschen als Übergang, wobei der Übergang als »Grundwesen des Geschehens« aufgefasst wird (GA 29/30, 531), nimmt Heidegger in der Vorlesung über ›Die Grundbegriffe der Metaphysik‹ mit besonderem Nachdruck auf, in einem Kolleg, das nicht zufällig mit Nietzsches ›Trunkenem Lied‹ schließt, dem Heidegger konzediert, dass es ein letztes Zeugnis des »Odems des Philosophierens« abbilde: einen Enthusiasmus, der in das Sein des Seienden im Ganzen führt. Damit eng verknüpft ist in dieser Vorlesung die Analyse der tiefen Langeweile und der Ausgespanntheit menschlichen Daseins, das sich von der Intentionalität auf gegebenes Seiendes löst und in den Schwebezustand der Frage versetzt ist: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (GA 29/30, 200 f.). Die Grundfrage formt jenen Bereich, in dem Sein und Zeit, Wesen und Bewegung erst auseinandertreten können. Wie Heidegger weiter betont, ist es auch der Bereich, in dem sich erst die Frage der Ethik stellt. (ibid., 199). In der Metaphysik-Vorlesung ist angelegt, dass Nietzsche keineswegs nur als Verkünder eines Nihilismus von Heidegger rezipiert wird, sondern als Denker des Selbstumgangs und der conditio humana, was auch auf Strukturen und Zusammenhänge führt, die sich nur in Nietzsches, nicht in Heideggers Denken ausgeprägt finden, vor allem auf das Wechselspiel von Krankheit und Gesundheit.
Affinitäten im Bruch: Mit Nietzsche gegen ihn denken Es gibt unstrittig Affinitäten zwischen Heidegger und Nietzsche und es gibt starke Unterschiede. Heideggers Denken ging von der Theologie und der Logik zur Phänomenologie. Nietzsches Grundprägung war die Philologie und die Nähe der Philosophie zur Kunst, der sich Heidegger erst im Lauf der Zeit öffnete. Die hohe Stilsicherheit und Musikalität von Nietzsches Sprache, ein Denken, das glanzvolle Bilder, Metaphern und Metonymien findet, aber seiner Schönheit und seinem Glanz nach eigenem Zeugnis misstraut, 76 konnte Heidegger nicht nachahmen. Zu sehr ist er an der harten philosophisch phänomenologischen Sacharbeit orientiert, am Erscheinen-lassen der Wahrheit des Seienden, 77 das sich durch Bestimmungsreihen hindurch 76 77
Nietzsche, Menschliches-Allzumenschliches, KSA 2, S. 700 ff. Heidegger, Nietzsche II, S. 402 ff.
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freisetzen muss. Es bleibt zutreffend, dass Heidegger eben nicht Nietzscheaner ist. Auch wenn er sich zeitweise in diese Richtung stilisiert haben mag. 78 Der Bruch gegenüber Nietzsche war Heidegger immer bewusst. Nietzsche ist eine Letztgestalt der Metaphysik, mit der eine »Auseinandersetzung« zu führen ist, die um die Sache von Metaphysik und Wahrheit des Seins kreist. Heidegger weist deshalb eine primär weltanschauungspsychologische Nietzsche-Deutung zurück, wie Karl Jaspers sie vorgelegt hatte. Sie sei von Grund auf verfehlt, denn sie gehe an Nietzsches Denken vorbei: Die Auseinandersetzung mit Nietzsche unterscheidet sich, betont Heidegger, von Grund auf von jedem »sowohl als auch«, das nur eine »größte Verfälschung« (43.278) sein könne. Deshalb versteht Heidegger Nietzsche im Rückblick auf die Vorlesungen aus dem Wintersemester 1936/37 und dem Sommersemester 1937 als »Übergang« und er verdeutlicht, dies sei »das Höchste, was von einem Denker gesagt werden« könne (43.278).An diesem Punkt fragt er sich auch nach dem Ort seines eigenen Denkens auf dem seinsgeschichtlichen Weg der Metaphysik. Kann er selbst eine andere Rolle einnehmen als die des Übergangs? Das Gegenbild des Dichters Hölderlin hat für Heidegger bekanntlich eine Tiefendimension, die über den ersten Anfang hinausweist. Es verweist in den Bereich des entzogenen Seins und greift in das Künftige, Ungedachte aus, das mit dem ältesten Alten europäischen Denkens korrespondiert. Heidegger zählt Hölderlin und nicht Nietzsche zu den Lanthanonten, den Verborgenen, die auf das verborgene Seinsgeschehen blicken. 79 Eine vergleichbare Rolle, sofern sie dem Denken zukommt, beanspruchte Heidegger auch unterschwellig für das eigene Seinsdenken. Die unterschiedlichen Annäherungen und Distanzierungen gegenüber Nietzsche sind deshalb auch als Selbstbilder Heideggers von Interesse. Heidegger brauchte ein solches Gegenüber in der Denkgeschichte: An diesem Punkt hat ihn Nietzsche also ganz sicher nicht zerstört. Nietzsche als Denker des Endes der abendländischen Metaphysik ist für Heidegger, obwohl er solche Letztstellungen teilweise auch Vgl. auch Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 301 ff. Zu einer Nietzscheanischen Anmutung Heideggers trug auch die sachlich kaum berechtigte Summierung beider unter das Rubrum eines ›schwachen Denkens‹ bei. Vgl. G. Vattimo, »Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers«, in: Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt/ Main 1989, S. 142–153. 79 Vgl. u. a. GA 65, S. 294 ff. und S. 395 ff. (›Die Zukünftigen‹). 78
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Hegel und Schelling zuwies, der Name des Denkers als metaphysischer Ort, von dem aus noch einmal alle Grundstellungen der Seinsgeschichte zu übersehen sind. Hier liegt die sachliche Begründung, dass er gerade im Anhang seines zweibändigen Nietzsche-Werks die Annäherungen an die Seinsgeschichte mit Nietzsche in Verbindung brachte. 80 Wenn in der Forschung die Überidentifikationen Heideggers mit Nietzsche reflektiert werden, 81 muss man mit in Rechnung stellen, dass ihn in erster Hinsicht der Problemtitel von »Nietzsches Metaphysik« beschäftigt und nicht die Darstellungsformen oder Inszenierungen Nietzsches: Nietzches Denken nimmt Heidegger als philosophische Sachproblematik auf, an der die Auseinandersetzung zwischen erstem und anderem Anfang des Denkens auszutragen ist. Sprichwörtlich dafür ist die Aussage, dass ein metaphysischer Satz Nietzsches ebenso viel wiege wie ein Satz des Aristoteles. 82 Den Aufriss von Nietzsches Metaphysik rekonstruiert Heidegger in einer nahezu scholastischen Systematizität. Heidegger wählt also eine Darstellungs- und Beurteilungsform, in der Nietzsche sein Werk nie organisierte. Nietzsches Denken nehme die Leitfrage nach dem Sinn des Seienden im Ganzen in einer Doppelung, einer Bifurkation, auf: Es sei einerseits die Frage nach dem Was-Sein, andererseits nach Dass-Sein (GA 43, 286). 83 Als Zeugen für die vielfachen perspektivischen Facetten des Wieseins dagegen und der Bestimmungen des ›hermeneutischen als‹ nimmt Heidegger Nietzsche nicht beim Wort. Doch er erkennt durchaus den metaphysisch oszillierenden Charakter von Nietzsches Denken, der der ›Übergangsstruktur‹ nur gemäß ist. Hinter der Vordergrundansicht des »Herkömmlichen« und der ›Erinnerung‹ an Metaphysik verberge sich der Sprung in die Grundfrage. 84 Die Nietzsche-Vorlesungen ergeben zusammengenommen eine sachliche Abfolge, die nicht mit den Veränderungen in der BeurteiHeidegger, Nietzsche II, S. 399 ff., über diese Verflechtung Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., S. 183 ff., und S. 188 ff. 81 Vgl. z. B. Babich, a. a. O., die den Mythen solcher Denkgespräche nachgeht. 82 Heidegger, Nietzsche I, S. 77 f., wo Heidegger auf die tiefe innere Affinität zwischen Nietzsche und Aristoteles hinweist und Nietzsche damit aus dem Schatten des »europäischen Nihilismus« löst. 83 Die metaphysische Essentia-Existentia-Unterscheidung führt Heidegger dadurch in das Gefüge von Leitfrage und Grundfrage ein. 84 Dazu auch Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., S. 83 ff. 80
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lung Nietzsches im Lauf der Jahre gleichzusetzen ist. Die Tektonik, zu der die Nietzsche-Vorlesungen zusammentreten, spielt sich aber zugleich innerhalb von zeitgeschichtlichen und biographischen Bewegungszusammenhängen ab. Sie ist von Kontingenzen und Schwierigkeiten durchzogen. Insofern überlagern sich beide Strukturen. Nicht zu übersehen ist auch, dass Heideggers intensive Beschäftigung mit Nietzsche von anderen Denkwegen und -abzweigungen begleitet war: dem wiederholten Rückgriff auf Schelling, vor allem die Freiheitsabhandlung und die Frage nach dem Bösen (GA 42 und GA 49), die Besinnung auf ›Grundfragen der Logik‹ und ›Grundbegriffe‹ (GA 45, 51) und die wiederholten Ausgriffe auf das vorplatonische Denken einerseits und auf Hölderlins Dichtung andererseits.
Genealogie und Anamnesis einer Zwiesprache Das erste Kolleg (GA 43) exponiert eine Zwiesprache mit Nietzsche über den Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst, den Nietzsche »Entsetzen erregend« nennt (KSA 13 500). Heidegger bringt diese Zwiespaltstruktur mit dem ›Riss‹ in Verbindung, in dessen Zeichen er selbst das Wesen des Kunstwerks expliziert hatte: den Gegenhalt von Welt und Erde. Die Kunstwerkabhandlung wird insofern mit Nietzsches Tektonik in ein Resonanz- und Korrespondenzverhältnis gebracht. Nietzsches Perspektivismus steht im Fokus der Betrachtung. Er ist einerseits auf die Begrenztheit des jeweiligen Seienden bezogen, die Nietzsche als Unmöglichkeit bestimmte, um die eigene Welt-Ecke zu sehen. 85 Zugleich transzendiert aber jedes Seiende seinen fixierten Welt-Ort und zeigt sich als Perspektive auf die Welt im Ganzen. Nietzsche wird offensichtlich in dieser ersten Vorlesung noch als antizipierender Denker verstanden, der auf die Seinsfrage ahnend voraussieht. Die Entgegengesetztheit von ›Welt‹ und Erde deutet sich in seiner Sicht auf das Kunstwerk an, allerdings noch in Figurationen eines ästhetischen Subjektivismus: Für Nietzsche ist das Subjekt aber nicht passiv der Genießende wie für eine Rezeptionsund Geschmacksästhetik im Kantischen Sinn, sondern der schaffende Künstler, von dessen Gestimmtheit die Handhabe des Schaffens aus-
F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln, Weimar, Wien 1980, S. 9 ff.
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geht: in Enthusiasmus und Gestaltung. 86 Die Verschränkungen in der Struktur des Streites, die der Kunstwerk-Aufsatz thematisch machte und die sowohl eine »Lichtung für die Verbergung« denken als auch ein »Aufgehen des Verschlossenen«, eben der Erde, 87 findet Heidegger jedoch nicht am Leitfaden von Nietzsches Denken. Dessen Bestimmung von Kunst bleibt im Rahmen der Leitfrage der Metaphysik nach dem Sein des Seienden. Er denkt den Willen zur Macht als das »letzte Faktum zu dem wir hinunterkommen« 88 und das sich in unterschiedlichen Formen manifestiert, unter anderem als Kunst. Dies ist der Punkt, an dem Nietzsches umgekehrter Platonismus, der die Erscheinung der Gestalt und nicht mehr die transzendente Idee des Guten als »apex theōríae« begreift, als Übergangsgestalt aufgenommen wird. Der Platonische Übergang, der die originäre phýsis unter das Joch der Idee bringe (GA 9.229), 89 wird von Nietzsche auf das Wissen zurückgenommen, dass ohne Kunst das Leben ein Irrtum ist. Die zweite Nietzsche-Vorlesung (GA 44) widmet sich nicht einer weiteren Auffächerung des ›Willens zur Macht‹, dem Gedanken, den Nietzsche als das letzte Faktum bestimmte, zu dem wir hinunterkommen, 90 sondern der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die man zugleich als Nietzsches Lehre von der Zeit verstehen kann. 91 Die Leitfrage: ti to on: Was ist das Sein? führt auf der Ebene der Wesensbestimmung, des Was-seins auf die ewige Wiederkunft. Nietzsches Metaphysik erweist sich als Metaphysik einer Denkerfahrung, die Verwandlungen voraussetzt und in einen Lebenszusammenhang hineinzieht. Heidegger hebt hervor: Der Wiederkehrgedanke ist deshalb der schwerste Gedanke, dem Zarathustra als sein Denker erst allmählich gewachsen sein muss, weil er zu Selbstkonfrontationen des gelebten Lebens führt. Er ist eben nicht wie im Leierlied der Tiere Zarathustras auf die ontische These zurückzuführen, dass alles wieDazu unter grundsätzlicheren Gesichtspunkten J. Sallis, »Die Verwindung der Ästhetik«, in: Heidegger-Jahrbuch 2, a. a. O., S. 193 ff. 87 Vgl. Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege, GA 5, S. 1–75, hier insbesondere S. 44 ff. 88 Ibid., insbes. S. 32 ff., 89 Dazu Heidegger, »Platons Lehre von der Wahrheit«, in: Wegmarken, GA 9, S. 203 ff. 90 Nietzsche, KSA 11, S. 661. 91 M. Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung. Stuttgart 1998, S. 65 ff. 86
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derkehrt und sich unterschiedslos wiederholt, sondern dass Schönes und Schreckliches in einem Augenblick einander entgegnen. Gerade dies zeigt in höchster Verdichtung das Kunstwerk. 92 Die ewige Wiederkehr muss, Heidegger zufolge, auf die Grundfrage der Metaphysik hin gedeutet werden. Sie führt an die Grundfrage heran: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?«, 93 weil das Hineingehaltensein in die ewige Itineration allen Halt und alle konkrete Intentionalität auf einzelnes Seiendes hinter sich lässt. Nietzsche habe davon eine Ahnung gegeben und diesen Gedanken deshalb als »circulus vitiosus Deus« (KSA 5. 74 f.) verstanden. Denn die Imagination, dass alles wiederkehrt, »so wie es war und ist und sein wird«, soll bejaht werden, sie soll zu einer Affirmation führen, obwohl sie letztlich vernichtend und bedrohlich ist. Dem Einzelereignis und dem einzelnen Ding in seiner eminenten Phänomenalität wird durch die Wiederkehrstruktur ihre Singularität genommen. Das einzelne Seiende verliert sich in ein Werden, das das Nichts evoziert. Nietzsche formulierte dies in unterschiedlichen Phasen seines Denkens in zwei passgenau gegeneinander gewendeten Formulierungen: »Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen« 94, und: »Sein und Werden: Es ergibt sich die volle Differenz«, 95 die Heidegger nennt und zwischen denen er den Differenzraum einlöst. 96 Im zweiten Teil der Vorlesung geht Heidegger detailliert den Manifestationen der ewigen Wiederkehr in Nietzsches Nachlass nach. Nietzsche versuchte diesen »abgründlichsten Gedanken« im Zusammenhang seines Interesses an epistemischen Begründungsformen in naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen, in eine entropische Beweisform einzupassen. 97 Er fasste ihn aber auch als grundlegende Lebensmaxime in einer Abwandlung des Kategorischen Imperativs, wonach so zu leben ist, dass 92 Dazu J. Sallis, a. a. O., und Riedel, Freilichtgedanken, a. a. O., S. 11 ff. Siehe auch die tiefen Überlegungen von D. Jähnig, Welt-Geschichte, Kunst-Geschichte: zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, S. 23 ff. und S. 149 ff. 93 Heidegger, Was ist Metaphysik?, a. a. O., S. 103 ff. 94 Nietzsche, KSA 12, S. 312. Nietzsche fügt in diesem Fragment die Bestimmung hinzu: »das ist der höchste Wille zur Macht«. 95 KSA 7, S. 23; und KSA 2, S. 41 f. 96 Dazu R. Löw, Nietzsche, Sophist und Erzieher: Philosophische Untersuchungen zum systematischen Ort von Friedrich Nietzsches Denken. Weinheim 1984,S. 153 ff. 97 Dies steht auch in engem Zusammenhang mit Nietzsches Plan, gemeinsam mit Lou Salomé in Paris Naturwissenschaften zu studieren und die entropische Struktur der ewigen Wiederkehr-Lehre freizulegen.
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man die Wiederkehr jedes Augenblicks, auch des eigenen Scheiterns, bejahen können solle. Heidegger sah in diesem Gedanken einen Nietzscheschen Weltbegriff sich ausbilden, eine Selbst-entgegnung und damit eine Struktur, wie sie der eigenen Intuition der Kehre nahe kommt. Der eine grundlegende Gedanke, den Heidegger anlegt, liege der ewigen Wiederkehr zugrunde, als ihr Grund und Abgrund und ohne in ihrem Rahmen direkt thematisiert werden zu können: die Wahrheit des Seins selbst. In dem ersten Nietzsche-Kolleg sieht Heidegger noch eine Passung zwischen der letzten Metaphysik und der Wahrheit des Seins, doch Versuche einer unmittelbaren Spiegelung, werden zunehmend zurückgenommen. In der Akzentuierung der ewigen Wiederkehr zeigt sich die Gegenkonzeption und hohe Widerständigkeit von Heideggers Nietzsche-Interpretation gegenüber dem gängigen Nietzscheanismus der NS-Zeit, dem »heroischen Realismus« eines Baeumler oder Bertram etwa. Sie wiesen die Wiederkunftslehre als Nietzsches Privatmythologie zurück 98 und identifizierten Nietzsche ganz und gar mit einem heroisch verzeichneten Willen zur Macht. Wenn Heidegger für sich selbst oder seine Hörer ein verborgenes Signal geben wollte, so dieses, dass das zu Denkende nicht in dem sich selbst ermächtigenden Willen aufgehe, der am Ende nichts Bestimmtes mehr will, sondern nur sich selbst wiederholt. Diese Itineration des Willens zum Willen wäre die Denken vernichtende Machination einer totalen Mobilmachung und entfremdeten Industrie, die in Vernichtung umschlägt. 99 Heidegger dürfte aber zunehmend gezweifelt haben, ob bei Nietzsche eine solche anti-thetische Struktur überhaupt vorgesehen ist oder ob die ewige Wiederkehr nicht letztlich in den blinden Kreisläufen der Machination endet. In der Vorlesung des Sommersemesters 1939, des letzten Semesters vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, widmet sich Heidegger einer weiteren Hinsicht des Willens zur Macht: seiner Erscheinungsform
E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie. Nachdruck Bonn 1989 und A. Baeumler, Nietzsche als Politiker. München 1933. Vgl. dazu M. Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama. Leipzig 1997, insbes. S. 80 ff. 99 Vgl. dazu auch die treffenden Analysen bei Müller-Lauter, a. a. O., S. 250 ff. Es ist freilich klar, dass die moralische Indolenz, die Heidegger in seinen Bremer Vorträgen gegenüber der umfassenden Vernichtung zu erkennen gibt, durch eine umfassende Kritik des ›Gestells‹ nicht ausgeglichen werden kann. 98
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als Erkenntnis. Nietzsche wies unter anderem vor dem Hintergrund des Darwinismus, auf, 100 dass auch Erkennen einem Willen zur Macht entspringe, einem Mehr- und Über-sich-hinaussein. Die vermeintliche Objektivität von Erkenntnis ist Chimäre und Illusion. Kategorienbildungen und Schematisierungen können also so destruiert werden, dass sie auf Gegensätze zwischen Macht und Gegenmacht zurückführen. Nietzsche bindet, wie Heidegger akzentuiert, Erkenntnis an einen Nutzen für das Leben. Die Auseinandersetzung findet dann ihren eigentlich neuralgischen Punkt an der Wahrheitsfrage. Wahrheit ist für Nietzsche »Nutzen für das Leben« (47, 94 f.). Als propositional aussagbare epistemische bzw. metaphysische Wahrheit erweise sich Wahrheit aber zugleich als Illusion. Spuren dieser Epistemologie von Wahrheit verlieren sich in den Fluktuierungen von einzelnen Lebensvollzügen. Darauf eben verweist Nietzsche, wenn er festhält, dass ›wir‹ mit der wahren Welt auch den Schein abgeschafft haben. Wenn im Horizont der Nietzsche-Auseinandersetzung Wahrheit als Inbegriff der Inbegriffe firmiert und wenn er zeigt, wie dieser Wahrheitsgedanke Nietzches über den Satz-lógos hinausführt, damit aber jede kriteriologische Einholbarkeit verliert und zur Andeutung eines unaufhebbaren Scheins diffundiert, so verweist dies auf den Abstand der anfänglichen aletheia-Wahrheit von dem Wahrheitsverständnis Nietzsches. Der Abstand wird Indiz der Verborgenheit, des seinsgeschichtlichen Lethecharakters von Wahrheit. Heidegger gibt sich keiner Illusion darüber hin, dass bei Nietzsche nichts mehr vom Rückschein der Entborgenheit der anfänglichen phýsis, und damit keine Spur der aletheia, zu erkennen ist. Dennoch wäre es zu einfach und bliebe weit unter Heideggers Einsichten, wenn man Nietzsches scheinhaften Wahrheitsbegriff als eine Variante auf die Sophistik 101 und den Protagoras-Satz, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, 102 reduzieren wollte. Nietzsche geht nach Heideggers Rekonstruktion vielmehr den Platonischen Weg von der Gerechtigkeit zur Idee des Guten in umgekehrter Richtung. Er versteht Gerechtigkeit als bauende und schaffende Macht, als eine weitblickende Archontik, die verschiedene Welt-Perspektiven miteinander verbinden
100 Vgl. zu den Nähen und Aberrationen von Nietzsches Darwinismus E. Düsing, Nietzsches Denkweg. Theologie-Darwinismus-Nihilismus. München 2006, S. 201 ff. 101 R. Löw, Nietzsche. Sophist und Erzieher, a. a. O., S. 30 ff. 102 Vgl. zu dem homo mensura-Satz des Protagoras: Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens. Hamburg 1986, S. 27 ff.
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kann. 103 Doch Gerechtigkeit ist in der Nietzscheschen Lesart zugleich vernichtend und scheidend. An diesem Punkt verbinden sich erster Platonismus mit seiner Tektonik der Recht schaffenden Macht und der zweite Nietzschesche Platonismus miteinander. Eine Belegstelle ist der vierte Teil des Zarathustra, in dem Nietzsche über die Erlösung für den Erlöser nachsinnt, womit er eine Modifizierung der schaffenden Tugend verbindet und damit den Übergang in ein zurückgenommenes verborgenenes Wahrheitsverständnis andeutet. Heidegger versucht offensichtlich, mit Nietzsche gegen Nietzsche zu denken und den Übermächtigungscharakter von Recht (Dike) hinter sich zu lassen, womit aber zugleich der von Nietzsche aufgewiesene Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Wahrheit, der eine wirkliche systematische Schnittstelle hätte bezeichnen können, in den Hintergrund tritt. In der Folge trennt sich bei Heidegger die Frage nach der Wahrheit von jener der Gerechtigkeit. Im Zweiten Trimester des Jahres 1940 wendet sich Heidegger Nietzsches Explikation der »Metaphysik des Willens zur Macht« zu (GA 48, 216 f.). Der Wille zur Macht ist nach Heideggers Lesart im Rahmen einer Metaphysik von Subjektivität angelegt. Er führt das Subjektivitätsdenken, das Heidegger wiederholt mit Gewalt und Übermächtigung verbindet, auf eine letzte Stufe des sich selbst ermächtigenden Subjektes. Heidegger führt deshalb den ProtagorasSatz vom Menschen als »Maß aller Dinge« als Prototyp des antiken Subjektivitätsparadigmas an und verbindet ihn mit dem Cartesischen Principium und Pronunciatum des ›Ego cogito‹, das aber, wie Heidegger zu Recht anzuzeigen versucht, keinen fundierenden Charakter hat (GA 48. 217 ff.). Der Cartesische Grundsatz setzt nämlich Bekanntes voraus, die Struktur der Cogitatio und das Ego, und er basiert auf der Abstraktion, dass die Substanz in Abhängigkeit vom Subjekt gesetzt wird. In Nietzsches Willen zur Macht-Metaphysik wird Heidegger zufolge einerseits jene sich selbst setzende Subjektivität noch einmal überboten. Andrerseits ist im perspektivistischen Denken impliziert, dass »jedes Kraftcentrum« – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiere (GOA XVI, 114), diesen inneren Widerspruch bei Nietzsche sah Heidegger wie kaum ein zweiter Nietzsche-Interpret. Solche Kraftzentren, die in der Folge der Leibnizischen Monaden verstanden werden können, brechen die 103 Vgl. mit weiteren Belegen H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche. Berlin 21999, S. 235 ff.
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zentrale Macht der Subjektivität. Der Umgang mit ihnen führt zu einer hyperbolischen Naivität, weil im Sinne Nietzsches von vorneherein deutlich ist, dass der Mensch letzte Ideen, ›Einheit‹, ›Sein‹, aber auch die Kategorialität der Welterfassung selbst setzt und sie in eine rätselhafte in sich kreisende Welt implantiert. Solche metaphysischen Begriffe zu prägen, setzt selbst schon jene »hyperbolische Naivität« voraus, 104 wie Nietzsche sie als Charakteristikum für die Metaphysik des Willens zur Macht ansetzt. Doch sind derartige Setzungen zugleich nihilistisch. Mehr noch als andere Formierungen von Metaphysik beruhen sie auf einer Verdeckung ihres eigenen Ansatzes. Ihre geschichtliche Topologie am Ende der Metaphysik kann nur im Übergang in einen »künftigen« Anfang aufgewiesen werden. Heidegger verweist darauf, dass Nietzsches seinsgeschichtlicher Ort »nicht durch Heutiges, sondern durch Künftiges« bestimmt werde (150), was voraussetzt dass der vollzogene Übergang vom ersten in den anderen Anfang den vollzogenen Nihilismus voraussetzt. Er muss insofern Nietzsches Hyperkritik festhalten und kann nicht in die hyperbolische Naivität zurückgleiten. Die ›Verwindung‹ hat eben hier anzusetzen: Gegenüber einem Denken in den ökonomistischen und daher immer nur relativen Wertkategorien 105 wird der Mensch Sklave einer »Moral der Entselbstung«, die zu einer vertieften Selbstgesetzgebung nicht findet, Ausprägung eines sich selbst vollendenden Nihil. Nihilistisch ist für Heidegger jeweils bereits die Grundstruktur der metaphysischen Konstellationen. Sie beruhen darauf, dass es mit dem Sein nichts ist. 106 Wenn Nietzsche den Tod Gottes und die kratische Steigerung des Übermenschen diagnostiziert und zugleich verkündet, so ist die Negierung der Seinsvergessenheit konsequent zum Thema gemacht. Nietzsches Denken des Übergangs bestimmt Heidegger auch als »Ausharren in der äußersten Entscheidung« (65. 370). In den Beiträgen zog Heidegger aus den einkreisenden Nietzsche-Kollegs die Folgerung: Mit Nietzsche die Auseinandersetzung zu wagen, heiße, sie mit dem Nächsten zu wagen »und doch erkennen, dass er der Seinsfrage am fernsten steht« (176). Da Nietzsche
Vgl. u. a. KSA 13, S. 49 ff. Siehe F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, a. a. O., S. 235 ff. 105 Grundsätzlich aus genealogischer Sicht H. Joas, Die Entstehung der Werte. Frankfurt/Main 1999. 106 Dazu Heidegger, Nietzsche II, S. 257 ff. und S. 333 ff. 104
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als Übergang bestimmt wird, wird der Gestus aufgenommen, in dem Zarathustra sich selbst situiert. Er ist gleichsam Prototypon der menschlichen Situation, ein Seil, gespannt zwischen erstem und anderem Anfang. Dieses Zwischen setzt einen Vorblick auf die doppelte Perspektive der Rückkehr des ersten Anfangs in den anderen Anfang voraus: Einerseits müsste diese Rückkehr »Sprung« sein, andererseits Erinnerung und Rückkehr. 107 Beide Linien gehen in Heideggers Verständnis der ›Verwindung‹ ein. Nietzsche wählt aber Heideggers Urteil zufolge keinen der beiden Wege, er bleibt in einer Unentschiedenheit, die sich in den Ambivalenzen seines Denkens zwischen Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr positioniert. Im Wintersemester 1941/42 plante Heidegger sich noch einmal zusammenschauend ›Nietzsches Metaphysik‹ zuzuwenden. Die Vorlesung war ausgearbeitet, doch, charakteristisch für die Suche nach dem Zusammenklang von Denken und Dichtung, widmete sich Heidegger stattdessen Hölderlins Hymnen. Die Bauform von Nietzsches Denken rekonstruiert Heidegger im einzelnen als eine Art Pentagramm. Stärker noch als bisher kümmert er sich um die immanente Gesetzlichkeit und Ordnung Nietzscheschen Denkens. Die Affinitäten und Empathien zu Nietzsches Ansatz werden deutlicher hervorgehoben als in den vorausgehenden Vorlesungen. Es hat den Anschein, als werde die Differenz zwischen erstem und anderem Anfang zu einem gewissen Grad eingeklammert und eine unmittelbarere Verständigung gesucht, insbesondere wenn Heidegger Nietzsches ›Nihilismus‹ als ›ekstatisch‹ und als »höchste[.]Mächtigkeit des Geistes« (50.29) umschreibt. Nietzsches Metaphysik ist darin ein letztes Denken, dass sie Geschichte gleichsam mit dem Augenblick verschmelzen lässt. Der etwa von Wolfgang Müller-Lauter erweckte Eindruck, 108 dass sich Heideggers Perspektive auf Nietzsche immer mehr verdunkle und die Abwehr des Gestellcharakters der letzten Metaphysik sich steigere, ist deshalb deutlich zu korrigieren. Der ekstatische Nihilismus verneint in ein Neues und Offenes hinein. Wie ich andernorts, anschließend an Manfred Riedel betonte, 109 nähert sich Heidegger aber nur indirekt zu den Signalen einer Gelassenheit, wie sie Nietzsche ausgehend von seinem Gedan107 108 109
Heidegger GA 65. 227 ff. Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 267 ff. Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., S. 212, siehe auch
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ken eines »europäischen Buddhismus« und der Explikationen des »amor fati« formuliert. Heidegger wiederholt freilich noch einmal seine Interpretation der ewigen Wiederkehr als in sich laufender Machination und bestimmt sie als die »beständigste Beständigung des Bestandslosen« (ibid., 35). Sie bedeutet also primär Fixierung, was aber selbst in eine weitere Zweideutigkeit verweist. So kann das derart Fixierte Gestalt werden, es kann aber auch in das technische Gestell auslaufen. Leitthema neben dem Amor fati ist die weitumherschauende Gerechtigkeit, die Macht, die über die »kleinen Perspektiven von Gut und Böse« hinaussieht, also einen weiten Horizont des Vorteils hat – die Absicht, Etwas zu erhalten, das mehr ist als diese oder jene Person (zit. nach 50.73). Heidegger führt diesen Nietzscheschen Begriff der Gerechtigkeit in einer Perspektive, die wohl über Nietzsches Binnentext hinausweist, weiter, sodass sie ihrem Anspruch nach in die Mitte des Seins führen muss. Umso klarer wird im Rayon der letzten Nietzsche-Vorlesung aber auch der Zusammenhang von Trennung und Verwebung zwischen erstem und anderem Anfang, nämlich, dass »das Wesen der Wahrheit im Sinne der Unverborgenheit niemals in das neuzeitliche Denken erst wieder eingeführt werden [kann], weil es nämlich darin immer schon und immer noch, nur eben gewandelt, verkehrt und verstellt und somit unerkannt, weiterwaltet« (ibid., 66). Auch auf den Übermenschen kommt Heidegger zurück, der gleichsam das Subjekt jener letzten Metaphysik ist, als eine Interpretation bisherigen Menschseins, die über dieses Menschsein hinausgehe.
Zarathustras Verwindung des ›Geists der Rache‹: Ein Endpunkt Zu einer klärenden letzten Durchsicht, die viele Einzelheiten und Windungen der Auseinandersetzung mit Nietzsche hinter sich gelassen hat, kommt das Denkgespräch mit Nietzsche in einer Abhandlung aus dem Jahr 1953, in der Heidegger nach der Identität von Nietzsches Zarathustra, des Denkers der ewigen Wiederkehr fragt. Wer ist dieser Denker denn? Hier deutet Heidegger noch einmal eine Nietzsche-Lesart an, die am Ende der Metaphysik doch Atem holt M. Riedel, Vorspiele zur ewigen Wiederkunft. Nietzsches Grundlehre. Wien, Köln, Weimar 2012, S. 150 ff.
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und sich aus dem Nihilismus löst. Die Nietzsche’sche Konstellation am Ende des ersten Anfangs wird hier auf die prägnante Formel der Erlösung vom Geist der Rache und ihrem Ressentiment gebracht (4.128). Die ewige Wiederkehr zu bejahen, bedeutet nichts anderes, als die Selbstübersteigerungen metaphysischer Konstellationen hinter sich zu lassen, einschließlich der Metaphysik einer technisch-epistemischen Metaphysikverweigerung. Heidegger betont, dass Nietzsche die ewige Wiederkunft im ›Zarathustra‹ so gedichtet habe, dass die drei Zeitekstasen »zum Gleichen als das Gleiche in eine einzige Gegenwart zusammen(kommen), in ein ständiges Jetzt« (ibid.). Die Verwindung des Geistes der Rache wird also in Heideggers Zusammenschau temporal-geschichtlich exponiert und erweist sich so als Brücke zwischen ›Untergang‹ und ›Übergang‹, erstem und möglichem anderem Anfang. Damit kommt Heidegger auf die Intuition seiner ersten Nietzsche-Vorlesung zurück. Die Grenze des Nietzscheschen Denkens liegt nur scheinbar in den sich selbst überschreienden Evokationen des Willens zur Macht, sondern vielmehr in einer Selbstgesetzgebung, die zur Gelassenheit führt, zur Selbstannahme der eigenen denkenden Endlichkeit. Nietzsche findet, so schließt Heidegger seine Nietzsche-Zwiesprache ab, in seinen subtilsten Texten zur Annahme der nächsten Dinge, des Vergehenden, Werdenden nicht-Seins. Von Nietzsche aus sind diese Denkformen zu überschauen, er kann sie aber nicht zugleich diagnostisch treffen und über sie hinaus-weisen, weil Sprung und Grundgebung in dem immanent-Absoluten sich nicht zu einer Fügung verbinden. Mit einem eigenen Pathos der Grundstimmung zeige Nietzsche mit dem abgründigsten Gedanken in eine Sphäre der Ortlosigkeit, der kein bisheriges Denken gerecht werden konnte. Immer wieder rekurriert Heidegger dabei auf das Bild von der Wüste: Es meine, »dass wir schon unterwegs sind – nicht nur […] zum Denken, sondern unterwegs im Denken« (12). Man kann daher von einer Krisis im Sein selbst sprechen, die sich von Nietzsche her abzeichnet. Die Frage, ob Heidegger auch ohne diese insistente, intensive, aus der Strittigkeit am Ende zur Gelassenheit findende NietzscheLektüre zu seiner letzten Philosophie, der Gelassenheit als Konstellation des anderen Anfangs gekommen wäre, führt eine Ambivalenz vor Augen. Grundsätzlich gehen in die Tektonik der Beiträge Nietzsche-Motive ein, vor allem in der Kulturkritik des Gestells, dem Ansatz unzeitgemäßer Betrachtungen und der Evokation des Todes Got301
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tes, auf die die scharfe Absetzung gegenüber dem jüdisch-christlichen Offenbarungsglauben antwortet. Die polemisch scharfen Zuspitzungen sind Nietzsche eng benachbart. Die eine ontologische Grundfrage nach der Wahrheit des Seins aber, die Heidegger von Anfang an verfolgt, kann er von Nietzsche her nicht gewinnen. Deshalb ist die ›Auseinandersetzung‹ ein großer Exkurs, 110 bei dem erst am Ende feststeht, dass er eben nicht auf das Eigene zurückzuführen ist. * Heidegger war aber überzeugt, dass von der Endgestalt der Metaphysik in Nietzsches Denken her das Ganze der metaphysischen Wegbahnen überblickt werden kann: Deshalb findet sich im zweiten Band von Heideggers Nietzsche-Werk (1961) eine der prägnantesten Zusammenstellungen der Seinsgeschichte, die eine Destillation des seinsgeschichtlichen Denkens der Beiträge entwickelt. Als zentrales Vermächtnis der Metaphysik Nietzsches versteht Heidegger am Ende der Auseinandersetzung, dass sie »zum ersten Mal den Nihilismus als solchen erfährt und denkt« (N II, 336). Zu fragen sei aber, ob der Nihilismus auf diese Weise überwunden sei oder nicht. Heidegger gründet den europäischen Nihilismus am Ende auf die Bestimmung: »Das Wesen des Nihilismus ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst nichts ist« (338). Die Abgrenzung von Nietzsches vermeintlicher Lösung betrifft also grundsätzlich das Verständnis von Metaphysik und Nihilismus: Nietzsche meine jenen Nihilismus durch Umwertung und Willen zur Macht zu überwinden, doch grade dies führe tiefer in die Seinsvergessenheit hinein, in eine nihilistische Konzeption, in der es mit dem Sein selbst nichts ist. Befestigt wird in der Bestimmung des Seienden im Ganzen als ›Wille zur Macht‹ (existentia) und als ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ (essentia) nur die Aussage des Seins des Seienden in der Struktur der Leitfrage.
110 Ich weiß wohl, dass Heideggers starke Betonung der metaphysischen Bedeutung Nietzsches und vor allem die Annäherung von Nietzsche an eine veritable metaphysische Grundstellung den Eindruck erwecken könnte, das Nietzsche-Werk bilde das eigentlich legitime zweite Hauptwerk Heideggers. Dennoch beruht dieser Eindruck auf einer Täuschung. Das Nietzsche-Werk erschien als groß angelegter Exkurs.
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Zu Nietzsche: Summa summarum 1. Dies führt aber zu dem weiteren Fazit, dass eine Konzeption der Überwindung von Metaphysik, wie Nietzsche sie vertritt, eo ipso den grundlegenden Sachverhalt der Seinsvergessenheit übersehen und übergehen muss und sie auch unwillentlich weiter befördern wird. Sie operiert mit Überbietungsstrategien; ebenso verfährt notwendig die Parole eines »nachmetaphysischen Denkens«, die suggeriert, die Frage nach dem Sein des Seienden, nach Grund und Subjektivität könne auf technische, kommunikative oder szientistische Sachverhalte reduziert werden und die gerade darin eine ihrer selbst und der Reichweite ihrer Kritik nicht bewusste Metaphysik entwickelt. 111 Deutlich wird aber auch, dass Heidegger jede Lichtung des Seienden als seinsgeschichtliche Grundstellung, als Geschehen oder als Geschick denkt, das ein anderes Geschick nach sich zieht, eben dies, dass die Unverborgenheit selbst ausbleibt (N II, 357). Daher ist das sich lichtende Sein in der Metaphysik anwesend-abwesend. Das Ausbleiben, so formuliert es Heidegger auch, ist also »Ortschaft« und »Unterkunft« des Ausbleibens des Seins selbst. Das eigentliche Novum dieser im Ergebnis der Nietzsche-Vorlesungen evozierten Bestimmungen ist, dass Metaphysik und Nihilismus gerade nicht als Gegenbegriffe verstanden werden dürfen, sondern dass Metaphysik der eigentliche Nihilismus ist. Heidegger denkt stets den perspektivischen Wechsel mit: Metaphysik ist Seinsentzug, zugleich aber beruhe ihr Wesen darin, »dass sie die Geschichte des Versprechens des Seins selbst ist« (370). Metaphysik verweist aber in eine Tiefenstruktur, die selbst nicht mehr metaphysisch zu fassen ist (371). Sie hat, wie Heidegger an einschlägiger Stelle vermerkt, »nicht mehr die Entsprechung zu einer Höhe« (371). Damit wird implizit die onto-theologische Problematik wieder aufgenommen. Denn die Transzendenz erweise sich im Sinn der onto-theologischen Verfassung der Metaphysik gleichermaßen als das Transzendente und das Transzendentale: ersteres bezeichnet den Überstieg in die Theologie, ein höchstes Seiendes, letzteres die Ontologie, die Bestimmung des Seienden im Ganzen. Diese Bifurkation der Leitfrage, die »dunkle[.] Unterscheidung von essentia und existentia« (350) führt das theologische Moment in die Metaphysik ein, während dagegen die seinsgeschichtliche 111 Exemplarisch dafür J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Berlin 2012, S. 12 ff.
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Grundfrage im anderen Anfang eine Theologie nicht mehr kennt. Seinsdenken kann gerade per se nicht mehr ein Denken des Überstiegs sein, weil jene theologische Orientierung am Sein notwendigerweise vorbeisehen muss. Heidegger betont in klärender Absicht, dass ein Gestus der Überwindung der Metaphysik, wie Nietzsche oder auch die Positivisten 112 ihn verfolgen, aus zwei Gründen zurückgewiesen werden muss: Einmal, weil Überwindung einen Aufstand bzw. eine Leistung des Subjekts suggeriert, wo tatsächlich nur das Sein selbst sich wenden und zukehren kann (365). Andrerseits fordern die Seinsfrage und der Übergang in den anderen Anfang eine Durchsichtigkeit auf sich selbst und ihre eigene Schrittfolge, wobei fraglich sein mag, ob Heidegger in der Explikation der Seinsfrage diese Durchsichtigkeit erreichte. In jedem Fall hält Heidegger fest, dass Nietzsche sich gegen die Durchsichtigkeit abgeriegelt habe, in einer Art Verfallenheit und Schließung seines Denkens. Deshalb unterscheidet sich sein Denken so weitgehend vom geforderten anderen Anfang: Es ist das Wertdenken und die Betätigung des Willens zur Macht als »Umwertung aller Werte«, die sich gegen die eigene Verstrickung in den Nihilismus abriegle und ihn daher umso mehr befestige. Obwohl Nietzsche in seinen kritischen Überlegungen zur Dekadenz, die Heidegger in die Nietzsche-Vorlesungen mit großer Zustimmung aufnahm, von einem aktiven und schöpferischen Nihilismus ausgeht, bleibt ihm der Zusammenhang von Sein und Nichts letztlich dunkel. Dies heißt auch, dass sich dem Denker des Übergangs, als den Heidegger Nietzsche würdigt, die Grund- und Übergangsfrage gerade nicht zeigt. 2. Einblick in die Seinsgeschichte geben die Anhänge der Nietzsche-Vorlesungen in sehr prägnanter Form. Einmal, indem systematisch »Metaphysik als Geschichte des Seins« entwickelt wird, dann, indem abrisshaft knapp die verschiedenen metaphysischen Grundstellungen evoziert werden und schließlich indem die Erinnerung in die Metaphysik, in einem Gestus von Gedächtnis und Abschied zugleich ins Spiel gebracht wird. Die Systematik setzt mit der Unterscheidung zwischen Was-sein und Dass-sein ein, wobei sich die Washeitsfrage in die (Platonische) 112 Positivismus im weitesten Sinn einer Verdächtigung aller Transzendenz genommen.
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idea und die Dassheitsfrage in der Aristotelischen energeia weiter differenzieren. Diese Unterscheidung, die für Heideggers NietzscheVorlesungen eine kategorial entscheidende Rolle spielte, sei ihrer Herkunft nach verborgen – und sie zeige »ein Ereignis in der Geschichte des Seins« an (402). Seinsgeschichte entfaltet sich dann als Fortgang und Fortbestimmung in einem autopoietischen Sinn, der der Bestimmungsabfolge in Hegels logischen Kategorien nahekommt, auch wenn Heidegger eine solche Selbstbestimmung des Begriffs immer zurückwies: Ein Fortgang, der aus dem Platonisch-Aristotelischen Anfang der Metaphysik entwickelt werden soll: Energeia werde zur acutalitas und diese zur Wirklichkeit (410), konstatiert Heidegger gleichwohl. Damit ist es nicht mehr der Selbstvollzug des teleologischen Am-Werk-Seins, es ist vielmehr der poietische Charakter des Machens und Herstellens, der die Wirklichkeit des Seins des Seienden in seiner Abfolge bestimmt. 113 Dem entspreche auf der Ebene des Aussagens eine Inversion der aletheia, das Absehen von ihrem Ursprung aus der Lethe – andernorts ist auch von ihrem ›Einsturz‹ die Rede, sodass sie nicht länger als Entbergung des Verborgenen sich erweist, sondern auf die propositionale Satzwahrheit und das Verhör der Vernunft hin weiterbestimmt wird. Die Orientierung dieses Vernunftverhörs auf Subjektivität ist in Heideggers Deutung selbst Zeichen eines Wahrheitsverlustes. In Entsprechung dazu wandle sich Wahrheit zur Gewissheit, womit Heidegger nicht nur die Cartesische Suche nach dem fundamentum inconcussum meint, sondern, die Struktur von Dogma und Überlieferungsgeschichte verkennend, auch die christliche Suche nach Heilsgewissheit (423). 114 An welchem Punkt christlicher Theologie er ansetzt, bleibt unbestimmt. Einerseits wird der christliche Gottesbegriff auf die arbiträre Funktion des scholastischen Begriffs vom actus purus bezogen, andererseits wird die Lutherische Frage 113 Der Umschlagspunkt wird beim späteren Heidegger nicht mehr in der Präzision beschrieben, wie in der Natorp-Ausarbeitung, die eine bestimmte Form der Blicknahme in den Zusammenhang einer bestimmten Weise des Absehens bringt. Siehe weiter oben Erster Teil, II. 2. 114 Es ist eine grundlegende Verfehlung der Dimensionen eines christlichen Heilsbewusstseins, dass Heidegger es mit dem Cartesischen ›Certitudo‹-Denken verbindet.Vgl. im Blick auf die eschatologische Dimension den wunderbaren Kommentar eines Fortwirkens christlicher Erlösungsbotschaft und seiner liturgischen Präsenz bei K. Berger, Leih mir deine Flügel, Engel! Die Apokalypse im Leben der Kirche. Freiburg/Br., München 2018.
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nach dem gnädigen Gott ins Zentrum gerückt. 115 Die Lutherische (fides, qua creditur), Cartesische und klassisch scholastische Konzeption verschränken sich zu einem undifferenzierten Konglomerat der Gewissheitssuche, das Heidegger insgesamt verwirft: Die Verschmelzung von Positionen, die historisch-begriffsgeschichtlich vielfach zu differenzieren wären, macht gerade den Wesenszug seinsgeschichtlicher Epochen aus und kann deshalb auch in ihrer Darstellung als legitimiert gelten. 116 Eine solche historisch optierende Kritik, die darlegt, dass die Heidegger’schen Verbindungen nicht oder doch nicht so haltbar sind, bleibt daher arbiträr, und doch insofern berechtigt, als bei Heidegger die grundlegende Möglichkeit geleugnet wird, dass sich Denken in eine andere Richtung hätte entwickeln können und es de facto auch tat: Wenn man z. B. nur bereit wäre, Subjektivität als ein mit sich vertrautes Selbstverhältnis zu verstehen und von der bei Heidegger behaupteten Zwangsläufigkeit zu lösen. Noch auf einer dritten Ebene geht Heidegger den Veränderungen nach: Aufgrund der Suche nach Gewissheit wandle sich weiter das hypokeimenon zum subiectum, wobei Subjekt in der Terminologie der lateinischen Ontologie der Begriffsname für Substanz ist, dann aber zu der Begründung der Gewissheit im denkenden Subjekt, dem »ego cogito«, führt. Die genannten Wandlungen, die das Sein selbst aus sich emaniert, wie Heidegger formuliert, liegen offensichtlich auf unterschiedlichen Ebenen: Einmal betreffen sie Was- und Dass-sein des Seienden im Ganzen, dann führen sie auf die Modalkategorien von Wirklichkeit und Möglichkeit und nicht zuletzt betreffen sie die Weise des Vor- und Darstellens und insofern die Methodizität der Metaphysik. Eine Engführung nimmt Heidegger in seinen seinsgeschichtlichen Fragmenten bezogen auf Leibniz vor, die monadologische Konzeption, in der Vorstellen und Wirklichkeit im Aktzentrum der Monaden aufs engste miteinander verknüpft sind. Die Einheit der Monas (unitas) wird aus dem appetitus und der perceptio gewonnen. EinHeidegger folgt hier einer einseitigen Rationalisierung, die der ›Delectatio‹ des christlichen Erlösungsraumes in seiner Unverfügbarkeit in keiner Weise gerecht wird. Vgl. zur jeweiligen Ontologie L. B. Puntel, Sein und Gott. Tübingen 2010, S. 67 ff. 116 Es dürfte ein noch zu wenig bemerktes Charakteristikum der Heidegger’schen seinsgeschichtlichen Konzeption sein, dass die Seinsgeschichte Vereinfachungen nahelegt, die aus einer bestimmten Lesart der metaphysischen Grundstellungen hervorgehen. Die Frage nach gegenläufigen oder zumindest anderen Optionen ist deshalb auch der Versuch, diese vermeintliche Zwangsläufigkeit aufzubrechen. 115
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leuchtend ist, dass die Leibniz-Tradition offensichtlich bis in die Nietzschesche Konzeption des wahrnehmenden und zugleich seienden Willens zur Macht-Quanten wirkt. Denken (noein) werde damit zum Vor- und Darstellen in einer Präsenz, in der die Spannung zwischen Akt und Potenz durch den übergreifenden Begriff der necessitas ergänzt werde: Es formt sich eine Freiheit auf ein Minimum tilgende Notwendigkeit aus, bei der sich Heidegger aber nicht fragt, ob sie nicht auch die Seinsgeschichte mitprägt. In den dichten ›Entwürfen zur Geschichte des Seins als Metaphysik‹ wird die Betrachtungsrichtung des hermeneutischen ›als‹ umgekehrt. Sie geht nun von der Seinsgeschichte selbst aus, von dem entzogenen und verborgenen Anfang und fragt, wie er sich in verschiedene metaphýsische Manifestationen konkretisierte. Diese Umkehrbewegung, die die Struktur der Kehre im Kleinen abbildet, ist von Heidegger nicht in eine methodologische Überlegung transformiert worden. Die einschlägigen Passagen bieten, wie man dies auf weite Strecken aus den Beiträgen kennt, nur Stichworte und Andeutungen von hoher Verdichtung. Die Methode ist auch am Ansatz des Problems nur bedingt abzulesen. Deutlich wird allenfalls, dass in dieser zweiten Richtung die Seinsfrage selbst und die Weise, wie sie zu bedenken ist, ins Zentrum rückt. Der Parmenideische Grundsatz »esti eon gar einai« eröffnet den Raum, in den hinein Dass-sein und Wassein entspringen, wobei die Unentschiedenheit »des Seienden und des Seins im on und dessen Zweideutigkeit« (II, 458 f.) nicht wieder erreicht werde. So wird noch einmal lakonisch konstatiert: In der Linie des Wasseins (der idea) »entspringt der Wandel des Seins zur Gewissheit« (459), in der Bestimmungslinie des Dass-seins tritt ein Wandel zur unbedingten Gewissheit und zum vermittelten Wirklichen im Hegel’schen Sinne ein. Nicht die Leibniz-Tradition, sondern jene des Deutschen Idealismus wird in dieser zweiten seinsgeschichtlichen Linie vor allem thematisch gemacht. Heidegger deutet eine Linie an, die von den idealistischen Systemen ausgeht und zu Nietzsche führt, wobei beide Linien als Metaphysiken des Willens konstruiert werden. Das System werde verabsolutiert, indem es mit der Repräsentation eines absoluten Willens identisch wird (460). Systematizität führt Heidegger in jener expliziten Darlegung der Seinsgeschichte im zweiten Band des Nietzsche-Werkes mit der Konzentration der Vielheit des Seienden auf das koinon, den Allgemeinbegriff, und das Eine (hen) zusammen. Nicht die Einheit ist 307
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dabei freilich das Primäre, sie ist selbst »bedingt durch das Wesen ›des Zusammenstehenden‹« (461), den Letztbegründungsanspruch des Systems. Das transzendental einende hen ist deshalb von der erstanfänglichen Einheit von lógos und nous, die ihrerseits dem Wechselgefüge zwischen Parmenides und Heraklit entnommen ist, zu unterscheiden. Mit dem seinsgeschichtlichen Wesenswandel der Wahrheit kommt die Konstituierung von Gegenständlichkeit zentral in den Blick: Heidegger betont (463 f.), dass erst mit der synthetischen Einheit der Apperzeption bei Kant, der Konstituierung des ›ich denke‹ auch Gegenständlichkeit als »unbedingt« exponiert wird (464). Die Transzendentalphilosophie etabliert also Gegenständlichkeit als Konstitution durch das Subjekt. Heidegger zieht insofern die Summe aus seiner Kant-Interpretation, wenn er resümiert, Gegenständlichkeit werde auf ein ihr Vorausgehendes, nämlich auf Reflexion gegründet. Der Vorrang der Anschauung sei immer reflexiv, nämlich auf das ›ich denke‹ begründet, womit sich eine Vorrangstruktur abzeichnet, die nicht mit dem Vorrang der aletheia gleichgesetzt werden kann, sondern »nur mit dem Vorrang der idea und der Umbildung der aletheia durch den Vorrang der idea zur homoiosis« (467). Neuere hoch subtile, nicht zuletzt auf Dieter Henrich und Manfred Frank zurückgehende 117. Rekonstruktionen von Subjektivität werfen doch die Frage auf, ob denn Bewusstsein und Subjektivität tatsächlich auf Reflexivität begründet sind. 118 Gerade an diesem Punkt scheint mir ein neuralgisches Defizit Heideggers zu liegen, das zu korrigieren aber auch bedeuten würde, seine Radikalität zu mindern. In einer Reihe knapper Hinweise, wie sie vielfach in den Beiträgen und anderen Nachlasstexten instrumentiert, aber kaum in dieser Dichte präsentiert werden, skizziert Heidegger die Wegstrecke von der Transzendentalphilosophie über den absoluten Idealismus bis zu Nietzsches »Vollendung der Metaphysik«. Den Ausgangspunkt bezeichnet der mehrfache Sinn von Sein bei Kant – einmal besagt Sein: »Gegenständlichkeit«, dann »Gewissheit der Synthesis«. Es ist aber durch den Vorrang der Anschauung auch auf die »Eindrücklichkeit der Empfindung« (469) bezogen und nicht zuletzt verweist der 117 Vgl. D. Henrich, Denken und Selbstsein, a. a. O., S. 30 ff., M. Frank, Ansichten der Subjektivität. Frankfurt/Main 2012. 118 Henrich bedeutet ibid. und in zahlreichen anderen Arbeiten die Vorreflexivität des instant eintretenden Gewiss-seins seiner selbst.
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Seinsbegriff die theoretische Erkenntnis auf den Grenzbegriff des Dings an sich und die praktische Vernunft auf die Wirklichkeit von Freiheit. Von diesem weiteren Horizont hebt sich erst die Kantische These vom Sein ab, wonach Sein »reine Position« ist: Sie verstehe Sein als reine Setzung – und impliziter, dass Sein kein reales Prädikat ist. »In dem für Kant Fraglosen bleibt für uns das Fragwürdige: die Wesensherkunft der ›Position‹ aus dem Vorliegenlassen des Anwesenden in seiner Anwesenheit« (470). Nietzsches Metaphysik wird in diesem Horizont als »Vollendung der Metaphysik« notiert. Obwohl die bekannten Epitheta der Seinsverlassenheit und des Auslaufens in die Machenschaft des ›Gestells‹ benannt werden, ist der Rückschein in den Anfang unverkennbar. Dies wird dort deutlich, wo Heidegger die letzte Metaphysik noch einmal in griechischen Begriffen evoziert: als Machenschaft (poiesis), und Selbstvollzug (energeia), woraufhin es unbestimmt heißt: »zugleich die letzte Wahrung des Wesens der phýsis und so ein Zugehören in den Anfang« (473). Die Unterschiede der metaphýsischen Wegbahn »verschwinden« am Ende der Metaphysik; in der Vollendung der Metaphysik scheint also wieder die Totalität einer umfassenden, nicht disziplinär geschiedenen Grunderfahrung des Seins selbst auf. Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Existenzbegriff schließt sich an: Der Rekurs auf Existenzielles und Existentialismus konnte, wie Heidegger zeigt, erst im Umkreis der Vollendung der Metaphysik, des Willens zur Macht, etabliert werden. Dennoch besteht zwischen dem christlichen Existenzialismus Kierkegaards und der Nietzscheschen ontologischen Auslegung des Seins als Wille zur Macht aus Heideggers Sicht ein Abgrund. Kierkegaards Position beschreibt er so: »Wenn nur der Mensch das Existierende ist, dann ist gerade Gott der Wirkliche schlechthin und die Wirklichkeit« (480). Die Grenzziehung des Ekstasisbegriffs von Sein und Zeit in seiner fundamentalontologischen Dimension gegenüber der Existenzanalyse der Verzweiflung begründet in Klarheit und Schärfe Heideggers Selbstunterscheidung gegenüber jedwedem Existentialismus. Philosophisch bedeutsamer ist, dass auch Schellings Freiheitsabhandlung in dieser Konstellation der letzten Metaphysik ein Ort zugewiesen wird: im Verhältnis zum Grund. Existenz bezeichnet nach Schelling »das Offenbarwerden, Sich-zu-sich-selbst-bringen, das Selbstsein im Selbstwerden gegen und wider den Grund« (475). Ungeklärt bleibt, wie sich Schellings Konfiguration zum anderen An309
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fang verhält und wie zur Fundamentalontologie. Die Schelling-Vorlesungen können dies instrumentieren. Denn am ehesten hier zeigt sich für Heidegger eine Vollendungsgestalt, aus der das Gefüge der Seinsgeschichte unmittelbar zutage tritt. Ein struktureller Begriff von Denken, das eine Möglichkeit der Rückkehr als Antidotum des Fortgangs bestimmen würde, kommt in Heideggers Konzeption nicht zur Sprache. Sie bewegt sich in einer unablässigen Kette weiter, sodass ein Fortgang der Seinsvergessenheit in infinitum nahegelegt wird. Am Ende seines Nietzschewerks behandelt Heidegger aber ausdrücklich den Gestus einer Erinnerung in die Metaphysik. Man könnte mit Hegel Er-Innerung als eine Topologie der Vermittlung sehen, die das Andere, Metaphysische, in sich aufnimmt und auf diese Weise verwindet. Die Auseinandersetzung mit metaphysischen Grundstellungen wie jener Nietzsches ist Teil dieser Erinnerung, die aber in der Systematik des ›Anderen Anfangs‹ nicht isoliert steht, sondern immer mit dem Sprung und der ›Gründung‹ des Seinsdenkens verbunden ist. Heidegger unterscheidet jene Erinnerung ausdrücklich von philosophischer Problem- oder Begriffsgeschichte, die sich im Umkreis der Historie aufhalte (483). Demgegenüber wird die »seinsgeschichtliche Erinnerung« in Bezug auf den »Anspruch des Seins« (484) entfaltet. Hier stößt man auf das Arkanum des tautologischen Seinsdenkens, das Heidegger zu seinen spätesten Denkwegen inspirieren wird. Seinsgeschichte lässt sich, wie Heidegger vermerkt, nicht vom Sein selbst unterscheiden. Seinsgeschichte ist das Sein selbst. Im Modus der Zurückgenommenheit wird damit ein letztes Mal die Einheit von ›Denken‹ und ›Sein‹, noein und einai, der Parmenideische Grundsatz, bekräftigt. Das Seinsdenken lässt sich deshalb nicht nach Konstitutionsmomenten, nach Grund- und Folgeverhältnissen unterscheiden. 119 Sein tautologischer Charakter manifestiert sich propositional in Sätzen der Form: »das Ereignis er-eignet« (485), sodass die Erinnerung darin besteht, dass der Anfang seinen Abschied nimmt, damit Seiendes (eine Idee des Seienden) gedacht werden kann. Heidegger verdeutlicht, dass die Nähe zum Sein von Anfang der Seinsgeschichte bis zu ihrem Ende dieselbe bleibt, ein einziges Geschehen, aufgrund der Einzelheit und Alleinheit von Sein. 119 Dies unterscheidet es von einem argumentativ aufgebauten Deduktionsgefüge. Die Begriffs- und Begründungsstruktur ist in einer Simultaneität angelegt, in der die jeweiligen Dimensionen der Seinsfrage wie von selbst aufeinander folgen.
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An anderer Stelle vermerkt Heidegger: »Die Preisgabe, in der das Sein zum äußersten Unwesen der Seiendheit (zur ›Machenschaft‹) loslässt, ist im Verborgenen das Ansichhalten des anfänglichen Wesens des Ereignisses im noch unangefangenen, noch nicht in seinen Abgrund eingegangenen Anfang« (487). Damit wird nochmals eine explizite Nähe zwischen der Seinsfrage und dem Endpunkt der Metaphysik, der Not der Notlosigkeit hergestellt
Ernst Jünger: Ein Exkurs 120 zu Nietzsche in dürftiger Zeit Eine Auseinandersetzung, wie er sie mit Nietzsche führt, expliziert Heidegger mit Ernst Jünger nicht (120). Die überraschend ausladenden Bemerkungen zu Jüngers Arbeiter, die in einem Zeitraum zwischen Mitte der dreißiger und Mitte der fünfziger Jahre entstanden sind, 121 setzen Heidegger zufolge die in das Ende ihrer Möglichkeit gelangte Subjektitätskonzeption Nietzsches voraus: Der Mensch wird darin kristalline Gestalt des Willens zur Macht (90.240 ff. u. ö.). Nachhaltig beschäftigt sich Heidegger dabei mit der Frage, was Jünger sehe und was er nicht sehe. Den Phänotyp des 20. Jahrhunderts, den Jünger im ›Arbeiter‹ entwirft, begreift Heidegger als eingelassen in den Gefügezusammenhang des ›Gestells‹ und des Willens zur Macht. Deshalb bleibe das metaphysische Grundgefüge bei Jünger unangetastet. Jüngers Bedeutung, als Zeitdiagnostiker und -chronist eher denn als Schriftsteller, erkennt Heidegger darin, dass er sehe, was ist, dabei vollständig dem ontischen Zusammenhang verpflichtet bleibe und aus diesem Blickkreis vom Seienden auf das Sein hinaussehe (73). »Mit der Wahrheit über das Seiende – mit dem Sein. Dass das Sein je mit ›uns‹ Ernst macht« (ibid.). Jüngers Deskriptionen seien immer »im nachhinein« formuliert. Eben damit fasse er den weiten Rayon der Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick, sodass sich ›die Konstanz‹ eines planetarischen Chinesentums mit den Konstanten abendländischer Metaphysik verbinde (74). Die planetarische Technik 120 Es handelt sich hier, streng genommen, um einen Exkurs im Exkurs, dem Heidegger aber eine auffallend hohe Aufmerksamkeit zuweist. Vgl. zu der Jünger-Problematik den Sammelband: H.-H. Müller und H. Segeberg (Hg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, a. a. O., siehe ferner M. Meyer, Ernst Jünger. München 1990, S. 468 ff. 121 Die späteren Ausarbeitungen unter dem Titel Die Gestalt, S. 285 ff. erweisen sich allerdings als weniger ausgearbeitet und deutlich verknappt.
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verbindet sich gleichsam in einer Hybridbildung mit der Typologie des heroischen Geistes, über dessen Begrenztheit sich Heidegger vielfache Rechenschaft abgibt, auch in seinen »Briefen an einzelne Krieger« zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1939. Die Abstoßung des Seinsdenkens gegenüber dem gesamten Gedankenrayon Jüngers wendet sich Heidegger immer wieder zu (ibid., 271 ff., 273 ff.). Jüngers Erkenntnis bleibe auf das phänomenale stereoskopische Sehen begrenzt. Er sehe daher den Typus von Mensch, der dem Nietzscheschen Gedanken des Willens zur Macht entspricht (263 ff.). Der Mensch werde darin selbst zu einem petrifizierten Gegenstand und Machtinstrument. ›Denker‹ ist Jünger für Heidegger nur im begrenzten Sinn »rechnend kalkulatorischen Bestandes«, was eine scharfe Prognostik erlaubt. An einer Stelle hebt Heidegger die herausragende und zugleich eng begrenzte Bedeutung Jüngers hervor. Er sei unter allen »Betrachtern der Situation […] der klügste und schärfste« (266), da er Wirklichkeit unter dem Blickpunkt der kalten, klärenden Wirklichkeitserfahrung Nietzsches sehe und zugleich streng und ohne jede Nostalgie das Gesehene aussagen könne. Die Vergegenständlichung des Menschen, die Heidegger als ein Charakteristikum der Jüngerschen Denkform festhält, entfernt dessen Diagnostik freilich von vorneherein von jedem Ansatz, wie ihn die ›Hermeneutik der Faktizität‹ verfolgt. Die seinsgeschichtliche Tiefenstruktur könne Jünger nicht sehen, weil sie nur gedacht werden könne und eben das Denken sei Jüngers Zugriff entzogen. Jüngers ›Sehen‹ sei also in keiner Weise phänomenologisch verfasst, doch es vollziehe existenziell seine Einsichten mit und wisse sie daher in authentischer Weise (265). 1954 kommt Heidegger nochmals auf Jünger zurück, vor allem auf die Kristallisationen von Macht und Ermächtigung, indirekt auch auf den Zusammenhang von ›Gestalt‹ und ›Gestell‹, und er holt zu einem Briefentwurf aus, der ein Gespräch anregt »über das, was zu erörtern keinem von uns als Einzelnem zusteht« (298). Heidegger fügt indes hinzu, dass Gelegenheiten zu solchen Gesprächen selten seien und im Blick auf einen Abschied in München fügt er die Empfindung hinzu, dass vielleicht eine bedeutende Möglichkeit zu einem solchen Gespräch verstrichen sei (298). Am Ende des Jünger Konvolutes kommt Heidegger auf Jünger im Licht der Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und dem Bösen in Schellings Freiheitsabhandlung zurück. Er notiert, in einer 312
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wohl durch Jüngers stereoskopischen Blick geschärften Weise, »Freiheit zum Guten als Freiheit vom Bösen (Dämonischen)« (299). Dass Heidegger sich in dieser Tiefe auf Jünger einließ, dass er dessen Arbeiter-Monographie so eingehend mit Anmerkungen und Randbemerkungen versah wie das Werk keines anderen Zeitgenossen ist ein gewichtiges Indiz dafür, wie tief die zeitdiagnostische Fragestellung Heideggers eigenes Denken beeinflusste und, wenn auch gleichsam in einem anderen Genus, zu dem es nach Heideggers Überzeugung keine »Metabasis eis allo genos« geben konnte, eine Matrix für die Anbahnung des anderen Anfangs bildete. Man wird deshalb gut daran tun, die Jünger-Auseinandersetzung Heideggers untrennbar mit seiner Nietzsche-Verwicklung verbunden zu sehen, und diese wiederum hängt aufs engste mit der Zeitgenossenschaft gegenüber den Abgründen des 20. Jahrhunderts zusammen.
22. Von Nietzsche weg: Auf Hölderlin zu In den späten Kriegsjahren wendet sich Heidegger von den Nietzsche-Auseinandersetzungen ab. Er thematisiert noch einmal, nun aus dem anderen Anfang heraus die Grundfragen der Philosophie, denen er sich immer wieder in seinen Vorlesungen zuwendete. Dies geschieht nun in großer Prägnanz und Knappheit. Wie einen Vorbegriff kann man die ›Grundbegriffe‹-Vorlesung verstehen, die im Sommersemester 1941 meditativ, eher an die zenbuddhistische Koan-Form 122 als an abendländische Begründungsformen erinnernd, die Doppeldeutigkeit des ›ist‹ beschreibt. Die Bedeutungsfülle der Kopula hat zur Entsprechung seine Armut und Einfachheit. ›Sein‹ ist insofern leer und zugleich Überfluss, es ist das Allgemeinste, auf das es in kategorialen Bestimmungen bezogen werde und es ist das ›Einzige‹. Es ist das Verständigste, offen zu Tage liegende und zugleich die Verbergung – und wie weitere Explikationen in diesem Zusammenhang heißen (51.49 ff.). Der Mensch stehe, so formuliert Heidegger im Horizont des Endes der Metaphysik, dem Sein in einer konstitutiven Doppeldeutigkeit gegenüber: Es spiele sich ihm noch zu, sei in bestimmter Weise anwesend, er habe aber diesen Zuwurf verworfen und lebe in einem weitgehenden Seinsentzug 122 Vgl. u. a. Bi Yän Lu. Übersetzt und erläutert von Wilhelm Gundert, 3 Bände. München 1988.
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(89 ff.). Die Erinnerung in den ersten Anfang besteht noch weiter und lässt auf ›Sein‹ als Grund zurückgreifen (93). Dies wird in einer verknappten Version der Tektonik in den Beiträgen als Verschränkung von Sich-zeigen und Sich-verbergen entwickelt und dann im Rückgriff auf den Spruch des Anaximander exemplifiziert. Es ist auffällig, dass Heidegger anders als in der frühen Freiburger Zeit nicht mehr den Weg der Auseinandersetzung mit den Klassikern der Metaphysik wählt, auch nicht den Weg der ›Destruktion‹ wie in Sein und Zeit, sondern seinen Gedanken unmittelbar auf die Wegbahnen des Anfangs zurückbezieht. Auch wenn davon verbatim nicht mehr die Rede ist, ist doch nicht zu übersehen, dass Heidegger de facto eine Epoché vornimmt, eine »phänomenologische Interpretation«, die den genuinen Vorgaben phänomenologischen Denkens folgt. Ausgeklammert werden sollen »Kenntnisse und Weltauslegungen« (100), gängige Rahmensetzungen. Der Blick und das Hören sollen sich vielmehr auf die Phänomenalität der anfänglichen Wahrheit konzentrieren, wie sie sich sagt und zeigt. Heidegger liest die beiden Teilsätze bei Anaximander als analogische Entsprechungen. Sie würden nicht das Selbe sagen, wohl aber vom Selben. Gemäß der Notwendigkeit zeige sich nach dem Anaximander-Satz das Sein in einer dreifachen ›Verfügung‹ als Entstehen und Vergehen des Seienden, nach einer Entstehen und Vergehen gemeinsamen Not. Dabei weist Heidegger dem Anfang (arché) eine maßgebliche Rolle zu. Die arché ist (1) Ausgangspunkt, sie ist (2) »durchwaltende Bestimmung des Übergangs des Hervorgangs zur Entgängnis« und (3) Offenhalten des eröffneten Bereichs, wie man das ›im Anfang‹ in Analogie zum Prolog des Johannes-Evangeliums übersetzen kann. Die änigmatische Bestimmung (2) muss näher expliziert werden. Sie besagt, dass die Seinsfrage auf einen Übergang verweist, der seinerseits auf den Anfang (phýsis) als Hervorgehen und zugleich als Entzogenheit verweist. Darin ist die Struktur des Anfangs thematisiert, der im gesamten geschichtlichen Vollzug präsent bleibt und an den Anfangscharakter der phýsis erinnert, die als Aufgang immer auf das Nichts, das Untergehen in ein Vergehen, bezogen ist. Heidegger deutet an, dass die arché selbst einen apeiron-Charakter habe. Sie ist intentional nicht auf einzelnes Seiendes bezogen, daher sprengt sie die »Verfestigung in die bloße Beständigkeit« auf (115). Dass »genesis« und »phthora«, Werden und Vergehen, in den selben Grund verweisen, das Sein in dem einen Sinn des Wortes, dem 314
Von Nietzsche weg: Auf Hölderlin zu
keine Grenze gezogen ist, deutet Heidegger von Anaximander her als Inbegriff der Seinsfuge. Auf den Anfang führt der AnaximanderSpruch, insofern er tatsächlich Verschiedenes als das Selbe sagt, eine in sich gefügte Einheit thematisch macht. Die Verfehlung jener Fuge nennt Heidegger ›Un-fug‹ (119). Bezeichnet ist damit die Struktur jeder Zerstörung der Seinsordnung, der innere Aufstand, der sich mit Schelling als das ontologische ›Böse‹ auffassen lässt. Der Unfug ist, Heidegger zufolge, in der Fuge ›verwunden‹. Die ›Fuge‹ setzt diese Negation voraus wie eine große Symphonie den Missklang kennt. Die Verweigerung einer bestimmenden und fixierenden, metaphysischen Auslegung des Seins bildet den Raum, in dem sich der Gedankengang bewegt. Der Satz des Anaximander sage nur vom Sein selbst. Er halte sich konsequent im Anfang auf. »Die Verfügung aber ist der Anfang. Der Spruch ist das anfängliche Sagen des Seins« (123). Von diesem Anfang her artikuliert er Entsprechungen, die sich in der Zeit manifestieren. Die Chronos-Zeit versteht Heidegger von ihrem »Zuweisungscharakter« her, sie lässt etwas geschehen oder eben nicht geschehen. 2. An einem einzelnen Satz kann sich die hörende Auslegung des unausgetragenen Anfangs am deutlichsten zeigen. Es geht dabei, in Heideggers eigenem Selbstverständnis, gerade nicht um eine destruierende Interpretation und nicht um eine ›Auseinandersetzung‹, sondern um ein hörendes Andenken, wie er es im Lauf der vierziger Jahre nur Hölderlin und den Vorsokratikern vorbehalten sah. Hölderlins große späte Hymnen, flankiert von sprechenden Stellen im Briefwechsel, liest Heidegger als eine Topographie, in der jener ungehobene erste Anfang ›bewahrt‹ ist. Sie ist nicht vergangen, sondern in einer dynamischen Verschränkung der Zeiten gewesen. Also eröffnet sie ein ungehobenes Potential auf die Zukunft hin. »Gewalt brauchend« soll die Auslegung der Dichtung gerade nicht sein. Vielmehr ist sie, wie Heidegger an einer Stelle bemerkt (52.185), »scheue Ahnung vom Anfang«; eine Ahnung, die in den Redeweisen der Dichtung in eine Schwebe versetzt und gerade auf philosophische Begriffseindeutigkeit verzichten kann. Vielfach ist darüber reflektiert worden, legitimierend und kritisch, dass Heideggers Umgang mit dem dichterischen Wort gerade nicht ästhetisch oder poetologisch, auch nicht im gängigen Sinn hermeneutisch sei. 123 Weniger klar 123
Vgl. pars pro toto: I. Buchheim, »Heidegger«, in: J. Kreuzer (Hg.), Hölderlin-
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konnte gesagt werden, welchen Charakter Heideggers Umgang mit der Dichtung denn hat. Er wählt einen grundsätzlichen und elementaren Zugang, der die Historizität und literaturwissenschaftliche Aussagen über den »richtigen Hölderlin« einer Einklammerung unterzieht. Ich schlage deshalb vor, von einer Phänomenologie des dichterischen Wortes zu sprechen. So betont Heidegger, dass Hölderlin das Wesen der Dichtung selbst gedichtet habe und daher sich in dem Gefüge von Denken und Dichten bewege. 124 Diese Spannung manifestiert sich allerdings anders als bei Nietzsche nicht als eine Art Flucht aus dem Begriff, sondern als Rückkehr in das anfängliche Sagen, das Heidegger zufolge in der neuzeitlichen Moderne nur in der Gestalt der Dichtung wirksam werden kann, weil die Philosophie den Anklang an den Anfang am Ende der Metaphysik preisgegeben habe.
23. Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen Was konnte man vor der Edition der Gesamtausgabe von Heideggers Denkweg und seinen Arkana wissen? Heideggers in den fünfziger und sechziger Jahren edierte große Sammlungen, v. a. ›Holzwege‹ (1950) und ›Wegmarken‹ (1967) geben eine Kartographie seines Denkens und eine Abbreviatur der Struktur. Deshalb lohnt es, diesen Kompositionen im einzelnen nachzugehen.
Holzwege: Inszenierte Aporetik der Seinsfrage Die Holzwege enthalten erratische Abhandlungen zu den Fragen, die Heidegger über Jahrzehnte hinweg nachhaltig beschäftigten und an denen die Seinsfrage paradigmatisch vertieft wurde. Sie lassen einen Denkweg pointiert zutage treten. Die Abhandlung vom Ursprung des Kunstwerkes (1935) exponiert Kunst als Ins-Werk-Setzen der Wahrheit und, mit der genialen Formulierung, als Riss, an dem die auf-
Handbuch. Stuttgart, Weimar 2002, S. 432 ff., ferner Th. W. Adorno, Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins, in: ders., Noten zur Literatur Band II. Frankfurt/Main 1969, S. 156 ff. 124 Vgl. u. a. »Heidegger, Das Gedicht«, in: GA 4. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, a. a. O., S. 182 ff.
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Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen
gehende Welt und die sich in sich verschließende Erde zusammenstimmen. Die Erinnerung an Heraklits Wort von der palintonos harmonia schwingt mit. Vor dem Heraklitischen Hintergrund, der sich in der Komposition des Sammelbandes erschließt, wird die Faktur des Kunstwerks selbst als ins-Werk-Setzen der Wahrheit aufgefasst, wobei auch noch die Verkennung von Wahrheit in Unwahrheit eine Weise des Entbergens ist. An die Zeug-Analysen von Sein und Zeit anschließend, entwickelt Heidegger die Gebrauchsdimension der Dinge weiter. Erst in Gebrauchszusammenhängen öffnet sich am Kunstwerk die Welt. Bemerkenswert ist, in wie nahem Zusammenhang Heidegger Kunst und Technik zueinander sieht. Auch dafür ist die Kunstwerk-Abhandlung von 1935 bereits einschlägig: Das griechische Wort techné bezeichnete beide. Die neuzeitliche Technik in ihrer Spätzeit, in der sie zu Machenschaft und Gestell wird, eröffnet daher einen eigenen Zugang zum Wahrheitsgeschehen. Technik führt zwar zum ›Gestell‹ und zur Verstellung, doch auf diese Weise ist auch sie noch ein Modus von Wahrheit. Vordergründig einsichtig ist, dass Heideggers Annäherung an das Kunstwerk dem Hegel’schen Topos von der »Mimesis des Absoluten«, den Heidegger sogar explizit zitiert, näher steht als der Kantischen reflektierenden Urteilskraft. Dadurch, dass in diesem Bereich auch eine Werkästhetik angezeigt ist, ist auch eine größere Nähe zu der Kunst der Schaffenden bei Nietzsche gegeben. Auch zu dem identitätsphilosophischen Einheitspunkt der Kunst, wie ihn Schelling thematisierte, bestehen Affinitäten, weil im Entwurf Freiheit, in der Bindung an die Materie aber Notwendigkeit dominieren. 125 Nicht zu übersehen ist, dass der Kanon, den Heidegger seiner Kunstwerk-Abhandlung einschreibt, an der Moderne orientiert ist. Er bedenkt sie freilich nicht isoliert, sondern in der Spannung zu dem ältesten Alten der Antike und als Manifestation des Wahrheitsgeschehens. Heidegger lenkt den Blick auf den griechischen Tempel, den er aber der Musealisierung und Historisierung entzieht und als einen Welt versammelnden Ort versteht. Ähnlich firmiert das Gedicht Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer, ein impressionistisches bzw. in eine Hermetik einführendes Gebilde, das jenen Brunnen so er125 Vgl. ausgehend von Schellings Topos über die Kunst als wahres Organon der Philosophie: D. Jähing, Schelling: Die Kunst in der Philosophie. Band II. Die Wahrheitsfunktion der Kunst. Pfullingen 1966, S. 230 ff.
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scheinen lässt, wie sich die Phänomenalität der ineinander fließenden Wasserkreisläufe zeigt. Hölderlins späte Hymnen, gegenüber dem klassischen Stil einer für einhundert Jahre uneinholbaren Rätselhaftigkeit, sind präsent, wenn Heidegger die Dichtung als jene Kunstform versteht, die alle Kunst gleichsam erschließt. Ganz anders verfährt die Abhandlung vom Zeitalter des Weltbildes, ein zweiter großer Torso aus Holzwege. Darin wird in großen Linienzügen die neuzeitliche Weltauffassung resümiert, in der es nach Heidegger darum geht, dass die Welt dem menschlichen Subjekt zu einem Bild wird. Erstmals publiziert wurde der Text 1938. Die Neuzeit als Zeitalter des Weltbildes zu begreifen, bedeutet, (1) dass das Weltbild als eindeutiges geschlossenes System zur Anschauung gebracht wird und dass (2) die Welt selbst vorgestellt wird, sodass wir über sie »im Bild« sind (88, 89). Die Anthropologie, die seit dem 18. Jahrhundert zur Leitwissenschaft wurde, begreift Heidegger als konstitutiv für Weltbild und Weltanschauung. Weltanschauungsdenken verweist nicht auf Subjektivität, sondern auf den Menschen als Abstraktum, sie hat es nicht mit Begründungen, sondern mit einem Ganzen der »Vorstellung« zu tun. Daher verweise die Weltbildlichkeit unmittelbar auf Planung und Konzipierung einer technomorphen Welt: Hier greift der Topos des ›Riesenhaften‹ und des ›Gestells‹, den Heidegger in den ›Beiträgen zur Philosophie‹ in den Blick nahm. Heidegger diagnostiziert am Ende des Aufsatzes eine Art Realdialektik: Wenn nämlich der Mensch »zum Subiectum geworden ist und die Welt zum Bild«, dann begleitet ihn ein Schattenwurf: dass das Riesige, Berechnende, wenn die Paradigmen seiner Berechenbarkeit ihre Macht verlieren, jäh zum Unberechenbaren werde (GA 5. 95). Vor allem in den Zusätzen deutet Heidegger an, dass das Zeitalter des ›Weltbildes‹ einen Subjektivismus voraussetzt, der in der Sophistik der Antike präfiguriert gewesen sein mag, sich aber nie entwickeln konnte »weil hier der Mensch nie zum Subjectum werden kann« (106). Präziser: Die Antike kennt nämlich weder die Cartesianische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt noch die Denkfigur, dass der Mensch die schlechterdings unterliegende Realität ist. Heideggers überaus kritische Sicht auf die philosophische Anthropologie klingt auch in den Zusätzen noch einmal nach. Anthropologie sei schon von einer Antwort geleitet (111) und verfehle damit, »was der Mensch im Grunde schon weiß«. Die Abhandlung schwingt dann ihrerseits auf das »Nichts« ein. Im Zusammenhang von Heideggers Seinsfrage erweist sich das Sein als Nichts gegenüber allem Seienden 318
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und als offenes Zwischen des Da-seins, »das Wort verstanden im Sinne des ekstatischen Bereiches der Entbehrung und Verbergung von Sein« (113). Man kann an solchen Stellen erkennen, dass starke Kontinuitätslinien zwischen Sein und Zeit und dem Denken der Kehre verlaufen, obwohl die Richtung des Gedankens ihrerseits einer Umkehr unterliegt. Erst in seiner Selbstauseinandersetzung gegen Ende der dreißiger Jahre wird Heidegger jene Korrelation ausdrücklich machen. 126 Als Summe der intensiven Auseinandersetzung in den vierziger Jahren nimmt Heidegger Hegels Begriff der Erfahrung (1942/43) in die Holzwege mit auf. Dieser Text ist nichts anderes als eine asketisch konzise, von allen eigenen Zusätzen absehende, nach Abschnitten geordnete Interpretation der ›Einleitung‹ zu Hegels Phänomenologie des Geistes, der ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‹. Dabei kann Heidegger auf die philologische Beobachtung zurückgreifen, dass die ›Einleitung‹ in der Originalausgabe von 1807 nicht als solche gekennzeichnet war (205). In nuce sieht er in den wenigen Seiten der Einleitung, die viel seltener interpretiert werden als die ›Vorrede‹, das Werk selbst präfiguiert. Man kann jene Abhandlung als eine kurze Bestimmung von Heideggers Verhältnis zur Klassischen deutschen Philosophie und als eine Art Summe der durchaus intensiven Auseinandersetzungen auffassen, die er mit Hegel führte. In jener Deutung ist der Erfahrungsbegriff, wie Heidegger mehrfach betont, als eine dialektische Bewegung der Bewusstseins- und Gegenstandskonstitution angelegt. Heidegger markiert dabei die Differenz zwischen doxa (Meinung) und Wissen als Unterscheidung zwischen dem ontischen, natürlichen Bewusstsein, das unmittelbar auf ein Seiendes abzielt und der »Sammlung« dieses Seienden auf seine Seinsidee selbst (176). Es hat zunächst den Anschein, als versuche Heidegger, die Grundstruktur der ontologischen Differenz von Hegel her zu gewinnen. An späterer Stelle wird das Verbindende und Trennende zwischen Heideggers spätem Denken und Hegel genauer ausgelotet. In jedem Fall kann der Leser begreifen, dass sich auch mit Hegel ein »Holzweg« verbindet und dass er über die Vorstellungsdimension des Weltbildes hinausweist. Aus demselben Jahr 1943 stammt die anschließend mitgeteilte Abhandlung über Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ (209 ff.). Im Zentrum 126
Vgl. hierzu wieder GA 82, vor allem S. 7 ff., die ›Laufenden Anmerkungen‹.
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steht wiederum eine metaphysische Grundstellung: »Nietzsches Metaphysik«, die Heidegger ausgehend von der Interpretation des Aphorismus 125 aus Die fröhliche Wissenschaft, »Der tolle Mensch« erschließt. Über die Verankerung in seinem eigenen Denken gibt Heidegger, anders als in der Hegel-Interpretation, klar Auskunft. Er schließt unmittelbar an die ›gigantomacheia‹ in Sein und Zeit an, die nun im Licht der Seinsvergessenheit aufgenommen wird, dass »von Anfang an das Seiende hinsichtlich des Seins gedacht wird, dass jedoch die Wahrheit des Seins ungedacht bleibt und als mögliche Erfahrung dem Denken […] verweigert ist« (212). Die Abhandlung gehöre demnach in ein »vorbereitendes Denken« des Übergangs. Sie geht offensichtlich davon aus, dass die Haltung zur Metaphysik nicht Zustimmung oder Ablehnung sein kann. Damit hängt zusammen, dass von Heidegger her die mangelnde Sachangemessenheit der Ausrufung eines »nachmetaphysischen Denkens« offensichtlich ist. Metaphysik beschreibt, Heidegger zufolge, Kumulierungen eines Seinsgeschehens, das sich über-subjektiv in seinen Grundkonstellationen ausprägt. Deutlich erkennbar ist auch in der Dokumentation der ›Holzwege‹, dass Heidegger Nietzsche als metaphysischen Denker interpretiert: ein Eindruck, den das zweibändige Nietzsche-Werk vertiefen wird. Die Figuration des ›tollen Menschen‹ kann man systematisch in der Nähe der Topologie der ›Angst‹ in Sein und Zeit verorten, allerdings vor dem Hintergrund, dass Heidegger von Nietzsche her einen der Kernsätze des seinsgeschichtlichen Denkens formuliert, dass Metaphysik im Kern »Nihilismus« ist, da »in dem, was [der Nihilismus] nennt, das nihil (nichts) wesentlich ist« (265). Auf den Nietzsche-Aufsatz folgt eine von der Erinnerung an Hölderlin begleitete Rilke-Interpretation, die unter der HölderlinZeile »und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (271) steht. 127 Evoziert wird hier programmatisch ein weiterer zentraler Topos des Seinsdenkens, die Verbindung von Denken und Dichten, die den Ort benenne, an dem eine Lichtung des Seins möglich ist, die sich aus dem Umkreis der Metaphysik lösen kann. Doch Dichtung müsse an ihre äußersten Grenzen und an die Grenzen der Sagbarkeit kommen, wenn sie wirklich ins Offene führen soll. Rilke bleibt nach Heidegger, ähnlich wie Nietzsche, in seinen dichterischen Aussagen an die an ihr Ende gekommene Metaphysik 127 Zu der Topologie der ›Dürftigen Zeit‹ vgl. Vierter Teil, 27. Diese Fragestellung spielt in Heideggers Schwarzen Heften nämlich eine maßgebliche Rolle.
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gebunden. Das ›Offene‹, das Rilke benennt und das er von Tier und Engel, nicht aber vom Menschen und seinem Bewusstsein prädiziert, der gesuchte »reine Bezug« ist in Heideggers Deutung selbst durch Vorstellen und ein gegenständliches Weltverhältnis bestimmt. Dies verweist auf eine Innerlichkeit, auch auf menschliche Schutzlosigkeit, die sich die Welt anzueignen sucht, aber gerade nicht in den Anfänglichkeitscharakter des Seins zu kommen vermag, das von sich her aufgeht. Wenn man der Tektonik der Holzwege weiter nachgeht, so folgt, aus dem Jahr 1946 stammend, die Abhandlung zum Spruch des Anaximander, dem »ältesten Spruch des abendländischen Denkens« (320), der elementar von Schuld und Opfer handelt. Heidegger gibt die Gnome Anaximanders in der Übersetzung des jungen Nietzsche wieder, die er dann in interpretierenden Variationen fortschreibt: »Woher die Dinge ihr Entstehen haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahle und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit« (321). Das Jahr der Entstehung 1946, mit dem sich die Anzeige einer eigenen tiefen, inneren Krise verbindet, erwähnt Heidegger mit keinem Wort: eine Ausblendung, die in der Kenntnis der Schwarzen Hefte noch mehr befremdet. Die Schuld wird konsequent außermoralisch und außergeschichtlich gedeutet, als Anwesend-seinlassen des Seienden, das damit aus der Verborgenheit des Seins selbst entrissen wird. Die griechischen Rechtsbegriffe von dike bzw. adikia fasst Heidegger nicht primär rechtlich. Er führt sie auf das Wechselverhältnis von ›Fug‹ und ›Unfug‹ zurück: Es ist der Fug bzw. Unfug gegenüber der Seinserfahrung selbst, der dabei leitend bleibt. Heidegger intendiert also, den frühen griechischen Anfang und die Seinsdimension als allem Recht und allem Ethos zugrundeliegend zu verstehen. Die europäischen Traditionsbilder und das Wesen von Europa als Übersetzungsphänomen haben hier ihre Wurzel. Der Ausgriff in die frühe Seinserfahrung der Griechen führt zugleich in eine ›Sprachnot‹, die wiederum auf das enge Wechselverhältnis zwischen der philosophischen Archäologie und einer ›denkenden Dichtung‹ im Hölderlin’schen Sinn verweist.
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Wegmarken: Hinwege und Rückwege Projizieren wir blaupausenartig die Wegmarken darauf. Wieder ist die Anordnung der Beiträge rein chronologisch angelegt. Doch wiederum ergibt sich bei einem näheren Blick aus der chronologischen Abfolge eine Struktur der Gedankenführung. Der dokumentierte Zeitraum ist allerdings ungleich weiter gefasst. Er schließt immerhin vierzig Jahre in sich. ›Vorworte‹ und ›Nachworte‹ signalisieren Modifizierungen und veränderte Verankerungen der einzelnen Texte, die zu zentralen Markierungen Heidegger’schen Denkens geworden sind. Diese ›Vor‹- und ›Nachworte‹ dokumentieren im Ansatz auch, dass Heideggers Arbeit an den eigenen Texten teilweise zu weitreichende Revisionen der eigenen denkerischen Konzeption führte. Damit sind die Zusätze und Ergänzungen der Wegmarken bereits ein veritabler Ansatz der freien Selbstauseinandersetzung Heideggers. Eröffnet wird der Band mit den Anmerkungen zu Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen (1919/21), eine sympathetisch wohlwollende Besprechung, die für beider Freundschaft wegweisend wurde, die aber kritische Fragen einschließt und deren systematische Substanz in der Genese von Heideggers früher Philosophie von eigenem Gewicht ist. Jaspers lieferte ihm nicht in demselben Sinn einen Richtungssinn der Abarbeitung wie Husserl oder sogar Rickert. Doch er war ein Zeitgenosse, dessen Kongenialität Heidegger früh aufging. Heidegger fragt, ob die ordnende Absicht des wissenschaftlichen Diskurses und das Werturteilsfreiheitspostulat Max Webers »ohne Diskussion für das philosophische Erkennen gefordert werden« (41) könnten. Weiter fragt er, ob die soziologische und psychologische Methodik bruchlos miteinander zu verbinden sind, wobei sich im Hintergrund die für Heidegger wesentlichere Implikation zeigt, ob sie »für die Durchführung einer bestimmten philosophischen Tendenz« (41) geeignet sind: Was Heidegger in seinen eigenen phänomenologischen Arbeiten der ›Urwissenschaft‹ zuwies. Heidegger deutet gegenüber Jaspers’ Verweis auf die Existenz-Problematik eine protologische Form der ›Formalen Anzeige‹ und der Kategorien der Existenz an: Insgesamt fordert ihn, wie wir sahen, der Entwurf des Zeitgenossen erkennbar auf, den Weg zu antizipieren, den Sein und Zeit dann explizieren sollte (Zweiter Teil. IV.). Der zweite Text aus dem Jahr 1928 stößt in ein weiteres Zentrum vor: das Verhältnis von Phänomenologie und Theologie. Auch die so benannte Abhandlung ist von Belang für eine Freundschaft, nämlich 322
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jene mit Rudolf Bultmann, den Heidegger durch diesen Traktat vor Verwechslungen von Philosophie und Theologie geradezu warnt. 128 Beider Briefwechsel, der die Freundschaft auch während der Zeit tiefreichender Entzweiung im Zweiten Weltkrieg dokumentiert, revidiert die Aussage nicht, die Disziplinen seien »absolut verschieden« (GA 9, 49); an späterer Stelle ist dann explizit von der mehrfach zitierten »Todfeindschaft« die Rede (65), was bei Heidegger nicht nur einen metaphorischen Anklang hat. Die Theologie nämlich sei »positive Wissenschaft«, die die Christlichkeit und ihre Implikationen voraussetzt, während dagegen die Philosophie die Seinswissenschaft und die Wissenschaft vom Anfang des Seins sui generis sei, die gerade nicht in ein Positivum hineinfrage, sondern seit Aristoteles »Gesuchte Wissenschaft« bleibt. Näher bestimmt wird von Heidegger auch in diesem Zusammenhang der eigentliche Gestus der Philosophie eben »formal anzeigendes«, ontologisches Korrektiv des ontischen Gehaltes der theologischen Begriffe zu sein (65). Diesen Gehalt charakterisiert Heidegger seinerseits systematisch als »vorchristlich«, da das christliche Zeugnis nur aus der Offenbarung, einem bestimmten ontischen Bereich, gewonnen werden kann. Der Ort seiner frühen religionsphänomenologischen Vorlesungen wird in diesem Lichte näher bestimmbar: Auch der Zeitsinn bei Paulus und Augustins wurde formal anzeigend evoziert. Die Einsicht in die Trennung formulierte Heidegger oft genug in Disjunktionen. Er fand dafür aber auch positive Bestimmungen. Dies wird deutlich, als er in Tübingen eine Vorlesung des alten Adolf Schlatter hörte und ihn zu der Exklamation brachte: »Das ist Theologie!« 129. Unmittelbare Übergänge zwischen Philosophie/Phänomenologie und Theologie kann es in Heideggers Sichtweise aufgrund dieser weitgehenden Trennung der Bereiche aber per se nicht geben. Weitere Aufsätze und Abhandlungen in den Wegmarken charakterisieren in stärkerem Ausmaß als die Holzwege Heideggers eigene Grundstellung zur Metaphysik. Sie beschreiben damit die Markierungen, die dieses Denken seit Sein und Zeit seit Mitte der zwanziger Jahre zurücklegte und die es konturiert zur Geschichte der Metaphysik Position beziehen lassen. Einerseits kann man die Texte als Instrumentierung des Hintergrundes von Sein und Zeit Vgl. nochmals Heidegger, Phänomenologie und Theologie, GA 9, S. 79 ff. Vgl. W. Neuer, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche. Stuttgart 1996, S. 607. 128 129
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lesen, der Heidegger nach Abschluss des Hauptwerks zunehmend deutlich wurde; andererseits zeichnet sich darin der Weg zum anderen Anfang bei der Seinsfrage ab. Dieser Erwägungszusammenhang beginnt mit der Frage: ›Was ist Metaphysik?‹ und der Freilegung der »metaphysischen Grundfrage«: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?«. Leibniz beantwortete sie bekanntlich mit dem Satz vom zureichenden Grund, wonach nichts ohne einen solchen zureichenden Grund entstehen oder vergehen kann. In seiner Metaphysischen Abhandlung setzte Leibniz den Akzent, es gebe einen nisus, eine Neigung, vom Nichts zum Sein. Dies hätte Nietzsche zu einer ähnlich ironisch spöttischen Geste veranlassen können, wie er sie für Kants »vermöge eines Vermögens« übrig hatte. Auch Schelling setzt an dieser Grundfrage an, was Heidegger dazu bewegt, in ihr die Topologie der Unterscheidung zwischen der Frage nach dem Seeinden und nach dem Sein zu fixieren. Heidegger trägt der metaphysischen Grundstellung Rechnung, wenn er wieder in fast asketischer Zurückhaltung, die monadologische Metaphysik Leibniz’ exponiert und den Spiegelungszusammenhang von Einzelmonaden und Zentralmonas erhellt. Husserls intersubjektive späte Adaption der Monadologie, des Sich-selbst-finden im Anderen als monadische Spiegelung spielt dabei kaum eine Rolle. 130 Der Verweis auf die ›Passivität‹ der Monaden und die Negativität ihrer Bestimmtheit schließt den Traktat ab, der damit unmittelbar zu der ein Jahr später datierenden Freiburger Antrittsvorlesung: Was ist Metaphysik? führt. Sie ist, wie kaum ein anderer kürzerer Text, für Heideggers Anbahnung der Seinsfrage programmatisch zu nehmen. Entwickelt sie doch einerseits mit Leibniz die »Grundfrage der Metaphysik«: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?« und gibt sie doch dann dieser Frage eine Wendung, indem Heidegger, bezogen auf diesen Höhepunkt der vorkantischen Metaphysik, bei diesem ›Nichts‹ selbst verweilt. »Wie steht es um das Nichts?« (112). Es durchgreift, auch in der Weise der Grundstimmung der Angst »das Ganze der Metaphysik«. Damit erweist sich das Nichts zu allem konkreten Seienden als Zugriff auf das Sein selbst. Es zeigt sich als das dem Seienden zugrundeliegende Sein, das in allem unterschwellig gegenwärtig ist, nach dem aber nicht explizit 130 Vgl. vor allem V. Cartesianische Meditation, hg. von E. Ströker, a. a. O., III. Meditation. Siehe dazu auch D. Zahavi, Husserl und die transzendentale Intersubjektivität. Eine Antwort auf die sprachpragmatische Kritik. Dordrecht 1996.
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gefragt wird und das somit unthematisiert bleibt: ein erster Hinweis auf den Heidegger’schen Ansatz bei der Seinsfrage. Einem zweiten großen Topos der Metaphysik gilt die Abhandlung Vom Wesen des Grundes 1929, die die Transformationen metaphysischer Grundfiguren durch das Seinsdenken fortsetzt. Der Satz vom zureichenden Grund, die principium rationis, verweist seinerseits in die Leibniz-Tradition und hat in ihrem Wahrheitskonzept eine ausgezeichnete Bedeutung. Ohne das principium rationis könnte Seiendes gedacht werden, »das grundlos« wäre (9. 129). Aufgrund der Verschränkung mit dem Wahrheitsbegriff bedeutete dies: »Es gäbe Wahres, das sich einer Auflösung in Identitäten widersetzte« (129) und das damit der operativen Semantik von Wahrheit zuwiderliefe. Heidegger verschiebt dann schrittweise die Problematik des Grundes auf ein phänomenales Gegründetsein in der ontologische Differenz die sich im Seinsverstehen des Daseins manifestiert. Die Analytik des Daseins in seinem in-der-Weltsein wird damit auf das »Auszeichnende des Daseins« bezogen, das »Sein-verstehend zu Seiendem sich verhält« und ihm seinen Grund gibt (134). Dies führt Heidegger zum Begriff von Transzendenz als des Überstiegs zur Welt als dem ›Seienden im Ganzen‹. Denn Welt bedeute: »Das Seiende im Ganzen und zwar als das entscheidende Wie, gemäß dem sich menschliches Dasein zum Seienden stellt und hält« (145); womit der kritische Kantische mit dem Leibnizischen Weltbegriff verklammert werden. Erst im letzten Absatz kommt die Problematik des ›Wesens der Wahrheit‹ zum Tragen: Heidegger expliziert Grund und Gründen dynamisch temporal in einer dreifachen Streuung: »als Stiften, als Bodennehmen, als Begründen« (ibid., 165). Man kann in diesen Abhandlungen der Jahre nach Sein und Zeit eine gewisse Annäherung an die Metaphysik dokumentiert sehen, die im Kant-Buch kulminierte: Es ist eine Art Phänomenologie der Metaphysik oder auch Metaphysik der Metaphysik, 131 zu der Heidegger hier Atem holt: in einem definitorischen Moment seines Denkens, das er nach 1933 nicht weiter verfolgte. Man kann nur vorläufig vermuten, dass die Linie der ›Metaphysik der Metaphysik‹ Heideggers Denken eine andere Struktur gegeben und ›ersten‹ und ›anderen‹ Anfang nicht in einer derart groben Weise auseinandergerissen hätte. Der Mensch, wie es hier heißt (nicht das ›Dasein‹), ist seinem Wesen nach ein Wesen der ›Transzendenz‹ und damit der Ferne. Frei131
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., S. 25 ff.
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heit wird als eine Bewegung des Überstiegs auf Welt verstanden, in Transformation des phänomenologischen Intentionalitätsverständnisses, in der sich menschliches Dasein als »Erhöhung« und »allererst als Abgrund« (174) verstehen können müsste. Die Spannung, die von hier her evoziert wird, wird im nachfolgenden Text Vom Wesen der Wahrheit dadurch weiter expliziert, dass sie Wahrheit und Freiheit in einen engen Explikationszusammenhang bringt. Dies kulminiert in der Aussage: »Das Wesen der Wahrheit, als Richtigkeit der Aussage verstanden, ist die Freiheit« (186). Man kann diese in ihrer Fragebewegung selbst sich als umwegig ausweisende Explikation, die Freiheit mit einem abkünftigen Modus von Wahrheit (eben der ›Richtigkeit‹) verbindet, auch vor dem Hintergrund von Karl Jaspers’ Aussage verstehen, dass Heidegger von der Freiheit nichts verstanden habe. 132 Im Blick auf politische und demokratische Freiheit ist Jaspers prima facie vermutlich recht zu geben. Heideggers Denken war nicht durchgängig daran interessiert, die Konzeption philosophischer Freiheit auch auf ethische Freiheit durchlässig zu machen. Philosophisch stellt sich die Struktur differenzierter dar: Freiheit wird auf eine Art negativer Intentionalität hin expliziert (193). Sie ist »Seinlassen des Seienden« und damit die Voraussetzung dafür, dass die Phänomenalität der Phänomene zur Erscheinung kommt. Dies eröffnet den Freiheitsbegriff immerhin auf einen grundlegenden späteren Topos Heidegger’schen Denkens, die ›Gelassenheit‹. Verborgen bleibe darin aber der Bereich des Überstiegs selbst, das Seiende im Ganzen: »in der ek-sistenten Freiheit des Daseins ereignet sich die Verbergung des Seienden im Ganzen, ist die Verborgenheit« (193). Heidegger artikuliert deshalb die Seinsvergessenheit und damit die Notwendigkeit einer destruierenden Seinsgeschichte als Implikation der Seinsfrage: Zwischen Verbergung und Entbergung bestehe eine Art Konvivenz, die auf die ›Irre‹ bezogen wird, ein Begriff, den Heidegger auch in den späteren Kommentaren seiner Rektoratsrede verwenden und gegen moralische Verantwortung als Evokation eines dem Denken zukommenden Ethos in Anspruch nehmen wird. »Die Irre ist das wesentliche Gegenwesen zum anfänglichen Wesen der Wahrheit […]. Die Irre ist die offene Stätte und
Vgl. K. Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, hgg. von H. Saner. München, Zürich 1978, S. 142 und 167.
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der Grund des »Irrtums« (197). Unabhängig von der Irre sei also die Frage nach der Wahrheit gar nicht sinnvoll zu explizieren. Die Verfugung von Wahrheit in Freiheit kulminiert am Ende in einer Zentralaussage: »Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens« (201), also des Seins selbst. Freiheit tritt an diesem Zielpunkt in den Hintergrund. Sie hat offensichtlich nur negative Funktion, sie setzt den Spielraum frei, in dem das Wahrheitsgeschehen angenähert werden kann. Noch ist nicht von der ›Sache des Denkens‹ die Rede, die, wie Heidegger in seiner Spätphilosophie zeigen wird, am Ende der Philosophie einsetze, sondern von der prekären und schwankenden Lage der Philosophie selbst, die, wie Heidegger mit Kant festhält, »in der Tat auf einen misslichen Standpunkt gestellt (sei), der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt ist« (AA IV, 425) (199). Wie eine Instrumentierung aus der weiteren Geschichte der Metaphysik nehmen sich die beiden im Anschluss in den Wegmarken abgedruckten Texte aus: ›Platons Lehre von der Wahrheit‹, die Studie, die dem Höhlengleichnis der Politeia (514 a-517) nachgeht und daran aufweisen möchte, wie mit Platon die Unverborgenheit der Idee in ein Joch (zygon) eingespannt und durch die Unterstellung unter die Idee in eine permanente Anwesenheit gebracht werde. Von Kennern des Platonismus ist kritisch bemerkt worden, dass Heidegger die bei Platon durchaus angedeutete ontologische Differenz in der Transzendenzbewegung des epekeina tes ousías übersehe, wenn er die Ideation als Zurichtung der Wahrheit auf Richtigkeit deutet und darin missinterpretiert. 133 Doch ist der Chorismos zwischen der höchsten Idee und dem eidetischen Seienden nicht vielmehr eine Differenz zwischen der Einheit des Theos und der Vielheit seiner Emanationen? 134 Unstrittig lassen sich die »Gewalt brauchenden« Züge einer solchen Interpretation als keineswegs zwingende, streckenweise sogar verfehlte Muster der Platondeutung nachweisen. Doch geht es Heidegger eben darum, bei Platon die erste und maßgebliche Grundstellung zu erkennen, die aletheia (Unverborgenheit) auf die Idee hin auslegt und damit »in den Bezug zum Erblicken, Vernehmen« einspannt(238),
133 Beierwaltes, »EPEKEINA«, in: ders., Fußnoten zu Platon, a. a. O., S. 371 ff. Siehe auch die Rekonstruktion Platonischen Denkens: ders., Catena Aurea. Frankfurt/Main 2017. 134 Dies sind Einwände, die Beierwaltes a. a. O., wiederholt gegenüber Heidegger vorbringt.
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wodurch das anfängliche Wesen der Wahrheit vergessen, oder in seinem verborgenen Anfang gegründet bleibe. Platons Ideenlehre bildet also gleichsam die erstanfängliche Inkunabel des zu destruierenden Anfangs der abendländischen Metaphysik. In diesem Horizont sind daher die beiden Referenzen, die Spiegelung Platons bei Nietzsches und Nietzsches bei Platon als erste und letzte Ausprägung der Metaphysik begründet, die für Heideggers Konzept der Seinsgeschichte konstitutiv sein sollte. Der anschließende Traktat in den Wegmarken über Wesen und Begriff der phýsis bei Aristoteles verfährt demgegenüber wieder fast asketisch und lässt den Aristotelischen Text selbst sprechen in einer Zurückhaltung, die aus der Hegelabhandlung der Holzwege bekannt ist. Heidegger erweist sich in solchen Passagen als Meister einer glossierenden Darstellungsweise. In der seinsgeschichtlichen Konstellation firmiert Aristoteles, vor allem mit der Physik, die Heidegger als verborgenes Grundbuch der abendländischen Metaphysik zu lesen riet, 135 als metaphysischer Topos, an dem der frühgriechische Denkansatz bewahrt, aber in die Tektonik der Untersuchung des Seins des Seienden im Ganzen einbezogen wird. Phýsis, die Heidegger zunehmend mit dem frühgriechischen Anfang der Philosophie als das von sich her Aufgehen bestimmte, wird dabei auf den Zusammenhang von Genesis und Phthora, Werden und Vergehen, 136 spezifiziert. Phýsis habe also den Charakter der morphe, der sichtbaren Gestalt, zugleich aber der steresis, des Entzogenseins. Sie sei in ihrer Verfassung »zweifach«, und eben deshalb ein früher Name für das Sein. In dem Wechselverhältnis zwischen Werden und Vergehen, genesis und pthora, expliziert Aristoteles konsequent die Lehre von den lebendigen – und sterbenden – Dingen. Vor dieser Doppelkonstellation ergibt sich eine Engführung des Verhältnisses von Verbergung und Unverborgenheit. Das natürliche Seiende ist aufgrund dieser Doppelnatur in sich selbst »verbergendes Entbergen« (301). Am Natürlichen ist die Verborgenheit und Rätselhaftigkeit nie gänzlich aufgelöst, die auf den Ursinn von Sein verweist. Als eigenen Text fügt Heidegger sein ›Nachwort‹ zu der seiner-
135 Vgl. Heidegger, Seminare. GA 63. Hgg. von M. Michalski. Frankfurt/Main 2012, S. 3 ff., ein Seminar zu Aristoteles, Physik Gamma 1–3 aus dem Sommersemester 1928. 136 Vgl. auch die Neuausgabe von Aristoteles, Vom Werden und Vergehen. AkademieAusgabe 12. 4. Berlin 2010, die Einleitung S. 94 ff.
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zeit vierzehn Jahre zurückliegenden Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? ein. Es ist ein erratischer Kommentar, der sich gegen »Irrmeinungen« wendet und der aus der seinsgeschichtlichen Konstellation des anderen Anfangs auf die frühere Explikation zurückkommt. Deshalb ist dieser Text aufschlussreich, insofern er ergebnishaft Aussagen der Seinsgeschichte aufnimmt, deren Konturen umfangreich und flächendeckend in den Beiträgen entwickelt werden. Dies gilt insbesondere für den nachdrücklichen Begriff eines »Denkens«, das auf den Überlieferungsbahnen der ›Philosophie‹ nicht vorkam, aber auch für eine Evokation der Sprache und des Grundverhältnisses von Denken und Dichten. »Das Denken, gehorsam der Stimme des Seins, sucht diesem das Wort, aus dem die Wahrheit des Seins zur Sprache kommt« (311). Wie Heidegger noch einmal sechs Jahre später eine ›Einleitung‹ in die Freiburger Antrittsvorlesung formulierte und damit ihre Bedeutung unterstrich, sich aber zugleich aus einer nochmals verschobenen Perspektive an sie annäherte, bleibt sogleich zu thematisieren. Dazwischen geschoben ist in der Wegmarken-Sammlung aber der ›Brief über den Humanismus‹, der wie die Anaximander-Abhandlung aus Holzwege ins Jahr 1946 datiert, und direkt den Kontext der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt. Bekannt geworden ist der Humanismus-Brief vor allem als das über Jean Beaufret wieder angebahnte Gespräch mit den französischen Intellektuellen, das prägende Auswirkungen bis heute haben sollte. Nicht Beaufret, sondern Jean-Paul Sartre, der Denker eines rückhaltlosen Humanismus, der Heidegger selbst »Gewalt brauchend« interpretierte, ist Adressat dieses indirekten Colloquiums. 137 Bestechend an der Abhandlung ist vor allem anderen, dass Heidegger eine Abstoßungsbewegung vom Humanismus vollzieht und ihn in die Dimension des Seins einschreibt. Jeder Humanismus gründe seinerseits in einer Metaphysik oder begründe eine solche. Es ist die Erfahrung des Seins selbst, die aller Metaphysik des humanum zuvor, gewonnen werden müsse. Der Mensch »muss, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, dass er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat. Nur so wird dem Wort die Kostbarkeit seines Wesens, dem Menschen aber die
Vgl. dazu D. Janicaud, Heidegger en France. Vol II. Entretiens. Paris 2001, ferner T. König, Sartre. Ein Kongress. Reinbek 1988.
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Behausung für das Wohnen in der Wahrheit des Seins wiedergeschenkt« (319). Dabei ist bemerkenswert: (1) Der Humanismus-Brief steht quer zu der auf Abendland, Sinnsuche und Ethik geeichten Diskurslandschaft der frühen fünfziger Jahre. 138 Diese Stimmen halten sich aus Heideggers Perspektive in einer ontischen Restaurationsbewegung und würde die Tiefengrammatik der Fundamentalontologie überhaupt nicht erreichen. Weiter reicht, dass er auch eine Destruktion der Ethik und ihres Denkansatzes selbst enthält (2) Gewiss bewahrt Heidegger die frühen Impulse aus der Nachkriegszeit nach 1918, als ›Ethos‹ als ›Aufenthaltsdeutung‹ verstanden worden war. Denken, vor allem der denkende Aufenthalt in der Nähe der Seinserfahrung, ist selbst das eigentliche Handeln, gibt der Humanismusbrief zu verstehen. Doch er negiert damit die Berechtigung jeder im engeren Sinn normativen Ethik. Dies erscheint im Jahr 1946 mehr als provozierend und es erweist sich bei aller Tiefe des Briefs auch als Ausweichen vor den Gewissensfragen der eigenen Zeit. Unberechtigte und berechtigte Züge können aber nicht klinisch rein voneinander getrennt werden. Wenn er eine ethisch-politische Selbstverständigung zuließe, könnte er zeigen, dass an den Ereigniszusammenhängen des 20. Jahrhunderts die Forderungen einer normativen Ethik selbst zunichte wurden. Heidegger exponiert damit ein Handeln, das zuerst Sein-lassen sein soll. Die nur negative Bedeutung von Freiheit kehrt hier wieder. In der für ihn charakteristischen Art bricht Heidegger einen Satz von Jean-Paul Sartre auf, der die Ausschließlichkeit des Humanismus als Grundhaltung nahelegt: »nous sommes sur un plan où il y a seulement des hommes« und formuliert ihn auf die Zentralität des ›il y a‹ hin um: »Denn das ›es‹, was hier ›gibt‹, ist das Sein selbst« (ibid., 334). (3) Heidegger setzt sich prima facie auch mit Marx und der Topolgoie der Entfremdung auseinander. 139 Die freilich kaum ökonomisch instrumentierte Zeit- und Gegenwartsanalyse wird auf eine wesenhafte Heimatlosigkeit des Menschen hin durchlässig gemacht. 138 Über die restaurative Tendenz jener Jahre vgl.: D. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Göttingen 2007. 139 Eugen Fink, Existenz und Coexistenz, hgg. von A. Hilt. Freiburg/Br., München 2018 sollte diesen Schichten monographisch weiter nachgehen.
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Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen
Sie ist offensichtlich nicht erst Indiz einer Krise, sondern hängt aus Heideggers Sicht mit dem Menschsein des Menschen eng zusammen. »Seinsverlassenheit«, die das Zeichen von »Seinsvergessenheit« sei, bestimmt das Wesen des Menschen mit. (4) Als überaus prominent zeichnet sich aber in diese Topologie die Frage nach der Sprache ein. Ausgangspunkt ist die provokative Umfigurierung der von Sartre geführten Deutung des ›Il y a‹: als ›es gibt‹ in den Gedankenhorizont des sich selbst gebenden Seins. Der Leser des Humanismusbriefs kann also in nuce und ergebnishaft den Denkzusammenhang erfassen, der in den Beiträgen entwickelt, in Unterwegs zur Sprache entfaltet werden wird. Man findet Sätze wie diesen: »Nur weil die Sprache die Behausung des Wesens des Menschen ist, können die geschichtlichen Menschentümer und Menschen in ihrer Sprache nicht zu Hause sein, sodass sie ihnen zum Gehäuse ihrer Machenschaften wird« (361); »Das Denken bringt nämlich in seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache« (ibid.). Wenn man den Ansatz des Humanismus-Briefs beurteilen soll, wird eine tiefe Ambivalenz sichtbar: Es kann sich die Bewunderung über die Tiefenschichten einstellen, in die Heidegger die Katastrophe und das Trauma von 1945 zurückspielt; wie ein Samurai, der die katastrophischen tektonischen Beben in einem Bereich findet, der mit der Tagesaktualität nichts mehr gemeinsam hat. Umgekehrt kann man aber auch ein ethisches Ärgernis darin erkennen, dass die moralische und humane Katastrophe durch das Seinsdenken übergangen wird. Diese Ambivalenz kann sich ähnlich auch bei der Lektüre der ›Bremer Vorträge‹ aus dem Jahr 1949 einstellen: Von dem moralischen Skandal, dass die Versiegelung der Erde durch Chemie mit der »Produktion von Leichen« im Konzentrationslager auf einer Ebene gesehen wird, kann man nicht absehen, wenn man die Tiefendimension der Heidegger’schen Philosophie der Technik erfasst. 140 Es gibt eine Argumentationslinie in solchen Texten, die scharf die Verheerungspotenziale neuzeitlicher Technik namhaft macht und das totalitäre Weltgeschehen als Teil dieser Verheerung begreift und 140 Der Grundansatz zeigt sich darin, dass die Machenschaftlichkeit jeden ethischen Appell zu einer Art von Anachronismus werden lässt. Damit ist freilich noch nicht die ethische Haltung desavoziert. Vgl. im Sinn einer höchst eigenständigen Aneignung des Technik-Problems bei Heidegger: C. Werntgen, Kehren: Martin Heidegger und Gotthard Günther. Europäisches Denkens zwischen Orient und Okzident. München 2006.
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Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts
eine andere, die »jenseits von Gut und Böse« ansetzt, sodass Heidegger auf eine Ebene ausweicht, auf der menschliche Vernichtung, ethische Sensibilitäten und Schmerz außer Kraft gesetzt sind. Beide Linien sind nicht strikt voneinander zu trennen, sie gehen ineinander über. Verletzt wird durch die desaströse Technik das Sein, nicht zuerst der Mensch, so der Eindruck. Am Ende des Humanismusbriefs wird die Abbiegung der »Philosophie« in die Sache des Denkens evoziert, was einerseits aus der »jetzigen Weltnot« (364), andererseits aus einem Denkansatz begründet wird, der »ursprünglicher« denke als die Metaphysik. Eben jenes Denken des anderen Anfangs bestimmt dann die 1949 abgeschlossene ›Einleitung‹ zur Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, die ebenfalls noch in die Schlusssequenz der Wegmarken aufgenommen wurde. Die Differenz zwischen ›erstem‹ und ›anderem Anfang‹ wird dabei deutlich punktiert. »Die Metaphysik bleibt das Erste der Philosophie. Das Erste des Denkens erreicht sie nicht« (367). Metaphysik, als deren Grundfrage Heidegger, ausgehend von Leibniz, die Frage: ›Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‹ bestimmte, wird in diesem Zusammenhang als Notwendigkeit, eben als Seinsgeschick, verstanden. Ihre bloße Kritik bliebe deshalb weit hinter diesem nicht mehr personalen, überindividuellen Geschehenszusammenhang zurück. Dies ist ein Argumentationsmuster, das sich spezifiziert in der Frage nach der Technik wiederholt. Heidegger formuliert den Ansatz in der Überlegung: »Fast scheint es, als sei die Metaphysik durch die Art, wie sie das Seiende denkt, dahin gewiesen, ohne ihr Wissen, die Schranke zu sein, die dem Menschen den anfänglichen Bezug des Seins zum Menschenwesen verwehrt« (370). Insofern erweist sich die Metaphysik selbst als zweigestaltig. Sie entbirgt die ›Wahrheit des Seins‹ und sie verbirgt sie als diese Wahrheit zugleich wieder (379). Der vorletzte Beitrag des Bandes Zur Seinsfrage war als Gespräch mit Ernst Jünger konzipiert, dessen zeitanalytischem Traktat Der Arbeiter in den dreißiger Jahren Heidegger umfangreiche Privatseminare gewidmet hatte und der in der Nachkriegszeit eine mythopoietische Lehre von der Wiederkehr der Titanen entfaltete. Jünger formulierte selbst keinen metaphysischen Denkansatz aus. Er sollte auch nicht in diese Richtung missverstanden werden. Allerdings können seine Erwägungen als letzte Grundstellung gedeutet werden: wofür Heidegger den Titel der »Subjektität« – einer Übersteigerung und zugleich Anonymisierung von »Subjektivität« gebraucht (395 f.). Im 332
Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen
Verlauf seiner mäandernden Nietzsche-Interpretationen explizierte Heidegger Nietzsches Denken immer deutlicher als Ende der Metaphysik. Nietzsches Wille zur Macht als letzte metaphysische Grundstellung ist bei Jünger vorausgesetzt. Jüngers Mythologie des Arbeiters verbindet sich in Heideggers Lesart daher eng mit Nietzsches Willen zur Macht, der in einen Willen zum Willen, zur puren Selbstermächtigung übergeht: In diesem Sinn und in der Befragung von Begriffskonstellationen, die Jünger als Schriftsteller der Konservativen Revolution als »optisches System« verwendet, 141 versteht Heidegger Jünger als Indikator der Folgen von Nietzsches Denkform. Ernst Jünger gehöre aber selbst nicht mehr der Metaphysik an. Der Schritt über die Linie soll nach Jünger zugleich ein Schritt über den Nullpunkt des Nihilismus hinaus sein (409), den er später mit immer neuen Anläufen auf die Ankunft der Titanen flankierte. Heidegger antwortet dieser späten, postheroischen Mythopoieisis mit dem Verweis auf das Nichts am Grund des Seins, das mit diesem Sein selbst eins ist, sodass »statt des Anscheins des nichtigen Nichts das einsther ins ›Sein‹ verwandte Wesen des Nichts ankommen und bei uns Sterblichen unterkommen kann« (410). Bei aller verbalen und politisch scheinbaren Verwandtschaft ist die Entgegensetzung beider Denkansätze unverkennbar: Die ontische Dimension tangiert Heideggers fundamentalontologischen Ansatz im Grunde nicht. Mit zwei großen Klassikern gewidmeten Abhandlungen schließt der Band: Mit den Versuchen Hegel und die Griechen und Kants These über das Sein. Die Hegel-Abhandlung aus dem Jahr 1958, die Kant-Studie aus dem Jahr 1961 verdichten sich beide zu Variationen über die Seinsvergessenheit der neuzeitlichen Metaphysik. Heidegger legt an Hegel vor dem Kontrast zu den Vorsokratikern Parmenides und Heraklit die Uneingeholtheit der aletheia offen, wobei bei Hegel die beiden elementaren vordialektischen und vorprädikativen Begriffsformen des Seins und des Werdens in der Struktur der Logik eingesetzt werden. Das in sich selbst vermittelte Hegel’sche System identifiziert Heidegger mit der Suche nach einer Gewissheit, die in der dialektischen Bewegung als »absoluter Subjektivität« kulminiere (438). Selbstverständlich ist dies eine grobe Simplifizierung der Hegel’schen Systemarchitektur und Frageintention. Offen ist auch, ob das zwie-spältige Denken der Vorsokratiker tatsächlich mit Hegels
141
Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Ernst Jünger vgl. Dritter Teil.21.
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Logik inkommensurabel ist, wie Heidegger nahelegt. 142 Die austauschbaren Epitheta des »Sichselbsterscheinens des Geistes«, der absoluten Vermittlung des Begriffs expliziert Heidegger, in einer deutlichen Abweichung von den subtilen Hegel-Kommentaren der dreißiger Jahre, als Modus der Seinsvergessenheit, der aletheia als Anwesenheit voraussetzen müsse (444). Als Gegenbild zu der Rede von der Seinsvergessenheit spricht Heidegger im Hegelzusammenhang vom »Rätsel der aletheia, die über dem Beginn der griechischen Philosophie und über dem Gang der ganzen Philosophie waltet« (444), die aber eben nicht in metaphysischen Denkformen entborgen werden und erst recht nicht in ein operatives philosophisches Begriffsverfahren einbezogen werden kann. An Kant arbeitet Heidegger heraus, dass der Seinsbegriff zur »reinen Position« werde, womit die onto-theologische Ausdeutung des absoluten Urwesens damit die Überzeugungskraft des ontologischen Gottesbeweises im Kantischen Sinn einstürzte. Wie und in welchen Grenzen der Satz ›Gott ist‹ als absolute Position möglich sei, versteht Heidegger (456 f.) als die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft, auf deren transzendentale Deduktion als synthetische Einheit der Apperzeption er sich hier in dem Sinn bezieht, dass sie dem Modalbegriff des Seins seinen Reichtum und konkreten Gehalt gebe. 143 Auch Sein als reine Position ist eine Form von ›Anwesenheit‹, die den Seinsbegriff der Metaphysik bestimme; weshalb Kants These über das Sein in den Zusammenhang des in der Metaphysik Ungedachten gehört (479 f.) und eine Mittelposition zwischen der Aristotelischen Bestimmung des Seins als »hypokeisthai« einerseits und der Hegel’schen Benennung als »absoluter Begriff« einnehme. Die differenzierte Spur des Kant-Buches aus dem Jahr 1929 ist nicht mehr erkennbar. Indirekt deutet dieser interpretierende Aufsatz an, dass die ›Metaphysik der Metaphysik‹ bei Kant nicht geleistet werden kann, weil sie aus dem Horizont der Anwesenheitsmetaphysik selbst herausführt. Die seinsgeschichtliche Explikation aus dem ›Vorbehaltenen‹ des ersten Anfang geht auf das vergangene Denken mit einer tatsächlich Gewalt brauchenden Interpretation zu, die es an dem Maßstab des – 142 Siehe die gegen Heidegger gerichtete egologische Konzeption bei D. Henrich, Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–95). Stuttgart 1992. 143 Vgl. Henrich, a. a. O., S. 345 ff. und S. 450 ff.
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entzogenen – Anfangs misst. Schon deshalb sollte es nicht verwundern, dass aus Heideggers Deutung weniger präzise vergangene Denkwege rekonstruiert werden können, als aus Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Heidegger ist primär an der Destruktion und Orientierung auf das in der Metaphysik nicht-Gesagte interessiert, an einer Art negativer Teleologie, wohingegen Hegel oder Schelling die anderen großen eigenständigen Denker, die sich vor der Vergangenheit Rechenschaft gaben, als vorläufige Realisationen der vollständigen Begriffsrealisierung verstehen, die sie für sich selbst beanspruchen. Die abbreviativen Abhandlungen der großen Sammlungen von Aufsätzen und Abhandlungen geben damit einen Eindruck, wie ihn viel differenzierter die großen Freiburger Vorlesungen Heideggers bestätigen. 144 Die Beurteilung kann und muss ambivalent ausfallen. Von der Souveränität des Heidegger’schen Zugriffs, der aus seiner eigenen Denkbewegung in die Mitte der anderen trifft, kann man fasziniert sein. Ex negativo gewinnt so die Seinsfrage kraftvolle Konturen. Es stellt sich aber auch die Irritation darüber ein, dass es für das Seinsdenken, indem es selbst den Ursprung für sich beansprucht, kein Außen gibt und es gleichsam einen Weltinnenraum bildet. Holzwege und Wegmarken können nun noch einmal im Ganzen resümiert werden: Wenn man Heideggers Holzwege, ohne nennenswerte Kenntnis seiner esoterischen späten Studien heranzieht, so gewinnt man Einsicht in drei Paradigmen, die sich aneinander schärfen: (1) Das Kunstwerk als originäre Form von techné, die das Verborgene der Wahrheit ins Werk setze: ein Moment, das Dichtung und Sprache als elementare Form von Kunst erweist. (2) Das kontrastierende Verhältnis zwischen dem ›Weltbild‹ und der originären Sprache der Dichtung, der vorstellenden Subjektivität und der dichterischen Bewegung zwischen Hölderlin und Rilke, die ihrerseits Resonanz auf die Archäologie dessen gibt, was Heidegger den ersten Anfang der Philosophie nennt. (3) Schließlich zeichnet sich in deutlichen Konturen ab, wie Heidegger in einer vergleichsweise genauen Hegel-Interpretation das Ende der Metaphysik und den Anfang des Denkens auch als methodische Differenz skizziert: bei Hegel die Herauspräparierung von Gewissheit durch eine Vermittlungslogik, im Seinsdenken die ›Einkehr‹ in eine letzte Einfachheit und Elementarität.
144
Vgl. dazu wieder Dritter Teil, 19 und 20.
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Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts
Die Bildtopologie der Holzwege, die Heidegger auf dem Frontispiz des Bandes vermerkt, macht den Faden zwischen den Abhandlungen deutlich: »Jeder [sc. der Holzwege] verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein« (X). Zugleich sind Holzwege Wege, die »meist verwachsen« und »jäh im Unbegangenen aufhören«. Man kann ergänzen: Andeutungen in dieses Unbegangene könne man also mit Gewinn der Holzwege entnehmen. Fruchtbar ist es dabei, weniger den genealogischen als den erratischen Konnex zu erkennen. Die Holzwege bieten, wenn man sie als Buch liest, einen gedanklichen Block, der über die Architektonik von Sein und Zeit erkennbar hinausgeht und Topoi der Spätphilosophie erkennbar werden lässt, der aber zugleich noch einmal in Verkürzung das Gespräch mit der Metaphysik dokumentiert. Nicht einen systematischen Grundriss der Seinsfrage bot Heidegger seinen Lesern, sondern Hinweise auf Denkwege des ersten Anfangs, aus denen der andere Anfang nach und nach anzudeuten ist. Ein aufmerksamer Leser, der den Nachlass nicht kennt, kann einen systematischen Zusammenhang erahnen, der immer wieder in den einzelnen Topoi aufleuchtet, im Ganzen aber implizit bleibt. Denkt man sich dagegen den gleichen Leser, der die Wegmarken vor Augen hätte, ohne, wie es heute möglich ist, die Nachlasseditionen der Heidegger’schen ›Beiträge‹ und verwandten Aufzeichnungen in den Blick nehmen zu können, so würde er dynamischer in die zunehmende Verschiebung der Begriffs- und Gedankenbewegung hineingezogen. Das Buch beginnt im Umkreis der frühen ›Ontologie‹ und ›Hermeneutik der Faktizität‹ mit der Jaspers-Rezension, lässt bei Sein und Zeit eine Leerstelle und wendet sich dann den Rückgriffen in die Grundfrage und abgründige Struktur der Metaphysik aus den späteren Jahren der ›Kehre‹ zu, die Frage nach Grund, Wahrheit und Freiheit. Angebahnt wird damit die Seinsfrage, die im HumanismusBrief in einer Abwehr der philosophischen Disziplinarchitektur besonders kraftvoll zutage tritt und in der angedeuteten Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles, Kant und Hegel im Licht der Seinsfrage weitergeführt wird. Implizit lassen sich an diesen Markierungen die innere Dynamik und der Vollzugscharakter des Heidegger’schen Denkwegs ahnen. Über seine inneren Untiefen und Tiefen, seine Aporien und Ausgriffe weiß man allerdings erst durch die Kenntnis des Nachlasses, von den Vorlesungen bis zu den esoteri336
Holzwege und Wegmarken: Kompositionen und partielle Mitteilungen
schen Niederschriften. Das abgründige Nichts nämlich, von dem Heidegger spricht: ist es nicht mit dem Sein selbst identisch, das in allem Seienden vorausgesetzt wird, aber nach dem niemals eigens gefragt wurde? Der ›nisus‹, die Neigung vom Nichts zum Sein, wäre dann gerade keine Begründung. Er verfängt sich in sich selbst und bezeichnete lediglich eine Fluchtbewegung vom Abgrund weg. Dass die Selbstrevisionen und Denkformationen in Heideggers Aufsatzsammlung besonderes Augenmerk verdienen und eine eigene hermeneutische Herausforderung entfalten, ist in einer Eigenart von Heideggers Arbeitsweise grundgelegt. Heidegger bezog sich immer wieder auf seine Manuskripte. Sein Fragen ist, wie etwa jüngere Arbeiten v. Bülows am Nachlass zeigten, 145 nicht das Fragen des sokratischen Philosophen, der mündlich und gesprächsweise dem Wesenswas der Dinge nachspürt. Seine esoterische Dimension ist vielmehr die Manuskript-Arbeit und die Selbstauseinandersetzung mit den eigenen Schriften. Je länger je mehr mag Heidegger den Eindruck gewonnen haben, dass er in seiner Zeit keinen adäquaten Gesprächspartner fand. Scheler und Jaspers waren Zeitgenossen, denen er die Zwiesprache zubilligte. Tatsächlich fand er eine solche Zwiesprache am ehesten unter den großen Exponenten der europäischen Metaphysik: bei Platon, Aristoteles, Kant, Hegel und Nietzsche, wobei es vor allem der letztere war, der Heidegger beschäftigte und, wie er gelegentlich bemerkte, geradezu zerstörte. Die Stringenz der beiden Bände erweist sich umso stärker, je mehr sie in dem Spannungsfeld des ersten und anderen Anfangs interpretiert werden. Die vorläufige Mitteilung gewinnt eine neue Lebensfähigkeit, wenn sie im Licht einer Seinsfrage steht, die nicht zu beantworten, sondern allenfalls zu einer höheren Sinnklarheit zu führen ist.
145 Besonders eindrücklich: U. von Bülow, »Das ›Hand-Werk‹ des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger«, in: H. Seubert und K. Neugebauer (Hg.), Auslegungen. Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften. Freiburg/Br., München 2017, S. 304 ff.
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Im Hallraum der Gelassenheit: Heideggers ›Vorträge und Aufsätze‹ Die erstmals 1954 erschienene Sammlung Vorträge und Aufsätze ist als dritte Überschau mit in Betracht zu ziehen. Ob so geplant oder nicht, führt sie ins Zentrum des ›Anderen Anfangs‹ und des Rückgangs in die frühe griechische Philosophie. Zudem gibt sie eine Reihe von Mitteilungen aus dem Immanenzzusammenhang des anderen Anfangs. Die einzelnen Abhandlungen sind mehr oder weniger bekannt geworden und haben als besonders prägnante Mitteilungen des späten Heidegger die autorisierte Einführung von Otto Pöggeler flankiert. 146 Als zentraler Text ist die bahnbrechende Abhandlung zur Frage nach der Technik aufgenommen, die gleichsam in nuce den Gedankengang der Bremer Vorträge resümiert. Sie werden weiter unten (Fünfter Teil. 29) systematisch und in einem bleibenden, auch heutige hypermoderne Ausformungen der Technik betreffenden Gehalt vor dem Hintergrund von Heideggers Technikphilosophie gewürdigt werden: Heidegger kondensiert hier, ausgehend von dem griechischen Wortsinn der techné als einer in eminenter Weise darstellenden Form der Entbergung, die im zeitgenössischen Umfeld prominenten Modi der Kybernetik und des Ge-stells, die sich einer menschlichen Nutzung entziehen und vielmehr den Menschen selbst in den Bestand nehmen. Er benennt das »Gestell« als »Wesen der modernen Technik« (24), die ihrerseits nicht mehr technisch und maschinenartig ist (27), sondern in der technomorphen Gegenwart als die durchgehende Weise firmiert, wie sich Wirklichkeit, das »Seiende im Ganzen« selbst entbirgt. Er geht damit in Abstraktion und Reichweite der Behauptungen weit über die in seiner Zeit gängigen Aussagen zur Technik hinaus. Sie ist ihrem Wesen nach weder als Dämonie zu fassen, was eine kennzeichnende zeitgenössische Denkform war (etwa bei Dessauer) 147 noch ist sie in einem ideologiekritischen neomarxistischen Rahmen zu denken. Vielmehr ist sie selbst metaphysisch, in der neuzeitlichen Metaphysik und der aus ihr abgeleiteten Naturlehre grundgelegt. Die Seinsvergessenheit kondensiert sich in ihr, sodass ein nur kritischer Bezug auf Technik, wie Heidegger auch in den Bremer Vor146 O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers. Pfullingen 1983, vor allem S. 143 ff. Verwindung der Metaphysik. 147 Vgl. F. Dessauer, Philosophie der Technik. Das Problem der Realisierung. Bonn 1927.
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trägen zeigt, die Dimension nicht erfassen kann. Die Nähe von Kunst und Technik hat hier ihre Bedeutung: Auch in der Technik ›west‹ Sein, nur in der Weise vollständiger Abwesenheit und Verdrängung, was Heidegger in der Analogie zum Wesen der Kunst expliziert. 148 Äußerste Verbergung und der Entzug in die Not der Notlosigkeit liegen in Heideggers Verständnis also in enger Nachbarschaft. Die Überlegung Wissenschaft und Besinnung greift aus dem anderen Anfang auf das Zeitalter des Weltbildes zurück. Thematisiert wird darin das, Heidegger zufolge, erst in der Neuzeit so entwickelte Gedankenkonzept des Zusammenhangs des Wirklichen, das durch Theorie verortet und in seiner Wiederholbarkeit und Anwendbarkeit sichergestellt ist, als Gegenstandsgebiet (55). Hintergründig bleibt Heideggers Diktum bestimmend, dass die Wissenschaft nicht denke; als ihre Zugangsweise begreift er die Modellbildung und damit das ›Vorstellen‹ (60), das Hegel der Religion vorbehalten hatte. Doch liege dem ein Lebens- und Tatsächlichkeitsbereich zugrunde, den Heidegger als das »Unumgängliche« einer jeweiligen Wissenschaft versteht. Die wissenschaftlichen Rahmensetzungen bedingen daher die technische Zugangsweise. Heidegger bezieht sich demgegenüber auf die Dimensionen, die in Sein und Zeit als das originäre pragmahafte Weltverhältnis verstanden worden waren, und er fragt nach der Umgangsdimension der Wissenschaft. Die seinshafte Dimension wird in dem Passus ›Überwindung der Metaphysik‹ eigens reflektiert, der mit der Idee eines Endes der Metaphysik und, damit verbunden, eines nachmetaphysischen Denkens verknüpft wird. Die Ausarbeitung wird, im Drucknachweis, auf Konvolute Heideggers zurückgeführt, die zwischen 1956 und 1964 entstanden seien. 149 Die Klärung der Beiträge kann also in den Ausarbeitungen zur Technik bereits vorausgesetzt werden, was Heidegger durch einige wenige Markierungen verdeutlicht: eine besonders herausgehobene zielt auf die ›Erkenntnistheorie‹ als die auf »Wahrheit und Gewißheit des sichernden Vorstellens gegründete Metaphysik und Ontologie« (71). Heidegger notiert dabei, dass Metaphysik, die zuletzt durch Hegel zu einer grundsätzlichen und durchgreifenden Auffassung der Wirklichkeit geformt wurde, »in allen ihren Gestalten und geschichtlichen Stufen 148 Vgl. Cai Werntgen, Kehren, a. a. O., Siehe auch Der Ursprung des Kunstwerkes, a. a. O., S. 43 ff. 149 Vgl. dazu auch die Aufzeichnungen Heidegger GA 76. Heidegger, Leitgedanken zur Entstehung der Metaphysik. Hg. von C. Strube. Frankfurt/Main 2009.
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ein einziges, aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes« sei (73). Neben Hegel wird reliefartig und prägnant Nietzsches letzte Metaphysik des »Willens zur Macht« expliziert: Wille und Macht benennen unterschiedliche Seiten ein und desselben Vorganges, in dem Leben und Lebenserhöhung der Inbegriff von Wirklichkeit ist. Die Notizen verweisen auf einen zentralen Topos der Seinsgeschichte, den Weseswandel der Wahrheit. Er wird in dem vielstimmigen Gefüge der Metaphysik erkennbar. Mit starken, eschatologischen Bildern wird die Letztstellung der Technik markiert. In ihr komme der gegenwärtige Weltzustand in seine letzte Manifestation, von Heidegger zurückgeführt auf die Finalität des sich selbst steigernden und damit zur Selbstermächtigung führenden Selbstbewusstseins, das der Welt eine Herrschaft aufnötige, aus der es »metaphysisch kein Entrinnen gibt« (94). Den seinsgeschichtlichen Irrstern, als der die Erde mittlerweile zu deuten sei, führt Heidegger mithin auf die Trias der Ermächtigung zurück, die in der ›Subjektivität‹ der Hegel’schen Logik, der ›Subjektität‹ des in sich kreisenden ›Willens zur Macht‹ und schließlich der Manifestation in der neuzeitlichen Technik kulminiere. Die Bifurkation der existentia- und der essentia des Seienden im Ganzen, des Was- und Dass-Seins, eine Unterscheidung, die für die Nietzsche-Vorlesung besonders wichtig gewesen war, schimmert auch hier auf. Doch führt Heidegger das Grundverhältnis auf eine Vereindeutigung zuurück: In der neuzeitlichen Metaphysik ist, nach Heideggers Einsicht, fast ausschließlich von der essentia die Rede, die existentia (72) erweist sich als verborgener, entzogener Grund. Wie im Blick auf die Nietzsche-Vorlesungen zu sehen war (Dritter Teil, Kapitel 21), verschob sich im Verlauf der Vorlesung die Nietzsche-Deutung. Nietzsches Anklang an den frühgriechisch vorsokratischen Anfang des Denkens, der die ersten Kollegs bestimmt hatte, sah Heidegger als eine in die tragische Erfahrung, aber gerade nicht in die frühe Erfahrung des Seins und des Aufgehens der phýsis leitende Spur. Heideggers Deutung hat seinerzeit bereits eine eindeutige Tendenz: Nietzsche nähere sich genetisch dem Abgrund des ersten Anfangs, doch der zweite, andere Anfang bleibt unerreichbar. Die Selbstermächtigung des Übermenschen und des Willens zur Macht mit der Nähe zum Jünger’schen Mythologem des ›Arbeiters‹ und der Verweigerung der Metaphysik überlagerten zunehmend seine Nietzsche-Deutung. In der späten Nietzsche-Auseinandersetzung der Vorträge und Aufsätze tritt aber ein Motiv zutage, das Heidegger zuvor 340
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nicht in ähnlicher Weise bestimmt hatte: der Schmerz als Haltung in der ausgehenden Metaphysik. Das Symptom des Schmerzes (griechisch: algos) verbindet sich ihm mit der »Not der Notlosigkeit« und der Verdrängung oder Verschiebung ins Empfindungslose. Nietzsches Denkweg durchlebten und erfahrenen Schmerzes steht dabei im Hintergrund, vor allem die Vorstellung des Heimweh-Schmerzes, der Nostalgie. Der Zarathustra-Text, der in die Vorträge und Aufsätze aufgenommen wurde, weist vor allem auf den Rang der ewigen Wiederkehr als Nietzsches abgründlichstem Gedanken hin und interpretiert in diesem Zusammenhang wie in einem Fokus den Abschnitt ›Vom Gesicht und Räthsel‹. 150 Der schwerste Gedanke erschließt sich in seiner authentischen Form überhaupt erst, wenn er ausgesprochen und in Handlung überführt ist. Dass er gelingt, hängt von der Fähigkeit ab, ihm standzuhalten. Den beiden Tieren, Adler und Schlange, die ihn zunächst aussprechen, ist diese Performanz nicht eo ipso gegeben. Heidegger deutet Nietzsches Zarathustra und die Denkbewegungen im Umkreis der Dichtung also als Annäherung an den schwersten Gedanken, der zu einer Einwilligung ins eigene Schicksal werden und sich so mit dem Topos des »amor fati« verbinden soll. Wiederkehr und Wiederholung sind Denkfiguren, die auch im Verhältnis zum anderen Anfang eine Rolle spielen. Dennoch markiert Heidegger deutlich die Unterscheidung zum Nietzsche’schen Denkansatz. Heideggers Überlegung zufolge kommt es auf die Konsequenz an, dass der ›andere Anfang‹ seinem Selbstverständnis nach nicht dionysisch und auch nicht einfach ›tragisch‹ aufgefasst werden soll, in dem Sinn, in dem Nietzsche den ersten Anfang frühgriechischer Philosophie exponierte: »Dass Nietzsche seinen abgründlichsten Gedanken vom Dionysischen her deutete und erfährt, spricht nur dafür, daß er ihn noch metaphysisch und nur so denken mußte. Es spricht aber nicht dagegen, daß dieser abgründlichste Gedanke etwas Ungedachtes verbirgt, was sich dem metaphysischen Denken zugleich verschließt« (122). 151 Der Anfang der Wahrheit des Seins ist in beiden
150 Nietzsche, KSA 4, S. 197 ff. Siehe dazu durchgehend M. Heidegger, »Wer ist Nietzsches Zarathustra?«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 97 ff. 151 Diesen Faden nimmt die Vorlesung: Was heißt denken? wieder auf. Vgl. im Sinn einer propositional ausgearbeiteten Untersuchung des Gesamtraums des Denkens P. Stekeler-Weithofer, Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes. Tübingen 2012, S. 54 ff.
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Formen nicht aufzufinden, scheint Heidegger zu dekretieren. Doch wie und aus welchem Horizont spielt er sich dann zu? Eine verknappte Fassung von Was heißt denken? schließt sich an den Zarathustra-Traktat an: In diesem Text fällt die Aussage, »daß die Wissenschaft nicht denkt« (127), wodurch auf die unüberbrückbare Differenz zwischen Wissenschaft und Denken hingewiesen werden soll. An dieser Stelle kommen, in einer Tektonik zwischen Hölderlins Sokrates und Alkibiades und dem onto-logischen Grundwort des Parmenides Akzentuierungen zum Tragen, die Heidegger bereits in seinen Vorlesungen der vierziger Jahre vorbereitet hatte: etwa, dass es das Bedenklichste dieser Zeit sei, dass »wir noch nicht denken« (124), was mit Hölderlins ›Mnemosyne‹ darauf bezogen wird, dass das zudenkende sich in seinen verborgenen Grund entzieht. Philosophie, die in dieser positivistischen ›Not der Notlosigkeit‹ angekommen sei, suggeriere gerade bei den wesentlichen Fragen, es gebe überhaupt nichts zu fragen. Darin zeige sich ihre Seinsvergessenheit und die innere Spannung zwischen Philosophie und Denken: Denken beruhe in einem ›Vernehmen‹ und entfalte sich als Vorstellen, als Re-präsentation; was darauf bezogen sei, dass im ganzen ersten Anfang abendländischen Denkens Sein als Präsenz erscheine, als Anwesenheit, deren Herkunft nicht erfragt werde. »Im Sein, das als Anwesen erschienen ist, bleibt jedoch die darin waltende Unverborgenheit auf die gleiche Weise ungedacht wie das darin waltende Wesen von Gegenwart und Zeit« (137). Die Präsenz werde so selbst zu einem Geheimnis: Wenn in den seinsgeschichtlichen Abhandlungen die Verborgenheit im Zug der Lichtung in den Blick kommt, so artikuliert sich nun das gnoseologisch Verborgene, das Geheimnis der Lichtung selbst. Eng damit hängt der Vortrag Bauen – Wohnen – Denken zusammen, in dem die pragmahafte (auf den Umgang mit Sachverhalten bezogene) Umgangsdimension des Werks aus der Kunstwerk-Abhandlung wiederaufscheint und das Bauen als »eigentliches Wohnen« (142), als »Weise«, in der die Sterblichen auf der Erde sind und als »Aufenthalt bei den Dingen« (143) exponiert wird. Bauen bedeutet, so formulieren es Heideggers dichte Beschreibungen, die ›Sammlung‹ einer Landschaft an einem Ort. Orte ermöglichen aber »eine Stätte« (149), sie leisten ein Hervorbringen, in dem das Seiende in eine endliche Anwesenheit gebracht werden kann. Das Epitheton ›endlich‹ wird dabei besonders hervorgehoben, weil die Sammlung Antidotum des machenschaftlichen Gestells ist, ebenso aber Gegenbild zu einer der Zeitlichkeit vermeintlich überlegenen, sie tilgenden Seinspräsenz 342
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in der Aufeinanderfolge der eidetischen Bestimmungen der Seiendheit des Seienden in der Philosophie seit Parmenides und Platon. Endlichkeit bedeutet, dass das Seinsverständnis phänomenal an einzelnen Dingen und ihren Zusammenhängen aufgeht, aber in die Verborgenheit der Lethe zurückverweist. Dies entfaltet die ›Ding‹-Abhandlung aus derselben Zeit: Ein alter Krug, an dem unter anderem auch Bloch und Adorno ihre Interpretationskunst erprobten, 152 ist ein Ding in eminentem Sinn, an dem je spezifisch Welt und Erde, also die Eröffnung und das Sich-Verschließen aufgehen und in eine Fügung kommen. Das Ding wird insofern zum Ort, an dem sich Sein selbst mitteilt. Vorderhand ist es freilich der ganz und gar konkrete Guss, das Ausfließen der Flüssigkeit aus dem Gefäß, worin das Ding sich als Ort ausweist. Es geht um hermetische Vollzüge und Implikationen des Dings, hinter denen das in der Welt seiende Dasein und erst recht die Subjektivität, die den Phänomenzusammenhang konstituiert, deutlich zurücktritt. In Heideggers spätem Denken der Gelassenheit, einer minimalistischen Selbstbegrenzung, tritt das Ding-Phänomen prominent in den Vordergrund. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass der Kantische und Husserl’sche Ding-Begriff so gut wie unkenntlich gemacht, die evokative, fast beschwörende Rede vom ›Ding‹ anleiten und begleiten; auch wenn Heidegger sie nicht mehr theoretisch expliziert. Stattdessen evoziert er die Nähe von ›Ding‹ und ›gering‹, und gibt eine aphoristisch-gnomische Topologie des jeweiligen ›Dingens‹, die in ihrer hermetischen Künstlichkeit je nach Belieben »mystisch« oder »dadaistisch« genannt werden können: »Ding ist aber auch nach seiner Weise der Baum und der Teich, der Bach und der Berg. Dinge sind, je weilig in ihrer Weise dingend, Reiher und Reh, Pferd und Stier« (175). In einem Brief an den damals jungen Hartmut Buchner, der sich ein Leben lang mit dem späten Heidegger befassen sollte 153 und der dies in einer Affinität zur japanischen Philosophie, in einer zumindest ebenso meditativen wie philosophischen Diktion tat, gibt Heidegger Einblick in die verhaltene und ins Geringe gehende Linie dieses späten Denkens. Er beschreibt zunächst eine Gleichzeitigkeit des Frühen 152 Vgl. Theodor W. Adorno, »Henkel, Krug und frühe Erfahrung«, in: ders., Noten zur Literatur. Frankfurt/Main 2003, S. 556 ff. 153 H. Buchner, Japan und Heidegger – Heidegger und Japan. Vorläufiges zum westöstlichen Gespräch. Nordhausen 2013.
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und Späten, das – verwandelte – »Wesen« der aletheia. Dann notiert er aber auch einen als konstitutiv eingesehenen Mangel jenes Denkens und teilt dem jungen emphatischen Studenten in erstaunlicher Offenheit seine Selbstzweifel mit: Es sei »vielleicht doch ein unumgänglicher Weg, der kein Heilsweg sein will und keine neue Weisheit bringt. Der Weg ist höchstens ein Feldweg […]« (178). »Alles liegt an dem sehr irrevollen Schritt zurück in das Bedenken, das auf die im Geschick des Seins sich vorzeichnende Kehre der Vergessenheit des Seins achtet« (ibid.). Die Kritiker an Heideggers Spätphilosophie haben die tiefschürfende Selbstkritik übersehen, die das »prüfend hörende Entsprechen« ins Zentrum rückt und sich sehr bewusst ist, dass der Weg »immer in der Gefahr« sei, »Irrweg zu werden« (179). Sie übersehen bis heute weitgehend jene Signale, die sich von der Formulierung »Wege nicht Werke« als Leit-Titel der Gesamtausgabe bis in den Gestus der Spätphilosophie hinein fortsetzten (Fünfter Teil. 23). Die Sammlung Vorträge und Aufsätze etabliert eine Schrittfolge des Zurückhaltenden, Gelassenen, die an Heideggers spätestem Altersstil auffällt. Die Invention der seinsgeschichtlichen ›Kehre‹ kann in den Mitteilungen jener Sammlung vorausgesetzt werden. Sie muss sich nun nicht mehr eruptiv oder Gewalt brauchend in Szene setzen. Heidegger vermag es, die tastenden Entsprechungen in einer sehr zurückgenommenen Weise zu fassen. Eine ideologiekritische Lesart könnte Heidegger auch in diesem neuen Gestus haftbar machen und darin eine charakteristische Variante einer Geste sehen, die bei verschiedenen Autoren in den fünfziger Jahren auftrat und den Umbruch von der Revolution zur Gelassenheit beschreibt. 154 Gerade bei Ernst Jünger kann man dies erkennen. Doch die Denkhaltung, die Heidegger hier einnimmt, entzieht sich so weit in die Haltung eines Denkens jenseits der Wegbahnen der Philosophie, dass es zumindest eine Verkürzung, wenn nicht eine vollständige Verzeichnung wäre, wenn man ihn in diesem Gelände sehen würde. Durch einen Dreiklang wird der Band der Vorträge und Aufsätze abgeschlossen: Zunächst zeigt sich der Rückgriff auf Hölderlins Zeile »… voll Verdienst doch dichterisch wohnet der Mensch«, worin das Dichten auf das Grundphänomen des Wohnen entfaltet und die im
154 Vgl. nochmals die eher vordergründige Kartographie bei Morat, Von der Tat zur Gelassenheit, a. a. O.
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Zusammenhang von Humanismusbrief und Frage nach der Ethik wachgerufene Problematik wiederholt wird: »Gibt es auf Erden ein Maß?«, was Heidegger mit dem Hinweis beantwortet, dass es dieses Maß als dauerndes und normativ gesichertes eben nicht gebe; weil der Habitus des Wohnens und Bauens je vollzogen werden muss, damit man überhaupt im emphatischen Sinn von einem Wohnen auf der Erde sprechen kann. 155 Insbesondere ist es der zweifache Beginn des ersten Anfangs, die Spannung zwischen Parmenides und Heraklit, die in die Vorträge und Aufsätze eingeht: Damit wird die Quintessenz eingehender Vorlesungen gezogen. Mitgeteilt wird daher in den Vorträgen und Aufsätzen die grundlegende Interpretation des Heraklit-Fragmentes 50 vom lógos, den Heidegger als »Versammlung« und »Lesen«, abbreviativ als »legende Lese« versteht und in dem das ›Hören‹, die später von Manfred Riedel als akroamatische Dimension der Hermeneutik exponierte Dimension eine entscheidende Rolle spielt. 156 Parmenides’ Aussage der Selbigkeit von Denken und Sein schließt Heidegger in seiner Auslegung an. Heidegger verstand sie seit den späten dreißiger und vierziger Jahren als Grundwort der Metaphysik. Zunehmend fasst er sie nun als eine Art Brücke in den anderen Anfang auf, als einen Zusammenklang der Urstiftung des ersten Anfangs mit dem noch nicht entwickelten Anderen Anfang des Seinsdenkens, der keine weiteren Begründungen erfordert, benötigt oder erlaubt. Dieser Anfang grenzt in philosophischer Weise an den Mythos. Die mythischen Gestalten remythologisiert Heidegger aber nicht, so wie dies Nietzsche tut. Er deutet sie vielmehr als Grundphänomene des Seins. So betont er, dass die Moira (DK VIII 39 ff.) das Sein in seiner Anwesenheit als idea und eidos fasst, zugleich aber seinen aletheischen Grundzug im Verborgenen belässt. Heraklits Fragment 16 wiederum bezieht in Heideggers Deutung indirekt den Ursinn von Wahrheit (aletheia) auf ein Aufgehen, das nicht untergeht. Heidegger komplettiert diese Einsichten mit anderen Herakliti-
155 Diesen Faden nahm Werner Marx auf: Gibt es auf Erden ein Mass? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik, Hamburg 1983, S. 10 ff., auch er ein jüdischer, in die Emigration gezwungener Schüler Martin Heideggers, der nach der Vertretung durch W. Szilasi der legitime Nachfolger auf Heideggers Freiburger Lehrstuhl werden sollte. 156 M. Riedel, Hören auf die Sprache, a. a. O., S. 23 ff.
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schen Grundworten, die Rätselsprüche sind (gnomai). 157 Auffällig für jeden Leser, der von Sein und Zeit her sich dem späten Denken näherte, ohne die Auslegungswege der Freiburger Vorlesungen in den vierziger Jahren zu kennen, ist der Umstand, dass bei Heidegger nun jede eigene Kategorienbildung ganz und gar hinter die Topoi des ungehobenen Anfangs zurücktritt. Das vorsokratische Denken gewinnt daher eine ähnlich Maßstab setzende Kraft wie die Grundworte aus den späten Hymnen des »denkenden Dichters« Hölderlin. Sie sind Präfigurationen des Denkens, das ihnen zu folgen hat. Programmatisch kann man gerade in den Vorträgen und Aufsätzen das Stadium eines »Denkens« erkennen, das nach dem Ende der Philosophie erst einsetzt. Produktiv werden konnte dieser Weg bei Heidegger selbst im Ethos eines ›endenden‹, ›aufhörenden‹ Denkens, das er vom ›Verenden‹, dem behaupteten Obsoletwerden der zu Ende gehenden Wegbahnen der Metaphysik unterschied: die Beiträge zur Philosophie und andere große Nachlasstexte umkreisten diesen Bruch. 158 Nach dem Ende der Metaphysik zeichnet sich eine nicht abgegoltene Sache des Denkens ab, die lebendig bleibt: Auch nach Heidegger wurde diese Denkbewegung in Tendenzen fruchtbar, die die für Heidegger konstitutive Anfangs- und Ursprungsfrage gerade außer Kraft setzten. Insbesondere zeigt sich dies bei Derrida, dem, wenn er aus der kulturtheoretischen Leichtfertigkeit seiner Mainstream-Rezeption gelöst wird, das denkwürdige Verdienst zukommt, auf einen Punkt jenseits der Unterscheidung von Metaphysik und Nicht-Metaphysik gezielt zu haben. 159 An dieser Stelle ist daher die nicht weiter überraschende Diagnose angezeigt, dass die Philosophie der Dekonstruktion vieles, wenn nicht alles Heideggers Abarbeitung am Wesen der Metaphysik verdankt. Doch ist große Zurückhaltung angezeigt, was die Notwendigkeit oder auch nur die Berechtigung betrifft, über die Reflexionswege der Philosophie hinauszugehen. Nur bedingt sind ins Anekdotische verweisende Aussagen wie die von Gadamer berichtete Aussage philosophisch belastbar, Nietzsche habe heidegger »kaputtgemacht«. Als Schattenriss und Frage können sie aber fruchtbar gemacht werden. So kann man darin immerhin Heideggers Tendenz erkennen, zu fragen, wie es gewesen wäre, wenn 157 Siehe auch Heidegger, Eugen Fink, Heraklit. Seminar Wintersemester 1966/67. Frankfurt/Main 32014. 158 Vgl. dazu weier oben Zweiter Teil, VI. 159 Dazu wieder Schülein, Metaphysik und ihre Kritik, a. a. O., S. 54 ff.
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er auf dem Weg zum anderen Anfang nicht einer Nietzscheschen Apokalyptik begegnet wäre. Wäre der andere Anfang in der phänomenologischen und begrifflichen Schrittfolge beschreibbar, die Sein und Zeit leitete? Wäre das zu Denkende dann weniger grundlegend und radikal in den Blick genommen worden, wenn der Abschied von der überlieferten Metaphysik nicht vollzogen worden wäre? Oder könnte es in einer Weise transparent werden, die letztlich einen Gewinn bedeutete: weil sie sich von Apokalypse und Soteriologie gleichermaßen entfernt verhielte.
24. Hörende Vorbereitung auf die Sprache des Seins: Hölderlins Dichtung Das Denken des Seins entwickelt in der Aufeinanderfolge von Heidegger’schen Hölderlin-Deutungen eine Durchsichtigkeit, die Heideggers eigene Grundbegriffe des anderen Anfangs erweitert und bildhaft fundiert. Die Emphase auf dem dichterischen Wort lässt Philosophie zu einem Zweiten werden, das das Phänomen der Dichtung voraussetzt. Sie ist allerdings mehr als Deutung und Interpretation. Am ehesten ist sie selbst Entsprechung, Analogie oder Übersetzung. Lehre ist, wie gerade jüdisches Denken evozierte, Lesen. 160 Ein Punkt, an dem die Affinität zu Heidegger unübersehbar ist. Die Maxime des Zwiegesprächs, der Heidegger folgt, das »Gedichtete denken« (12), verlangt, es nicht in Philosophie zu verwandeln, sondern in seinem So-sein, dem epitaktisch poetischen Wortcharakter sein zu lassen. Frei von prekären Drohungen einer metabasis eis allo genos ist diese Vorgehensweise nicht; wobei es ähnliche Peinlichkeiten sind, wie sie Heidegger auch auf sich zieht, wenn er der Maxime folgt, der Anfang sei griechisch zu denken. Andere philosophische Hölderlin-Interpretationen, namentlich jene von Dieter Henrich, haben implizit der freischwebenden Positionierung Hölderlins fernab von seiner Epochenzugehörigkeit widersprochen und ihn im Horizont der zeitgenössischen nachkantischen Systemanstrengungen und von Hölderlins eigenen Beiträgen zu der Ideengeschichte seiner Zeit interpretiert. 161 Dieser Blick war überfällig und 160 Vgl. zu dieser Hermeneutik des Skripturalen und damit entzogenen J. Derrida, Worte drehen. Übers. Hans-Dieter Gondek, R. Berlin 2015. 161 Siehe auch D. Henrich, Der Gang des Andenkens. Stuttgart 1986. Die Crux der
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rückte Hölderlin in die Konstellationen ein, aus denen sein Denken genealogisch hervorgeht. Heidegger greift auf die philosophische Annäherung an die »ekzentrische Bahn« allenfalls im Licht indirekter Briefzitate zurück; und Hölderlins 1962 von Friedrich Beißner erstmals ediertes Fragment Über Urteil und Sein, 162 an das sich eine wirkmächtige Überlieferung anschloss, hat er selbst nicht mehr interpretiert. Man kann darin eine Verkennung und Verdrängung der realen und argumentativen Verhältnisse Hölderlins sehen. Verfehlt ist ein solcher kritischer Blick auf Heideggers Hölderlin nicht. Eine wohlwollende Interpretation ist allerdings auch fruchtbar zu machen. In der ›Andenken‹-Hymne eröffnet sich für Heideggers ›Denken der Dichtung‹ dagegen ein Prospekt, der in der ersten Strophe von den Grundphänomenen von Gruß und Gunst ausgeht: eine Seinserfahrung, auf die sich die Dichtung sein lassend bezieht. Anschließend an den Fortgang der Bewegung des Andenkens evoziert Heidegger die Topologie des ›Festes‹ in Hölderlins Dichtung; als Manifestationen einer Zueignung »zum Ungewöhnlichen« (74), aber auch als ausgleichende Zeit (Weile), in der die Fügung des Schicksals sich ereignet und die zuletzt Vorspiel des entzogenen Heiligen ist (96). Wiederholt verwahrt sich die Deutung gegen naheliegende Anklänge, die das Gemeinte gerade nicht treffen würden wie etwa das falsche Pathos einer »vaterländischen Wendung« in der NS-Ideologie. Als eine bei Hölderlin »verhüllte Wahrheit« fasst Heidegger den Übergang auf, der aus dem griechischen Anfang in ein Künftiges ziele, wobei der Kontrapunkt von Menschen und Göttern, Irdischen und Sterblichen zu einem Grundphänomen der Hölderlin’schen Dichtung wird (92 ff.). Später wird er diese Struktur als ›Geviert‹ explizieren. 163 Unverkennbar liest Heidegger gerade Hölderlin die innere Spannung von Verweigerung, Entzogensein und Ankommen ab, die in seinem eigenen Seinsdenken variiert wird. Er instrumentiert damit eine zeitlose Schwebelage Hölderlins zwischen später Moderne und griechischer Antike. Die epochale ›Querelle des anciens et des modernes‹ wird auf das Heidegger’schen Deutung ist, dass Hölderlin weitgehend aus den Bezugnahmen der nachkantischen Dichtung und erst Philosophie seiner Zeit herausgelöst wird. 162 Dazu nochmals der magistrale Kommentar von D. Henrich, Der Grund im Bewusstsein, a. a. O., S. 523 ff. 163 Über das Spiegel-spiel des Geviert vgl. Heidegger, »Das Ding«, in: Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 157 ff., siehe weiter unten Fünfter Teil, 30.
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Verhältnis von Mensch und Sein hin weitergeführt, weshalb in der ›Andenken‹-Vorlesung das Pindarische Motiv vom Menschen als dem »Traum eines Schattens« (112) in Hölderlins philosophische Abhandlung Das Werden im Vergehen gespiegelt wird (119); eine modale Überlegung des Verhältnisses von Sein und Nichtsein, die für Heideggers eigene Exposition der Seinsstruktur als ›Zerklüftung‹ von größter Bedeutung sein sollte. Heidegger fokussiert dies auf die Zeilen: »[im] Zustande zwischen Seyn und Nichtseyn wird aber überall das Mögliche real, und das wirkliche ideal, und dies ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer und göttlicher Traum« (120). Die Bildsprache Hölderlin’scher Dichtung und die modaltheoretische Begrifflichkeit gehen an den Bruchstellen von Denken und Dichten ineinander über. Eine weitere, in Hölderlins ›harter‹ an Pindar orientierter hymnischer Fügung wiederkehrende phänomenale Grundbewegung zeigt sich in der Konfrontation des »Eigenen und Fremden«, nach Hölderlin von Griechenland und Hesperien, das Heidegger als einen Übergang und ein Über-setzen versteht (128), so, dass das Heimische verlassen werden muss, dass sich aber als das Schwerste erweist, aus der Fremde wieder im Heimischen heimisch zu werden. Mit Hölderlin verdeutlicht Heidegger, dass es sich nicht um ein Nationales, chauvinistisch Eigenes handeln kann, sondern nur um ein ›Nationelles‹, das nur in der Fragebewegung überhaupt darzustellen ist. ›Feuer vom Himmel‹ als Eigenes der Griechen und die ›plastische Kraft‹ Hesperiens bilden in der Heidegger’schen Topologie zugleich die innere Struktur der ›Querelle‹ zwischen der vorsokratischen Antike und der eigenen Spätzeit. Darin zeigt sich die Grundform einer Entgegnung zwischen dem Eigenen und dem Anderen seiner selbst. Wie das Eine zum anderen komme, erschließt sich aus der Hölderlin-Topologie wie in einem Grundriss von Übersetzung, der die assoziative Evokation zum Über-setzen an ein anderes Ufer mitschwingen lässt. Vorausgesetzt ist dabei die Exzentrizität und Exteritorialität, die Heidegger als Rückkehr in ein »jahrlanges Lernen« des Fremden und »tapferes Vergessen« jenes Eigenen umschreibt. Die Mehrdeutigkeit der Bildrede setzt sich in ihrer phänomenologischen Bestimmung fort. Man kann sie auf einer Ebene als Absage an ein ontisches Identitätskonzept verstehen, das sich in den ontologischen Strukturen des Seinsdenkens als Absehen von der Eigenheit verdichtet. Damit ergibt sich ein Anspruch des Seinsdenkens, dem keineswegs alle Aussagen Heideggers angemessen Rechnung trugen. 349
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Sowohl das ›Heilige‹ wie das evozierte Vaterland sind nur in einer annähernden Suchbewegung zu denken. »Dichten und Denken ist das eigentliche Suchen. Solches Suchen ist Fragen. Der Dichter kann das Heilige nicht wie einen Knochen feststellen, er muß das Heilige selbst fragen« (134). Denken wird mit der Andenken-Hymne ein Andenken, das auf die Medialität eines ›es denket mir‹ bezogen wird und nicht auf den Cartesischen Zugriff des ›Ich denke‹. In diesem Sinn heißt es in der Hymne assoziierend: »Nun denket das mir wohl«. Die Schlussgnome: »Was bleibet aber stiften die Dichter« trägt, wie Dieter Henrich nachdrücklicher als Heidegger gezeigt hat, die ›Andenken‹-Hymne insgesamt. 164 Nach Heideggers Verständnis ist dabei auf das »Wesen der kommenden Dichter« verwiesen, die noch stärker als Hölderlin selbst den »reinentsprungenen Anfang«, die Quelle, erfassen würden. In der ›Andenken‹-Hymne und in den Stromhymnen Hölderlins ist vom scheinbar »rückwärts gehenden« Strom die Rede, was Heidegger als »Ahnung des verborgenen Wesens des Anfangs und der Geschichte« denkt, als eine Art Hemmung und Widerstand, die der Anfang den verschiedenen möglichen Fortgängen entgegensetzt (186). Ströme werden in Heideggers Interpretation der großen Hölderlin’schen Stromhymnen als Anzeigen der Topologie und Sammlung von Landschaften verstanden. Ströme verbinden Quelle und Meer, damit sind sie beiden verwandt, was Heidegger in die identifikationslogische und metaphorische Aussage bündelt: »Der Strom ist die Quelle und ist das Meer« (186). * Schon Heideggers erste Hölderin-Vorlesung aus den Jahren 1934/35 interpretiert die großen Späthymnen Germanien und Der Rhein. Sie hatte biographisch wohl die Funktion einer Rückbesinnung nach den Verwicklungen des Rektorats und dem offensichtlichen Niveauverlust in dieser Zeit (vgl. IV, 20 und 27). Begleitet wird die Auslegung der Germanien-Hymne von grundsätzlichen, weit in Heideggers Spätwerk voraus verweisenden Überlegungen über das Wesen der Sprache, die Grundzüge seines späteren Sprachdenkens erkennen lassen. Sprache verweist in das Zentrum des inneren Bezugs zwischen 164
Henrich, Der Gang des Andenkens, a. a. O., S. 123 ff.
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Göttern und Menschen, Hölderlin gilt sie in einer nachgelassenen Bemerkung als »der Götter Gefährlichstes« (39. 59 f.), worin der weitere Topos anklingt, dass der Mensch »kraft der Sprache Zeuge des Seins« ist (39. 62). Diese Zeugenschaft üben die Götter nicht aus, da sie nicht im Nacheinander von Worten artikulieren und endliche Seinserfahrungen nicht deuten müssen. Auch die Beseeltheit, Signum der Endlichkeit, kennen sie nicht. Zugleich könne nach Hölderlin die Sprache immer wieder in »Gerede« zerfasern. Sie erweist sich als »Schutz des Menschen gegen den Gott« (66), sie ist Voraussetzung einer Deutbarkeit und Distanznahme, wie Heidegger in Bezug auf eine, an besagter Stelle nicht genannte Überlegung aus der ›Antigonä‹-Dichtung des Sophokles bemerkt. Sprache wird dabei wesentlich aus einer dyadischen Verfassung der Sprache auf mehreren Ebenen verstanden, von Sprechen und Hören; sie wird aber auch als Charaker des Gesprächs aufgefasst, das in Verstummen zurückgehen, aber auch die Ewigkeitsmacht des Gesangs gewinnen kann: »… Seit ein Gespräch wir sind/Und hören können voneinander«. 165 Gefährlich ist die Sprache auch dadurch, dass sich Menschen in ihr gegenüber den Göttern artikulieren können. Erst in der Sprache, also dem endlichen Artikulationsraum, können Sein oder Nichtsein unterschieden werden. Im Kern formuliert Heidegger vor diesem Hintergrund bereits sein Sprachdenken der Nachkriegszeit, wenn er notiert, dass »Sprache« das Dasein des Menschen trage und bestimme, weshalb sie nichts sei, »was der Mensch hat, sondern umgekehrt Jenes, was den Menschen hat« (74) und was er daher ist. Vor solchen Überlegungen, die von der Sprache als eigentlichem Selbstverhältnis ausgehen, wäre eine dialogische Dimension der Sprache exponierbar und eine Anknüpfung an die personalistisch-dialogische Philosophie, etwa an Max Scheler, möglich gewesen. Heidegger folgte dieser Linie aber nicht konsequent. Er geht vielmehr der ›Grundstimmung‹ nach, die er in der Germanien-Hymne durch Sprache eröffnet sieht: als Anzeige eines interimistischen Zustandes der Götterlosigkeit. Heidegger umschreibt sie mit Hölderlin als »Mittrauern«, das den Menschen mit der Erde und ihren Strömen verbinde, als gleichermaßen »trauernden Verzicht« auf die Götter und als Bewahrung ihrer Göttlichkeit (95, 97). Wo die Götter nicht mehr sind, geht es um ein 165 Hölderlin, »Friedensfeier«, in: F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hgg. von M. Knaup. München 1992, Band I, S. 355 ff. Heidegger entwickelt demgegenüber im Seinsdenken selbst eher ein monologisches Grundverhältnis.
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Standhalten in dem endlichen Zwischen, das Heidegger mit den exemplarischen Heraklitischen Fragmenten vom Widerstreit, dem Polemos, und der palintropos harmonia von Bogen und Leier anzeigt; 166 womit die wechselweise Erhellung Hölderlin’scher Dichtung und frühgriechischen Denkens ein weiteres Mal eingeholt wird. Den Entwurf der Dichtung macht Heidegger auch geltend, wo es um die Gewinnung eines ›Wir‹, um Stiftung von Gemeinschaft geht. Seinerzeit 1934/35 ist noch unverkennbar Konzeption des ›Vaterlandes‹ und eines homogenen ›Volks‹ leitend. Die Abhandlungen Hölderlins über den ›Untergang des Vaterlandes‹ und den Zusammenhang von Möglichkeit und Wirklichkeit, Werden und Vergehen dienen der Selbstverständigung und wohl auch einer impliziten Katharsis (122 f.). Dieser Ansatz ist noch längst nicht in die Form einer Phänomenologie der Dichtung gebracht, wie Heidegger ihn dann in der Auslegung der ›Andenken‹-Hymne explizieren wird. Doch unverkennbar ist eine Distanznahme, zugleich aber zerrissene Ambivalenz zur eigenen Zeitgenossenschaft. Sie zeigt sich freilich zugegebenermaßen eher als Absicht denn als überzeugende Realisierung. Heidegger versteht Hölderlins Rede vom ›Vaterland‹ als Indiz einer »Innigkeit« und als »geschichtliches Seyn eines Volkes« (120). Er erläutert, das »geschichtliche Volk« müsse »dichterisch gestiftet, denkerisch gefügt und ins Wissen gestellt und in der Täterschaft des Staatsgründers der Erde und dem geschichtlichen Raum verwurzelt [werden]« (120). Schwer erträgliche Verwechselbarkeiten mit dem NS-Jargon, die auch die Grundstimmungsanalyse noch begleiten: zumal die Rede vom Staat und seiner Gründung nicht normativ oder ethisch geklärt ist. Zugleich sind Tendenzen einer ›Verwindung‹ zu ahnen, indem auch hier bereits vom Eigenen und Fremden die Rede ist und die »metaphysische Not des Abendlandes« (134) als Topos ausgelotet wird. In geschichtlicher Perspektive deutet Heidegger an, dass das Verhältnis von Hellas und Hesperien vor allem ein Problem der Deutschen sei: Die Differenz zwischen ›Plastischer Kraft‹, dem späten europäischen Ethos, und dem griechischen ›Feuer vom Himmel‹ wird damit als durchgängiges Strukturprinzip deutlich: Geht es doch, Heideggers Hölderlin-Deutung zufolge, in der Sinndimension der palintonos harmonia Heraklits um die Innigkeit im Widerstreit, einen 166
Vgl. zu Heideggers Heraklit-Interpretation Dritter Teil, Kap. 25.
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Hörende Vorbereitung auf die Sprache des Seins: Hölderlins Dichtung
Riss, wie er zwischen den ›beseelten‹ und damit leidensfähigen Halbgöttern einerseits und den seligen Göttern, die jenes Leiden nicht kennen, andererseits Gestalt gewinnt. Die Aufmerksamkeit, die Heidegger der Not des Übersetzens widmet, bildet in der ersten Hölderlin-Vorlesung ein Gegengewicht gegen die totalitären Ideologien gegenüber empfängliche Staatsmetaphysik. Übersetzung ist für Heidegger das eigentliche Wesen von Sprache. Es gelte das »Zeichen deutungslos« (Mnemosyne IV) des Anfangs in eine gedeutete Zeichenlehre zu übersetzen. Die Erwartung, dass in einem verfehlten Eigenen Eigenes und Fremdes dauerhaft verfehlt wird, wird von Heidegger nur am Rand thematisiert. Und man wird kritisch anmerken können, dass Heidegger die erforderliche Übersetzung auch selbst nicht leistet. Die Mehrdeutigkeit der dichterischen Vorgaben Hölderlins wird in der ersten Vorlesung nur metaphorisch wiederholt: Ist jenes ›Vaterland‹ Deutschland, und in welcher Lesart? Ist es ein »inneres Vaterland« des Aufenthaltes im Eigenen, den es zu entzentrieren gilt? Geht es um das Eigene Hölderlins, wie es sich in den Jahren um 1800 artikulierte oder um Heideggers Positionierung in den mittleren dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts? Und ist das eine mit dem anderen überhaupt stimmig zu verbinden? Oder verweist dieses Eigene elementarer auf das Asylon einer ungeteilten Natur, als Inbegriff des bewahrten Anfangs. Strukturell ist es in jedem Fall der modal-theoretische Übergang des gewesenen Wirklichen ins Mögliche, den Heidegger einem Vaterland in der Zeit abliest. 167 Dies wäre ein Gegenkonzept gegen den fixierenden NS-Staat, wäre doch ein solches Vaterland im besten Sinn »im Übergang«, transitorisch wirklich und entzöge es sich doch einer Fixierung in Identität und erst recht Zwang. »Aber das Mögliche, welches in die Wirklichkeit tritt, indem die Wirklichkeit sich auflöst, diess wirkt und es bewirkt sowohl die Empfindung der Auflösung als die Erinnerung des Aufgelösten« (zit. ibid., 123) 168, worin sich nach Hölderlin eine neue in Unterschiedenheit und Spannung manifestierende Einheit von Mensch und Natur zeige. Als zentraler Topos in der Interpretation der Rhein-Hymne erweist sich für Heidegger das »Schicksal«, das er auf die Doppelung 167 Offensichtlich geht es dabei zumindest auch um die nie verfügbare, sich allenfalls modal mitteilende ›Patria in der Zeit‹, das Grundverhältnis zum Ursprung. 168 F. Hölderlin, »Das untergehende Vaterland«, in: J. Ch. F. Hölderlin, Theoretische Schriften. Hg. von J. Kreuzer. Hamburg 1998, S. 33 ff.
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von Geworfenheit und Entwurf bezieht, auf die Bahn, auf die der Mensch geworfen sei, ohne doch im letzten die Wurfbahn zu kennen. 169 Die Entgegnung von Menschen und Göttern konstituiere die »auf sich wechselweise bezogenen Bezirke des menschlichen und göttlichen Seins« (181), eine »wesenhafte Entrückung in das göttliche und menschliche Sein selbst« (ibid. 118), womit die fundamentalontologische Struktur des Daseins mit der Hölderlin’schen Poetik verbunden ist. Anders als die Götter haben nur die mythopoietischen Halbgötter und die Sterblichen Schicksal, das mit der Leidensfähigkeit und Sterblichkeitserfahrung verbunden ist. Sie bedingt Endlichkeit aber zugleich Innigkeit des menschlichen Daseins. Ein besonders enger Zusammenhang besteht gemäß der Topik der ›Rhein‹-Hymne zwischen Halbgöttern und Dichtern. Denn beide hören und vermitteln (201). Die Verschränkung von Denken und Dichten führt Heidegger also in eine Phänomenologie nicht nur des dichterischen Wortes, sondern mehr noch des dichterischen Hörens, die am Textkorpus Hölderlins orientiert bleibt und aus ihm eine eigene, akroamatische Forderung des Denkens abliest. »Indem die Dichtung ›Der Rhein‹ das Seyn der Halbgötter ›denkt‹, dichterisch stiftet, dichtet sie denkerisch das Wesen der Dichtung. Sofern aber das Seyn der Halbgötter Schicksal ist, muß das Schicksalhafte auch das Seyn der Dichtung und des Dichters bestimmen« (237). Hier wird die seinsgeschichtliche Bewegung angehalten, eine Inhibierung des Fortgangs, wie sie ganz ähnlich im Blick auf Anaximander umrissen wird. Heidegger benennt dabei mit Hölderlin eine Seinsweise, die in der Nähe zum Anfang lebt, dem »Reinentsprungenen« und von ihm durchstimmt wird. Dies vermag die Dichtung, nicht die Metaphysik, die den Anfang schon verlässt, wo sie Sein zu bestimmen versucht. In den Passagen der Vorlesung, die sich weitgehend von Ideologemen lösen und einen authentischen Kern freilegen, werden Kategorien und Denkbeziehungen aus den Sinnbildern der Dichtung gewonnen. Dabei figurieren die Halbgötter als eminente Sinnbilder von Übersetzung, als das Zwischen, eine Mitte zwischen Göttern und Menschen. Eine Überlagerung der ›Mitte der Zeit‹ (290) 170 und der 169 Anders als Henrich, Der Grund im Bewusstsein, a. a. O., belässt es Heidegger bei der Evokation von Hölderlins reiner Dichtung, ohne nennenswerte Anleihen bei der Narration des ›Hyperion‹ und seiner exzentrischen Bahn bzw. den philosophischen Ansätzen Heideggers zu nehmen. Diese ›Patria‹ steht auf keiner Landkarte verzeichnet. 170 Christlich wird diese Mitte als Parusie des Gottessohnes verstanden. Heidegger bringt das unbenannte ›Zwischen‹ mit dem Eschaton des kommenden Gottes in einen
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Hörende Vorbereitung auf die Sprache des Seins: Hölderlins Dichtung
›ontologischen Differenz‹ mit der Relation zwischen dem nächsten Fremden der Griechen und dem Eigenen der hesperischen Deutschen fügt den geschichtsphilosophischen Gedankengang in das Sein des Anfangs ein. In einer engen Hölderlin-Nähe verankert Heidegger auch die Denkform, der er sich in seinem großen Manuskriptkonvolut den Beiträgen verschreibt, die Struktur der Fuge als ›Fassenkönnen‹ dieses Reinentsprungenen: »Umgekehrt wird uns unser Höchstes werden, wenn wir die Mitgift des Fassenkönnens so ins Werk setzen, daß dieses Fassen sich bindet und bestimmt und sich fügt der Fuge des Seyns, wenn das Fassenkönnen nicht zum Selbstzweck sich verkehrt und nur im eigenen Vermögen sich verläuft« (293). Hölderlins Dichtung gewinnt in Heideggers Interpretationen einen von Zeit und Raum und den eigenen Kontexten unabhängigen Rang, sie wird zum Über-Phänomen, zu der Grunderscheinung, der sich das Denken zuwendet. Dies kann, wie vielfach geschehen und kritisiert wurde, als eine Form von Offenbarung gelesen werden, die Bezweiflung und Kritik entzogen ist. Nicht selten ist es auch als eine Fluchtbewegung aus argumentativer Begründung und damit als eine Art anti-aufklärerischer Remythisierung verstanden worden. Nicht ganz ohne Grund. Dennoch bleiben solche Lesarten zu vordergründig, denn Heidegger bemühte sich offensichtlich um eine genaue Topologie und denkerische Explikation dessen, was aus Hölderlins Dichtung zu vernehmen war. Der Begriff und die propositionale Aussage reichen allerdings nur bedingt in diesen Bereich. Viel spricht dafür, dass dort, wo sein Denken auf den »reinentsprungenen Anfang« selbst zielte, es seine authentische Form in der Zwiesprache mit Hölderlin fand.
arkanen Zusammenhang. Vgl. die einführenden Bemerkungen zur Hölderlin-Interpretation: K. Wright, »Die ›Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung‹«, in: HölderlinHandbuch, a. a. O., S. 215 ff. Wright geht allerdings in eine entschieden verfehlte Richtung, wenn sie von einer ›Heroisierung‹ Hölderlins bei Heidegger spricht. Dergleichen vermag ich in keiner Weise zu erkennen. Vorzuhalten wäre Heidegger allenfalls, dass er Hölderlin zu einem Eschaton erklärt. Eine Gegenkonzeption entwickelte vom ›Ende der Zeit‹ in Pindars Dichtung ausgehend M. Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München 2000.
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Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts
25. Grundworte: Frühgriechischer Anfang – Heraklit und Parmenides Im Licht der Hölderlin-Interpretation und nachdem er seine Auseinandersetzung mit Nietzsche durchlaufen hatte, wandte sich Heidegger am Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal dem Anfang griechischen Denkens zu: Heraklit und Parmenides. Die Dimension des Streites geht in das Grundwort der aletheia ein, die Unverborgenheit habe selbst einen streithaften, gegen-wendigen Charakter (24.25). »›Wahrheit‹ ist niemals ›an sich‹, von selbst vorhanden, sondern erstritten. Die Unverborgenheit ist der Verborgenheit, im Streit mit ihr, abgerungen« (ibid.). Mit Parmenides geht es nicht so sehr um den onto-logischen Grundsatz und ebenso wenig um das erste paradigmatische ›Denken des Einen‹ im Lehrgedicht, sondern um die Weisung der Göttin als indirekte Mitteilung des Anfangs. Deshalb konzentriert sich Heidegger auf ein »vom Anfang angefangenes(s) Denken« (24. 9), das zugleich ein ankommendes Denken sei. Der Prospekt wird über vorsokratische Philosophie und Tragödie sogar bis in die Homerischen Epen geweitet, wenn Heidegger das griechische Denken in seinem Reichtum und seinen Hintergründen zu skizzieren versucht (90 ff.): Es zeichnet sich eine Näherung an den Mythos ab, die sich Heidegger sonst versagt. Ankommendes Denken geht aus einem Entbergungsbereich, der Sphäre des Geheimnisvollen und Inkommensurablen hervor. In einer zweifachen Weise entwickelt Heidegger dann das Parmenideische Aufblitzen des einen Weges der Wahrheit aus der Lethe: Einerseits als ein Hereinblicken (155), als thea, ho theion, das durchgängig nicht-eidetisch aufgefasst ist. Es ist eben nicht die Dauerhaftigkeit der philosophisch bestimmten Idee als ontos on, die sich auf diese Weise mitteilt, sondern der Blick der Göttin, die das Ungeheure im Geheuren sichtbar macht (180). Die Verborgenheit des Seins wird im ersten Anfang weiter ins Licht gebracht, sodass das ›Erstaunen‹, das Platon am Anfang der Philosophie verankert, durch ein dauerhaftes Wissen ersetzt werden soll. Demgegenüber wies Heidegger namentlich in den Beiträgen dem andern Anfang die Grundstimmung des ›Erahnens‹ und des ›Erschreckens‹ zu. Der vertiefte Homer- und Pindarbezug führt zu weiteren Expositionen in die Gegenläufigkeit von Göttern und Menschen, bei denen sich Heidegger auch auf den Schlussmythos vom Pamphylier aus Platons Politeia bezieht 171. Als Wesenszug der griechischen Götter begreift Heidegger im Unterschied zu Subjekthaftigkeit und Personsein des 356
Grundworte: Frühgriechischer Anfang – Heraklit und Parmenides
christlichen Gottes dies so, dass die Götter »im Wesen des Seins wohnen« (164), während der jüdische und christliche Gott Urheber des Seins ist. Das Unheimliche, den Grundcharakter des Göttlichen, erkennt Heidegger gerade im Mythos. Eine Deutung des Mythos im Licht des anderen Anfangs, nicht aber eine Zurückweisung mythischer Figurationen und eine Verteidigung des lógos, ist hier die leitende Perspektive, während sich Heidegger in früheren Zusammenhängen immer distanziert zum Mythos verhielt. Diese Nähe zum Mythos bringt Heidegger dazu, in der Parmenides-Vorlesung aletheia direkt als Göttin anzusprechen und ihr ausdrücklich die Dimension des Andenkens zuzuweisen. Das Blicken sei das Sich-zeigen der Götter für die Menschen, sodass sie aus ihrem Anfang in einen Aufenthalt bei der Welt kommen. Auch hier ist der Anschein einer Art von Offenbarungscharakter schwer von der Hand zu weisen. Das Wesen von Entbergung und Verbergung kommt im Wort zur Manifestation. Es muss gehört werden – in einer Weise, in der das Wort nicht, wie Heidegger in wiederholter Abwehr des animal-rationale-Satzes bemerkt, dem Menschen eigenschaftlich zukommt, sondern ihn erfasst. Im Gegenlicht von Pindar und Hölderlin wird das eminente Wort als ›Sage‹ thematisiert (115), die Heidegger in seinen späten Erörterungen von ›Unterwegs zur Sprache‹ zugleich als ›Zeige‹ explizieren wird. Die Sprache nennt, indem sie sichtbar macht und wiederum verbirgt, womit auch das Grundmotiv der Kunstwerk-Abhandlung aufscheint, dass jede Form von Kunst in der Dichtung und ihrem eigentlichen Her-stellen angelegt ist. Der Zugriff auf das pragma bezeichnet deshalb nicht nur den Vorrang vor der theōría. Dies ist nicht unzutreffend, wie bereits Heideggers frühe phänomenologische Aristoteles-Interpretation zeigte und wie es für die Struktur von Sein und Zeit maßgeblich bleiben sollte. Vorgängig ist dem aber nach Heideggers Auffassung das Grundverhältnis von themis und dike: die Rechtsbegriffe und -gottheiten gelten als grundlegend für das Verhältnis von Unverborgenheit und Verbergung. Im Licht der ›Rektoratsrede‹ und Heideggers eigener Erfahrungen mit dem NS-Engagement im Umkreis des Rektorats ist es bemerkenswert, dass Heidegger in der ›Parmenides‹-Vorlesung den »Topos 171 Platon, Politeia X, insbesondere 596 d ff. Dazu auch Seubert, Platon – Anfang, Mitte und Ziel der Philosophie, a. a. O., S. 250 ff.
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Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts
des Wesens der Polis«, außer- und gegen-politisch denkt, als Frage nach dem Hier und Dort, dem Übergang von Tod in Leben und umgekehrt (141 ff.). Der politische Raum ist nicht Gegenstand der Philosophie, was man selbstverständlich als eine Ausblendung und Abstraktion verstehen kann. Man kann darin aber auch die Zurückweisung des vulgär politischen Furors angedeutet sehen, der die NS-Bewegung bestimmte. Polis bestimme sich als eine Polarität, von pelein her, »der Weise wie das Sein des Seienden in seinem Entbergen und Verbergen sich ein Wo verfügt, in dem die Geschichte eines Menschentums gesammelt bleibt« (142). Und gegen alle historische Evidenz behauptet Heidegger, die Griechen seien das »schlechthin unpolitische Volk« da sie zunächst aus Sein und aletheia ihren Aufenthalt deuteten und bestimmten (142). * Die Heraklit-Vorlesungen der Sommersemester 1943 und 1944 greifen ergänzend die andere Seite des vorsokratischen Anfangs auf. Gemeinsame Motive fallen sofort auf. Auch hier insistiert Heidegger auf dem zu Denkenden und ›Ungedachten‹, der Übersetzung in jenen Anfang, der wie ein ›Reinentsprungenes‹ dort wahrgenommen werden soll, wo er sich zeigt. Gemäß der Anfangsdimension fokussiert Heidegger seine Interpretation ganz auf Fragment DK 16; »to me dynon pote pos an tis lathoi«, das er vorläufig übersetzt: »Dem ja nicht Untergehend(den) je, wie vermöchte irgendwer dem verborgen sein«. 172 Es gibt in dieser Deutung zahlreiche Methodenschritte, die durchaus behutsam und nicht »Gewalt brauchend« vorgehen. So wenn Heidegger das »To me dynon pote« aus der Verneinung in eine Bejahung transformiert, sodass es bedeutet: »Das immerdar Aufgehende« (55.87). Heraklit hätte das Selbe auch umgekehrt in der reinen Bejahung sagen können, versucht sich Heidegger zu versichern. Die Verneinung zeigt allerdings an, dass das Erscheinen als eine elementare Bejahung nur über die Verneinung angenähert werden kann. Damit wird Fragment 123 auf das Fragment 16 und mithin auf den Gedanken der phýsis projiziert mit seiner Aussage: »physis kryp-
172 Zu einer philosophisch tiefgehenden, gleichwohl philologischen Maßstäben genügenden Interpretation vgl. Th. Buchheim, Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt. München 1994. Ich verzichte hier auf eine detaillierte Auseinandersetzung.
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Grundworte: Frühgriechischer Anfang – Heraklit und Parmenides
testhai philein«, in Heideggers Übersetzung »Das Aufgehen, dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst« (110). Dass das Lichte im Dunklen gründet, das Aufgehen im Untergehen, wird von Heidegger bis in die Identifikation beider geführt, worin die Innigkeit der Seinsfuge, die sich am Gegensätzlich entzündet, selbst ihren vor-metaphysischen Gehalt hat. In den Heraklit-Vorlesungen zeigt sich Heideggers Anspruch, den inneren Zusammenhang der verschiedenen Heraklit-Fragmente aufzuweisen. Die kursorische Interpretation der Fragmente 64, 66 und 124 verweist auf die Weite, in der sich der lógos keraunos mit dem Feuer verbindet und zugleich die Weite des Kosmos umschreibt. Heidegger spricht von dem nur zweifelhaften Vorrang des Aufgehens im Wesen der phýsis, womit der Ursinn von aletheia in umgekehrter Richtung zurück auf die Verborgenheit verfolgt wird. Aletheia ist in einer Präzisierung des Verhältnisses der Grundworte zueinander der Grund der phýsis und der phänomenalen Erscheinung. Dies artikuliert er in einer Formel, die den Richtungssinn auf die Verborgenheit hin beschreibt: die Unverborgenheit des Sichverbergens (171). In Fragment 16 sei mithin aletheia im griechischen Sinn gemeint, auch wenn sie verbatim nicht genannt sei. Damit kommt eine Bedeutung der grundlegenden aletheia zum Zug, die sie weder als nur rationelle Klarheit noch in einem Irrationalismus, womit Heidgger vielleicht Klages’sche oder existenzphilosophische Vorstellungen meint, als »unerklärbaren und chiffrierten Tiefsinn« (128), als »brodelnden Hintersinn einer sogenannten Schau« erweist. Zwischen diesen beiden nicht-philosophischen Extremen sucht Heidegger nach einer Sinnklarheit der Verborgenheit des ersten Anfangs. Das ›wesentliche Denken‹, dem Heidegger zufolge in der Krisis nachzugehen ist, – setzt das »Wahre« als Ungesagtes voraus. Von ›Kosmos‹ ist dabei schon im Sinn des Geringen 173, der unscheinbaren Zierde die Rede (181), die Heidegger am Ende des Kollegs auf die krisenhaft-katastrophische Weltstunde bezieht: die Gefahr »ist nicht die eines Untergangs, sondern, dass wir selbst verwirrt uns selbst dem Willen der Modernität ergeben und ihm zutreiben« (181). In jedem Fall ist die Akzentuierung der Verborgenheit des Seins selbst in der ersten Heraklit-Vorlesung wie die Voraussetzung zu dem Einblick des Göttlichen in der Parmenides-Vorlesung angelegt. Die Vorlesung vom Sommer 1944 dagegen widmet sich den Herakli173
Siehe wieder Heidegger, Das Ding, a. a. O.
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Heideggers Hegel: Die ›gigantomacheia‹ um Sein und Nichts
tischen lógos-Fragmenten, vor allem Fragment 50. Heidegger bringt hier erstmals eine Übersicht aus der Perspektive der Seinsfrage, weshalb die Frage nach der ›Logik‹ und die Abarbeitung am lógos für ihn seit der Marburger Zeit, damals noch an der ›Logik‹ der Schulphilosophie an Trendelenburg und Natorp orientiert, eine so bestimmende Bedeutung hatte. In Fragment 50 verweist Heraklit von sich selbst weg und auf den lógos hin: »Habt ihr nicht bloß mich gehört, sondern habt ihr (dem lógos gehörsam) auf den lógos gehört, dann ist Wissen (das darin besteht), mit dem lógos das Gleiche zu sagen: Eins ist alles« (259). 174 Heidegger umreißt von diesem Fokus aus drei Wege: einen ersten, auf dem das in sich selbst rätselhaft bleibende ›hen panta einai‹ die Sammlung des All auf das Eine sich als Erläuterung und Klärung des lógos erweist, während auf einem zweiten Weg der Wortsinn von legein (sammeln, lesen) sich als »das alles vereinende Eine« erkennen lässt. Einen dritten Weg findet er im Verweis auf den lógos der Seele (Fr. 45), der auf die Unerschöpflichkeit der Seele hindeutet, die im lógos ausgesprochen wird. Der Riss zwischen Anwesen und Abwesendsein, der zunächst an der Struktur der Wahrheit (aletheia) aufgewiesen worden war, zeigt sich nun auch am lógos, der nach Fragment 108: »panthon kechorismenon« ist, »von allem abgetrennt«, sodass zwar alles zu Wissende nur in ihm gewusst werden kann, er aber in einer »abwesenden Gegenwart« bleibt, einer »gegenstandslosen Gegend«, in der die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem ihren Ursprung hat. Der lógos wird mithin zum Archetypus der ontologischen Differenz. Die Abgetrenntheit des lógos ist in Heideggers Verständnis gerade nicht mit dem Chorismos der Transzendenz der höchsten Idee im platonischen Sinn zu verwechseln. Sie ist vom Seienden unterschieden nicht als seine ontische und gnoseologische Grundlage. Sie verweist vielmehr in den Grundzug der Verborgenheit, in die Duplizität von Abwendung und Zuwendung, in der sich das Grundphänomen der Wahrheit des Seins am Grunde der Metaphysik zeigt, in einer Weise, in der zugleich deutlich wird, dass der Anfang selbst nicht explizit befragt werden kann, ohne ihn zu verletzen und dass der »anfängliche lógos« gerade in seiner Entzogenheit gedacht werden muss, sodass Aufmerksamkeit und Rücksicht der Interpretation eben der Entzogenheit gilt.
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Siehe dazu Buchheim, Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 50 ff.
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Vierter Teil: Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
26. NS – Heideggers pervertierte »Große Politik« Die Unterscheidung in eine Post-Auschwitz-Perspektive und eine andere Sicht der Dinge, die die Shoah nicht mitdenkt und die auch legitim wäre, kann es, zumal von Deutschland aus, nach 1945 nicht geben. Die Shoah bleibt ein Bruch und eine Wunde, über die niemals hinweggesehen werden kann. Das bedeutet keinesfalls eine Reduktion von Sachverhalten oder Ereignissen auf das Signum der NS-Vernichtung. Die Shoah kann und darf aber niemals zum Mythos erklärt werden. Denn dies würde ihre bedrückende Historizität und Einmaligkeit in Frage stellen. Sie durchbricht aber gleichwohl die historische Sukzession. Was wie auch immer dahin führte, oder weiter dahin führen kann, muss striktestem Verdikt unterliegen. Mithin hat Adornos Versuch, den Kategorischen Imperativ in die konkretisierte Form zu gießen, dass Auschwitz niemals sich wiederhole, eine hohe Verbindlichkeit, auch und gerade weil er die Universalität und Formalität der Kantischen Moralmetaphysik mit einem konkreten Chronotopos verbindet. 1 Der Bruch von Auschwitz zieht gleichsam eine Schneise in das, was in einen Erinnerungskontext integriert werden kann und das, was nicht integrierbar ist. Dieser moralischen Maßgabe sollte die Deutung von Denkwegen des 20. Jahrhunderts, die den Weg der NS-Ideologie berühren, nicht ausweichen. Doch das Verdikt über ein Denken, selbst wenn es sich teilweise desavouierte, ist nicht leichtfertig zu sprechen und die teilweise oder weitgehende Desavouierung der Person und ihr Werk bleiben voneinander zu unterscheiden. Andernfalls tendiert eine im Kern berechtigte Kritik zu einer neuen Bilderstürmerei und Barbarisierung. Auch dies soll im Folgenden gezeigt werden. Das Odium, das Heideggers Fall seit seinem Rektorat im Jahr 1933 nach sich zog, liegt als Schatten über seiner Rezeption. Die Diskussionen, ob er sich so desavouiert habe, dass sein Denken mit desavouiert worden sei, setzte schon in den fünfziger Jahren ein. Unter anderem in einem Kommentar des jungen Jürgen Habermas zu der 1953 unverändert publizierten Vorlesung Heideggers Einführung in die Metaphysik aus dem Jahr 1935 wurden kritische Anmerkungen laut. Th. W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (Vorlesung 1963). Aus dem Nachlass ediert. Frankfurt/Main 1996.
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Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
Heidegger »auf Null« zu bringen, war ein nicht eben humanes Diktum von Adorno, in dem Empörung über Heidegger nachklang, vielleicht aber auch Konkurrenz im Schulstreit. 2 Gerade angesichts der immensen Wirkung, die Heideggers Denken in Frankreich und den verschiedensten Strömungen der französischen Intellektualität einnahm, kann es nicht verwundern, dass auch die Empörungswellen sich wiederholten und mit jeder Wiederholung höher aufschlugen. Victor Farias' in einer wenig philosophischen Hermeneutik des Verdachts entwickelter Bestseller im Jahr 1988 bedeutete eine weitere Zäsur. 3 Karl Jaspers hatte noch in der Nachkriegszeit ungeachtet schwerer Vorbehalte gegenüber Heidegger bestritten, dass er ein Antisemit gewesen sei oder es auch nur hätte sein können. Farias’ Interpretation beruhte dagegen auf dem Versuch, einen unverkennbaren Heidegger’schen Antijudaismus nachzuweisen. Die Schwarzen Hefte, die als ein spät für die Gesamtausgabe vorgesehenes Zeugnis 2015 zu erscheinen begannen, ließen den anti-jüdischen Unterton bei Heidegger jäh wieder lebendig werden, mit Äußerungen, die sich nicht glätten und schön reden lassen, über deren interpretatorischen Status aber weitreichende Auseinandersetzungen entbrannten. 4 Die authentische Abkehr von Heideggers Person, das Ärgernis über seine Verwicklung in die NS-Zeit, reicht weit in die Geschichte des Exils zurück. Sie dokumentiert sich etwa im Umgang des bedeutenden politischen Philosophen Leo Strauss, in dessen Seminar Heidegger als der »eine Einzige« eminente Denker des 20. Jahrhunderts wie selbstverständlich vorkam, dessen Namen der Emigrant Leo Strauss aber nicht genannt haben wollte. 5 Der beschwiegene und zugleich überaus präsente Heidegger: eine Inkunabel für das, was auch in der Gegenwart noch naheliegend sein könnte. Doch kommt eine solche Haltung der Betroffenen den nachgeborenen Ideologiekritikern ohne weiteres zu? Hier wird in jedem Fall ein anderer Weg na2 J. Habermas, Martin Heidegger. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahr 1935 (1953); und ders., »Die große Wirkung«, in: Ders., Philosophisch-politische Profile. Frankfurt/Main 1987, S. 65 ff. und S. 72 ff. Siehe auch den Überblicksartikel, »Heidegger und die Frankfurter Schule«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 361 ff. 3 V. Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus. NA Berlin 2003. 4 Siehe die beiden Bände des Heidegger-Jahrbuchs 4 und 5, vor allem den Dokumentenband 4: Heidegger und der Nationalsozialismus. Freiburg/Br. 2009; die Monographie von H. Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld. Frankfurt/Main 2010; siehe aber auch die umfassende Dokumentation Heidegger, GA Band 16: Reden und andere Zeugnisse. 5 So George Steiner in einem Interview mit dem BR aus dem November 1993.
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NS – Heideggers pervertierte »Große Politik«
hegelegt: die Sonde in Heideggers Denken selbst anzulegen und mit ihm zugleich gegen ihn zu denken. Eine solche kritische Geste legt Heidegger gegen allen erzeugten Anschein nahe. Konnte doch auch gezeigt werden, wie stark sein Denken sich aus der Selbst-Auseinandersetzung entwickelte. (Zweiter Teil, V)
Dispositionen und Antidota Das Spektrum der NS-Philosophie ist mittlerweile eingehend untersucht und dokumentiert. 6 Es ist ein intellektuelles Debakel, ein Ausverkauf und eine Korrumpierung der Traditionen, in denen zumindest im Durchschnitt längst steril geworden die einschlägigen Ordinarienfakultäten forschten. Sie haben damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Forschungsfelder, sei es der deutsche Idealismus, sei es Nietzsches Willen zur Macht, korrumpiert und aufs tiefste beschädigt. Die Anthropologie fraternisierte mit der Rassenideologie und zog damit auch Theoriefiguren des Nationellen und der Diversität von Sprachwelten seit Herder mit in ihren Abgrund. Die mediokren Funktionärsfiguren, wie Ernst Krieck, verdienen vor keinem Gerichtshof den Namen von Philosophen. 7 Es waren subalterne Gestalten, die, so wie in anderen Wissenschaftszweigen auch, die Gelegenheit durch Berufsverbote, Emigration und Auslöschung nutzten, um sich Karrierevorsprünge zu verschaffen. Die Ergebnisse haben so gut wie nichts mit Heideggers Denken in jener Zeit zu tun. In den meisten Fällen sind die Resultate intellekualisierte NS-Ideologie, oft von einer erschreckenden Dummheit und Dumpfheit, einer Angepasstheit und einem Gedankenkitsch, der nach der trefflichen Etikettierung von Hermann Broch selbst böse ist. Im Blick auf die üblichen Opportunisten und Mitläufer, die sich im apolitischen Raum der Universitäten betätigten, ergibt sich dagegen ein NS-verbrämter und damit pervertierter Neokantianismus und -hegelianismus. Der Rest ist Emigration und Tod, in Lagern und an der Front, oder eine ›Innere Emigration‹, die es überzeugend nur geben konnte, wenn ein vollständiger Bruch mit der NS-Ideologie vollzogen wurde. So geschah 6 Vgl. vor allem C. Schorcht, Philosophie an den bayrischen Universitäten 1933– 1945. Erlangen 1990 und umfassend Chr. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie: In der Weimarer Republik und im Dritten Reich. 2 Bände. Berlin 2001. 7 Vgl. Tilitzki, Band 2, passim.
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es bei Julius Ebbinghaus, einem gründlichen Kantianer, der bemerkte, Kant und insbesondere der Kategorische Imperativ habe ihn vor Nazi-Empfänglichkeiten bewahrt. Hans Jonas, ein Heidegger-Schüler der frühen Stunde, hat noch im Alter darüber nachgedacht, warum eine philosophisch eher zweitranige Größe wie Ebbinghaus das Selbstverständliche tat, der epochale Denker aber, Heidegger, vor der Teilnahme am Nazismus nicht gefeit war. 8 Eine Antwort zu geben, ist schwer, für die Nachgeborenen nicht weniger als für die Zeitgenossen. Die klare ethische Grenzlinie konnte Heidegger in jedem Fall nicht ziehen. Sie wurde nicht, oder doch nicht mit der nötigen Konsequenz, in sein Seinsdenken integriert. Heidegger ist die überragende Gestalt auf deutschen Lehrstühlen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 und der einzige eigenständige philosophische Denker von europäischem Format, der in Deutschland blieb. Das Rektorat des Jahres 1933 war lange Zeit der Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Heidegger nahm dazu, post mortem, aber in einem hochstilisierten Setting mit dem SPIEGEL-Gespräch aus dem Jahr 1967 Stellung. Wie man heute weiß, bedarf schon seine Wiedergabe der Tatsachen der behutsam-energischen Korrektur und Revision. Dass einer der Heidegger befragenden SPIEGEL-Redakteure, Georg Wolff, eine SA- und SD-Vergangenheit hatte, kommt hinzu. 9 Das Gespräch, an dessen Vorbereitung Erhart Kästner wesentlichen Anteil hatte, 10 war nicht Apologetik, nicht öffentliche Gewissensforschung. Es gab sich als Erinnerung und Faktenbericht aus. Heidegger legte das Rektorat nach einem Jahr nieder; er bemerkte, dass eine Allianz mit der Funktionärsriege des NS nicht tragfähig war. Doch dies ist eine nur formale Antwort. Zeitzeugen erinnern sich an einen Heidegger’schen Privatnationalsozialismus, der mit der offiziellen rasseidologischen Parteilinie wenig zu tun hatte, und das Studium der vollständig zugänglichen Texte und Dokumente aus jener Zeit bestätigt dies eher. 11 Der Rückzug war also keineswegs Geste eines Widerspruches oder gar offenen Widerstandes, einer Anti-NS-Haltung, sondern Zeichen einer heimlichen Führerhaltung des PhilosoH. Jonas, Erinnerungen, a. a. O., 240 f. Darüber unterrichtet jetzt umfassend L. Hachmeister, Heideggers Testament. Der Philosoph, der SPIEGEL und die SS. Propyläen, Berlin 2014 10 H. W. Petzer, Martin Heidegger-Erhart Kästner, Briefwechsel 1953–1974. Frankfurt/Main 1986. 11 Vgl. FN 401. 8 9
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phen. Auch dies wäre für sich noch nicht weiter bemerkenswert. Denn in ähnlicher Weise sahen es andere Exponenten der Konservativen Revolution. Hitler ging ihnen entweder nicht weit genug oder nicht in die richtige Richtung. Gerade Ernst Jünger unternahm Versuche einer NS-Überbietung. 12 Würde Heideggers Ansatz auf derselben Ebene liegen, so wäre er Teil eines politischen und moralischen Debakels, das unter das Rubrum des »Verrats der Intellektuellen am Geist« gehört. Damit mag ein Teil des Problems beschrieben sein. Die Wahrheit ist aber vielschichtiger und komplexer. Im Sinn dieses Privat-Nationalsozialismus ist die Rektoratsrede und sind auch nachfolgende Zeugnisse zu interpretieren. Sie artikulierten einen Aufbruch, betonten die »Größe« der Bewegung und des historischen kairós, den existenziellen Ausbruch aus bürgerlicher Mediokrität und beschworen eine Existenz der ›Entschiedenheit‹. 13 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die formal anzeigenden, behutsamen Umkreisungen des ›Daseins‹ in Sein und Zeit vereindeutigt und auf ein ›Deutsches Dasein‹ fixiert werden sollten, vor allem durch ihren eigenen Urheber. Welche Momente der Daseinsanalyse mussten wegbrechen, um in dieser Weise kompatibel zu werden? Dies ist keineswegs unwichtig, weil sich daran zeigt, wie integer sein Denken bleibt. Die Signale des Privat-Nazismus in den Vorlesungen der dreißiger und vierziger Jahre verblassen. Heidegger sieht cum grano salis in der Mehrzahl seiner aktuellen Einlassungen den NS als Teil der »Raserei«, des »Riesenhaften«, eines planetarisch technischen Zusammenhangs, des »Gestells«, der mit seinem Antipoden, dem kommunistischen Totalitarismus, zusammenwachse. Dem biologistischen Pseudo-Denken der NS-Chargen aber bringt er immer wieder und unverhohlen Abneigung und Verachtung entgegen. Dass sie teils gegen den Meisterdenker intrigierten und aus Spionagegründen in seiner Vorlesung saßen, entging Heidegger nicht. Er machte allerdings auch in den Vorlesungen Anspielungen, die wie die 1953 in der Druckausgabe edierte Bemerkung über »die Größe der Bewegung« die biologistische rassetheoretische Verzwergung gegen die Möglichkeitshorizonte des NS ausspielte, womit der philosophische PrivatDies wird aus seinen Publizistischen Schriften um 1933 nur allzu deutlich. Vgl. E. Jünger, Politische Publizistik 1919–1933, hg. von S. O. Berggötz. Stuttgart 2001. 13 Aufschlussreich dazu K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart 1987. 12
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NS, dessen einziger Exponent Heidegger war, durchklang und eine Sklavensprache gesprochen wurde. Daneben finden sich vor allem in den Nietzsche-Kollegs eindeutige Abwehrgesten gegen Rassebiologismus und technologisch-militaristische Erlösungserwartung. Eine Stabilität der Sphäre des Denkens und daher eine Gegenwelt scheinen nach Zeugnissen von Walter Biemel und anderen 14 gerade Heideggers Vorlesungen der vierziger Jahre ausgestrahlt zu haben. Dies erinnert an den Stabilitätsanker, den Gustaf Gründgens Bühne in der NS-Zeit bot. Gründgens erinnerte sich später, man konnte sicher sein, dass dort Theater gespielt wurde – und dass aufs Stichwort eine Dame im grünen Kleid die Szene betrat und nicht ein SS-Mann. 15 Dies ist noch keineswegs als Widerstandshaltung zu verbuchen, aber doch als Gewinnung einer Gegenwelt. Die flächendeckende Analyse des ›Gestells‹, die auch die Beiträge durchzieht und in den ›Bremer‹ und ›Freiburger‹ Vorträgen der ersten Nachkriegszeit öffentlich mitgeteilt wurde, lässt angesichts der Realitäten zwischen 1933 und 1945 einen Gesichtspunkt dennoch prima facie vermissen, den man in besonderem Maße in Anspruch nehmen müsste: den Gesichtspunkt der Ethik und einer betätigten Urteilskraft. Seit der Edition der Schwarzen Hefte erweist sich das NS-Problem nochmals gravierender. Die einschlägigen Bemerkungen machen – nicht zuletzt im Blick auf Husserl, dann auf Judentum und das aus ihm entsprungene Christentum – Gebrauch von Stereotypen, einschließlich einer Stereotypenliteratur wie den »Protokollen der Weisen von Zion«, die auch im vulgären NS präsent war. Deshalb konnte von einem seinsgeschichtlichen oder metaphysischen Antisemitismus gesprochen werden. Gift verbindet sich mit Kategorien und Bestimmungen, wie sie Heidegger in seinem seinsgeschichtlichen Ansatz in Gebrauch nimmt. Zumindest möglich und nicht begrenzt auf ein schmales Untersuchungskorpus wie das Seminar von 1933 – Fayes vermeintliches Hauptbeweisstück für Heidegger als
Bei einer Person von der außerordentlichen Integrität und Wahrhaftigkeit W. Biemels besteht kein Grund, an diesen im kleinen und privaten Rahmen vorgetragenen Einschätzungen grundsätzlich zu zweifeln. 15 Günter Gaus im Gespräch mit Gustaf Gründgens, Zur Person. 1963, auf Youtube bequem abrufbar.Es ist unnötig zu betonen, dass auch Gründgens einer Komplizenschaft mit dem NS-Regime bezichtigt werden kann und muss, was besonders nachdrücklich durch den Mephisto-Roman Klaus Manns geschehen ist. 14
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einen als Philosophen getarnten Nazi – 16 ist damit eine Lesart, die nahelegt, Heidegger habe in den Schwarzen Heften dechiffriert, was die seinsgeschichtlichen großen Begriffe und Linienführungen zumindest in einer subkutanen Lesart auch meinten. Diese Dechiffrierungen liegen dann näher an einem vulgären NS-Jargon, einer »Banalität«, als Heideggers Geste der Abständigkeit es andeutet. Es ist keine Apologetik, sondern schlicht Anforderung an eine umsichtige, abwägende Deutung, dass dann zu prüfen bleibt, wie sich diese Dechiffrierung zu Heideggers Denkansatz selbst verhält. Die Grenzen zwischen rassischem Antisemitismus und Kulturressentiment sind fließend, das grundsätzlich einem Denker jüdischer Herkunft wie Husserl abspricht, in die Tiefen der Erfahrung des Sinns von Sein überhaupt eindringen zu können. Diese Spuren setzen sich in den Überlegungen, soweit sie heute publiziert sind, also bis in die vierziger Jahre hinein fort. Es bleibt unstrittig ein gravierendes Problem des heutigen Nullpunkts der Interpretation, dass die kompromittierenden Passagen herausgelöst und verabsolutiert wurden und dass eine flächige umsichtige Interpretation der Schwarzen Hefte nach wie vor aussteht. 17 Diese skandalisierende Tonart schlug Peter Trawny 18 in seinen im einzelnen höchst widersprüchlichen Deutungen an. Eine moralische Berechtigung ist selbst der Skandalisierung nicht abzusprechen: Jede Nähe eines Jahrhundertdenkers zu den Tätern der Vernichtungskatastrophe bleibt ein Skandal, ein moralischer und ein intellektueller. Wie die Dinge liegen, sind die auf Skandalisierung und Stellen getrimmten gegenwärtigen Lesarten rasch bei der Hand, um die Bedeutung jener Passagen weiter aus jedem Kontext zu reißen und die Empörungsstruktur weiter zu steigern. Deshalb geht es hier auch darum, die Textur jener Hefte im Einzelnen Revue passieren zu lassen. Sie sind nicht Privatsache und nicht einfach von marginaler Bedeutung für Heideggers Denken, wie 16 E. Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Berlin 2005. Die Unhaltbarkeit von Fayes Thesen bedeutet aber keineswegs, dass das Skandalon jener Vorlesungen und Seminare geringer zu gewichten wäre. Auf sie lässt sich aber Heideggers Denken nicht reduzieren. 17 Vgl. immerhin den sehr instruktiven und weiterführenden Sammelband: Zur Hermeneutik der Schwarzen Hefte, a. a. O.. 18 Trawny selbst hat verschiedene, einander teils widersprechende Deutungen vorgelegt. Vgl. u. a. Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014 und ders., Heidegger-Fragmente, a. a. O. Eine detaillierte Auseinandersetzung kann nicht Gegenstand dieses Buches sein.
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Heidegger-Apologeten nahelegen. 19 Man würde einem Denker, der so großen Wert auf das Gewicht seines Denkens legt, wie Heidegger es tut, nicht gerecht, wenn man von ihm formulierte großflächige Positionierungen zu Zeit und Gegenwart auf diese Weise zu entkräften suchte. Eben hier bleibt gegenüber den vorschnellen Apologetikern und den Denunzianten Heidegger am eigenen Maßstab zu messen, etwas, das Adorno in seinem Jargon der Eigentlichkeit treffend festhielt. 20 Doch eine solche Forderung kann nur in Verbindung mit den Kriterien hermeneutischer Billigkeit und Umsicht erhoben werden. Es ist nicht so, dass mit einer Art unausweichlicher Notwendigkeit eine Philosophie, sofern sie nicht selbst Ideologie ist, zu bestimmten politischen Engführungen genötigt würde. Eine solche Zwangsläufigkeit anzunehmen, zeugt von Naivität. Wohl aber gibt es Dispositionen, die sich in einem bestimmten historischen Augenblick und seinen Kulminationen so auswirken können, dass sie in eine bestimmte Richtung treiben. Die philosophische Disponiertheit wird dabei auf ergänzende sozialgeschichtliche, historische und charakterliche Dispositionen stoßen, die sich schwer entwirren lassen. Es ist so trivial wie unübersehbar, dass ein komplexes Geflecht Heidegger zu einer Politik brachte, die in den antijüdischen (und antichristlichen) Invektiven ihren Tiefpunkt fand. Edith Steins kritisches Votum Heidegger gegenüber verdient hier noch einmal ins Gedächtnis gerufen zu werden: Der ›Geworfenheit‹ von Sein und Zeit wollte sie die ›Geborgenheit‹ in dem von der Personalität Gottes signierten ›ewigen Sein‹ kontrastieren. 21 Sie sah in jener Geworfenheit einen gefährlichen, nihilistischen und zerstörerischen Gestus. Die Zusammenarbeit von Stein und Heidegger nahm sich de facto wenig spektakulär und kollegial aus. 22 Doch bereits in den bewegten Nachkriegsjahren nach 1918 ergibt sich hier eine folgenreiche Konfrontierung. Dahinter liegt ein Problem, das viele christliche Heidegger-Interpreten und -kritiker sahen: Die ungeschützte Schwebelage der formaDas oben genannte Buch von F.-W. von Herrmann und F. Alfieri kann insofern nicht ein letztes autoriatives Wort sein, das vielleicht erst von einer kommenden Generation gesprochen wird. 20 Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, a. a. O., S. 23 ff. 21 E. Stein, »Endliches und ewiges sein«, in: Edith Stein, Kritische Gesamtausgabe Band 3.4. Freiburg/Br. 2006, S. 250 ff. 22 Dazu K. Neugebauer, »Dasein und ewiges Sein. Wie Edith Stein Martin Heidegger liest«, in: Perspektiven der Philosophie 37 (2011), S. 197 ff. 19
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len Anzeige des Daseins kann sich an einen politischen Ankerpunkt anhaften, der revolutionär, der eigenen Zeit kongenial und in eins damit ursprünglich zu sein beansprucht. Wenn ein solcher Anfang mit einem konkreten historischen Datum identifiziert wird, wie dies kurzzeitig 1933 geschah, so musste dieses ›Ereignis‹ de facto verklärt und in mythische Höhen verabsolutiert werden. Die Fallhöhe war umso größer, je banal-schrecklicher das Identifikationsobjekt war. Dass sich hier die Extreme berühren, entschuldigt nichts, erklärt sich aber aus einer der Zeit: Auch wenn es bei Ernst Bloch heißt »Hic Lenin hic saltus« 23 wird umgekehrt die Oktoberrevolution zum Heilsereignis verabsolutiert. Die Suche nach einem Chronotopos, der die eigene Zeit nochmals »voll« werden ließ, lag nach 1918 in der Luft. Sie bestimmt auch Heideggers Orientierungsversuche im Umkreis des Ersten Weltkriegs. Darin ist als Generationenerfahrung mitgesetzt, dass Denken niemals auf den akademischen Innenraum begrenzt sein kann und dass die »hermeneutische Situation« den Blick auf die Sachfragen und Denksysteme lenkt (Erster Teil, Kapitel 1 und 2). Daraus ist aber keineswegs eine Strukturaffinität einer Philosophie mit einer bestimmten Ideologie zu gewinnen. Philosophisch kann Edith Steins Maxime von der ›Geborgenheit‹ nicht ohne weiteres überzeugen. Ihr haftet offensichtlich eine Tendenz zur Flucht in ein religiöses Gelände und die Suche nach einer Beheimatung an, die vor der radikalen Erfassung des Phänomens der Endlichkeit zurückweicht. Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit Heideggers, dass er auch als dezidierter Denker der Moderne solche Wiederverwurzelung nicht suchte, sondern sich ganz der Fragebewegung anvertraute. Hier war er seit seinen Qualifikationsschriften illusionslos, auch was die Restitutierung des Thomismus oder einer katholischen Philosophie anging. Ewige Wahrheit müssen seine Verdikte nicht beanspruchen. Sie sind eben auch Äußerungen aus einer bestimmten Zeit heraus. Heidegger unterzog aber, wie die Rede von der »Todfeindschaft« zwischen Phänomenologie und Theologie zeigt, die Thematik des Glaubens nicht einfach einer Epoché, was der Weg Husserls war und in hohem Maß legitim gewesen wäre. Er wendete sich gegen sie in einer Weise, wie sich nur eine Religion gegen eine andere wendet: So Bedenkenswert ist auch Blochs: »Ubi Lenin, ubi Jerusalem«, Das Prinzip Hoffnung, Band II, S. 711 bzw. 713. Die utopisch-eschatologische Denkweise Blochs ist damit ebenfalls nicht definitiv desavouiert.
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sublim und zugleich hart gezogen Heideggers Unterscheidung von Seinsdenken und der Ahnung des ›kommenden Gottes‹ auch sind, 24 der Gestus verrät die Nähe zu einer eigenen Erlösungskonzeption. Hier liegt eine Aporetik Heidegger’schen Denkens, das zeitweise die Verkündigung an die Stelle der Begründung treten ließ. Nichts ist mit Binnenlogiken gewonnen, die Heideggers Aussagen entlasten sollen. Wenn man moralisch nicht erträgliche Spitzensätze wie jenen, dass »der Jude« der »Verbrecher« sei, 25 derart dekonstruiert, können sich Positionierungen ergeben, wonach der Mensch des Übergangszeitalters an die Stelle »des Juden« trete und im allgemeinen eines ›Zeiten‹- und Seinsbruchs angeklagt werde. Eine solche Verallgemeinerung kann angesichts des ethnischen Ausschlusses und der sehr konkreten Züge des Massenmordes nicht standhalten. Sie wäre selbst in ihrer verrätselten Sprache und ihrer Nicht-Indifferenz der Komplizenschaft zu verdächtigen. Für eine Epoché zwischen Philosophie und Weltanschauung hätte für Heidegger Husserls Denkform exemplarisch sein müssen, was aber bedeutet hätte, dass deren strenge Bindung an Stringenz und an eine normative Ethik mit in Heideggers Kalkül einzutragen gewesen wäre. 26 In seinen besten Intuitionen näherte sich Jacques Derridas Philosophie der Dekonstruktion mit dem Motiv der ›Aussetzung‹ des Anfangs einer solchen Konstellation. 27 Im Hintergrund blieb bei Derrida das offenbarte Wort des Anfangs, die Tonart von Jerusalem, nicht von Athen gültig. Für Heidegger war ein solcher Weg letztlich unmöglich: Er ließ es in seiner frühen Philosophie an klaren Distinktionen zwischen Philosophie und Weltanschauung nicht fehlen (vgl. Erster Teil). Doch darin bleibt die Ambivalenz, dass er einen Weltbegriff von Philosophie mit einer Weltanschauung höherer Stufe gleichsetzt und dass jene Welt dann ihrerseits politisch realisiert werden soll. Die metaphysischen Grundstellungen der Seinsgeschichte reduzieren komplexe Denkansätze und -systeme auf Formen von Vgl.insbes. GA 65. S. 405 ff. Ich beziehe mich hier auf Explikationsversuche im Begriffsrahmen von Heideggers Denken des ›Anderen Anfangs‹. Dass ich sie mir in keiner Weise zu eigen mache, versteht sich. 26 In den Marburger Vorlesungen der zwanziger Jahre gab es veritable Ansätze in diese Richtung, vgl. Erster Teil. 3. 27 Vgl. etwa J. Derrida, Heidegger: The Question of Being and History (Chicago: University of Chicago Press, 2016, wo Derrida seine Interpretationskunst auf Heidegger selbst anwendet. 24 25
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Weltanschauung, die aber durch die Sache des Denkens konterkariert werden sollte: Andenkende Einkehr in den Anfang sollte, eben weil sie nicht Seiendes verabsolutierte, sondern auf das Sein selbst ging, gerade nicht Weltanschauung sein. Heidegger betonte nachdrücklich die Entzogenheit der Seinserfahrung und des anderen Anfangs. Bei näherer Betrachtung ist aber unverkennbar, dass sein Denken des anderen Anfangs auf ein Momentum der Entscheidung und Krisis drängt, von dem ex negativo gesagt werden kann, dass es ganz anders gegenüber allem Anderen ist. Dies gibt seinen Kategorien eine Beweglichkeit und zugleich Ursprungssehnsucht, die am Ende die Ungeborgenheit und Negativität nicht konsequent genug festhielt. Diese Ungeborgenheit, die Edith Stein ihm zum Vorwurf macht, ist ein eigenes philosophisches Ethos Heideggers, das sich der Einvernahme entzieht. Dass Heidegger die philosophische Grundhaltung, die an »nichts zwischen Himmel und Erde« gehängt ist, nicht konsequenter durchhielt, könnte damit zu tun haben, dass sich Heidegger mit dem anderen Anfang über die methodischen Möglichkeiten und Grenzen des Seinsdenkens nur sporadisch und nicht im Ganzen Rechenschaft gab. Es ist wohl tatsächlich auch ein Nietzschesches Motiv: Die Erlösungserwartung und Verkündigungsgeste Zarathustras, deren Verführung Heidegger nicht konsequent widerstand, und die im Gegenüber zur desaströsesten NS-Ideolgie sein Denken infiltrierte. Das Umkippen des Seinsdenkens in Heideggers politische Philosophie folgt einem Konzept ›Großer Politik‹: Es ist in Zeiten des NS-Totalitarismus ungebrochen Platonisch und Nietzscheanisch und ihm lag der Aufbruch einer ›Bewegung‹ näher als der demokratisch republikanische Prozess. Dabei fehlten Heidegger wesentliche Tugenden, deren politische Philosophie bedarf. Auch dies hätte nicht zwangsläufig so sein müssen. Hatte doch der frühe Heidegger an die phrónesisLehre des Aristoteles angeknüpft und die Klarheit des lógos sogar als Rechtskategorie geltend gemacht und phänomenologisch rekonstruiert. 28 Doch einen eidetischen Moralbegriff mit einer Art Ewigkeitswert konnte Heidegger daraus nicht ableiten. Auch darin steht er zum Die der phänomenologischen Rechtsphilosophie gewidmete Habilitationsschrift von Manuela Massa wird diese Dimension Heidegger’schen Denkens weiter beleuchten.
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späten Husserl, insbesondere zu den Kaizo-Artikeln, 29 in einem Distanzverhältnis. Es bleibt ein ontologischer Mangel, dass die Kategorien der Existenz nur in ihrem phänomenalen Erscheinen und ihrer Emergenz für das Dasein, nicht aber im Sinn einer Orientierung der Urteilskraft festgehalten werden. 30 Gerade der Blick auf den frühen Aristoteles hätte Korrektive geben können. Hier liegt die neben dem religiösen Problem zweite große Verwerfung Heideggers. Jener ethische Vorbehalt der Urteilskraft hätte nämlich die Totale, die von der Seinsfrage unmittelbar auf einen Lebenshabitus und eine »Große Politik« eigener Art führte, aufbrechen können. Von der »Großen Politik« bleiben Texte wie die ›Rektoratsrede‹, die zu einer Wesentlichkeit und Entschiedenheit aufrufen, die per se nicht durch politisches Urteil zu korrigieren ist. Diese Tendenzen bleiben noch im Versuch der Abkehr und Selbstkorrektur als Grundstimmungen dominant und verhindern, dass Heidegger ein bürgerliches Bewusstsein ausbildete, eine Affinität zu Rechtsstaat und Demokratie. Heidegger verbuchte solchen Mangel an politischer Urteilskraft allzu selbstverständlich als Teil seines Denkens und legitimierte sie aus der Größe dieses Denkens. »Wer groß denkt, muss groß irren« (GA 13. 254). 31 Die faktische Größe seines Fragens und Denkens kann – und muss – von solchem falschen Pathos gelöst werden. Es muss nicht wundernehmen, dass sich daraus die Chimäre der Größe der »Bewegung des NS« ergibt und Heideggers Illusion, dass sie die Seins-Politik angemessen vertreten würde. Heidegger entwirft zwar Gegenbilder zu dem biologistisch rassistischen NS. Er umreißt eine fulminante Absage an das »Riesenhafte« der Weltpolitik. Doch zwischen normativ haltbaren und nicht-haltbaren politischen Ordnungen unterscheidet er nicht, eine Verhältnisbestimmung zwischen politischem und philosophischem Raum bleibt aus. Heidegger steht hier mit seinen Irrtümern nicht allein. Die Banalität seiner politischen Vorurteile teilt er mit anderen politischen Mandarinen seiner E. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937), hg. von Th. Nenon und H. R. Sepp. Husserliana Band XXVII. Den Haag 1988. Siehe dazu die Arbeit Chr. Spahn, Phänomenologische Handlungstheorie. Edmund Husserls Untersuchungen zur Ethik. Würzburg 1996, S. 120 ff. 30 Vgl. zum Problem praktischer Urteilskraft R. Enskat, Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005. 31 Dass gerade die Größe eines Denkens auch zu einer veritablen und klugen Ethik führen muss, sei als ein Ergebnis unserer Überlegungen nochmals festgehalten. 29
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Zeit, die vielfach, mit einem Diktum über Thomas Mann, »unwissende Magier« waren. 32 Die besondere Verführung des Philosophen zeigt sich darin, dass die Annahme, die metaphysische Grundstellung liege den Realitäten zugrunde, ihn zu der Vorstellung bringt, er könne die politische Agenda setzen und dies bevorzugt in einer Diktatur, deren Mechanismen und Mächte alles Denken von Grund auf zerstören. Die Maxime, den Führer zu führen, zeigt dies deutlich genug. 33 Deutschland hat seinerzeit, so wie Sri Aurobindo einmal schrieb, seine Seele gesucht und – auf Zeit – Macht gewonnen, die es dann aufgrund des Hitler’schen Wahns über alle strategisch taktischen Maßstäbe hinaus ausdehnte und umgehend wiedereinbüßte. Man wird nicht umhin können, Heidegger eine Teilhabe an jenen Irrtümern zuzuweisen. Nicht unerwähnt kann auch in diesem Zusammenhang Heideggers nur mündlich überliefertes Diktum bleiben, Nietzsche habe ihn »kaputt gemacht«. Was er damit meinte, ist, wie wir sahen, schwer zu entschlüsseln. Versuchsweise gefragt, kann es der Gestus der Verkündigung und des Pathos sein, der allzu stark auf Heideggers Denken überging. Dennoch war die Nietzsche-Auseinandersetzung auch ein Medium, um dem Denken entfesselter Gewalt entgegenzutreten. Heidegger unterschied ganz gegen die zeitgenössische Nietzsche-Auslegung den abgründigsten Gedanken der ›ewigen Wiederkehr des Gleichen‹, Nietzsches Lehre von der Zeit, von der Selbstermächtigungslehre des »Willens zur Macht« – nach Nietzsche, dem »letzten Faktum, zu dem wir hinunterkommen«. Schon bei einer nur vordergründigen Kenntnisnahme ist unübersehbar, dass Heideggers Nietzsche-Interpretation denkbar unzeitgemäß ist. Nichts vom dem Vordenker der »blonden Bestie«, dem Ideologem des »heroischen Realismus« von Alfred Baeumler wird man finden. 34 In ihren Grundlinien wandelt sich die Nietzsche-Interpretation von einer Sympathie mit Nietzsches EinJ. Fest, Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann. Berlin 1985. Aufgrund seines demokratischen Lernprozesses erklärt Reinhard Mehring Thomas Mann heute zu einer Art Gegenbild zu Heidegger. Damit ist durchaus eine fruchtbare Spannung angzeigt, die Heideggers zeitweisen Weg in den NS, nicht aber sein Denken desavouieren kann. Vgl. Mehring, Martin Heidegger und die ›Konservative Revolution‹. Freiburg/Br., München 2018. 33 Die Zuschreibung, Heidegger habe den ›Führer führen‹ wollen, stammt von Karl Jaspers. Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, a. a. O. Sie ist nicht ernsthaft zu bezweifeln. 34 Vgl. Baeumler, Nietzsche – der Philosoph und Politiker. Berlin 1934. 32
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sicht in das tragische Zeitalter der Griechen zu der Deutung, dass der Willer zur Macht die letzte mögliche Grundstellung der Metaphysik sei, da sich in ihm die Subjektivität nur noch selbst wolle, befestige und um sich kreise. Die Nietzsche-Vorlesungen bildeten, wie wir oben zeigten (Dritter Teil, Kapitel 21), das durchgehende Medium, wie Heidegger die eigene Zeit aufnahm und mit seinem eigenen esoterischen Seinsdenken in Verbindung brachte. Eine ›Verwindung‹ des Jahres 1933 kam dabei nur bedingt zustande. Dass die Letztkonstellation des Willens den anderen Anfang hervorgehen lasse, erklärt den Abbruch sogar für sinnvoll. Seine Fortsetzung findet dieser sich ermächtigende Wille nicht mehr in einer weiteren metaphysischen Grundstellung, sondern nur noch im »Willen zum Willen«, der Selbstermächtigung des ›Gestells‹. Was kann das änigmatische Diktum zu Nietzsche vor diesem Hintergrund besagen? Es liegt nahe, ihm abzulesen, dass sich Heidegger nach seinem eigenen Urteil zu sehr auf den pathetischen Verkündigungsgestus eines Pseudo-Zarathustra eingelassen hat und seinerseits in einem Nietzsche-Gestus, der gerade nicht der Gestus seines frühen philosophischen Forschens war, einer großen Politik das Wort redete, die sich an die Pseudogröße des NS-Popanzes verlor. So wenig wie man dem Denken zubilligen mag, dass es unmittelbar in eine »große« Politik übergeht, so sehr muss man von ihm fordern, dass es auf der Höhe der Zeitgenossenschaft auch die Untiefen der Politik durchschaut und begreift. Mit diesem Anspruch sollte man sich im Blick auf Heidegger in der NS-Zeit die legitimierenden Worte versagen. Heideggers ›Große Politik‹ ist nicht zu retten und gehört zu Recht einer nicht-restituierbaren Vergangenheit an. Denn die philosophierende Prophetie ist nicht nur mit der Realität der NS-Ideologie konfrontiert, sondern ihrer blutigen, zerstörerischen Wirklichkeit. Das moralische Skandalon von Heidegger in der NS-Zeit bleibt bestehen. Es ist deshalb auch ein sachliches Problem, dass Heidegger sich einer Öffentlichkeit und deren vermeintlichem Anspruch auf Selbstrechenschaft konsequent versagte. Dies widerspricht nicht nur dem Intellektuellenbild und der Einklage von Transparenz, sondern auch dem Topos philosophischer Selbstrechenschaft. Der Wunsch, hinter dem eigenen Denken zurückzutreten und unkenntlich werden zu wollen, ist angesichts der Schlagwörter und Phrasen, deren Kritik 376
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Heidegger wie sonst nur Karl Kraus kultivierte, 35 aber allzu verständlich. Die ›Kunst des verdeckten Schreibens und Redens‹, die der Heidegger-Schüler der frühen Jahre Leo Strauss in seiner Hermeneutik subtil zutage förderte, wandte Heidegger etwa in dem SPIEGEL-Gespräch auf sich selbst an. Er verbarg damit aber zugleich Fakten und moralische Realitäten. 36 Das Verständliche schlägt so ins Ärgerliche und Fragliche um. Damit wird noch einmal deutlich, dass eine demokratische Grundhaltung in Heideggers eigener Denkattitüde nicht vorgesehen ist. Dies liegt, wie gesagt, im Horizont seiner Generationenerfahrung. Es wird aber zum Problem, wo ein Denken weit über seine Zeit hinausreicht und durch Texte und Haltungen mit einer politischen Attitüde verbunden ist, die durch die Zeit diskreditiert und als obsolet widerlegt ist. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen mutet Heidegger späteren Lesern zu. Sie müssen deshalb Schnitte in sein Denken und seine Zeitgenossenschaft legen, wenn sie es sich nicht, nach der einen oder anderen Seite, zu einfach machen wollen. Die Bedeutung und Singularität Heidegger’schen Denkens legitimieren und verlangen dies. Das zu zeigen, ist nicht zuletzt Absicht dieser Monographie. Heidegger rechtfertigt die un- und gegenpolitische Konzeption gelegentlich wie in dem SPIEGEL-Gespräch mit den Topoi einer philosophischen Antipolitik, die sich in den Raum eines zweitausendjährigen philosophischen Elitismus einschreibt, aber nicht die fruchtbare Spannung zwischen Polis und Philosophen aufnimmt, wie sie seit Sokrates virulent ist. 37 Heidegger stellte sich deshalb in dieser Konstellation zeitweise auf die Seite der Gewalt und lógos-Feindschaft im Namen der höheren und tieferen Wahrheit des Seins. Dies macht seine Applikation des Seinsdenkens auf den NS-Totalitarismus prekär. Die Spannung zwischen Philosophie und Politik bei Heidegger zeigt auch, dass der Begriff politischer Philosophie sich unter dem Sog von Heideggers Einlassungen gegenüber der normativen Vordergrundansicht umkehrt. Scharfsinnige Analogien zwischen der Sprachkritik von Karl Kraus und von Heidegger zieht der Karl Kraus-Forscher Edward Timms, Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes. (= Enzyklopädie des Wiener Wissens, Reihe Porträts, Band V). Weitra 2016, S. 234 ff. 36 Dazu wieder Hachmeister, Heideggers Testament, a. a. O. 37 Vgl. L. Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy. With an Introduction by Th. L. Pangle. Chicago, London 1983. 35
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Der Topos verweist klassisch seit Sokrates darauf, dass die philosophische Polis dort kompensatorisch einzutreten hat, wo die faktische Polis kompromittiert ist, sodass die philosophische Polis die eigentliche Sorge um die Seele wahrt. Diesen Sokratischen Impuls verschob Platon auf das Korrespondenzverhältnis zwischen Seele und Stadt, der kleinen und der großen Schrift, 38 und er überwölbte ihn in der umfassenden Ordnung der Hierarchie seines Ständestaates. Platonischer Impetus war dabei, dass die reale Demokratie nicht in der Lage ist, zwischen Gerechtem und Unterechtem zu unterscheiden. Eine Amalgamierung aber mit dem NS-Regime führt aus diesem normativen Feld grundsätzlich heraus. Das Spannungsfeld zwischen Polis und Philosophie endet dort, wo die Tyrannis ihre eisernen Bande knüpft. Tyrannei ist gleichsam ipso facto Lógos- und Philosophiefeindschaft.
Ideologische Perversion Hier ist wiederum kurz zu resümieren: Eine große Denkform der Moderne bleibt Heideggers Ansatz nur und solange, solange er wirklich deren Spannungsbogen aushält. Nicht nur auf die Moderne muss und sollte man jene Überlegungen beziehen, sondern darüber hinaus auf den Topos des Seinsgeschehens selbst, der phýsis und aletheia. Wo aus den frühgriechischen Fragmenten eine Heilslehre oder ein Kryptogramm einer solchen abgelesen wird, wo der Ursprung nicht in den Horizonten einer entzauberten Welt verdeutlicht werden kann, dort verwischen in gefährlicher Weise die Konturen und dort wird Heideggers »Fall ins Allzuzeitliche«, wie Heidegger-Anhänger zu seinen Lebzeiten die zeitweise Identifikation der NS-Komplizenschaft nannten, auch ein philosophisches Verdikt. Gründe, weshalb dies keineswegs bedeutet, dass man jenes Denken im Ganzen und mehr oder minder unbesehen verwerfen müsste oder dürfte, muss eine heutige Heidegger-Interpretation beibringen. Wenn auch Heideggers einschlägige Positionierungen für sich selbst stehen und angesichts der Inventionskraft seines Denkens besonderes Gewicht haben, so ist doch nicht zu verkennen, dass unter den deutschen Mandarinen seit dem Deutschen Idealismus einige Momente vorgeprägt sind, die bei ihm zutage treten: Die Graeco38
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philie auf der einen Seite, gepaart mit einem antijüdischen Akzent andererseits. Selbst in schönen Selbstfindungstexten der deutschen Romantik findet man unsägliche antijüdische Invektiven. Heidegger ist nicht exkulpiert, wenn man auf diese Genealogie hinweist. Sie lässt vielmehr auf die Konstellation, in der sich auch sein Denken abspielt, eine düstere Beleuchtung fallen. Heidegger steht pars pro toto und für sich. Deshalb sind seine Verwicklungen in den NS auch so repräsentativ und verstörend, und deshalb haftet den Debatten ein Sündenbockmechanismus an, eine Selbstexkulpierung und Selbsterweis der Kinder der willigen Vollstrecker als rein und frei von den Heidegger’schen Irrtümern, die auch Heutige und Zukünftige, Adornos Mahnung aund allen humanen Bemühungen zum Trotz, einholen könnten. Denn das Schrecklichste kann in banaler und glänzender Form bestürzen.
Einzelzüge Heideggers NS-Engagement kulminiert in den Jahren 1933/34 in der Zeit des Rektorates. Allerdings bleibt er bis zum Kriegsende Mitglied der NSDAP. Eine Fülle von Texten ist mittlerweile durch die Edition des Bandes 16 der GA und anderen Editionen zugänglich gemacht worden. Wenn Heidegger in einem Brief an Herbert Marcuse von einzelnen »Entgleisungen« sprach (16.430), so ist dies eine Untertreibung, die allein die faktische Anzahl der Einlassungen unterschätzt. 39 Das berühmteste Zeugnis bleibt die Rede über die ›Selbstbehauptung der deutschen Universität‹ zur Rektoratsübernahme im Mai 1933. Zutreffend erscheint in diesem Punkt die Bemerkung von Dieter Thomä, dass Heideggers Haltung in den Jahren 1933–35 gegenüber seinem Denken zuvor und danach strikt zu unterscheiden sei. 40 Wie in vielen anderen Zeugnissen der folgenden Jahre überwiegt auch in der Rektoratsrede ein Dezisionismus und Voluntarismus, der für Heideggers Denken ansonsten gerade nicht charakteristisch ist: Es gehe darum, das innerste Wesen der Wissenschaft zu wollen und zu bejahen (16.108); um Bindung und Verbindlichkeit, wobei die DaD. Thomä, »Heidegger und der Nationalsozialismus. In der Dunkelkammer der Seinsgeschichte«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 141 f. Siehe auch Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld?, a. a. O., S. 156 ff. 40 Vgl. Thomä, ibid. 39
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seinsanalysen von Sein und Zeit in sprachlicher und sachlicher Selbstandienung an die »Volksgemeinschaft« und das »das deutsche Dasein« geknüpft werden (113 f.). Der Geist-Begriff, den Heidegger sonst allenfalls verhalten verwendet, tritt ins Zentrum und wird mit der Bindung an zwei andere Instanzen verbunden: »Volk« und »Geschick des Staates« (114). Dieser Dezisionismus paralysiert sich selbst, er will letztlich nur sich und verfügt gerade durch seinen Reflexivitätsmangel über ein hohes Maß an Faszinationskraft. Die Evokation des Platon-Satzes 497d9: »alles Große steht im Sturm« wird zum wohlkomponierten End- und Zielpunkt der Rede. Zeitgenössische Rezeption, die mittlerweile gut dokumentiert ist, nahm diesen Impetus auf, die Begeisterungskraft auch in der akademischen Jugend dürfte beträchtlich gewesen sein. Der klassische Philologe Richard Harder formulierte bewundernd: »Eine Kampfrede, ein denkerischer Aufruf, ein entschlossenes und zwingendes Sich-in-die-Zeit-Stellen; […] von echter Einfachheit, festem Willen und tiefer Furchtlosigkeit: ein wirkliches politisches Manifest« 41 Die Notwendigkeit von Wissenschaft kann Heidegger auch ein knappes Jahr später, im Februar 1934, nicht aus deren Freiheit begründen, sondern nur, wenn zuvor sichergestellt ist, in welchem Sinne überhaupt der Wissenschaft so etwas wie Notwendigkeit zukommen kann (253). Die Universität ist damit keineswegs als ein Raum von Freiheit und potenzieller Widerständigkeit aufgefasst, sondern als erstes und grundlegendes Kampffeld des NS. Andernfalls taumle man »als ein vermeintlich ernster Verfechter der Erfordernisse des wirklichen Lebens unentschieden in lauter Halbheiten umher« (255). 42 Die Kritik, die Heidegger während der NS-Zeit immer wieder formuliert, liegt also auf derselben Ebene wie in der 1954 unverändert wieder abgedruckten Vorlesung Einführung in die Metaphysik mit der Bemerkung über die »innere Wahrheit und Größe« jener Bewegung, die nichts mit der gängigen »Philosophie des Nationalsozialismus« zu tun habe, die herumgeboten werde (EM 152). Man sprach deshalb etwas flach aber nicht ganz falsch von Heideggers »Privat-
Heidegger-Jahrbuch 4, Heidegger und der Nationalsozialismus, S. 140. Dieses Zitat ließe sich vielfach ergänzen. Ibid., S. 140–214 sind zustimmende und abwehrende Stimmen versammelt. 42 F. Grosser, Revolution denken. Heidegger und das Politische. 1919–1969, a. a. O., S. 219 ff. 41
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nationalsozialismus«. Er deutet sich auch in den Dekreten und Aussagen des Rektors an, die durchgehend in einem autoritativen Duktus gehalten sind, der denkend das Große, das im Sturm stehe, beschwört, zumal gegenüber der offensichtlichen »Kleingeisterei« der NS-Chargen und Bürokraten. 43 Dem Führerprinzip gewinnt Heidegger seinen Traum von einer Philosophenkönigsherrschaft ab, weshalb es nur die Zuspitzung dieser Konzeption ist, wenn er den »Führer führen will«, zu dessen phänotypischer Erscheinung der Briefwechsel mit dem Bruder Fritz anfangs Zuneigung und Affinität erkennen lässt, irrational und deshalb eines Philosophen in keiner Weise würdig. Man muss damit rechnen, dass dieser Nationalsozialismus an Radikalität die verordnete Ideologie übertraf. Die Illusion, dem NS ein geistiges oder ästhetisches Gesicht verleihen zu können, teilt Heidegger unter anderem mit Gottfried Benn. Die von Gerhard Ritter bemühte Analogie zu Platons Sizilischen Expeditionen ist naheliegend, in der Rückschau aber eher verharmlosend. Von solchen Einlassungen sind andere Zwischenbemerkungen in Heideggers Vorlesungswerk, vor allem auch seinen Nietzsche-Vorlesungen zu unterscheiden, in denen er vor allem den Biologismus und die rassistischen Engführungen unzweideutig klar kritisiert und ihr widerspricht. All das kann aber nichts daran ändern, dass er bis tief in die vierziger Jahre an einer welthistorischen Mission Deutschlands festhielt, 44 motiviert nicht zuletzt durch den Kampf gegen den Bolschewismus und mit der Rolle der Deutschen im abendländischen Geschick begründet (54.114, 55.123). Insofern schrieb Heidegger auch nach der Niederlegung für längere Zeit die Evokationen seiner Rektoratsrede weiter. Es ist nicht verwunderlich, wenn man ähnlich grundierte Passagen auch in den Schwarzen Heften findet, sodass Überraschung, Enttäuschung und nachfolgende Empörung über diese Korpora bei einer einigermaßen differenzierten Kenntnis von Heideggers Werk und seinem Nachlass eher irritiert. 45 Nach wie vor scheint mir die Einsicht von Norbert Kapferer zutreffend und erschließend, dass sich bei Heidegger einander »durch-
Vgl. dazu die Dokumentation in GA 16, vor allem S. 81–277. Es ist ein großes Verdienst von Heideggers Sohn Hermann, dass er diesen Dokumentenband ohne Cachierungen vorlegte. 44 Dazu Grosser und Thomä a. a. O. 45 Dies bedeutet auch, dass es wenig begründet ist, den Schwarzen Heften einen expliziten Sonderstatus zusprechen zu wollen. 43
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kreuzende Diskurse […] für und gegen den Antisemitismus« finden ließen. 46 Heidegger benutzt beispielsweise die Ressentiments gegen eine »Verjudung des deutschen Geisteslebens«, um schon 1929/30 den Breslauer Philosophen Siegfried Marck vernichtend zu kritisieren, unterbreitete dann aber, wie Kapferer gezeigt hat, einen Listenvorschlag, der nur jüdische Namen enthielt. Auch gegenüber Hönigswald bemühte Heidegger antisemitische Klischees und zwar Klischees des vulgären, banalen und brutalen NS, mit dem Ressentiment von »Blut und Boden«, das sich gegen den Hönigswald’schen Begriff eines »freischwebenden Bewusstseins« richtete (GA 16. 132). Insofern berührt sich die Hönigswald-Polemik mit denselben Stereotypen, mit denen Heidegger in den Schwarzen Heften auch gegen Husserl polemisiert. Das eigentliche philosophische Skandalon sind und bleiben Heideggers Seminarübungen über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat aus dem Wintersemester 1933/34 47 und über Hegels Rechtsphilosophie aus dem Wintersemester 1933/34. 48 In dem zuletzt genannten Stück korrumpiert sich Heideggers Denken selbst zutiefst und macht sich mit der NS-Ideologie gemein. Es finden sich Einschreibungsversuche des »Völkischen« und des »Führerprinzips« in den Hegel’schen Text: Heidegger zieht selbst eine Linie vom Dasein zum »Sprung in den Vollzug«, fordert die »Schaffung einer neuen Grundhaltung willensmäßiger Art«, die das Führerprinzip in höchstem Maß legitimiert, zugleich aber das deutsche Dasein als tragende Säule dieses Prinzips exponiert: »Auf unserer Wachheit und Bereitschaft und unserem Leben ruht der Staat. Die Art und Weise unseres Seins prägt das Sein unsres Staates« 49. Marion Heinz hat zutreffend konstatiert, dass hier ein Überbietungsgestus an Radikalität gegenüber Nietzsche und partiell auch gegenüber Ernst Jünger dazu führe, dass die Philosophie sich einzig darin definiere »zum Erfüllungsgehilfen des Faktischen« zu werden. 50 Solche Zeugnisse findet N. Kapferer, »Diese Art von Philosophiedozenten ist unser Ruin. Zwei Gutachten Martin Heideggers aus den Jahren 1929/1930«, in: Neue Zürcher Zeitung, 8. und 9. 9. 2001, S. 51 f. 47 Publiziert in: Heidegger-Jahrbuch 4. Heidegger und der Nationalsozialismus I. Dokumente, hgg. von A. Denker und H. Zaborowski. Freiburg/Br., München 2009, S. 53–89. 48 Letzteres GA 86, S. 59–189, insbes. S. 169 ff. 49 Heidegger-Jahrbuch 4, S. 74. 50 Heinz, in: Heidegger-Jahrbuch 5, S. 75. 46
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man in dieser Form indes nur in den Jahren 1933–34. Sie bleiben ein erschreckendes und nicht zu entschuldigendes Unikat. Nicht nur eine Reduktion von Heideggers Denken auf jene Selbst-Pervertierung verbietet sich meines Erachtens mit guten Gründen, sondern auch der Versuch, aus dem Ansatz von Sein und Zeit und der nachfolgenden Beiträge diese Irrgänge zu erklären. Wenn Heidegger im Sommersemester 1934 philosophisch mit der Vorlesung Über Logik als Frage nach der Sprache allmählich den philosophischen Grund wiedergewinnt, so ist eine Form der katharsis eingeleitet, die sein späteres Denken begleitet und bestimmt. Der Selbstverlust des Denkens um 1933 ist in seiner objektiven Seite ungleich komplexer als die entsprechenden Engagements eines Jünger, Benn oder Carl Schmitt. Heidegger war nicht Ästhet, nicht Inszenierer des Frontkämpfererlebnisses und er war auch nicht politischer Denker und Kronjurist. Das Desaster ist gerade, dass er sich den Kraftfeldern der politischen Philosophie explizit nur auf dem Akut 1933 zuwandte. Die später von Alexander Schwan zum Leitmotiv seiner Heidegger-Deutung gewählte Einsicht Heideggers, er sei für Politik nicht begabt gewesen, 51 ist sicher zutreffend, aber in einer anderen Weise, als sie Heidegger vorgeschwebt habe. Wo sich das Seinsdenken politischen Einfluss verschaffen wollte, wird es zu einer philosophischen Kratik und Tyrannei, aber eben nicht Politik. Es verlässt die pazifizierende, Rede und Gegenrede suchende Dimension der politischen Debatte. Sie ist tief in den Traditionen politischer Philosophie verankert, doch sie geriet im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder aus dem Blick. Heidegger bleibt ein beträchtlicher Mangel an Urteilskraft und ethischem moral sense zu unterstellen. Heidegger meinte mit seinem Mangel an politischer Begabung aber viel mehr: Dass nämlich die tiefen Deformationen des Nihilismus, die grundlegende Entfremdung der entfesselten Machenschaft in keiner Weise mit politischem Instrumentarium zu beschreiben, geschweige denn aufzulösen ist. Wie weiter oben (vgl. Erster Teil) gezeigt werden sollte, ist die ethisch-politische Indifferenz Heideggers aber in keiner Weise in seinem Denkweg festgelegt. Dieser kennt vielmehr unterschiedliche Möglichkeiten, Abzweigungen und Abbiegungen, sodass von dem Kant-Buch und der Metontologie aus auch eine ethische Idee in das Seinsdenken hätte einbezogen werden können. Heidegger wählte 51
Heidegger-Arendt, Briefwechsel, a. a. O., S. 95.
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einen anderen Weg und dies führt zu einer Gleichsetzung und Nivellierung von Differenzen, die nicht nur politischer, sondern auch moralischer Natur sind. Charakteristisch und pars pro toto kann der Satz firmieren: »Rasserettung und Schutz der Freiheit sind auf den wechselweisen Gegenseiten die Vorwände, hinter denen die reine Macht sich austobt« (69.154). Indes: So unakzeptabel die moralische Indifferenz im Hintergrund dieser These auch ist: Sie bleibt sinnvoll, wenn man ein totales Anihilement im nihilistischen Zeitalter voraussetzt, eine Total-Entfremdung, angesichts deren ethische Apelle selbst zu Phrasen verkommen sind. Ob eine solche Gegenwarts- oder Zukunftsdiagnose eintritt, hängt von erkennenden, diagnostizierenden und praktisch handelnden Subjekten in ihren Institutionen auf der Suche nach einem guten oder doch gerechten Leben ab. 52 Der strukturelle Grundmangel Heidegger’schen Denkens, der in der Tat 1933 hell zu Tage tritt, besteht dann darin, dass er (1) in seinem Denken die sich selbst verantwortende und mit sich vertraute Subjektivität letztlich umgangen hat; (2) dass er das in der Welt-sein des Daseins nicht an eine Selbstreflexivität und Urteilskraft gebunden hat, die dessen Freiheit auch in einer verstellten und verdunkelten Lebenswelt retten kann. Dies ist ein Schritt, der sich vom Ethos des späten Husserl in einer Weise ganz und gar entfernte, die keineswegs zwangsläufig oder auch nur wohlbegründet war. (3) Dass die von konkret qualifizierenden Intentionalitäten absehende Freiheit in eine Notwendigkeit des Seinsgeschicks umschlägt, die sich vollzieht und vollstreckt, ohne Einwände zuzulassen. Damit wird erst der tiefste Punkt des NS-Desasters erreicht: Heideggers Denken ist, so die These dieses Buches, durchgängig auf die eine Frage nach dem Sein der Phänomene: dem Sein des Seienden und dem Sein des Daseins: Daher spielt sie sich auf der ur-wissenschaftlichen, vortheoretischen Tiefenebene ab, die Husserl nur topologisch andeutete. Sie kann deshalb nur »formal anzeigend« verfahren oder später sich in Annäherungen und Andeutungen an diese Tiefenschicht bewegen. Umso mehr müsste sie sich Rechenschaft geben, was sie systematisch nicht beleuchtet und nicht bedenkt. Aus dieser hermeneutisch-phänomenologischen Spekulation um Grund und Abgrund des Seins springt Heidegger aber in seiner NS-Verwicklung auf eine große Kratik und Selbstermächtigung auf, Vgl. dazu P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer. München, Paderborn 2005, S. 245 ff.
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die er zu einer Seinsermächtigung erklärt. Den Status und die Ebene seines Denkens verkennt er vollständig und gibt deren Ansatz zweitweise an das ›Gestell‹ preis. Die Tiefendimension, die sein Denken sonst durchmessen hat, sucht gleichsam eine Inkarnation an einem geschichtlichen kairós und in einer Person. Philosophie wird damit nicht nur in eine amoralische, wahrheitsvernichtende Ideologie verkehrt: Dies ist auch das Schicksal bedeutender linker Intellektueller in Bolschewismus und insbesondere Stalinismus gewesen. Sie degradiert sich zeitweise zur Gefolgschaft einer politischen Religion. Die messianisch-inkarnatorische Struktur der Offenbarungsreligionen wird nachgeahmt und zerstört tatsächlich den Gestus eines Denkens, das in den Grund der Seinsfrage selbst zielen wollte und alle Offenbarung zurückwies. Heideggers scharfe Absage an Judentum und Christentum und seine Behauptung, er habe nicht glauben können, weil er sonst nicht mehr hätte denken können, wird vor diesem Hintergrund zu einem freilich peinlich genau cachierten Selbsturteil. Aurobindos zitierte Aussage, Deutschland habe seine Seele gefunden und eine Macht gefunden, die sich am Ende selbst zerstören musste, beschreibt auch Heideggers »Fall« im Grundriss. Es bleibt ein tiefes Dilemma, dass man dieses Denken in intellektueller Redlichkeit nicht mehr wird rezipieren können, ohne auf seine NS-Implementierung mit zu achten: Heidegger eignet sich weder als Sündenbock, auf den kollektive Defizite zu übertragen wären, weder als Objekt einer Totalverwerfung noch zu beliebiger Weißwäscherei. Eben deshalb sollte man es sich aber weder nach der einen noch nach der anderen Seite zu leicht machen. Dieses Denken ist in die Kontexte des Zeitalters der Extreme und in die Ideologie- und Schandgeschichte des 20. Jahrhunderts eingewoben. Es hat darauf reagiert und sich selbst korrumpiert. Doch es behält seinen inneren Rang als großes exemplarisches Denken, das preiszugeben bedeuten würde, ganze Dimensionen von möglicher philosophischer Weltorientierung zu verlieren. Beide Horizonte zeichnen sich exemplarisch in Heideggers vielfach inkriminierten Schwarzen Heften ab.
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27. Die Überlegungen. Schwarze Hefte: Schattenlinie und narrative Selbstverständigung Skandalstellen ohne Kontext 1. In dem ersten Band, der die Aufzeichnungen der Jahre 1931–1938 bündelt und auch Heideggers eigene authentische Auseinandersetzung mit dem NS-Rektorat enthält, finden sich noch keine explizit antisemitischen Zeugnisse. Bestimmend ist aber, neben klar erkennbaren dezidiert antichristlichen Ansichten (»die Formen des neuzeitlichen Christentums als die eigentlichen Gestalten der Gott-losigkeit« GA 94. 322), die Unterscheidung eines »Vulgärnationalsozialismus« von einem »geistigen Nationalsozialismus«. Heidegger nennt ihn zugleich ›Metapolitik des geschichtlichen Volkes‹. Dies war im publizierten Werk unter der Frageformel: »Den Führer führen?« bekannt. In den Schwarzen Heften werden die Hintergründe klar. Zu dieser Zeit und noch über das Rektorat hinaus war es Heideggers Auffassung, dass die kairoshafte Wendung vom ersten zum anderen Anfang, die Aufsuchung des ersten Anfangs vor aller Metaphysik, die platonisierende Suche nach der Wegbahnen für Philosophen, die kommen sollten, mit dem NS-›Aufbruch‹ parallel verlaufe. Davon hat er sich in den dreißiger Jahren nach und nach verabschiedet. Er sah die Dummheit und Dumpfheit, so wie sie auch ein Gottfried Benn sah, der zeitweise die Avantgarde der Zukunft mit dem NS verband. Doch, und dies ist das eigentlich Beunruhigende, mit dem Abschied vom offiziösen Nationalsozialismus vertieft und verstärkt sich gerade Heideggers Antisemitismus. Er kommt danach in den Schwarzen Heften erst eigentlich zum Tragen. Wie nimmt sich nun der Antisemitismus in den Schwarzen Heften aus? Im Konvolut aus den Jahren 1938/39 in Überlegungen VIII tauchen die antisemitischen Spuren im Zusammenhang des ›Sprungs‹ vom ersten in den anderen Anfang auf: Der seinsgeschichtlichen Zäsur, die auch in den Beiträgen bereits eine markante Rolle spielt. Es komme am Ende der metaphysisch technischen Wegbahn, da sich dieser Übergang vollzieht zu einer »Bodenlosigkeit«, Ungebundenheit, einem freischwebenden Interim. In dieser Phase habe »wohl« das Judentum »die größere Bodenlosigkeit, die an nichts gebunden alles sich dienstbar macht« Einfluss. Diese Aussage verbindet sich mit Klischees, die wahrhaft Heideggers »Banalität« (J.-L. Nancy) und damit auch eine »Banalität des Denkverlusts« skizzieren. Kon386
Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
notiert wird das Judentum mit der »zähen Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens«. »Das Judentum« betreibe die Machenschaft, auch eine anderwärts bekannte Heidegger’sche Kategorie: Sie aber hat eine gleichsam systemische Autodynamik (das erinnert an Luhmanns Systemtheorie oder Hegels Logik), sodass sie nicht zu beherrschen sei. Wieder ist die fehlende moralische Sensibilität erschreckend: Auch der Nationalsozialismus bedient sich der Machenschaft, ist neuzeitlicher Technik destruktivem Gestell verpflichtet. Täter und Opfer werden in einem Atemzug una voce aus der höheren Warte der Seinsgeschichte der Komplizenschaft bezichtigt. Ein Golgatha der Individuen, vor dem es einem grauen muss, gerade dann, wenn man Gedanken Bewegungskraft zutraut. Diese temporäre Freilassung, auf die Heidegger anspielt, hat mit der christlichen Notation des ›Antichrist‹ zu tun. Erst später wird Heidegger dessen Figuration mit dem Judentum ausdrücklich in Zusammenhang bringen: In christlicher Eschatologie kommt der Antichrist auf, nachdem die Katechonten kapituliert haben. Doch seine Entfesselung ist zugleich unerlässlich, damit die künftige herrliche Gottes- bei Heidegger: Seinsherrschaft anbrechen kann. 2. In den Schwarzen Heften der Jahre 1939–1941 explodieren dann die antisemitischen Passagen. Mit dem Eintritt der Stalinschen Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg im Sommer 1941 werden die Signale immer markanter, nicht so sehr im Umfang aber in der Rigidität. Heidegger setzt wie es übliches Ressentiment-Klischee auch in Hitlers ›Mein Kampf‹ und Reden war: die Gleichung von »Bolschewismus« und vermeintlichem Weltjudentum. Durchgängig wird die »sonst leere Rationalität und Rechenfähigkeit« (GA 96. 46) diesem Syndrom zugewiesen. Dabei finden sich infame Passagen, wie man sie zuvor und danach bei Heidegger noch nicht lesen konnte: Das Weltjudentum lebe am konsequentesten nach dem Rasseprinzip, weshalb es »sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setze«. Heidegger liege, so konnte man bislang sagen, Rasse-Antisemitismus fern. Man konnte sich auf Passagen in Vorlesungsmanuskripten, gerade den Nietzsche-Kollegs, berufen, in denen er sich deutlich gegen naturalistischen Biologismus und Rassismus wandte. Von den Schwarzen Heften aus sind solche Überlegungen Makulatur: Heidegger verbindet Rasse, Blut, Boden mit seinem Seinsdenken: »Alles Blut und alle ›Rasse‹, jedes ›Volkstum‹ [ist] vergeblich und ein blinder Ablauf, wenn es nicht schon in einem Wagnis des Seins« schwinge und »als Wagendes dem Blitzstrahl sich 387
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frei« stelle und der Wahrheit des Seins die Stelle des Offenen einräume. Hier hat man eine unheimliche Engführung, die zeigt, wie Heideggers eigenste Bestimmungen und Evokationen unmittelbar in die Rasse-Evokationen verflochten werden. Ein untrennbarer Konnex, ein metastasierender Krebs. Heidegger widerruft zwar immer wieder das Rassedenken als nicht wesentlich, nur neuzeitlich. Seine Anführungszeichen-Ironie verdeutlicht dies. Doch er verfängt sich in einer Wahnlogik des Rassedenkens, das sich gerade nicht einhegen lässt. Was für ein Fall, was für eine moralische und denkerische Selbstzerstörung! Schwer erfindlich bleibt, wie die Absetzung in den Vorlesungen und die Evokation in den Schwarzen Heften zusammengehen konnten. Bis auf weiteres liegt die Vermutung nahe, dass in den Heften die umfänglichere, vollständigere Wahrheit gesagt ist. Das Muster eines buchstäblichen Exorzismus wird zwischen den Zeilen immer wieder deutlich. Es bedürfe nach Heidegger einer Katharsis des Seins »von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden« (GA 96. 238), es wäre eine Katharsis auch, wenngleich nicht nur vom »Weltjudentum«. Daneben nennt Heidegger den amerikanischen Imperialismus, den entfesselten »Willen zur Macht«, wobei man annehmen kann, dass er auch den Wallstreet-Kapitalismus als jüdische Veranstaltung auffasst. Einbezogen ist dies in einen weiteren Rahmen: Die höchste Vollendung der Technik und des Willens zur Macht werde ihren letzten Akt darin haben, »dass sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist«. Hier zeigt sich wieder die Amoralität. Man findet in den Konvoluten der 1939/41 drei Passagen, die besonders hervorgehoben und viel diskutiert worden sind. Die erste richtet sich gegen Husserls Begründung und Prägung der Phänomenologie. Dieser Text ist, man kann dies nicht beschönigen, eine Infamie, die die seinerzeit gängigen dumpfen Reden vom »jüdischen Intellektualismus« nur unwesentlich sublimiert. Die Rede ist von jüdischer Rationalität und Rechenfähigkeit, »die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im ›Geist‹ verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu können. Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und Fragen werden, um so unzugänglicher bleiben sie dieser ›Rasse‹. Heimatlosigkeit im Geist, so dekretiert, ist erst recht in jener Zeit eine Aufforderung an den jüdischen Gegner zu verschwinden, das mindeste ist das Verdikt, er solle ins Exil gehen. Weiter: »So ist Husserls Schritt zur phänomenologischen Betrachtung unter Absetzung gegen die 388
Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
psychologische Erklärung … von bleibender Wichtigkeit – und dennoch reicht sie [sic!] nirgends in die Bezirke wesentlicher Entscheidungen« (GA 96. 46). Sie setze »historische Überlieferung voraus, sei also nicht originär, ein klassisch antisemitisches Verdikt. Ernst Jünger etwa hat formuliert: »Der Jude kann in nichts, was das deutsche Leben anbetrifft, weder im Guten noch im Bösen, eine schöpferische Rolle spielen«. In solchen Aussagen, die auch in der Sicht auf ein Werk nicht verjähren dürfen, sind Himmler und Streicher präsent, nur unwesentlich ›veredelt‹. Heidegger legitimiert seinen »Angriff« gegen Husserl darin, dass er »einen geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahrheit des Seyns« seinerseits gründe. Dann akzentuiert Heidegger immer wieder die »Ungebundenheit«, die »Entwurzelung« des vermeintlichen Weltjudentums. Darin changieren seine Aussagen zwischen Rasseressentiments und metaphysischer Grundierung. »Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ›Aufgabe‹ übernehmen kann« (ibid., 243). Von hier her konturieren die Schwarzen Hefte einen »Judaeo-Bolschewismus«, dem die Absage gilt. Es ist nicht einfach zufällig, wenn explizit auf die jüdische Herkunft von Litwinow und Radek hingewiesen wird, und es ist reaktionäre und vermeintlich realpolitische Resonanz auf eine Allianz der »metaphysischen Völker«, wenn Heidegger eine deutsch-russische Allianz demgegenüber anmahnt. Er, der keine Zeitungen las, betätigt sich in den Schwarzen Heften auch als politischer Taktiker. Mit jener vermeintlichen jüdischen Wurzellosigkeit verbindet sich in Heideggers Bestimmungen noch die ›Weltlosigkeit‹. Sie ist in seiner anthropologischen Vorlesung aus dem Jahr 1929 Welt-Endlichkeit-Einsamkeit die Eigenschaft, die dem vorvegetativen Leben zukommt, nicht der Pflanze, dem Stein. Sie katapultiert aus dem Humanum heraus und es ist zu beachten, dass auch in den Randbemerkungen der großen Systeme der Klassischen deutschen Philosophie jene Metaphorik schon vorbereitet ist, wenn bei Hegel, Schleiermacher, Fichte die Kongenialität des christlichen Kenose- und Auferstehungsglaubens zu den eigenen spekulativen Einsichten konstatiert wird, das Judentum aber als dürrer Ast, der erstorben und aus dem der Geist gewichen sei, denunziert wird. Wie konnte man das 389
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sagen, angesichts von Spinoza und Moses Mendelssohn, wie konnte Heidegger noch weitergehen in der Epoche von Buber und Rosenzweig, der ausdrücklich bei allen Bedenken im Rückgriff auf die Davoser Disputation bei Heidegger und nicht bei Cassirer das Pneuma, den Geist, auf den es ankommt, gesehen hatte? Der Ast lebte einmal, dem Stein wird auch dies abgesprochen.
Überlegungen: Denk-Irrwege Die Überlegungen Heideggers, die nach dem Einband Schwarze Hefte genannt wurden, sind weder der verborgen klandestine Schlüssel zu Heideggers Werk, mit dem die Maske fallen, das Betriebsgeheimnis entzaubert würde. 53 Ebenso wenig aber sind sie kontingente Aufzeichnungen, die nichts enthalten würden, was nicht besser und klarer in Heideggers Nachlassaufzeichnungen zu finden wäre. 54 Wie schon bemerkt, lag Adorno mit der Voraussetzung, dass ein Denker von Heideggers Anspruch in all seinen gewichtigen Aussagen auch ernst und beim Wort genommen werden müsse, näher an der Wahrheit als die Schutzbehauptungen einer linearen Apologetik, die »apriori« meint beweisen zu können, dass Heideggers Begrifflichkeiten nichts mit jenem ideologischen Spannungsfeld zu tun haben, in dem sie sich bewegen. Jene Konvolute sind nur schwer einzuordnen. Der immer wieder vorgeschlagene Gattungstitel ›Denktagebücher‹, der eine Analogie zum Werk Hannah Arendts ziehen soll, 55 ist bezogen auf Heidegger nur bedingt treffend. Der Duktus ist ein anderer. Bei Heidegger verbinden sich nicht persönliche Aufzeichnung und Reminiszenz mit Exzerpten, Lesefrüchten, Einfällen wie bei Arendt. Allenfalls die Nähe zu Heideggers eigensten Erwägungen kann analogie-fähig sein. Die Schwarzen Hefte sind eine Textart sui generis. Sie erweisen sich in der Textur als ein lockeres Netz, ein in die Weite gehendes Abschreiten wesentlicher Denkerfahrungen des anderen Anfangs, das aber immer wieder durch Urteile und Vorurteile vereindeutigt 53 P. Trawny, Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, a. a. O., S. 9 ff. Auch in anderen Publikationen von Trawny zeigt sich seine Tendenz, die Schwarzen Hefte als Schlüssel zu Heideggers Denken zu explizieren. 54 So die durchgehende Tendenz bei v. Herrmann und Alfieri, a. a. O. 55 H. Arendt, Denktagebücher. Zwei Bände, hgg. von U. Ludz und I. Nordmann. München, Zürich 2002.
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wird: Durch Aussagen von harter und harscher Form, in denen Zeitgenossenschaft und Philosophie unmittelbar verbunden sind. Die Darstellung ist erzählend, flächig, die Dichte lockerer gefügt als in den Beiträgen. Metaphysische Fragen, die Heidegger ständig begleiteten und Zeitbeobachtungen greifen ineinander; Politisierende Diktionen auf einem mitunter banalen Niveau und philosophisch hochinteressante Reflexionen. Stärker und unverschlüsselter als in die nachgelassenen Schriftstücke seit den Beiträgen (vgl. GA 65) gehen in die Schwarzen Hefte die Entstehungsbedingungen Ende der dreißiger Jahre ein. In Heideggers Terminologie müsste man von »ontischen« oder »vorontologischen« Bemerkungen sprechen, jedenfalls, was einen Großteil jener Aufzeichnungen angeht. Auch wenn es schwierig bleibt, das Urteil über den Status der in den Schwarzen Heften niedergelegten Aufzeichnungen zu bestimmen, so hat Heidegger doch, dem Herausgeber zufolge, in seinen späteren Editionsplänen klare Hinweise eingefügt, was in der Tat, wie sich der Herausgeber ausdrückt, impliziert, »eine wesentliche Bedeutung« zu beanspruchen (530). Einmal spricht Heidegger im Blick auf die Notizbücher von »Grundstimmungen des Fragens« (529), ein anderes Mal von »denkerischen Versuchen«, die in ihrem Kern keineswegs »Notizen für ein geplantes System« (529) bilden, sondern »Versuche des einfachen Nennens« (530) sind. Gerade der Topos der Grundstimmung, der sich eignet, eine Linienführung vom ersten in den anderen Anfang zu ziehen, zeigt gleichermaßen auf Grund und Abgründigkeit der Thematik hin, die in den Schwarzen Heften anklingt. Wenn es darum geht, einen Gattungstitel für die Überlegungen zu formulieren, so zeigt sich eine Ambivalenz: Einerseits sind diese Aufzeichnungen mit großer Kontinuität und fast ein Leben lang, fast Tag für Tag geführt worden, was allein schon dagegen spricht, sie in ihrer Bedeutung zu marginalisieren. Sie gehören in den Umkreis von Heideggers »esoterischem« Denkzeugnis, das bei ihm nicht in Gesprächs-, sondern in der Schriftform entwickelt ist. Andrerseits hat die Textur dieser Überlegungen eine Weite und Verständlichkeit, die sich deutlich von den anderen esoterischen Aufzeichnungskomplexen unterscheidet. Sie bilden eben keinen enigmatischen Findling, sondern erschließen sich der Nachwelt wie ein narratives Geflecht: Darin gleichen sie am ehesten Schellings Konzept der ›Weltalter‹, die eine Erzählung des spekulativen Geschichtsgedankens entwickeln sollten: 391
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Philosophische Tiefenauslotung und Popularität verstand Schelling als komplementäre Formen; bekanntlich brachte er dieses geplante Hauptstück nicht zum Abschluss, 56 vermutlich sind die Gründe dafür nicht zufällig, sondern artikulieren eine Inkommensurabilität der Konzeption. Über die Form der Überlegungen meditierte auch Heidegger vereinzelt innerhalb seiner Texte. Auch diese Bestimmungen sollten in die Interpretation einbezogen werden. Nicht von Aphorismen oder Lebensweisheiten spricht er. Die starke Betonung eines Nietzscheanischen Gestus relativiert sich mithin. Es seien, so formulierte Heidegger, »unscheinbare Vorposten – und Nachhutstellungen im Ganzen eines Versuchs einer noch unsagbaren Besinnung zur Eroberung eines Weges für das wieder anfängliche Fragen« (95.276). Anders als in den Beiträgen und verwandten Texturen neigt Heidegger in den Schwarzen Heften nicht zu Verdichtung und Verknappung. Sie entwickeln den ›sinnenden‹, fragenden Duktus in Ausführlichkeit: Das erste der überlieferten Hefte beginnt Heidegger im Oktober 1931. Es beginnt wenigstens in seinen grundsätzlichen Bestimmungen bei einem neuen philosophischen Bewusstsein und in einer offen zutage tretenden neuartigen Sinnklarheit. Diese denkerische Gewissheit verbindet sich allerdings mit einem dezidierten Gestus, der auch bei einem Entscheidungsdenker wie Carl Schmitt stehen könnte. Betont Heidegger doch den Vorrang, den »geladene Begriffe«, »Vor- und Eingriffe« (94.18) haben müssten. Resümierend bemerkt er: »Heute (März 1932) bin ich in aller Klarheit dort, von wo mir die ganze vorige Schriftstellerei Sein und Zeit; Was ist Metaphysik?; Kant-Buch […] fremd geworden ist« (94.19). Auch die Situativität, die Heidegger wie in einer Selbstabwehr »Situationsgerede« nennt und die sich doch auf die früheren Bestimmungen der hermeneutischen Situation bezieht, wird zurückgewiesen. Evoziert wird stattdessen »Ursprünglichkeit«, »Härte und Bestimmtheit des Inbegriffs« (23). Es entbehrt nicht der Tragik und ist Indiz eines vielfachen Fehlgehen-Könnens, dass sich für Heidegger gerade in der Zeit, in der er meinte, zum inständigen Denken vorgedrungen zu sein, sich die Verstrickung in einen ideologischen Zusammenhang abzeichnet. Bemerkenswert ist im ersten der überlieferten Corpora der Schwarzen Hefte, dass die Bestimmungen der Metaphysik mit einer vorher nicht gekannten Klarheit namhaft gemacht werden. Hier finA. Lanfranconi, Krisis. Eine Lektüre der Weltalter-Texte F. W. J. Schellings. Stuttgart 1992.
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det sich eine, vom Prometheus des Aischylos ausgehende Bestimmung des »Anfangs«, den Heidegger als »Weltereignis« benennt (93), auf den zurückzugehen sei. Dabei zeigt Heidegger, dass die Ontologie aus strukturellen und erkenntnistheoretischen Gründen »die Seinsfrage nicht bewältigen« könne (93), weil der lógos, durch den sie sich auf Seiendes bezieht, die Struktur des on he on nicht erfassen kann. Deshalb mündet er in eine tautologische, leerlaufende Struktur. Es seien also ein engerer und ein weiterer Sinn von ›Ontologie‹ zu unterscheiden (93 f.). Ersterer bestimmt lediglich den Seinscharakter des on he on, ein zweiter Bedeutungssinn geht darüber hinaus und orientiert sich an der Seinsauslegung des Seins des Seienden und hat damit eine weitere Bedeutung. Philosophie fasst Heidegger seinerzeit als Annäherung an den Anfang der Seinserfahrung auf. Erst mit dem Herbst 1932 setzt in einer Reihe von Notizen sehr zielgerichtet Heideggers Tendenz zu einer ›Großen Politik‹ ein. Die politischen und antikirchlichen Positionen schwinden; die noch 1931 formulierte Einsicht in das zurückhaltende Wesen der Philosophie, die Denken des Anfangs sei, wird in den Wind geschlagen. Dominierend wird eine Willensmetaphysik mit Aussagen wie: »Unerbittlich im harten Ziel, geschmeidig und wechselnd in den Wegen und Waffen« (111). Die Philosophie sei gänzlich zu Ende zu bringen, an ihre Stelle sei eine Metapolitik zu setzen (115). Es ist schwer zu verkennen, dass Heidegger damit auch das ›meta‹ in einer simplifizierenden Weise versteht. Gemeint ist eine Politik, die an offensichtlicher und ostentativer Größe über alle bisherige Politik hinausgeht, nicht eine Politik, die die bisherigen Wegbahnen des Politischen hinter sich lässt. Organisation bindet Heidegger an »Wille«, eben jenen Willen zur Macht, den er Jahre später und nach dem Durchgang durch die Auseinandersetzung mit Nietzsche als Inbegriff einer ›Subjektität‹ verstehen sollte, die sich nur mehr selbst übersteigert, aber keine Intentionalität erkennen lässt, auf die sie gerichtet ist. Deshalb degeneriert hier vielfach Heideggers Sprache in eine Evokation des »Schlagworts«, die er selbst wenige Jahre später in den Beiträgen und anderen Textzusammenhängen einer klaren Revision unterziehen sollte. Die Rede ist von »Wissenserziehung auf Auslese – Erziehung und Vor-sprung« (123). Führung und Führerschaft gewinnen eine zentrale Bedeutung. Erschreckend daran ist zweierlei: Zum einen verwandeln sich wenige Jahre nach Sein und Zeit oder dem Kant-Buch die ontologi393
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schen Begriffe und Grundworte Heidegger’schen Denkens in Anzeigen von Befehl und Gehorsam. Man muss blind für jede geistige Musikalität und jeden Ansatz von Sprache und Denken sein, wenn man eine bruchlose Kontinuität zwischen dem früheren und späteren Heidegger und diesem illiberalen Gerede von einem »Führerwillen«, der von aller Geltungssucht zu unterscheiden sei, weil es hier eben um reale, unbestrittene und unbestreitbare Geltung selbst gehe, konstatiert (125). 57 In den Jahren 1932 und 1933 spricht nicht mehr der Philosoph, sondern der Ideologe. Die eigenen Begriffe, die er in diesen Duktus transformiert, bewegen sich aber auf einer völlig anderen Ebene: einer ontisch-diktatorischen, gerade nicht denkerischen. Am Führerwillen methektisch zu partizipieren, wird ihm zu einem zentralen Interesse. Daher rührt der »Leitspruch für das Rektorat, ein Imperativ eigener Art: du darfst den fortgesetzten Enttäuschungen nicht ausweichen; sie klären die Lage und festigen das eigentliche Wollen« (139). Zeitweise folgt er dieser Spur, indem er sich und andere ermahnt, nicht in theoretischer Hinsicht Differenzen zu markieren, sondern sich ganz und gar und in der »praxis« auf die Metapolitik einzulassen. Die Nuancierungen seines eigenen Denkens, die scharfen doch hellen Differenzen übergeht Heidegger, als hätten sie kein Gewicht. Zum anderen kreiste Heideggers Denken bis in seine späten Jahre und bis zur Selbstdarstellung in dem SPIEGEL-Gespräch 1967 um den Denk- und Selbstverlust und um einen »Verrat am Denken«, dessen Zeuge er nicht so sehr war wie dessen Komplize. 58 Heidegger setzte sich aber nicht mit der anderen Komplizenschaft ernsthaft auseinander, die ihn mit den antijüdischen Relikten seines Denkens hätte konfrontieren müssen. Zu beiden Ebenen wird man sich sinnvollerweise grundsätzlich verschieden verhalten. Die erstere zeigt eine grundsätzliche Infizierbarkeit Heideggers durch Ideologisierungen an, die zwischen 1933 und 1936 kulminiert und sich dann verliert. Sie dokumentiert sich
Diese Blindheit kennzeichnet den Ansatz von Faye, S. 55 ff. u. ö. Sie darf aber eben nicht durch die gegenläufige These konterkariert werden, dass eine habe mit dem anderen nichts zu tun. In beiden Fällen geht es letztlich um eine nicht-argumentative Behauptung in polemischen Diskursen, die das Wesen philosophischen Denkens und Fragens von Grund auf konterkariert. 58 Heidegger selbst spricht bis in die späten ›Anmerkungen‹ in seinen Schwarzen Heften (GA 98) von einem »Verrat am Geist«. Vgl. weiter unten IV. 27. 57
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besonders deutlich in den Schwarzen Heften, ist aber als Problem nicht auf dieses Corpus begrenzt. Sie tangiert den Kern seines Denkansatzes jedenfalls nicht, denn Heideggers Denken kommt dabei nur in einer ontischen Verkürzung der Fluchtlinien und in einer Zerrform vor. Anders ist es mit der gegen Judentum und Judesein zielenden Tendenz, die auch nach 1938 begegnet und immer wieder an neuralgische Punkte von Heideggers seinsgeschichtlichem Denken rührt. Nach wie vor bleibt deshalb das Skandalon bestehen, dass sich Heidegger mit dieser Frage von »Irre und Schuld« nicht in der Tiefe auseinandergesetzt hat. 59 Die Zugehörigkeit zum Seyn reduziert sich damit auf die unkritische Beteiligung an einer »deutschen Sendung«. Selbst die Positionierung des Fragenden desavouiert sich in den einschlägigen Passagen zu einer Art nationalsozialistischer Erkennungsmarke, wenn es etwa heißt: »Bist du ein Fragender? Einer aus dem Geschlecht jener, die nicht taumeln und süchtig sind nach Neuem, jener, die im Abgrund den Grund wissen und fester stehen als alle nur Überzeugten?« (285). Noch in den Überlegungen IV. lässt Heidegger jede Selbstdistanznahme von seiner Rektoratsrede vermissen. Die einzige Distanzierung, die man finden kann: Heidegger konstatiert den Bruch zwischen seinem Vorausdenken und den realen Gegebenheiten, die zum Zeitpunkt der Rede bestanden hätten. »Wer meint meine Rektoratsrede gehöre nicht in meine ›Philosophie‹ ; gesetzt, dass ich eine solche habe. Und doch ist darin Wesentlichstes ausgesprochen, und zwar in einem Augenblick und bei Umständen, die dem Gesagten und Gefragten noch gar nicht entsprachen« (286). 1935/36 tritt die Rückwendung zur Geste des Denkens deutlich ein, die nicht durchgreifend ist, nicht den andern Ton gänzlich in den Hintergrund drängt, die aber eben doch zunehmend als eine Unterstimme wieder sichtbar wird. Am 5. Juli 1936 notiert Heidegger unter der Überschrift: ›Die Quelle am Stubenwasen‹ eine Aufgabe, der er und damit der Denkende sich verpflichtet. Es ist eine Variante des stoischen lathe biosas: »Lebe im Verborgenen«, der er aber gerade in den vorausgehenden Jahren als Rektor wohl nicht zureichend folgte. »unbekümmert im Missbrauch – /nicht achtend die Missdeutung /gleichmütig gegen Wirkungslosigkeit.//Abstand zu allem Betrieb/
Dazu uneingeholt, weil die Denklinie von Heideggers jüdischen Schülern fortsetzend G. Steiner, Heidegger, a. a. O., S. 35 ff.
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keine Versuche des unmittelbaren Helfens/undurchsichtig bleiben: die Maske« (305). Diese Sätze stehen am Ende einer Überlegung, in der festgehalten wird, dass das eigentlich Wesentliche, das Heidegger hier erneut mit der »Nähe des letzten Gottes« gleichsetzt (304), von den historischen Ereignissen, wie immer sie sich entwickeln mögen, nicht betroffen wird. Die Tendenz, ins Ideologische abzubiegen, ist, wie der weitere Verlauf der Schwarzen Hefte zeigt, nicht definitiv beigelegt. Doch Denken und Fragen bleiben eine gegenstrebige und gegen totalitäre Ordnungen virulente eigenständige Tendenz. So notiert Heidegger: »Wie gut und tief das Seyn (das Ereignis aus dieser Stille) in allem Seienden verhüllt und geschützt bleibt.« (412). Und im Denker erkennt er: »Ein großes Kind, das groß fragt« (412). Anzumerken ist, dass nicht nur das Denken, sondern auch die Bestimmung des Kunstwerks als der Gefügezusammenhang von Welt und Erde in den Aufsätzen wieder klarer Kontur gewinnen, gegenüber den eher vordergründigen Bestimmungen des »Kampfes«, der »Propaganda« und Raisonnements über Feind und Macht. Mit einem ambivalenten Rückblick auf das Christentum und einer Erinnerung an Nietzsches letzte Euphorie und Zusammenbruch 1889 schließt der erste große Corpus der Schwarzen Hefte. Heidegger bestimmt dabei die »Formen des neuzeitlichen Christentums als die eigentlichen Gestalten der Gottlosigkeit« (94. 522). Heidegger konzediert zwar nun dem Christentum, dass es »Kräfte des Geistes, der Zucht und der Seelenstärke geweckt und geschaffen« habe (ibid.), doch die »großen Entscheidungen« würden im Horizont des Christentums nicht fallen. Das Heft Überlegungen VII aus den Jahren 1937/39 setzt mit der Grunddiagnose ein, dass eine Zeit der Übergänge erreicht sei, eine Zeit, in der sich »das Stoßende in seine Verweigerung verhüllt« (GA 95, 1). Damit umkreist Heidegger einen Topos, der im seinsgeschichtlichen Denken immer präsent ist: dass Sein sich am Ende der Metaphysik in seinem »Unwesen« zeige (7) und dass »der künftige Denker« um dieses Unwesen wissen müsse. Nur aus dem Unwesen könne eine Kehre oder Wendung hervorgehen. Mehrere Frontstellungen sind dabei ineinander gelegt: eine Kritik am Historismus und der Versuch, dessen Wurzeln aufzugraben, findet sich neben Polemiken gegen die jüdische und christliche Weltsicht. 60 Heidegger spricht Auch damit knüpft Heidegger an seine eigene Frühzeit und die Debatte zwischen Phänomenologie und Historismus, etwa ausgehend von Ernst Troeltsch, an. Vgl.
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vom »künftigen Denker« und den Anforderungen an ihn, der, etwa den Cartesianismus überwinden müsse und doch »der Umdeutung und Rückdeutung in die Metaphysik« ausgeliefert sei (8). Was die Historismus-Kritik angeht, kehrt also ein Motiv wieder, das seit Heideggers frühesten Vorlesungen in der Zeit nach 1918 bekannt ist. Der Metaphysik überwindende Gestus dagegen nimmt die subtile Position des Kant-Buchs von 1929 offen zurück. Höchst problematisch ist, dass Warnungen und Hinweise, wie Sein zu denken sei und wie nicht (17), einschließlich der Ablehnung der ›Weltanschauung‹ mit einer Ambiguitätstoleranz gegenüber dem NS einhergeht. Es ist nicht daran vorbeizukommen, dass Heidegger an markanten Stellen festhält, die Schritte zur ›Verwandlung des Seyns‹ hätten nicht auf den NS warten müssen und sie hätten »unmittelbar« nichts mit ihm zu tun (18). »Mittelbar« bestehe aber zugleich ein Zusammenhang: Hier wie dort geht es um die »Bestimmung der Deutschen und damit das Geschick des Abendlandes« (18). Dies ist eben jener Duktus, der in der Edition der Metaphysik-Vorlesung von 1954 zur Konfrontation der »Größe dieser Bewegung« des NS mit dem faktischen Nationalsozialismus führte. Augenfällig sind wiederholte explizite Auslassungen oder verborgene Invektiven über Judentum und jüdische Existenz. Was davon in den Jahrhundertlinien eines Antijudaismus zu interpretieren ist 61, was dagegen auf einen spezifischen, mit dem Seinsdenken einhergehenden Antisemitismus verweist, ist in den vergangenen Jahren seit dem Erscheinen der Schwarzen Hefte unterschiedlich seziert worden. 62 Leicht zu nehmen ist diese Textschicht nicht. Sie deutet auf eine Affinität Heideggers zu einer Ideologie mit fließenden Rändern und mörderischen Potenzialen. Deshalb sind die Debatten, die eine Eindeutigkeit erreichen wollen, bei aller philosophischen Sterilität nicht zu ignorieren. Antijüdische Muster in den Schwarzen Heften sind dadurch keinesfalls weniger gravierend, dass sie in ein Gesamtsyndrom einbezogen sind, das Berührungen mit der proto-
Troeltschs Votum, den Historismus mit Mitteln des Historismus zu überwinden. Dazu H.-G. Drescher, Ernst Troeltsch. Werk und Person. Göttingen 1991, S. 122 ff. 61 D. Nirenberg, Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München 2016. 62 Vgl. die verschiedenen Positionen in: Zur Hermeneutik der Schwarzen Hefte, Heidegger-Jahrbuch 2018. Es scheint mir philosophisch und ethisch unergiebig, diese Debatte hier erneut aufzumachen.
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totalitären und nationalistischen Bewegung der zwanziger und dreißiger Jahre aufweist. Darin verbinden sich Feindbilder wie Bolschewismus, entfesselter Kapitalismus und die technische Machenschaft des Gestells, aber auch Historismus und Kultur zu einem Komplex. In einer nicht dialektischen, sondern global und holistisch zusammenschauenden Weise verbindet Heidegger die ansonsten weit auseinanderliegenden inkriminierten Bereiche, die, was die jeweilige Gegenwart betrifft, zusammengenommen den Gedanken der Seinsverlassenheit und ›Not der Notlosigkeit‹ nahelegen. Es ist nicht erforderlich und noch nicht einmal zwingend, eine Isomorphie zwischen jenen Bereichen argumentativ zu belegen. Doch in der flächigen Darstellung zeigt sich der Versuch, eine Gesamtphysiognomie der Seinsverlassenheit zu geben. Auffällig ist die bewusste, heute stärker als zu Heideggers Zeit irritierende Ignoranz, was sozialwissenschaftliche Momente und Einsichten eines öffentlichen Diskurses betrifft: ein solcher konnte Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland allenfalls noch bedingt geführt werden. 63 Heidegger beklagt indes nicht, dass dies der Fall ist. An keiner Stelle zitiert er soziologische oder gegenwartsdiagnostische Positionen aus den Zwanziger Jahren. Man sollte nicht verkennen, dass die westlichen Wege und Aufklärungstraditionen auch von Karl Jaspers oder selbst von Thomas Mann erst unter den massiven Krisen der Republik ab Ende der zwanziger Jahre wahrgenommen wurden. 64 Die thematische Einzigartigkeit der Schwarzen Hefte ist begrenzt. Viele Sentenzen oder Absätze könnten ebenso in Heideggers Vorlesungen oder Abhandlungen derselben Zeit stehen. Spezifisch an den Überlegungen ist aber, – und hier kommt dem Topos der Narrativität doch eine gewisse Bedeutung zu – dass politisch zeitgeschichtliche und philosophische Positionen unmittelbar nebeneinanderstehen. Eine im philosophischen Sinn kritische Interpretation muss an diesen Punkten eine wirkliche ›Krisis‹ vollziehen: einen Schnitt durch die verschiedenen Ebenen der Textur. In den Überlegungen der Jahre 1938/39 begegnen neben den Andeutungen über die Seinsgeschichte markante Aussagen über den Erste Hinweise, was Heidegger verweigert, wenn er sich gegen »die Soziologie« wendet, bei H.-B. Schmid, »Heidegger und die Sozialwissenschaften. Verabschiedung, Vereinnahmung und vorsichtige Aneignung«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 481 ff. 64 Dazu R. Mehring, Thomas Manns philosophische Dichtung. Vom Grund und Zweck eines Projekts, Freiburg/Br., München 2019. 63
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letzten und kommenden Gott, die man in verdichtet spekulativer Form aus den Beiträgen kennt. »Nur derjenige ist der Gott«, der »den Menschen dem ›Seienden‹ entreißen, und das Seyn ernötige als das Zwischen für selbst und für den Menschen« (23). Die Dimension der abendländischen Metaphysik und spezifisch deutsche Fragen werden immer wieder enggeführt. Heidegger fragt sich, wie das Seinsdenken zu den Traditionen Klassischer deutscher Philosophie steht und ob beides eine spezifisch deutsche Signatur hat. Allenfalls partiell sind diese Erwägungen mit Fragen nach der NS-Ideologie verknüpft, wobei Heidegger auch wiederholt und insistent gegen den NS-Staat und seine Praktiken formuliert, Kernbegriffe der Ideologie wie »Kampf«, »eigenes Wesen« sich aber zu eigen macht und keineswegs eine zivile deutsche Gegenkultur dagegensetzt. Er fahndet nach einem metaphysischen Ort des Deutschen, was auch zu grundsätzlichen Überlegungen über den ›Deutschen Idealismus‹ führt. In ihm würden Fragen gestellt, die »wir ins einfache Ganze gesehen und auf dem Grunde der neuzeitlichen Auslegung des Seienden und der Wahrheit, noch gar nicht durchschauen in ihrer seinsgeschichtlichen Einzigartigkeit« (29). Heidegger fährt fort, es müsse auf künftige Denker gewartet werden, die »diesem deutschen Ansturm auf das Ganze des Seienden schöpferisch gewachsen sind« (29). Dem steht eine Seite später, in Abrechnung mit dem völkischen Literaturkanon, ein klares korrektives Votum gegenüber, das in den jüngeren Debatten weniger stark debattiert wurde: »Wer will sich denn vermessen, in einer dazu noch so wirren ›Zeit‹, für die ›Ewigkeit‹ festzumachen, was deutsch und was ein Volk sei, zu einer Zeit, die vielleicht selbst nur die Folge einer Wesensverkennung des Deutschen aufgrund des Nationalismus ist […]. Woher diese Raserei an Blindheit, die jetzt daran geht, die verborgensten Besitztümer der Deutschen zu verschütten?« (31). In solchen bislang weitgehend ignorierten Passagen setzt sich Heidegger auch mit NS-Begriffen wie »Volk«, »Blut« und »Boden« auseinander. Man kennt auch diese Überlegungen im Kern aus den Notizen über Ernst Jünger. So fragt Heidegger: »Ist da nicht das ›Massenwesen‹ – zur ›Persönlichkeit‹ erhoben und die Bedingung – kaum bedacht und begriffen – ins Unbedingte gesetzt?« (32). Auch ein aus dem Teppich der Aufzeichnungen jener Jahre wahllos herausgegriffener Hinweis kann zu denken geben und belegen, dass Heidegger niemals einfach Komplizenschaft sucht. Er formuliert Bemerkungen, die grundsätzlich gegen die »Konservative Revolution« und heutige politische Regressionstendenzen ins Feld geführt werden 399
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könnten. 65 »Die zeitgenössischen Gegner eines Zeitalters blicken immer nur in das Bisherige und gebärden sich gleichwohl als die Nachfolgenden« (33). Deutlich genug ist damit formuliert, wie die Topologie von Einsamkeit der Lanthanonten, die Suche der ›Besinnung‹, des Einfachen und der Einsamkeit, die Heidegger immer wieder evoziert, schon in ihrem Zeitverständnis nicht in die konservativ-revolutionären Horizonte eingemeindet werden kann. Aus prinzipiellen, nie preisgegeben Gründen widersetzt sich Heidegger seit Beginn der zwanziger Jahre dem ›Weltanschauungskonzept‹. Damit formuliert er nicht nur eine Abgrenzung von den parteiideologischen Weltanschauungen, sondern zum Zeitalter des Weltbildes insgesamt. Wenig verwunderlich weist er auch die Rede von »Philosophie« im Zusammenhang ihrer nationalpädagogischen Stärkung und Funktionalisierung deutlich zurück (u. a. 43, 47 ff.). Doch verschiedene, je gegenläufige Seiten der Diskussionsbarrikade werden kritisiert. Jedweden Kulturbegriff sieht Heidegger, nicht zuletzt im Licht der Auseinandersetzung mit Cassirer, mit Skepsis. Dass er nicht in aufgeklärter Urteilskraft zwischen Kulturen und ihren Amphibolien einerseits und ›Unkultur‹ unterscheidet, könnte man beklagen. Es ist nichtsdestoweniger der Heidegger’sche Ansatz, über das ontische Konzept einer Kulturphilosophie und ihre Symbolisierungen grundsätzlich hinauszugehen: Zwischen den Zeilen ist die Davoser Auseinandersetzung mit Cassirer an diesem Punkt noch einmal präsent. Dass beider diametral unterschiedene Zeitgenossenschaft den Bruch vertieft, kann man nicht übersehen. Cassirer hatte zum Zeitpunkt dieser Niederschrift längst als Emigrant Deutschland verlassen müssen, Heidegger ging nach Jaspers zum Bonmot gewordenen Diktum, noch mit der Überlegung um, wie er den Führer führen sollte. Zur Sache bemerkt Heidegger, dass dann, wenn »Ausdruck zu sein gar als ›Prinzip‹ der Gestaltung ausgegeben wird«, der Beweis einer Leere und Entscheidungslosigkeit erbracht sei (42 f.). Die Hinweise auf Geschichte verdeutlichen aber zugleich eine Problemlage, die sich für ihn nicht ohne weiteres auflösen ließ. Er umkreiste sie in dem Wiederholungsgestus, der für sein Denken seit den dreißiger Jahren charakteristisch ist, immer wieder: Dass nämlich in einer Zeit der sich rapide wandelnden Grundstellungen (und ganz in diesem Sinn versteht er das 20. Jahrhundert, die Zeit der Not der S. Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, S. 54 ff., zu den jüngeren Tendenzen H. Seubert, Der Frühling des Missvergnügens, a. a. O.
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Notlosigkeit nach Nietzsche) auch »Rückfälle«, »Verstellungen« und Perversionen zunehmen. Heidegger gewann nicht erst nach und nach Abstand zur NS-Ideologie. Es gibt durchgängige Textschichten, die zeigen, dass er um die Primitivität und den Nihilismus-Charakter der ›Bewegung‹ von Anfang an wusste. 66 Er gewann aber nicht den Tonus, die Grundhaltung, die eine ethische und politische Metakritik erfordert hätte. Die seit den dreißiger Jahren offensichtliche ethische Indifferenz macht die Absetzungsbewegungen halbherzig, obwohl sie auf der nach Heideggers Einsicht tiefsten Ebene, eben der Seinsgeschichte, ansetzt: Die Wahrheit des Seins wird durch die Machinationen des »deutschen Erwachens« nicht gefördert. Ebenso wie er die Existenzphilosophie von Jaspers als Symptom der neuzeitlichen Denkstrukturen versteht, so sind auch die politischen Beben und ›Revolutionen‹ letztlich Vordergrundphänomene. Phänomene, die ethisch weit auseinanderliegen, geraten durch die seinsgeschichtliche Gesamtlinie in eine Engführung, in der Rang, Rationalität und Intention kaum eine Rolle spielen. Die Intention, dass beide großen totalitären Bewegungen einen Zusammenhang bilden, teilt Heidegger mit Ernst Jüngers Typologie des Arbeiters. Der Problematik einer solchen Nähe war er sich sehr bewusst: Jünger ist letztlich ein Mythologe des wieder anbrechenden titanischen Zeitalters, die Seinsgeschichte unternimmt dagegen einen denkenden Anlauf. 67 Das Unzulängliche der Jünger’schen Diagnosen reflektierte Heidegger eingehend aus der Perspektive der Seinsfrage. 68 Eben jene Grunddifferenz hätte Heidegger von einer Anwendung der Jünger’schen Kategorien abhalten müssen. Zugleich finden sich weitreichende geschichtliche Einsichten: So setzt sich Heidegger 1938/39 mit dem Revolutionsbegriff auseinander. Nie könnten Revolutionen »ein geschichtliches Zeitalter überwinden, denn sie wollen ja innerhalb des Zeitalters das bisher Unterdrückte, das noch Verkannte zur Geltung bringen« (53). Ihr hauptsächlicher und grundlegender Mangel liegt mithin in einem Geist der Rache und des Ressentiments der Revolution beider Seiten. Es sind bestimmte Topoi und Lemmata, die Heidegger immer wieder umkreist. Neben Vollendung und Ende der Neuzeit als des Weltalters einer sich in sich selbst abriegelnden Subjektivität und 66 67 68
Gerade in den frühen Schwarzen Heften zeigt sich dies durchgehend. Dazu Heidegger, GA 90: Zu Ernst Jünger, S. 217 ff. Dazu nochmals Figal, Der metaphysische Charakter der Moderne, a. a. O.
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ihrer Suche nach Gewissheit (certitudo), ist es auch die Tendenz des Zeitalters zu Anthropologie und Historismus. Der Abkehr vom anthropologischen Vorurteil, das darin besteht, allgemeine menschliche Befunde zur Grundkondition der Philosophie zu erheben, blieb Heidegger von seinen Anfängen an treu. Dies ist der gemeinsame grundlegende phänomenologische Impuls, den er mit Husserl teilte. 69 Daraus entspringt auch seine allergische Reaktion gegenüber anthropologischen Fehldeutung von Sein und Zeit, die sich in den Briefwechseln mit seinen frühen Schülern wie Karl Löwith 70 oder Oskar Becker nachdrücklich manifestiert. Heidegger spricht von der Gefahr einer »Vermenschung des Menschen«, die ihn in die Hybris der eigenen Selbstsicherheit treibt, aber zugleich »dieses selbstsichere Menschending zugleich an die Ränder der Abgründe« führt (83). Daraus werden weitreichende, vielleicht allzu weitreichende Konsequenzen gezogen. Sind doch die Seinslandschaften, die Heidegger in den Überlegungen beschwört, faktisch ohne den Menschen gedacht. Die Grundphänomene eines Selbstverhältnisses und Vertrautseins mit sich und dem Anderen kommen in den Schickungen des Seins nicht vor. Die Anthropologiekritik verfällt auf diese Weise jählings in eine umfänglichere Kritik an Humanismus und Humanum, die sehr weit reicht. Im ›Historismus‹ dagegen gewahrt Heidegger eine Grundhaltung, die die Geschichtlichkeit durch den Relativismus aller Zeugnisse verdeckt. Historismus wird daher zum absoluten Antidotum von Geschichtlichkeit stilisiert. Die Diskurslagen in Heideggers akademischer Frühzeit, so Ernst Troeltschs Ringen um eine ›Überwindung des Historismus‹, die sich aber selbst wiederum nur historischer Mittel bedienen kann, spielen noch einmal eine Rolle und werden mit grobem Blick aufgenommen. Dazu kommt der Rekurs auf Nietzsches II. Unzeitgemäße Betrachtung über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Heidegger versteht den Historismus primär als Fixierung des Vergangenen auf das Heutige, als »Verrechnung der Geschichte auf das Gegenwärtige« (100). Daher sind vor dem seinsgeschichtlichen Blick Historismus und Technik eng verwandte Phänomene. »Wo aber die Historie herrscht, sind Wirkungssucht und Geltungsbedürfnis in gutem Verein mit der ›Kulturarbeit‹ – die Gegenformen zur ›Andacht‹« Dazu treffend: K. Held, »Husserl und Heidegger über den Anfang der Philosophie«, in: Heidegger-Jahrbuch 6, a. a. O., S. 69 ff. 70 Martin Heidegger-Karl Löwith, Briefwechsel 1919–1973, a. a. O., S. 24 ff. u. ö. 69
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(112): ein Einwand, der Nietzsches Überlegungen zu Historie und Leben weiterführt und zuspitzt in die Analogie, dass Technik die Historie der Natur sei, das Instrument, um Natur gefügig und greifbar zu machen (116). Historie sei, so wiederholt Heidegger mit einer gewissen Beharrlichkeit, rechnendes Denken-, Machtoption eines ins Riesenhafte sich steigernden ›Gestells‹ (160 f.). Im Horizont der Differenz zwischen ›Historie‹ und ›Geschichte‹ klärt sich auch Heideggers Begriff der Entscheidung, der, soweit er sachlich entwickelt wird, anti-dezisionistische Spitzen erkennen lässt. Es sind zugleich Spitzen gegen eine Zerstörung des Feindes in Endsieg-Metaphorik. Eine elementare hermeneutische Redlichkeit gebietet, dass diese Linien in den ›Schwarzen Heften‹ stärker herauspräpariert werden als dies bislang geschah. 71 In Überlegungen VIII. verweist Heidegger ausdrücklich darauf, dass nicht der »Wille einer Generation gegen den einer vorigen« zur Entscheidung stehe, sondern eben die ontologische Differenz zwischen der Fixierung auf wechselndes Seiendes und der Entzogenheit des Seyns selbst. Hier ergibt sich freilich eine Kreisstruktur. Denn Geschichtlichkeit in ihren Vorder- und Hintergrundansichten wirklich zu erkennen, bedeutet nach Heidegger, in der Wahrheit des Seins selbst zu stehen (133). Die Überlegungen werden durch einen dichten Komplex von Selbstreflexionen und Versuchen einer Zuordnung des eigenen Denkens zur Denkgeschichte durchzogen. Auch ›methodische Reflexionen‹ finden sich in diesem Zusammenhang. Die Spannung zwischen Nietzsche, dem letzten Denker der Metaphysik, und Hölderlin, der am weitesten vorausblicke in einen anderen Anfang, bildet ein durchgehendes Leitmotiv. Verdichtet auf den Kern der Seinsfrage, war davon auch in den Beiträgen und anderen Nachlassaufzeichnungen eingehend die Rede. Es finden sich aber nun auch tiefreichende Bestimmungen über den Umgang mit dem »ersten Anfang« – und eine Topologie von ›Scheidung‹ und ›Entscheidung‹. Heidegger ist hier nicht immer begrifflich klar. Doch es ist völlig durchsichtig, dass er nicht auf einen Dezisionismus und Okkasionalismus zielt, wie ihn etwa Carl Schmitt vertrat, und dass er die Sache der Denker/des Denkens nicht an politische Entscheidungen zu delegieren bereit ist. Er formuliert prägnant: »Denker sind Unterscheidende, deren Unter71 Vgl. nochmals die Ansätze in dem Band Zur Hermeneutik der Schwarzen Hefte, gegen die relativ lineare Hermeneutik des Verdachts bei M. Heinz und S. Kellerer, Martin Heideggers ›Schwarze Hefte‹, a. a. O.
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scheiden angeweht ist vom Wind weither fallender Entscheidungen« (74): nur Unterschiedenes sei gut, bemerkte Hölderlin im Zusammenhang seiner Aneignung der ›Gegenwendigen Fügung‹ Heraklits. 72 In den Überlegungen wird verdeutlicht, dass das, was unterschieden werden kann, eine Differenz voraussetzt, die philosophisches Denken nicht konstituieren, sondern nur rekonstruieren kann. Den Leitfaden, den er im Sinn des Nachvollzugs dieser Grundentscheidung evoziert (»1. Die geordnete Darstellung des Genannten. 2. Das Bahnen eines Frageweges« (73)) sieht Heidegger offensichtlich mit der Ausarbeitung der ›Beiträge‹ noch nicht als bewältigt an. »Die Bewegung eines Stoßes des Seyns«, von der die vorliegenden Aufzeichnungen sprechen (75), bewirkt ein Geblendetsein und fordert einen Umbruch, der sich von überlieferter, »gelehrter« Philosophie abzustoßen hat, aber eben noch nicht die »plastische« und Sprache bildende Kraft findet, die für eine angemessene Ausgestaltung erforderlich wäre. 73 Als Gefahr des Denkens nennt Heidegger dabei, dass es sich auf einen »Irrweg« drängen lässt, funktionalisiert und auf die Festschreibung eines Nutzens fixiert wird. Dies ist nichts anderes als eine Umschreibung des Kippens von Philosophie in Ideologie und höchst berechtigt in einem Zeitalter der Ideologien. 74 Heidegger übersieht aber möglicherweise eine zweite Gefahr: dass die Monologizität des Seinsdenkens dort, wo sie in sich selbst kreist und sich als Korrespondenz verweigernder Monolog ausgibt, Begriffe und Distinktionen preisgibt, die zu einer umfassenden philosophischen Weltorientierung führen, etwa Rationalitäten der ontischen Weltorientierung und inter- bzw. transsubjektive Dimensionen des Weltverhältnisses, die vorderhand als Züge der Seinsvergessenheit außer acht gelassen werden. So ist die Rede von der ›Irre‹, an der entlang Heidegger in den Überlegungen den Sinn von Wahrheit klärt, durchaus gerechtfertigt. Darauf, dass die Auffindung des Wahren zuerst eine Selbst-unterscheidung gegenüber dem Nicht-Wahren voraussetzt, wies bereits
Zit. nach P. Szondi, »Hölderlin-Studien«, in: ders., Schriften Band 1. Frankfurt/ Main 1976, S. 260. 73 Heidegger, »Hölderlins Erde und Himmel«, in: Ders., Hölderlin-Studien, a. a. O., S. 152 ff. 74 Rudolph Berlinger begriff Ideologie als Privation, in die ein authentisches Denken eintreten könne, die sich aber auch weiter verhärten kann. Vgl. Macht und Ohnmacht der modernen Ideologien. Vortrag bei den Salzburger Hochschulwochen 18. 11. 1961. 72
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Platon im ›Theaitetos‹ und in anderen Dialogen hin. 75 Die Überlegungen werfen das Problem auf, dass auch der ›Andere Anfang‹ einer Kriteriologie seiner Wahrheit bedürfte. Zu gewinnen wäre sie sicher nicht im Licht der apophantischen Satzwahrheit, sondern in einer Phänomenologie des Sich-Zeigenden und zugleich Verborgenen. Dass Heidegger dazu bedeutende Ansätze vorlegte, ist andernorts in diesem Buch skizziert worden (Vierter und Fünfter Teil). Der narrativ-literarische Gestus der Überlegungen bedingt, dass Heidegger ganze metaphorische Bildkomplexe entwickelt, um die Struktur des ›Anderen Anfangs‹ und seiner ›Entscheidung‹ darzulegen. Argumentative Entwicklungen werden durch diesen Sinnbildzusammenhang überlagert: Heidegger vollzieht Grenzgänge zwischen Denken und Dichten, die Nietzsche und Hölderlin abgelauscht sein dürften und im Einzelnen starke Bilder hervorbringen, insgesamt aber nicht zu lyrischer oder aphoristischer Prägnanz kommen. »Die Überfülle der stillsten Stunden – im entlegenen Steinbruch, daraus die Schläge in den Abgrund verhallen und die Bruchstücke den in der Tiefe wachsenden Fels anzeigen, wo nur das Brechen zum Grunde führt und alles Formen zum winzigen Spiel wird – ›Bruchstücke‹, wenn krachend ein neues unter den anderen stürzt und in seine eigene Schwere sich flüchtet« (57): Eines von einer Reihe eindrücklicher Sinnbilder, die eine Selbstbewegung anzeigen, wie sie eben nicht in der Verfügung des Philosophierenden selbst liegt. Man könnte allein durch eine sorgfältige Lektüre, die für Aneignung und Weiterbildung von Philosophien unerlässlich ist, aus den Bänden der Überlegungen in dem hier in Frage stehenden Zeitraum eine ganze Reihe von Zurückweisungen der NS-Ideologie gewinnen. Darauf zu verweisen, hat nichts mit einer ›Schönfärberei‹ oder weißwaschenden Neigung zur Exkulpation zu tun; es ist Zeichen hermeneutischer Redlichkeit und verlangt selbstverständlich auch umgekehrt, dass die gegenläufigen Aussagen ebenso in die Hermeneutik des Konvoluts Eingang finden. Historie und Machtpolitik, Riesenhaftigkeit und eine hypertrophe Scheingröße der Nation sind Parameter, die Heidegger immer wieder als kennzeichnend für ›die Bewegung‹ anzeigt. Hier finden sich bemerkenswerte Einsichten eng neben Ideologemen, wie dass »das völkische Prinzip« sich »in seiner riesigen neuzeitlichen Bedeutung« einer Bedeutung des ›Gestells‹, erst zeigt, 75 Vgl. Heidegger, GA 34. Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet, S. 34 ff.
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»wenn man es als Abwandlung und Nachkommenschaft der Herrschaft der Soziologie« begreift: Man kann daran denken, dass die Inszenierung des Zusammenhangs von Masse und Macht und der Mythos des Generalstreiks bei Sorel die Rechte und die Linke gleichermaßen faszinierte. Ist es ein Zufall, fragt Heidegger weiter, dass die Soziologie als Name ›ausgemerzt‹ wurde? Man kann ergänzen: Nein, diese Disziplin deckt auch, wenn man keine Neigung zu ihr empfindet, das Betriebsgeheimnis des Totalitären auf. Mithin wäre dies eine bemerkenswerte Einsicht in die Verdrängungslogik des NS. Heidegger fügt aber die selbst kontaminierte Frage hinzu: »Warum wurde die Soziologie mit Vorliebe von Juden und Katholiken betrieben?« (161). So sehr Heidegger das ›echte‹, ›besinnende‹ Denken dem rechnenden Denken kontrastiert, so wenig neigt er einer Apologie des Irrationalismus zu. Dies macht er überdeutlich, im Verweis auf die »nationalsozialistische Scheinphilosophie« (173), die versuche, Descartes’ Rationalismus abzuweisen, eben weil er Franzose und ›westlich‹ sei. Ebenso finden sich klare Zurückweisungen völkischer Stereotypen (172 f.). Selbst einer Verinnerlichung reichs-nationaler Antriebe, wie dem Begriff des ›inneren Reiches‹ bei Stefan George, begegnet Heidegger mit Reserviertheit und weist ihn und das Pathos der George-Schule letztlich zurück (189 f.). 76 Eine ganze Darstellungslinie der Überlegungen kritisiert den Massencharakter und die Gewalttätigkeit, die schon in den Interaktionen von Parteitagen, Propaganda und Agitation einsetzt. Heidegger führt dies mit der Äußerlichkeit der Revolution zusammen und setzt vor allem in den Überlegungen IX. dagegen die Exposition der anderen ›Gestimmtheit‹ des (andenkenden) Seinsdenkens. Es sei im vordergründigen Sinn ohnmächtig, da es nicht verfügen könne. Es ist äußerlich machtlos und kann keinerlei Machenschaft auslösen – und zwar per se: Eben weil es das Wesentliche voraussetzen muss, dass sich die Wahrheit des Seins ereignet. Es ist die archontische und kybernetische Haltung, die implizit an die Aristotelische Politik erinnert und die Heidegger einfallsweise auch mit einem platonischen Vollbegriff von »Regieren« im Sinn von »Königsein« verknüpft. Dummheit, Vulgarität, der »orAuch dies unterscheidet Heidegger von Hans-Georg Gadamer, der in seiner Frühzeit auch den soziologischen Umständen des George-Kreises nahestand. Über die in jüngerer Zeit massiv anwachsende George-Literatur ist hier nicht weiter zu verhandeln.
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dinäre« Charakter der totalitären Massenagitation sind immerhin so deutlich herausgearbeitet, dass sie nicht mit dieser königlichen Haltung verwechselt werden können (293 ff.). Die Riesen- und Massenhaftigkeit sind Phantome der neuen Revolution, die in der Vordergründigkeit bleibt. Für die Grundstimmung des Seinsdenkens evoziert Heidegger deshalb eine der klassischen Phänomenologie angehörende Grundhaltung, eine Epoché, die sich nicht in Geltungszusammenhänge der Welt versetzt: »Das Seyn begreifen heißt: außerhalb der Welt zu stehen kommen, d. h. dessen, was man die ›Welt‹ nennt – das vor- und herstellbare Seiende im Ganzen« (195). Sie führt in einen den Anfang, der älter sei als der erste Anfang: was nicht nur auf eine vorplatonische an Parmenides und Heraklit orientierte Grundphilosophie verweist, sondern die Verborgenheit des Seins selbst. Raunende Außer-Rationalität wurde Heideggers Seinsdenken immer wieder vorgehalten. Die Dichte und das Ringen mit einer eigenwilligen Sprachform können dafür einen gewissen Anhaltspunkt bieten. Die Präzision von weiten Teilen Heidegger’schen Denkens fällt indes keineswegs unter dieses Verdikt. Besonders augenfällig ist es, dass gerade die Überlegungen auch eine massive Kritik an einer nicht-begrifflichen Lebensphilosophie üben, die – in ihrer Frontstellung gegen einen vermeintlich jüdischen Intellektualismus – in der NS-Pseudophilosophie eine prominente Rolle einnahm. Treffend formuliert Heidegger demgegenüber, mit der Berufung auf das Leben sei »alles zu rechtfertigen« (93.401). Die Schwarzen Hefte machen auch an verschiedenen markanten Stellen deutlich, dass Heideggers Einlassungen gegen die NS-Ideologeme, ihren Biologismus und Rassismus in seinen Vorlesungen einem wiederholten Nachdenken und einer genuinen Abneigung entspringen: »Denken wir den Menschen nicht immer noch nur tierhaft, wenn wir ihn als ›Volk‹ denken?« (339). Mit Hölderlins und Nietzsches Suche nach einer nationellen, nicht nationalen und schon gar nicht nationalistischen Orientierung Deutschlands ist die NS-Ideologie nicht zu verbinden. Auch wenn Heidegger die Unterscheidung zwischen dem Nationalen und ›Nationellen‹ selbst nicht so fruchtbar macht, wie es geschehen könnte, macht er die Gedankenlosigkeit des hypertrophen Nationalismus weit über die NS-Konzeption hinaus überdeutlich. Ein anderes Beispiel für Grenzziehungen aus den Überlegungen XII, das in der gängigen Diskussion ebenso geflissentlich übersehen 407
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wird, ist anzufügen: Heidegger sieht es als Verkehrung und Verengung an, wenn der »Frontkämpfergeist«, wie er in Ernst Jüngers Schrift Die totale Mobilmachung aufscheint (96. 29), das politische Feld dominiert. Verbunden wird dies mit dem Hinweis auf Achtung und Pietät gegenüber den Gefallenen beider Seiten, deren Funktionalisierung sich verbietet. Allenfalls ein erster Typus sei der Krieger, bemerkt Heidegger im selben Zusammenhang. Dies erinnert an Typologien und Mythologeme, die in der Geschichte des Islam oder des hinduistischen Yoga des Kriegers dem Kampf eine eigene Erkennntisund Überwindungsstufe zusprechen. Eine metapolitische Haltung deutet sich an, wenn Heidegger darauf hinweist, dass Politik nicht mit dem Maßstab des Sittenrichters gemessen werden dürfe (232) – zugleich notiert er aber in Überlegungen XIII, dass »der Sieg über den Feind« noch lange nicht beweise, »dass der Sieger im Recht ist« (15). Hier scheinen die von Manuela Massa jüngst subtil freigelegten rechtsphilosophischen Überlegungen Heideggers noch einmal auf: 77 Eine Implikation, die in den Überlegungen bedauerlicherweise nicht in weiterem Umfang zur Geltung kommt. Gegen das Carl Schmittsche Diktum: »Der Führer schützt das Recht« und einen naiven Hobbesianismus betont Heidegger, dass Recht von Grund auf verkannt werde, wenn es als »Macht des Siegers«, »Macht der Übermacht« (15) interpretiert ist. Diese metapolitische Linie verbindet sich mit einer durchgehenden und konsequenten phänomenologischen Haltung. Das Gebot phänomenologischer Vorurteilsfreiheit ist auch im anderen Anfang unerlässlich, weil, wie Heidegger an anderer Stelle bemerkt, viele »Abschiede von vermeintlichen Grundstellungen« genommen werden müssen (228). Neben der insistierenden Nietzsche-Umkreisung begegnen Reminiszenzen auf Rilke, dessen Dichtung sich Heidegger – sehr kritisch – erst in der Nachkriegszeit zuwenden sollte und die er als »Zuflucht und Ausflucht« versteht (439). Rilkes Dichtung könne noch weniger als George (438), mit dem Heidegger-Schüler wie Gadamer durchaus nahe Berührungen hatten, in die ›Auseinandersetzung‹ den Blick auf die Wahrheit des Seins eröffnen. Rilkes Dichtung könne und müsse in ihren Grenzen erfasst werden, die sich erst im Horizont der Frage nach der Wahrheit des Seins erschließen. Auch wenn HeidegVgl. ihre im Entstehen begriffene Habilitationsschrift über Phänomenologie und Rechtsphilosophie.
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ger später beiden Dichtern Auslegungen widmete und mit ihnen in eine Art Zwiesprache trat, haben sie, sofern der Ansatz der Überlegungen nicht zurückgenommen ist – und explizit ist dies offensichtlich nicht der Fall –, einen grundsätzlich anderen Status als Hölderlin, jener Dichter, der in Heideggers hörender Deutung das Seinsgeschick selbst aussagt. Sie markieren die Grenzpfähle der neuzeitlichen Metaphysik im inneren Erlebnis. Die antijüdischen Bemerkungen Heideggers sind eng korreliert mit einer grundsätzlichen Ablehnung des christlichen Dogmas. Die Hilflosigkeit und Verstricktheit des Kulturchristentums in den »Nihilismus« versteht Heidegger als ein Momentum der letztlichen Verfehltheit der christlichen Erlösung, nicht als innere Problematik der sich selbst säkularisierenden, von Verehrung und Heiligkeit absehenden Kulturchristen. Es finden sich verstörende Erwägungen über die vermeintlich unaufhebbare Differenz zwichen ›Glauben‹ und ›Denken‹, die Judesein und Christentum gleichermaßen betreffen. Von Heideggers frühen aus dem Glaubensdiskurs gelösten, aber gleichwohl ernsthaften Meditationen zum eschatologischen christlichen Zeitbewusstsein blieb nichts zurück. Die ›Todfeindschaft‹, die er in der Abhandlung Phänomenologie und Theologie beschwor, ist, so zeigt sich, keineswegs nur aus methodischen Differenzen hervorgegangen. Sie bezeugt sich als eine affektive Haltung, kulminierend in der Aussage, er selbst, Heidegger, habe, weil er Denker sei, nicht glauben können. Letztlich sind es zwei Feindschaftslinien, die Heidegger der Theologie entgegenhält und die er beide mit ihrer »Positivität« gleichsetzt. 78 Die eine ist die Romanitas, der imperiale Charakter des Imperium Romanum, der auf die Eine katholische Kirche überging, wobei Heidegger topologisch festhielt, dass die Romanitas seinsgeschichtlich Wahrheit auf bloße Richtigkeit (rectitudo und certitudo) reduzierte. 79 Die andere ist die Dimension hebräisch-semitischen Denkens, des Monotheismus als Prinzip, der die Korrelation, Bund und Anrede, aber nicht die Gegebenheit des Seins des Seienden
78 Dies ist bekanntlich die Konstellation in Heidegger, Phänomenologie und Theologie, a. a. O. 79 Besonders prägnant bei Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a. a. O., S. 67 ff. Heidegger gewahrt damit die äußere, imperiale ›politische‹ Form der Kirche, nicht aber ihren auch in normativer Sicht zu beanspruchenden Geist.
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an die erste Stelle setzt. 80 Heideggers jüdische Schüler, die je spezifisch, wenn auch teilweise verborgen, diesem Grundkonzept folgten und dabei in Heidegger’schen Spuren gehen, nehmen diese Disjunktion grundsätzlich zurück; doch blieben ihre Einwände oft eher implizit. Skizzenartig wird dies am Ende in einer systematischen Rezeptionsskizze umrissen werden. Viele von ihnen erkannten, zumindest nach 1933, dass für sie die Ausschließlichkeit der Seinsfrage nicht bindend sein konnte und dass im Zweifel eine Verklärung des Seinsdenkens zu einer eigenen Erlösungstopographie führt, der zu widersprechen sei. Man muss Heidegger gegen sich selbst lesen, auch in der Befragung seiner Abstoßung von Husserl, um, wie Lévinas oder Derrida es taten, eine jüdische Lesart Heideggers zu gewinnen. Dies wird allerdings nur in scharfem Antidotum gegenüber den nicht-rettbaren Invokationen Heideggers denkbar – und in der Respektierung der Denkautonomie seiner einstigen Schüler, deren eigene Denkwege nach manchen Dikta der Überlegungen keine Berechtigung haben. Die jüdische Fundierung greift tief in die Ausschließlichkeit von Heideggers eigenem Denkansatz ein. Denn sie formiert eine nicht dichterisch, nicht vom Anfang des Seins her begründete Transparenz auf den Gott und das Göttliche. Heideggers Denken des letzten Gottes muss dagegen auf den Tod Gottes rekurrieren, die Entzogenheit des Göttlichen in eine Gott-losigkeit (364), die jüdischem Bundesdenken widerstreitet. Gott kann zwar abwesend sein, doch gleichwohl ist er gegenwärtig. Geht doch jede jüdisch inspirierte Denkweise, in welchem Grad von Säkularisierung auch immer, von der Unkündbarkeit und bleibenden Präsenz des Bundes aus.
Der banal-böse Antisemitismus In den Überlegungen – Schwarze Hefte XII–XV (1939–41) (GA 96) tritt eine Radikalisierung und eine die eigene Differenzierung des Ontischen und Ontologischen unterlaufende Verkürzung gegenüber den vorausgehenden Konvoluten ein. Heidegger versucht dort, das Zeitalter der Machenschaft und Machtentfaltung in seinen Grundstrukturen zu begleiten und gleichsam zu protokollieren. Viele beVgl. klassisch H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie. Berlin 1928, S. 126 ff.
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kannte Motive werden weitergeführt: So jenes der ›Gründung‹, die Typik des verborgenen ›Denkers‹, der dem in der Öffentlichkeit Handelnden widerspricht: ein Selbstporträt in nuce. Wieder finden sich große Bogenschläge kritischer Auseinandersetzungen, die teilweise weit auseinanderliegende Positionen in eine taumelnde Phase des Übergangs einbeziehen. Es kann der Eindruck entstehen, dass sich hier der Übergang zwischen erstem und anderem Anfang, die Krisis als Entscheidung und die welt- und geopolitischen Verwerfungen zu einem Syndrom verbinden. Die Problematiken und Fluchtpunkte des gesamten Konvoluts werden in diesem Abschnitt besonders deutlich. In einer kennzeichnenden Überlegung nimmt Heidegger Pragmatismus, Intellektualität, Bolschewismus und leerlaufenden Wissenschaftsbetrieb auf eine Ebene zusammen. Oder: »Aufklärung, Despotismus, schrankenlose Verdummung: sind metaphysisch begriffen ein einziger Vorgang: die Entwurzelung aus dem Seyn, die Ersetzung des Ursprungs durch Machtentfaltung« (96. 55). Während in den früheren Aufzeichnungen Heidegger noch zeigt, dass die ›Inständigkeit‹ in der Wahrheit des Seins die Herrschaft des Schlagworts und der Ideologeme aufbrechen kann, kann er nun solchen Schlagworten nur entgehen, indem er andere an ihre Stelle setzt. Er scheint selbst tief in dem In-sich-selbst-Kreisen der machenschaftlichen Zeitalters befangen zu sein. Verwüstung wird beklagt, zugleich gehen von den Aufzeichnungen Spuren dieser Verwüstung aus. Während Heidegger in seiner Nietzsche-Deutung beklagte, 81 dass Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen allzu zeitgemäß geblieben seien und ein anfängliches Denken nicht erreichten, geht er nun selbst in diese Falle. Etwa, um es nur an einem einzigen Paradigma zu skizzieren, wenn er festhält, dass der Bolschewismus nicht auf »Russisches« oder »Asiatisches« zurückzuführen sei – durchaus ein Kontrapunkt zu der NS-Propaganda –, sondern, dass er »der abendländisch-westlichen neuzeitlichen rationalen Metaphysik« (47) entspringe. Aufgrund dieser metaphysischen Ursprungstopoi werden ganze Gedankenwelten westlicher Vernunftphilosophie aus dem Gedächtnis des Seinsdenkens getilgt. Implizit wird daraus die These einer »jüdischen« Prägung des Bolschewismus nahegelegt. Explizit betont Heidegger aber, dass »im Zeitalter der Machenschaft die Rasse zum ausgesprochenen und eigens eingerichteten ›Prinzip‹ der Geschichte (oder nur der Historie) 81
Mit Nachweisen Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, a. a. O., S. 171 ff.
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erhoben wird«. Dies sei nicht zufällig und nicht die Erfindung von Doktrinären. Dieser Schritt entstamme nicht dem Leben, sondern der Übermächtigung des Lebens durch Machenschaft. Doch im selben Atemzug werden ›die Juden‹ als Urheber des Rasseprinzips evoziert, die »bei ihrer betont rechnerischen Begabung« dem Rasseprinzip folgten (56). Bei solchen Sophismen kann es nicht ausbleiben, dass auch der philosophische Gestus sich verwandelt. Er nimmt selbst die Züge des Gegners und damit der Ideologie an. Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Wahrheit des Seins wird nicht länger angesonnen. Sie wird dekretiert, nahezu ›befohlen‹. Der Fragegestus, der Heideggers Denken von Anfang an auszeichnete, tritt zurück und damit die katachretische Reflexion, der Versuch, eine dem zu Denkenden angemessene Sprache überhaupt erst zu finden. Eine äußerliche Nähe zum Diktat des Nietzscheschen ›Willens zur Macht‹ zeichnet sich ab, der eben auch zur hybrishaften Machtphantasie wurde und eine sich selbst überschreiende Tonart annahm. Doch auch in diesem Konvolut kehrt verhalten ein zarter Ton wieder. Er schimmert in Zitaten und Zwischenbemerkungen auf, wenn Heidegger formuliert: »Wir kennen nicht Ziele/Und sind nur ein Gang« (96.76) – und wenn darauf ein Pindar-Zitat antwortet, das das Leuchten der strengen Anmut« evoziert (96.77, Pindaros, Isthm VII, 17). Auffällig ist die Betonung des Übergangs-Charakters der eigenen Zeit mit der fixierenden These, dass in solchen Zeiten des Übergangs »das Wirkliche (was man öffentlich dafür ausgibt) und die Wesung des Seyns am weitesten – ja bis in die vergessene Entfremdung auseinandergestoßen« seien (93). Dabei finden sich Einsichten, die bei aller Differenz und obwohl zu dieser Zeit der Briefwechsel längst schon ruhte, 82 die Nähe zu Jaspers noch einmal suchen und bewusst aufnehmen. Heidegger versucht, sich selbst im Verhältnis und der Differenz zu Jaspers zu beschreiben, so wie er dies gegenüber Hegel oder Nietzsche tat. Der Eine, notiert Heidegger, »macht das Scheitern zum Inhalt und Gegenstand einer Metaphysik […], der andere« – und damit spricht Heidegger von sich selbst – »scheitert in der Überwindung aller Metaphysik Zwischen 1936 und 1942 klafft in der Edition des Briefwechsels eine Lücke. Jaspers’ Briefentwurf an Heidegger vom 12. 10. 1942 trägt den Vermerk »nicht abgesandt«. Das Gespräch stagnierte ohnehin seit 1942.
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aus dem Anfang eines aufbehaltenen Anfangs« (105). Auch dort, wo solche luziden Bemerkungen des Scheiterns eine Gemeinsamkeit im Unterschied und ein Sein-Lassen des Anderen erkennen lassen, finden sich irritierende Passagen, die daraus entstehen, dass vom ›Irren‹ die Rede ist, das Voraussetzung der Wahrheit sein müsse. Heidegger verbindet in demselben Konvolut vor dem holistischen Blick auf den Wahn der Epoche, was nicht zusammengehört. Die Differenz zwischen Betreibern und denen, die den Betrieb nur erleiden, schmilzt zusammen; damit werden Sätze möglich, die keine essentielle Differenz zwischen Tätern und Opfern einräumen. Das »Riesenhafte des Verbrechertums« (115) wird nicht nur mit Bolschewismus und Sozialismus, sondern auch mit dem englischen Handelsgeist gleichgesetzt. Es ist und bleibt Grundproblem, dass Topoi des Seinsdenkens in diese Nivellierungsrhetorik katapultiert werden, dass Heidegger die Epoché der Weltgeltungen in der originären Phänomenologie, der er sich nach wie vor ausdrücklich verpflichtet sieht, nun beiseitelässt und eine Seinsperspektive einnimmt, die den eigenen Sachgehalt, die Gegebenheitsweise von Mächten und Ideologien undifferenziert als Seinsvergessenheit summiert. Heidegger beansprucht damit, einen übergreifenden Gesichtspunkt einzunehmen. Doch dieser ist selbst allenfalls ontisch. Die kritischen Invektiven dagegen halten sich aber auch in diesen überaus kritischen Erwägungen durch – auch dies ist in den bisherigen Darlegungen zu den Schwarzen Heften weitgehend ignoriert worden: so wenn Heidegger festhält, dass der Krieg »grauenvoll« sei, ein Grauen, das Heidegger dann übertroffen sieht, wenn Besinnungslosigkeit und Entwurzelung als Vernunft gelten (131). Oder wenn der »Lebensraum«-Ideologie als Machtoption die Absage erteilt wird: Konterkariert werden soll diese ins Riesenhafte gesteigerte aber eben die Arche notwendigerweise verfehlende Politik durch den »Bezug« zur Wahrheit des Seins. Es ist wenig überraschend, dass Heidegger in den Jahren der vollständigen Entfesselung des Zweiten Weltkriegs auch über Krieg und Frieden nachdenkt: mit bemerkenswerten Einsichten, die die tödliche Havarie des NS benennen. Krieg sei nicht, so notiert Heidegger, mit Clausewitz’ Diktum als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« (141) – oder der ultima ratio regis zu beschreiben. Am Krieg zeige sich vielmehr, dass die Politik ihrer selbst nicht mehr mächtig und unter den Zwang metaphysischer Vorentscheidungen gestellt sei. Heidegger beschwört gegenüber dem Krieg als Manifestation 413
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des Gestells vermehrt, aber nie ganz konsequent eine anti-politische Haltung, die sich dem Nichts zuwendet, das Heidegger als »die einfachste und am schwersten zu bestehende Wesensgestalt des Seyns« bezeichnet (153). Die Überlegungen XIV und XV thematisieren vor dem Hintergrund der Zerstörung und Machenschaft die Wegrichtung in den ›Anfang‹. Es gehe um die »Gründung des Anfänglichen«, die den Verhärtungen der Technik und ihrer Akzelerationen entgegengesetzt ist. Offensichtlich hat Heidegger in den einschlägigen Niederschriften nicht den Atem, die Seinsfrage näher zu exponieren. Es ist eine Ahnung, die eher genannt, als gedacht wird. Die umfassende Verheerung wird auch am Momentum des »heroischen Realismus« von Ernst Jünger fixiert, die Heidegger aphoristisch genau als »eine Flucht ins ›Reale‹ vor der Besinnung auf die Realität« (171) bezeichnet. Verstärkt wird dies in eindrücklichen Evokationen des Arbeitscharakters der Welt und in wiederkehrenden Reprisen auf den Kulturbegriff. Im Resultat ist dies nicht weit von Horkheimers und Adornos Thematisierung der »Kulturindustrie« entfernt (251 f.). 83 Heidegger sieht in dem globalen Geschehen ein apokalyptisches, auf den Untergang zielendes Szenario. Die Kriegssituation seit 1941 wird politisch widersinnig als Selbstvernichtung des Westens gedeutet. Gegen die politische Frontlinie formuliert Heidegger, dass von Russland aus »dereinst« die Metaphysik als Gegenwurf entgegen komme (276). Belastbar sind solche geophilosophischen Aussagen nur sehr bedingt. Sie folgen einem keineswegs originären Topos von Deutschland und Russland als den »metaphysischen Völkern«. Im Zusammenhang seiner Analyse des »rasenden Planetarismus«, also des in Bewegung versetzten ›Gestells‹, blickt Heidegger immer wieder auf eine Zeit, die jenseits der NS- Epoche anbreche: eine planetarisch vernetzte Eine Welt, die einem blinden Szientismus und dem Fortschritt verpflichtet bleibe. Auch damit folgt er Ernst Jüngers Beschwörung des großen Anihilement. Nur scheinbar sei der Fortschritt ein Prinzip des »sogenannten ›Liberalismus‹« (96. 271). Die Grundstruktur reicht tief in die Annahme der Neuzeit, die die Selbstsicherung des »eigentlich Wahre[n] und Wirkliche[n]« (ibid.) auf Umbruch und eine geradezu rasende Neuerung ausrichtet: Heidegger gelingen unter der Hand hochakute Lesarten des Globalis83 Vgl. M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947). Frankfurt/Main 1969, S. 128 ff.
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mus, Potenziale seiner Technikphilosophie sind zu ahnen, die längst nicht alle in den Ausarbeitungen zutage gehoben wurden. Heidegger evoziert eine Tiefengrammatik, die notwendige Vermittlungsschritte unthematisiert lässt, aber gleichwohl essentiell für die Deutung dieser Epoche ist. Er vermerkt ihre kybernetische flächendeckende Beschleunigung und ihren rasenden Stillstand, aus dem der andere Anfang entborgen werde.
Anmerkungen: Der Beginn von Heideggers spätestem Denken In Heideggers Anmerkungen begegnet eine andere Tonart als in den sonstigen Korpora der Schwarzen Hefte, die mit dem Titel Überlegungen überschrieben sind. Das erste Korpus nimmt 1942 seinen Anfang. Heidegger stellt es unverkennbar unter die Signatur des späten Hölderlin und von Pindar. Man kann den Gestus der ersten Konvolute als ein An-sich-Halten und In-sich-stehen in einer Zeit begreifen, die zunehmend als das rasende, sich selbst vernichtende Gestell begriffen wird. Gegen-heroisch und in gewissem Sinn anti-politisch, jedenfalls gegen die philosophische Insinuierung einer »großen Politik« gerichtet, 84 betont Heidegger in den Aufzeichnungen den Rang des spät und alt Werdenden. Erst in einer Spätzeit könne das »inständige Denken« sich entfalten, »ungekannt und ungehört« bleibe es »dem Anfang zugeeignet« (97. 29). Dies ändert nichts daran, dass noch einmal inmitten von beschwörenden, innehaltenden Evokationen zu Hölderlin und den frühen Griechen, zum Zusammenklang von aletheia und Mythos der antijüdische und anti-christliche Impetus aufgenommen wird. Zu Recht berühmt und skandalisierend, ist die Aussage: »Wenn erst das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht« (97.20) Heidegger exponiert im selben Atemzug den geschichtlichen Topos des Antichrist, der, wie Carl Schmitt zu Recht betont hat, letztlich die privilegierte und einer christlichen Geschichtstheologie vorbehaltene Form ist, Geschichte zu denken. 85 Dies ist bekanntlich ein Leitbegriff des späten Nietzsche. Dazu H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, a. a. O., S. 234 ff. 85 C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 51990, S. 49 ff., siehe auch ders., Der Nomos der Erde. Berlin 31988, S. 29. 84
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Dass sich Heidegger von einer solchen christlichen und insbesondere katholischen Geschichtstheologie von Grund auf getrennt hat, lässt seine Rede vom ›Antichrist‹ problematisch und fragil werden. Er müsse »wie jedes Anti- aus demselben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es anti- ist- also ›der Christ‹« (97.20). Je mehr sich in der Realgeschichte Vernichtung und Selbstvernichtung begegnen, je offensichtlicher der Nihilismus die Niedergangsgeschichte des Zweiten Weltkriegs beschleunigt, umso kontrafaktischer bringt Heidegger Fuge und Gefüge gegen die zum »Unfug«, zur Vernichtung geronnene Konstellation in Stellung. Die schmalen aber entschiedenen Leuchtpunkte des spätesten Denkens Heideggers leuchten andeutungsweise inmitten dieser Notate auf: Schweigen, Sprache, Rückkehr, die als Umkehr verstanden wird, aber deren Richtungssinn auf das zielt, »bei dem wir noch nie waren« (97. 35). Heidegger evoziert in diesem Zusammenhang »das Unscheinbare« (97. 45), das auf »die Bestimmung des nicht völkischen Volkes« verweise (ibid.) und damit die bellizistischen Frontlinien hinter sich lasse. Ein Gegenton gegen die rasende Unkultur der Totalen Mobilmachung wird ahnbar, wenn Heidegger festhält, verlieren können wir nur, »was wir nicht haben« (ibid.) Philosophie wird vor diesem Hintergrund als »Liebe des Wissens« bestimmt, in einer Verhaltenheit (97. 51), die »den Geliebten im Lieben heimkehren« lasse (97. 61), nicht ohne dass er die Täuschungsmöglichkeiten von Liebe namhaft machen würde. Daneben finden sich durchgreifend verwerfende kritische Implikationen, gerichtet ebenso sehr gegen den Friedens- wie den Kriegszustand. Illusionsloser ist seinerzeit vermutlich kaum geschrieben und gedacht worden. »Der ›Friede‹ ist die ungestörte Gelegenheit zur wirtschaftlichen und arbeitsmäßigen Ausbeutung der Niedergehaltenen. Der ›Wohlstand‹ ist der Anschein der Harmlosigkeit der sich vollziehenden Ausbeutung« (97. 43). Man würde es sich zu einfach machen, wenn man diese Zurückweisung der Erwartungen eines Friedens- und Kulturzustandes mit einer außer- oder gar a-moralischen Anzeige des amorphen alles in den Strudel reißenden Weltstaates gleichsetzen würde. Derartige Gedanken formulierten auch Ernst Jünger und andere Kulturkritiker. Heidegger beruft sich nicht auf den Verrat am Geist, sondern umfassender und radikaler auf einen Verrat am Denken, das er in einem tiefen Pathos sich noch einmal zueignet: »Keine Macht der Welt und kein Gott wird mein Denken jemals aus der Vereignung in das Sein selber herausreißen. 416
Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
Niemals wird sich das Denken in seinem Wesen verleugnen« (97.63). Man kann auch diese Aussagen, das sei unbestritten, im Licht einer Hermeneutik des Verdachts verstehen. Dann wird man ihren pseudoreligiösen Anstrich und die von keiner Historizität zu überzeugende Trotzigkeit heraushören müssen. Ein feinhörigerer Gestus muss aber bemerken, dass Heidegger einen Maßstab hat, ein Gegen-bild, das sich in seiner spätesten, letzten Philosophie erschließen wird: Den Verweis auf die Offenheit von Welt, die gerade nicht »öffentlich« wird (97.95), »das Nicht-Erscheinen im Sinne von Nicht-in-die-Erscheinung-(hervor-treten)« (ibid.), die er mit »Freiheit« gleichsetzt. Die Maximen und Imperative adressieren sich deshalb nicht primär an andere, sondern an sich selbst im Sinn eines Denkens des verborgenen Einen. Ihn fasst Heidegger zusammen, wenn er die Maxime formuliert: »Auf dem Weg des Denkens bleiben …« (97.102). Formuliert ist das vermutlich irgendwann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945. Eine tiefe Krise oder Sprachlosigkeit ist zwischen diesem Jahr und den Aufzeichnungen des folgenden Jahres 1946 nicht zu erkennen. Der sprachliche und gedankliche Gestus setzt sich fort. Das eigentlich Bemerkenswerte ist dies, dass Heidegger in Konsequenz die Topologie des Denkens weiter präzisiert und umschreibt. Die Wege des Denkens haben, bemerkt er unter anderem, »das Eigentümliche, dass es die Spuren nicht zurücklässt, sondern mitnimmt, dass es sie im Weitergehen selbst ständig spürt und dabei verwandelt« (97.164). Denken sei, heißt es wenig später, in offen ausgetragenem Kontrapunkt zum »Willen zur Macht«, »die Beschränkung auf den einen Gedanken, der einst wie ein Stern Himmel der Welt stehen bleibt« (97.168). Umgeformt wird in diesem Horizont auch der Gewissensbegriff. Gewissen sei »Con-scientia«, ein Mit-wissen und – wieder im akroamatischen Sinn – ein Gehör für die Stille. Die Exposition des Denkens verdichtet sich immer mehr zum An-denken, gerichtet auf die noch Ungedachten und Ungebahnten Wege, bei denen wir immer schon sind. Man kann davon ausgehen, dass sich Heidegger in der frühen Nachkriegszeit darüber klar wurde, dass die Wege der Philosophie verschlossen und letzlich leblos geworden seien und eben darum die Sache des Denkens sich zunehmend erschließe. Das Denken denkt deshalb »abschiedlich« (383), es führt in eine »Eschatologie des Seyns«, die Heidegger näher bestimmt nicht als Lehre von den letzten Dingen, wie es die christliche Eschatologie war (97.391), sondern als »Ding des Abschieds im Unterschied«, den sie setzt. 417
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Eindrücklich ist gerade in den Schwarzen Heften die illusionslose Klarheit, die sich auch in einer unprätentiösen Sprache widerspiegelt und daher gegenüber anderen, für die Publikation bestimmten Texte aus der Phase des Umbruchs und Übergangs eine hohe Souveränität ausstrahlt. Etwa wenn Heidegger bemerkt, Politik sei zwar nicht das Schicksal des Menschen, sie gehe ihn aber in seinem Zusammenleben notwendigerweise etwas an. Doch vorausgehen müsse, »dass das Wesen des Menschen – in die Erfahrung kommt« (97. 131). Es bleibt zu konstatieren, dass Heidegger zu wenig, wenn denn überhaupt, von einer moralischen Schuld und Verfehlung spricht. Und es bleibt moralisch eine Verkürzung, wenn nicht Verfehlung, wenn er »mein Denken 1933« als Übereilung charakterisiert (97. 130), die nicht an die Dimension der Seinsgeschichte, vermutlich noch nicht einmal der Metaphysik heranreichte. Es bleibt ein unübersehbarer struktureller Mangel Heidegger’schen Denkens, dass er die Dimensionen der Schuld nicht auch im Feld einer politischen und moralischen Verantwortlichkeit verankert. So mag es eine tiefreichende Form von Schuld sein, wenn ein Denken wie jenes von Leibniz nicht mehr in seiner Kraft und wirkungsgeschichtlichen Bedeutung zur Sprache kommt. Doch der tatsächlich vollzogene Massenmord wiegt demgegenüber, in faktischer Wucht inkommensurabel. Die kristallin klaren Evokationen des andenkenden Denkens, das »an das [denkt], was das vorstellende vergaß« (97.281), führen Heidegger auch in den Anmerkungen aber zu einer beträchtlichen Kritik an vergangenen Ausprägungen des eigenen Denkens. So schreibt er in Parenthese: »Darum war das Eigentliche in meinem Versuch von 1933 verfehlt, von den übrigen Fehlern zu schweigen. Aber die Rückfälle in jenen eigentlichen Fehler drohen immer noch« (97.389). Es mag angesichts der gegenwärtig viel berufenen Desavouierungen Heideggers seltsam und mindestens anachronistisch anmuten, wenn man ihn bemüht, um einen dauerhafte Fehlneigung des Denkens von Grund auf zu korrigieren. Absurd ist dies jedoch nicht. Gerade das Verhältnis des Unter-schiedes und Ab-schiedes, das Heidegger nachhaltig und wiederholt im Zeichen eines akroamatischen an sich haltenden Denkens aufruft, eine entschieden wachgerufene Differenz, macht Anknüpfungsbewegungen, die man als ›Restauration‹ beschreiben könnte, unmöglich, wo immer sie sich politisch verankern mögen. Damit eröffnet sich aber eine innere, zarte und helle Differenz, die Heideggers späteste Philosophie bestimmen wird. Die Anmerkungen VI-IX (2018 ediert, GA 98) datieren in die 418
Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
Jahre 1948/49: Sie dokumentieren eine neue denkerische Konzentration, die Polemik tritt ebenso zurück, wie die Abbiegungen und Pervertierungen durch die totalitäre Erfahrung. 86 Den Anmerkungen kommt dabei besonderes Gewicht zu. Anders als in den dreißiger Jahren, gibt es nicht begleitende große Abhandlungskonvolute, die Heideggers Denkweg dokumentieren würden. Ausschließlich ist die Interpretation auf die Anmerkungen angewiesen. Dabei zeichnen sich essentielle Veränderungen gegenüber den früheren Konvoluten ab. Einen zentralen Topos bildet der Begriff der Welt, die Heidegger hier als Entgegensetzung des Gevierts auffasst. Die Schreibweise von ›Seyn‹ in der durchgestrichenen Version verweist einerseits auf die Seinsentzogenheit, andererseits eben auf die Vierung im Geviert selbst. Heidegger folgt damit der Notation, die auch in den Beiträgen festgehalten ist. Jenen Weltbegriff des Seinsdenkens verbindet Heidegger mit der Evokation der ›Stille‹ (98.13, 15 ff.), des Schweigens und eines Denkens, das nicht auf propositionale Bestimmungen (Das ›Wassein‹) fokussiert ist, sondern auf sein ›Wie‹. Heidegger nimmt dabei die Gestimmtheits-Analytik wieder auf, die er seit Ende der 20er Jahre erwogen hatte. So wird die Sigetik, die Evokation des Schweigens, am Endpunkt der ›Beiträge‹ fortgeschrieben und vertieft. 87 Die Sinnbilder und Metaphern, die er verwendet, sind in auffälliger Weise musikalisch konnotiert: Das Weltspiel sei eine ›Weise‹, die erklingt und die Harmonie der Fügungen austrägt. Einklang und Stille (12 f.) entsprechen einander (32). Die Betonung jenes An-sichhaltens erweckt bereits den Eindruck, dass der sich überschreiende Ton der Nietzsche-Paraphrasen verwunden ist. Bei aller gewonnenen Leichtigkeit und Klarheit ist die Schrittfolge des Gedankengangs doch in eine neue fundamentale Spannung einbezogen: Heidegger betont, der Schritt zurück solle »nicht dorthin« gehen, wo das Denken jemals schon war, sondern dorthin, wo es bisher noch nie sich aufhalten konnte« (57), eben in den Bereich des ›reinentsprungenen‹ Seins selbst.
Der Herausgeber hat zu den verschiedenen Teilen des Bandes Registereinträge zusammengestellt. Diese sind leider alles andere als überzeugend, da sie nicht nur Namens- und Begriffsregister ungetrennt versammeln, sondern auch bei den Eigennamen sehr selektiv verfahren. Eine solche Abweichung von Heideggers Editionsmaximen scheint nicht plausibel und noch weniger erforderlich. 87 Heidegger, GA 65. S. 503 ff. 86
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Dass Wahrheit nicht propositional aussagbar ist, vertieft sich zur Einsicht in ihre Unsagbarkeit: So lässt Heidegger auch die Rede von der ›Kehre‹ und der ›ontologischen Differenz‹ in den Hintergrund treten. Immer wieder umkreist er in diesen Aufzeichnungen der Nachkriegsjahre den »Unter-Schied«, der sich auf den Zwischenbereich, die Schwebe zwischen Sein und Seiendem einlässt. Denn von grundsätzlicher Bedeutung wird die Exposition des »bewegenden Denkens« gegenüber einem »vorstellenden Denken«. Der andere Anfang soll von diesem ›bewegenden Denken‹ durchstimmt sein, das »den Menschen in sein Wesen« (27) be-wege, sich aber von jeder Wirkabsicht verabschiedet habe. An einer wichtigen Stelle summiert Heidegger sein Denken (57, vgl. auch 97 ff.) als »Schritt zurück«, der eben von Bestimmung und Vorstellung des Seienden in den Unterschied der Kehre führe. Ein Minimalismus deutet sich an, die Intention, dass das Denken nicht auf einen Ort bezogen werde, an dem es »schon war«, sondern dass es eben dorthin verweist, wo es sich nie zuvor, auf den Wegbahnen der Metaphysik, aufhalten konnte. Die Verwahrlosung von Welt, die Voraussetzung für die planetarische Technik (58) kann (hier ist Heideggers Polemik nach wie vor sehr eindeutig) weder durch Berufungen auf Moral noch durch die Evokation des »christlichen Abendlandes« konterkariert werden. Es ist ein ›anderes Denken‹, das Heidegger von hier her nahelegt und in einer Intensität, die er nur an wenigen Stellen ähnlich erreicht, auch in Gang bringt: Eine Phänomenologie, die nicht auf Sehen und die von ihm abkünftige Eidetik gerichtet ist, sondern auf das Hören, ein Denken, in dem die ›Auseinandersetzung‹ mit der Geschichte der Metaphysik so gut wie keine Rolle mehr spielt und das durch ›Einfalt‹, Gabe, Verschwenden und Verschwinden gekennzeichnet ist (63). Man kann sich im Blick auf Heideggers späteste, letzte Philosophie, die hier ihre Konturen zeigt, auch fragen, ob jenes Denken noch der ›Philosophie‹ angehört. Wenn aber Philosophie auch in den yogischen Weisheitswegen der großen Kulturen zu finden ist, 88 dann gehören Heideggers späteste Denkwege ihr unstrittig zu, die immer wieder von der ›Einfalt‹ sprechen – nicht so sehr von der ›Gelassenheit‹ und davon, dass es gelte, »Welt« erst zu finden (62, 63). Solche Einsichten In der Orientierung einer der Globalität gemäßen Erfassung des 20. Jahrhunderts, die auch das philosophiegeschichtliche Unternehmen des ›Überweg‹ heute interkulturell ausrichtet, scheint eine solche Perspektive unhintergehbar. Vgl. H. Seubert, Weltphilosophie. Ein Entwurf. Baden-Baden 2016.
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findet man ohnehin in der Nähe kontingenter Aussagen, die sich teilweise an Buchtiteln oder anderen Zitaten entlang formieren, teilweise in Polemiken gegen Autoren manifestieren, die, wie Bultmann, zu einer Neubesinnung nach 1945 aufrufen. Dabei ist nicht das ›Ereignis‹ der leitende Topos, sondern vielmehr das ›Enteignis‹ (66 f.), das Vergehen und Unsichtbar-werden des Ereignisses. Die Selbigkeit von noein und einai, wie sie im Grundwort des Parmenides anklingt, wird nicht als Grundwort der Metaphysik des Einen, sondern als Hinweis auf dieses Enteignis thematisch. Gegenbild des an sich haltenden Denkens ist die Verwahrlosung (38), die Heidegger in den Beiträgen bereits evoziert hatte und die auch seine Exposition der Technik durchstimmt. Auch der Bezug zur Sprache ist in jenen Aufzeichnungen von fundamentaler Bedeutung. Nicht als nachträglich dokumentierende Darstellungsform wird Sprache markant, sondern als die Aussage der ›Kehre‹ und zur Sprache-Bringen der Weltlichkeit von Welt. Da der ungehobene und ungeborgene Anfang des Denkens sich in einer Jähe ›lichtet‹, gleichsam seinen exaiphnès-Charakter zeigt, sucht Heidegger nach einer Sprache, die Wahrung des Anfangs ist, eine Artikulation, die einen Aufenthalt ermöglicht (73 ff.) und nicht in den Gestus des Stellens und Verstellens, der Seinsvergessenheit, verfällt. Damit wird die Urintention der Kunstwerk-Abhandlung aufgenommen, die erstmals Sprache als die Grundform und eigentliche Ermöglichung von poiesis, von Werk und Herstellung, zeigte. Sprache geht aus der Stille hervor und bleibt auf sie bezogen. Stille ist gleichsam der Anfang und Grund von Sprache (deren arché). Die aufzusuchende anfängliche Sprachform bleibt in diesem Anfang und wird so daran gehindert, sich selbst zu verlieren: »Die Sprache des be-wegenden Denkens ist das Für-Wort der Stille« (98.57). Jene ›Aufzeichnungen‹ lassen sich als Keimzelle von Heideggers spätem Denken der Sprache erkennen, das darin bereits in seiner ganzen Tiefendimension formuliert ist. Auch der Zusammenhang von Technik, Kunst und Gestell klärt sich im Sinn einer inneren Kehre im Weltverhältnis, die am Ende der Metaphysik möglich wird, in der meditierenden inneren Auffassung des Weltspiels. Auffällig zu Beginn der Anmerkungen VI. sind zwei Momente, die auf Anfangsimpulse des Heidegger’schen Denkens in den ersten phänomenologischen Vorlesungen um 1920 zurückgehen: Einmal betont Heidegger mit hoher Intensität den Zusammenhang von Freiheit 421
Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
und Wahrheit, was er in der Denkbewegung mit dem Vollzugscharakter des ›Freyens‹ zusammenführt. Unterschiedliche Anklänge fließen hier zusammen, die sich wie in einem verdichteten Akkord gegenseitig durchdringen: Einerseits die wiederholte Meditation von Schellings Freiheitbegriff in der einschlägigen Abhandlung, dann der Anklang an das alte Wort für Brautwerbung, ein Freien, das Liebe, Zartheit und An-sich-Halten im Umgang mit dem Anderen verbindet und schließlich der Grundzug des bewegenden Denkens, der auf Frei-werden, Bestimmungslosigkeit und Leere führet. Eine Verbindung mit der transzendentalen und moralisch konzipierten Freiheit Kantischer Provenienz wird nicht hergestellt. Transzendentales und begründungstheoretisch motiviertes Fragen (83) fasst Heidegger als Teil des »vorstellenden« Denkens auf. Es verkenne gerade die Dimension, die hier eröffnet werde. Zum anderen deutet sich der Rekurs auf die frühen phänomenologischen Aristoteles-Interpretationen an, die gerade der Willenswahl, der Ausbildung einer habituellen Klugheit und dem Ratschlag galten. 89 Auch dies vollzieht sich andeutend und ohne explizit philologische Reminiszenzen. Heidegger exponiert die Sammlung auf Welt im Ganzen mit dem Neologismus ›Ratsal‹, als Ausfließen der ratenden Hinweise und Winke, wie der Aufenthalt in der Nähe des Seins, am Weltspiel, möglich sei (72 ff.). Jene Hinweise können als Bruchstücke andeuten, wie eine Heidegger’sche ›Ethik‹ als Lehre vom Aufenthalt bei der Welt anzusetzen hat: Der Humanismus-Brief dürfte wesentlich in diesen Aufzeichnungen vorgeformt worden sein. In Analogie zu der Rede vom »Ratsal« wird das »Rinnsal des Baches« benannt, das »Schicksal des Stromes« sei, der immer auf seinen Anfang bezogen bleibe (194). Dieses »Raten« hängt offensichtlich eng mit ›Andenken‹ zusammen, das Heidegger aus Hölderlins Andenken-Hymne gewinnt. Damit entsteht ein Verweisungsnetz auf ein Denken, das geübt werden muss und von den tradierten Wegen der Philosophie zu unterscheiden bleibt. Philosophie wird in Revision der Hegel’schen Zuweisung von Vorstellen auf die vermeintlich vorreflexive Stufe der Religion vom Denken abgesetzt. Mit der Zurücknahme verbindet sich eine umfassende Destruktion von Philosophie, deren Transzendenz gerade darauf beruhe, dass sie »das Wesen von Sein« (den Austrag) überspringt. Vgl. zum Kriterium der ›Wohlberatenheit‹ A. G. Vigo, Zeit und Praxis bei Aristoteles, a. a. O., S. 345 ff.
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Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
Für den Umgang mit dem publizierten Werk und mit den Vorlesungen ergeben sich daraus weitere wichtige Hinweise: Heidegger beschreibt ihren Charakter als Grundzug eines nicht-eingelösten, noch auch einlösbaren ›Vorgriffs‹. Geschöpft werde aus einer Grunderfahrung, die selbst nicht ausgesprochen werden kann. So vermerkt Heidegger zur Abhandlung über das ›Wesen des Grundes‹, sie sei »geladen mit Dunkelheit und darum enthält sie vielfältig verschiedene Weisungen für das Denken« (83). Solche Grundtexte Heideggers erreichen also nach seinem eigenen Urteil nicht die Einfachheit und Zurückgenommenheit. Die fragmentarische, gebrochene Mitteilung erweist sich als suchende Annäherung an das zu Denkende und nie Gedachte. In den Anmerkungen VII. tritt das Grundwort des Dings erneut in den Fokus. Wir sahen bereits (Dritter Teil, 17), wie stark Heidegger den Kantischen Begriff der Gegenständlichkeit des Gegenstandes als Grundlegungspunkt der Transzendentalphilosophie versteht. Gegenständlichkeit setzt bekanntlich einen subjektivitätsphilosophischen Ansatz voraus. Demgegenüber verweist das Phänomen des Dings, für das er später so eminente Beispiele wie den Krug oder den Ring benennt, nach Heidegger auf die Grunderfahrung des Gebens, eine Einsicht, die weitgehend unabhängig von Heidegger auch in der jüngeren Phänomenologie der Gabe entwickelt wurde. 90 In koanartigen kurzen Sequenzen umkreist Heidegger immer wieder diesen Zusammenhang: »Nähe ist Wink der Stille der Milde«; »ereignende Nähe fern« (119): der Aufenthalt in einer Nähe, die aber niemals verfügbar zu machen ist. Deshalb wird Ethos im wörtlichen Sinn als ein Wohnen verstanden, als Aufenthalt-Nehmen bei der Welt, deren eminentes, welthaftes Beispiel das einzelne Ding ist. Von grundlegendem Interesse wird dabei das Verhältnis des Denkens zum Zu-Denkenden. »Das Zu-Denkende ist das schon Zu-Gedachte – zugedacht als Sichzu-weisend in der Weise des Ereignisses« (159). Sehr einfach und grundsätzlich klärt sich damit der Weltbegriff. Als »Abschiedswort« an die Metaphysik versteht Heidegger die Aussage: »Sein ist Welt« (161). Denn von hier her kommt dem Heidegger’schen Weltbegriff eine Schlüsselbedeutung zu: Welt ist selbst »Ereignis ›des‹ Unterschieds« (163), der nur annäherungsweise als ›ontologische Differenz‹ bezeichnet worden war. Vgl. J.-L. Marion, Gegeben sei. Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit. Freiburg/Br., München 2015.
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Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
Das Denken des Einen-Einfachen lässt sich einüben; wobei der Übungscharakter sich vor allem in phänomenologischen Bezügen niederschlägt: Einüben ist »Sehen-Lernen des Unsichtbaren«, Transparenz für eine Erfahrung, die man aber eben nicht »kennen« könne. Wenn, auch in dieser Monographie, dem Heidegger’schen Gestus des anderen Anfangs wiederholt vorgeworfen wurde, er entwickle eine Art Autopoiese des Seinsgeschicks, die über die Individualgestalt des Menschseins hinwegzugehen drohe, so können die ›Anmerkungen‹ der Nachkriegszeit diesen Eindruck korrigieren. Sie versuchen offensichtlich, eine Sorge um den Menschen zu entfalten. Sie verbinden Sinnklarheit, Suche nach dem zu Tage liegenden einfachen Phänomen und Vermeidung der Verwirrung. Damit verbindet sich die Zurückweisung des planetarisch Riesenhaften und der Hybris des ›Gestells‹. Jene Verführungen und Irrtümer lassen sich, so Heideggers Hinweis, allerdings nicht durch logische Festlegungen, nicht durch ein Widersprüche ausschließendes ›kontrolliertes Denken‹ vermeiden: 91 Die Rückführung des Denkens auf eine vollständige Kontrolliertheit trägt vielmehr offensichtlich zur Machenschaftlichkeit bei. Auch eine ins artistisch Virtuose gesteigerte Dialektik würde Klärung ins Einfache nicht erbringen: Das Gelingen dieses neuen Anspruchs hängt damit zusammen, dass sich das Denken selbst in das Offene, Ungesehene begibt, dass es sich Gefahr und Irrtum aussetzt, vor allem der Gefahr, nicht in dem Einfachen, Einen anzukommen. Die Nähe, die Heidegger ansinnt, die Versammlung in das ›Schickliche‹, in dem die aristotelische Kategorie der Billigkeit (epikia) anklingt, setzt den Abstand von den fixierenden Denkformen und -aussagen voraus. In diesem Sinn macht Heidegger auch den Titel ›Erläuterungen‹, den er ja seinen Hölderlin-Kommentaren voranschickte, transparent. Erläutern bezeichne »das Lautere der Einfalt, die den Unterschied […] zur Stille (läutert), entsprechend sagen. Erläutern denkt vom Unterschied her« (172). Es ist also gerade die freie Aneignung des Unterschiedes, die ihren Anklang im ›Als‹-Sagen hat: dem metaphysischen ›Als‹, das Seiendes in bestimmten Hinsichten interpretiert und das vom ›Als‹ des ›bewegenden Denkens‹ zu unterscheiden ist, Ein Terminus, der nach 1945 insbesondere im Umkreis von Wolfgang Stegmüller und der Aufnahme angelsächsischer Traditionen die zentrale Rolle spielte und suggeriert, dass eine Spekulation im Heidegger’schen für den demokratischen common sense gefährdend sein könne.
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Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
das Welt in ihren inneren Bezügen zur Sprache bringt: in Konzentration auf den Zusammenhang von Ding und Welt. Umrissen wird ein Denken, das von der ontologischen Differenz, die noch ein ›zwiefältiges‹ meine (180), in eine Einheit zurückzukehren versucht: die Einfalt des Bedenklichen. Dieses Denken ist »lediglich« Denken (179), betont Heidegger immer wieder. Bemerkenswert sind dabei methodische und terminologische Modifikationen von Tragweite: Das Wesen des Dinges und damit auch des Denkens, das auf die Dingheit der Dinge gerichtet ist (217), lasse sich gerade nicht mehr als Seinsaussage formulieren. Offensichtlich nimmt sich die Seinsfrage in ein Aussagen von Welt und ihres Aufscheinens am Ding zurück. Heidegger bezieht sich zur weiteren Klärung auf den Begriff der Skepsis: Skepsis formuliere eine ›Reine Kritik‹, die über Kant hinausgehe, insofern sie unmittelbar auf den Weltbezug hinführt. Etwas änigmatisch formuliert Heidegger: »Die Skepsis ist die Sage der Welt« (178). Zu jener Skepsis bemerkt er, in einer breit angelegten Abwehr und einer knappen Anzeige ihres positiven Gehalts: »Die Skepsis des unterschiedlichen Denkens ist weder ein bloßes Zweifeln an allem, noch ein nur vorläufiger Zweifel, noch auch der Durchblick durch die dialektischen Stationen in das Absolute, im Sinne Hegels; – die Skepsis der Sage der Welt ist die Durchsicht durch das Zwiefältige der Differenz in den Unterschied« (180). Sie führt, indem sie gleichsam an die Stelle der Destruktion im Umkreis von Sein und Zeit tritt, erst in die höchste mögliche endliche Sinnklarheit über das Unterschiedene von Sein und Welt. Noch einmal beginnt Heidegger an diesem Punkt neu. Zugleich gibt der Verweis auf die Skepsis dem Gestus der ›Verwindung‹ der Metaphysik, der hier immer wieder auch als ›Verwindung‹ eines Schmerzes aufscheint, deutlichere Konturen. Er führt nicht nur über den Seinsbegriff hinaus, sondern auch über den Gestus des Fragens. Fragen nämlich sei selbst prima facie »vorstellen«, »demgemäß auch das gehörige Antworten« (222). Exponiert wird stattdessen ein »Ent-sprechen«, das der Sprache der Welt selbst entspricht. Die Skepsis bereitet also ein Denken vor, das, wie Heidegger in seinen letzten publizierten Schriften an vereinzelten doch prägnanten Stellen wiederholen wird, »tautologisch« ist, also das Selbe in wiederkehrenden Annäherungen sagt. Über Lehren und Lernen in der Philosophie bemerkt Heidegger in seinen im Monolog skizzierten Einübungen in ein korrespondierendes Denken einiges: Ein Ungenügen an der unmittelbaren Rezeption und der eigenen Schülerschaft ist 425
Heideggers Komplizenschaft und die Schwarzen Hefte
nicht zu übersehen. Thematisiert wird aber auch in einer neuen Leichtigkeit, die in den Einlassungen in den Vorlesungen und der Apodiktizität des »Denkwebels« fernlag, dass Lehren ein Freilassen sei, das in die Verhältnisse setze. Für ›Einfall‹ und ›Einlass‹ muss ein Denken-Lernen vorbereiten (388): Lehren sei daher immer ein MitTeilen »Vorhalt des schon ereigneten Fundes des Unter-Schiedes« (389). Unverkennbar ist allerdings auch, dass Heidegger in den späten ›Anmerkungen‹ den Abschied von der Metaphysik in einer Radikalität vollzogen hat, wie sie auf den Spuren zwischen dem ersten und dem anderen Anfang in den Beiträgen und den verwandten Gestaltungsversuchen in dieser Form nicht erreicht wurde. Insofern wäre jenes Denken nach-metaphysisch zu nennen, allerdings in einem diametral anderen Sinn als der ideologiekritische nachmetaphysische Gestus, der damit etwa von Habermas verbunden wurde oder der positivistische eines Carnap es nahelegen: nach den Wegbahnen der Metaphysik und in einem Freiwerden von ihnen. In einem Andenken, Schonen, Üben, freilassenden Korrespondieren, das Heidegger hier nicht nur für möglich erklärt, sondern dessen erste Konturen er auch umreißt, eröffnet sich erst die Sache des Denkens in einer grundlegenden Einfachheit. Der Schattenwurf der tradierten Metaphysik kann dabei abgelegt werden. Ihr unbetretener Anfang aber bleibt der Vorgriff des tautologischen Denkens: die Einheit von Denken und Sein, jenseits der Philosophie. Die Kehre exponiert Heidegger deshalb als »Ankunft in die Nähe«, und er fügt hinzu: »sie ist das Verhältnis, das wir nicht einmal verlassen, wenn wir in die Ferne gehen« (412). Ob jene Herauslösung aus der Metaphysik wirklich überzeugen kann oder nicht, bleibt der philosophischen und – denkenden – Selbstbefragung aufgegeben. Heidegger skizziert damit jedenfalls einen Weg, der keine Entsprechung im philosophischen Reservoir der Moderne kennt: Weder Destruktion noch Minimalisierung des Fragebestandes der spekulativen Traditionen wird angesonnen, sondern ihre Verwindung in eine tautologisch geklärte Einfachheit. Dazu fügt es sich gut, dass Heidegger Denken nochmals ausdrücklich auf Handwerk und Fertigkeit bezogen sehen will (255). Ihm muss die Dimension von Können und habitualisierten Fähigkeiten eignen. Die Gegenstellung zur christlichen Tradition, die auch in dem bislang letzten publizierten Band der Schwarzen Hefte sichtbar wird, erscheint problematischer. Sie verdeutlicht, dass Heidegger nicht eine 426
Die Überlegungen. Schwarze Hefte:
Inkommensurabilität der ›Philosophie‹ zum christlichen Glauben konstatierte, sondern eben des Denkens, das in sein Weltverhältnis eintritt. Wo davon die Rede ist, wie ganz am Ende von Anmerkungen IX, identifiziert Heidegger den Gott der Beiträge als »die Göttin«, als Adressatin des Parmenideischen Lehrgedichts: und in der Folge der Parmenidesvorlesung von 1944 wird ihr Name mit dem Hereinblicken in das Weltgefüge (thea-theos) in eine Entsprechung gebracht. »Sie überneigt das Wesen der Gottheit und durchmisst die weiteste Weite der Nähe« (411). So eindrucksvoll damit Sanftheit und Zurückhaltung in eine göttliche Entsprechung gebracht werden, Heidegger zielt damit ein weiteres, letztes Mal an christlichem Kerygma – und an dem inkarnatorischen Dogma vorbei, dass Gott Mensch geworden sei. Er folgt noch einmal einer Nietzscheanischen Engführung auf einem Jesusbezug, der selbst vorchristlich, also außerhalb des Christus-Dogmas angelegt ist und dessen konkrete Nachfolge jederzeit möglich sei.
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Fünfter Teil: Die unerhörte Leichtigkeit des Seins: Heideggers späteste Philosophie
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
28. Um Klarheit: Das Wegfeld des Denkens Sehr spät, zwischen 1973 und 1975, formulierte Heidegger Stichworte für eine große Einleitung in die Gesamtausgabe, die er nicht mehr schreiben konnte. Er setzte die Skizze unter den Titel »Das Wegfeld des Denkens«. 1 Unterschieden werden dabei drei Etappen oder Epochen »von der ontologischen Differenz / über die Kehre / zum Schritt zurück« (1). Das Letzte, den Schritt zurück, versteht Heidegger als eigene Epoche seines Denkens, die hier als seine späteste, letzte Philosophie charakterisiert werden soll. Sie unterscheidet sich markant von der Fundamentalontologie und dem Weg in den anderen Anfang und beginnt damit, dass das monologisch sich selbst-Aussprechen der Sprache zur eigentlichen Annäherung an den Sinn von Sein wird. Augenfällig ist, wie der späte Heidegger noch einmal die nachhaltige, prägende Bedeutung der Phänomenologie betont: Er rekurriert auf Husserls VI. Logische Untersuchung, die als »anfangende Weise des Er-fahrens«, exponiert sei. Die Initiation durch Husserl wird also im Gegenlicht des Echos der Einheit des Seins bei Parmenides und im Hölderlin’schen Doppelklang von Denken und Dichten nicht revidiert. Sie klärt und elementarisiert sich vielmehr. Heidegger merkt aber an, dass der Phänomenologie in der Provenienz Husserls die Einsicht gefehlt habe, »dass damit im Grunde nur das Erfahren des Denkens (im Sinne) der Philosophie eigens ans Licht gebracht wird«. Neben der Seinsfrage ist es die Frage nach der Möglichkeit des Denkens selbst und der sie ermöglichenden Lichtung, die den späten Heidegger bewegt. Denn den Ort, aus dem diese Lichtung stamme, die Offenheit des Verborgenen, der aletheia, könne die Phänomenologie nicht thematisch machen. Das Wegfeld des Denkens eröffnet sich »in der Epoche des Gestells«, in einer letzten Epoche. Diese epochale Situierung des Seinsdenkens nimmt Heidegger drei Jahre vor seinem Tod auf. Dabei spielt die »ontologische Differenz«, Ergebnis des Denkens der Kehre, nach wie vor eine wesentliche Rolle: Sie zeigt den »Aufenthalt im Vorenthalt« an. Der »Schritt zurück« hingegen und nicht die ontologische Differenz wird als »Wende des Ge-Stelles« bezeichnet. Einige der knappen Notizen überschreibt Heidegger mit ›Vermächtnis‹ (36 f.): Darin wird die Zuspitzung der letzten Denkwege überaus deutlich: M. Heidegger, Aus dem Wegfeld des Denkens. Schriftenreihe der Martin Heidegger-Gesellschaft 2015/16, S. 1.
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
Dieses Vermächtnis gilt einem hörenden Denken. Es beschreibt den Aufenthalt im »ent-sagenden Nennen« (37): einer Annäherung an die verborgene Wahrheit des Seins. Vor allem der Schritt zurück in die phänomenhafte Lichtung des Verborgenem wird in dem Vermächtnistext in Erinnerung gebracht. Heidegger nimmt nach wie vor auf das Ge-Stell Bezug, das er nun als »Gewalt des götterwidrigen Titanischen« (38) versteht; während Max Weber und später Ernst Jünger eine Wiederkehr der Titanen nach dem Sturz des Monotheismus proklamierten. Auch die »Selbstvergötzung der Gesellschaft« (38) als die Kehrseite des beschleunigten planetarischen Menschentums fasst Heidegger als Momentum der Seinsverlassenheit auf. Es hat insofern Stimmigkeit, dass ein Denken des Einfachen, das vor-enthalten ist, keine eigene Ethik mehr entfaltet, sondern in seiner tautologischen Binnenstruktur bei sich selbst bleibt. Die standardisierten Einwände, die auch hier vorgebracht wurden, Heideggers Seinsdenken fehle es an entscheidender Stelle an Ethik oder doch ethischer Sensibilität und an Methodologie, wird man gegenüber der sublimen Andeutung eines Wegfeldes modifizieren müssen. Damit ist nicht der Preisgabe von Normativität das Wort zu reden. Sie würde aber von Heidegger her in den Horizont der Entfremdungen des Gestells reflektiert werden müssen. 2 Heidegger stört sich wiederholt an der Titulierung des Seinsdenkens als »abstrakt«. Seit der Exposition der »formalen Anzeige« in seiner Frühzeit wird die Formalität geradezu zur Voraussetzung, um konkrete Seinsvollzüge fassen zu können. In diesem Sinn hält Heidegger fest, es gelte »das Zerstörerische der Reflexion [zu] brechen. Die Unterscheidung von ›abstrakt‹ und ›konkret‹ an ihrer Wurzel aus [zu]rotten.« (46) Diese Wurzel sei der Begriff selbst, womit eine konsequent anti-hegelische Wendung formuliert und der Schritt zurück als Tauto-phasis, als Aussage des Selben im Vorenthalt, ausgewiesen wird. In jener Tautophasis übergibt die Begriffsphilosophie die Regie nicht einfach an eine außerphilosophische Weisheit, für die alle Differenzen aufgelöst wären. Sie verwandelt sich zu einem hörenden Denken, eben dem Aufenthalt im Vorenthaltenen, das mit Hölderlinhaftem Anklang an das Fehlen der Götter und »heiligen Namen« (50)
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Dazu Seubert, Philosophie der Moral. (i. E.)
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Um Klarheit: Das Wegfeld des Denkens
erinnert 3 und zugleich Echo auf die Rede vom Einen, in sich gerundeten Sein des Parmenideischen Anfangs gibt. Die Phänomenbezüge des Seins und Sich-Zeigens sind ausdrücklich zurückgenommen: Es geht um den Schein des Unscheinbaren. Unforciert und mit hoher Authentizität und Sinnklarheit kommt in diesen Aufzeichnungen Heideggers lebenslange und insistente Denkbewegung aus der Unruhe in eine Ruhe, die nichts verkündet, die auch nicht raunend dunkel ist, sondern in dieser Klarheit schlechterdings ›ist‹. Heideggers Philosophie kommt in einer Weise zur Ruhe, wie ein komplexes, auch irrtumsfähiges Denken zu dieser Ruhe kommen kann – und wie es doch nur wenigen Philosophen gelungen ist, in einer Überschreitung der Komplexität, der Verwidnung ins Einfache. Heidegger betonte immer wieder, dass »wir für das Einfache noch wenig geeignet sind«, weshalb wir »durch viele Umstände hindurch umständlich zu den Stegen« in den Anfang finden müssten. 4 Der späte Heidegger konnte jene Umstände hinter sich lassen. Unterschieden wird deshalb hier aus guten Gründen zwischen Heideggers späterer Philosophie des anderen Anfangs und seinem spätesten Denken. Heideggers spätestes Denken findet wieder zu exoterischen Mitteilungsformen, auch ihre Wahrheit schreit gleichsam, wie Nicolaus Cusanus einmal bemerkte, auf den Gassen. Heidegger umkreist ein Ensemble, das zu einer Topologie zusammentritt: Hölderlin-Worte in der Verdichtung zur Gnomé, den Feldweg, die Gelassenheit, den Lebe- und Lesemeister Eckhart. Hinzu kam Hebel der Hausfreund. Die Entfaltungen von Gestell und Ereignis lagen öffentlich nicht vor. Die Beiträge zur Philosophie sollten erst 1989 das Licht des Tages erblicken. Die sogenannten Schwarzen Hefte nochmals fünfundzwanzig Jahre später. Der späteste Heidegger war präsent, am ehesten als ein Weiser jenseits der Zeiten oder eben als Zerrbildfigur des antirationalen Meßkircher Jargons. Dass er eine unerhörte Leichtigkeit des Seins 5 ansprach und im letzten verschwieg, ein Fallensteller, der aber paradoxerweise ins Offene führt, 6 kann man
Hölderlin, Heimkunft V 101 Über den Schmerz, Jahresgabe der Martin Heidegger-Gesellschaft 2017/18, S. 30. 5 Ein berühmter Romantitel von Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984). 6 Das Bild vom ›Fallensteller‹ stammt wiederum von Ernst Jünger, »Federbälle« [1969], in: ders., Sämtliche Werke Zweite Abteilung. Band 12. Stuttgart 1979, S. 329 ff. 3 4
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
heute klarer erkennen, umso mehr, wenn man sich klarmacht, welcher philosophische Weg dieser Leichtigkeit vorausgeht. Mit den restaurativen Zügen der alten Bundesrepublik hatte dies nichts gemeinsam, auch wenn Heidegger immer die Abständigkeit zu solchen Zeitgeist-Kontinuitäten betonte, mag es Anklänge geben, Heideggers verwindendes Denken reicht aber als Haltung weit darüber hinaus. Keine beständige Stabilität legte sich über die Absenz gegenüber allem Politischen. Der totalitäre Nullpunkt, einschließlich Heideggers Verwicklung in diesen Zusammenhang, lag bereits in der Vergangenheit. Heidegger hielt an seiner ›negativen Theologie‹ des Seins fest, der Leere und Nicht-bestimmtheit jenes Seins. Zugleich bezog er sie aber in eine Lehr- und Lebbarkeit ein.
29. Die Technik und die Kehre Das kleine im Neske-Verlag Pfullingen publizierte Heft, das die Aufsätze zu ›Technik‹ und ›Kehre‹ enthielt, evozierte die Quintessenz der im vertrauten Bremer Kreis vorgetragenen ›Bremer und Freiburger Vorträge‹. Die vier Bremer Vorträge (GA 79). über das Wesen der Technik aus dem Jahr 1949 entwickeln ein Gesamtgefüge, das Heideggers Philosophie der Technik in den Gesamtrahmen des Anderen Anfangs und der anfänglichen Seinserfahrung einschreibt. Eine ›Kritik‹ von Technik, auch wo sie so tief reicht wie bei Günther Anders, intendiert Heidegger gerade nicht. Auch eine ethische Haltung, die den Umgang mit der Technik formen müsste, wie bei Hans Jonas, findet man bei ihm nicht. Vielmehr folgt Heidegger erkennbar dem Diktum Hölderlins: »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, die sich in ein wechselseitiges Ermöglichungsverhältnis zwischen dem technischen Gestell und der Offenheit der Seinsfrage konkretisiert. 7 Damit wird die Technik als eine Art der Unumgänglichkeit und Unumkehrbarkeit interpretiert, die aber jene offene Stelle enthält, an der sich die Seinserfahrung erst öffnet. Heidegger versucht, wie er immer wieder be-
Vgl. die grundlegende Klärung A. Bucher, Metaphysikkritik als Begriffsproblematik auf dem Denkweg Martin Heideggers. Bonn 1970: siehe auch die sehr gute Übersicht E. Angehrn, »Kritik der Metaphysik und der Technik. Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition«, in: Heidegger-Handbuch, a. a. O., S. 268 ff.
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Die Technik und die Kehre
tont, das Wesen der Technik zu fassen, nicht einzelne technische Phänomene. Dies nähert die Technikfrage als letzte Manifestation eines ins-Werk-Setzens der Wahrheit der Kunst an, die die erste eminente Weise ist, in der Wahrheit sich zeigt. Heidegger wiederholt dabei, dass die Frage nach dem Sinn von Sein erst gefragt werden kann, nachdem die tradierten Wege der Welt- und Selbstdeutung in der technischen Machenschaft und ihren Wiederholungen eingeschmolzen worden sind. Vorangestellt ist den vier Vorträgen ein ›Hinweis‹, der, wenn man den Text phänomenologisch liest, die formal anzeigende ›Vorhabe‹ formuliert. Konstitutiv für die technische Konstellation ist Heidegger zufolge die ›Abstandslosigkeit (79, 2), die Nähe ebenso wie Ferne unkenntlich macht. Beide bleiben gleichermaßen aus, wo die Differenz schwindet. Der erste Vortrag war aus Heideggers ›Vorträgen und Aufsätzen‹ bereits bekannt. Er evoziert, was Natur als Kunst sein kann und wie in einem Kunstgebilde, dem alten Krug, ein Wesenszusammenhang sichtbar wird, der das ermöglicht, was Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz das »ins-Werk-setzen der Wahrheit« nannte. Technik meldet sich in diesem Phänomenzusammenhang als »Abriegelung«. Denn es ist eine Folge der Abstandslosigkeit von Technik, dass ein Ding nicht mehr als Ding erscheint – in seiner kunstlosen Selbstverständlichkeit, seinem von sich her Sein. Deshalb wird die Dinghaftigkeit auch mit dem Vollzug von ›Nähe‹ verknüpft. Das Ding ist gleichsam immer ›nähernd‹, so nämlich, dass es Entgegengesetztes sammelt. Heidegger evoziert dies hier als ›Geviert‹, in dem Himmel und Erde, Götter und Sterbliche, das, was er ›die Vierung‹ nennt, ineinander-spielen und miteinander korrespondieren. In der artifiziellen Sprache der Spätphilosophie ist der Ansatz eines relationalen Denkens noch einmal unverkennbar. Heidegger betont, dass das Geviert eine Einheit in seiner Verlaufsform findet. »Die Einheit des Gevierts ist die Vierung […]. Die Vierung west als das ereignende Spiegel-Spiel der einfältig einander Zugetrauten« (19). Der frühe phänomenologische Ansatz, ein seiendes Phänomen so zur Erscheinung zu bringen, wie es in Wahrheit ist, verbindet sich mit der Topologie von Hölderlins Hymnen, die diese Gegen-wendigkeit von Welt und Erde evozieren und in Heideggers Denkform einzeichnen. Aufschlussreich für den philosophisch systematischen Zusammenhang ist, dass Heidegger zentrale metaphysische Grundbegriffe hier noch einmal einer Inversion unterzieht. Dies zeigt sich besonders in den Bemerkungen des Anhangs zum ›Ding‹-Vortrag: 435
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
Heidegger expliziert, dass Ding und Welt in ihrem »Unter-schied« gezeigt werden müssen (22). Er vollzieht damit eine phänomenologische Krisis, die nicht in eine dialektische Begriffsform überführt werden kann. Der Dialektik gegenüber ist das Ver-Hältnis auf eine Nähe bezogen, die ein Ding sein und aufgehen lässt. (23). Heidegger verweist dabei nochmals explizit auf das Problematon der ausbleibenden Nähe in der technischen Zeitsignatur, die nun ausdrücklich als ›Gestell‹ formuliert ist. Der zweite Vortrag der Reihe wendet sich dem ›Gestell‹ zu; dem Wesenszug der modernen Technik. In den fünfziger Jahren mochte das Bild vom ›Gestell‹ nur begrenzt einleuchten. Unter den Vorzeichen der Digitalisierung im 21. Jahrhundert werden unter Umständen andere Begrifflichkeiten erforderlich: Doch die umfassende Implementierung von allem, was ist, in ein weltumspannendes Netz, das seinerseits fixiert und verflüssigt, ist noch immer von hoher Aktualität. In sie kann Heideggers Grundriss eingezeichnet werden, wonach alles Seiende in der Weise eines ›Herausforderns‹ und einer weitgehenden ›Berechenbarkeit‹ in dieses umspannende Gefüge einbezogen wird. Heidegger sprach vom »Verbauen« des Rhein-Stroms in ein Kraftwerk, Antidotum zum ›Sagen‹ und ›Aussprechen‹ des Stroms in Hölderlins Hymne, die er selbst interpretierte. Dynamik, Akzeleration und Anwachsen des Bestandes ins Riesenhafte bilden ein und denselben Problemkomplex. An keinem einzelnen Punkt ist das Gestell allumfassend. Heidegger hatte zumindest implizit und wie sich Zeitgenossen erinnern 8 in einer gewissen Präzisierung die neue Disziplin der Kybernetik mit im Blick, die von Norbert Wiener und anderen entwickelte Konfiguration einer umfassenden Berechenbarkeit künstlicher Systeme, die auf die Schaltung von 1:0 = Differenzen aufgebaut sind. 9 Wiener hatte bereits, was in der digitalen KI heute von größter Bedeutung ist, lernfähige Systeme im Blick. Sie werden programmiert, doch sie sind nicht auf die Grenzen der Programmierung C. F. von Weizsäcker, »Begegnungen aus vier Jahrzehnten«, in: Erinnerung an Martin Heidegger, a. a. O., S. 239 ff. 9 Vgl. N. Wiener, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine. MIT Press (deutsche Ausgabe: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine. Berlin 1948); siehe ferner Bulletin AMS 1966, mit verschiedenen Aufsätzen zu Norbert Wiener, u. a. Biographie von Norman Levinson. 8
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festgelegt. Dies führt gegenwärtig zu durchaus realen posthumanen Visionen, in denen sich die maschinelle Evidenz des Menschen bedienen wird. Heideggers nicht-humanistischer Zugriff auf das Seinsgeschehen ist immer wieder kritisiert worden. Ein Humanismus, der seine eigene mögliche Implantierung durch die Maschine nicht ins Auge sieht, ist aber ein leidiger Tröster und eine hilflose Appellationsinstanz. Man sollte den spätesten Heidegger auch als Diagnostiker dieses Zustandes lesen. »Der Mensch dieses Weltalters ist aber in das Ge-Stell gestellt, auch wenn er nicht unmittelbar vor Maschinen und im Betrieb einer Maschinerie steht« (37). In der Gestell-Abhandlung zeigt und verhüllt sich noch eine gewisse Unentschiedenheit zwischen Elementen, die bereits aus der ersten industriellen Revolution und ihrer Nutzung von Kraft bekannt ist und dem kybernetischen Zusammenhang. Zwischen beidem würde man in Zeiten einer omnipräsenten Virtualisierung stärker unterscheiden. Doch Heidegger hat niemals nur die Virtualität, sondern auch den Einbau der realen Natur in die technologische Sphäre unterstrichen. »Im Weltalter der Technik ist die Natur keine Grenze der Technik. Die Natur ist da vielmehr das Grundbestandstück des technischen Bestandes – und nichts außerdem« (43). Die Gestell-Abhandlung essentialisiert nochmals die Bestimmung des Wesens der Technik. Entscheidend sei nicht, so betont Heidegger, »dass die Entfernungen sich mit Hilfe der Technik verringern, sondern dass die Nähe ausbleibt« (45). Dies ist eine vollkommen adäquate Beschreibung zu der umfassenden Erreichbarkeit und Kodiertheit in den Algorithmen des World Wide Web, das bis in die Details den Menschen lesbar macht. Diese Zuspitzung zeigt Heidegger an, wenn er Welt und Ge-stell miteinander identifiziert (53). Ihre Zusammengehörigkeit im Unterschied wird damit transparent. Denn sie seien, wie Heidegger hinzufügt, »unterschieden das Wesen des Seins« (ibid.) – sie sind nämlich Welt in der Weise der Wahrung dieses Wesens, Ge-stell im Modus der Vergessenheit. Damit ist noch einmal der Kern der Seinsfrage berührt. Ein Ding kann nach dem späten Heidegger nur in Autochthonie Ding sein, weil es Welt aufgehen lässt und weil dieser Weltaufgang Ferne – Entzogenheit mit einschließt. Lethe, die Verborgenheit ist also gleichsam die Voraussetzung eines Aufgehens von Welt – seines ›alteheuein‹ im einzelnen Ding. Deshalb führt der seinlassende Gestus der Seinsfrage auf das Ding in seinem entgegenstehenden, individuellen Charakter zurück. Wo dagegen die Dinge »verwahrlosen«, weil sie nicht mehr 437
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sein können und Welt sich nicht mehr in ihnen zuträgt dort sei der Welt verwahrlosende Grundzug des Gestells realisiert. Ein Topos, der seit den Beiträgen bei Heidegger präsent ist, die näher rückende Gefahr, wird zu einem Nukleus des ›Gestells‹. Denn die Seinsweise der Gefahr zeichnet nach Heideggers phänomenaler Beschreibung aus, dass sie ›naherückt‹, Abstand tilgt, kurz, dass sie nachstellt und damit jeden Bezug zur aufgehenden Welt unterbindet. Man hört im Hintergrund Hölderlins Diktum vom Rettenden und der Gefahr nachklingen. Die Grundstruktur sieht Heidegger bemerkenswert bereits in der Thesis des frühen griechischen Denkens angelegt, die der phýsis entgegengesetzt wird, bzw. die in der Sophistik die phýsis negiert. Die Thematisierung der Gefahr wäre nicht vollständig, wenn nicht ihre Unsichtbarkeit, die »Not der Notlosigkeit« mit im Blick läge. Heidegger weist ausdrücklich den seinerzeit gängigen Topos von der »Dämonie« der Technik zurück. 10 Auch hier erweist sich seine entmythologisierende Analyse. Von Dämonie zu sprechen, sei den dürftigen Zeiten nicht angemessen (61 f.). Jenseits von Fortschrittserwartung oder Befürchtungen soll die Evokation der Gefahr zeigen, wie das Sein als Technik geschieht. »Das Wesende der Gefahr ist das Seyn selbst, insofern es der Wahrheit seines Wesens mit der Vergessenheit dieses Wesens nachstellt« (62). Damit ist der Bruch ein für alle Mal aus dem Bereich menschlicher Deutungen oder Evokation in das Sein selbst verlagert. In ihm liegt, nach Heideggers Beschreibung, eine Gegenwendigkeit: kehrt es sich doch von seinem Wesen weg, und der Vergessenheit seiner selbst zu (67). Vor dem Hintergrund der a-christlichen Programmatik der Überlegungen. Schwarze Hefte ist zu vermerken, dass Heidegger die Herauslösung der Gottesfrage aus dem Konnex der Seinsfrage als eine Ausgangskonstellation der Technik versteht: »Gesetzt aber, Gott sei, zwar nicht das Seyn selbst, aber das Seiendste, wer dürfte jetzt schon wagen zu sagen, dass dieser so vorgestellte Gott die Gefahr sei für das Seyn« (55, FN). Es erübrigt sich klarzustellen, dass damit die ontotheologische Frage keineswegs erschöpft ist und die Gottesfrage schon gar nicht, dass Heidegger aber die Zusammengehörigkeit von
Dergleichen findet man in der Technik-Philosophie der fünfziger und sechziger Jahre durchgehend, vgl. F. Dessauer u. a. Auch die Robotik führte demgemäß zu dem Topos von »Mensch und Roboter«.
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Gott und Sein anzeigt: eine Zusammengehörigkeit im wohlverstandenen Unterschied. Ein Indikator der veränderten Beziehungen ist dies, dass mit der Nähe der Dinge auch der Schmerz ausbleibt. Er hat, ließe sich sagen, keinen Raum, ebenso wie der Tod, den Heidegger als »Gebirg des Seyns« beschwört, den der Mensch »vermögen« kann – oder eben nicht. 11 Die Beschreibungen des massenhaften Sterbens und Verendens, in Hungersnöten und Vernichtungslagern als Teil des technischen Bestandes, wie Heidegger ihn in den Bremer Vorträgen ins Spiel bringt, hat etwas moralisch tief Irritierendes und Verstörendes. »Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen« (56). Moralisch irritierend ist dies, weil sich Heidegger einer anonymisierenden Redeweise bedient, die genau die Sprache der Unmenschlichkeit und Humanitätsvernichtung ist. Sie zu zitieren, kann ein Mittel sein, ihre umfassende, erschöpfende Dimension deutlich zu machen, in der moralische Sensibilität wie von selbst untergehen muss. An dieser Stelle wäre die Heidegger’sche Radikalität gegenüber ethischen Verbrämungen eines inhumanen Weltlaufs berechtigt. Sie gäbe dann tatsächlich Einblick in das, was ist. Doch umso deutlicher wird der Mangel an einer expliziten Dokumentierung jener moralischen Sensibilität in Heideggers Denken selbst. Heidegger deutet sie nicht einmal an. Daher kann der Eindruck entstehen, dass mit der Unhintergehbarkeit des Husserl’schen transzendentalen ›Ich‹ auch ein ethisches ›Ich urteile‹ unfassbar wird, sodass die Folgen des Gestells Schickungen des Seins selbst sind. Mehrfach war auf den vorausgehenden Seiten zu zeigen, dass Jaspers’ Urteil, dass Heidegger von Freiheit nichts verstanden habe, 12 die Tiefengrammatik von Heideggers Einsichten zum Freiheitsproblem übersieht. Doch dass er im Ereignisdenken Freiheit derart eliminiert, wie er es tut, lässt unwillkürlich neben den Befund der Treffsicherheit und Tiefengrammatik der technischen Welterfahrung den anderen treten: dass Heidegger Moral, Engagement und damit Freiheit eine letztliche Absage erteilt habe, die hochproblematisch ist und von Grund auf daran hindern muss, seine Konzeption undifferenziert zu wiederholen. Vgl. dazu in einem dezidiert metaphysischen Sinn R. Berlinger, Das Nichts und der Tod. Dettelbach 1996, S. 15 ff. 12 Jaspers, Anmerkungen zu Heidegger, a. a. O., S. 154 f. 11
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Heidegger lässt darauf im letzten Vortrag den Abschnitt ›Die Kehre‹ folgen, worin auch das Wesen der Kehre völlig unabhängig von jeder menschlichen Handlung – und sei es eine Denkhandlung – expliziert wird: Die Kehre tritt in der äußersten Seinsvergessenheit ein, unvermittelt und wie diese als ›Geschick‹ verstanden, sodass das »Wesen des Seyns selbst« sich vollzieht. Das Wortspiel von ›Ereignis‹ und ›Eräugnis‹ wurde bekanntlich durch Heideggers späte Bekanntschaft mit Goethes Werk noch vertieft. Metaphorisch-metonymisch wird in dem Bremer Vortrag Blitzen als Blicken aufgefasst. Der Titel der Vorlesungsreihe: »Einblick in das, was ist«, gewinnt dadurch eine weitere Mehrdeutigkeit. Das Einblicken in das, was ist: ist von ferne noch eine phänomenologische Haltung, die allerdings völlig von der noetisch-eidetischen Methode von Husserls Phänomenologie abgetrennt wird. Der Parmenideische Einblick der Göttin in den Kosmos schwingt nach. Am Ende der Metaphysik und dem Beginn der Sache des Denkens wird der Eindruck erweckt, dass dieser Blick einen quasisoteriologischen Charakter hat; zumal Heidegger keine Fortsetzung und auch kein methodisches Substitut der formalen Anzeige kennt. Man wird hier einen sehr klaren Schnitt legen müssen: Einerseits ist die Analyse des umfassenden technischen Gestells treffend und sie erfasst »sui generis« bis heute einen Wesenszug der hypermodernen Welt. Sie benennt in großflächiger Schraffur die Dimensionen einer Technik, die sich gegenüber menschlichen Handhaben weitgehend verselbständigt hat. Diese Sichtweise, die ökonomische oder ideologiekritische Interpretamente beiseitelässt und sich konsequent auf eine Wesensanschauung der Technik bezieht, ist in der Prägnanz der Diagnostik des ›Gestells‹ so umfassend, dass sie auch als Matrix für später auftretende Phänomene, etwa im Zusammenhang der Digitalisierung, erstaunlich treffend sein kann. Selbstverständlich erfordert eine solche Behauptung Detaillierungen und technikphilosophische Einzelanalysen, 13 die vermutlich auch auf ökonomische und soziologische Befunde nicht so großzügig verzichten können wie Heidegger das tut. Doch es dürfte kaum eine philosophische Matrix geben, die auch den technologischen Ambivalenzen der Spätmoderne in dem Maß gewachsen ist, wie jene Heideggers; auch wenn er wie selbstverständlich an der Maschinen- und Technikwelt des 19.
Einen ersten, ansatzweisen Versuch unternehme ich in Seubert, Die Seele im Zeitalter der Digitalisierung. Ein Essay. Baden-Baden 2019.
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und frühen 20. Jahrhunderts orientiert ist: am Kraftwerk und seiner Verbauung in den Strom. Zu den treffenden Implikationen zählt ausdrücklich, dass Heidegger die Bruchlinie zwischen ›Rettendem‹ und der ›Gefahr‹, zwischen dem in seiner Wahrheit sich zeigenden Sein und der verstellten Weltlichkeit der Welt exponiert. Viel spricht nämlich dafür, dass jene Denker der Ubiquität von Technik am ehesten gerecht werden, die sie aus der Struktur des Geistes selbst oder der Verfassung von Sein verständlich machen wollen. Hier wäre eine gewisse Kongenialität zwischen Heidegger und Gotthard Günther zu vermuten. 14 Auch der Versuch, eine Deutung des Unterschiedes zwischen der Sache des Seinsdenkens und der an ihr Ende kommenden Technik zu geben, die nicht dialektisch, sondern wie Heidegger auf seinen spätesten philosophischen Wegen es formuliert, ›tautologisch‹ ist, ist als Auffassung eines phänomenologischen Zugriffs von Belang. Das tautologische Denken ist nicht frei von Fallhöhen und Abgründigkeiten. Es bewegt sich im Medium der Sprache, die um sich selbst kreist und sich selbst und damit Welt meditiert. Die etymologische Selbsttranszendenz sprachlicher Bedeutung bis an den Rand von Unsinnigkeit, eines Dadaismus, der schon in den zwanziger Jahren (bei Hugo Ball) Mystik an Nonsens grenzen lässt, scheint in Heideggers spätestem Denken auf und ist nur teilweise in genaue argumentative Konturen aufzulösen. Doch im souveränen Abschied von dem Ringen mit Metaphysik und eben dort, wo Heidegger Welt, Gestell und Wahrheit ineinander verschränkt, scheinen die Konturen des Seindenkens in großer Klarheit auf. Die Denkformen, die in schwebende Meditationen münden, wären jedoch, so weit wie nur möglich, auch argumentativ einzuholen: in einer Rationalität, wie sie Husserl noch einmal exemplarisch forderte. Sie brachte der späte Heidegger nicht mehr auf. Sie ist aber unerlässlich, wenn sein spätestes Denken in seiner Komplexität und Inspirationskraft verdeutlicht werden soll.
Siehe dazu das brillante Buch von C. Werntgen, Kehren: Martin Heidegger und Gotthard Günther, a. a. O.
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30. Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache Im Licht der seinsgeschichtlichen Untersuchungen des Heidegger’schen Nachlasses lässt sich das erstmals 1959 erschienene Buch Unterwegs zur Sprache als korrelatives Werk zu dem zwei Jahre danach erschienen Nietzsche lesen. Es treibt Einsichten aus den Untersuchungen zur Seinsgeschichte ins Relief, die auf den Zusammenhang, die ›Innigkeit‹ und ›Vereignung‹ des Seins in Sprache voraus verwiesen. Heideggers Sprachdenken lässt einige Linien seiner Philosophie der Kehre zusammenlaufen: die Einsicht der Kunstwerk-Abhandlung, dass Sprache die Grundform des Kunstwerks ist, die Verwiesenheit des Denkens auf Dichtung, den Gegenhalt der authentischen Sprache zum Schlagwort. Auch wird die Verbindung zum dichterischen Wort Hölderlins durch die Sprachtopologie einsichtig gemacht und begründet. Heideggers spätes Sprachdenken will nicht Sprachphilosophie, im Sinn eines philosophischen Randgangs sein; eine solche Sprachphilosophie transformiert Denken in Sprache und wäre insofern im Sinn der »linguistic« und »hermeneutic turns« der jüngeren Philosophiegeschichte zu interpretieren. 15 Heidegger geht es vielmehr darum, dass das Sein selbst vor allem als Sprache gegenwärtig ist und an-west. Die Abhandlung ›Die Sprache‹, die den Band eröffnet, markiert programmatisch die Inversion bisheriger Sprachphilosophie, die Heidegger zufolge im Bannkreis von Metaphysik blieb. Nicht der Mensch ist es, der ›Sprache hat‹, wie Heidegger das zoon logon echon-Axiom wiedergibt, und nicht der Mensch spricht, vielmehr spricht die Sprache. Sie ist ein Selbstverhältnis und daher führt sie in einen Schwebezustand, weil Sprache als Sprache nicht in etwas anderem gründet, sondern einzig in sich selbst (12.11). Heidegger evoziert dies als »Abgrund« der Sprache, von dem in der von ihm zitierten Briefstelle der Magus des Nordens, Johann Georg Hamann spricht (10. August 1784). Hier zeigt sich ein Element, das in Heideggers Sprachdenken konstant wiederkehren wird: Zwar werden klassische Topoi der dezidierten Sprachdenker der Tradition von Hamann über Herder und Humboldt aufgenommen. Doch ihnen gegenüber wird zugleich verdeutlicht, dass sie selbst noch in einer metaphysiNach wie vor wichtig K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1973. 2 Bände 1. – Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, 2. – Das Apriori der Kommunikationsgesellschaft.
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schen Grundstellung befangen seien. In Hamans Denkansatz manifestiere sich der Abgrund darin, dass der Kantische Versuch, die reine Vernunft zu begründen, wieder auf Sprache führe. Aber sei das eigentliche Grundphänomen nicht vielmehr, dass die Sprache selbst sich als Abgrund erweise? (11). »Der Satz: Sprache ist Sprache, lässt uns über einem Abgrund schweben, solange wir bei dem aushalten, was er sagt« (12.11). Dichtung evoziert Heidegger damit noch deutlicher als Grundsinn von Sprache, als das rein Gesprochene, bei dem Fragen der spezifischen ästhetischen Fügung und der Autorschaft zunehmend sekundär werden (15 ff.). Aufgewiesen wird dies an Georg Trakls Gedicht Ein Winterabend. Die Aporetik des Seinsdenkens wiederholt und verdichtet sich in der Entzogenheit der Sprache, sodass ihre Bilder das Geheimnis nicht in einer Darstellung fassbar machen, sondern den Innenraum dieser Bilder aussprachen. Heidegger wendet sich gegen die gängigen, vorstellungshaft bleibenden Auffassungen von der Sprache als einer sekundären Mitteilungsform (13 ff.). Doch dieser sekundäre Charakter kann seinerseits nicht philosophisch durchbrochen werden, sondern in eminenter Weise in der hörenden Auslegung einer Dichtung. Dass dichterische Sprache in reiner Weise spreche, wird, ähnlich wie in C. F. Meyers Römischer Brunnen und in ungleich höherem Komplexitätsgrad in Hölderlins Dichtung, der Eröffnung eines Phänomen-Raums abgelesen, der Seiendes, bei Trakl den Abend, den Baum und dann Wanderer und Schmerz erscheinen lässt, wie sie in ihrem Wesen sind. Sprache sei Zeige, wird Heidegger in etwas anderem Zusammenhang später betonen. 16 Sie gibt ›Winke‹ auf ein Weltverhältnis, das sich von der Fixierung auf Seiendes gelöst hat und aus der Seinserfahrung auf Welt zurückkommt. Welt und Sein werden in der Dichtung nicht über ›Allgemeinbegriffe‹ verbunden, vielmehr werden einzelne Züge zu ›Zeige‹ und ›Wink‹ verdichtet; im Sinn der ideogrammatischen, am Einzelnen orientierten Tektonik der Dichtung. Nicht die Beschreibung oder Symbolisierung ist nach Heidegger das eigentliche Proprium von Sprache, sondern die Evokation, dies, dass Dinge, die in der Ferne sind, in eine Nähe gerufen werden, die Ferne aber mitschwingt. Sprache ist mithin »Ent-fernung« im genuinen Sinn. Wie von selbst nähert sich Heidegger in den Evokationen der zweiten Strophe den Grundverhältnissen des Gevierts, der Versammlung von Welt und 16
Vgl. dazu M. Riedel, Hören auf die Sprache, a. a. O., S. 123 ff.
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Erde, von Menschlichen und Sterblichen (20 ff.). Neben dem Rufen sind es »Heißen« und »Nennen« als Vollzüge, die Welt überhaupt erst generieren: »Das Sprechen der beiden ersten Strophen spricht, indem es Dinge zur Welt und Welt zu den Dingen kommen heißt« (21). Es wird rasch deutlich, vor allem in der Exegese der dritten Strophe, dass es Heidegger um den Riss, die Mitte dieser ›Versammlung‹ geht. Sie stifte einen ›Unter-Schied‹, der überhaupt zwischen Welt und Dingen eine Verbindung gewinnen lässt. Diese »Diaphora« (22) halte beide zusammen, indem er den Austrag ihrer Differenz nahelegt. »Der Unter-Schied ermittelt als die Mitte erst Welt und Dinge zu ihrem Wesen, d. h. in ihr Zueinander, dessen Einheit er austrägt« (22). Anhaltspunkt in Trakls Gedicht ist die Zeile: »Schmerz versteinerte die Schwelle«, das Fügende ist immer das Fügende eines Zwischen, das dann die jeweils auseinander und in ihr Eigenes zurückbeziehenden Glieder in der Unterschiedenheit verbindet. Sie kommen in diesem Grundverhältnis, dessen dialektisch begriffliche Fassung den Resonanz- und Korrespondenzraum gerade verletzen würde, erst an ihren eigenen metaphysischen Ort, in ihre genuine »Helle« und Sichtbarkeit. Jenes ins-Eigene-kommen wird in Heideggers spätem Sprachdenken bekanntlich in einer hermetischen Sprachform evoziert, die den inneren Schwebecharakter ausspricht. Die Dinge kommen ins Dingen, die Welt ins Welten; also in ihren je eigenen phänomenalen Bezug. Der Unter-Schied, so betont Heidegger, »ruft Welt und Ding in die Mitte ihrer Innigkeit« (27). Damit kommen sie in eine Stille, sie erreichen gleichsam ihren phänomenologischen Ort als ihr reines Sich-Zeigen. Deshalb wird in den für Heideggers Spätphilosophie kennzeichnenden Laut-Assoziationen und -dissoziationen das Geläut zugleich zu einem »Geleit« in die Stille transformiert, das »Welt und Dinge in ihr Wesen austrägt« (27). Dass neben dem zurücknehmenden ›Geläut‹ auch das eher befehlende des ›Geheißes‹ mitschwingt, ist nicht zu verkennen. Der erste in der Sache präformierende Aufsatz des SprachBuches weist so deutlich auf die Struktur der Kunstwerk-Abhandlung zurück und auf den darin entwickelten Riss zwischen ›Welt‹ und ›Erde‹. Hier wie dort wird ein poietisch-praktisches 17 Entsprechungsverhältnis zwischen Mensch und Sein entfaltet: »Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht« (30). Aus der poiesis des Gemeint ist damit ein Ausgangspunkt vom ›Werk‹ und seiner Poiesis, der aber in ein eigenes Lebensverhalten, eben die Praxis führt.
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Werkes geht erst die praxis des Lebensvollzugs hervor. Verständlich wird aus dieser Konstellation auch, dass Heidegger die Dichtung gleichsam als Protoypon transcendentale, als individuell-allgemeine Idee des Kunstwerkes insgesamt versteht. In der Sprache gründen Akroamatik und Sigetik, so wie sie Heidegger in der abschließenden Fuge der Beiträge thematisierte. Dass Sprache, die sich aktual im Sprechen äußert, im Schweigen gründet, wird dabei transparent gemacht: »Jedes echte Hören hält mit dem eigenen Sagen an sich. Denn das Hören hält sich an das Gehören zurück, durch das es dem Geläut der Stille vereignet bleibt. Darum muß solchem Zurückhalten daran liegen, hörend für das Geheiß des Unter-Schiedes sich bereit zu halten« (29). Die damit skizzierte Linienführung wird in dem Text Die Sprache im Gedicht erweitert, mit dem Heidegger weiter in der Spur Trakls, des änigmatischen, am Zerbrechen grenzenden Dichters des Expressionismus, bleibt und die Zwiesprache mit ihm vertieft, auf der Suche nach dem ›Ort‹ der Trakl’schen Dichtung. Es sind Bilder einer unerhörten, surrealen Hermetik, die Schweigen, den Stein und den Bildzusammenhang des ›Fremdlings‹ ins Zentrum rücken. (44, 45, 47). Heidegger versteht dabei den Titel des Gedichts als Sammelbegriff, in Analogie zu ›Gebirge‹, wie er bemerkt. Es geht ihm also darum, die Topologie, das Versammelnde der Traklschen Verse aus dem Immanenzraum des Sagens zu erhellen. Dabei sind es gerade Motive der zerbrochenen Form, 18 der radikalisierten Modernität und zerbrochenen Kontinuität, die in Heideggers Lesart betont werden. Die Sinnbildlichkeit des Fremdlings verdichtet sich in Heideggers Blick zu der Gestalt des Knaben Elis, mit dem »verwesenden Geschlecht« der Anderen, der Menschen, als Kontrapunkt (53). Heidegger erkennt, auch wenn er die Inzestbilder der Trakl’schen Dichtung nicht thematisiert und schon gar nicht entschlüsselt, die hermaphroditische Dimension der Elis-Gestalt (51), wobei der Schmerz- und Schwermutgehalt dieser Dichtung eine eigene Form von Geschichtlichkeit beschwört, die an der Ungeborenheit (»die ungeborenen Enkel«) ihren äußersten Steigerungspunkt erreicht. »Aber die wahre Zeit ist Ankunft des Gewesenen. Dieses ist nicht das Vergangene, sondern die Versammlung des Wesenden, die aller Ankunft voraufVgl. in Affinität zu diesem Moderne-Paradigma W. V. Spanos (Hg.), Martin Heidegger and the Question of Literature. Bloomington/London 1979, sowie J. Young, Heidegger’s Philosophy of Art. Cambridge 2001.
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geht, indem sie als solche Versammlung sich in ihr je Früheres zurückbirgt« (53). Immer wieder geht es in dieser Deutungslinie um ›Verwandlung‹, wie sie an der Evokation des Abends, einer konkreten Grundstimmung, exemplarisch gezeigt wird. »Der Tag geht durch ihn [den Abend] zu einer Neige, die kein Ende ist, sondern einzig geneigt, jenen Untergang zu bereiten, durch den der Fremdling in den Beginn seiner Wanderschaft eingeht« (48). Das Böse, das in grellen Tönen in Trakls Dichtung aufflackert, und die Anzeichen des Wahns sind in dieser Grundstimmung in eine Ruhe gebracht, ohne aufgelöst zu werden. Als den signifikanten Ort des Trakl’schen Gedichtes bestimmt Heidegger dabei die »Abgeschiedenheit«, wobei er an einen Grundtopos der Mystik Meister Eckharts gedacht haben mag, aber zugleich an die Differenz, wie sie zwischen Sein und Seiendem sich vollzieht. Abgeschieden ist zunächst das Gedicht selbst, das Heidegger von allen ideologischen, zugleich aber metaphysischen oder nur ästhetischen Anmutungen löst. Dass die Seele des Frühverstorbenen nicht bei Christus und im Trostraum der Kirche Halt findet, versteht Heidegger als Indiz einer Abgelöstheit von der tradierten Christlichkeit und ihrer Soteriologie; wobei nichtsdestoweniger »der Gott« in der strengen Fügung des Traklschen Gedichtes aufleuchtet. Damit berühren sich ähnlich wie bei Hölderlin die Grundgedanken des anderen Anfangs mit dem hermetischen Innenraum des Gedichts. Eine ähnliche Facette hebt Heidegger im Rückgriff auf Stefan Georges Gedicht Das Wort hervor. Die leitende Phänomenbewegung entnimmt er hier der Schluss-Gnome: »Kein ding sei, wo das wort gebricht«, was auf die änigmatische Problemstellung führt, dass »etwas zur Sprache zu bringen [ist], was bislang noch nie besprochen wurde« (151). Dieses Verlauten des Wortes sei letztlich in der Tiefe ein Problem der Sprachlichkeit der Sprache. Führt es doch auf die Frage, »ob Sprache das geeignete Wort schenkt oder versagt« (151 f.). In einer späteren Annotierung zu dieser Aussage hebt Heidegger den Bezug zum aporetischen Engpass von ›Zeit und Sein‹ hervor und erinnert »das Nichtdurchkommen hier 1923–1926«, das »zur Besinnung auf die Sprache und – zum Nichtveröffentlichen der zuerst entworfenen Stücke« genötigt habe (151, a). Unübersehbar ist also, dass Heidegger nicht eine eminente Zuwendung zu Georges oder Trakls Dichtung, wohl aber zu der Sprache, die sich in dieser Dichtung mitteilt, grundlegt. Sprache und Dichtung verdichten sich im 446
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eminenten einzelnen Wort als Vollzug einer sagbaren und hörbaren Grunderfahrung (152 ff.), die auf den Mangel und die Seinsentzogenheit verweist. Von ihr her evoziert Heidegger eine Verhältnisbeziehung, die im Wort selbst liege und worin das Wort sich als ›Zeichen‹ erweise. »Das Wort selbst ist das Verhältnis, das jeweils in sich das Ding so einbehält, dass es ein Ding ›ist‹« (159). Die starke Opativform »Kein ding sei, wo das wort gebricht« akzentuiert Heidegger wiederum in besonderer Weise als Form eines Imperativs und als Artikulation eines »Geheißes«. Jene Gnome befestigt nicht den bisherigen Verlauf des Gedichtes, sie kommt gerade dadurch zustande, dass sich der spezifische Fund der Benennung versagt, »wo das bisherige, seiner selbst sichere Dichten jäh zerbricht und ihn an das Wort Hölderlins denken lässt: ›Was bleibet aber stiften die Dichter‹« (161). 19 Die Angemessenheit von Heideggers Annäherungen an den Taktschlag der Dichtung ist immer wieder in Zweifel gezogen worden; nicht zu verkennen ist, dass er selbst Zweifel anmeldet. Dieser Zweifel geht freilich nicht aus der Befürchtung hervor, den ästhetischen Fakturcharakter oder den vom Autor intendierten Textsinn der behandelten Gedichte zu gering zu gewichten. Es müsse offen bleiben, vermerkt Heidegger in der Abhandlung Vom Wesen der Sprache, »ob wir es vermögen, uns auf eine gemäße Weise in diese dichterische Erfahrung mit der Sprache einzulassen (163). Die punktierende Notation und Denkweise des späten Heidegger kommt darin zum Zuge, dass nun gleichermaßen gefragt wird, was ›Sprache‹ ist und was ›Wesen‹. Die wechselseitige Spiegelung von beider Verhältnis: »Das Wesen der Sprache: Die Sprache des Wesens« (166) führt bezeichnenderweise über den Bereich des Fragens hinaus, das an die ›Radix‹ seiner Bestimmungen geht und insofern eben ›radikal‹ ist. Die Sentenz, dass das Fragen »die Frömmigkeit des Denkens« (165) sei, erläutert Heidegger dann mit einer Aussage, deren Nähe zu der fugenhaften Struktur der Beiträge noch unschwer zu erkennen ist. ›Frömmigkeit‹ meine ›Gefügtheit‹ und insofern auch ›Anschmiegsamkeit‹. Doch bleibe dies seinerseits auf eine Voraussetzung verwiesen, die Heidegger nun ausdrücklich aus dem Hören erläutert, einer Akroamatik, die auf einen grundlegenden Zu-spruch verwiesen ist, wie er zuallererst aus der Sprache selbst kommt. Das Hören auf Dichtung und Sprache ermöglicht also ein Seinsverhältnis, das anders als Heidegger lässt die Thematisierung des Wesens der Sprache also in die monumentalische Schlussgnomé von Hölderlins Andenken-Hymne münden.
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die philosophische Annäherung über die Fragebewegung hinausführt. In dem Abschnitt ›Das Wesen der Sprache‹ wird der Denkweg zur Sprache gleichsam zusammengeführt in einer Zusammenstellung von drei Vorträgen, wobei Heidegger ans Ende des ersten das Gedicht ›Ein Wort‹ von Gottfried Benn setzt, Evokation der inspirierenden Veränderung durch das dichterische Wort. Was in Georges Tonart gesagt worden sei, solle auch noch in einer anderen Tonart gehört werden, so die Aussage. Denken, so hat Heidegger in seiner Spätzeit immer wieder betont, bestimme sich aus der »Nachbarschaft zum Dichten«, einer gemeinsamen Gegend (169). Die philosophische Fragebewegung ist darin entzentriert, aus ihrer konstituierenden Aktivität herausgenommen und in eine medial zwischen Aktivität und Passivität die Schwebe haltende Bewegung verlagert, wodurch die Dichtung als expliziteste Form von Sprache geradezu Offenbarungscharakter anzunehmen scheint. Damit muss man noch nicht den standardisierten Einwand des Religionsersatzes oder der »Seinsmesse« verbinden. 20 Sprache und Dichtung setzen insofern eine Zäsur in Heideggers Denken, als Sprache in der Aporie der Fragebewegung einsetzt: Die Frage nach dem Sein selbst sei von Anfang an durch das »zu Denkende« bestimmt, das eben nicht gedacht worden sei und das als Voraussetzung der Denkbestimmungen selbst im Verborgenen blieb. Zu dieser Verborgenheit setzt dichterische Sprache in ein Verhältnis. Die Gleichung »Das Wesen der Sprache: Die Sprache des Wesens« führt Heidegger mit Hölderlins ›Friedensfeier‹ auf ein Gespräch zwischen beiden zurück: »… seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,« womit sich die Tektonik der Zwiesprache auf eine Art Metaebene verschiebt. Damit zeigt sich, dass allenfalls von einem indirekten Offenbarungscharakter die Rede sein kann. Heidegger hält explizit fest, dass ›die Dichter‹ – gemeint ist ein ganzer Rayon von Dichtern zwischen Pindar und George und Rilke – nicht in der Lage seien, »die Sprache in ihrem Wesen zur Sprache« zu bringen (175). Auch wenn die Nachbarschaft, das »pros allelas« von Denken und Dichten bezeichnet werden soll, so bleibt diese Konstellation doch in einer Aporetik, denn Denken und Dichten sind nicht umstandslos ineinander zu übersetzen. Zwischen ihnen besteht eine DifEin Bonmot, das sich im philosophischen Unterrichtsbetrieb der fünfziger Jahre eher auf Heidegger-Schüler wie Volkmann-Schluck bezogen haben dürfte.
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ferenz des Inkommensurablen. Heidegger mag hier und da über Dichtung in einer Weise gesprochen haben, die man als »Gewalt brauchend« und als Eindeutungen verstehen könnte. Tatsächlich ist er sich der Trennlinie sehr bewusst. »Die verweilende Rückkehr dahin, wo wir schon sind, ist unendlich schwerer als die eiligen Fahrten dorthin, wo wir noch nicht sind und nie sein werden, es sei denn als technische, den Maschinen angepaßte Ungetüme« (179). Die Abwehr gegenüber einem wissenschaftlichen Zugang zur Sprache und gegenüber dem technischen Gestell bringt erst in dieses ›Eigene‹, das in jedem Fall in einen vortheoretischen bzw. vorepistemischen Bereich verweist. Auch dichterische Sprache ist, bei aller Nähe, noch nicht Selbstaussage des Seins. Heidegger akzentuiert in dem mittleren Textpassus, dessen Übergangscharakter er betont, die Wechselseitigkeit von ›Dichten‹ und ›Denken‹, die nun in den Riss gefügt werden, den das Seinsdenken dem Grundverhältnis von Welt und Erde zugewiesen hatte. Dabei werden nicht die näheren Bestimmungen und Epitheta von Welt und Erde auf Dichten und Denken übertragen. Doch es ist dieser Riss, der »Dichten und Denken in die Nähe zueinander« reiße und damit in den Bezug aufeinander bringe (185). Der dritte der Vorträge soll dann unmittelbar in das Schwingungsverhältnis einführen: Er spricht von den ›Winken‹, die die Sprache im Sprechen den Sprechenden und Hörenden mitteile (191). Heidegger kombiniert dabei zwei seinsgeschichtlich für unzureichend gehaltene Evokationen mit der einen, auf die er im emphatischen Sinn abzielt: den Passus aus Aristoteles Peri heremenias, De interpretatione, der das Sprach- und Zeichengefüge, das Verhältnis von Laut und bedeutungstragender Semiotik zueinander ins Verhältnis setzt und Gottfried Benns Vortrag Probleme der Lyrik, dessen sprachtechnisch-formale, entmystizifierende Poetik nicht an das Wesen der Sprache rühre als Gegenüber auffasst. Ins Zentrum rückt er die V. Strophe aus Hölderlins Elegie Brod und Wein, mit der emphatischen Invokation der Worte als Blumen. Jene Hermetik des Aussagens, die Hölderlin festhält, ist nach Heideggers Auffassung nicht ästhetisch und nicht nach Maßstäben der Faktur zu beurteilen, sondern sammelt auf »das Selbe« in der Duplizität der sich verschließenden Erde und der jeweils aufgehenden Welt (ibid., 197 ff.). Ausgehend von dem Wechselverhältnis unternimmt Heidegger den Versuch, eine Topologie zu entwickeln, die vom Sein her dem menschlichen in der Welt-sein zugrunde liegt, jenseits des »rechnen449
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den Verständnisses« der Dinge. »Was das Nachbarliche der vier Weltgegenden be-wegt, zu einander gelangen lässt und in der Nähe ihrer Weite hält, ist die Nähe selber« (199), die Heidegger ihrerseits dynamisch-temporal als ›Nahnis‹ zu verstehen versucht, durch die die Gegenden in ihrem Grundverhältnis zueinander gehalten würden. Dieser Vollzug des ›Nahens‹ ist der Vorstellung und konventionellen Annäherung gegenüber das Entfernteste, wie Heidegger betont. Wenn man die Abhandlung Vom Wesen der Sprache im Licht der Beiträge zur Kenntnis nimmt, wird deutlich, dass sich ein weitreichender spekulativer Erörterungszusammenhang hinter den Andeutungen verbirgt. Sie spielen etwa auf die Exposition des ZeitRaums an: »Von der Zeit lässt sich sagen: die Zeit zeitigt. Vom Raum lässt sich sagen: der Raum räumt« (201). Mit dem ihm erst spät in seiner verbalen Weisheit bekannt gewordenen Goethe-Wort des »Gegen einander –über« umschreibt Heidegger dieses Grundverhältnis des ›Weltgeviertes‹, das er am Ende gleichfalls in der Linie der Beiträge auf das Lautlose der Sigetik zurückbezieht. »Das Zerbrechen des Wortes ist der eigentliche Schritt zurück auf dem Weg des Denkens« (204). Die Abhandlung Das Wort, ein Vortrag am Burgtheater im selben Jahr 1958, kann als Fermata dieser Überlegungen verstanden werden. Es verdichtet die Problematik des ›Versagtseins‹ des Wortes in den George-Versen auf die Nennung des ›rhythmos‹, wobei Heidegger betont, dass dies nicht Fluss oder Fließen bedeute, sondern »Fügung« (217). Der Rhythmus ist gerade nicht Teil des Bewegungsstromes, sondern die diesem zugrundliegende Architektur, »das Ruhende, das die Be-wegung des Tanzes und Singens fügt und so in sich beruhen lässt« (217). Auch damit werden die Sigetik, das Schweigen evoziert, nun nicht als Katachrese, als sich-Versagen des Wortes, sondern vielmehr als sein Gegenhalt, gleichsam der Ort, aus dem das Wort und die Performanz des lógos hervorgehen. Dies deutet sich am Ende, in der Nennung der Einfachheit und Singbarkeit des Liedes als Manifestation des lógos an, die Heidegger näher als vergessendes Hören umschreibt. Das Gesagte soll in die Vergessenheit zurückbezogen werden, wie in einer Meditation, in der der apex theōríae eben darin erreicht wird, dass die vorausgehenden Stufen zum Verschwinden kommen. 21 Vgl. zu Stufung und Gewinnung von Erkenntnis D. Henrich, Werke im Werden, a. a. O., S. 34 ff.
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Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache
Die letzte Abhandlung Der Weg zur Sprache unterscheidet sich davon, weil sie den Faden des ersten Textes bzw. Markierungspunktes des Sprachbandes aufnimmt und auf eine sprachphilosophische und -spekulative Linie zurückbiegt. Heidegger evoziert dabei den monologischen Charakter der Sprache. Er geht von der Aussage des Novalis aus, dass sich die Sprache nur um sich selbst bekümmere. 22 Damit wird eine Abgrenzung gegen jede informationell funktionale oder zeichentheoretische Sprachdeutung gezogen, von der Heidegger (232 f.) Abstand zu gewinnen versucht. Neben der Aussage von Novalis nimmt er Wilhelm von Humboldts Aussage auf, dass Sprache etwas in jedem Augenblick Vorübergehendes sei (235). Grundlage und Wesen allen Sprechens ist danach der »artikulierte Laut« (235). Dem ergon–energeia-Satz Humboldts kommt deshalb eine zentrale Bedeutung zu. Sprache ist demnach eben nicht nur Fixiert-Feststehendes, sondern durch ihr ständiges Vorübergehen konstituiert. 23 Dass Sprache von Humboldt als eine spezifische Weltansicht verstanden wird und zudem als eine »besondere Arbeit des Geistes«, gehört in Heideggers Perspektive in den Bereich einer Metaphysik der Subjektivität, die die menschliche Person ins Zentrum der Annäherung rückt. Als expliziten Aufriss des Weges zur Sprache bezeichnet er hier das Programm, die Sprache als Sprache zur Sprache zu bringen, worin der Riss seine letzte Bedeutung gewinnt: Er ist Fügung der Entzogenheit des Wesens der Sprache. Diese Entzogenheit wird in einer Art Bedeutungsverschiebung mit der Entzogenheit des Seins in unmittelbaren Kontakt gebracht. Bezogen auf sich selbst und das Sein verweist Sprache auf das sprachlich Ungesagte, das selbst gerade nicht der Verlautbarung zugehört. Heidegger zufolge hat dieses Verständnis seinen Kern darin, dass die Sprache ›Zeige‹ ist, die zu verstehen gibt. Zwischen Sprechen und Hören, einem Hören allerdings, das nicht reflexives Sich-sprechen-Hören ist (239 f.), 24 stellt sich aus Heideggers Sicht ein Schwingungsverhältnis ein, das es eben begründet sein lässt, zu sagen, die Sprache begegne sich selbst. »So ist denn das Sprechen nicht zugleich, sondern zuvor ein Hören« (243). Von hier her 22 Novalis, »Monolog«, in: Novalis, Werke, hg von G. Schulz. München 21981, S. 426 f. 23 W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Berlin 1856, §§ 8 und 10. Dazu J. Trabant, Traditionen Humboldts. Frankfurt/Main 1990. 24 Darauf weist sehr zu Recht Riedel, Hören auf die Sprache, a. a. O., S. 9 ff. hin, in Abgrenzung unter anderem von Derridas Konzeption einer Präsenz aus Sprache.
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
kommt Heidegger dazu, rückblickend den Weg zur Sprache als eine Vertiefung aufzufassen, in der sich einerseits die Identifizierung des Wesens der Sprache mit der Sprache des Wesens, also des Seins einstellt. Zugleich wird die Behauptung aufgestellt, dass der Weg zur Sprache, den der Vortrag allein anbahnen sollte, das Phänomen der Sprache selbst sei. Dieses Phänomen ist näher als Sage und Zeige aufzuweisen. Die Sage bestimme sich, wie Heidegger festhält, aus dem Ereignis. Es ist offensichtlich, dass vom Wesen der Sprache als von einem ›Weg‹ gesprochen werden soll. Die leitende Maxime, die Sprache als die Sprache zur Sprache zu bringen, legt eine Bewegung der Sprache nahe, die das in ihr geborgene und entzogene Sein anzeigt. Die Schwierigkeit jenes abschließenden Textes könnte darin liegen, dass ein derart intimes, auf Sein bezogenes Sprachverständnis vermutlich nur performativ artikuliert werden könnte, gerade im Vollzug der Dichtung (254), weil sie sich einer konsekutiven oder kohärentistischen Logik gerade entzieht. Der vortheoretische Anspruch, den Heidegger in seinen ersten eigenständigen phänomenologischen Vorlesungen erhoben und eingelöst hatte, 25 kehrt wieder: Er führt auf die Grundschicht der Sprache, die einzig auf sich selbst bezogen ist. Mit Novalis konstatiert Heidegger, dass die Sprache erst aus dem Hören auf sie, also echohaft, als »Monolog« zu verstehen sei, was aber ein Zweifaches bedeute, dass sie allein es sei, »die eigentlich spricht« und dass sie einsam spreche (254). Die Singularität der Sprache, ihre Monologizität bedeute gerade kein Allein-sein, sondern den »Fehl des Gemeinsamen als bindende[n] Bezug zum Sein« (254). Das Gemeinsame deutet sich insofern nur als Schattenriss einer Negiertheit und eines Versagtseins an. Doch nicht nur das ›Ereignis‹, das phänomenologisch auch als ›Eräugnis‹, als Blicken und Erblicktwerden sich erweist und dessen verbale Setzung Heidegger mit den Verben »ereignen«, »zueignen« gleichsetzt, bestimmt den Ausgang jener Überlegungen, sondern letztlich das Verhältnis von Denken und Dichten als Grundkonstellation des Denkens nach dem Ende metaphysischer Philosophie. Heidegger entnimmt von Humboldt oder Novalis allenfalls Keimworte oder Impulse; denn er weist diesen Bahn brechenden Aussagen aus der Epoche der Einsicht in den energeia-Charakter der Sprache
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Dazu Erster Teil, I. und II.
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Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache
nach, 26 dass sie in metaphysischen Konfigurationen befangen bleiben. Erkennbar ist die Tendenz, Metaphysik und damit auch die Vertiefung und Entwicklung von Subjektivität durch Sprache hinter sich zu lassen. Der Band Unterwegs zur Sprache artikuliert in sich eine innere Spannung: Abgesehen von dem ›Gespräch von der Sprache‹ werden Kapitelüberschriften gewählt, die grundsätzlich die Annäherung an die Sprache einkreisen, dabei aber im Wesentlichen Deutungen von Dichtung sind. Wie das Ideogrammatische der singulären Aussage eines Gedichtes zu der Denkbewegung selbst sich verhält, wäre aber allererst noch zu klären. Wird nicht unweigerlich, auch im Licht des Seinsdenkens, eine Koinon-Allgemeinheit in die Singularität der Dichtung eingetragen? Dieser Einwand kann naheliegen. Heidegger überformt aber nicht Beobachtungen an Form und Faktur der Dichtung durch einen philosophischen Gehalt. Er suspendiert auch nicht einfach das Denken, damit es Hören auf Dichtung würde. Gewiss gibt es zu beiden Tendenzen und Gefährdungen gewisse Affinitäten. Doch letztlich sollen Denken und Dichten auf ihren Sammlungs- und Ursprungsort, den Sinn von Sein, entzentriert werden. Zentral bildet sich in dem Band Unterwegs zur Sprache das Gespräch mit der Sprache zwischen dem Japaner und dem Fragenden ab, das Heidegger, wohl dazu veranlasst durch die Begegnung mit dem japanischen Philosophen Tenzuka, 27 als idealtypische Zwiesprache komponierte. Unverkennbar wird darin Realität verklärt. Gleichwohl öffnet sich hier Heideggers Denken in eine interkulturelle Perspektive. Doch geschieht dies tatsächlich? Oder bleibt Heidegger bei der eigenen Stimme, die aber in das Hören einer anderen Stimme übergeht, indem beide Stimmen zum Hören auf die Sprache werden? Sprache und ihre Einsamkeit markieren Grenzen und Unüberschreitbarkeiten des Dialogs zwischen der europäischen Kultur und anderen Weltkulturen. Die Rede vom »Haus des Seins« erfährt in dem inszenierten Gespräch eine interkulturelle Brechung. Wohnten dann, so wird gefragt, nicht die europäische Kultur und die asiatischen Kulturen in unterschiedlichen Häusern (85)? Exemplifiziert wird dies in einer Reihe von Reminiszenzen an Heideggers frühe Freiburger und Dazu Trabant, Traditionen Humboldts, a. a. O., S. 109 ff., siehe auch H. Schmid, Kunst des Hörens. Orte und Grenzen philosophischer Spracherfahrung. Köln, Weimar, Wien 2002. 27 Vgl. dazu H. Buchner, Heidegger und Japan, a. a. O. 26
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
Marburger Zeit, Begegnungen mit dem Grafen Kuki und an die Phänomenologie als eidetische Abstraktion der phänomenologischen Methode, die gerade von den Interferenzen der gesprochenen und gehörten Sprache absieht. Der ›Japaner‹ äußert dabei im Blick auf die Stimme des Anderen, dass der Zusammenhang von Sein und Sprache als durchgehender Leitfaden von Heideggers Denken beschrieben werden kann (89 f.). Der Titel einer »hermeneutischen Phänomenologie« gewinnt vor dem Hintergrund des späten Sprachdenkens Profil als Versuch, »das Wesen der Phänomenologie ursprünglicher zu denken« und es zugleich mit der abendländischen Philosophie in einen engeren Zusammenhang zu setzen, als dies Husserl gelungen sei (91 f.). Dabei insistiert Heidegger auf der begrenzten Bedeutung des Hermeneutik-Begriffs und auf dem hermeneutischen Grundverhältnis innerhalb der Theologie, eine Verbindung zwischen dem Wort der Heiligen Schrift und rationalem Denken herzustellen (93); zugleich betont Heidegger damit eine Nähe zur theologischen Herkunft, ohne die er »nie auf den Weg des Denkens gelangt« wäre (91); sie setzt einen Kontrapunkt zu Heideggers anderwärts bemerkter »Todfeindschaft« zwischen Philosophie und Theologie. Die ›Unbestimmtheit‹ des Wesens der Sprache, das, wie Heidegger andeutet, vielleicht ein Sachverhalt sei, dann aber auf eine »rätselhafte Sache« verweist, habe sein eigenes Denken in der Undeutlichkeit und im Unzureichenden belassen (93). In einer seltenen Deutlichkeit räumt Heidegger ein, dass sein eigener Denkweg an dieser Undeutlichkeit und Verrätselung Anteil habe. Thematisiert wird in dem Gespräch aber auch ein bis heute zentrales Problem jeder Übersetzung von einem Denkhorizont in einen anderen, dass sie Interpretamente des angezielten Kulturkreises in sich aufnehme und eine Präzision erwarte, die gerade am Schwebezustand des Sachverhalts selbst vorbeiführe. Dies wird im Blick auf die Erläuterung des japanischen »Grundwortes« Iki als »sinnliches Scheinen« erhellt, durch dessen Sinnlichkeit Übersinnliches hindurchscheine (97). Damit wäre eine enge Verbindung zwischen dem Verhältnis von Aistheton zum Nicht-sinnlichen, zu Denkenden, »noeton« betont (97). Erst an dieser ›zarten, doch zugleich hellen Differenz‹, wie sie sich wohl nicht nur zwischen Denken und Dichten, sondern auch zwischen Kulturen einstellt, wird Heidegger zum ›Fragenden‹. Der ›Japaner‹ verweist auf die Bestandstücke des offensichtlich in einen indoeuropäischen Zusammenhang eingedeuteten ›Iki‹ – 454
Von der Dichtung her: Unterwegs zur Sprache
›Iro‹, das »zwar die Farbe [nenne]«, jedoch »wesentlich mehr als das sinnlich Wahrnehmbare jeder Art« meine (97), während ›Ku‹ Leere und Offenheit, aber eben nicht einfach das Übersinnliche bezeichne. Eine Abbildbarkeit auf den Dualismus von Wahrnehmung und Vernunft, wie sie in Kukis ›Iki‹-Lehre angezeigt wird, verliere deshalb immer schon das Feld des Gemeinsamen, das sich gerade aus der Unübersetzbarkeit einstellt. Im gemeinsamen Bezug auf den Film ›Rashomon‹ werden Vergegenständlichung und Darstellung als unvermeidlich, zugleich aber als Verzeichnung exponiert (100 f.). Der Japaner rekurriert auf das Nô-Theater und die Gebärde. »Gebärde«, sagt der Fragende, »ist Versammlung eines Tragens« (102), wobei sie auf die Leerheit führt, den »höchsten Namen für das, was Sie mit dem Wort ›Sein‹ sagen möchten« (103). Es ist keineswegs eine Marginalie, wenn der Japaner bemerkt, dass der Vortrag ›Was ist Metaphysik?‹ in Japan sogleich verständlich gewesen sei und dass sich das nihilistische Missverständnis in der ostasiatischen Rezeption in keiner Weise nahegelegt habe. In dem Zwiegespräch deutet sich an, dass eine ›Verwindung‹ von Metaphysik, die nicht auf Klischees des europäisch-abendländischen Denkens wie eine westlich-abwehrende Interpretation des ›Nihilismus‹ verfällt, nur in der Öffnung – der Topos der ›Offenheit‹ spielt in jenem Dialog eine entscheidende Rolle – auf die ostasiatische Gegenküste der Philosophie bezogen werden kann. Strittig ist in der interkulturellen Verständigung über den tiefsten Punkt von Heideggers Denken so gut wie alles, auch die Rede vom ›Wesen der Sprache‹, zu dem der Japaner mit einer gewissen Konsterniertheit bemerkt: »Wie soll da unser Nachsinnen ins Freie gelangen?« (107). Der Fragende artikuliert dann aber an den Japaner eben die neuralgische Frage, ob es in dessen Sprachwelten einen adäquaten Ausdruck für Sprache gebe. Der Japaner antwortet darauf, durchaus überraschend, dies führe am ehesten auf eine Bestimmung des ›Wesens‹ der Sprache als Analogie, die sich der Dichotomie von Sprache und Sprechen, also der de Saussure’schen Differenz, widersetzt. Es gehe, so wird betont, gerade um ›Winke‹ als Ermöglichungen von Korrespondenz und nicht um die Subsumption beider Kulturwelten unter einen gemeinsamen Begriff. An dieser Stelle formuliert Heidegger innerhalb des Gesprächs eine seiner prägnantesten Aussagen über die Metaphysik und ihre Tragweite. »J: Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie sagen, die metaphysische Vorstellungsweise sei in gewisser Hinsicht unumgänglich« (110). Während Zeichen und Chiffren, eine kaum ver455
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hohlene Anspielung auf Jaspers, selbst noch in der Metaphysik beheimatet sind, verweisen die exzentrischen ›Winke‹ und ›Gebärden‹ auf den Schwebezustand der Seinsfrage. An diesem Punkt deutet sich eine hermetische Konzeption an, die in der Tiefe des je Eigenen und daher vom Anderen Unterschiedenen den Anklang an das Andere nahelegt, den, auf seine Weise, Heinrich Rombach in der Folge Heideggers als hermetisches Tiefengespräch zu entfalten suchte. Heidegger hält an diesem Punkt inne: »Ins Unbestimmte« habe sich das Gespräch verloren (114), was ›der Fragende‹ mit einem »Zum Glück« quittiert (ibid.). In späteren Jahren wies Heidegger, in mehr oder weniger öffentlichen Diskussionen, das Epitheton ›hermeneutisch‹ seinem Schüler Gadamer zu. Dies beginnt mit dem Gespräch über die Sprache, das bereits eine entschiedene Absage an den Universalitätsanspruch der Hermeneutik nahelegt. Den Hermeneutikbegriff verwendet Heidegger in dem ›Gespräch‹ in einer sehr eminenten Weise. Gemeint sein soll damit die ›Kunde‹ der Sprache selbst, die nicht im Sprechen, sondern im Hören sich mitteilt, ein Bezug des Menschen, der »als der Wesende, der er ist«, in einem chrema, einem ihn beanspruchenden Zusammenhang steht (119). Anstelle von chrema formuliert Heidegger mit einem altfränkischen deutschen Ausdruck auch ›Brauch‹. Die Suche nach dem Wesen der Sprache erweist sich damit wieder als Suche nach einem »anfänglich Vertrauen« (120), der Anfänglichkeitsnatur des Seins, die sich keineswegs von selbst versteht, sondern »das Befremdliche« ist. Aufschlussreich war seinerzeit und ist noch immer die Antwort des Japaners, dass, auch aufgrund deren Verbreitung in Japan, Heideggers frühe Vorlesung über Ausdruck und Bedeutung eine zentrale Rolle spielt. Die gehörte und gesprochene Sprache verweist damit auch auf das Nichts, die Leere selbst. Womit eine Zugangsweise angebahnt wird, die von der Innen-Außen-Unterscheidung sich verabschiedet hat. Auf sie wird im Rückgriff auf Dilthey und den Gegenständlichkeitsbegriff der neuzeitlichen Philosophie verwiesen (123). Heidegger wiederholt zwar, dass der »herrschende Vorstellungskreis« nicht ohne weiteres und nicht durch einen Sprung zu verlassen sei. Doch scheint mitgedacht zu sein, dass er eingeklammert werden müsse, um »in Achtsamkeit« auf die Spuren zu kommen, »die das Denken in seinen Quellbereich weisen« (124). Man wird bemerkt haben, dass die kritischen Anmerkungen, die dieses Buch bislang durchzogen haben, vor Heideggers Sprachdenken und überhaupt seinen letzten Denkwegen Halt machten. Dies hat 456
Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare
einen elementaren, aber nicht ganz trivialen Grund. Heidegger berührt nach meiner Überzeugung mit seinem Sprachdenken einen Grund, der tatsächlich in der Geschichte der Philosophie nicht berührt wurde: die vortheoretische Grundschicht eines durch eminente Sprachlichkeit vermittelten Zusammenhangs zum Sein selbst. Wenn man die Ansetzung einer solchen Dimension für grundsätzlich sinnvoll und sogar erforderlich hält, findet sich keine angemessene Kriteriologie, nach der das Heidegger’sche Denken zu vermessen wäre. Eben hier setzt die späteste Philosophie an, der Weg, den Heidegger 1973 in seinem Rückblick auf das »Wegfeld des Denkens« als »Schritt zurück« charakterisierte.
31. Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare: Heideggers Denkweg im Gespräch mit der Wissenschaft Die Zollikoner Seminare sind ein seltenes Zeugnis: Selten kann Philosophie, die mit einem hochgradig fundamentalen, begründungstheoretischen Anspruch auftritt, in eine Wissenschaft, erst recht eine therapeutische Wissenschaft, unmittelbar einwirken. Autobiographische Zeugnisse, die an jene Seminare erinnern, zeigen deutlich, dass sich Missverstehen, Faszination und Verwunderung bei den jungen Teilnehmern im Umkreis von Medard Boss die Waage hielten. 28 Medard Boss, auf dessen freundschaftliche Verbindung zu Heidegger in der ersten Nachkriegszeit die Seminare zurückgingen, hatte als klassischer psychiatrischer Mediziner begonnen; die Vorprägungen durch die Binswanger’sche Daseinsanalyse hatten eine zeitweilige Freud-Orientierung überlagert. Nach 1945 kam es zu ersten Annäherungen zwischen Heidegger und Boss, wobei vor allem dessen Indienerfahrung Heideggers besonderes Interesse erweckt haben dürfte. Der Charakter von Denkübungen tritt in wenigen Zeugnissen so deutlich hervor wie in jenen Seminaren, und sie ermöglichen, in der jetzigen umfassenden Dokumentation, immer wieder den Blickwechsel bzw. Brückenschlag von (epistemologischen und phänomenologiVgl. C. Gros, »Das Wagnis der Zollikoner Seminare«, in: M. Riedel, H. Seubert und H. Padrutt (Hgg.), Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie. Heidegger im Dialog mit Medard Boss. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 205 ff., und A. Padrutt, Bahnhofstraße Zollikon – Erfahrungen in den Zollikoner Seminaren, a. a. O., S. 269 ff.
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
schen) Ansätzen aus Heideggers Frühzeit bis zum Ereignisdenken. Heidegger verbindet in jenen Denkübungen souverän Motive des ersten und des anderen Anfangs. Nicht die Differenz dominiert dabei, sondern die jeweilige Entsprechung als Erschließung der Gesundheits- und Krankheitsräume im menschlichen Dasein. Das, was von der über zehn Jahre dauernden Dialogsituation in Zollikon greifbar geblieben ist, gehört zu den eindrücklichsten Dialogzeugnissen Heideggers. Wie man erst aufgrund der umfassenden Nachlassausgabe fassbar erkennen kann, 29 ließ sich Heidegger auf diese Dialogsituation sehr detailliert und differenziert ein. Er bereitete jene Seminare mit besonderer Akribie vor und griff dabei auf den fundamentalontologischen Ansatz von Sein und Zeit zurück. Dessen Nicht-Überholtsein und dessen auch für Heidegger selbst nach wie vor aufgegebene Strittigkeit wird in den Zollikoner Seminaren dadurch bestätigt, dass er sich im Licht der ›Kehre‹ noch als belastbar und tauglich erweist. Die Seinsfrage, ihre Verborgenheit und ihr offenkundiger Charakter, die »Einfalt der Zwiefalt des Ereignisses« (11) ist durchgehend präsent, stärker als dies in der Literatur in der Regel wahrgenommen wurde. Ein weiteres Spezifikum ist zu berücksichtigen. Denn nie zuvor oder danach kam Heidegger mit Vertretern einer fachwissenschaftlichen Disziplin in eine derart enge und bewegte Zwiesprache: Schon in der ersten Sitzung ging es, den Protokollen zufolge, in diesem Geist um »Hören« und »Miteinander-Sprechen«, um die zweierlei Sprachen, die zwischen Heidegger und dem Teilnehmerkreis zunächst trennend wirkten, in denen aber doch »Verschiedenes zueinander gehört« (89.11). Wiederholt werden, was angesichts der Anfragen von den Medizinern und der ihnen vor Augen stehenden Symptomatologie nicht verwunderlich ist, Phänomene aufgewiesen, denen sich Heidegger sonst nicht in dieser Weise zuwendete. Heidegger geht in der Besprechung psychischer Störungen vom Phänomen des Mit-seins, des Seins in derselben Welt aus, und gerade nicht von Ich-Du-Verhältnissen, Subjektivität und Intersubjektivität (26). 30 Einfühlung kom-
Heidegger, GA Band 89. Zollikoner Seminare, hgg. von P. Trawny. Frankfurt/Main 2018. 30 In diesem intersubjektiven Problemspektrum kommen andere Problemfacetten ins Spiel, wie sie insbesondere von V. Frankl und seiner Logotherapie aufgeworfen wurden. 29
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me als Anspruch immer zu spät und folge daher einer »ungemäßen Vorstellung«. Denn es gehe gerade nicht darum, sich in den Anderen hinein- und hinüber zu versetzen. Heidegger sinnt in seinen stärksten Einlassungen seinen Gesprächspartnern aus Medizin und Psychologie ein nicht-wissenschafts- aber auch nicht anwendungsgeleitetes Mitsein an: von der Aristotelischen Öffnung der Psyche auf Welt, die sie in sich abbildet, bis zum Husserl’schen Bewusstseinsstrom des Erlebtseins ruft er philosophische Thematisierungen der Psyche ins Gedächtnis. Im Licht dieses Mitseins dekonstruiert Heidegger Vorerwartungen, die etwa durch die Freud’sche Psychodynamik und dessen Konzeption des Seelenapparates angeleitet werden. Auffällig ist, wie er seine Gesprächspartner befragt: darauf etwa, ob sie »schon einmal etwas Psychisches – im Bewusstsein – im Innen der Person wahrgenommen« hätten? (48) Damit verbindet sich eine durchgehende Destruktion substanzialistisch-anthropologischer Konzepte einer Innenwelt, wie sie ähnlich Wittgenstein unternahm. Auch für Modell- und Hypothesenbildungen soll ein solcher Substanzialismus verworfen werden. Von einem solchen Horizont abzusehen, bedeutet eine Freiheit und schwebende Aufmerksamkeit anderer Art als die Freudianische Tiefenpsychologie zu entwickeln; nämlich das eigene Sinnen Phänomenen anzuvertrauen wie der Erinnerung. Erinnerung und Bildbewusstsein verweisen gerade in das Spannungsfeld von Abwesenheit und Anwesenheit, das Heidegger immer wiederumkreist (65). Das Vergangene kann so als Abwesenheit (Apousía) und Anwesenheit (parousia) in einer engen Verflechtung erkannt werden. Auch die Phänomenologie des Leibes, den Heidegger paradox als ›Nächstes‹ und zugleich ›Fernstes‹ bezeichnete, wird wiederholt umkreist. Dies geschieht etwa in den Gesprächen, die Heidegger mit Boss privat Ende April und Anfang Mai 1963 in Süditalien führte: Dort wird Leib an prominenter Stelle als »be-dingtes Bedingendes« (69) evoziert: als der Erde zugehöriger Grundzug des Daseins (69). Anders als in den nachgelassenen Aufzeichnungen, unternimmt Heidegger hier den Versuch, die Sprech- und Denkweise seines Denkens in ein Übersetzungsverhältnis zu der epistemisch-applikativen Sprache der Medizin zu bringen: Dies bedeutet auch, das ›Ich‹ und ›Du‹ als nicht ursprüngliche, aber eigenständige Weise des in-derWelt-seins zu verstehen. Dasein sei immer ein »Lichtungsgebrauch«. In den Gesprächen mit Boss macht Heidegger darauf aufmerksam, dass sich erst von dieser Lichtung her auch das Momentum der Erde 459
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und damit der leiblichen Verfasstheit des Menschen aufklären lasse. Daher könne man nicht sagen, (wie es religiöse Schöpfungsberichte immer tun müssen): »Die Erde war bevor der Mensch existierte« (81). Heidegger differenziert, auch aus der Notwendigkeit der Verständigung heraus, nicht zwischen den verschiedenen Anfängen seines Denkens, sondern nimmt diese als Ganze in den Gesprächszusammenhang hinein. Die Unterscheidung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten und die Metaphorik, die ihr in der Tiefenpsychologie zukommt, greifen zu kurz. Das vermeintlich Unbewusste muss doch in einer Form von vergangener oder gegenwärtiger Perzeption gründen: Es verweist selbst in einen Erlebnisstrom. Immer wieder in den Zollikoner Seminaren scheint Heideggers scharfer, logisch-argumentativer Problemzugriff auf, der in seine philosophischen Anfänge zurückverweist. Unabhängig von der Depotenzierung und Abwertung der Erkenntnistheorie, übt Heidegger gerade dies mit seinen Gesprächspartnern ein: Begriffs- und Vorstellungsformen, die in der eigenen Wissenschaft mehr oder weniger implizit in Geltung bleiben, sollen problematisiert und befragt werden. In diesem Sinn kommt Heidegger auf die fundamentale Struktur des Phänomenbegriffs zurück. Im strengen Sinn zeigt sich ein Phänomen an sich selbst von sich her. Phänomene müssen gerade so wahrgenommen werden, wie Heidegger die phýsis auffasste. Das Phänomen ist, sachgemäß verstanden, das »von sich her Aufgehen – Anwesen« (95): Damit legt sich die grundlegende Frage nahe, wie sich Annahmen und Deutungen zur Phänomenalität der Phänomene verhalten. Die Herausforderung für die wissenschaftlich geschulten Gesprächspartner dürfte nicht zuletzt in dieser energischen Aufforderung zu Hinnahme und Annahme bestanden haben: einer Ortung des Nachdenkens auf das, »was sich selbst zeigt« (99). Ein reizvoller Hinweis findet sich in Heideggers Aufzeichnung zum Seminar vom 28. 1. 1964: Heidegger legt eine Wegrichtung vom schon gewonnenen fixierten Begriff zum Wort nahe. Formal ist das Wort ›Umschreibung‹ und ›Beschreibung‹, nicht Erklärung, die aber nicht statisch bleibt, sondern dazu führt, dass sich die Sache selbst deutlicher zeigen kann (99). Gerade dies ist das genuin Philosophische des Zugriffs: in seinem Nachdenken, am Selbstverständlichen zu bleiben und es so zu transformieren. Das führt zu der bekannten Platonischen und Aristotelischen Maxime, dass es Unerzogenheit sei, nicht zu wissen, wo Begründungen möglich und erforderlich sind und wo eben nicht 460
Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare
(Aristoteles, Metaphysik Gamma 4, 1006a6) (100). Die Phänomene im Denken zu retten (sozein ta phainomena) heißt, sie in ihrer Seinshaftigkeit zu fassen. In einer einfachen und grundlegenden Kritik von medizinischen und wissenschaftlichen Vorverständnissen weist Heidegger darauf hin, dass die Annahme (suppositio) eine Akzeptanz (acceptio) eines spezifischen Weltverhältnisses voraussetzt. Die Freudianische Analyse führt Heidegger deshalb auf eine Verursachung, eine Erklärung der »nicht vernehmbaren Kräfte- Tendenzen« zurück (108), sodass Verstehen auf die hypothetische Folgerung bezogen werde. Zugrunde liegen Heidegger zufolge Kausalreihen, die den psychischen Apparat entschlüsselbar machen sollen. Deshalb unterzieht er die jungen Ärzte und Psychiater Denkübungen zu Grund und Kausalität, mit der Absicht, sie auf diese Weise näher an die Unterscheidung von Phänomen und Motiv heranzuführen. Die Maxime, sich zurückzunehmen, sich auf das, was sich zeigt, einzulassen, lässt in der Übersichtsperspektive der Heidegger’schen Denkarchitektur die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem gleichsam zu einer Form des methodischen Selbst-Umgangs werden (136 f.). Es bedeutet auch eine Art der Epoché gegenüber dem wissenschaftlichen Weltverhältnis, die in das Offene führt, ›Etwas als etwas‹ zu erkennen, also die Symptomatik einer Krankheit als das, was sie ist, hinzunehmen. Gegenüber einem kausierenden, Ableitungen erfragenden epistemischen Zugriff sind es schon die Konturen des von Heidegger in seiner spätesten Philosophie so genannten »tautologischen Denken«, die sich hier abzeichnen: Sie konzentrieren sich darauf, »über das Selbe – das Selbe« zu sagen (143, dazu Gorgias 491b). Dies führt zu grundlegenden Exerzitien über Möglichkeiten, vor allem aber auch die Grenzen der Wissenschaft. Mit Nietzsche diagnostiziert Heidegger eine Dominanz der Methode über die Wissenschaft selbst, die Nietzsche zu den »werthvollsten«, aber zugleich spätesten Einsichten zählt (152). Als das wissenschaftliche Weltbild, das primär zur Kenntnis zu nehmen ist, begreift Heidegger zunächst das die wissenschaftliche Weltwahrnehmung prägende Weltbild der Physik, das er in Exzerpten zu C. F. von Weizsäcker und Heisenberg auf einen Objektbegriff bezieht, der den »Gesetzen der Physik« genügen muss (159), was eine umfassende »Überwältigung der Naturkräfte« einschließt (161). Was Heidegger seinen jungen Gesprächspartnern mitteilen 461
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konnte, war eben eine Ontologie des »Sozein ta phainomena«, eine Rettung der Phänomene in der Vertiefung auf das, was sich zeigt (u. a. 170 ff.). Er reflektiert dabei scharf, dass »im Zeitalter der Sophistik« (143), dieser Zugriff in Wahrheit verwirrend und irritierend sein musste. So hält er sich für die Einleitung zu einem zweiten Seminarabend fest: »Am Beginn des ersten Abends waren sie offenbar betroffen und ratlos gegenüber meinen Fragen« (99) – und zwar nicht wegen deren Abwegigkeit, sondern vielmehr weil sie auf das Evidente, zu Tage-Liegende rekurrierten. Das Nächstliegende wird zum Zentrum der Sehübungen. Es geht uns an und ist uns zugleich verborgen. Es bestehe darin, »das Auge zum Licht werden zu lassen« (171) vermerkt Heidegger auf einem der Notizzettel, und er verbindet dies mit der Lichtung: Dem Nächstliegenden, das doch gerade das Unbekannte und Unerkannte sei. Zeit ist auch in den Zollikoner Seminaren ein wiederkehrender Topos: Was auf die Figur des sich Zeit-lassens verweist und auf Perzeptionsfragen in Krankheitsbildern (181). Aus einem Aufsatz von Franz Fischer über Schizophrenie wird ein vermeintlich dissoziierendes Zeitbewusstsein gewonnen. Im Bericht eines der betroffenen Patienten heißt es deshalb prägnant über diese zerklüftete und widerspruchsvolle Selbstwahrnehmung: »Da ist ein besonderer Eindruck dabei, als ob es sich auseinandergelöst hätte, es ist aber doch beieinander […]. Man ist hingegeben an die Beobachtung der Uhr und verliert den Faden zu sich selbst« (ibid., 189). Das Phänomen ist nicht Metapher für anderes, die Zeit: Es ist eine Verdecktheit und Verschlossenheit von Welt. In seinen Notaten verweist Heidegger auf den Zusammenhang einer Gegebenheit von Leiblichkeit, die nicht auf physikalisch-bedingte Körperlichkeit reduzierbar ist und Zeit (184), aber auch von Zeit und dem Wesen des Menschen. Es ist primär nicht das Wesen von Zeit im Sinn des Was-Seins, eine zu definierende Bestimmbarkeit, sondern ihr Wie-Sein, das sich dabei nahelegt: Zeit ›west‹ in der Weise des Nichthabens an, vermerkt Heidegger. Sie wird dabei zu einem Begründungsschlüssel dafür, dass gerade das »Nicht-Seiende, das Seiende, dass etwas nicht ist« (203), einen Seinsmodus anzeigt. Die Suche nach der ›Wahren Zeit‹ macht jenes Phänomen transparenter, das auch in der Phänomenologie von Krankheit eine herausgehobene Rolle spielt, als Anzeige dessen, dass ›etwas‹ (in seiner Unbestimmtheit Belassenes) fehlt. Heidegger kann sich aufgrund der Konzeption der ›Zollikoner 462
Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare
Seminare‹ nicht auf die Differenzen des transzendentalen Zeitverständnisses, wie es in Sein und Zeit entwickelt ist einerseits und die änigmatisch bleibenden Bemerkungen zur Zerklüftung von Zeit anders einlassen, wie sie im Seinsdenken der ›Beiträge‹ entwickelt werden. Der Zugriff ist ein anderer: Er führt zu Beobachtungen, die sinnliche und apperzeptive Bezüge auf Zeit unterscheidbar werden lassen sollen: Zeit erweist sich gerade nicht nur als Jetztfolge, sie verweist den Menschen nicht an ein Nacheinander, sondern evoziert unterschiedliche Semantiken von Zeit, eine »Zeit für«, ein »Jetzt da«: oder, was Heidegger in Gesprächen mit Boss auf der Lenzer Heide vorweg erwogen hatte: Wie ist Zeitigkeit von Unzeitigkeit zu unterscheiden? Die Zitelosa, die Herbstzeitlose, die mit einer Frühlingsblume und einer spätherbstlichen Blume gleichgesetzt wurde, blüht in jedem Fall nicht zur regulären Zeit, ob sie zu früh oder zu spät blüht. 31 Die ›Zollikoner Seminare‹ unternehmen den Versuch, die Dimensionen und Wahrnehmungsräume der Zeiterfahrung zu differenzieren. Dabei spielt Alltäglichkeit eine unterschwellige aber unverkennbare Rolle: Heidegger thematisiert Fragen der Datierung, des öffentlichen Charakters von Zeit und in Rückbeziehung auf metontologischen Ausführungen in dem Kolleg Die Grundbegriffe der Metaphysik (GA 29/30) auch der Langeweile als des gedehnten ›Zwischen‹, als »Leerlassen« und sich in sich selbstweiterspinnendes Geflecht, das alles Leben einnimmt. Die existenzialen Analysen hatten ›Langeweile‹ bekanntlich als Explikation der leerbleibenden Offenheit, der Bezogenheit auf Sein und nicht nur Seiendes aufgefasst. In den Zollikoner Seminaren enthält sich Heidegger einer ontologischen Bestimmungsanalyse des Wahrgenommenen. Dieses behält in seinem phänomenalen Erscheinen und So-sein seine Bedeutung und Berechtigung. Überhaupt sind die einschlägigen Zettel vorbildliche Exerzitien der Epoché, einer Urteilsenthaltung und rein phänomenalen Beschreibung. Es geht um phänomenale Artikulation des Wieseins und des Worauf. Jene Deiktika werden nicht gleich zu Existenzialien/Kategorien der Existenz erklärt. Auch die Abriegelung im rechnenden Denken und in der Öffentlichkeit wird eher freischwebend thematisch gemacht und das menschliche Verhalten dazu gemäß 31 Über diese Tiefenbegegnungen auf der Lenzer Heide M. Riedel, Nietzsches Lenzerheide-Fragment über den Europäischen Nihilismus. Zürich 2000 und aus autobiographischer Erfahrung W. Biemel, Zur Geschichte einer Denkfreundschaft, a. a. O., S. 283 ff.
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der triadischen Explikation des Zeitsinns aus Sein und Zeit erläutert. Der Vorhabe, dem kairós für eine angemessene Tätigkeit kommt im Verständnis über ›Zeit haben‹ eine maßgebliche Rolle zu. Die Exempla sind teilweise intrikaten psychischen Phänomenen und Verwicklungen entnommen. So dem Modus der ›Vergegenwärtigung‹ (261 ff.), der ein Sein bei etwas bezeichnet, das ein Sein bei ist, auch wenn jenes Seiende nicht unmittelbar präsent ist. Die einschlägigen Abschnitte geben beispielhaft an, wie sich die auf einen Gegenstand gerichtete Intentionalität im Sinn der ›Sorge‹ weitet und sich auf die »Weltlichkeit der Welt« bezieht. Erstaunlich an jenen Seiten ist, wie Heidegger die einzelnen phänomenologischen Beschreibungen mit einer Frische und Unmittelbarkeit aufnimmt, so als habe es die geronnenen Kategorien in seinem Denken nicht gegeben. Die gesuchte gültige Bestimmung von Zeit im ›anderen Anfang‹ bleibt auch hier aus. Doch sie wird als Beben, Teilen und Erteilen in den Horizont der konkreten Sinnerschließung eingetragen (283). Deshalb kann Heidegger auch die Rede vom ›Subjekt‹ oder ›Ich‹ wiederaufnehmen. Er spricht noch konsequenter und recht umstandslos von einem ›Wir‹, das sich in der Zeit als Zeit erweist. Zeit wird in unprätentiöser Weise in den ›Zollikoner Seminaren‹ als Zeitigen des Seins verstanden (293), das sich auch in der Symptomatik von Krankheiten oder der extremen Langeweile der Schwermut manifestiere (279). Durch Heideggers Aufzeichnungen wird nochmals viel deutlicher, wie stark das späte Denken in die Zwiesprache mit den Ärzten und Psychiatern eintritt und sich aus der Korrespondenz heraus versteht. In gewisser Weise und ohne systematischen Anspruch wird damit das Konzept der ›Metontologie‹ nach Sein und Zeit wiederaufgenommen. Daraus ergibt sich allerdings kein durchgehendes systematisches Raster, wohl aber eine punktierende Wahrnehmung: Die Rede ist vom »Auf-Ent-Halt« in der Welt, namentlich den Gegenden des Gevierts, das sich auch in der Sprache zeige. Was seit Aristoteles traditionell ›Seele‹ und später Bewusstsein genannt wird, umschreibt tatsächlich den Bezug zum Sein (Bewusstsein) des Menschen. Das Phänomen der Langeweile, aber auch jenes der Zerdehntheit der Zeit differenziert sich vor den als pathologisch bezeichneten Krankheitsbildern der Schizophrenie und anderer Leiden weiter aus. Nicht nur auf Sein und Zeit kommt Heidegger dabei zurück, sondern auch auf die Zeitanalysen im Kant-Buch, mit Rückgriffen 464
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auf Aristoteles’, Augustinus, sogar Lotze und andere. Selten ist der ganze Rayon seines Durcharbeitens so spielerisch andeutend präsent wie in den ›Zollikoner Seminaren‹. Heidegger skizziert dann deutlicher als zuvor den Zusammenhang von Dasein und Leiblichkeit und zudem die Zugehörigkeit und Verflechtung von Zeit und Raum. Nicht nur die aus der Anthropologie gängigen und bekannten Formeln: ›Ich habe meinen Körper‹ und ›Ich bin mein Leib‹ nimmt Heidegger dabei auf (384). Sondern auch die Gestalt: »Ich bin meinen Leib« (ibid). Über Leibgrenze und -ausdehnung, die sich in einen potentiellen Bereich weit über die Umgrenzungen des Körpers hinaus erstreckt, reflektiert Heidegger in Bezug auf Hiersein und Dortsein auf die Spannung und die Zirkularität von Bezügen und Beziehungen. Es ist deutlich, dass die Akroamatik, der Zusammenhang von Hören, Sprechen und Lauten und die Defizienz an Intersubjektivität (392 f.) aufgenommen und korrigiert wird. Denn obwohl Heidegger vom Mit-sein als der tiefen Spur ausgeht, die auch einem fassbaren bewussten Leben noch vorausliegt, erschließt sich dieses in einem Umgang zwischen dem einen und einem anderen Selbst. Die Leibphänomenologie greift gerade nicht auf das gängige Schema von Innenwelt und Ausdruck zurück, sondern thematisiert, wie Gesten in sich selbst transparent werden auf einen Phänomenvollzug (ein Beispiel gibt Heidegger mit Dürers Betenden Händen, 411). Dabei kommen Phänomene in den Blick, die auf das Seiende im Ganzen gerichtet sind, nicht intentional nur auf einzelnes Seiendes. Grundsätzlich unterscheidet sich Leiblichkeit von bloßer Körperlichkeit des Biophysikums. Man gewinnt den Eindruck, ohne dass Heidegger dies explizit begründen würde, dass er von einer transzendentalen Subjektivität zu dem je-meinen Ich durchdringt; ein nicht argumentativ konzeptionell, wohl aber phänomenal sichtbarer Wandel, der die Kritik an der transzendentalen Subjektivität zurücknimmt: und zwar in einer Annahme des Selbst-seins, die aus dem anderen Anfang erst möglich ist. Damit kann verdeutlicht werden, dass und wie die Leiblichkeit zum Dasein gehört und Dasein eo ipso sich in seiner Räumlichkeit zeigt (417). Deshalb kommt auch der ›Gebärde‹ eine zentrale Positionierung zu. Leben ist, wie Heidegger andeutet, »das je in sich befindende Sich-Gebärden« bzw. »die sich befindliche Gebärde« (421). Mit den Reflexivpronomina und damit mit der Sache von Selbstreflexivität bzw. Vorreflexivität experimentiert Heidegger: wobei er sich beständig mit Intentionalität als 465
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Grundirrtum und ›Versehen‹ dieser Konfiguration auseinandersetzt (428). Im Licht des Versehens tritt das authentische Phänomen zutage. Im Horizont der Reflexivität unternimmt er den Versuch, das Leiben als die sich vollziehende volle Leiblichkeit zu fassen, (437 f.) von der aus nicht-reflexive Bezüge wie Tasten (ich taste mich wäre eine Grenzphänomen) oder Sehen exponiert werden können. Immer wieder, auch dort, wo Heidegger über den Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung nachdenkt, kommt er auf die Konfiguration der Leiblichkeit zurück. Gegen-Konzept ist nicht nur die Husserl’sche Intentionalität, sondern auch die Situativität, die bei Sartre und Merleau-Ponty im Zentrum steht (455): Leiblichkeit als eine bloße Situativität würde, so Heideggers Einsicht, die Grundverfassung nicht treffen. Ebenso wenig wie von der Subjektivität ist diese Struktur von der Kybernetik als einer Selbstorganisation nach den Regeln maschineller Reproduktion her in den Blick zu nehmen. Dass der Weltbezug des leibhaften Daseins das Seiende in der Gegenständlichkeit des Gegenstandes als Ding im eminenten Sinn, vor sich bringt, ist eine unvermeidliche Konstellation: Heidegger verweist dabei darauf, dass das Leben sich als Leibkörper selbst eine erste Gegenständlichkeit gibt. Vor diesem Hintergrund entwickelt Heidegger noch in den Seminaren der mittleren sechziger Jahre Überlegungen zur Methode, die auf eine Ausgespanntheit in Raum und Zeit verweisen, gerade nicht auf Positionen der Messbarkeit, und die insofern keineswegs den phänomenologischen Ansatz missbrauchen, um ein umfassendes, letztlich aber ummauertes philosophisches System zu gewinnen: wie dies etwa im Vollständigkeitsanspruch späterer Leibphänomenologien etwa bei Hermann Schmitz der Fall ist. Die Messbarkeitslogik führt in den ›Zollikoner Seminaren‹ nochmals zu eingehenden Überlegungen zu Technik und dem Zeitalter der Automatisierung. Naturwissenschaftliche Bestellbarkeit und Technik als Operationalisierung des Mitseins hängen eng zusammen, wobei er darauf verweist, dass die Technik nicht durch ein Subjektivitätsverhältnis, aber auch nicht durch Verhältnisse von Intersubjektivität überwunden werden kann (552 f.). Gegenüber dem Moment der Ich-Du-Beziehung, für die er neben anderer neuerer Literatur die Monographie ›Der Andere‹ des damals noch jungen Michael Theunissen heranzieht, 32 riegelt Hei32
M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin
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degger seine Denkform allerdings auffällig ab. Er sieht in Intersubjektivität eine ontisch-vorontologische Problematik, die das Verhältnis zum Da-sein nicht von Grund auf wandle bzw. verschiebe (552 f.). Was Heideggers eigene Positionierungen angeht, so kann aus den Aufzeichnungen in der Tat und alles in allem der Grundriss einer Phänomenologie von Leiblichkeit, Selbstsein und Weltwahrnehmung gewonnen werden: einer Metontologie, die mit leichter, souveräner Übersicht auf Heideggers gesamten Denkweg hinblickt und sich dialogisch von Seiten von Boss’ anregen und herausfordern lässt. So kommt es zu Funden einer pluralen Lockerung der Struktur, bis hin zum Nachdenken über Phänomene wie Stress (398 f.) oder das Hinausgehaltensein in den Schmerz (555 ff.). Medard Boss’ Entwicklung einer Daseinsanalytik, die in engem Zusammenhang mit den ›Zollikoner Seminaren‹ steht und die Heidegger ungewöhnlich eng begleitete, kann und soll hier nicht beurteilt werden. Sie scheint mir in ihrem meta-anthropologischen Zugriff für die konkreten therapeutischen Schritte auch Probleme mit sich zu bringen, die die Logotherapie oder auch Freuds Psychoanalyse nicht haben: Dies ist Heidegger nicht entgangen. Er gibt, wie auch gegenüber Bultmann, immer wieder Hinweise auf die Unübertragbarkeit der philosophischen Einsichten in die Wissenschaftsstruktur der Psychologie. So deutet er an, dass das In-der-Welt-sein einen Abbruch zur Weltoffenheit und ihren Kontakten einschließen. Es sollte also nicht mit dem Therapeutikum gleichgesetzt werden. Aufschlussreich sind hier Dialoge, die Boss mit Heidegger führte und die er selbst protokollierte. Die Protokolle von Medard Boss setzen mit den Gesprächen ein, die er mit Heidegger in Sizilien führte. Jene Gespräche im April/Mai 1964 dienten der Vorbereitung für die Harvard-Vorlesungen von Boss und damit auch seiner Konzeption eines daseinsanalytischen Gesamtentwurfs. Deutlicher als in Heideggers nachgelassenen Aufzeichnungen werden dabei die psychosomatischen Phänomene selbst in den Blick gebracht. Was ein Grundmangel der von Boss selbst angefertigten ersten Edition war, 33 ist allerdings die Überkreuzung Heidegger’scher und Boss’scher Gedankenfiguren und die letztliche Un1965. Damit öffnet sich Heideggers Denken in den ›Zollikoner Seminaren‹ explizit der Intersubjektivität. 33 Vgl. zu den editorischen Umständen GA 89, S. 871 ff.
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trennbarkeit von beidem. So werden hier Fälle, die auch in Boss’ psychopathologischem Lehrbuch später ausführlich behandelt werden, wie der Fall der Regula Zürcher, 34 eingehender dokumentiert, als sich dies in Heideggers Aufzeichnungen spiegelt. Boss mag ein Interesse daran gehabt haben, Heideggers Teilnahme übermäßig stark zu betonen. Die Proportionen mögen verschoben worden sein. Allerdings können gerade die Selbstreferenzen von Boss eine Form von Kooperation anzeigen, wie sie auf den Denkwegen Heideggers sonst nicht begegnet ist. Dennoch sind einige ergänzende Topoi aus Boss’ Protokollen von Gesprächen mit Heidegger und aus Seminarprotokollen sehr aufschlussreich: Die Phänomenalität des Leibes müsse vom in-derWelt-sein ausgehen, gerade darin sieht Heidegger die Notwendigkeit, Leiblichkeit zunächst als Fernstes, nicht als Nahes und Nächstes aufzufassen. In jedem Fall kann schon an diesem frühen Exempel deutlich werden, dass die Vorstellung eines ›Innerpsychischen‹, »der Ausgang von einem Bewusstsein« sich als Abstraktion erweise (647). Als Instrumentarium um diese fassbar zu machen, erweist sich dabei die Grundstimmung: Sie greift ungleich tiefer als Freuds Rede von ›Projektionen‹, geht sie doch von der jeweiligen Bewusstseinsimmanenz aus. 35 Abgewiesen wird deshalb auch der Titel des Affektes: Denn afficere: antun führt auf eine verfehlte Spur, da es nicht um eine passive Affektion, ein afficere, zu tun ist, sondern um eine eigene Gestimmtheit des in-der-Welt-seins (651). Von hier her klären sich auch vermeintlich psychische Grundphänomene wie das ›Vergessen‹, die nicht in einer irgendwie unbewussten Absicht bestehen. Heidegger entwickelt sie demgegenüber in einer vielleicht nicht gänzlich befriedigenden Weise als einen negativen Modus des Andenkens und als »Privation des Behaltens« (653). Auch vermeintlich inner-psychische Vollzüge wie Drang, Hang oder Triebe sind auf die Modalitäten des in-der-Welt-seins bezogen; weshalb gegenüber der Psychoanalyse Freuds aus der Heidegger-Boss Perspektive festgehalten wird, dass sie Dasein, wenn überhaupt, dann nur aus der Perspektive des Verfallens auffasse (639). Weitergehend erhellt wird in diesem M. Boss, Grundriss der Medizin und der Psychologie. Bern, Stuttgart, Wien 1975, S. 425 ff. 35 Die Zollikoner Seminare ermöglichten, cum grano salis, Heidegger eine Zwiesprache mit der Tiefenpsychologie, die manche seiner Schüler schon nach dem Erscheinen von Sein und Zeit eingefordert hatten, die er aber seinerzeit verweigerte. Auch vor diesem Hintergrund sind die Zollikoner Seminare ein besonderer Kairos des Denkens. 34
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Zusammenhang auch die Bedeutung des »ich«, nach Heidegger das »Nennen des Selbst als meines«, in dem niemals die Gesamtheit seiner Bezüge und Möglichkeiten mitthematisiert werden kann (660). Boss führt wiederholt in die Debatte indische Denkerfahrungen ein, vor allem die Intention, dass das indische Denken, wobei hier als pars pro toto der Zen-Buddhismus gemeint gewesen sein mag, 36 »keines Hüters« bedürfe, dass es auf Wirklichkeit als eine elementare Lichtung verweise. Heidegger hält dagegen an der Humanität des Humanum fest, dem Menschen als Ankerpunkt des Seins, das sich an ihm »erhellt«. Hellen sei, so betont Heidegger (665), »wie ›Hallen‹ im Sinne von Tönen« – eine Beziehung auf den Grundton. Die Performation der Seminare gibt gleichsam der Partitur von Heideggers Aufzeichnungen erst ihren Klangkörper. Zugleich wird aber deutlich, dass Heidegger nur einen Teil seiner Einsichten und Exzerpte in die Seminargespräche einführen konnte. Dies ist vielleicht trivial und ist in jeder Lehr- oder Aufführungssituation ähnlich. Beachtung verdient es dennoch. Man begreift dabei ansatzweise die Fragebewegung Heideggers, umso mehr als die meisten Protokolle nicht auf das Ergebnis, sondern den Verlauf bezogen sind. Erkennbar wird dabei in der initiierenden Sitzung aus dem Juli 1964, dass die Seminare eine relativ hohe Zielvorgabe hatten. Es gelte, »eine andere Art des Denkens« zu lernen (669), wie sie den antiken Griechen gegeben gewesen wäre. Die Seminardiskussionen formen sich zu elementaren Sehübungen: des Anwesendsein eines Tisches, der Abwesendheit des Feldbergs oder ähnlichem. Auch phänomenologische Begriffe wie Antizipation und Erfüllung werden in die kleine Münze dieser Denk-, Seh- und Leseübungen transformiert, die einen geradezu sokratischen Charakter haben. Es ist ausreichend, eine Sequenz herauszugreifen: »S. 37 Ich bin nicht nur im Raum, ich orientiere mich im Raum. H: Was heißt das? S: Ich bin im Raum, soweit ich ihn begreife. H. Inwiefern? S: Der Raum ist für mich offen, nicht für den Tisch […]. H: Ist der Raum überhaupt etwas für den Tisch?« (675). Die Aporetik soll, wie es in der Philosophie stets der Fall war, anzeigen, dass die Sache, also das Verhältnis von Mensch und Raum, »gar nicht so leicht ist« (680). Siehe H. Hempel, »Die Indienfahrt des Medard Boss«, in: Riedel u. a. (Hgg.), Zwischen Philosophie, Medizin und Psychologie, a. a. O. 37 S bezeichnet den jeweiligen Seminarteilnehmer. Eine Liste mit den Namen findet sich in Heideggers Nachlass. 36
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Die schematisch dargelegte Sichtweise der Naturwissenschaften, die den Menschen als »etwas Vorhandenes« nehme, bezieht sich auf Regeln und Gesetze, und sie fragt, wie sich dazu psychische Grundbegriffe, etwa wie Motivation oder Kausalität verhalten, inwiefern sie überhaupt in einer Weise expliziert werden können, die sich aus dem Raster der neuzeitlichen Naturwissenschaften löst und auf den Satz vom Grund bzw. vom auszuschließenden Widerspruch beziehbar ist (690). Heidegger folgt dabei, wie auch an anderen Stellen seiner ›spätesten Philosophie‹, der phänomenologischen Epoché. Sie setzt in Heideggers Transformation damit ein, dass der Vorrang einer bestimmten Weise von Vorstellung und damit Vorurteil eingeklammert wird. Natur soll nicht als Inbegriff der Erscheinungen missverstanden sein, nicht auf eine »omnitudo realitatis« reduziert werden. Die acceptio, die einer bestimmten suppositio zugrunde liegt, soll, wird in eine Schwebe versetzt. Das, was Raum ist und Zeit, so Heideggers markante Bemerkungen in den Seminaren vom November 1964 (7803 ff.), werde gerade nicht erfasst, sondern nur die Begrenzungen einer Leere, die einen Ort gewähren. Im Husserl’schen Kontext verweist dies auf den Begriff der ›kategorialen Anschauung‹, einer Anschauung, die sich von Gegenstandsanschauung grundsätzlich unterscheidet. 38 In einer Klarheit, die sich der Notwendigkeit einer Explikation über Disziplingrenzen hinaus verdankt, rekurriert Heidegger dabei auf Raum und Zeit: Die vom Seienden ausgehende metaphysische Tradition habe den Raum von den in ihm vorhandenen Körpern her gedacht, die Zeit von den Bewegungen aus: Doch sei nicht der Schritt, den Raum als Raum zu verstehen, erforderlich, wenn der herausgehobene Modus von Sein, Anwesen, in seinem Ursprung gefasst wird und daher nicht vom Sein, sondern von der Zeit her gedacht werden müsse. »Daher ergibt sich die Frage, ob nicht vielmehr das Sein, wenn es als Anwesenheit (Gegenwart) bestimmt wird, gerade umgekehrt von der Zeit her seine Bestimmung empfängt und von ihr gewährt wird?« (707). In dem Novemberseminar 1964 heißt es, in Heidegger’scher Variierung der intellektualen Anschauung, dass »wir« das Wesentliche nicht sinnlich wahrnehmen. Diese Explikation ist in den Seminaren vom Januar 1965, wenn man den Protokollen folgt, nicht direkt, sondern erneut im Rückgriff auf die Augustinische Zeitabhandlung gewonnen worden. Messung 38
Vgl. u. a. Husserliana XIVIII, S. 226 ff.
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der Zeit – in der Ablesung an Bewegung und der Gewinnung eines inner-psychischen Zeitbewusstseins – reiche jeweils nicht aus, wie Heidegger verdeutlicht. Zeit gebe sich, außerhalb und vor jedweder Intentionalität. Heidegger spricht in jenem Zusammenhang von der »Deutsamkeit der Zeit« (720), die jeder intentionalen Gerichtetheit vorausgeht. Die Rede vom Zeit-Haben entfaltet ihr Gewicht vor dem Hintergrund eines sich-Gebens oder Gegebenhabens der Zeit: Die Deutsamkeit versucht Heidegger, in ihren Grundzügen zu klären. Hervorzuheben ist dabei die Einsicht, dass Zeit »nicht punktuell«, sondern selbst in einer Weite als Zeitspanne expliziert ist (726). Daneben habe Zeit immer auch eine Öffentlichkeit: Jetzt oder Heute bzw. Gestern sind niemals nur private, sondern immer geteilte Begriffe. Deutsam und datierbar ist Zeit in der folgenden Weise: Sie ist Zeit für etwas und Zeit auf einen bestimmten Chronotopos hin. Aus dem Kant-Buch wird der Gedanke aufgenommen, dass Zeit aufs engste mit dem Menschenwesen zu tun habe: was auf die Frage führt, ob und inwieweit der Mensch seine Zeit hat. Auf diesem Weg kann Heidegger fundamentale ontologische Fragen aufwerfen, die aus einer Überschau von Fundamentalontologie und Seinsfrage gewonnen sind. Als Beispiel wird genannt, ob der Satz vom Grund Prinzip des Denkens oder des Seins ist und ob er auf den Satz vom Widerspruch zurückgeführt werden könne (690). Im Seminar selbst bleibt diese Überlegung kryptisch. Sie erfordert den Rekurs auf Heideggers Explikation des Satzes vom Grund im anderen Anfang. Doch der kryptische Charakter verweist auf ein Grundkonstituens, das Heidegger den Medizinern auf den Kopf zusagt: Sie befassten sich immer nur und primär mit Privationsphänomenen. Für die Spannung von Krankheit und Heilung ist der Vorrang der Störung geradezu konstitutiv. Gegenüber der Privation wird es als besondere Übung ausgezeichnet, dass Phänomene als das, was sie sind, zur Geltung gebracht werden sollen: also Zeit in ihrer Zeitlichkeit als Zeit. Heidegger expliziert dies in den Seminaren vom März 1965 nicht mehr in direktem Zugriff auf Zeit, sondern auf Weisen des Habens (echein): Haben erscheine, wenn man etwa von der Angst ausgehe, als eine Weise des »Sichbefindens« und damit einer Gestimmtheit. Wenn man vom Zeithaben spricht, mag es sein, wie Heidegger in Evokation eines Zitats aus dem Wörterbuch der Brüder Grimm festhält, dass die Intention auf Zeitlichkeit und Zeit dabei nur das gleichsam Mitschwingende, Mitgegebene, ist während die Intentio471
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nalität im eigentlichen Sinn auf den Zweck dessen gerichtet ist, für den man Zeit. Wenn von der Grundstimmung her Weisen des in-derWelt-seins benannt werden, so bedeutet dies ein eigenes Sich-Einlassen in das Verhältnis zu Begegnendem« (815), auch zum Begegnungssinn von Krankheit und Störung. Heidegger explizierte dabei mit Verve den Unterschied zwischen dem Sich-einlassen und der wissenschaftlichen Methode (815 f.). Das Verhältnis zur Wissenschaft differenziert Heidegger dabei gegenüber anderen scheinbar apodiktischen Aussagen: Wissenschaftliches Weltverhältnis werde keineswegs zurückgewiesen, sein Ausschließlichkeitsanspruch werde aber in Frage gestellt. Ob und wie sich die Wege in einer Komplementarität ergänzen oder in der Unendlichkeit schneiden können, macht Heidegger freilich auch in den Zollikoner Seminaren nicht deutlich. Der phänomenologische Weg müsse selbst gegangen werden, um kenntlich zu sein, er könne nicht axiomatisch im Sinn einer Methodologie vorbestimmt werden. So werden Formen des Mitseins unterscheidbar, ein nur räumliches Nebeneinander oder die Gesprächssituation unterscheiden sich fundamental voneinander. Beide Anfänge, der erste und der andere, rücken aus der Perspektive jener Seminare in einen unmittelbaren Zusammenhang: Heidegger betont, dass schon in Sein und Zeit die Seinsfrage die eigentlich leitende Frage ist. Umgekehrt ist auch in den Seminaren vom Dasein die Rede und eben nicht einfach vom ›Menschen‹. Die Rede vom Menschen wird nun nicht mehr peinlich vermieden; korrigiert wird aber ihre Reduktion auf eine Rede von Bewusstsein. Es ist für medizinische Kultur im besonderen ebenso wie für wissenschaftliche Kultur im allgemeinen unstrittig eine Zumutung, dass Heidegger von seiner Ausgangsfrage der »vielfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles« ein nicht-rechnendes, therapeutisch relevantes, eben daseinsanalytisches Grundverhältnis gewinnen möchte. Heideggers Gesprächspartner äußern sich in einer erfreulich kritischen Weise, die in den Dokumentationen seiner universitären Seminare kaum begegnet. In dem Seminar vom 23. November 1965 kommt ein dreifacher Vorwurf zum Tragen, der freilich in erster Linie Medard Boss gilt: »1. Die Daseinsanalyse sei wissenschaftsfeindlich, 2. [sie] sei gegenstandsfeindlich 3. [sie] sei begriffsfeindlich« (821). Heidegger trifft in Auseinandersetzung mit Binwangers Entwürfen die aus Sein und Zeit bekannte grundlegende Unterscheidung zwischen ›ontologischem‹ und ›ontischem‹ Verständnis. Sie trägt aber eigentlich nicht weiter, da die nicht mehr auf einzelne wissenschaft472
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liche Denkgewohnheiten bezogene Phänomenalität der Phänomene auch für den Mediziner und Psychologen den ontologischen, nicht nur ontischen Gebrauch voraussetzt. Dadurch erhöht sich die Zumutung an eine konventionelle Wissenschaftlichkeit. Heidegger drückt das Spezifikum in dem Seminar vom 23. November 1965 so aus: »Das Entscheidende ist, dass die jeweiligen Phänomene, die im Verhältnis von Analysand und Analytiker auftreten, in ihrer Zugehörigkeit zum betreffenden konkreten Patienten von sich her in ihrem phänomenalen Gehalt zur Sprache gebracht und nicht einfach pauschal unter ein Existenzial untergeordnet werden« (836). Auch diese Aussage antwortet eher unzureichend auf den Einwand eines Seminarteilnehmers: »Die Schwierigkeit für uns liegt darin, dass Professor Boss das naturwissenschaftliche Denken aus der Psychologie verbannen will, wir aber doch Naturwissenschaftler bleiben wollen« (834). Damit wird, fast wortwörtlich, ein Diktum von Sigmund Freud gegenüber C. G. Jung wiederaufgenommen: »Wir wollen Ärzte bleiben«. Der naturwissenschaftliche Duktus ist in der Psychoanalyse offensichtlich darin mitgegeben, dass die Seelenzergliederung in Entsprechung zu Zergliederung chemischer Phänomene entwickelt wird. In welchen Grenzen kann nun eine metontologische therapeutische Wissenschaft gewonnen werden? Kann dies nur durch Ausblendungen geschehen, wie sie offensichtlich in der Literatur zu den ›Zollikoner Seminaren‹ immer wieder begegnet? Die Frage ist rasch verneint; auch im Licht der Heidegger’schen Bemerkungen. Doch eine Verhältnisbestimmung, die über das Destruktionsverhältnis hinausgeht, ist Heidegger schuldig geblieben. Deshalb bleibt die Debatte, die die ›Zollikoner Seminare‹ anstoßen, offen. * Andrerseits und in der Zusammenschau sind die Zollikoner Seminare, wie auch immer es mit der Augenhöhe von Boss bestellt gewesen sein mag, ein Textkorpus sui generis: Hier äußert sich Heidegger in einem pluralen Verständniszusammenhang in der Zwiesprache mit Nicht-Philosophen, was ihn herausfordert, in Übertragungen und Kreuz- und Quer-Zügen sein Verständnis zu explizieren. Das Eine und Selbe der Seinsfrage leidet darunter nicht. Es tritt umso eindrucksvoller hervor. Ein solches Grundverhältnis war mit einer wissenschaftlichen therapeutischen Disziplin möglich, die in ihrem the473
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rapeutischen Zugriff ganz und gar auf den Menschen bezogen sein musste, obwohl Heidegger nachdrücklich und wiederholt den nichtanthropologischen Charakter der Daseinsanalyse betonte. Mit der Theologie oder den Literaturwissenschaften fanden solche Dispute nicht statt: Die Verhältnisse der Fachwissenschaften waren arbiträr, Heideggers Gestus blieb abweisend. Im Rückblick erweist sich hier einerseits noch einmal die Bedeutung des metontologischen Verweisungszusammenhangs, sodass man wünschen könnte, Heidegger hätte sich ihr stärker anvertraut. Es zeigt sich ein Denken in Übertragungen, Vertiefungen, das seine Andersheit gegenüber der Wissenschaft nicht preisgibt – und das vielleicht darum geeignet ist, die Wissenschaft denken zu lassen. Phänomenalität und Problematik des ›Schmerzes‹ beschäftigte Heidegger zwischen 1942 und 1959 in einer Reihe von Ausarbeitungen. In den ›Zollikoner Seminaren‹ finden sich immer wieder vereinzelte Analysen des Schmerzphänomens. Doch die genaue eindringliche Bestimmung bleibt den Zetteln vorbehalten. Er benennt den Schmerz als das »widrig Anfallende«, das »im Gesichtskreis von Leib und Seele (zoon als animal) begegne« (31). Der Schmerz ist inkommensurabel, so Heideggers Einsicht. Er kann in keinen Kalkül zurückgeführt werden. Heidegger charakterisiert den Schmerz schon vorgreifend als bekannt, in verschiedenen Zusammenhängen präsent, sodass die Vermutung entsteht, er müsse sich »ohne andere Erfahrung erkennen lassen und für jedermann sogleich verständlich werden« (30). Dies verbindet den Schmerz im Vorgriff mit Sein, seiner breiten, scheinbar willkürlichen Streuung und Unfassbarkeit. Das unmittelbar einleuchtende Phänomen, dass der Schmerz aus den Weltbezügen wegreißt auf seine Binnenlage fokussiert, einmauert, dass er für sich einnimmt und die Wahrnehmung völlig auf sich fixiert und eingrenzt, bringt Heidegger mit dem Ereignischarakter von Schmerz in engen phänomenologischen Zusammenhang. Der Schmerz ist ein Zeichen, das keine Deutung finden kann und auch keiner Deutung bedarf: Er sei daher »Zeichen des Ereignisses«, da er sich selbst ereignet (35). Zum Ereignischarakter kommt aber der Riss-Charakter hinzu, der sich indes meistens verbirgt, sofern der Schmerz auf psychosomatische Affektion reduziert wird. Es sei nur daran erinnert, dass der Riss zwischen aufgehender Welt und sich verschleißender Erde auch Heideggers Wesensbestimmung des Kunstwerkes bestimmte. Vom 474
Souveränität im Hintergrund – Zollikoner Seminare
Kunstwerk her ist es der Riss in der Seinsfuge, der die ontologische Differenz nicht nur als ein Gedankengebilde, sondern als Geschehen und geformte Gestalt ausweist. Im Gedankenkreis der Metaphysik und ihrer Begrenzung werde der Schmerz als Störung aufgefasst, die »zuständlich« und »subjektiv« (37) sei. Gegenüber den Mustern physiologischer bzw. psychologischer Schmerz-Deutung evoziert ihn Heidegger als Zeichen des Anfangs selbst: als »Lichtung« der Differenz zwischen Sein und Seiendem. Dies teilt er etwa mit der Langeweile oder der Depression, in denen konkrete intentionale Weltbezüge zurücktreten und menschliches Dasein in das Sein des Seienden im Ganzen ›hineingehalten‹ ist. Bezogen auf die Topologie des Schmerzes bleibt es bei Andeutungen, die auch in den ›Zollikoner Seminaren‹ nicht weitergehend ausbuchstabiert werden können. Schmerz entzieht sich in jedem Fall der in Physiologie und Psychologie zugrundeliegenden Erlebnisdimension. So kryptisch zunächst die seinsgeschichtliche Deutung des Schmerzes bleibt, die Aussage, dass er »die Bergung des Seyns« sei (40), umso eindrücklicher unternimmt Heidegger unter dem Titel Die Metaphysik des Schmerzes eine genauere Differenzierung. Schmerz kann sich als Gespürtes, Gefühltes (wie im Gefühl der Trauer) und als Einheit verschiedener Spürenszusammenhänge als ›Leid‹ darstellen. Er weist insofern auch eine besondere Affinität zum Bösen, Negativ-Widrigen auf: der Nicht-Befriedigung und Unruhe im Seienden im Ganzen (42). Die Aristotelische, auch bei Thomas von Aquin wiederholte Aussage, dass aller Sinn in seinem Wesenskern Tastsinn sei (41), der Rückgriff auf den umfassenden, transdifferenziellen Charakter der aisthesis, dirigiert Heideggers Schmerz-Typik. Vor diesem Horizont wird die Frage nach dem ›Sinn‹ des Schmerzes nicht einfach ad absurdum geführt. Sie kann aber am metaphysischen Schmerz nur darin präsent werden, dass die Sinnhaftigkeit in eine immer weitergehende immanente Schmerzerfahrung eingeht. Schmerz ist widerständig darin, dass er nicht dem Prinzip des zureichenden Grundes unterliegt. Neben dem Riss-Phänomen ist es das ›Zerbrechen‹, das in die Grunddifferenz des Sinns von Sein einführt, in dem das Ereignis selbst wirksam werde. Aufgrund dieser Inständigkeit in der Wahrheit des Seins ist der Mensch in Leid- und Schmerzerfahrung er selbst. Ähnlich wie bezogen auf das Wesen der Sprache, formuliert Heidegger: »Nicht den Schmerz menschlich denken, sondern den Menschen schmerzlich« (51): Damit sei die anfängliche Wendung und Um475
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
wandlung vollzogen, in einem Denken, das vom Schmerz ausgeht und ihn als eine eminente Anzeige der Wahrheit des Seins versteht. Heidegger fasst den Schmerz also als Zentrum in jener Topologie auf, die mit Achtsamkeit, dem vermeintlich Unnötigen, das aber das Not-Wendige sei (53), verflochten ist. So ist der Schmerz eine Grundform der Gelassenheit, des Geschehen- und Sein-lassens.
32. Später Rückblick: Der Lehrer – Heideggers Kunst des Seminars Wegscheiden der Metaphysik Die Zollikoner Seminare bilden durch ihren Disziplinen übergreifenden Ansatz ein Unikat. Doch Heideggers Seminarkunst zeigt sich weit darüber hinaus. Fast mehr noch als die großen Vorlesungen haben seine Seminare den Rang des philosophischen Lehrers befestigt. Soweit die Seminare heute in Editionen vorliegen, zeigen sie eine präzise und detaillierte Vorbereitung Heideggers, der sich durch Skizzen, Relationierungen zum eigenen Denken des anderen Anfangs dokumentiert. Nur ein Teil dieser Überlegungen geht in der Regel in die Seminare ein, jedenfalls insofern sie in den Mitschriften dokumentiert sind. Ein besonderer Reiz kann darin liegen, dass spätere Zelebritäten der Philosophie wie Ernst Tugendhat, Rainer Marten oder Heribert Boeder unter den Autoren der Protokolle sind. Soweit man es sieht, änderte sich Heideggers Seminarstil, dessen Einzigartigkeit Hannah Arendt in starken Worten evozierte. 39 Erkennbar ist auch in den Nachschriften die Fokussierung auf einzelne relativ schmale und eben darum repräsentative Textauszüge, die dann umso stärker und expliziter umgewendet und geprüft werden. Es gehört zum Kernbestand der Heidegger-Anekdoten, dass er wie kein anderer Seminare gehalten habe. 40 Nach Jahrzehnten noch erinnerten sich seine Schüler an diese Unterweisungen im Denken und vor allem im langsamen und gründlichen Lesen. Jüngste Bände der Heidegger-Gesamtausgabe erlauben einen Blick der Überprüfung. H. Arendt, »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, in: G. Neske und E. Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, a. a. O., S. 232 ff. 40 Martin Heidegger, Seminare. Platon-Aristoteles-Augustinus, hg. von Mark Michalski, GA 83, Frankfurt/Main 2012. 39
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Später Rückblick: Der Lehrer – Heideggers Kunst des Seminars
Der umfängliche Band, GA 83, versammelt Seminare zur griechischen Antike aus unterschiedlichen Zeiten: beginnend mit Übungen zur Aristotelischen Physik im Sommersemester 1928, über ein Seminar zu Platons ›Parmenides‹ (WS 1930/31), enthält er weitgreifende Aufzeichnungen zu Augustinus Confessiones XI aus demselben Wintersemester, die auch eine Art Vorübung zu dem in GA 83 erscheinenden Beuroner Vortrag aus dem Sommer 1930 sind. Es schließen sich – wenig aussagekräftige – Seminarinterpretationen zum Platonischen Phaidros an (SS 1932); immerhin wird aber hier das Corpus der bekannten Platon-Interpretationen Heideggers deutlich erweitert, nicht zuletzt auch durch knappe aber tief schürfende Notizen zu Platons Parmenides-Dialog aus dem WS 1930/32. Noch im Sommersemester 1944 interpretierte Heidegger ausgewählte Passagen aus der Aristotelischen Metaphysik eine sehr tiefdringende und dichte Rückfrage nach dem Aufriss der Metaphysik. 1950/51 setzt er in Freiburg wieder ein: mit ›Übungen im Lesen‹ zur Aristotelischen Physik B1. Diesen Kurs führte er durch drei Semester fort. Dabei zog er auch Verbindungen zur Metaphysikgeschichte zwischen Kant, Leibniz und Hegel, die teilweise bemerkenswert über die Konzeption der Seinsgeschichte hinausgehen, wie sie Heidegger im Zug der ›Kehre‹ formuliert hatte. Unverkennbar wird der Zusammenhang der Frage nach dem ›Wesen der Technik‹ mit der Aristoteles-Interpretation. Heideggers sehr umfassende Seminaraufzeichnungen bilden das Zentrum unserer Kenntnis von den Seminaren. Sie lassen sich nicht einzelnen Seminarsitzungen zuordnen und sind oft stichwortartig abbreviativ, zumeist, wie das Herausgeber-Nachwort sorgfältig verzeichnet (665 ff.), auf der Rückseite von Karteizetteln notiert. Jeder Interpret sollte daher behutsam sein, dass er diese eigentümlichen Texte nicht mit Deutungen überfrachtet. In (insgesamt 5 Anhängen) werden die datierten und zuordenbaren Protokolle mitabgedruckt. Sie bilden mehr als zwei Drittel des umfänglichen Bandes. Diese Protokollierungen sind naturgemäß von unterschiedlicher Qualität und verschiedener Verständnistiefe. Es finden sich bekannte, ja berühmte Namen unter den Protokollanten: der spätere Neutestamentler Ernst Fuchs, die Philosophen Wilhelm Weischedel, Walter Biemel und für das WS 1950/51 durchgehend Ernst Tugendhat, neben Namen, die nur aus dem engeren Heidegger-Umkreis geläufig sind, wie Simon Moser. Man findet freilich auch ganz unbekannte Autoren. Ungeachtet dieser wechselnden Qualität wird durchgehend deutlich, dass Heidegger im Seminarverlauf klärend und behutsam vorgegangen ist 477
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
und seine Einsichten keineswegs jählings und ›Gewalt brauchend‹ den Teilnehmern seiner Seminare oktroyiert hat. Heidegger hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Aristotelische Physik als Grundbuch abendländischer Metaphysik zu lesen sei. So konzentriert sich das frühe Seminar zur Physik vor allem auf die Analyse der Bewegung. Bewegung im Aristotelischen Sinn versteht Heidegger als »Leitfaden zur ontologischen Interpretation« des Vorhandenen. Damit verweist die Bewegtheit auf Temporalität, und sie weist sich als grundlegend für das Seinsverständnis aus. Heidegger gebraucht, soweit man seinen eigenen Aufzeichnungen entnehmen kann, gegenüber dem phänomenologisch hermeneutischen Instrumentarium von Sein und Zeit ein verändertes Begriffsinventar: So spricht er insbesondere von der »Bekundlichkeit« als dem möglichen Eingehen des Seins in eine Welt. »Weil Dasein faktisch metonologisch abhängig vom Seienden (›Natur‹) (vgl. Goethe, Natur). Mitten ›in‹ der Natur sind wir ihr fremd! Entgegen-kommen nicht im Erfassen erst, sondern auf Grund der Geworfenheit in …« (21). 41 Die ausgeführten Protokolle konzentrieren sich auf ›Physik Gamma‹. Sie erläutern den Begriff der ›Pragmata‹ weiter und dokumentieren ebenfalls einen Fokus auf der Freilegung des Bewegungsphänomens. Von hier her konzentriert Heidegger das Augenmerk auf den Aristotelischen Energeia-Begriff, von dem her die Konzeption vom Seienden im Ganzen und dem theoretischen Weltverhältnis sichtbar gemacht wird. Man hat den Eindruck einer beständigen Selbstüberprüfung der Konzeption von Sein und Zeit, aber auch von Heideggers früheren phänomenologischen Interpretationen am Aristotelischen Text. Ob Heidegger nun das Seminar zum Platonischen ParmenidesDialog zusammen mit dem Klassischen Philologen Wolfgang Schadewaldt in Freiburg abgehalten hat oder nicht,-die wenigen ebenso dichten wie textnahen Aufzeichnungen gehören in jedem Fall in die Nachbarschaft seiner magistralen Marburger Sophistes-Vorlesung (GA 19, WS 1924/25). Er folgt dabei einer dreifachen Leitfrage. Sie richtet sich einerseits auf die ›innere Mannigfaltigkeit‹ des ›hen‹ und die Mannigfaltigkeit der ›eidé‹ (28). Andrerseits und vor allem aber zielt Heidegger auf eine Rekonstruktion der Dialektik, des ständigen Übergehens. Hierin sieht er die ›Erschütterung‹ einer Philosophie, die im Sinne der mittleren Sokrates-Dialoge ontisch verfahre und das Alle Seitenhinweise beziehen sich auf den hier exemplarisch herangezogenen Band. Alle Hervorhebungen finden sich so im Original.
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Später Rückblick: Der Lehrer – Heideggers Kunst des Seminars
Sein jeweils auf das ihm innewohnende eine eidos beziehe, das sich nicht mit seinem Gegenteil verbinde. Mit dieser ›Erschütterung‹ verbunden, komme allererst die ontologische Dimension ins Spiel. Sie wird auf den Vorbereitungszetteln sogar mit dem Ausruf: »Wunderbar!« kommentiert. »Daß Seinsbestimmungen als solche in sich das Gegenteilige ertragen und tragen, in sich also in Zusammenhang stehen mit Gegenteiligem«. (27). Besonders weist Heidegger darauf hin, dass die Gymnasia (Übung), als die die verschiedenen HypothesisReihen des ›Parmenides‹ verstanden wurden, als Einüben einer Haltung zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang akzentuiert er Hegels Bestimmung in der Schrift ›Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie‹ (1802), wonach der Platonische Parmenides »das ganze Gebiet jenes Wissens durch Verstandesbegriffe umfaßt und zerstört« (36). Eine nähere Explikation des Verhältnisses zur Hegel’schen Dialektik wird späteren Hegel-Studien Heideggers in den dreißiger Jahren vorbehalten sein, die hier anschließen (GA 68).
Augustinus’ ›Confessiones‹: noch einmal Die Aufzeichnungen zu den Confessiones Augustins versuchen zunächst (vor allem im Blick auf Kapitel 20–22) zu zeigen, dass Augustin die Zeit ›dreifältig‹ denke, »dreifach anwesend, dreifach auf Anwesendes bezogen« (54), sodass sich der Zeitraum als distentio aufspannt. Heideggers Textinterpretation bleibt dabei strikt textimmanent, sodass er es sich – leider – versagt, naheliegende Ligaturen zu der Trinitätsphilosophie Augustins zu ziehen. Das Augustinische Zeitverständnis kulminiere in der Bestimmung von Liebe als »volo ut sis: Gott Gott sein lassen, das Seiende das Seiende sein lassen, das es ist« (56). Die Confessio thematisiert er ähnlich wie die Gymnasia im Parmenides als philosophische Grundhaltung, ohne die die Frage nicht sachgemäß aufgeworfen werden könnte. Differenziert gehen Heideggers Aufzeichnungen indes dem Problem der Zeitmessung nach, wobei er gerade die Objektivität des Zeitraums und die Bewegung der Dehnung als ein inter innerhalb des Geistes (der mens) voneinander unterscheidet. Augustinus vollziehe zwei Gedankengänge: Im ersten gehe er davon aus, dass Zeit ›ist‹, im zweiten orientiere er sich an der Bewegung der Himmelskörper, denen Zeit abgelesen werden kann. Zu differenzieren ist daher zwischen der res in tempore und dem 479
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
tempus selbst. Die Aufzeichnungen und auch die Protokolle sprechen jedenfalls dafür, dass Heidegger keineswegs seine eigenen Temporalitäts-Konzeptionen in Sein und Zeit in den Augustinischen Text hineinlas, sondern sich vielmehr selbst durch eine möglichst genaue Augustin-Interpretation in Frage stellen ließ. Das Seminarkonvolut zum Phaidros, jenem Dialog, in dem die sogenannte Schriftkritik Platons begründet ist und der zugleich die philosophische Rhetorik skizziert – eine Rhetorik nämlich, die die Erkenntnis der ›Idee des Guten‹ voraussetzt und auf diese Weise zur Seelenführung ›Psychagogia‹ wird – ist umfangreich. Es enthält immer wieder textnahe starke Beobachtungen. Doch insgesamt fehlt der Interpretation der Leitfaden, der in den Aristoteles- und Augustin-Seminaren stark hervortritt. Für die Komponiertheit und den Anspielungsreichtum Platonischen Denkens zeigt Heidegger wenig Verständnis. Er weist durchaus nicht ganz zu Unrecht auf die Scheinfragen und Anachronismen hin, die sich in historisch philologische Annäherungen an das Platonische Denken eingeschlichen haben, und er neigt zu einer Totalverwerfung philologischer Fragestellungen. Hier könnte sich doch ein Mangel zeigen, dessen sich philosophische Interpretationen antiker Texte (wie etwa Theunissen mit seinem magistralen Pindar-Werk gezeigt hat) nicht mehr schuldig machen dürfen. 42 Man bemerkt aber deutlich, dass die Platonische Dialogform und offene Begriffsstruktur Heidegger ungleich ferner liegt als die Aristotelischen Untersuchungen. Er versteht, wie er es prägnanter im Blick auf Heraklit und Parmenides tun sollte, lógos als Rede und Sammlung. Damit redet er einem apophantischen lógos-Verständnis. Dies ist nicht neu und der lógos als ›Lesende Lege‹ wird im Blick auf Heraklit (GA 55) deutlicher entwickelt werden. Auf die Zusammenhänge zur mania und zum eros macht Heidegger aufmerksam. Charakteristisch ist es, wenn er Nietzsches Rhetorik-Vorlesung zitiert: »Sprache ist Rhetorik« und sogleich hinzusetzt: »besser: Dichtend!« (108). Die Differenz zwischen beiden Behauptungen und ihrer komponierten Verbindung in eben diesem Platonischen Dialog wird freilich nicht weiter ausgeleuchtet.
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M. Theunissen, Pindar: Menschenlos und Wende der Zeit. München 2000.
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Aristoteles und Leibniz Ganz bei seiner Sache ist Heidegger wieder im Sommer 1944, bei der Aristotelischen Ontologie in Interpretationen zur Metaphysik. Aufzeichnungen lassen erkennen, dass der Aufriss der Aristotelischen Seinsfrage insgesamt freigelegt werden sollte: von der Bestimmung des Seienden als Seienden (to on he on), über die Problematik des pollachos legomenon und die Einheit der Seinswissenschaft und die innere Struktur der ti estin–Frage (›Was ist etwas seinem Wesen nach?‹). Auch dem Stoff (der chora) wendet er sich zu: Die Zweideutigkeit zwischen dem Sein als koinon und als einzelnem Seienden (to de ti) sei Indiz für die Unentschiedenheit, die im Aristotelischen ersten Anfang der Philosophie zwischen Denken und Sein und der wechselseitigen Fragerichtung vom Seienden zum Sein und vom Sein zum Seienden noch bestehe (163). Das Schwerste bei der Lektüre des Aristoteles sei die elementare Einfachheit, das Vor-Augen-Stellen der Beziehungen und Beweise, eine »einfach Ausweisung« (171), das durch spätere Theorie- und Lehrbildungen geradezu verschüttet worden sei. Dieser Leitfaden, als sähe frei nach Walter Schulz’ Diktum ihm nicht nur Heraklit, sondern auch Aristoteles über die Schulter, bestimmt den Duktus der Seminaraufzeichnungen. Das nicht endende Fragen, sowohl gegenüber Aristoteles als auch gegenüber dem eigenen Blick, versetzt Heidegger in seinen eigenen Aufzeichnungen mitunter regelrecht in einen Strudel von Aporien. Deutlich wird: An Fragen und Aporetiken, nicht etwa an leichtfertigen Thesen und klingenden zu großen Münzstücken ist Heideggers Philosophie entwickelt worden. Die Protokolle zeichnen mehr oder minder gewandt den Gang der Sache, die Forderungen des Textes nach. Es tritt eine Sachlichkeit zutage, hinter der der philosophische Lehrer fast zum Verschwinden kommt. Die Seminarprotokolle machen noch eindrucksvoller deutlich, als Heideggers eigene Zettel, mit welcher Konzentration er die Bücher Gamma und Zeta der Aristotelischen Metaphysik interpretiert hat. Heidegger bemüht sich um die Klärung des Episteme-Begriffs, in Abhebung zur Kantischen transzendentalen Vernunftkonzeption. Von hier her wird die Struktur des Wissens auf die ontologische Struktur des Seins des Seienden (on he on) bezogen. In Bezug auf den pollachos-Charakter arbeitet Heidegger die analogische Verfassung des Seienden heraus und damit die Doppeldeutigkeit zwischen 481
Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
dem Seienden als solchem und dem höchsten Seienden (kyriotaton) als der Gottesfrage. Die Erwägungen schließen sich am Ende wieder auf die Frage der Episteme und das sich-Zeigen des Seienden, womit der delotische Wahrheitsbegriff aus Sein und Zeit weiter profiliert wird. Die Protokollierung des Seminars macht auch deutlich, dass Heidegger zwar auch hier bestimmte Fragestellungen der disziplinären Philologie von vorneherein als irrelevant zurückwies. Dies ist aber, gerade in den Aristoteles-Interpretationen, keineswegs mit einer Geringachtung des Wortlautes zu verwechseln. Um ihn bemüht er sich vielmehr mit außerordentlicher Akribie. Die Leseübungen nach 1950/51 und im Sommersemester 1950 konzentrieren sich auf die Aristotelische Physik und in der Sache auf die Kausalitätsproblematik. Im Horizont der Unterscheidung zwischen ›Grund‹ und ›Ursache‹ beleuchtet Heidegger vor allem die Ausprägung des aitia-Begriffs. Was ist Prinzip? Was ist Begründung?: Dies führt zu einer eingehenden Reflexion auf die ›Transzendenz‹ des Phänomens gegenüber dem denkenden Subjekt und zugleich der Gegenständlichkeit des Gegenstandes. Mit Aristoteles aitia-Begriff wird das Anfangsproblem einschlägig thematisiert. Heidegger fordert bei allen Ausgriffen bis zu Kant und Heisenberg immer wieder dazu auf, zu der Aristotelischen Anfangsfrage zurückzukehren. Dies artikuliert er etwa seiner Übersetzung von Physik B 3: »Nachdem durchgegrenzt nun dieses, ist die Hinsicht zu nehmen/Ausschau zu halten im Umkreis der Ur-sachen, welche sowohl als auch wie viele der Anzahl nach es sind«. Der Begriff der aitia bestimmt daher die Vier causae-Lehre, in ihm bleibt aber auch noch die ›Schuld‹-Frage des tragischen Griechentums erkennbar und zugleich der Begriff von phýsis als ›von sich her Aufgehen‹. Während ansonsten in diesem Band die Seminarprotokolle den Eindruck der Aufzeichnungen Heideggers erweiterten, ergänzten, aber nicht grundsätzlich modifizierten, ist dies bei den dreisemestrigen an Aristoteles’ Physik und Metaphysik orientierten Leseübungen seit dem Wintersemester 1950/51 anders. Dies hat auch damit zu tun, dass die Aufzeichnungen sehr verstreut sind, oftmals eher Einzelstellenkommentar und Übersetzung, dann wieder Einsprengsel ›seinsgeschichtlicher‹ Grundlinien der Denkgeschichte. Für alle drei Semester liegen durchgehende Protokolle von Ernst Tugendhat vor; für den Winter 1951/52 ergänzend ein durchgängiges Seminarprotokoll von verschiedenen Studenten (darunter auch spätere Zelebritäten wie Gerhart Schmidt, Heribert Boeder und Ernst Nolte). Diese 482
Später Rückblick: Der Lehrer – Heideggers Kunst des Seminars
Mehrstimmigkeit ist eine faszinierende Ergänzung, auch wenn die Klarheit von Tugendhat von den anderen Protokollanten kaum erreicht wird. Die Protokolle bestätigen den Eindruck einer hoch anspruchsvollen, differenzierten, sich auch selbst in Frage stellenden und nicht selten selbstironischen Lehrform, die zugleich in die eigenen Forschungen einführt. Wie wird dabei der Gang der Lehrveranstaltungen rekonstruierbar? Heidegger beginnt das Exerzitium mit Überlegungen zur ›Kausalität‹: Dabei hebt er die Aristotelische aitia-Forschung von dem Kantischen Gegenstands-Begriff und der Korrelation der Möglichkeit der Erkenntnis mit der Möglichkeit der Gegenstände ab. Nicht eine transzendentale Erkenntniskonstitution, sondern vielmehr das Gegeben-sein der ousía, (Phsik A 2, 185 a) und der Zusammenhang des Wissens mit kinesis und metabole mache den Ansatzpunkt der Aristotelischen Kausalitätskonzeption aus. Die Reduktion von Bewegung auf Ortsbewegung in der neuzeitlichen Naturphilosophie wird, ausgehend von einer Galilei-Stelle, differenziert diskutiert. Als für den Seinsbegriff leitend, bringt Heidegger den Aristotelischen phýsis-Begriff ins Spiel. Dies ist im Wesentlichen aus seinen Aristoteles- und Kant-Aufsätzen und edierten Vorlesungen bekannt, es wird hier aber mit einer Skrupulosität gegenüber den Texten vorgetragen, die in dieser Weise im gedruckten Werk sich selten findet. Die Protokolle vom Sommersemester 1951 zeigen dann zunächst eine Verlagerung von der Kausalitätsfrage zur tatsächlichen Interpretation von Physik B 1: die Spezifizierung des Seienden nach dem eidos; Heidegger übersetzt: »dem sich bietenden Anblick«. Das Unterscheiden (krinein) zwischen den Naturdingen (physei onta) und den Artefakten (techné onta) führt zu einer Erläuterung des griechischen Denkhorizontes in der Feststellung der Kategorien. Kategoria hekáste erläuterte Heidegger als »jeweilige Herausstellung«, die zugleich ein Jeweiliges, also die Hinsicht (pros ti) sichtbar macht. Von den kategorialen Überlegungen wendet sich die Untersuchung dann dem Satz zu: »hypokeimenon ti kai hen hypokeiméno« (B1 192 b34); dem Aufweis, dass die phýsis ousía (also Sein) ist. In einer bemerkenswerten Skizze umreißt Heidegger einen Vergleich mit dem Votum der Husserl’schen Phänomenologie, dem ›Zu den Sachen selbst!‹. Auch die Kantische Transzendentalphilosophie wird als Gegenüber zu Aristoteles immer wieder ins Gespräch gebracht. Als Forderung macht Heidegger geltend, die Umgrenzung des jeweiligen Begriffs von Wissen und des Ansatz- und Fragehori483
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zontes einer Ersten Philosophie zu erfassen. Gerade auch in Nebenbemerkungen zu Descartes oder Leibniz gibt er zu erkennen, wie ernst es ihm damit ist. Dass es verschiedene Formen der Ersten Philosophie gibt, ist keineswegs ein Argument für einen Relativismus, wie er betont. Jedes Fragen beruhe auf einer bestimmten Position: »Zu sagen, das sei Relativismus, ist unsinnig. Wenn einer das sagt, muß man immer gleich fragen: Was verstehen Sie unter ›absolut‹, wenn Sie von ›relativ‹ sprechen? Dann ist er gleich zu Ende« (547). Damit aber zeichnet sich eine Frage nach dem Sinn von Sein und dem Seienden im Ganzen ab, die über den Bruch zwischen erstem und anderem Anfang hinausführt. Heidegger schließt das Sommersemester (551) mit dem Verweis auf Einzigkeit und zugleich Reichtum des Aristotelischen Seinsbegriffs kraft der Bestimmungen phýsis, aitía, hypkeitsthai, energeia und aletheia. Der Begriff der ›Destruktion‹ wird damit noch einmal neu positioniert, im Sinn des Abbaus der Verdeckungen des Anfangs griechischer Philosophie. Philosophisch am anspruchsvollsten ist unstrittig der letzte Seminardurchgang, die Übungen vom Wintersemester 1951/52. Heidegger wendet sich hier zunächst der Problematik der arché zu, der Begründung des Anfangs. Im Zentrum steht aber die vergleichende Präzisierung der ontologischen Frage nach dem Sinn von Sein; dabei unternimmt es Heidegger, den Aristotelischen Seinssinn sehr differenziert von der Kantischen Bestimmung des Seins als Position abzuheben; besonders sorgfältiges Augenmerk wendet er dabei auf die Modalkategorien und die Entwicklung des Kantischen Seinsbegriffs in der frühen Beweisgrund-Schrift (636). Dort fällt bekanntlich das erste Mal die Aussage: »Das Dasein ist gar kein Prädikat oder Determination von irgend einem Dinge« – mit der Zusatzbestimmung: »Kann ich wohl sagen, daß im Dasein mehr als in der bloßen Möglichkeit sei?«. Auch der Cartesische Gottesbegriff, der über den Beweis der ›objektiven Realität‹ in der III. Meditation verläuft, spielt eine Rolle. Heidegger macht Differenzen und Kontinuitäten zwischen transzendentalphilosophischer ›Realität‹ und dem Verständnis von ›Thesis‹ in der griechischen Philosophie deutlich. Die mikrologischen, an einzelnen Problemfeldern sich abarbeitenden, dabei durchaus eigenes Nicht-Wissen und Ungeklärtheiten mit reflektierenden originellen Fragestellung sind (vor allem in der Tugendhat’schen Protokollierung) geeignet, hinter Heideggers eigene Begriffe zu den Sachanalysen vorzudringen, die ihnen zugrunde liegen. Heidegger wird damit wieder der Aristoteles-Forschung zurückgegeben. Seine 484
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Überlegungen könnten auch für ontologische Arbeiten anderer, etwa analytisch semantischer oder problemgeschichtlicher Provenienz von Interesse sein: ein großer Gewinn, der aus dieser Seminar-Edition erwächst! Angenehm ist ein weiteres: Die teilweise sehr autoritativen und übertreibenden Meisterdikta in den Vorlesungen haben in den Seminaren kaum Entsprechungen. Vielmehr ist es ein ›Philosophieren mit Heidegger‹: in der Frische der Sachentdeckung, in das man mitgenommen wird. Man blickt in die Werkstatt. Diese Edition ist daher nicht nur verdienstvoll. Sie hat, wenn man sich dem spröden Material aussetzt, Spannungseffekte. Sie macht das Faszinosum erklärlicher, das von Heidegger gerade dann ausgegangen ist, wenn er sich als philosophischer Lehrer an Texte band und in seiner eminenten Weise ›fragte‹. Sinnvoll ist ein solcher Band für Leser, die es genau wissen wollen und die die großen Linien der Heidegger’schen Interpretationen bereits kennen. Die Rede von der »Gewalt brauchenden Interpretation« wird hier in Frage gestellt. Zeigt sich doch in concreto, welche handwerkliche und interpretatorische Subtilität sich darunter verbarg. Der Vergleich zu dem späten Physik-Seminar aus den Nachkriegsjahren 1950–52 zeigt auch, dass Heidegger an Intensität nicht nachließ, und der Blick auf den gesamten Band macht eine bemerkenswerte Kontinuität deutlich. Es können sich manche Differenzierungen der Heidegger-Forschung an diese Edition anschließen, im Blick auf seinen Umgang mit der antiken Philosophie, aber vielleicht auch seine Beeinflussung seiner Schüler unterschiedlicher Jahrgänge im Umgang mit diesen Texten. Genau zu lesen, scharf und in die Tiefe gehend zu fragen und immer wieder neu anzusetzen: Wer das noch vermag, wenn er ein Hauptwerk von der Rezeptionsweite von Sein und Zeit verfasst hat, der ist ein philosophischer Lehrer von Graden. Mangelnde denkerische Redlichkeit wird ihm weder die Mitwelt noch die Nachwelt leichtfertig vorwerfen können.
33. Zur Sache des Denkens Unter dem Titel Zur Sache des Denkens versammelte Heidegger 1962 zwei Abhandlungen und einen Rückblick, in denen die Spätphilosophie, die letzte Philosophie Heideggers, fassbar ist. Die Umkehrung 485
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des Titels Sein und Zeit in der Abhandlung Zeit und Sein nimmt die Frage auf, die Heidegger bereits bei der Konzeption des zweiten Teils des Werkes im Blick gehabt hat. Sie verfolgt diese Linienführung nun aber in ganz anderer Weise. Das Konzept der eigentlichen, tiefer verstandenen Zeit setzt sich gegen Zeit als ›Anwesenheit‹und eine Konsekution nacheinander messbarer Zeit ab. Das Paradigma von Zeit als Anwesenheit (13 f.) erscheint Heidegger nun als »Gemächte des Menschen« (15). Er weist sie als eine der Sache nach unangemessene Abbildung von Zeit nach dem Muster des dreidimensionalen Raums zurück. Heidegger schließt an die Exposition der Zeitekstasen in Sein und Zeit an, die ihm zufolge in einem Wechselspiel von Anwesenheit und Abwesenheit, apousía–parousia sich zeigen. Anwesenheit in Zukunft und in Vergangenheit ist, wie er betont, von der Anwesenheit in der Gegenwart unterschieden. Damit spricht Heidegger von einer Dreidimensionalität der Zeitekstasen, zu der aber noch eine vierte Dimension komme, die die eigentlich erste ist: das Ereignis. Sein ebenso wie Zeit sind darin verbunden, dass sie selbst »nichts Seiendes« sind (20 f.). Heidegger näherte sich diesem besonderen ontologischen Status in den philosophischen Mitteilungen seiner Spätzeit seit dem Humanismus-Brief mit der Evokation des ›Es gibt‹. Dieses Es dürfe aber, notiert er jetzt, wohl in einer nicht-namentlichen Anspielung auf das »Es« als Signifikanten des Unbewussten bei Freud und in der Psychoanalyse, 43 nicht als »eine unbestimmte Macht« angesetzt werden, »die alles Geben von Sein und Zeit bewerkstelligen soll« (17). Daher wird in dem späten Aufsatz das ›Ereignis‹ selbst als die Instanz des Gebens und die implizite Einheit der Zeitekstasen gedacht. Zu deren Dreifachheit kommt mithin das ›Ereignis‹ als unthematisierte Einheit, oder wie Heidegger es auch sagt als »Schicken des Geschicks des Ereignisses«. Die Schlusssequenz des Vortrags zeichnet sich durch eine deutliche Tendenz zur Minimalisierung aus. Dieser Eindruck einer wie mit japanischer Kalligraphie angedeuteten Leichtigkeit wird sich in den Seminaren von Le Thor ähnlich einstellen. Impliziert ist in dieser angedeuteten Leichtigkeit ein sehr weitreichender Anspruch: Der Versuch, das Sein ohne Rückgriff auf alle Seinsbestimmungen zu denken, in seiner tautologisch sich zeigenden Vgl. dazu A. Schöpf, Sigmund Freud. München 1982; siehe auch ders., Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse. Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Analyse. Stuttgart 2014.
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Evidenz. Das Seminar, in dem der Vortrag in sechs Sitzungen diskutiert wurde, relativiert allerdings die Anmutung, damit sei eine Unsagbarkeit verbunden. Der Verzicht bedeutet auch, dass die Seinsfrage nicht mehr auf den verwindenden Gestus der Metaphysik zurück bezogen wird. Bereits der Titel Zeit und Sein nimmt unverkennbar die Schlussformulierung von Sein und Zeit auf, die in die Frage mündete, ob sich die Zeit selbst als Horizont des Seins offenbart habe (SuZ, 437). Darauf kommt die späteste Philosophie zurück. Zeit und Sein wolle »ein Weg in das Ereignis« sein, sodass die äußerste Verknappung »den ganzen Reichtum des zu Denkenden im Ereignis« nicht ausschließe, sondern vielmehr eröffne (46). Heidegger legt weitere Spuren, die er aber nicht expliziert, die aber deshalb umso größere Aufmerksamkeit erfahren müssen. So unterscheidet er die Rede vom Ereignis im Humanismus-Brief, wo sie noch »in einer bewussten Zweideutigkeit« geblieben sei (38), von einer späteren Evokation. »Deutlicher hätten sich die vier Vorträge aus dem Jahr 1949 Einblicke in das, was ist einschließlich der Abhandlung Die Technik und die Kehre dazu geäußert. Wie auch an anderer Stelle beruft sich Heidegger auch hier mit besonderem Nachdruck auf den Vortrag ›Identität und Differenz‹, in dem das Ereignisdenken am weitesten entfaltet worden sei. In dem in Todtnauberg abgehaltenen Seminar zu dem Vortrag ist neben den allgemeineren Reminiszenzen auf Sein und Zeit vor allem bemerkenswert, dass Heidegger dieser deutlichen Zuspitzung einen auf die Gegenwart bezogenen Akzent gibt. »Der Versuch, Sein ohne das Seiende zu denken, wird notwendig, weil anders sonst, wie mir scheint, keine Möglichkeit mehr besteht, das Sein dessen, was heute rund um den Erdball ist, eigens in den Blick zu bringen« (35). Der Protokollant Alfredo Guzzoni, der tiefer und kritischer als andere das Unausgesprochene in den Seminargesprächen erfasste, vermerkt an derselben Stelle, dass »die Notwendigkeit und die Möglichkeit dieses Widerspruchs […] [sei] nicht weiter erhellt« wurden – ebenso wie auch die Frage, ob die Begrenzung auf den Erdball legitim sei. Der Denkansatz des spätesten Heidegger nähert sich in seinen Andeutungen und Paradoxien, wie wir schon sahen, der Linienführung einer dadaistischen Bewegung, in der mystische Erhellung und Unsinnigkeitsverdacht unmittelbar benachbart sind. Deshalb ist hier eine Leichtigkeit aber auch Hermetik erkennbar, die die großen Ausarbeitungen einschließlich der Beiträge noch keineswegs nahelegen. Sie sind vielmehr noch einmal monumentale Auseinandersetzungen 487
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mit der Sache des Denkens selbst. Vielfache Bezüge auf diese ›Es ist‹ und ›Il y a‹ aus der Dichtung, bei Trakl und Rimbaud, werden angezeigt. Sein eröffnet sich als Erfahrung, wobei, wie Heidegger unterstreicht, Denken und Erfahren nicht »in der Art einer Alternative gegeneinandergestellt werden« könnten (57). Denken bewegt sich auf die Seinserfahrung hin. Heidegger versteht es aber zugleich selbst als Erfahrungszusammenhang, der nicht nur auf die Verborgenheit, sondern zugleich Endlichkeit und Begrenztheit des Seins zielt. Dies zeige sich im Geviert, dem Modell eines In-sich-selbst-Geborgenseins, sich Gegen-überstehens. Es geht dabei um eine Weise von Endlichkeit (58), die nicht, wie Heidegger zur Unterscheidung vom Problemansatz in seinem Kant-Buch verdeutlicht, gegenüber einem Unendlichkeitsbegriff expliziert wird; sondern aus ihrer eigenen immanenten Bewegung. * All dies wird in dem Pariser Vortrag von 1964 Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens in eine nochmals fast programmatische Lesart zusammengeführt. Heidegger hält die aus seinen seinsgeschichtlichen Überlegungen hinreichend bekannte Aussage fest, dass sich das Ende der Philosophie in der Auflösung ihrer Frageweise in den technischen, steuerbaren Wissenschaften zeige (63 ff.). Ähnlich wie Whitehead konstatiert er übrigens, dass Platon für die Entfaltung der abendländischen Philosophie durchgehend maßgeblich geblieben sei. 44 In Frage stellt er aber, ob dieses sichtbar werdende Ende auch bedeute, dass Philosophie die Möglichkeiten des Denkens erschöpft habe. Heidegger geht, wie man weiß, davon aus, dass diese Möglichkeiten am Ende der tradierten Wegbahnen der Philosophie sich erst eigentlich erschließen würden. Dies Ungedachte ist, so die nicht weiter überraschende These des späten Textes nicht im Husserl’schen Votum ›Zu den Sachen selbst‹ zu sehen, das in der Cartesianischen Methodizität seinen Maßstab finde. Das zu Denkende ist für Heidegger das auf den Wegbahnen der Metaphysik letztlich Nicht-Gedachte. Heidegger nimmt hier bereits Bezug auf das, was er im Zähringer Seminar den tautologischen Charakter der Phänomenologie nennt: dass es letztlich nur um das 44
Whitehead, Prozess und Realität. Frankfurt/Main 1977, S. 91.
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tautologische Eine gehe, dass das Ereignis ereignet. Eröffnet wird damit ein Denken, für das die Trennung von Methode und Sache, Phänomen und Begriff, keine maßgebliche Rolle mehr spielt. In dem Pariser Vortrag – man mag daran denken, dass Husserls Pariser Vorträge knapp dreißig Jahre zurücklagen –, verweist Heidegger in einer dezidiert anti-cartesianischen Denkform auf die »Lichtung« als das zu Denkende, den Ursinn von Wahrheit (aletheia). Der neue Akzent, den Heidegger setzt, belehrt wohl unter anderem durch philologische Studien zu Homer, die ihm zeigten, dass ›alethes‹ schon unter die Gattung der »verba dicendi« zähle, 45 dass aletheia von Anfang an auf »die Richtigkeit der Aussage« (78), die orthotes, bezogen worden sei. Allerdings finden sich ähnliche Aussagen auch schon auf den Denkwegen der vierziger Jahre. Dies bedeutet nicht weniger, als das Eingeständnis, dass es die von ihm behauptete Form eines ursprünglichen »griechischen Denkens« letztlich niemals gegeben habe. Die aufbehaltenen Möglichkeiten des gesuchten Denkens deutet Heidegger wieder in einem Titel an, dessen Evokation er aber auch in Frageform bringt: Müsse anstelle von Sein und Zeit ›Lichtung und Anwesenheit‹ gesetzt werden? * Die späten Seminare in Le Thor sind für die Spätphilosophie Heideggers eine wichtige Quelle. Zeitlich berühren sie sich mit dem hoch konzentrierten Heraklit-Seminar, das er gemeinsam mit Eugen Fink in Freiburg gehalten hatte. Auch inhaltlich ist die Berührung unübersehbar. Das Seminar in Le Thor beginnt mit dem Heraklit Fragment 1 Heidegger trifft die Entscheidung eontos als Genitiv von eon: Sein zu verstehen und »nicht als Beiwort zu logou« (GA 15, 272). Doch anders als in Freiburg, ist Heidegger in Le Thor auch atmosphärisch von akademischen Zwängen und Implementierungen weitgehend frei. Protokolliert sind die Seminare weniger ausführlich als andere dem universitären Comment folgende Seminarübungen. Die Stimmung der Provence, auch die Begegnung mit der Dichtung von René Char spielen in die Reminiszenzen hinein. Hauptlinien der Aussagen lassen sich aber erkennen: Dass der Vgl. Heidegger, »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«, in: GA 14, S. 67 ff., siehe auch das Protkoll zu dem Seminar über den Vortrag Zeit und Sein (1962), ibid., S. 65 ff.
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lógos prima facie nicht auf Wahrheit, sondern auf Seiendes bezogen wird, hebt Heidegger heraus. Hier deutet sich eine Wendung seiner Spätphilosophie an. Die ontologische Lesart von aletheia kann zumindest philologisch nicht weiter aufrechterhalten werden. Wahrheit als Sich-Lichten weist aber in einen anderen, vorpropositionalen Bereich zurück. Alles Denken, so entnimmt Heidegger hier Heraklit, ist »umwillen des Seins«; er betont dabei die nicht preiszugebende sinnliche Dimension und das »xynon« – die Zusammenfügung des Gegensätzlichen im lógos. Der Kosmos wird nicht auf einen philosophisch einholbaren Begriff von ›Welt‹ bezogen; er erweist sich vielmehr als erscheinende Welt. Angedeutet wird auch in Le Thor, dass diese Urschicht des Denkens, die Dimension einer »heilsamen Gefahr«, in der Begegnung mit dem Gedicht sich erschließe. In dem zweiten Le Thor-Seminar im August 1968 gewinnt dieser Anfang im Kontrast zur überlieferten philosophischen Dialektik weiter Kontur. Heidegger behandelt den Anfang in einer Spiegelung zu Hegels ›Differenzschrift‹, ausgehend von dem Verständnis der »lebendigen Einigung« in der Spannung. Entzweiung und Einheit bilden die leitenden Pole, um die sich die Explikationen drehen. Viele Grundmomente früherer Vorlesungen und Seminare scheinen in einer losen Architektur wieder auf, und vor dem Duktus der Seminare von Le Thor gewinnt man den Eindruck, die Rückspiegelungen würden aufgenommen, um ein für alle Mal verabschiedet zu werden. Der Rekurs auf Kant und die nachkantische Philosophie spielt dabei eine besonders prominente Rolle. Die Abgründigkeit der ›Idee der Vernunft‹ im Gottes- und Weltbegriff Kants wird festgehalten, wobei Heidegger sehr explizit den Bruch zwischen Kant und der Klassischen deutschen Philosophie betont. Kant sei »in seinem Alter mit Schrecken zum Zeugen dessen [geworden], was durch Fichte aufzubrechen begann« (300): Bei Kant sei der Abgrund gehalten, bei seinen Nachfolgern in der Frühphase der Philosophie des Deutschen Idealismus werde aus dem Begriff eine vermeintliche Gewissheit und ein Fundament gewonnen. Im Wesentlichen dürften die Eröffnungen und die Gespräche um einige ganz wenige Stellen, zwei Seiten aus der Begriffs-Schrift gekreist sein. Vor dem Hintergrund der Reflexion des Absoluten, einer Bewegung, die zu sich selbst zurückkehrt, bei Hegel und im Rückgriff auf den energeia-Begriff, den er als Sein des Seienden versteht, expliziert Heidegger noch einmal die ontologische Differenz. Die Metaphysik habe sich in der Differenz bewegt (310), die Differenz aber 490
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nicht in jener Dimension erfasst, in der sie sich erst als Differenz entfaltet. Es zeigen sich aber auch Pointierungen, die man an anderen Stellen im Heidegger’schen Werk nicht findet. All diese Passagen gehören, so faszinierend wie sie im einzelnen sind, dem Abschied von den ersten beiden Phasen des Seinsdenkens an: Die Aristotelische energeia verweise in die Differenz. Das einai nämlich sei als energeia begründet (310 f.); demgegenüber wird konstatiert, dass der Begriff des Göttlichen: to theion eben nicht in die Differenz führe, sondern eine nur ontische Bestimmung habe. Darin klingt noch einmal die von Heidegger behauptete Unvereinbarkeit, ja Feindlichkeit, zwischen Philosophie und Theologie an, wie sie im Marburger Vortrag expliziert worden war. Das Seminar schließt mit der doppelten Evokation des Absoluten, als Gegenstand der Reflexion, eben als jener Setzung, die die bei Kant aufrecht erhaltene Abgründigkeit in ein fundamentum inconcussum transformieren sollte. Es scheint fast, als werde Kant damit noch einmal in einem Bezirk des ›Offenen‹ situiert, der bei den Vorsokratikern thematisch wurde. Ein klassisches Thema der Onto-theologie, die Gottesbeweisfrage ist dann überraschenderweise Thema des dritten Seminars in Le Thor aus dem September 1969; zugrunde gelegt wird die Kantische Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes. 46 Sein wird auf einen phänomenologischen und zugleich griechischen Ursinn von hypokeimenon: das, was da liegt evoziert; wobei Heidegger eine mediterrane Topographie dessen angibt: Gebirge, Land und Inseln im Meer (327). Auf diese, vom genius loci mit-inspirierte Dimension des Offenen kommt Heidegger in den Seminaren wiederholt zurück. Sie greifen immer wieder auf das Reservoir seiner Denkwege und Explikationen zurück und sie erinnern die neuralgischen Stellen der Seinsgeschichte. Eigentlich argumentierend verfahren sie nicht. Lediglich das Gegenüber von Denken und Dichten wird fruchtbar gemacht, und immer wieder unternimmt Heidegger Klärungen des Verhältnisses seines fundamentalontologisch-transzendentalen Denkansatzes in Sein und Zeit (334 ff.) zu dem seinsgeschichtlichen Denken. 47 De facto ist das dritte Seminar zunächst den Retractationes und Selbstauseinandersetzungen HeiKant, AA II, S. S. 63–164. Vgl. dazu D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Tübingen 1960. 47 Vgl. vorliegendes Buch Dritter Teil. Es geht also um die Fluktuanz und den Weg46
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deggers gewidmet. Augenfällig ist dabei, wie sehr Kant im Hintergrund die Fragerichtung leitet. Dabei finden sich bemerkenswerte Hervorhebungen. Die Rede vom ›Sinn von Sein‹ habe er durch »Wahrheit des Seins« ersetzt (355), weil darin der Irrtum ausgeschlossen werden könne, es handle sich um eine Leistung des Ich. Der Entwurfscharakter wird in dem Rekurs auf die ›Wahrheit des Seins‹ aber ausdrücklich festgehalten (335). Auch die Entthronung der ontologischen aletheia-Wahrheit, wie sie sich im ersten Le Thor-Seminar dokumentiert, ist also keineswegs definitiv. Betont wird nochmals das Anliegen, nicht-metaphysisch (was für Heidegger nicht einfach heißen kann ›nach-metaphysisch‹) Zeit zu verstehen. Dies eben heiße, sie der ›Zeitlichkeit des Daseins‹ abzulesen. Ein Novum zeigt sich in Le Thor auch darin, dass die ontologische Differenz im Horizont der Kantischen These über das Sein in einer überaus erhellenden Weise thematisiert wird. Die ontologische Differenz besagt nichts anderes, als dass das Sein selbst »nicht-seiend« sei (346). In der Sitzung vom 6. September scheint kurz auch die Frage nach dem Wesen der Technik auf: Es werden Fragen von Roger Munier verlesen, auf die Heidegger aber – was über die Gesprächskonstellationen einiges sagt – nicht explizit eingeht. Das Gespräch hat seine Zielperspektive letztlich in einem Monolog über die angemessene Explikation der Seinsfrage selbst. Es ist wenig überraschend, dass Heidegger von der Evokation des Verhältnisses Sein-Nichts auf den Beginn der Hegel’schen Logik zurückgreift, deren Kontingenzmoment, das der junge Dieter Henrich in dieser Zeit schon in subtilen Interpretationen als die ungetilgte Kontingenz im Hegel’schen System verstanden hatte, der späte Heidegger entschärft. Er sieht auch den Beginn der Hegel’schen Logik schon in der teleologischen Perspektive des »absoluten Wissens« (347), sodass das Hegel’sche Unterfangen im ersten und letzten als eine Reflexionsbewegung erscheint. Dem Kantischen Abgrund der Vernunft entgehe Hegel durch diese certitudo-Konzeption. Seine an früheren Stellen, im Wesentlichen in den dreißiger Jahren, entwickelte Sicht auf Hegel revidierte Heidegger nicht. Wie ich angedeutet habe, hätte sie ihn zu einer tiefergehenden Affinität führen können. Sie ist durch die starke Betonung der Seinsgeschichte in den Hintercharakter des Heidegger’schen Denkens, das eben nicht in eine statuarische Form von Heidegger I. versus Heidegger II. fixiert werden darf.
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grund getreten. Die Distanz zu Hegel formuliert Heidegger wenig später sogar noch ausdrücklicher und wiederum in Abkehr von der Gottesfrage. Wenn Hegel festhalte, dass das Absolute »nicht ohne uns« sei, »sagt er es nur auf das christliche ›Gott bedarf des Menschen‹ hin.« (370 f.). In Heideggers Denken dagegen könne das Sein gar nicht »ohne seine Beziehung zum Dasein« sein. Deshalb sei »nichts […] weiter von Hegel und allem Idealismus entfernt« (371). Hier kann nur angezeigt werden, dass Heidegger die Zwiesprache mit Hegel auch noch in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in ausgreifenden Seminaren vorbereitet. 48 Im Zusammenhang seines spätesten Denkens kommt er auch darauf mit einer neuen Leichtigkeit zurück. Er fasst den Satz der Identität im Licht der Parmenideischen Einheit von Denken und Sein, des »to auto gar noein te kai legein«. Damit tritt er ein weiteres Mal in pointierte Zwiesprache mit Hegel. Die sprachlichen Oszillationen geben diesem Text eine Mehrdeutigkeit. »Satz« versteht Heidegger zugleich im Sinn von »Sprung«, das Zusammengehören von Sein und Denken, Sein und Mensch wird im Licht der akroamatischen Dimension auch als Geschehenszusammenhang des Hörens verstanden. Die öffentliche Vorlesung zum ›Satz der Identität‹ schließt mit einem Hinweis, der den Rückgang in den ersten Anfang als Voraussetzung des anderen Anfangs noch einmal verdeutlicht und einschärft. Die sprengende Macht der ›Destruktion‹ droht dabei aber übersehen zu werden. Heidegger schließt: »Erst wenn wir uns denkend dem schon Gedachten zuwenden, werden wir verwendet für das noch zu Denkende« (Identität und Differenz, 30). In dem etwa zeitgleich entstandenen Seminarvortrag über die Onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik wird die Umformung offensichtlich. Auch wenn es eine Vereinfachung bedeuten mag, trifft Heidegger doch Wesentliches, wenn er das Grundverhältnis so exponiert: für Hegel sei Sache des Denkens das Denken als Denken, im neu angezeigten seinsgeschichtlichen Denken dagegen sei es die »Differenz als Differenz« (ibid., 36 f.). An die Stelle des Hegel’schen ›Spekulativen Satzes‹ tritt der Satz des anderen Anfangs, der einen Schritt zurück bedeute, die Offenheit jener Differenz anzuzeigen. Am Ende geht es also nicht um eine Gegenpositionierung zu Nietzsche und der Not der Notlosigkeit, sondern darum, von Hegel her das Lichte der Differenz zur Darlegung zu bringen. 48
Siehe weiter oben Fünfter Teil. 32.
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Die Leichtigkeit von Heideggers spätestem Denken hat zusammenfassend verschiedene Facetten. Man kann dies in der Klangfärbung des Ereignisses, das mit Goethe auch als ›Er-äugnis‹, als Einblick in das Rätsel des Seins verstanden wird; in einem mitunter Mozartesken Ton. Doch nicht minder einschneidend ist die wiederholt in Aussicht gestellte Möglichkeit der Resignation, des Rückzugs jenes Denkens. Am Ende der Abhandlung über die onto-theologische Verfassung der Metaphysik bemerkt Heidegger etwa, es könne sein, dass das, was der »Schritt zurück« vollzieht, innerhalb der Wegbahnen der Metaphysik implementiert und verarbeitet werde. 49 Heidegger äußert auch, dass es schwierig, ja unmöglich sein könne, diesen Schritt zu gehen, weil die vorgegebene Sprachform tief in die Artikulationsweisen der Metaphysik verstrickt seien. Deshalb wirft Heidegger am Ende eine Frage auf, die die Selbstzurücknahme besonders eingehend zeigt: »So bliebe der Schritt zurück selbst unvollzogen und der Weg, den er öffnet und weit, unbegangen« (ibid. 65). Denkbar ist es immerhin, so lässt Heidegger in den Beilagen zu Zur Sache des Denkens verlauten, dass die Differenz selbst, die er doch als »Sache des Denkens« identifizierte, preiszugeben sei. (14.111). Dazu könne das Denken gezwungen sein, wenn die Versuche, der Differenz weiter nachzudenken, in eine immer weitergehende Verstrickung führen würden. Und wenig später, im Gestus einer sein lassenden Resignation: »[…] und das Da-sein mitnennend – zurückstellen. Dieser Weg – unmöglich; so wird das Ereignis in einer abgerissenen Gestalt zur Sprache gebracht« (ibid., 115). Heidegger begründet die Diastase gegenüber Hegel und der Metaphysik noch grundsätzlicher: Wie könne, was innerhalb der Metaphysik gesagt wurde, »mit denselben Worten außerhalb der Metaphysik« (15.349) gesagt werden? Im Hintergrund steht noch einmal der Hinweis auf den Satz vom Grund die Grundfrage der Metaphysik: »Warum ist Seiendes und nicht vielmehr nichts?« (349), dessen Leibnizische und Schellingsche Fassung Heidegger in seinem ›Satz vom Grund‹ transformiert hatte. Für die Transformierung wird auf ein sprachphilosophisches Szenarium verwiesen, auf Wilhelm von Humboldts Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Vgl. dazu auch: Chr. Iber, Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos. Berlin, New York 1994, S. 124 ff.
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Sprachbaus, die in Heideggers Sprachdenken eine prominente Rolle einnimmt. Nun soll Humboldt gerade zum Leitfaden werden, um in das Sprachproblem des anderen Anfangs zu finden. Dies kann systematisch selbstverständlich nicht befriedigen, denn damit wird die Unterscheidung des ersten und des anderen Anfangs selbst zu einem reinen Sprachproblem reduziert. Humboldts eigene Formulierung ist, dass »die Zeit durch wachsende Ideenentwicklung, gesteigerte Denkkraft und tiefer eindringendes Empfindungsvermögen oft in die Sprache« einführe, was diese vorher nicht besessen habe. Sie lege einen anderen Sinn in die sprachliche Weltansichten ein, sodass »nach den leichten Verknüpfungsgesetzen ein anders abgestufter Ideengang angedeutet« sei (350). Darin sieht Heidegger die Frucht der »Literatur eines Volkes«, »vorzüglich der Dichtung und Philosophie«: womit der Zusammenhang von Denken und Dichten wieder berührt wird. Doch dass die Transformation von erstem in anderem Anfang in der Weise einer »wachsenden Ideenentwicklung« zu fassen sei, also eines Progresses mit der Zeit, erscheint gegenüber dem Abschied von jeder Metaphysik rudimentär. In den Schluss-Sequenzen repliziert Heidegger für den späteren Leser Grundeinsichten, die den Zeitgenossen nur abbreviativ in einzelnen Vorträgen oder solchen Seminaren bekannt waren: Er fasst dabei wie in einem Blick das »Gestell« der neuzeitlichen, in ihre Spätphase eintretenden kybernetischen Technik. Pointiert formuliert Heidegger: »Das Ge-stell ist gleichsam das photographische Negativ des Ereignisses« (ibid., 366). Betont werden auch das Sein-lassen, die Gelassenheit und das veränderte Verhältnis des neuzeitlichen Menschen zum Sein, der von diesem Verhältnis noch nichts wisse (369). Bei einer differenzierteren Lektüre wird allerdings erkennbar, dass die späteste, letzte Denkform Heideggers den Rückgang auf die Griechen in den Hintergrund treten lässt. Hier spielen der – unerwähnte – Goethe, die Platzierung des ›Ereignisses‹ als ›Er-äugnis‹ eine Rolle, die Beschwörung einer Gelassenheit, die sich längst außerhalb der Philosophie verortet. Und es wird ein zweifaches bemerkenswertes Corrigendum eingezogen: nämlich dass die Bezugnahmen auf die »ontologische Differenz von 1927 bis 1936 als notwendiger »Holzweg« (366) zu sehen seien; und dass »mit dem Ereignis« gar nicht mehr griechisch gesprochen werde (ibid.). Wie mögen das die Gesprächspartner in Südfrankreich aufgenommen und was mögen sie davon erfasst haben? Zu leuchten beginnen die Einsichten dieses Seminars dort, wo 495
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sie sich in der Kenntnis des Heidegger’schen Gesamtwerks als einzigartig erweisen. Ein zarter, propositional nur bedingt einholbarer Neueinsatz deutet sich hier an. Das Sein selbst erweise sich als endlich und ist damit metaphysischer Ort des Daseins, aber diesem Dasein nicht einfach entfernt; so wie Heidegger schon in seinem Kant-Buch einmal formulierte: »Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm« (formuliert ibid., 371, FN 6.) Ein letztes gemeinsames Spätseminar fand 1973 in Zähringen statt. Heidegger hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen leichten Schlaganfall erlitten und er war physisch reduziert. Das Protokoll lässt aber ein Seminargespräch erkennen, das an Luzidität und Differenziertheit deutlich den Le Thor-Seminaren überlegen ist. Beim ganz späten Heidegger als Lehrer kommt noch einmal Husserl in den Blick, in diesem Seminar im Licht des Begriffs der ›Kategorialen Anschauung‹ in den ›Logischen Untersuchungen‹. Es sei nicht so, sagt Heidegger dem Protokoll gemäß, dass er die Frage nach dem Sein nicht aufgeworfen habe; er habe sie gerade im Zusammenhang der Kategorialen Anschauung thematisiert, während er sonst »entschieden metaphysische Fragen« (373) gestellt habe. Es hat den Anschein, als versuche Heidegger hier noch einmal, mit Entschiedenheit der Denkform seines alten Lehrers und ihrer sachlichen Berechtigung gerecht zu werden. Er gesteht auch ein, stärker als je zuvor, dass Husserls Frageansatz ihm dadurch zur Triebfeder geworden sei. Während in den späten zwanziger und dreißiger Jahren Husserls Denken kategoriale Schau noch einmal in den Vordergrund tritt, begegnet Kant weitgehend ›in absentia‹. Auch dies hat philosophisch-literarische Vorbilder, die Heidegger wohl nicht bewußt waren. Im Blick auf sie ist offensichtlich, dass ein solches Schweigen keineswegs auf geringere Relevanz schließen lässt. Im Platonischen Timaios ist Sokrates nur schweigend im Hintergrund gegenwärtig. Ähnlich scheint es in diesem und dem nächsten Seminar mit dem zunächst ins Auge gefassten Text sich zu verhalten. Die kategoriale Anschauung ist nicht zu sehen wie die »sinnliche Anschauung«; sie ist aber, so resümiert der späte Heidegger Husserls Einsicht, mehr als die logische Form, als die die Kategorien bei Kant erscheinen (375). Sie ist selbst ein unableitbar Gegebenes, das gerade nicht »aus einer sinnlichen Anschauung« hervorgehe (374). Damit erweisen sich die Kategorien für Husserl selbst als gegeben und anschaubar. Insbesondere geht es offensichtlich um die 496
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Kategorie der Substanzialität, wenn der Seinsbegriff bestimmt werden soll. Diese nicht-sinnliche, nicht-erscheinende Gegebenheit (die Weise, wie die Substanzialität des Buches zu sehen ist), expliziert Heidegger als Voraussetzung dafür, dass nach dem Sinn von Sein überhaupt gefragt werden kann. Heidegger referiert in der ersten Seminarsitzung darauf, dass es für Husserl ein Ärgernis bedeutet haben muss, dass er selbst nicht mehr vom ›Bewusstsein‹ gesprochen, sondern es in seiner Rede vom Dasein beiseite gesetzt habe. ›Bewusstsein‹ als Wissen – Partizip Perfekt von ›videre‹: ›GesehenHaben‹. Heidegger paraphrasiert dies als »die für das Menschenwesen grundlegende Möglichkeit, eine offene Weite zu durchgehen, um bis zu den Dingen zu gelangen« (380); »ganz ungeschickt und unbeholfen« habe er selbst diese Dimensionierung »Dasein« genannt (ibid.). Letztlich bleibt dies ein Abstoßungspunkt. Heidegger tendiert nach wie vor dazu, grundsätzlich über den Immanenzraum des Bewusstseins hinaus zu fragen, den bei Husserl aufrechterhaltenen Cartesianismus. Es ist eine schöne Arabeske, dass Sartre es als Perspektiveneröffnung des Husserl’schen Denkens verstand, dass die Phänomenologie das Seiende »au dehors«: draußen und nicht in dem Immanenzraum verstehe. Dieses Außer-sich-sein, die Ekstasis, behält Heidegger dem Da-sein vor, das gerade nicht im Innenraum einer subjektiven Innenwelt bleibe. Er expliziert deshalb nun die inneren Voraussetzungen der Gelassenheit. Doch wie im vorigen Seminar Kant, bleibt Husserls Anstoß aus der Ferne leitend. Den Bereich des Bewusstseins zu verlassen und in das Offene der Lichtung zu gehen, um den Bereich des Daseins aufzufinden: dies führe in ein schon Gegebenes, das der Mensch gerade nicht selbst erzeugt habe: die Lichtung als das Zugeschickte (387). Auffällig häufig bespricht Heidegger in den Beispielen nun die letzte Subjektivität nicht im Horizont des Wesens der Technik im allgemeinen; sondern im Licht der Marx’schen ökonomischen Philosophie der Produktion, einer Radikalität, die den Menschen nach der Religionskritik als höchstes Wesen für den Menschen ausweist. 50 Damit wird ein anderes selbst deklariertes Ende der Philosophie aufgenommen, das aber so gut wie nichts mehr mit der Sache des Denkens zu tun hat. Das Seinsdenken geht weiter. Es berührt sich noch
Dazu jetzt das magistrale Nachlasswerk von Eugen Fink, Existenz und Coexistenz, Freiburg/Br., München 2018.
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einmal aus der Ferne mit dem seinerzeit schon seit drei Jahren toten Celan, der von den Liedern »zu singen jenseits der Menschen« spricht (Fadensonnen). Dies ist nicht zwingend als Akt der »Desperatio« misszuverstehen, der Endspiele, wie sie im Zeichen Samuel Becketts und einer vielleicht drohenden Auslöschung der humanen Spezies die Imagination bestimmten. 51 Es ist auch – gerade – ein Weg ins Offene der Seinsfrage. Dies könnte es allerdings überzeugend nur sein, wenn damit eine erhöhte ethische Sensitivität verbunden wäre. Die Marx-Revokation wird zugleich zu einer Kritik einer, in der Zeit liegenden primär soziologischen Weltanalyse. Der späte Heidegger räumt Marx einen Ort ein, der dreißig Jahre zuvor Nietzsche zugekommen war. Mit ihm sei »die Position des äußersten Nihilismus erreicht« (393); den Heidegger gerade nicht erst als Erscheinung »des gegenwärtigen Zeitalters«, sondern als »Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes« versteht (393). Dieses letzte hoch bedeutsame Seminar mündet in eine Parmenides-Reminiszenz, einen Text, den Heidegger im Winter 1972/73 schrieb und der in aller Fragmentiertheit wiederum ganz und gar den Fügungen seines spätesten Denkens angehört. Parmenides wird dort nicht als die Ausganggestalt der Onto-Logik verstanden wie so oft zuvor. Auf ihn soll, wie Heidegger im Versuch einer Verdeutlichung der hermeneutischen Grundposition sagt, wie auf ein Echo gehört werden: in jenem »Hören, das sich dem Wort des Parmenides von unserem heutigen Zeitalter aus öffnet, der Epoche der Schickung des Seins als Ge-stell« (394). Das eon, und die Sequenz: »esti gar einai« (397), nicht die noein-einai-Korrelation steht im Zentrum: »Ist nämlich Sein«. Heidegger spricht vom Herz der aletheia: Sie liegt in einem Bereich, der »weder Urteil, noch Beweis, noch begründete Erklärung« ist (399). Gegründet ist er einzig auf das, was sich dem Blick selbst zeigt und sehen lässt. Ebenso in den Bereich der luziden Klärungen von Heideggers spätestem Denken gehört es, dass er diese Zusammenhänge einem »tautologischen Denken« (399) vorbehält, worin gesagt wird, was Phänomenologie eigentlich ist. Ein solches Denken hat auch die Differenzierung zwischen Weg und Methode, Theorie und praxis hinter sich gelassen.
Zu letzterem D. Henrich, Sein und Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin. München 2016.
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Das Seminar klingt aus mit einer Replik auf den allerersten Anfang. Denn auf eine Frage Jean Beaufrets antwortet Heidegger, Heraklit bewege sich doch auf die Dialektik zu, während Parmenides bei diesem »anwesend Anwesendsein« bleibe. Die Tautologie könne denken, was die Dialektik nur verschleiere. Doch – und da denkt er in diesem späten Text vermutlich an das »xynon« im blitzhaften lógos – auch Heraklit halte sich ebenfalls im Umkreis dieser Tautologie auf. In ihrem Duktus sind die späten Heidegger-Seminare von einer sehr unterschiedlichen Dichte. Sie lassen immer wieder, in ihren glänzendsten Momenten, Revisionen, Neuaufbrüche, die Belichtung von Einsichten erkennen, die zumindest in dieser Gestalt zuvor nicht formuliert wurden: ein Denken jenseits der durchlaufenden Bahnen, tantologisch und korrespondenzhaft geöffnet. An solchen Stellen erweist sich Heidegger überraschend frei von allem Ballast, eigenem und ererbtem. Sie arbeiten teilweise mit der pädagogisch übertreibenden, teilweise auch herrischen Geste, abzuwehren, wie und in welche Richtung nicht gedacht werden dürfe. Wenn man, auch durch den Nachlass belehrt, reflektiert, mit welcher Präzision Heidegger an seinen eigenen Texten gearbeitet und die Sachfragen immer wieder bewegt hat, zeigt er sich aber zugleich als Meister des Kritischen Selbstgesprächs. In Heideggers Seminaren, soweit sie dokumentiert sind, findet man allerdings selten Gesprächspartner, die Ein- und Gegenreden oder Fragen vorbringen, die Grundsätzliches berühren würden. Auch die Protokollierung ist unterschiedlich: fragend offen und im Bewusstsein der philosophischen Unbelehrtheit sind die Positionen der Mediziner in den ›Zollikoner Seminaren‹. Der Geist von Le Thor und des Gesprächs von Denken und Dichten leuchtet in den dortigen Seminaren auf, den Ungeklärtheiten geht das dokumentierte Gespräch weniger nach, wie Heidegger es in den früheren Seminaren tut. Ihr Gewicht und ihre Dichte erhalten diese Seminare aus der Genauigkeit der Lektüre, die Präzision der Abwägungen, die durch eine Freiheit im Sinnen und Erwägen ergänzt wird. Dass das späteste Denken nicht in einer eigenen Methodologie erschlossen wird, liegt in der Natur der Sache. Seine konkreten Konturen treten in den ingeniösen Bezügen auf die Tiefenschicht der Sprache hervor, in einem nicht mehr auseinander-setzenden Bezug zur eigenen und europäischen Denkgeschichte und nicht zuletzt in einem Bezug auf das Dasein, das sich der möglichen Lieder jenseits der Menschen bewusst ist. Eine Ahnung von der Inspirationskraft, die gerade von Heideg499
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gers Seminaren ausgegangen sein muss, der ungeschützten Fragebewegung, an die sich Hannah Arendt noch nach Jahrzehnten erinnerte, trifft überaus glücklich auf den letzten Denkwegen nochmals zutage.
34. Grundsätze des Denkens Die Vortragsreihe, die Heidegger 1957 in Freiburg /Breisgau hielt und die erst in GA 79 ganz zugänglich ist, entwickelt eine Art von später ›Metaphilosophie‹. Sie ist ein Projekt, das mit dem eminenten spekulativen Denken der Klassischen deutschen Philosophie sich berührt und sich zugleich davon abstößt. Heidegger setzt zu Beginn noch einmal im Kontrapunkt zu der Hegel’schen Dialektik an. Sie mauere das Denken in feste Gefügezusammenhänge ein (79. 86), sei eine »feste Burg« für das Denken. Denkgrundsätze wie der Satz vom Widerspruch oder der Satz des zureichenden Grundes versteht Heidegger, wenig kontrovers, als Formationen des Denkens. Dies aber bringt er in der lebenslangen Abstoßung vom Subjekt-Objekt-Verhältnis (90 f.) in eine argumentativ defizitäre Form: Der Kantische Grundsatz, dass das Ich denke alle meine Vorstellungen begleiten können muss, 52 besagt nach Heidegger dass das Vorgestellte damit zum Objekt für das denkende Subjekt werde. An etwas späterer Stelle evoziert Heidegger ohne eine weitere Begründung, dass auch die Ichdu-Beziehung nur eine Form der Subjekt-Objekt-Beziehung sei. Diese Gleichsetzung von Dialogizität mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis versteht sich keineswegs von selbst. Nicht auf ein Du soll gerade gehört werden, sondern auf das, was »je schon« im Seinsgeschick auf uns zukommt. Eine zweite mit der Kantischen Begründungsabsicht vereinbare Überlegung besagt, dass das ›Ich‹ im ›Ich denke‹ die Einheit und Selbigkeit des Denkens ausmache; eine Identität, die den Differenzen vorausgeht. Und Heidegger betont als Leitfaden durchgängig, dass die Formulierung ›Grundsätze des Denkens‹ ein genitivus subiectivus und ebenso ein genitivus obiectivus sein könne. Doch das ›Ich‹ firmiert nicht als primärer Einheitssinn. Kant, K.r.V., AA III, S. 108. Dazu K. Cramer, »Über Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«, in: K. Cramer u. a. (Hg.), Theorie der Subjektivität. Frankfurt/Main 1987, S. 167 ff.
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Der zweite Vortrag zeichnet ›Geschichtlichkeit‹ in die Grundzüge des Denkens ein: Hier bleibt eine Kontinuität von den frühen Selbstbesinnungen über die Phänomenologie leitend, in der Sein und Zeit eine wichtige Zwischenstation ausmacht. ›Geschichtlichkeit‹, auch das eine Heidegger’sche Kontinuität, wird von Historizität unterschieden. Ihr eignet von Anfang an das Momentum, der kairós, als Fokussierung des Geschichtlichen, wobei Heidegger Geschichte vom ›Geschick‹, einem ›Anspruch des Seins‹ her fasst (107, 109). Als »geschichtliches Wagnis« versteht Heidegger dieses Denken, von dem er mit Hegel prädiziert, dass es in der Regel nicht den Grundsätzen folge; es bewegt sich gleichsam zwischen den Grundsätzen und ihrer Destruktion. Hier wird wieder ein phänomenologischer Anfangsgrund erreicht. Heidegger identifiziert »das Erscheinenlassen des Vorliegenden« (108) mit dem Grundakt des lógos. Der Satz legt apophantisch offen, was ihm zugrunde liegt, was sein Thema: ›Subjektum‹ ist. Hier ergibt sich eine Struktur, die Hegels Lehre vom spekulativen Satz nicht unähnlich ist: Dass nämlich der Satz den ihm zugrundeliegenden Grund (110), sein subiectum oder hypokeimenon, selbst entbirgt und darlegt, und auf diese Weise seinen eigenen Grund erst ergründet. Das Spezifikum von Grundsätzen des Denkens ist dann, dass sie auf etwas referieren, das »in diesem Sinn kein Grund mehr ist« und das nicht dem metaphysischen Satz vom zureichenden Grund unterliegt. In diesem Sinn verweisen Grundsätze des Denkens auf einen Abgrund, der einen Sprung erfordere. Reichen die Sterblichen doch nach Hölderlins Diktum an diesen Abgrund, sodass die Rede von Grundsätzen sich verändert: Sie meint einen Satz (im Sinn von Sprung) in den Bereich, den die Grundsätze überbrücken. Der zentrale Vortrag ›Der Satz der Identität‹, an dem Heidegger nach vielfachen Erinnerungen und nach dem Zeugnis des Manuskriptbestandes mit besonderer Intensität arbeitete, geht von jener Abgründigkeit der Identität aus, an die keine Begründungsstruktur heranreicht, auch wo sie sich selbst als Letztbegründung versteht. In der Formulierung A ist A kommt, so die bestimmende Aussage, nur eine leere Identität zur Sprache, eine Setzung, die auf den onto-theologischen Grundsatz des Parmenides: to auto noein estin te kai einai verweist. 53
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DK. Fragment III.
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
Während der Index der Selbigkeit (›auto‹) in die Seinserfahrung selbst verweist und damit dunkel bleibt und dunkel belassen werden soll, sei die Identität Bestimmung des Seins des Seienden (119). Der ›Sprung‹, als der der Grund-satz nun aufgefasst wird, fasst noch einmal die Auseinanderlegung des ersten und anderen Anfangs zusammen: Sprung in den Abgrund ist der Grund-satz, der auf das eine und selbige zielt, sofern er noch im metaphysischen Verständnis vorgestellt bleibt; er ist dann ein Absprung »weg vom Sein als dem Grund des Seienden« (122). Doch die Anmutung der Abgründigkeit verliert sich, wenn der Sprung in den Bereich des Seins selbst führt, der aller Identität des Seienden schon zugrunde liegt. Er führt in jener Lesart explizit dorthin zurück, »wo wir immer schon sind«. (122). Mehrfach umschreibt Heidegger diese Wegrichtung in einer Weise, die seine spätesten Denkwege explizieren und variieren: Einkehr in das Einfache. Elemente des Seinsdenkens, so wie Heidegger es insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg thematisierte, scheinen hier wieder auf: Die Gefahr und das technische Gestell, die Leitfaden und Anhalt gebende Dimension der Sprache für das Denken (126), die an dem in sich schwingenden Bereich des Ereignisses ›bauen lasse‹. Der Satz der Identität, als Sprung verstanden, bedeute eine Verwandlung des Denkens. Die Destruktion der Subjekt-Objekt-Beziehung, auch der Bezüge von Ich und Du münden damit in eine Korrelation »des Menschen«, wie Heidegger sagt (124), und des Seins. Das Zusammengehören von Mensch und Sein (122) formuliert er auch in einem uns, in dem aber Selbst und anderes Selbst als Konstitutiva nicht thematisiert sind. 54 Die Überlegungen zum ›Satz der Identität‹ sind dort besonders markant, wo sie die Urbedeutung des lógos, sein Erscheinen-lassen und seinen Entbergungscharakter dort in die Krise geführt sehen, wo der lógos als »legein ti kata tinos« (143, Aristoteles, Analytica Priora I.1) bestimmt ist: als Intentionalität, des Sehens von Etwas als Etwas (143). Darin geschehe, so diagnostiziert Heidegger in einer hyperbolischen Weise, etwas Unheimliches, denn »die Bahn wird frei für die Entfaltung des Denkens als Rechnen, Begründung, Heideggers ›wir‹ hat eine vereinnahmende und Einvernehmen suggerierende Dimension. Denn es ist anders als bei Hegel oder Denkern der Intersubjektivität nicht eigens auch Ich und Du aus einer Zwiesprache konstituiert. Dass diese Evokation zeitweise destruktiv und Individualität auslöschend verfuhr, ist im Blick auf die Seminare der Dreißiger Jahre unverkennbar. Siehe dazu weiter oben IV. 26. Dazu GA 26, S. 59– 267, zur Hegel’schen Rechtsphilosophie.
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Grundsätze des Denkens
Folgern« (144 f.). Intentionalität, die die Phänomenologie im hermeneutischen »als« zu fassen versuchte. Soll bereits diesen lógos-Verlust bedeuten? Wird damit nicht die Struktur unterscheidender Erkenntnis eo ipso zurückgedrängt? Was Heidegger an Heraklits lógos-Begriff emphatisch hervorhebt, ist, dass der lógos »das einzige Wort für Sein und Denken« ist (149). Der Absprung lässt also nicht nur den Satz vom Grund hinter sich und die Gründung auf Prinzipien und nicht nur den Anspruch der Hegel’schen Logik: Auch wenn dies die Bereiche sind, die explizit in der Vermessung jener Überlieferungslinien evoziert sind, denen der Absprung gilt. Es ist auch eine Phänomenologie der gegliedert geordneten Welt. Heidegger beansprucht, dass jener Absprung in den Ab-Grund führe. Zugleich betont er die ›Nüchternheit‹ (126), das zurückgehaltene Pathos dieses Absprungs. Dazu trägt die hier verwendete Metaphorik des ›Wegweisers‹ bei, der von einer ausgeprägten Logik in die Anfänglichkeit des lógos zurückführt. Dies ist topologisch der Anfangspunkt der Metaphysik, der dazu nötigte, die Frage nach dem Sinn von Sein preiszugeben und nur nach Seiendem zu fahnden. Der lógos werde offengehalten als arché – und es ist dieser Punkt, an dem Heidegger »eine Wandlung des Sinnes« (158) konstatiert. Aufschlussreich ist hier wieder eine Randbemerkung. Heidegger hält im Verhältnis zum Satz vom Grund fest, dass es um eine »Unbedingtheit« des Grundes gehe, der keines anderen mehr bedarf (157, f). In der Sprache der Metaphysik wird die Möglichkeit der Letztbegründung im System festgehalten. Im anderen Anfang erweist sich dieser Grund selbst als abgründig. Dies ist nach Heideggers Evokation die Wegkreuzung, an der einerseits der logisch bestimmende Weg der Metaphysik beginnt, andererseits die an sich haltende Denkanstrengung des anderen Anfangs darauf aus sein muss, die Möglichkeiten offen zu lassen. Sprache nicht als Bestimmung des Seienden in seiner fassbaren Intentionalität, seinem tinos kata tina-Charakter, ist Heidegger zufolge lógos als Sagen. 55 Damit verbindet sich in der spätesten Philosophie lógos mit dem phänomenalen Sinn von Sprache, der Exposition von ›Sprache als Zeige‹. Sprache fasst Heidegger in seiner spätesten Philosophie als »Sagen im Sinne des Erscheinenlassens« auf (167). Es 55 Dazu E. Tugendhat, Tí kata tinós. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe. Freiburg/Br. 1958, 5. Auflage mit neuem Nachwort und Anhang 2003.
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Die unerhörte Leichtigkeit des Seins
ist diese phänomenologische Rettung des Wesens der Sprache, die die Differenzlosigkeit und letztliche Totalität des Seinsgeschicks, wie sie in den Bremer Vorträgen aufscheint, zu konterkarieren vermag. Es ergeben sich dabei wieder sinnbildliche Grundmuster: Neben das ›Geviert‹ tritt nun als eine Art Ternär der Zusammenhang von Sprache als Rede – Sein – und Denken in ihrem bewegten Verhältnis zueinander. Von einem anderen Anfang ist in diesen Grund-sätzen nicht mehr die Rede. Denn es ist nicht die komplexe Destruktion metaphysischer Grundstellungen, die Heidegger beschäftigt, sondern vielmehr die sich eröffnende Bewegung des Sprunges selbst. Damit ist die »Wandlung des Sinnes« (158), die Heidegger den Grundsätzen des Denkens abverlangt, weitestgehend in ihr Ziel gebracht. Eine Abgeschlossenheit oder Vollendung, wie sie Zielsetzung metaphysischen Denkens ist, wird dabei gerade konterkariert. Sprache wird nochmals in das Sinnbild des Ringes gebracht, das beim Ding-Vortrag bereits eine wichtige Rolle spielte. Der Ring ist von sich selbst umringt, insofern geschlossen, bleibt aber gerade darin offen (176), sodass er in der Leere seiner Mitte »ein Lichtes und Freies verwahrt« (176). Obwohl Sprache nun die fundamentale Bedeutung gewinnt, die originär der phänomenologischen Methode zugewiesen worden war, bleibt die Phänomenalität der Sprache selbst ungeklärt. Heidegger notiert zwar, Logik sei »das Selbstgespräch der Sprache mit ihrem Wesen« (163), fügt aber in einer Randglosse hinzu: »Inwiefern Gespräch? Inwiefern Selbst-Gespräch? Was heißt: mit ihrem Wesen?«. In ein Dialogverhältnis führt der Rückgang auf die Sprache also keineswegs. Eher, nochmals, in eine Semantik der Verbildlichung, des aufscheinenden Minimalismus, der den späten Heidegger zu Formen führt, die der Zen-Meditation nahe sind. Mit Cézanne, in dessen Landschaft die für die Spätphilosophie aufschlussreichen Seminare von Le Thor stattfanden, vergleicht er die verborgene und zugleich zeigende Dimension von Sprache mit einem Bild, das nur seinen Aufriss enthalte, und das damit immer eine Diskretion der Andeutung wahrt. Man mag dabei noch einmal an den Gott von Delphi denken, der der Gnomé gemäß eben nicht sagt, nicht verschweigt, sondern andeutet. Eröffnet ist damit der Rayon dessen, was ich Heideggers späteste Philosophie genannt habe.
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Sechster Teil: Von Heidegger her
Von Heidegger her
35. Rezeptionslinien Es ist ein Faktum, das zu denken geben muss: Heideggers bedeutendste Schüler lehrten und wirkten nicht in Deutschland. Sie emigrierten in den Jahren um 1933 und übten wie Emmanuel Lévinas eine Fernwirkung bis zu Derrida und der neuen Phänomenologie aus. Oder: Sie wandten sich wie Hannah Arendt Feldern zu, die nicht Teil von Heideggers Philosophieverständnis sind: der Politischen Theorie etwa oder der Philosophie des Dialogs. Leo Strauss’ schon zitiertes und von George Steiner kolportiertes Diktum, 1 dass Heidegger der große, einzigartige Philosoph gewesen sei, dass sein Name aber nicht mehr erwähnt werden solle, artikuliert den Bruch, den das Jahr 1933 und die folgenden für die Heidegger-Linie in der Philosophie bedeutet. In Frankreich wurde um 2015 mit besonderen Leidenschaft und Verve darüber gestritten, was Heideggers antisemitische Einlassungen für die Bedeutung eines Denkens aussagen würden, das sich zu einem Gutteil von ihm herschreibt und dessen Urheber jüdischer Herkunft waren. Wäre die These eines verdeckten Nationalsozialismus im Gewand von Philosophie irgend überzeugend, wäre sie nicht selbst ideologisches Konstrukt, so übte jedes, auf Heidegger bezogene Denken implizite Komplizenschaft oder es wäre verführtes Denken. 2 Natürlich sind Einflüsse niemals linear, sie bilden sich in Konstellationen aus, in denen eine jeweils eigene Frage allmählich Gestalt gewinnt, in der Methode und in der Sache: Bei großen philosophischen Lehrern geschieht dies durch Anstöße, die in Um- und Weiterbildungen, oftmals auch in Gegenentwürfen Fortsetzung finden. Ein orthodoxer Heideggerianismus, dem Heidegger selbst misstraute, hält sich im Wesentlichen bis heute in dem Gefüge Heidegger’scher Begrifflichkeit und ihrer Systematik auf. 3 So verdienstlich die ›Wiederholung‹ bei einem komplexen Denken ist, solche Wiederholungen bleiben alexandrinisch. Sie entwickeln kaum eine eigene Frage und halten sich in der Repetition von Heideggers Fragen auf. Heideggers Gestus des Fallenstellers wird dadurch bestätigt, dass manche der Seinen sich dauerhaft in seinen Netzen verfingen. Doch sie verfehlten So das Zeugnis von G. Steiner, in einem BR-Interview, Oktober 1992. Dass ein Teil der jüngeren Debatte in diese Richtung zielt, ist offensichtlich. 3 Dass Heideggers Denkbewegung bis zuletzt ›Bewegung‹ und Fluss ist, nimmt ihr nichts von ihrer Strenge und Methodizität. 1 2
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Von Heidegger her
damit gerade das, was Heidegger vor allem anderen auszeichnete: zu fragen. Andere Vertreter der phänomenologischen Schule suchten dem Zwang und Anspruch Heidegger’schen Denkens zu entgehen, indem sie versuchten, das Fragepotenzial nochmals tiefer zu legen, damit aber der philosophisch-ontologischen Dimension gerade auswichen. Dies ist beispielsweise Heinrich Rombachs Hermetik der Eigenwelten von Kulturen abzulesen; mit dem Anspruch bis in vor- oder außerschriftliche Äußerungsformen den Grundsinn einer strukturellen Anthropologie bzw. Ontologie zu verfolgen. 4 Heidegger hätte vermutlich Rombachs strukturanthropologische und ethnologische Konzeption als ›ontisch‹ verstanden; Rombach hätte darauf repliziert (was er teilweise auch de facto tat), Heidegger bleibe in einer philosophisch-metaphysischen Dimension, die die jedem expliziten Gedanken vorausliegende Dimensionen nicht erfassen können. 5 Auch Eugen Fink, einer der wenigen Schüler Heideggers, der auch von Husserl geprägt war und die VI. Cartesianische Meditation entwarf, die Einholung transzendentaler Phänomenologie aus der Beobachterperspektive, 6 wich am Ende sowohl dem Husserl’schen wie dem Heidegger’schen Anspruch aus. Er näherte sich zunächst der Frage nach einer philosophischen Kosmologie, der Welt, die in einer kosmologischen Differenz von den in der Welt seienden Dingen zu unterscheiden ist. Der Bezug auf Welt ist bei Fink explizit außersprachlich; einer Neigung zur Poetisierung folgt später eine Tendenz zur Ideologisierung, die ihn Ende der sechziger Jahre beim Revolutions- und Arbeitsbegriff von Karl Marx ankommen lässt. In seiner philosophischen Kosmologie wendet sich Fink ausdrücklich der verschlossenen Seite der Erde zu, dem chthonischen Mythos und einem unartikulierten Anfang. Diese führt aus der Begründungsfrage der Urwissenschaft ebenso heraus wie aus Heideggers immer mitgedachtem Gegenhalt von aufgehender Welt und Erde.
4 Eine Übersicht biete ich in: Interkulturelle Phänomenologie bei Heinrich Rombach. Nordhausen 2006. 5 So der Tenor bei Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit. Freiburg/Br., München 31988, S. 50 ff. 6 Dazu M. Scherbel, Phänomenologie als absolute Wissenschaft: Die systembildende Funktion des Zuschauers in Eugen Finks VI. Cartesianischer Meditation. Amsterdam 1999.
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Rezeptionslinien
Nochmals anders und von Heidegger-Sprache weitgehend frei entwickelte Hans-Georg Gadamer seine philosophische Hermeneutik: Sie setzt bei einen Grundsatz ein, den Heidegger selbst so nicht formuliert und den er als Reduktion der Seinsfrage kritisiert hätte: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« 7 Die Alterität gegenüber Husserl und Heidegger wird im Abschied von der Urwissenschaft einerseits und den fundamentalontologischen Fragen andererseits offenkundig. Gadamer bewahrt zwar die zeigende Funktion der Sprache. Sprache ist allerdings für Gadamer prima facie ein Platonisch idealisiertes Dialoggeschehen, eine Verständigung über Horizonte. Das hermeneutische ›als‹ wird in das ›immer schon‹ eines Denkspiels umgezeichnet, das die Frage nach Anfang und Ende der Philosophie gerade nicht aufwirft. Mit Habermas’ bekanntem, für die Kennzeichnung von Gadamers Rolle in der Nachkriegsphilosophie charakteristischen Diktum der »Urbanisierung der Heidegger’schen Provinz« ist wenig gesagt. Wie der Briefwechsel zwischen Heidegger und Gadamer, soweit er veröffentlicht ist, zu erkennen gibt, fiel die philosophische Wertschätzung Heideggers zunächst reserviert aus. Gadamer konnte allerdings in der philologischen Kartographie der Platonischen Dialektik eine Eigenständigkeit gewinnen. Doch gegenüber dem aletheia- und Lethe-Charakter von Heideggers Denken bleibt Gadamer indifferent, einem klassisch-neuhumanistischen Kanon eher verpflichtet als der Abgründigkeit zwischen erstem und anderem Anfang. Wenn man auf den Ansatz und zugleich Abstoßungspunkt blickt, so lag er in den Ausarbeitungen, die Gadamer missverständlich später als »Heideggers theologische Jugendschriften« bezeichnete: 8 in der Neugewichtung der praktischen Klugheit, phrónesis, ausgehend von der Nikomachischen Ethik Buch VI, der er noch eine späte Edition widmete. 9 Demgegenüber kann man bei Denkern, die durch die Irrwege des 20. Jahrhunderts sich weit von Heidegger entfernen mussten, geographisch wie persönlich, philosophisch und politisch auffällig unerkennbare Tiefenprägungen wahrnehmen: Hannah Arendt entwickelt eine onto-
Gadamer, Wahrheit und Methode, GW Band 1, S. 450. »Gadamer«, in: Dilthey-Jahrbuch 1989, S. 228 ff. 9 Vgl. die späte Edition gem. mit D. Di Cesare, Nikomachische Ethik VI. Frankfurt/ Main 1999. 7 8
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logische Theorie des Politischen, 10 die sie bewusst nicht als Politische Philosophie bezeichnet und die genau gegenläufig zu dem ›Sein zum Tode‹ in Sein und Zeit ansetzt: nämlich beim Selbstanfangen-Können, der Natalität, die den Grund von Freiheit und Handlung ausmacht. Arendts Hauptwerk Vita activa etabliert Handeln, als Erschließung eines Raumes des eminent Politischen, das in der technischen und ideologischen Moderne abgeriegelt ist aufgrund der Überdimensioniertheit von ›Arbeit‹ und ›Herstellung‹ (poiesis): beides monologische und nicht dialogische Vollzüge. Insofern deutet sich vielfach ein Gegenbild an: der Dialog und nicht die Bekümmerung um sich selbst, die Geburt, nicht der Tod. Anregungen Heideggers sind freilich auch in der Umkehrung und Umbesetzung unverkennbar. Denken als emphatischer Akt, in dem nicht die Tektonik der traditionellen Metaphysik wiederholt wird, begegnet bei ihr als Zwiesprache mit sich und anderen, als Zweiheit und Zerbrechen der Identitäten. Insofern ist Denken nicht auf Selbigkeit, auch nicht die Selbigkeit des Seins gerichtet, sondern auf Pluralität. Dabei ist es unverkennbar ein in-der-Welt-sein des Menschen, nicht ein Vollzug innerer Subjektivität, um den Arendt kreist. Die Urteilskraft, die Arendt ausgehend von Aristoteles und Kant als politisch-philosophische Kategorie einführte, reagiert in eigenständiger Weise auf Heideggers »theologische Jugendschriften«. Stärker noch war vermutlich der Impuls, ein Momentum zu begründen, das in Heideggers Denken und seiner politischen Biographie unterbelichtet war. Ein in Freiheit verantwortetes, in der Demokratie bewährtes Denken mit Urteilskraft: Daraus ergab sich für sie eine volle Differenz. In ihren ›Denktagebüchern‹ führt Arendt den eminenten Denkbegriff auch mit der Frage nach der Sprache zusammen: 11 Denken ist Übertragen, konstituiert sich aus Analogien, Konfrontationen unterschiedlicher Weisen von in-der-Welt-Sein. Selbst dort, wo man das Proprium der Arendt’schen Theorie des Politischen festhält, ist als Blaupause ein Heidegger’scher Subtext erkennbar: nicht in einer Ausschließlichkeit, wohl aber in einer spezifischen, mitschwingenden Präsenz. Inwieweit Arendt, die erst im Lauf der Jahrzehnte und mitbedingt durch die Trennung von Heidegger als Gesprächspartnerin anerkannt wurde, mit Heideggers späterem Denken vertraut war, ist Hierhin gehört der Umstand, dass sich Arendt der Philosophie insgesamt verweigerte. Sie verstand sich als Politische Theoretikerin, nicht aber als Philosophin. 11 H. Arendt, Denktagebücher, I, S. 34 ff., 189 ff., II, S. 9 ff. u. ö. 10
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Rezeptionslinien
schwer zu rekonstruieren. Er nahm ihr Denken kaum zur Kenntnis. In jedem Fall sind ihre politisch-philosophischen Explikationen von Überlegungen zu Raum und Zeit durchzogen, vor allem im Blick auf die Verräumlichung der politischen Existenz. Wieder anders liegen die Dinge bei Leo Strauss: Er übernahm vielleicht wie kein zweiter die Kunst genauen Lesens von Heidegger. Es ist zugleich eine Kunst des rückhaltlosen, auf eine Sache zielenden Gedankens, dessen Schalen erst abgestreift werden müssen. Nicht nur das in den Texten Gesagte steht in der Strauss’schen Lektüre im Zentrum, sondern gerade das Umschriebene, Angedeutete. Im Horizont einer Hermeneutik der Schrift kommt dies Heideggers eigenster Denkform sehr nahe. Den Satz zu finden, um dessentwillen ein Buch geschrieben worden sei: dies ist die Übung, die Strauss sich selbst und seinen Schülern zumutete. Verdeckt kann jener Satz aus politischen Gründen sein, dies ist das Problem von ›Persecution and the art of writing‹, 12 der Rücksicht von Autoren auf eine spezifische Verfolgungssituation, die sie nicht aussprechen lässt, was auszusprechen wäre oder die zu einer »doppelten Struktur« nötigt. Verstellt kann der Sinn auch aufgrund einer Mehrdeutigkeit sein. Doch dahinter liegt eine spezifische Manifestation von Lethe: eine Verborgenheit, die sich von Heidegger lernen ließ, bei Strauss freilich nicht ontologisch mit der Wahrheit des Seins verbunden ist. Wenn man sich in einer ersten Skizze das Verhältnis vor allem von Heideggers jüdischen Schülern zu dessen Denken vor Augen hält, ist selbstverständlich zu berücksichtigen, ob das eigene Judesein weitgehend säkularisiert gewesen ist wie bei Hannah Arendt, die daran ähnlich wie Freud als einer nicht-bestreitbaren Tatsache ihrer Existenz festhielt. Oder ob umgekehrt wie bei Strauss oder Lévinas eine Verbindung zu gelebten jüdischen Glaubenstraditionen gegeben ist. Emmanuel Lévinas, der ebenfalls von Heidegger und Husserl gleichermaßen geprägt wurde, musste die Heidegger’sche Analyse des Daseins, dem es in seinem Sein nur um dieses Sein selbst geht, als eine äußerste Form der Selbstbeziehung erscheinen, in sich kreisend und monologisch. Die fundamentalontologische Seinsbezogenheit
Vgl. die jüngeren Editionen L. Strauss, »Lecture Notes to ›Persecution and the Art of Writing‹ (1939)«, edited by Hannes Kerber, in: Reorientation: Leo Strauss in the 1930s. Edited by Martin Yaffe and Richard Rudermann, New York 2014. »Exoteric Teaching«, critical edition by Hannes Kerber, in Reorientation: Leo Strauss in the 1930s. Edited by Martin Yaffe and Richard Rudermann, New York: Palgrave 2014.
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des Daseins erweist sich für Lévinas als letzte und äußerste Perfektionierung eines monologischen Seins, das in sich selbst kreist und in der Indifferenz bleibt. Dass in-der-Welt-sein Mit-dasein ist, dass Schuld als Existenzial wirksam wird, eben daran sieht Lévinas das Ungenügen des Heidegger’schen Entwurfs. Dem tautologischen Denken des späten Heidegger würde Lévinas erst recht widersprechen: Zeigt sich hier doch das Eine und Selbe in seiner rekursiv wiederkehrenden Struktur, wie sie letztlich auf die Parmenideische Selbigkeit von Denken und Sein zurückgreift. 13 Die Spur des Anderen durchkreuzt diese Transzendenzdimension, die für Lévinas mit Platon beginnt und mit Heidegger an ihr Ende kommt. Die ontologische Selbigkeit ging Lévinas eher kritisch an Heidegger auf: als die Individualität meiner selbst und des Anderen, die Nicht-Indifferenz, die in Heideggers Denken ungedacht und ungesagt bleibt. Es gibt allerdings bei Lévinas Argumentationsfiguren, die ohne die Denkweisen der Verschränkung von Anwesenheit und Abwesenheit bei Heidegger kaum hätten gewonnen werden können. Dies zeigt sich etwa am Begriff der ›Spur‹, in der sich Abwesenheit und Anwesenheit verbinden, oder auch am Spannungsfeld zwischen Anwesenheit und Abwesenheit selbst, 14 von Bewusstseinsordnung und ihrer Durchbrechung durch die Konstellation der Andersheit des Anderen. Bei Lévinas ist wie strukturell häufig in einem Denken, das von »Jerusalem« und nicht nur von »Athen« geprägt ist, Ontologie der Korrelation gegenüber jener der Substanz deutlich betont. Allerdings sind zugleich ontologische Momente mit im Spiel, wie dies, dass der Andere »vom unbedingt Abwesenden« herkommt. 15 Solche Grundgedanken von Lévinas könnten auch in Heideggers seinsgeschichtlichen Grundtexten stehen. Auch die Topologie von Zeichen, der Lesbarkeit und der Spur konnte sich an Heidegger eher inspirieren als an der Husserl’schen Phänomenologie der Präsenz des Ideals. Denkern vom Rang Lévinas’ ist nicht entgangen, dass Heidegger in seiner Frage nach dem ›kommenden Gott‹ eine Gegentheologie zum verborgenen Dritten des jüdischen Monotheismus entwickelte: wodurch das Seinsdenken in seiner Selbigkeit ungeachtet aller philosophischer Phrasierungen, die diesen Eindruck modifizieren könnten, letztlich zu einer denkenden Erlösungskonzeption übersteigert wird. Der Maxime, dass nur noch ein Gott uns retten könne, 13 14 15
Vgl. Lévinas, Die Spur des Anderen, a. a. O., S. 209 ff. Ibid., S. 223. Ibid., S. 227.
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kann dann die indirekte Gottesspur des ›Dritten‹ aufhellen, der sich zusammen mit dem Einen und dem Anderen einstellt. 16 Jacques Derrida verdankt in seiner dekonstruierenden Hermeneutik des entzogenen Anfangs zwischen den Zeilen und gegen den Wortlaut Heideggers ›Destruktion‹ ihren wesentlichen Ausgangsimpuls. 17 Er liest deshalb die Präsenz-Ontologie von Husserls Phänomenologie vor dem Hintergrund der Topologie der Verborgenheit bei Heidegger. Während die Destruktion beim früheren Heidegger zum Grundphänomen des sich zeigenden in-der-Welt-seins zurückführt, später zur Lichtung in der Verbergung, dominiert bei Derrida eine Unentschiedenheit, eine Konzeption des Aufschubs. Sie ist ihrerseits gerade nicht der griechischen Ideation, sondern der Unendlichkeit der Schrift-Interpretationen abgewonnen, wie sie Textexegesen der Mehrdeutigkeit und wie in der rabbinischen Theologie unendlichen Dialogizität entnommen werden kann. Doch gerade diese Gedanken der Spur ins Entzogene lassen sich in Heideggers Seinsfrage ähnlich auffinden. Derrida vermeidet einen hermeneutisch-phänomenologischen Zugriff auf den elementaren phänomenalen Bezug, wie ihn Dasein oder Sein darstellen könnten. Er beharrt auf der Uneinholbarkeit von Anfang und Ende: Die Urwissenschaft wird daher zu einer atopischen Disziplin. Den Heidegger’schen Gestus der ›Gewalt brauchenden Interpretation‹ meidet Derrida: Hier wird ihm Heidegger wieder zum Abstoßungspunkt. Wie jüngst in einer magistralen Arbeit bemerkt wurde, zielt Derrida aber auf einen Punkt des Undekonstruierbaren: Er soll gerade Politiken der Freundschaft konstituieren, die in einer menschlichen Koexistenz münden, welche ihr rechtliches und ethisches Zusammenleben nicht durch Gewalt und Exklusion erkaufen muss: 18 Die Anfänglichkeit wird dadurch aus der Heidegger’schen Seinsdimension in eine Konvivenz übersetzt. Jüngere Forschungen verwiesen allerdings darauf, dass Derridas Dekonstruktion einen Zielpunkt anpeile, der noch einmal jenseits der Entgegen-
In diese Richtung gehen die großen jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts namentlich Cohen, Religion der Vernunft, a. a. O., und Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. 17 Siehe Derrida, Die Phänomenologie und die Schließung der Metaphysik. Übers. Johannes Kleinbeck. Diaphanes, Zürich 2011. Dass sich bei Derrida vor diesem Hintergrund die Frage nach dem Nicht-Dekonstruierbaren stellt, sei nur vermerkt. Vgl. J.-G. Schülein, Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida, a. a. O., S. 12 ff. 18 So Derrida, Politik der Freundschaft. Frankfurt/Main 2000. 16
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setzung von Metaphysik und Nicht-Metaphysik angesiedelt ist: 19 Gerade damit würde einer Denklinie bei Heidegger selbst Rechnung getragen, die sein Kant-Buch und dann wieder seine späteste, letzte Philosophie prägte. In dem formal und hermeneutisch weit weniger ambitionierten Denken von Hans Jonas wird ebenfalls vordergründig ein Momentum ins Zentrum gerückt, das bei Heidegger fehlt: eine verpflichtende Ethik und ein Aspekt von Bundesgenossenschaft und Gewissen, auch wenn vom Anfang des Werkes an die Aspekte des Tragischen und der Ausgespanntheit des Menschen in Schuld und Verhängnis? Schließlich ging Jonas die gnostische bzw. pseudognostizische Struktur des fundamentalontologischen Entwurfs von Sein und Zeit schon zu einem früheren Zeitpunkt auf, als er im Zusammenhang seiner Habilitationsschrift über die Gnosis die Strukturaffinitäten zu Sein und Zeit ermittelte. 20 Diese Linien ließen sich fortsetzen – und es würde sich dabei der beobachtete Eindruck bestätigen, dass gerade Denker, deren jüdische Identität, sei sie nun religiös geprägt oder nicht, an spezifische Momente von Heideggers Denken anknüpfen konnte. Auch wenn sich die Wege ansonsten, auch aus menschlicher Betroffenheit, definitiv trennen mussten: Franz Rosenzweig stellte nicht umsonst im Blick auf Davos ›Vertauschte Fronten‹ fest. Rosenzweigs Explikation jüdischen Daseins in der Wiederholung der Bundesoffenbarung und der Verinnerlichung dieses Geschehens ist einerseits Gegenkonzeption zu der Heidegger’schen Suche nach dem im einen griechischen Anfang Verborgenen; sie ist Korrektur gegenüber der formalen Anzeige der Existenzialien in einem konkretisierten korrelationstheoretischen jüdischen Daseinsvollzug. 21 Dieser selbst bleibt aber nicht in einer statischen Diathese einer ontischen »Geborgenheit«, wie sie Edith Stein aus christlicher Perspektive anmahnte; er bewegt sich in der Spannung zwischen Mitteilung und Entzug, Diaspora und Offenbarung. Und gerade darin ähnelt seine Grundstruktur den Zumutungen der Heidegger’schen Seinsfrage.
Dies die für den Gang der Philosophie auch systematisch sehr bedeutsame These von Schülein. 20 Vgl. H. Jonas, Erinnerungen, a. a. O., S. 120 ff. 21 Dass alles Seiende nur im Verhältnis zu einem anderen Seienden ist, was es ist, ist eine grundlegende Einsicht, die sich gerade beim frühen Heidegger vor dem Hintergrund seiner Einsicht, dass die Bedeutung das Primäre ist, findet. 19
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Es ist der Durchgang durch theoretische Formationen der ›negativen Philosophie‹ zu einer ›Philosophie des Lebens und der Lebendigkeit‹, mit dem Rosenzweig am Ende seines Werkes den ›Durchgang‹ zum in-der-Welt-sein besiegelt und damit alle Philosophie, auch die Heidegger’sche Seinsfrage hinter sich lässt. Die Radikalität jenes Aufbruchs gibt sich aber per se nicht mit einer Kulturkritik im Sinn Cassirers zufrieden. * Jaspers’ Gestus einer Hochachtung vor Heideggers Denken einerseits und eines starken moralischen und politischen Vorbehalts artikuliert sich auch bei damals jüngeren deutschen Philosophen, die nach 1945 eine wesentliche Rolle spielten. Nur zwei große Namen seien angeschnitten, bei denen eine Heidegger-Abstinenz offensichtlich ist, die aber zugleich blaupausig auf die Heidegger-Begegnung bezogen werden muss. Dieter Henrichs Frage nach dem unmittelbaren Vertrautsein des Subjekts mit sich selbst, die er als Grundfrage der klassischen Subjektivitätstheorien zu rekonstruieren suchte, ist implizit gegen Heidegger formuliert. Es ist daher nicht zufällig, dass Henrich einen seiner vielbeachteten Debütaufsätze mit einer Metakritik von Heideggers Kant-Buch vorlegte. 22 Nicht ein in-der-Welt-sein ist erforderlich um den Subjekt-Objekt-Dualismus zu durchbrechen. 23 Die Identität des instantan eintretenden vorreflexiven Ich ist vielmehr ein Grundbewusstsein, das jeden Weltbezug begleiten muss. Gegen-Interpretationen des Seinsgedankens als Identität, die im Ich als »Grund im Bewusstsein« liegt, 24 widmete Henrich zunehmend auch der Ontologie des anderen Anfangs, wobei oftmals der Abstoßungspunkt nicht ausdrücklich sichtbargemacht wird. Henrichs Hölderlin-Interpretationen lassen sich als implizite Gegenkonstellation zu Heidegger verstehen. Er positioniert Hölderlin nicht in der Epochen übergreifenden Nähe zum Uranfang des griechischen Denkens, sondern vielmehr in den Konstellationen der Klassischen deutschen Philosophie. Die exzentrische
22 D. Henrich, »Über die Einheit der Subjektivität«, in: Philosophische Rundschau 3 (1955), S. 28 ff. 23 Vgl. Ders., Denken und Selbstsein, a. a. O., S. 50 ff. 24 Henrich, Der Grund im Bewusstsein, a. a. O.
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Lebensbahn wird damit zum Bezugspunkt und nicht die Spaltung und Zerklüftung des Seins selbst. Hans Blumenberg, der als Doktorand des Heideggerschülers Werner Bröcker und aufgrund seiner Lebensgeschichte als verfolgter »Halbjude« in der NS-Herrschaft eine starke Aversion gegen das Seinsdenken entwickelte, akzentuierte Phänomenologie bewusst im Husserl’schen und gerade nicht im Heidegger’schen Sinn. 25 Heidegger ist für Blumenberg ein leerer, unthematisierter Punkt, und an die Stelle des grundlegenden Seinsdenkens und von dessen Einmündung in die Frage nach der Technik setzt Blumenberg eine umfassende Erkundung der Wissensprozesse der Neuzeit; nicht die Anonymität des Seinsgeschicks, sondern die Umbesetzungen und rationalen, bzw. metaphorischen Transformationsprozesse stehen dabei im Zentrum. An die Stelle der Frage nach der Sprache und der Dichtung rückt Blumenberg eine ingeniöse Theorie der Unbegrifflichkeit und Metaphorologie. 26 Blumenberg verfolgt Transformationen des Mythos, einer unendlichen Bearbeitung und Rationalisierung von Stoffen, einer Gestaltung von Archetypen, die bis in die Neuzeit reichen. Die Textur dieser Grundformen soll und kann vielstimmmig als »Arbeiten am Mythos« erkundet werden, entkoppelt von jedem Uranfang der Seins-arché. 27 Die Unzugänglichkeit von Anfang und Ende ist insofern ein Momentum, das Blumenberg mit Derrida teilt und das nicht nur implizite Kritik an der Anfangs-Dimension Heideggers ist, sondern auch an Husserls Konzept der phänomenologischen Urwissenschaft. Gerade in der Gewinnung der Alterität zu Heidegger verstärkt Blumenberg Husserl-Motive, denen aber auch Heidegger letztlich verpflichtet blieb: Dahin gehört die Zurückweisung eines anthropologischen Zugriffs, die Epoché, die die Konstitution der Phänomenalität von Phänomenen sichern soll, eine Aversion gegen psychoanalytisch ontische Reduktionen. Dieser Dialog mit einem anwesenden und zugleich abwesenden Heidegger ist weitreichend. Die Kraft im Denken Heideggers liegt nicht zuletzt darin, dass seine Einsatzstellen Denkbewegungen in Gang gesetzt haben, die sich gegen ihn richten mussten.
Dafür wären Blumenbergs Münsteraner Vorlesungen über die Grundprobleme der Phänomenologie ein Paradigma. Vgl. Ders., Die Verführbarkeit des Philosophen. Frankfurt/Main 2000. 26 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie. NA Frankfurt/Main 1997. 27 Ders., Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 51990, S. 7 ff. 25
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Deutungsmuster
36. Deutungsmuster Heideggers unthematische Methodologie Für Heidegger ist das Esoterische an die Schrift und den Selbstumgang mit den eigenen Texten gebunden. 28 Die anhaltende Arbeit mit seinen eigenen Manuskripten war ihm Anlass weiteren Denkens, weshalb erst als die Manuskripte aus dem Zähringer Alterssitz nach Marbach gebracht wurden, die Denkbewegung mehr oder minder verebbte: eine Denk- und Schreibbewegung, die ihn sonst bis in seine letzten Lebensjahre in Atem gehalten hatte. 29 Das Verhältnis des Esoterischen zum Exoterischen, das für die Auseinanderlegung der Differenz zwischen erstem und anderem Anfang wesentlich wurde, war für Heidegger immer mehr auch ein Sprachverhältnis. Heidegger verlebendigte und vergegenwärtigte in seinen Vorlesungen und Seminaren eine Denk- und Fragebewegung, die sich so nicht in den publizierten Texten dokumentieren ließ. Dies ist von sensiblen Hörern seit den zwanziger Jahren immer wieder betont worden. Dabei stammen die Zeugnisse aus einer Zeit, in der Heidegger nur sehr zurückhaltend publizierte. Umgekehrt hielten Heideggers Hörer auch fest, dass sich mit der Publikation von Sein und Zeit Gravierendes geändert habe und die offene Ungeschütztheit der Fragebewegung einer Bestimmtheit wich: Heidegger hatte zwar kein System formuliert, doch der Grundriss seines Denkens war manifest. Auf eine performative Asymmetrie ist von Anfang an hinzuweisen. Heidegger arbeitete seine Vorlesungen weitgehend wörtlich aus und verlas sie auch in diesem Wortlaut. Auch die Seminare wurden zumindest sehr differenziert schriftlich vorbereitet. Die Heidegger’schen Mitteilungen waren also, die Vorlesungen noch stärker als die Seminare, eine indirekte Performation einer Denkbewegung, die im Wesentlichen bereits schriftlich niedergelegt war. Auch hier könnte der Übelmeinende die ›Fallenstellerei‹ Heideggers ausmachen, der Wohlmeinende eine »virtuelle Kraftübertragung« sehen, sodass die Schrift in den jeweiligen Aufführungen wie eine Partitur wieder Otto Pöggeler gibt in seinem Buch Die Vielstimmigkeit der Philosophie, München 2012 erste Hinweise auf diese Fernwirkung, die Heidegger gerade durch seine Abwesenheit bei maßgeblichen Denkern nach 1945 ausübt. 29 U. v. Bülow, Das ›Hand-Werk‹ des Denkens – Zum Nachlass von Martin Heidegger, in: H. Seubert und K. Neugebauer (Hgg.), Auslegungen. Von Parmenides bis zu den Schwarzen Heften. Freiburg/Br., München 2017, S. 309 ff. 28
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zum Leben erweckt wurde. Der Partiturvergleich trifft auch auf spätere Vorträge sehr genau zu, die Heidegger sogar mit Tempo- und Betonungszeichen versah. Dies hat auch für den sprachlichen Duktus tiefreichende Auswirkungen. In den Vorlesungen, um von ihnen auszugehen, bewahrt sich Heidegger eine Sogkraft, eine Leichtigkeit und einen schwebenden Charakter der Diktion, die zumindest als dichte Simulation an seine eigene Denkbewegung heranführt. Man ahnt in den Fragekaskaden, die immer wieder begegnen, oder in der Aporetik von Gegensätzen, in denen er vom ›Sein‹ als dem Entzogensten und zugleich Präsentesten spricht, dass die Hörerinnen und Hörer zumindest den Eindruck bekamen, Zeugen der Verfertigung des Gedankens im Sprechen zu werden. Der Vergleich mit den weit weniger suggestiven Untersuchungen des Nachlasses wie den Beiträgen zeigt aber auch, dass dieser Fragegestus etwas Inszeniert-Künstliches hat. Am stärksten sind die Fragebewegungen, wo sie in eine ungeschützte Offenheit führen, zugleich aber in den nach Heidegger ungedacht bleibenden Abgrund der Seinsfrage bzw. des sich in sich abschließenden Nihilismus hineinziehen. Kann es aus diesem Strudel ein Auftauchen geben und wohin führt es? Dies fragen sich Hörende und ähnlich die Lesenden noch nach Jahrzehnten Abstand. Eine vollzogene oder inszenierte Denkerfahrung scheint oftmals das Argument zu überwiegen. Sinnfällig ist auch, dass der Fragedynamik vor allem in Heideggers Vorlesungsmanuskripten keineswegs eine Dynamik der Antworten und Thesen entspricht. Jener in die Schwebe hineinführende Zug begegnet abgemildert und auf eine Textform abgestimmt auch in der Diktion eines Werkes wie Sein und Zeit. Allerdings sind die Modulationen des Sprachereignisses unverkennbar: Der Begriff der »formalen Anzeige« artikuliert diese Tendenz und tritt an die Stelle des ungeschützten Fragens. Er wird als die Analyse der Dynamik und in ihr sich abbildenden Struktur formuliert, die die Kategorien der Existenz und des am-Leben-seins umschreiben. Eine andere Form von Unabgeschlossenheit und Frageoffenheit zeigt Heidegger in den nachgelassenen Schriftstücken, 30 vor allem den ›Beiträgen zur Philosophie‹ und den sie begleitenden Ausarbeitungen. Hier ist man im Bereich von Heideggers eigener Werkstatt, die den Zeitgenossen nicht oder nur sehr sporadisch geöffnet wurde. Zu den Beiträgen und den ihnen verwandten Textkorpora vgl. weiter oben Zweiter Teil, VI.
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Deutungsmuster
Man ist der Simulationskraft der Vorlesung entzogen. Man kann in diesem täglichen Sich-Abarbeiten an den eigenen Manuskripten eine Fixierung und Intensität erkennen, die in der Philosophiegeschichte kaum ihresgleichen hat. Die Fragen, die ihn dabei bewegten, kreisen um die gesamte abendländische Metaphysik – und bleiben zugleich auf die eine Frage nach dem Sein begrenzt 31 auf jene wenigen Probleme von Wahrheit, Grund und Sein, die darin Niederschlag finden. Die großen nachgelassenen Konvolute sind ein einziges großes Selbstgespräch, Soliloquium, in dem Heidegger sich seinen Denkweg bahnt, aber kaum ein Pendant findet. Er spricht von »Wir« oder von einem Sachgehalt, der ihn noch als Phänomenologen ausweist, einem nicht Ausweichen vor dem zu Denkenden, das ihn in den Gesamtraum der abendländischen Philosophie zieht. Dabei adressiert er sich an keine Nachwelt; er lässt den Mit- und Nachdenkenden nicht den Raum, den die große Gegenfigur Wittgenstein jederzeit lässt, den im meditativen Zugriff seiner ›Wissenschaftslehren‹ auch Fichte eröffnet, es anders zu sehen, es sich auf methodischen und redlichen Wegen anders zurechtzulegen oder dem Gedankengang so zu folgen, dass dem Diktum des Meisters zugestimmt werden kann. Anders als in den Vorlesungen und vor allem in Heideggers Seminaren findet das katakatizesthai, die Zerschlagung in die kleine Münze der Problemarbeit, hier nicht statt. Diese großen Ausarbeitungen kennen keine pädagogische Annäherung, sie verweisen immer auf das Ganze des Seinsdenkens und in ihnen konfrontiert sich Heidegger mit sich selbst: 32 in subtilen Unterscheidungen, in brutal geschlagenen Breschen, in Distinktionen und Ausgestaltungen, die mitunter sogleich wieder revidiert werden. Deutlich ist: Eine transzendentale Methodenlehre oder eine Philosophie der Philosophie, zumindest des anderen Anfangs, entwickelt Heidegger nicht, die die Metaebene der formalen Anzeige fortschreiben würde. Oben (II, IV, V) wurde angedeutet, dass ein solcher Versuch – in Grenzen – möglich wäre und dass gerade die Bestimmung dieser Grenzen für eine philosophische Heidegger-Kritik unerlässlich ist. Möglich wäre dies für Heideggers philosophische Anfänge bis zu Sein und Zeit und, die Aporetiken einbeziehend, auch für die seinsSo der berühmte, als Verwerfung oder zumindest große Defizitanzeige angelegte Gestus bei Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, a. a. O. 32 Wiederholung, Selbstkritik und verschriftlichtes Zwiegespräch mit sich selbst erweisen sich also als Grundformen Heidegger’schen Denkens. 31
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geschichtliche Frage. Heideggers spätestes Denken nimmt solche Ansätze aber zurück. Es ergibt sich in den ›Grundsätzen‹ eine Dynamik des Bedeutungswandels von ›Grund-satz‹ und ›Prinzip‹, die wie in nuce die Destruktion abendländischer Metaphysik zusammenführen und zeigen, wie das Denken des Sprunges sich vollzieht. Diese dynamisierte, in Sinnbilder gebrachte, in sich bewegte Denkstruktur unterminiert geradezu programmatisch die Unterscheidung von Methode und Sache des Denkens. Der Übergang in eine meditative Annäherung ist damit als alternativer Weg umrissen. Dies ist der Aus- und Anklang, den Heidegger für seinen Denkweg wählte, ein freier Minimalismus. Ob dieser Ausgang in der Sache zwingend ist, muss aber offen bleiben. Die auf dem Weg der ›Kehre‹ publizierten Abhandlungen und Vorträge haben einen noch einmal ganz anderen Gestus. Er entwickelt einen eigenen Sog, der von dafür sensiblen, musikalischen Leserinnen und Lesern als lyrisch und musikalisch wahrgenommen wird. Die Hypotaxen in Verbindung mit altfränkisch-atavistischen Wortfügungen, erst recht aber mit den Neologismen, den Wortspielen und -zusammenziehungen bannen in das Verständnis des Gemeinten, sie ermöglichen gerade nicht ein eigenständiges Denken und Befragen, so wie es die Texte der Schwebe, Sein und Zeit und die besten der Vorlesungen ermöglichen. Die parataktischen Fügungen, die vielleicht die größte Nähe zu Hölderlin haben, können wie auf steinernen Tafeln niedergelegte Annäherungen an das Ungedachte, Sein und Wahrheit verstanden werden. Es ist eben jenes Moment, das Walter Schulz ansprach, wenn er überaus treffend nahelegte, Heidegger habe gedacht, als sitze Heraklit daneben. In Aussagesätzen kann das bislang nicht Gesagte und Gedachte ausformuliert werden. Weniger Wohlmeinende sprachen von dem Heidegger nach Sein und Zeit als einem ›Denkwebel‹, in zeittypisch selbstverständlicher Analogie zum ›Feldwebel‹. Auch dieser Eindruck kann sich einstellen, in den Abhandlungen indirekt, in den Vorlesungsmanuskripten als sehr direkte Anrede: Ein fingierter Leser wird mit harschen, urteilenden und verurteilenden Dikta, Befehlen und Mahnungen zum Eigentlichen und Wesentlichen konfrontiert. Stellenweise hat dies die von George Steiner schön akzentuierte Übertreibung, die jeder große Pädagoge anwende. 33 Streckenweise geht der Sprachgestus darüber noch hinaus. 33
G. Steiner, Heidegger, a. a. O., S. 46 f.
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Deutungsmuster
Er mutet selbst »Gewalt brauchend« an, vor allem wenn das Uneigentliche und Unwesentliche abgewiesen und eine verkürzte Denkweise bzw. Rationalität mit scharfen Verdikten belegt wird. Aburteilungen, wie sie auch die Schwarzen Hefte kennen, scheinen hier auf. In der Lektüre kann man deshalb schon aus Stilgründen zu Widerspruch und Einspruch genötigt sein, gerade wenn man den Abstand einer aufgeklärten Vernunft nicht ohne weiteres entbehren will. In solchen Momenten von Heideggers Sprache und Denken liegt die teilweise Wahrheit von Adornos Verdikt über den »Jargon der Eigentlichkeit«. Von der humanen Harmonie bei Autoren, die den anderen zum Gebrauch seiner eigenen Vernunft bringen möchten, ist bei Heidegger wenig zu spüren; auch nicht von einem Nietzscheschen musikalischen Formbewusstsein und einer Polyphonie der Texte, die bei den schwersten Gedanken immer wieder die Fähigkeit zur Aufheiterung zeigt. Nietzsche hatte vermutlich seinerzeit keine unmittelbaren Gesprächspartner mehr, dennoch antizipierte er sie im Dialog. Stil und dialogischer oder monologischer Charakter ist nicht nur eine Frage der Rhetorik und der Einkleidung, sondern des Denkgestus selbst. Doch ist Heideggers Gestus in den nachgelassenen Schriften so weit entfernt von der geschlossenen Mitteilungsart Hegels und den an ihrem eigenen Leitseil entlanggehenden Evokationen des späten Schelling in der Philosophie der Offenbarung, die oft selbst Offenbarungscharakter annimmt? Ich meine, dass diese Frage nicht einfach verneint werden darf. Ebenso klar ist aber, dass die Heidegger’sche Apodiktizität besonders deutlich Nachahmungen und eine Gefangenschaft in Heidegger’schen Sprachfiguren provozierte. Diese Gefährdung, der viele seiner Schüler und Epigonen auf weniger komplexem und philosophisch nur bedingt fruchtbarem Niveau unterlagen, zog eine gegenteilige Tendenz nach sich: die Abstandnahme von Heidegger um jeden Preis und die Furcht vor der Intoxikation. Dass man sich dann irgendwann lieber in Marxistischen oder psychoanalytischen Jargon befreite, ist eine pathologische Black Box, der manche Heideggerianer anheimfielen. Wenn in den publizierten Abhandlungen Fragen konturiert werden, dann können sie auch den Charakter von Katechismusfragen annehmen, die eher einschüchtern als dass sie maieutisches Potenzial in sich enthalten. Heideggers Sprache in ihren kreativ schöpferischen aber auch idiosynkratischen Dimensionen ist zur Traditionsbildung nicht ge521
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eignet. Sie distanziert sich von gegebenen Traditionen, weshalb die Gadamersche Hermeneutik in der Tat eine Urbanisierung aber auch eine Nivellierung des Novums bedeutete. 34 Provinziell mochte dieses vereinzelt in seiner Rancune anmuten, insgesamt war es Teil der Heideggerschen ›Destruktion‹. Gerade in dieser Verbindung von Atavismus und absoluter Modernität zeigt sich das Eigentümliche von Heidegger: Dass ein »absolut Modernes« und ein Aufsprengen des ersten Anfangs sich darin berühren, macht die Exponiertheit seines Stils aus und die Gefahr, nur um den Preis der Blindheit gegenüber der Sache und dem Gesprächspartner zu »heideggern«, einen Gestus, den der spätere Heidegger immer überaus kritisch und ablehnend sah. Eine philosophische Sprachform, die so entschieden, wie dies bei Heidegger der Fall ist, auf Parataxe, stringente Aneinanderreihung bezogen ist, neigt weniger zu argumentativen Begründungsketten als zu apodiktischen endgültigen Worten. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Bildwelten, aus denen Heideggers Sprache schöpft, auch durch ihre Archaismen, und ihre Einfachheit, die sich in der Moderne gerade nicht mehr von selbst versteht, eher abweisend erscheinen. Sie sind einem Jargon des Originären entnommen, der sich mitunter auch der Selbstaufklärung verweigert. Dieser tiefdringende, gerade nicht intellektuelle Gestus fällt im Vergleich zu philosophischen Zeitgenossen der ästhetischen Avantgarde und der kritischen Intelligenz wie Walter Benjamin oder Theodor Adorno auf. Er kann, wenn man Heideggers politische und Äußerungen mit in Rechnung stellt, ein Missbehagen erzeugen. Allerdings eröffnet er auch den Raum des Originären, Elementaren, das sich mit dem Anfangsdenken verbindet. * Eine methodische Reflexivität, wie sie die Transzendentalphilosophen, vor allem Kant und Husserl, beherrschten, wie sie Hegel noch in der Phänomenologie des Geistes anlegt, während in der ›Wissenschaft der Logik‹ der Begriff zu seiner Selbstbewegung gelangt, findet sich bei Heidegger in dieser Form nicht. Am stärksten leuchtet sie in den nachgelassenen Schriften wie den Beiträgen und in den Selbstrevisionen zu ›Sein und Zeit‹ auf. Doch bleibt dieser Gestus immer im 34
Habermas, Die Urbanisierung der Heidegger’schen Provinz, a. a. O.
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Rahmen eines philosophischen Selbstgesprächs. Deshalb werden auch bei Heidegger Rationalitätsformen und -strukturen nicht meta-theoretisch auseinandergehalten. Heidegger überschreitet den Bereich einer Begründungs- und Begriffsphilosophie, und er verweigert sich eine Meta-Epistemologie des eigenen Denkens. Er geht, um es mit Fichte zu sagen, den Weg der »Begriffsvernichtung«. 35 Dies scheint unabdingbar. Wenn er die Abstoßung des anderen vom ersten Anfang ergründet. Doch ein philosophischer Einwand könnte sein, dass die Begriffsvernichtung zu früh greift, ehe die Begrifflichkeit systematisch entwickelt wird. Heideggers Situierung seiner Denkanstrengung im vortheoretischen Bereich erschwert allerdings jeden unmittelbaren Vergleich mit der Fichteschen Sphäre eines ›Gipfels der Betrachtung‹. Heidegger ist keineswegs blind für Methodologien, die die Ontologie begleiten müssten. In seiner frühen Philosophie zeigt er eine hohe Sensibilität für Denkformen und am Ende kommt er auf deren Konturen wieder zurück. Doch die Begriffsstruktur der Denkformen kann erst im Rückblick rekonstruiert werden. Es ist eine der Thesen dieses Buches, dass die Methodizität durchaus in Heideggers Denkbewegung enthalten ist, dass er sie aber nicht eigens exponierte, was man nicht nur als begrüßenswerte Radikalität, sondern auch als eine Verlustbilanz verstehen kann: Heidegger hatte dafür seine Gründe. Er sah die methodischen Überlegungen und Unterscheidungen im ontischen Bereich des ersten Anfangs, einer theoretischen Zugangsweise, hinter die er aber gerade zurück zu gehen versuchte. Hier stellt sich für jede Interpretation die Frage, ob und inwieweit Heidegger in einem nach neueren konsensualen philosophischen standards of art unhintergehbaren argumentationsanalytischen Begründungsrahmen verankert werden kann. Die Behauptung neuerer Erforschungen der Klassischen deutschen Philosophie, dass deren Ergebnisse in einem Duktus dargelegt werden müssen, der den Denkern der Zeit selbst unzugänglich gewesen sei, erbrachte bedeutsame interpretatorische und systematische Ergebnisse. Ob sieser Ansatz deshalb unbefragt hinzunehmen und erst recht auf Phänomenologie und Seinsdenken zu übertragen ist, ist die Frage. Jedem Leser fällt auf, dass die Heidegger’sche Terminologie alles andere als willkürlich ist. Wo sie sich verflüssigt, geschieht dies vor dem Hintergrund präziser 35 Vgl. u. a. Fichte SX X, 118 ff., GA II.7, S. 80 ff. Dazu die von mir betreute Dissertation K. Gregor, Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Bamberg 2018, S. 228 ff.
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und trennscharfer Begriffskonturen. Heideggers Denken ist von großer innerer Konsistenz, darin dem Hegel’schen vergleichbar, dass durchaus – und ständig – Begriffe in ihrem vorontologischen oder ›vulgären‹ Verständnis verflüssigt und in die fundamentalontologische bzw. seinsgeschichtliche Perspektive versetzt werden. Ein analytischer Zugriff kann dieses Begriffsnetz nicht ignorieren. Er müsste sich aber in einem Problemfeld bewegen, das sich auf den Weg in das Ungegründete, oder mit Kant: des Begreifens des Unbegreiflichen, einlässt. Hier ist die argumentationsanalytische Untersuchung zugleich auf eine phänomenologisch sachorientierte Untersuchung verwiesen. Fruchtbar können solche Wege durchaus sein, doch ist diese Fruchtbarkeit selten unter Beweis gestellt worden.
Der ›Mythos‹ der gestifteten Gesamtausgabe? Reinhard Mehring legte in einer Reihe von Publikationen dar, dass die Gesamtausgabe eine ›Stiftung‹ sei, durch die Heidegger als Philosoph und Autor erst eigentlich inszeniert und in seinen Dimensionen erkennbar werden würde. 36 Den langjährigen Hauptherausgeber der Gesamtausgabe verglich Mehring gar mit Elisabeth Förster-Nietzsche oder Goethes Eckermann. Ob solche Vergleiche berechtigt sind, sei hier offengelassen. Die weitergehende Insinuierung, dass es Heidegger als Philosophen vermutlich ohne die Gesamtausgabe so nicht geben würde, erscheint zweifelhaft. Berechtigt ist die Überlegung, dass die Ausgabe Heidegger erzeugt habe, nur in dem trivialen und selbstverständlichen Sinn, dass ohne diese Ausgabe ein großer Teil von Heideggers nachgelassenem Textkorpus unbekannt geblieben wäre, was bei einem Denker von Rang eine barbarische Ignoranz bedeutet hätte. Ansonsten ist das Konstrukt der den Denker generierenden Gesamtausgabe selbstverständlich eine Übertreibung. Die Heidegger’sche Gesamtausgabe ist, bei geringen Mängeln, die sie editorisch enthalten mag, ein eindrucksvolles Novum. Sie ist eine »Ausgabe letzter Hand« post mortem in der bewussten Tendenz, dass die philologischen Feinheiten historischer Kritik nicht »das Denken« überlagern sollten. Deshalb verzichtet sie auf Register und Kommentare. Vgl. aus Mehrings umfassender Aufarbeitung dieser Zusammenhänge Ders., Heideggers »große Politik«. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe. Tübingen 2016.
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Wo, wie bei den Schwarzen Heften, partiell davon abgewichen wurde, erwies sich dies als wenig sinnvoll. Die Wucht von Heideggers Denken und die Präsenz seiner Person legen einen solchen Zugang nahe. In den Grundzügen ist der Editionsplan von Heidegger selbst festgelegt worden, der zügige Fortgang, dem gemäß mindestens zwei Bände pro Jahre erscheinen, hat der Ausgabe eine hohe Frequenz und bemerkenswerte Effektivität gesichert. Motiviert wurde sie nicht zuletzt als eine Art erweitertes und auf Dauer gestelltes Archiv. Auch wenn man die Lebendigkeit und die Selbstwidersprüche Heidegger’schen Denkens stärker sichtbar machen möchte, als die Gesamtausgabe dies ermöglicht – wenn man ihre Deutungshoheit kritisch in Frage stellt, ist man auf ihre Erschließungsleistung angewiesen. Wie Heideggers Sohn Hermann berichtet, war der Vater zu der Edition erst durch die begründete Wahrscheinlichkeit eines Nuklearkriegs zu bewegen, der die solitär aufbewahrten Manuskripte so streuen sollte, dass sie nicht aus der Welt zu bringen wären. Es gibt schon in Heideggers zu Lebzeiten publiziertem Denken eine Fülle von Hinweisen, die zeigen, dass er über eine angemessene Rezeption seines Oeuvres durch die Nachwelt kritisch-skeptisch dachte. Er verstand es aber als Vorlass für Künftiges oder, wie er in den Beiträgen notiert, als »Richtscheit einer künftigen Ausgestaltung« (GA 65.1), das er den »Lanthanonten« zuwies, verborgenen, in der Geschichte wurzelnden und in die Zukunft hinaussehenden Philosophen. Ideologische Parameter wie der Versuch, die Nachlassfrage zu einer deutsch-russischen causa zu erklären, wie der zeitweise neue nationalistische Chefideologe Russlands Aleksandr Dugin es möchte, oder andere Nationalcharaktere mit ins Spiel zu bringen, können nicht auf Heidegger zurückgreifen. Die Gesamtausgabe und ihre Herausgeber, vor allem Heideggers Sohn Hermann und Friedrich-Wilhelm von Herrmann, haben große Verdienste; den Linien, Wiederholungen und Durchbrüchen der Texte nachzugehen, ist für jede ernsthafte Beschäftigung mit Heidegger unerlässlich. Doch das von Heidegger zu Lebzeiten Veröffentlichte lässt pointiert und in einer gewissen Vordergrundansicht die Grundzüge seiner Denksystematik und seines Denkwegs sehr wohl bereits erkennen. Deshalb sind die Aufsatzsammlungen zu würdigen; sie sollten noch einmal gelesen werden, als gebe es die Gesamtausgabe nicht. Allein die Sicherung und Reflexion der Vorlesungen Heideggers macht einen Textbestand zugänglich, der in der Philosophiegeschichte einzigartig sein dürfte. Heidegger hat Vorlesungen niemals standar525
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disiert oder wiederholt. Er hat sie selbst als Fragebewegungen angelegt, und gerade für sein Vorlesungskorpus gilt die Evokation »Wege, nicht Werke«. Die anekdotisch gängige Rede von den Vorlesungen als »Verschiebebahnhöfen« Heideggers bleibt hinter diesem Rang zurück. Keine Rede kann deshalb davon sein, dass Heidegger in seinem philosophischen Rang erst durch die Gesamtausgabe sichtbar wäre. Sie macht öffentlich zugänglich, was in seinen Denkwegen detailliert dokumentiert ist und was auch Voraussetzung dafür sein kann, Heideggers Denken diesseits der Standardinterpretation zu würdigen.
Heidegger im Zusammenhang der phänomenologischen Ontologie Der private Umgang Heideggers mit Husserl und dessen Familie war lange Zeit freundschaftlich. Die Tilgung der Widmung in der Ausgabe von Sein und Zeit hat Heidegger später im Bereich des seinerzeit Üblichen zu erklären versucht, die Verantwortung für die Repressionen und Vereinsamungen, denen Husserl wie viele andere jüdische Bürgerinnen und Bürger in seinen späten Jahren ausgesetzt war, wies er von sich. Historische Quellen können Intentionen und Grundhaltungen niemals rekonstruieren. Auch wenn Heidegger nur das seinerzeit Übliche getan und unterlassen hätte, bleibt es für einen Philosophen seines Ranges im Verhältnis zu seinem Lehrer unerfreulich. Nicht die moralische Empörung, sondern die philosophische Rekonstruktion der Tiefengrammatik in Heideggers Verhältnis zur Husserl’schen Phänomenologie dürfte aber fruchtbar sein. Schon als Assistent Husserls hatte Heidegger Distanzierungen gegenüber der Phänomenologie formuliert. Sie muten bei einem näheren Blick eher vordergründig an, wenn er den – immer wieder gewählten Titel für Lehrveranstaltungen – ›Phänomenologische Interpretationen‹ – als eine Referenz gegenüber Husserl und gerade nicht als eigenes Anliegen ausweist (vgl. Erster Teil und Fünfter Teil). In der Sache bleibt Heidegger Husserls Anregungen in weit höherem und erstaunlichem Maß verpflichtet: Husserls Begriff der ›kategorialen Anschauung‹ wurde für ihn zum zentralen Abstoßungspunkt seiner Denkbewegung, auf den er ganz am Ende wieder zurückkam. Der Begriff der ›Urwissenschaft‹, den der frühe Heidegger durchaus noch gebraucht, verschiebt sich aber dadurch, dass nicht wie beim späteren Husserl die transzendentale Egoität in ihrem zeit-invarianten Be526
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wusstseinsstrom die reine ursprüngliche Gegebenheit der Phänomene konstituieren soll. Sie manifestiert sich vielmehr in der eksistentiellen, welthaften Deutung des je eigenen Daseins, das primär auf Bedeutung und auf Pragma, den Umgang mit den Dingen bezogen ist. Die Linie einer transzendentalen Egoität verlässt Heidegger konsequent, auch wenn er in dieser frühen Zeit noch von der »Seinsidee« spricht und, wie wir sahen, Husserls eidetischen Ansatz konsequenter festhält als dessen egologische Konzeption. Die transzendentale Ichheit kommt bei Heidegger nur im Modus der Dekonstruktion vor. Von Intentionalität ist in Heideggers eigenständigem Denken nicht die Rede und damit auch nicht mehr vom Korrelationsapriori, der noetisch-noematischen Entsprechung. Das in-der-Welt-sein und der Bewandtniszusammenhang der Sorgestruktur treten an die Stelle der Intentionalität. Was dies im Einzelnen bedeutet, wurde in den Überlegungen zu Sein und Zeit gezeigt. Der Verlust der egologischen Perspektive bedeutet prima facie nicht nur eine Ablösung aus dem neuzeitlichen philosophischen Horizont, sondern zugleich die Destruktion und Entkoppelung von der transzendentalen Denkform, die ein kritisches und rationales Instrumentarium bereitstellt. Wenn der Antipsychologismus Husserls aber von Zeitgenossen wie Sartre als Einsicht verstanden werden konnte, dass die Welt ganz und gar »draußen« sei: »au dehors«, so lässt sich durchaus eine Kontinuitätslinie Heideggers zu Husserl konstruieren. Dieses ›Draußen‹ hätte Heidegger dann weitergehend bestimmt. In Auseinandersetzungen mit Husserl legte Heidegger in der Debatte um den gemeinsamen Encyclopedia Britannica-Artikel dar, dass die Phänomenologie die ›Ontologie‹ nie wirklich in den Blick gebracht habe. 37 Fundamentalontologisch und bei der Bezugnahme des menschlichen Daseins zum Sein selbst begann er, diese Ausblendung zu korrigieren. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, wie eng die sachlichen Verbindungen blieben und dass Heidegger jenen Bereich thematisch zu machen versucht, der der Konstitution einer eidetischen Bewusstseinsstruktur seinerseits zugrunde liegt: Sein selbst in seiner Gegebenheit und seinem Lethecharakter, seiner Verborgenheit. Ein innerphänomenologischer Zusammenhang bleibt insofern gewahrt, als Dazu die Dokumentation W. Biemel, »Husserls Encyclopedia Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu«, in: W. Biemel, Gesammelte Schriften. Band 1. Schriften zur Philosophie. Stuttgart 1996, S. 173 ff.
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es auch Heidegger um die reine und originäre Form des Erscheinens geht, ein »zu der Sache selbst«, die er anders als Husserl nicht im Plural, sondern im Singular auffassen wollte, bezogen auf die Frage nach dem Sinn von Sein. Heidegger findet sie nicht in dem mathematisch reinen Objektivismus, durch den die frühe Phänomenologie die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber dem Psychologismus demonstrierte. Er findet diesen Ansatzpunkt auch nicht in der transzendentalen Bewusstseinslehre und ihrer monadologischen Erklärung der erscheinenden Phänomene, sondern zunächst in der Welthaftigkeit des Daseins, dann in dem Rückgriff auf das allem Gedachten zugrundeliegende, selbst aber ungedacht bleibende sein selbst. In seinen Überlegungen, den Schwarzen Heften, griff Heidegger auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Husserl’schen Defizienzen nicht mit argumentativem Instrumentarium zurück, noch nicht einmal mit einem »Machtspruch der Vernunft«, sondern mit den Mitteln von Ressentiment und Rancune, die eine innere Erschütterung, eine Art philosophischem casus belli verraten. Allein schon deshalb sollte in einer metakritischen Perspektive die Husserl’sche Urintention immer offengehalten werden, ihr sich über sich selbst aufklärender Impetus, der Rückbesinnung auf die radikale Eigenheitssphäre und die Methodizität, die bei Heidegger keine wirkliche Entsprechung haben. Es ist aber auch offensichtlich, dass sich bei Heidegger in allen Phasen seines Denkens fairere und angemessenere Urteile über den Begründer der Phänomenologie finden als in den Überlegungen. Die essentielle Verschränkung von Phänomenologie und Hermeneutik, dem sich selbst-Ausgelegtsein, hat in Sein und Zeit das Profil der Phänomenologie präzisiert und verändert. Es ist unstrittig, dass Heidegger das Profil des phänomenalen Eidos in die Fluidität der Sprache überführte. Zuerst und zuletzt verlagerte er Phänomene von dem Erscheinen der Seinsidee in die Übergänge des Hörens (Akroamatik) und Schweigens (Sigetik). 38 Über diese offensichtlichen Divergenzen sollte aber nicht übersehen werden, dass Heidegger das Erscheinen, in dem immer das Wesen selbst erscheint, in der Grundfrage des ›anderen Anfangs‹ erkennt: Es ist Welt, die in Wahrheit erscheint. Das rein Entsprungene soll zugleich das Über-Phänomen sein bzw. der originäre Modus der Phänomenalität.
Zur Unterscheidung und Korrelation dieser Resonanz vgl. meine Philosophische Systematik. Geplant für Ende 2020.
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Heidegger: Kritik und tiefere Bedeutung Das Diktum »Heidegger kritisiert man nicht« kursierte in Heideggers späten Lebensjahren in seinem Umfeld. Es geht einer mündlichen Überlieferung zufolge auf Eugen Fink zurück und muss nach Zeitzeugenberichten in Freiburg während Heideggers später Lebenszeit vielfach zu hören gewesen sein. 39 Dass eine Phalanx Heidegger treuer Philosophen diesem Diktum lebenslang folgte, erleichtert einen angemessenen hermeneutischen Umgang nicht unbedingt. Die Kehrseite zu solchen Behauptungen ist häufig die gänzliche Immunisierung gegen ein Denken, das mit solchen Warngesten besetzt wurde. Fruchtbar wird die Auseinandersetzung mit Heidegger erst, wenn sie sich über das Diktum hinwegsetzt. Denn in der behaupteten Kritikabstinenz wird eine gewisse Unumgänglichkeit, eine Notwendigkeit des Seins- und Ursprungsdenkens behauptet. Sie hätte eher in geschlossenen Religions- und Offenbarungssystemen ihre Berechtigung als in einer philosophischen Konzeption, von welcher Größe und welchem Rang sie auch immer sei. Über den Charakter der Heidegger’schen Philosophie sagt sie allerdings nichts aus; dass sich Heidegger vielmehr selbstkritisch und in Revisionen mit seinem Ansatz auseinandersetzte (Zweiter Teil, V), dass sein Denken in Bewegung blieb, wird auf diese Weise verkannt. Gedanken und philosophische Systematiken sind zunächst immer kontingent. Sie sind, wie Collingwood zeigte, Antworten auf Fragen und Debattenlagen, ohne die sie so nicht entstanden wären. 40 Sie können den Anschein des sakrosankten Werkes haben, doch es bleibt immer ein Anschein, der nur aufkommen kann, weil Spuren verwischt wurden. Deshalb bedürfen sie der Überprüfung, wenn auch einer solchen, die dem Komplexitätsgrad des Gedankens gewachsen ist. Die Kritik ist erforderlich, um Apodiktizitäts und Wahrheitscharakter eines Entwurfs einzulösen. Insofern wird es Heidegger auch nur gerecht werden, wenn er mit kritischem Blick verstanden wird, aber aus einer Perspektive, die seiner Frage gewachsen ist. Dieter Henrich wies darauf hin, dass Heideggers Zuweisung des Endes der Metaphysik an die Subjektivität eine geniale Intention, zuMündliche Mitteilungen aus den frühen neunziger Jahren durch meine verehrten akademischen Lehrer Hans Maier und Werner Beierwaltes †. 40 R. G. Collingwood, An Autobiography. NE Oxford 1978. 39
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gleich aber völlig verfehlt sei. Subjektivität, so führt Henrich seine Überlegung weiter, 41 sei immer ein zweites. Sie schließe an die implizite Dynamik des gelebten Lebens an und forme dessen Vorreflexivität in einem Einheitssinn des Bewusstseins. Wie wäre Heideggers Urintention im Gegenlicht von Henrichs Einsicht zu rekonstruieren, hält sie ihm überhaupt stand oder nähert sich im Licht dieser Einsicht umso mehr die Seinsfrage an? Dass das Subjekt seinsvergessener erster Grund sei, erweist sich in jedem Fall als Chimäre. Ebenso wenig zwingend ist die Verfallslinie in Heideggers Seinsgeschichte. Die Seinsvergessenheit ist nach Heideggers Diagnose schon mit dem Aufdämmern der Metaphysik angelegt, weil Sein immer auf Seiendes hin interpretiert wird. Sobald es zu einer ›Lichtung‹ der Seinserfahrung kam, wurde die metaphysische Grunderfahrung verdeckt. Hier thematisiert Heidegger einen fatumartigen Verlauf, der Jaspers’ Vorbehalt, Heidegger habe von Freiheit nichts verstanden noch wissen wollen, in der Tiefengrammatik seines Denkens zu bestätigen scheint. Die Seinsgeschichte vollzieht sich als Schickung, der nicht zu entrinnen ist: Mit der Möglichkeit, die Seinsepiphanie der Verborgenheit zu entreißen, sie in eine Denkform zu bringen und ihr damit Dauer zu geben, also mit dem Beginn der Metaphysik, sei die anfängliche aletheia schon vergessen worden. Sein wurde zu idea, energeia, summum bonum und wie sich die metaphysischen Grundstellungen noch fassen lassen, alles Formen der Manifestation und zugleich der Vergessenheit genommen, die sich mit Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht und der neuzeitlichen Technik ihren Endpunkt erreicht habe. Die Zwangsläufigkeit, die Heidegger ansetzt, ist selbst keineswegs zwangsläufig. Wäre nicht der namentlich bei Hannah Arendt 42 im politischen Verständnis markierte Augenaufschlag des denkenden und handelnden Menschen, so könnte Sein nicht gedacht oder verkannt werden. Jederzeit hätte es auch anders gedacht werden können – und wurde es auch tatsächlich anders gesagt. Spinoza (oder die Neuplatoniker), die solche Wegmarken setzten, werden in Heideggers Seinsgeschichte weitgehend übergangen. Wie diese freie Variierung des Weltumgangs tatsächlich aussah und wie sie hätte aussehen können, fragt Heidegger nicht.
Henrich, Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, a. a. O., S. 381 ff. 42 Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1987, S. 120 ff. 41
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Der Preis für den Ansatz seiner seinsgeschichtlichen Bestimmungen ist hoch. Die Radikalität ist mit einer Geschlossenheit des thematisierten Denkgefüges erkauft. Daher zeigt sich in unterschiedlichen Epochen die jeweilige Wiederkehr und Zuspitzung des Vergessens der originären Seinserfahrung, die alle metaphysischen Konstellationen bestimmt. Analytisch liegt sehr viel mehr in Heideggers Ansatz: eine trans- und meta-metaphysische Konstellation, die das Seinsdenken mit Kants Aussage als »Metaphysik der Metaphysik« hätte etablieren können. Diesen Weg verfolgte Heidegger aber nicht weiter. Vor dem Hintergrund der phänomenologischen AristotelesInterpretationen am Ende des Ersten Weltkriegs bildete sich ein solcher Zugriff auf Metaphysik heraus. Die wirklich geniale Intention im Hintergrund ist, dass auch das Verkennen und Verfehlen noch eine Form des Denkens von Sein ist; und dass das Kriterium für Verfehlen oder Treffen nur in einer Phänomenologie des Lebens, die ins Verborgen-Vortheoretische führt, ermittelt werden kann. Es wird vor diesem Hintergrund auch auffallen, dass der frühe Heidegger das ›Man‹ als einen neutralen Begriff der Öffentlichkeit verstand und nicht, wie dann in Sein und Zeit, als Modus von Uneigentlichkeit. Hätte Heidegger die Spur einer solchen Phänomenologie der Metaphysik konsequent weiterverfolgt, könnte die Wahrheit einer Aufklärung, die über sich selbst aufgeklärt ist und einer Gemeinsinnigkeit mit der abgründigen einen Frage nach der Wahrheit des Seins in Verbindung gebracht werden. Ob eine solche Wegbahn Heidegger’scher Philosophie fallweise möglich und vielleicht auch fruchtbar gewesen wäre, ist zugleich eine Frage an verantwortetes Handeln. Im Seinsgeschick des ›Il y a‹, wie es der Humanismus-Brief entwickelt, scheint dafür kein Raum zu sein. In dialogischer und auf die Verantwortung des Menschen für seinesgleichen und die Welt bezogener Weise können gerade von Husserl her Gegenbilder entwickelt werden. 43 Ein Modus ›rettender Kritik‹, wie ihn Walter Benjamin grundsätzlich thematisierte, sollte, so mein Plädoyer, an Heidegger angelegt werden. Rettung und Kritik sind gerade darin ineinander verklammert, dass die Grenzen Heidegger’scher Philosophie vermessen
Ich verweise ohne pedantischen Stellennachweis, um die Richtung anzuzeigen, auf die Cartesianischen Meditationen und die Kaizo-Artikel: Husserliana Band I und Band XXVII.
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werden. Das war ein Leitfaden dieses Buches sein. Heidegger kreist letztlich um einen Fragekomplex, der die Sicht auf die abendländische Genealogie des Denkens insgesamt betrifft: Den Zusammenhang von phýsis, aletheia, vormetaphysischem Grund und den Strukturen, in denen menschliches Dasein auf Welt bezogen gedacht werden kann: Es ist ein vor-theoretischer, Theorie erst in ihrer Möglichkeit etablierender Grund, den Heidegger zu fassen versucht. Schon in seinen ersten eigenständigen Denkansätzen situierte Heidegger den Grund in dieser Sphäre der Originarität. Er verweist in einen Bereich außerhalb des in metaphysischen Prämissen Begründbaren. Deshalb sieht ihm tatsächlich Heraklit über die Schulter, weil er, im Zeitenabstand in der Auseinandersetzung mit der metaphysischen Vergangenheit und in einer Kommunikation des Denkens mit der Dichtung diese Originarität zur Entfaltung bringen möchte, verbunden mit dem Strukturzusammenhang eines menschlichen Daseins, das aus seiner Zugehörigkeit zur Seinserfahrung selbst exponiert wird. Heidegger ist, wenn man seinen Ansatz ernst nimmt, nicht an einem transzendentalen Begründungsanspruch zu messen, auch nicht an einer in sich vermittelten Systemform in der Weise Hegels und nicht an einem schwachen Denken oder Formen des pragmatischen Weltbezugs. Allerdings ist die Weise, in der er selbst auf jene Denkformen Bezug nimmt, implizit oder explizit, für das Selbstverständnis und die Artikulation dieser Denkformen von Bedeutung. Was vor allem in den Selbstverständigungsschriften wie den Beiträgen oder dem kritischen Rekurs auf ein Werk wie Sein und Zeit deutlich wird: Heidegger zielt mit Konsequenz in einen vor- und außerbegrifflichen Grund der Anfänglichkeit. Sein Denken hat nicht den Anspruch, aus diesem Grund Totalität hervorgehen zu lassen. Es bleibt in all seiner Insistenz zeit- und endlichkeitssigniert, ohne je dem Anspruch einer Tilgung der Zeit zu folgen, die Hegel am Ende der Phänomenologie des Geistes beschwört. Zudem bleibt Heidegger in einem abendländisch-europäischen Horizont, der allenfalls auf die empathischen japanischen Gesprächspartner der späten Zeit sich einließ. Eine kulturvergleichende, in die Hermetik von Grundphilosophien ausgreifende Konzeption, wie sie etwa Heinrich Rombach vor-
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Deutungsmuster
schwebte, 44 hat Heidegger niemals entwickelt. Das Gespräch mit japanischen Freunden gehört allerdings in den Umkreis von Heideggers Selbst-Infragestellung. 45 Heideggers originäre Seinsfrage bleibt im Bereich des metaphysischen Denkens von zweitausend Jahren europäischer Überlieferung: Gerade darin wirft er die Frage auf, ob nicht vermeintlich interkulturelle Perspektivierungen nur den Resonanzraum der eigenen Stimme erweitern. Diese fundamentale aber vergleichsweise begrenzte Fragedimension zeigt, dass Heidegger gleichermaßen der Metaphysik und der Moderne zugehört. Er wiederholt die philosophischen Grundstellungen der Metaphysik und legt ihre Erosionen frei. Er versteht Metaphysik als conditio sine qua non und zugleich als Mangel des Denkens. Sie ist nicht einfach zu »überwinden«, schon gar nicht ist sie obsolet, aufgrund eines zu projektierenden »nachmetaphysischen Denkens«. Heidegger sieht sie vielmehr als einen Schmerz, der »verwunden« werden muss. Eine philosophische Kritik muss diesen wahrlich weit gefassten Horizont zunächst anerkennen. Sie kann dabei immanent und extern operieren. Doch wenn sie meint, ihn überschreiten zu können, benötigt sie auch dafür gute Gründe. Auf dem seinsgeschichtlichen Weg grenzt sich Heidegger immer wieder von anderen Begriffsformen und -strukturen ab, etwa von der ›Dialektik‹ Hegel’scher Provenienz, aber auch der Paradoxie des verzweifelten Selbstbewusstseins bei Kierkegaard. Nicht zuletzt findet man deutliche Abwehrgesten gegenüber dem ideologischen Zeitgeist des ›Gestells‹, das nicht denke. Es sind auch pervertierte NS-Ideologeme, die Heidegger dabei als Gegenbeispiele zu dem zu Denkenden heranzieht. Doch zugleich zeigt sich eine bemerkenswerte Unentschiedenheit. Die globale Topologie von »Machenschaft« und »Not der Notlosigkeit« führt dazu, dass andere Leitdifferenzen bei Heidegger keine Rolle spielen; Leitdifferenzen, die intellektuell und moralisch zur Geltung zu bringen und von nicht unwesentlicher intellektueller und moralischer Gewichtung wären. Salonliteratur und Presse firmieren auf derselben Ebene wie eine routinierte Universitätsphilosophie und öffentliche Vernunft. Wenige Jahre nach dem Krieg werden in den ›Bremer Vorträgen‹ die Versiegelung des Bodens und die Vgl. den Überblick bei Seubert, Interkulturelle Phänomenologie, a. a. O., S. 15 ff. Sie wurde weiter oben Zweiter Teil, II. als ein besonderes Kennzeichen des Heidegger’schen Denkens hervorgehoben.
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»Produktion von Leichen« in Lagern auf einer Ebene verhandelt. Die Entschiedenheit dieser Perspektive, die in sehr unterschiedlichen Bereichen Seinsvergessenheit konstatiert, ist dem Holismus der Seinsgeschichte geschuldet. Deshalb kippt sie immer wieder um in eine Übertreibung und Überspitzung, die Differenzierungen und Abbiegungen ignoriert, die ein ethisch verantwortliches Leben konstituieren müssten. Differenzierend verfährt Heideggers seinsgeschichtliches Denken immer dort, wo es in der ›Zwiesprache‹ mit Hölderlins Dichtung oder auch in der ›Gegen-Rede‹ zu George oder Rilke aus den Bildund Hörräumen der Dichtung eine eigene Topologie gewinnt. Eine Parallelität zum Zwiegespräch mit der Dichtung ergibt sich aus den Annäherungen an die frühe griechische Philosophie. Die Leertexte der Fragmente der Vorsokratiker werden von Heidegger nochmals auf Grundwörter und ihr Befremdendes, ihr Anders-sein hin ausgelegt – gerade gegenläufig zu der hermeneutischen Maxime, es gehe darum, vom »Bekannten zum Unbekannten«, vom Hellen ins Dunkle zu gelangen. 46 Gerade dort, wo dieses Denken sich entzentriert, findet es zu differenzierenden relationalen Kategorien des Seinsgeschehens. Das Grundverhältnis kann als Entbergung des Verborgenen, als Lichtung aus der Verborgenheit evoziert werden, in der das von sich her aufgehende Sein selbst sich zeige. Es kann aber auch umgekehrt als Zur-Erscheinung-Kommen der grundlegenden Verborgenheit von Wahrheit gedacht werden. In diesen Explikationen erweist sich Heidegger noch einmal als Phänomenologe und Hermeneutiker. Der Anspruch seines frühen Denkens wird in einen veränderten Horizont transformiert. Die phänomenologische Sprache soll bis zum Akt des Zeigens, der ausgeprägten Evidenz, führen. Die Hermeneutik befragt die Verstehbarkeit jener Grundphänomene. Geht es doch um den genauen Aufriss, wie sich das ›vergessene‹, verborgene Sein lichte und wie auf es zurückzukommen sei. Doch diese Sinnklarheit erreicht das Seinsdenken nur dort, wo es nicht als ein erratischer Block gegen die unterschiedlichen Facetten der Seinsvergessenheit angeführt wird. Die vielfachen Ansätze, den Gedanken zur Klarheit zu führen, münden immer wieder ins Verborgene. Im eigenen Denkansatz bildet Heidegger, in Destruktion des Verständnisses der ›Logik‹ als Frage nach der Wahrheit, einen eigenen lógos des Seins auf dem Übergang in den anderen Anfang aus. Ein 46
Heidegger, Sophistes, GA 19, S. 7 f.
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wiederkehrender Zug ist dabei die Rückkehr auf das Sein aus dem Seienden, das durch Vergessen seines Grundes erst konstituiert wurde. Dabei schichten sich die Annäherungen an das Sein auf. »Riss«, »Innigkeit« und »Maß« sind Evokationen jenes einen Verhältnisses. Sie zeigen Gleichklänge. Doch sie sind nicht in eine allgemeine Methoden- und Begriffsform zu übertragen. Walter Benjamin, dem immer eine große Unabhängigkeit zu der phänomenologischen Schule eigen blieb, kommt in manchen Überlegungszügen, und ohne ihn explizit zu nennen, in der Sache erstaunlich eng mit Heidegger überein; vor allem darin, dass beide den genauen, treffenden Begriff nicht mit dem Allgemeinbegriff identifizieren. Diese methodische Verbindung geht weit über die Differenzen zwischen einer »Dialektik im Stillstand« bei Benjamin und Heideggers Phänomenologie des Abwesenden hinaus. Benjamin spricht in der berühmten und änigmatischen ›Erkenntnistheoretischen Vorrede‹ zu seinem Trauerspiel-Buch 47 von den eidetischen Kategorien, die sich dem Phänomen so anschmiegen, dass sie es aufs treffendste und prägnanteste zu erfassen vermögen. Auf diese Weise würde ein Netz von Ideen im Zwischenbereich zwischen Begriff und Erfahrung aufgespannt, in der sich die einzelnen Phänomene erfassen lassen. Eine derart durchgehende vergleichsweise luzide Erkenntnistheorie hat Heidegger für das Denken des anderen Anfangs nicht entwickelt und keineswegs kann Benjamins platonisch-dialektische Erkenntnismetaphysik dafür als Surrogat eintreten. Doch es ist bei Heidegger die einzelne Denkerfahrung anlässlich der Grunderfahrung von Sein und Nichts, die in den Grund und Abgrund des Seins verweist. Man wird an diesen Stellen bei Heidegger eine blinde Stelle bemerken, die in eben dem Maß zunimmt, in dem er selbst die Seinsvergessenheit zum zentralen Topos seines Denkens erklärt: Die Bewegung des Seinsdenkens bleibt änigmatisch, und unbestimmt ist es, wenn Heidegger in den großen Durchblicken der Seinsgeschichte davon spricht, dass die »aletheia zur rectitudo: Richtigkeit« wird, die Metaphysik der Substanz zu jener des Subjektes, das Subjekt bei Schelling, zum Willen und bei Nietzsche zum »Willen zur Macht«. Suggeriert wird damit in der Seinsgeschichte eine Notwendigkeit, die Freiheit in der Entwicklung eines Gedankens gerade nicht vorsieht, so sehr Heidegger auch immer wieder von Freiheit spricht. Jaspers’ ziW. Benjamin, »Trauerspielbuch, Erkenntnistheoretische Vorrede«, in: Gesammelte Schriften I.I, a. a. O., S. 207 ff.
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tiertes Diktum, Heidegger habe von Freiheit schlechterdings nichts verstanden, hat gerade in der argumentativen Ausblendung der Seinsgeschichte, also an diesem Punkt, seine eigentliche Wahrheit. Das ›Seinsgeschick‹ folgt einer Verlaufsform, die die philosophischen Begriffsformen vergangener Metaphysik als bestimmte Gestalten der Wahrheit des Seins identifiziert, in denen es mit dem Sein und der Wahrheit nichts ist. Damit bleibt Heidegger im seinsgeschichtlichen Denken weit hinter komplexen Problemkonstellationen zurück, die er in den ›Destruktionen‹ von Sein und Zeit und in einzelnen Interpretationszusammenhängen aufweist. ›Wird‹ wirklich ein Gedanke und Grundbegriff zum anderen oder bleibt er nicht vielmehr derselbe, während ein anderes Begriffsschema sich in den Vordergrund schiebt? Ist es nicht eine unhaltbare Verkürzung von vielfältigen, andere Möglichkeiten mit enthaltenden Begriffen, wenn konstatiert wird, aletheia ›werde‹ zu Richtigkeit. Wenn zwischen Begriffsschemata unterschieden würde, wären beide nicht ohne weiteres aneinander zu messen und aufeinander abzubilden, als notwendig aufeinander folgende Epochen der Seinsgeschichte. Dem entspricht es, dass Heidegger Abzweigungen und Variierungen auf den Wegen der Seinsvergessenheit, die am Ende in eine »Not der Notlosigkeit« münden, nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Dies gilt für Konzeptionen, die nicht direkt als Beitrag zur Genese der Metaphysik verstanden werden können, wie den englischen Empirismus, für Hume und Locke und die sympathetische common sense-Philosophie, für ganze Zweige der philosophischen Tektonik, die Heidegger unberücksichtigt lässt, namentlich die politische Philosophie. Es gilt aber selbst für einen monolithischen großen spekulativen Entwurf wie Spinozas Ethica. Die Begriffsform des anderen Anfangs ist durch Wiederholungen charakterisiert. Wie in einer idée fixe umkreist Heidegger in seinen nachgelassenen Gedankenkonvoluten seit den Beiträgen immer wieder ein und dieselben Grundverhältnisse: Welt und Erde, erster und anderer Anfang, Logik als Frage nach der Wahrheit. Mitunter melden sich in der Repetition aber Modifizierungen, Selbstkorrekturen und nicht selten auch Zweifel, ob ein Durchdenken zum befriedigenden Ziel geführt hat. Die Handexemplare und die Eintragung der Fragesignaturen von Heideggers Hand liefern prägnante Beispiele. Die Wiederholung sollte keineswegs als leerlaufende »Itineration« missverstanden werden. Sie bildet keinen Mechanismus, wie ihn Heidegger in seiner Interpretation der Hegel’schen Dialektik und des 536
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»Willens zur Macht« in den späten Nietzschevorlesungen erkannte. Die Wiederholung wird zu einem Mittel der Selbstklärung und -korrektur, von dem Heidegger in überreichem Maß Gebrauch machte. Sein Denken erweist sich damit als soliloquiale Umkreisung von Grundfragen. Erst sehr spät konnte Heidegger diese Wiederholungen selbst als wesentlich für die Sache des Denkens verstehen und ihnen eine neue Leichtigkeit geben: Er spricht dann in seiner spätesten Philosophie von einem »tautologischen Denken«, das allerdings keiner argumentativ stringenten Begründung mehr bedarf, sondern das Eine und Selbe meditierend wiederholt: 48 Die Sache des Denkens hat dann methodisch von den Wegen der Philosophie weitgehend Abschied genommen. Ein gleichsam stereoskopischer Grundzug begegnet bei Heidegger immer wieder. Ein und dieselben Begriffe changieren zwischen unterschiedlichen Ebenen: So kann Vaterland im Hölderlin-Zusammenhang die Natur bedeuten, aber auch die konkrete Nation, in welcher politischen Form auch immer. Dieser Grundzug ist im Zusammenhang der Besprechung der Vorlesungen als Mangel charakterisiert werden. Er ist aber scheinbar unvermeidlich, wenn das Denken nicht spezifisches ›Seiendes‹ bestimmt, sondern wenn das Seiende im Ganzen fokussiert wird, um das Verborgene, das Sein selbst, fragend zu umkreisen, wobei es sich im Finden immer entzieht. Die ontologischen Grundverhältnisse spielen deshalb in Topographien, wie Hellas und Hesperien, hinüber oder auch in allgemeinere Situierungen des Fremden und Eigenen, Eigenen und Fremdem, die ohne weitere Vermittlung zu Urteilen von unmittelbar politischer Relevanz werden. Begriffe sind zugleich Namen und Namen Metaphern, ohne dass dazwischen unterschieden werden müsste. Jene verschiedenen Ebenen fließen zeitweise in Heideggers Denken des anderen Anfangs in Gleichzeitigkeit ineinander. Zwischeninstanzen fehlen, etwa die Instanz einer Urteilskraft, die den Allgemeinbegriff auf das einzelne Bild bezieht. Wie problematisch dies sein kann, zeigen zuletzt Heideggers Schwarze Hefte, die die Stereoskopie besonders weit führen. Moment der stereoskopischen Verschmelzung, in der so grundlegende Differenzierungen wie jene zwischen Politik und Philosophie eingeschmolzen werden, ist es, dass Heidegger das Seinsgeschick wie eine Heilsoffenbarung fasst und den rationalen Boden der Philo48
Vgl. weiter oben Vierter Teil.
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sophie verlässt. Philosophie droht auf diese Weise zur Prophetie zu werden; worin auch eine Affinität zu Nietzsche zu erkennen ist. Es könnte auch dieser Überlegungszusammenhang gewesen sein, der Heidegger zu der Aussage bewog, dass Nietzsche ihn zerstört habe. In den Begründungen jedes Denkers ist auch das Verdrängte, Abgespaltene, nicht Bedachte unterschwellig noch und wieder präsent. Heidegger ist Meister im Verwischen der Spuren, er lässt zentrale Topoi und Gegner, denen sein Nachdenken immer wieder gilt, implizit und unbenannt. Nur vereinzelt treten sie eruptiv zu Tage. Eine in denkbar harter Gegenführung zu Heideggers eigenem seinsgeschichtlichen Anfang formulierte Konstellation, der das Seinsdenken weder gerecht wird noch gerecht zu werden versucht, betrifft christlichen Offenbarungsglauben. Heidegger verweist zwar gelegentlich auf den Prolog des Johannesevangeliums oder im Zusammenhang seines Sprachdenkens auf das Pfingstwunder als Manifestation des lógos. Die monotheistische, personale und trinitarische Dimension der christlichen Offenbarung deutet er aber als dem Seinsdenken fremd und in dem Sinn, dass das Seinsdenken damit nicht erfasst werden könne. Für Heidegger ist Offenbarung und ein Denken, das ihr folgt, das permanent Andere, Verdrängte. Doch es wird bei ihm nicht kriteriologisch fassbar. Einzelzüge des griechischen, frühchristlichen Offenbarungsverständnisses beschäftigen Heidegger nach seiner frühen Religionsphänomenologie kaum mehr. Vielmehr deutet er sie in einem vulgärscholastischen Licht, das den Gottesbegriff in die Reihe der Entia einbeziehe und zum ›summum ens‹ erkläre; womit die Paulinisch augustinische Spur, der sich der frühe Heidegger durchaus mit Umsicht und Kenntnissen zugewandt hatte, erst recht aber jede Form alttestamentlicher Gotteserfahrung und der hebräischen Begriffsform, unkenntlich gemacht wird. Vereinzelt nimmt Heidegger in den vierziger Jahren und im Zusammenhang seiner Nietzsche- und Hölderlin-Auslegung zwar die Doppelgestalt von Christus und Dionysos auf, der sich gerade der späte Nietzsche in seiner persönlichen Mythologie zuwendet. Doch das Innere jener Topologie erschließt sich nur bedingt. Dionysos versteht er als die mythische Figuration des Halbgöttlichen, das in exponierter Weise auf das Sein selbst bezogen ist; Christus immer auf ein bestimmtes Seiendes, das Positivum des Glaubens orientiert. Die Grundzüge dieses bis zuletzt leitenden Verhältnisses Heideggers zur Theologie sind bereits in Phänomenologie und Theologie (1927) klar ausgesprochen und in den 538
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Schwarzen Heften besiegelt. Die Frage nach dem Göttlichen verkürze die vorwissenschaftliche Dimension der Ontologie auf ein Positivum. Dieses Diktum sollte man nicht ungeprüft hinnehmen.
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1. Eine grundlegende Problematik älterer Heidegger-Forschung, die aus Heideggers näherem Umfeld und aus Affinität zu ihm sein Denken erschloss, besteht, was Heidegger ja selbst am deutlichsten inkriminierte, darin, dass sie »geheideggert« hätte. In den fünfziger Jahren, als Heideggers Denken eine hohe Verbindlichkeit zumindest in der deutschen Philosophie hatte, wurden Heidegger’sche Begrifflichkeiten bzw. sprachliche Neuprägungen, die Heidegger selbst eindeutig genug als Suche nach dem Ungedachten der Metaphysik bezeichnete, in ein scholastisch-alexandrinisches Gehäuse gepresst. Daran und an den Gegenaffekten kranken weite Teile der Heidegger-Forschung noch immer. Nicht, wie Reinhard Mehring meint, die »Stiftung der Gesamtausgabe« präsentiert einen verfremdeten Heidegger, sondern diese geschlossen geschichtete Deutung – in dem ehernen Gehäuse einer kaum verstehbaren Diktion, die sich gegen Heideggers Maxime »Wege nicht Werke« schon methodisch vergeht. Die außenstehende Gegentendenz liegt in einer Abwehr der Wucht dieses Denkens, in prominentester Weise ausgehend von Adornos Negativer Dialektik, wo doch – bei allen gravierenden ideologischen und zeitgeschichtlichen Divergenzen – die Affinitäten zwischen Heidegger und ihm selbst nur allzu offen zutage liegen. Einen eigenen Abwehrreflex gegen die Heidegger’sche Faszination bietet die Flucht in »kontrolliertes Denken«, eine simplizistische und reduktive Form analytischer Philosophie, die gegen das »Raunen« des Zauberers von Meßkirch immunisieren soll. Wenn man begründet annimmt, dass mit ihm auch Fragen, Einsichten, der Bogenschlag durch die gesamte abendländische Philosophie und in eine sie transzendierende Offenheit preisgegeben werden, überhaupt ein Denken, das den Fragehorizont der Metaphysik offen hält, wird man diese Selbstzähmung auch als Selbstkastrierung verstehen müssen. Adorno und andere hatten ihre 541
Epilog
Gründe, Heidegger reduktionistisch zu lesen. Er wurde von den Gegnern – und dem leistete er selbst, wie man heute noch besser weiß, durch sein Schweigen Vorschub – mit den Verdrängungen der NSZeit und dem wiederkehrenden Biedermeier der Adenauer-Ära identifiziert. Das Heidegger-Klischee im wiederkehrenden Biedermeier hat niemand meisterlicher evoziert als Günter Grass in den Hundejahren; darin findet man auch schon den gesamten Provinzialitätstopos, Todtnauberg und »die Zipfelmütze«, die »metaphysische Witze« reißt. Doch Grass bietet bei näherem Blick einen Strohmann. Eine ungleich eigenständigere Aneignung von Heideggers Denken formte sich in jenen Jahren in Frankreich aus: Lacans Lesarten des entzogenen Realen der Psyche, Derridas Dekonstruktionen führen in die Metropolendiskurse bis in die Gegenwart, wenn dies denn ein Kriterium für philosophische Güte sein sollte. In Frankreich wird zudem stärker als irgendwo sonst deutlich, dass Heideggers Philosophie in verschiedenen Generationen zu unterschiedlichen Realisierungen und Ausprägungen führte: Es liegen durchaus Welten zwischen der Sartreschen und der Lacanschen Ausprägung. All diese Ansätze haben längst seine Eigenständigkeit und Wirkungsgeschichten gefunden. Dass sie sich auf Heidegger berufen, gibt ihnen eine Ambivalenz – vielleicht auch die Amphibolie des Missverständlichen, die mit Heideggers Wirkungsgeschichte immer verbunden ist. Gerecht geworden sind weder die gezähmt reduktive Frühform analytischer Philosophie noch die neomarxistisch dialektische Erwiderung Heideggers Denken. Sie präsentierten sich ihm auch nicht in ihrer elaborierten Form. Adorno etwa meinte, Heidegger mit dem Instrumentarium des Soziologen und Ideologiekritikers hinlänglich begegnen zu können; 1 dass er – und schon Walter Benjamin – unter messianischer Signatur in der Tiefendimension ihrer negativen Metaphysik Berührungspunkte mit Heidegger aufweisen, wird eher übergangen. So bleibt es nach dem Nullpunkt der Interpretation, auf den die Rezeption der Schwarzen Hefte geführt hat, ein dringendes Desiderat, in der philosophischen Auseinandersetzung jenen Faden wieder aufzunehmen: sowohl zu der analytisch-philosophischen
Dass Adorno in der Tiefensemantik seines eigenen Denkens Heidegger gewachsen war und dass beide durchaus ähnliche Fragelinien verfolgten, hat Hermann Mörchen, Adorno und Heidegger, a. a. O., S. 54 ff. sehr gut gezeigt.
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Denklinie, wie zu jener einer negativ-messianischen spekulativen Metaphysik. Dies kann nicht in einer arbiträren ›Heideggerhörigkeit‹ geschehen, nicht aus dem arbiträren Missverständnis des ›Heideggerns‹. Erforderlich dafür ist ein Abstand, aus dem aber eben doch Heideggers Gedanken und das von ihm herzu Denkende erwogen werden: in Konfrontation mit jenen Denkformen, von denen er sich absetzt. Gerade der Blick in Heideggers Anfänge und in die Dynamik seines ›spätesten Denkens‹ zeigt, dass seine Denkbewegung, die er zunehmend nicht mehr im Begriffsrahmen einer ›Philosophie‹ verstanden wissen wollte, nicht so sehr einer »Verflüssigung« bedarf, sondern selbst diese Verflüssigung immer schon leistet. Indiz dafür sind die Selbstrevisionen und Infragestellungen Heideggers. Ein ›System‹ entwickelte Heidegger aus guten Gründen nicht, da er bereits in der Fundamentalontologie um einige wenige aber zentrale Fragen kreist, die sich in der Struktur der ›Kehre‹ wiederholen, allerdings aus einer umgekehrten Richtung und die im anderen Anfang bis in die spätesten Denkzeugnisse mit ihrer neuartigen Leichtigkeit wieder aufscheinen. Die fundamentale Frage nach der Endlichkeit des ›Seins‹ und wie sie gegenüber einer undialektischen parousia zu denken ist, begegnet auf den ersten Etappen einer Auseinandersetzung mit der urchristlichen Zeiterfahrung mit Paulus und Augustinus – und sie kehrt in den letzten Seminaren in Le Thor und Zähringen wieder, wenn Heidegger Phänomenologie als ein »tautologisches Denken« bezeichnet, das die Wahrheit des Seins des Seienden offenlegt, während die Dialektik sie nur verhüllt. Kein Zufall ist es, dass die Dialektik lebenslang ein Pendant zu Heideggers Denken bleibt. Dazwischen entfalten sich die fundamentalontologische Ausarbeitung von Sein und Zeit und die Konzeption der Seinsgeschichte, die in den Beiträgen kulminiert. All diese »Wege« schöpfen die eine Frage nach dem Sein nicht aus. Mithin zeichnet sich bei Heidegger eine bemerkenswerte Kontinuität der Fragestellung und Übersicht über den begangenen Weg ab. So war in diesem Buch zu zeigen, wie die Landschaft einiger weniger Fragen mit hoher Klarheit festgehalten wird, die Selbst-Auseinandersetzung aber mit hoher Bewusstheit und höchster Anstrengung weitergeführt wird.
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Epilog
2. Heideggers Denkform enthält aber auch tiefe Brüche und Diskontinuitäten. Dies zeigt sich vor allem, wenn man dem Stil und der inneren Bewegung nachgeht: Der frühe Heidegger war ein Visionär und vermutlich auch Revolutionär der Phänomenologie. Doch er brach nicht mit Husserls Ansatz, auch wenn der späte Husserl dies in einer gewissen Enttäuschung so wahrgenommen haben mag. Husserls Frageimpuls blieb erstaunlich dauerhaft für Heidegger prägend. Noch spät macht Heidegger deutlich, wie die ›kategoriale Anschauung‹ in der VI. Logischen Untersuchung für Heidegger buchstäblich zur »Triebfeder« seiner ontologischen Fragestellung wird. Er formuliert die Frage selbst spät noch einmal so: »Woher und wie bestimmt sich, was nach dem Prinzip der Phänomenologie als ›die Sache selbst‹ erfahren werden muß?« (Zur Sache des Denkens, 87). Der Visionär, der die vorwissenschaftliche und ontologische Dimension der Seinsfrage aus der Phänomenologie freilegt, ist zugleich ein überaus präziser Arbeiter, der durch die philosophische Situation seiner Zeit, den Neukantianismus und vor allem die logischen Studien eines Trendelenburg und den Neukantianismus hindurchging, um seinen fundamentalontologischen Ansatz zu gewinnen. Neben der detaillierten Auseinandersetzung der Marburger Vorlesungen, die durchaus enthalten, was später Heidegger abgesprochen wird: eine Perspektive auf Ethik und Rechtsphilosophie ist diese Zeit, in Vorlesungen und Seminaren, durch jene in Heideggers Leben wohl einzigartige Offenheit des Fragens charakterisiert, die so viele seiner Schüler faszinierte. Hannah Arendt, Hans Jonas, Leo Strauss und viele andere gaben nicht ohne Grund noch nach Jahrzehnten davon Rechenschaft. Sein und Zeit ist die Summe jener Einsichten. Doch mit dem Werk hatte sich Heideggers Denk- und Darstellungsstil verändert. Jene Offenheit schwindet, so konstatieren viele seiner Hörer und Schüler: Die Ausarbeitung einer Metontologie, einer Systematik aus dem fundamentalontologischen Ansatz blieb letztlich Fragment – und musste es bleiben, da sie in eine konventionelle Systematik zurückgeführt hätte, von der sich Heidegger bereits grundsätzlich entfernt hatte. Die ›formale Anzeige‹ benannte vielmehr Strukturen. Sie näherte sich allenfalls einem ›Kanon der Vernunft‹ im Kantischen Sinn, nicht jedoch einer Systematik, die auch empirische Fragen beantwortet hätte. Eine eigene metontologische Systematik auszuarbeiten, lag nicht in Heideggers Absicht und Interesse. Doch dass von 544
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seinem Denkansatz aus vielfältige Phänomene auch der Moderne und Supramoderne zu durchdringen sind, zeigt sich auch noch auf seinen spätesten, letzten Denkwegen. Der Heidegger, der in den dreißiger und vierziger Jahren den Weg der ›Kehre‹ vollzieht, der in die Seinsgeschichte zurückfragt und zugleich die Geschichte der Seinsvergessenheit in einer groß angelegten ›Auseinandersetzung‹ entwickelt, hat sich seit dem Jahr 1933 auch mit Ideologemen eingelassen, die von der Erinnerung und Vergegenwärtigung seiner Philosophie nicht zu trennen sind. Die Schattenspuren seines Nachlasses sind nicht zu übersehen. Doch wenn man sich auf die Kraft des Denkens selbst einlassen will, wird man niemals Heideggers Philosophie mit jenen ideologischen Einschlüssen identifizieren und sie darauf zurückführen. Er setzt sich mit den verschiedenen Formen der Verwüstung als einem metaphysischen ›Geschick‹ auseinander, wobei ihm Nietzsche der letzte und späteste Philosoph europäischer Metaphysik zum Gegenüber der Auseinandersetzung wird; Hölderlin und die frühen Griechen werden ihm aber zu Paradeigmata, an denen diesseits der Denkbahnen der Metaphysik der Raum des Offenen sichtbar wird: die bislang unbefragten Dimensionen des Grund gebenden und abgründigen Seins. Es ist auffällig, dass die argumentative, begründende Kontur gegenüber Sein und Zeit und dem Kant-Buch zurücktritt; dass die Fragebewegung aber grundsätzlich sich immer wieder auf den Anfang einlässt und ihn wagt. »Nietzsche hat mich kaputtgemacht«, soll Heidegger einem mündlichen Zeugnis Hans-Georg Gadamers zufolge gesagt haben. In akademischer Kolportage leben solche Worte weiter. Man kann ihnen einen mehrfachen Sinn abgewinnen. Dann besagen sie, dass er sich vielleicht allzu sehr dem Verkündigungsstil Zarathustras verschrieben habe, einer Überidentifikation, in der der Denker und sein Gedanke nicht nur in lógos, sondern auch pathos eins werden. Es gibt Passagen in den Beiträgen, die in eine solche Richtung gelesen werden können, auch in der Narration der Überlegungen (Schwarzen Hefte), wo Philosophie in Prophetie überzugehen scheint, findet sich eine Nietzscheanische Linie. 2 Man wird dann auch eingestehen müssen, dass Heidegger überall dort, wo er auf Nietzsches Gestus wechselt, Nietzsches stilistischer Musikalität und ihrem Sensorium für 2
Dazu Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche, a. a. O., S. 250 ff.
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Sinn und Hintersinn von Texten unterlegen bleibt. Als Philosoph, der die zurückliegenden Denkwege auf das Offene hin befragt, zeigen sich andere Grundverhältnisse. Doch Nietzsche ist bei Heidegger keineswegs die dominierende Macht: Daneben ist ein Heidegger zu erkennen, der den Denkansatz von Platon und Aristoteles bis hin zu Schelling und Hegel aus einer der stärksten und zugleich angedeutet schwächsten philosophischen Sichtweisen erfasst und am Verhältnis von Denken und Dichten in einer Zwiesprache mit Hölderlin bricht. Die Frage nach dem ›Sinn von Sein‹ bzw. der ›Wahrheit des Seins‹ gewinnt gegenüber Nietzsche ebenso wie gegenüber den anderen Denkperspektiven ihre Gestalt, die Heidegger einerseits als Fuge und Riss zwischen Offenbarung und Verborgenheit und spät dann als tautologische Heiterkeit verstand. So wie er den Ansatz von Sein und Zeit in den Selbstauseinandersetzungen grundsätzlich festhielt und zugleich die Begrenztheit namhaft machte, setzte der späte Heidegger die ›ontologische Differenz‹ und das vermeintliche oder tatsächliche Denken der Griechen voraus, suchte aber über all dies hinaus in das Offene der aletheia zu gelangen. Nach dem Tiefpunkt der Interpretation, der selbst mit verbiestert ideologischer Verve Heidegger auf einen als NS-Ideologen reduzieren wollte, auf der unphilosophischen Linie zwischen Emanuel Faye, in die auch deutsche Heidegger-Exegeten in einem verspäteten Vater- oder Großvatermord einstimmten: ist eben dies die Aufgabe, in größter möglicher argumentativer Klarheit das zu rekonstruieren, was Heidegger auf seinen Denkwegen intendierte, welche unverlierbaren Einsichten ihm dabei gelangen und wo er scheiterte. Zu einer solchen Interpretation zumindest ansatzweise beizutragen, war das zentrale Ziel des vorliegenden Buches: Es verbindet damit die beiden Seiten des Topos, den Walter Benjamin »rettende Kritik« nannte: Eine Kritik, die auch in Kernbereiche des betrachteten Sujets einschneidet und die zugleich die Berechtigung und Erkenntniskraft thematisiert, die einem solchen Denken dauerhaft zukommt. Die argumentativ-systematische Rekonstruktion Heideggers ermöglicht vielleicht, einen höheren Grad von Luzidität an viele seiner Texte heranzutragen, als in ihnen selbst erkennbar ist. Allerdings muss man sich bei einem solchen Unternehmen immer auch der katachretischen Dimension bewusst sei, der Grenze des Sagbaren, an der sich Heidegger gerade an wichtigen Kreuzungspunkten seines Lebens bewegt. 546
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Bemerkenswert bleibt auch, dass Heidegger bei allen blinden Flecken, die an seinem Denken in konkreter politisch-ethischer Hinsicht zu identifizieren sind, mit hoher Konsequenz und sehr frühzeitig »das Wesen« der modernen Technik erfasste. Die einschlägigen Kategorien haben sich unstrittig in der Zwischenzeit ebenso differenziert, wie die kulturwissenschaftliche Erfassung. Doch eine umfassende, nicht in Ideologien, wie in einer marxistischen Warenanalyse sich verlierende Matrix zur Erkenntnis des Neuartigen jener Technik, die sich an Einsicht mit Heidegger vergleichen lässt und die wie mit einem phänomenologischen Roentgenblick auch später auftretenden Konstellationen noch gewachsen ist, wird man kaum finden. Nicht zuletzt darin bewährt sich die Klarsichtigkeit Heidegger’schen Denkens. Nicht der historische Heidegger ist zu »repräsentieren«, und zu »wiederholen« ist sein Denken nur insofern darin ein eigenständiges Denken sich artikuliert. In gewisser Hinsicht wird man auch Heidegger ›verwinden müssen‹. Heidegger kann gar nicht nachgeahmt werden, ebenso wenig wie Wittgenstein oder Hegel – und alle Versuche, dies zu tun, desavouieren sich wie von selbst. Heidegger ist dort, wo seine Texte in Idiosynkrasien verfallen, keineswegs zu retten. Doch Heideggers Denkbewegung hat auch noch die Kraft, eine Archäologie dieser Idiosynkrasien anzuzeigen: Heidegger ist meiner Lesart zufolge wie ein Seismograph, an dessen Irrtümern übergreifende Problemlagen der neueren Philosophie: Begründung, Wissen, Logik auf die Tiefenschicht des Verhältnisses von Wahrheit und Sein zurückgeführt werden können: In einer spekulativen Macht, die zugleich auf die endliche zeithafte Struktur des Daseins verweist, nicht Letzbegründung, sondern die Aufgrabung einer letzten und äußersten Schicht.
3. Nietzsche prägte die Formulierung: ›Verwechselt mich vor Allem nicht‹. Bei Heidegger hat man häufig den gegenläufigen Eindruck des Fallenstellers und sich Verbergenden, der gerade verwechselt sein möchte. Für Heidegger wie unabhängig von ihm für Walter Benjamin war die Gestalt der Lanthanonten, der Verborgenen, ein klarer Topos für eine Gestalt im Übergang, die noch nicht zur Kenntlichkeit gekommen ist. Dass bei Benjamin dieser Topos eine messianische, bei 547
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Heidegger eine frühgriechische Konnotation hat, zeigt zugleich die ganze Divergenz zwischen beiden. Abzulesen ist daran auch die Differenz- und Trennungsgeschichte, die das Denken des 20. Jahrhunderts bestimmt. Auch hier ist ein tiefer hiat erkennbar. Heideggers Verborgenheit und Selbstverbergung war nicht die des Exilanten, der in die Sklavensprache gezwungen wird, sondern die des Fallenstellers, als den ihn Ernst Jünger treffend charakterisierte. Verwechslungen sind in Heideggers Denkform angelegt, und sie bestimmen seine Rezeption bis heute. Man mag in ihm den Metaphysiker sehen oder den Magier, den schwachen Denker der Endlichkeit, den Fragenden oder den aus der Zeit gefallenen »Denkwebel«. All dies repräsentiert Momente seiner geistigen Physiognomie und es erschöpft und trifft ihn doch nicht. Heidegger ist ein markanter Denker der späten, in ihre Engpässe geratenen Moderne. Er ist situiert in einem von Kant und dem Kantianismus eröffneten Raum, nicht verstehbar ohne die Konstellationen des Weges von der Klassischen deutschen Philosophie bis zu Nietzsche. Zugleich aber blickt Heidegger, soweit es nur möglich ist, über diese Moderne hinaus: in einen frühen Anfang. Der ganz späte Heidegger gesteht sich ein, dass es jenen Anfang so nicht gab – gerade am Grundwort »aletheuo« wird ihm das bewusst. Dass sich das älteste Alte und die Grunderfahrung der Modernität berühren, manifestiert sich am Ende in einer Aporetik. Eine tiefe Ambivalenz liegt auch darin, dass dieser Philosoph, wie vielleicht so nur Wittgenstein, für die Nachlebenden zu einer Ikone seiner selbst wurde; einer Ikone, in der sich Faszinationsgeschichte und Abstoßung überkreuzen. Zugleich aber ist die Sache seines Denkens, die Sache des Denkens überhaupt, an dem Heidegger arbeitete, vier Jahrzehnte nach seinem Tod kaum wiederzuerkennen. Es ist nicht zu übersehen, dass der Rayon abendländischer Metaphysik, in dem Heidegger dachte, europäisch ist. In seiner späten Philosophie der Sprache blickt er über diesen Bereich hinaus – und die Insistenz auf die abendländische Metaphysik ebenso wie der Versuch ihrer Verwindung faszinierte auch Denker aus Ostasien. Doch die metaphysischen Grundfragen und der Kanon, aus dem Heidegger schöpfte, können nicht mehr nachvollzogen werden, wo dieser Kanon eben nicht präsent ist; wo eine Kultur des insistierenden Fragens und des eingehenden, langsamen und gründlichen Denkens nicht beherrscht und nicht angestrebt wird. Auch in diesem schwindenden Wissen, dieser gebrochenen Überlieferung, ist es begründet, dass die 548
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Entlarvung Heideggers heute im Vordergrund steht. Mit einer ›Hermeneutik des Verdachts‹ meint man einem Denken beizukommen, das in vielfacher Hinsicht Provokation ist. Auch und nicht zuletzt durch seinen Anspruch. Die Gründe für diesen Zwiespalt zwischen höchster Aktualität einerseits, der Fremdheit von Heideggers Frageansatz andererseits liegen auch darin, dass heutige Kulturwissenschaften eine ethische Agenda abarbeiten. Sie müssen (oder meinen dies zu müssen) über Differenzen und Identitäten nachdenken, über Globalität und Entzweiung, über die Narrative von Liberalität und mögliche Befriedungen in einer konflikthaften Weltlage. Heidegger dagegen ist vielleicht der letzte Philosoph, der seine eine Frage im Zusammenhang eines miteinander zusammenhängenden Fragegeflechts durchgängig verfolgte, der sie sich entfalten und auseinander-setzen ließ in einer Zwiesprache mit einer mehr als zweitausendjährigen Überlieferung. Diese Eigensinnigkeit des Denkens wirkt in heutigen akademischen und öffentlichen Diskursen wie aus der Zeit gefallen. Den Zeithorizont, in dem sie möglich war, wird man nicht rekonstruieren können. Doch den Eigensinn des Denkens, dies, die Grundfragen der Metaphysik als gegenwärtige Fragen zu erfassen und einen Blickpunkt zu gewinnen, der nicht durch Ideologeme und Programme vorgestanzt ist, kann man noch immer von Heidegger lernen. In jedem Fall fordert eine mit Heidegger vollzogene Denkbewegung ein eindringendes, wiederholendes, kontemplatives Lesen, ein angestrengt sachhaltiges Nachdenken, dessen Resultate nicht von vorneherein feststehen. Heideggers Denken führt in der Strenge und Ausgesetztheit seines Fragens in ein freies schwebendes Sinnen. Qualitäten, die in der heutigen Philosophie und Öffentlichkeit nicht gängig sind, die aber nicht nur für eine abgewandt monastische Lebensform sinnvoll zu schulen sind, sondern mitten im Sturm der medialen polymorphen Welt. Die Qualität eines Denkens erkennt man immer daran, dass man mit ihm und zugleich gegen es denken kann: Ein Hinweis, den Nietzsche wiederholt gab und der Heideggers Gestus der »Auseinandersetzung« ein eigenes Profil gibt. Mir scheint, dass Heidegger diese Qualität in hohem Maß erfüllt. Die Insinuierung ist wenig sinnvoll, dass man »nun« das, was Heidegger gedacht und gesagt habe, aus einer anderen Perspektive angehen müsse, da sich Heidegger ein für alle Mal desavouiert habe. Das, was Heidegger dachte, kann in eine eigene Denkbewegung nur überführt werden, wenn Heideggers unverwechselbarer Zugang zur ›Sache selbst‹ dabei mitschwingt. 549
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Die Kraft seiner Intuitionen reicht immerhin so weit, dass er ungeachtet seiner offensichtlichen und mehrfach betätigten skeptischen Abwehr gegen tiefenpsychologische Zugänge mit dem Daseinsanalytiker Medard Boss in ein ausgiebiges Gespräch über die Tiefenphäomene von seelischer Weltwahrnehmung kam. Zu den Heidegger’schen Ambivalenzen gehört auch, dass viele, die meinten, ihn zu kennen, ihn gerade verfehlten. Unerfindlich ist es zum Beispiel, dass Bultmann die Todfeindschafts-Erklärung in Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Phänomenologie (Philosophie) und Theologie niemals in ihrer Radikalität verstand. Sonst hätte er schwerlich seine kerygmatischen Rettungsversuche christlichen Glaubens an Heidegger orientiert. Auch ein so prominenter Ansatz wie jener Gadamers schließt an Heidegger in einem nur vordergründigen Sinn an. Er hebt eine Dimension, eben die der Hermeneutik, hervor, während die Verknüpfung mit der Phänomenologie unterbelichtet bleibt. Doch bei näherem systematischem Zusehen hat die auf den Platonischen Dialog gestützte Hermeneutik des Vorgriffs auf Vollkommenheit die Provokation von Heideggers Denken gerade negiert. Sie setzt gerade keine Destruktion von Vorverständnissen an, sondern bleibt in dem hermeneutischen Bogen des »immer schon«, einem elementaren Grundverständnis des Vorgriffs auf Vollkommenheit. Eine weitere Ambivalenz manifestiert sich darin, dass Heidegger zwar eine ›Destruktion‹ der Metaphysik vornimmt, zugleich aber aus der in die Tiefe reichenden Auseinandersetzung mit den Wegen der Metaphysik denkt. So ist er von seinen Hörern in der ersten Nachkriegszeit nach 1945 auch durchaus als metaphysischer Denker wahrgenommen worden. Es dürften nicht die schlechtesten Fortsetzungen Heideggers sein, die sich auf diese metaphysische Implikation beziehen: Rudolph Berlinger oder Heribert Boeder wären zu nennen. Aus der Zeit gefallen mag ein solches Denken aus und gegen Metaphysik auch erscheinen, weil es die gemeinsame Sache mit dem vergangenen Denken bei aller Differenz in der Ausgangsperspektive festhält, während gegenwärtiges philosophisches Kannitverstan 3 diese Gemeinsamkeit in der Sache gerade bestreitet, die unerlässlich ist, wenn die Sache eines anderen Anfangs gegenüber dem ersten Anfang gedacht werden soll. Vielfach haben Facetten eines ›schwachen Denkens‹, Eine Formulierung von Robert Spaemann, als Indikation der Selbstbanalisierung von Teilen der analytischen Philosophie.
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einer ›Endlichkeit‹, die sich aber gerade nicht mehr gegenüber dem Unendlichen, Absoluten auszuweisen vermag oder nur als dessen Privation wirksam wird, die Heidegger’sche Philosophie für sich zu reklamieren versucht. Die späte unerhörte Leichtigkeit der Sprache, die Tuschzeichnungen des letzten Seinsdenkens, mögen dazu beigetragen haben. Ein Spiegel, der Rückschlüsse auf Heideggers genuine Denkbewegung erlauben würde, ist dies aber gerade nicht: Sie bietet immer eine Doppelgesichtigkeit an, sie ist leicht und schwer zumal, begründend und sie wiederholt damit die Zweideutigkeit des Seindenkens, voraussetzungsreich zum einen und leicht zum anderen. Zu den Ambivalenzen gehört auch, dass einige bedeutende deutsche Philosophen der Nachkriegszeit aufgrund des geahnten Faktums von Heideggers NS-Affinitäten jedwede Berührung mit ihm peinlich vermieden und ihn aus dem Kanon ausgeschlossen sehen wollten. Im Blick auf einige der besten Köpfe war davon die Rede. Ansätze, die sich in ihrer Zeit so zu Heidegger verhielten, sind unter Umständen fruchtbarer als Formen einer ›heideggernden‹ Schülerschaft. Hieß es denn nicht Heidegger gerade zu folgen, wenn man Spuren verwischte und war denn, zum Beispiel, nicht die Blumenberg’sche Metaphorologie auch eine großangelegte Destruktion unmittelbarer Zugänge zu letzten metaphysische Fragen?
4. Nach einem Nullpunkt der Interpretation, an dem äußerst unschöne Funde aus Heideggers Textkorpora sich mit akademischen Ambitionen und dem nun erstmals, zumindest mittelfristig und als Modephänomen erfolgversprechenden Versuch verbanden, den Denker des Seins endgültig »auf Null« zu bringen, in einer Situation, in der unangemessene Verharmlosungen und hektische Rettungsversuche auf die Denunziation antworteten, kann gerade ein neues Paradigma der Auseinandersetzung und der Zwiesprache mit Heidegger beginnen. Hermeneutisch sensibel, ideengeschichtlich so informiert, wie Heideggers profunde Kenntnis der Denkwelt es verlangt und systematisch bereit und in der Lage, sich den Tiefen und Untiefen des von Heidegger Gedachten zu nähern. So könnte eine erneut ansetzende Heidegger-Interpretation ansetzen. Zu diesem unausschöpflichen Gespräch soll das vorliegende Buch einen vorläufigen Beitrag erbringen. 551
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Die Exponentinnen und Exponenten eines neu aufkommenden Heidegger-Gesprächs kann man überall im vielgestaltigen Europa und in der polyphonen Welt vermuten, aber gerade nicht in tyrannischen und theokratischen Zusammenhängen. Einvernahmen, die von dorther kommen, geben seinem Denken eine Resonanz, die gerade nicht dessen bewahrenswerte und leuchtende Implikationen betrifft. Heidegger hat, in einer von heute aus gesehen, nicht verantwortlichen Weise die Dimension des Politischen verleugnet bzw. als nicht philosophisch von sich gewiesen. Man wird deshalb auch nicht, wie Massimo Cacciari einmal nahelegte, aus Heidegger eine indirekt politische Philosophie ableiten können. Doch aus verschiedenen Perspektiven kann gerade die von grundlegenden Problematiken durchzogene globale Welt auf die Heidegger’sche Denktektonik zurückkommen. Eine solche Neuaneignung wird nicht in abgelegenen Idyllen und sie wird nicht in der Geschäftigkeit eines akademischen Mainstreambetriebs verlaufen. Sie wird die Sinnklarheit in Anspruch nehmen, die immer dort möglich ist, wo authentisches Denken seine Augen aufschlägt. Natürlich ist es auch eine mögliche Option der nächsten Jahre, dass man sich weiterhin Heideggers zu entledigen versucht und die Verdächtigungs- und Vermutungshermeneutik weitertreibt, die ohnedies auf tiefenhermeneutischen Grundlagen beruht, an deren Elaborierung Heidegger wesentlich mitgewirkt hat. Dauerhaft werden diese Versuche sich in ihrer Sterilität erschöpfen. Denn es geht wahrlich nicht um eine Exkulpierung Heideggers, aber um eine philosophische Gerechtigkeit und Nuancierung. Mit Heidegger würde, wie ich andernorts dargelegt habe, auch diese Kultur weiter verschwinden. Wenn die Einrichtung im vermeintlich Ausreichenden, Liberalen, Guten genügt und die philosophische Tarantel, die die moderne Welt mehr stört als es Sokrates einmal für die griechische tat, ausgetrieben ist, dann mag man mit sich und der Welt zufrieden sein. Man hat aber dabei zugleich die Sache des Denkens begraben. * Einer der bemerkenswertesten Bände der Heidegger-Gesamtausgabe, der einen breiten Querschnitt durch Heideggers Denken ziehen und dadurch die Kontinuitäten in aller Veränderung sichtbar macht, fir552
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miert unter dem Rubrum ›Gedachtes‹. Es ist offensichtlich, dass die dort versammelten Texte auf das Ganze von Heideggers Vita hin eine Verdichtung anstreben, die flächendeckend erst auf den letzten, tautologischen Denkwegen in Konsequenz erreicht wurde. Es ist unnötig zu betonen, dass Heidegger die artistische Balance zwischen Denken und Dichten nicht erreichte, die er Hölderlin zuwies. Er ankert dafür zu sehr und zu eindeutig auf der Seite des Denkens, der einen Seite, »der zarten und zugleich hellen Differenz«, die Heidegger einmal gegenüber Stefan George geltend gemacht hat. 4 Doch gerade darin zeigt sich die antizipatorische Kraft seines Denkwegs, der von den Anfängen her zu solchen Verdichtungen in der Lage war. In der letzten in der Gesamtausgabe dokumentierten Einlassung wird das Verhältnis von »Denken und Nichten« evoziert. Dort heißt es: »Denken – wird es dem Geheiß genügen,/sich dem Fug der Eignis fügen,/die, bedürfend seiner, es verwendet,/dass es fragender im Fragen endet?« (81.356). Und kommentierend fügt Heidegger hinzu: »Das nichtende Nichts zu unterscheiden von dem nichtigen Nichts« In einem Eintrag aus dem Herbst 1974 vermerkt Heidegger noch einmal über den »Gang eines Denkens, öffnend ihm unbegangenes Wegfeld […] ›abseits gängiger Straßen der Menschen‹« (81.354). Es ist nicht so, dass letzte, tautologische Äußerungen Heidegger’schen Denkens wie diese eine Finalität bilden würden, in die alle vorausgehenden Denkwege aufgehoben wären, sei es im einfachen, sei es im Hegel’schen dreifach dialektischen Sinn. Doch gerade die späten Nachlassaufzeichnungen geben in einer andeutungsweisen, eher hingehauchten Weise, geformt in einer seltenen Klarheit der Pinselführung, einen Eindruck, dass Heidegger in einen Bereich kam, den bei all ihrer unstrittigen Bedeutung die abendländische Metaphysik nicht erreichte. Es ist nicht so, als ob ein solcher Denkansatz außerhalb der möglichen Kritik stehen würde, oder auch stehen dürfte. Doch diese Kritik sollte nicht auf einer Ebene ansetzen, die den Rang dieses Denkens programmatischer unterschreitet. Legitim bleibt selbstverständlich, die Berechtigung eines solchen Denkansatzes seinerseits in Frage zu stellen. In Frage zu stellen ist aber schließlich doch, dass der Bruch zwischen vergangenem bzw. ›gewesenem‹ Denken so tief ist, wie Heidegger ihn ansetzt. Ist es nicht umgekehrt möglich, dass die Sache des 4 F.-W. v. Herrmann, Die zarte, aber helle Differenz. Martin Heidegger und Stefan George. Frankfurt am Main 1999, S. 7 ff.
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Denkens eng mit einer Wiedergewinnung philosophischen Denkens zusammenhängt? Doch dort, wo das Ungedachte und gleichwohl zu Denkende irgend als Mangel geahnt wird, der weder durch Religion noch durch eine Epistemologie ausgeglichen werden kann, bleibt indes Heideggers lebenslange, zu immer tiefergehenden Klärungen und zu einer elementaren Einfachheit geführtes Fragen aller Beachtung wert.
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Personenregister
A Santa Clara, Abraham 27 Adorno, Theodor W. 161, 316, 343, 363 f., 374, 379, 390, 414, 521, 541 f. Alfieri, Francesco 14, 374 Anaximander 13, 206 Apel, Karl-Otto 442 Arendt, Hannah 15, 60, 221, 383, 390, 476, 507, 509 f., 530, 544 Aristoteles 34 ff., 43, 57, 84 ff., 111 ff., 124 ff., 140, 150 ff., 158, 173, 175, 181, 197, 255, 265, 328, 337, 449, 459, 464, 477 ff., 481 ff., 501, 510 f. Aubenque, Pierre 248 Aurelius Augustinus 40, 58, 83, 96 f., 176, 479 ff., 543 Babich, Babette E. 279 ff., 291 Baeumler, Alfred 295, 375 Barth, Karl 60 Beaufret, Jean 329, 499 Becker, Oskar 77 Beierwaltes, Werner 22, 123, 206, 222, 254, 327 Benjamin, Walter 281 f., 531, 535 ff. Benn, Gottfried 386 Berger, Klaus 305 Berlinger, Rudolph 22, 169, 215, 239, 404, 550 Bernet, Rudolf 171 Bertram, Ernst 295 Biemel, Walter 204, 214, 271, 463, 527 Binswanger, Ludwig 472 Bi Yan Lu 313 Bloch, Ernst 61, 67 f., 371
Blochmann, Elisabeth 28 Blumenberg, Hans 19, 89 ff., 161, 169, 248, 254, 516 ff. Boeder, Heribert 476, 482, 548 Braig, Carl 28, 35 Brandom, Robert 189 Bredekamp, Horst 55 Brentano, Franz 32, 46, 182, 197 Breuer, Stefan 90 f. Brunner, Emil 60 Boss, Medard 457 ff. Buber, Martin 60, 154 Bucher, Alexius 434 Buchheim, Iris 315 Buchheim, Thomas 263, 296, 358, 360 Buchner, Hartmut 343, 453 Bülow, Ulrich von 517 Bultmann, Rudolf 31, 322 ff. Cacciari, Massimo 552 Cartesius (René Descartes) 54, 166 ff., 297, 306, 484 Cassirer, Ernst 55, 197, 233, 246 ff., 251 ff., 400 Cassirer, Toni 253 Clausewitz, Carl von 413 Cohen, H. 30, 44 f., 59, 238, 251, 410, 513 Collingwood, R. G. 529 Coriando, Paola-Ludovica 225 Cramer, Konrad 241 Cristin, Renato 279 Dahlstrom, D. O. 94 Denker, Alfred 36, 48, 95, 107, 280
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Personenregister Derrida, Jacques 15, 346 f., 372, 410, 507, 513, 541 Dessauer, Friedrich 338, 438 Dilthey, Wilhelm 33, 69, 74 f., 79 ff., 141, 196, 258 Dostojewski, Fjodor 30 ff. Düsing, Edith 296 Düsing, Klaus 134, 140 f., 159 Duns Scotus, Johannes 51 ff., 98 Dummett, Michael 30 Ebert, Theodor 155 Ebner, Ferdinand 154 Eckhart (Meister) 56 ff., 433 Einstein, Albert 55 Enskat, Rainer 103, 159, 167, 233, 374 Farias, Victor 27 Faye, Emmanuel 13, 368 ff. Fest, Joachim C. 375 Fichte, Johann Gottlieb 389, 523 Figal, Günter 65, 226 Fink, Eugen 157, 330, 346, 497, 508, 529 Finkiekraut, Alain 15 Frank, Manfred 193, 235 Frede, Dorothee 153, 194 Frede, Michael 129 Frege, Gottlob 30, 44 Freud, Sigmund 61, 486 Freyer, Hans 191 Fulda, Friedrich 274 Gadamer, Hans-Georg 19, 39, 63 f., 83, 138, 251, 279, 406, 509 f., 545, 550 Galilei, Galileo 55 Gander, Hans-Helmuth 65 Gaus, Günter 368 George, Stefan 406, 408, 446 ff., 534 Gerhardt, Volker 221 Gloy, Karen 129 Goethe, Johann Wolfgang von 262, 440 ff., 450, 478 Greisch, Jean 106 Grosser, Florian 380 f.
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Großheim, Michael 242 Gruber, Conrad 32 Gründgens, Gustaf 368 Guardini, Romano 61 Günther, Gotthard 331, 441 Habermas, Jürgen 19, 303, 363, 509 Halbwachs, Maurice 176 Hamann, Johann Georg 442 Hartmann, Klaus 269 Hegel, G. W. F. 33, 43, 67 f., 72 f., 78, 108, 116 ff., 175, 206, 213, 236, 259 f., 267 ff., 275, 305, 310 f., 319 ff., 334, 382, 389, 479, 490 ff., 501 ff., 533 Heidegger, Hermann 525 Heinz, Marion 382 Heisenberg,Werner 461 Held, Klaus 309, 402 Hempel, Heinzpeter 469 Henrich, Dieter 19, 22, 233, 237, 239, 254, 268 f., 273, 274, 285, 308, 334, 347, 348 f., 498, 515 f., 529 f. Heraklit 41, 178, 214, 280, 317, 345 f., 352, 356 ff., 480 Herder, Johann Gottfried 218 Herder, Manuel 14 von Herrmann, Friedrich-Wilhelm 14, 43, 184, 202, 370, 501, 525, 553 Herz, Markus 233 ff. Hitler, Adolf 375 ff., 387 f. Hobbes, Thomas 112 Hölderlin, Friedrich 77, 202 214, 216, 222, 284, 290, 313 ff., 320, 342, 347 ff., 357 ff., 407, 415, 422, 431, 434 ff., 443 ff., 520 f., 534 f., 537, 553 Hönigswald, Richard 382 Hösle, Vittorio 56 Horkheimer, Max 414 Holzhey, Helmut 59, 99 Homolka, Walter 14 Honnefelder, Ludger 170 Humboldt, Wilhelm von 218, 452 f., 495 Humboldt, Wilhelm von 451
Personenregister Hume, David 243 Husserl, Edmund 30 ff., 35 ff., 44 ff., 60 ff., 70 ff., 75 ff., 82, 90 ff., 141, 163 ff., 174, 182, 195, 204 ff., 242, 266, 279, 374 f., 343, 368 ff., 382, 388 ff., 410, 431 ff., 439, 459, 463, 466, 470, 483, 488 ff., 496 ff., 516 ff., 522 f., 526 ff., 531 Hygin 165 ff. Iber, Christian 494 Iorio, Alessandro 222 Jamme, Christoph 65 Jähnig, Dieter 287, 294, 317 Jaspers, Karl 88, 196, 322 ff., 326, 336, 364, 400 ff., 412 ff., 439, 515, 535 Jesus Christus 427, 446 Joas, Hans 298 Jonas, Hans 15, 187, 191, 366, 514 f., 544 Jünger, Ernst 225, 311 ff., 332 ff., 367, 399 Jung, Carl Gustav 473 Kaehler, Klaus Erich 277 Kästner, Erhart 366 Kafka, Franz 61, 172 Kant, Immanuel 20, 35, 43, 50, 58 ff., 73, 108 ff., 111 ff., 152, 159, 173, 180, 186, 196 ff., 233 ff., 247 ff., 256 ff., 266, 275, 276 ff., 294, 327 f., 334 f., 337, 363 f., 383, 464, 483, 490 f., 500 ff., 509 f., 522, 531, 544 ff. Kaulbach, Friedrich 292, 298 Kapferer, Norbert 285 ff. Keiling, T. 121 Kennan, George F. 29 Kierkegaard, S. 30, 152 f., 196, 261, 533 Knodt, Reinhard 23 Klages, Ludwig 359 Klibansky, Raymond 247 König, Josef 125 Kraus, Karl 377 Krieck, Ernst 365
Krockow, Christian Graf von 203 Kreimendahl, Ludger 267 Kuki Shuzo 455 Kundera, Milan 433 Landgrebe, Ludwig 90 Lanfranconi, Aldo 392 Lask, Emil 35, 53 f., 71, 285 Leibniz, Gottfried Wilhelm 111 ff., 225, 297, 306 ff., 481 ff. Lévinas, Emmanuel 150, 160, 410, 507 Lipps, Hans 46 Litwinow, Maxim 389 Löw, Reinhard 294, 296 Löwith, Karl 33, 77, 286 Lotze, Hermann 112, 158 Luft-Steidl, Silja 23 Luhmann, Niklas 408 f. Lukács, Georg 61, 283 Luther, Martin 33, 40 Magris, Claudio 228 Mahler, Gustav 61 Mann, Heinrich 375 Mann, Thomas 62 ff., 375 f. Marion, Jean- Luc 423 Marten, Rainer 81, 476 Marx, Karl 498, 508 Marx, Werner 277, 345 Massa, Manuela 23, 373, 408 Mazzarella, Eugenio 121 Mehring, Reinhard 62, 398, 524 ff., 541 Mendelssohn, Moses 390 Merker, B. 78 Meyer, Conrad Ferdinand 317, 443 Meyer, Martin 311 Mill, John Stuart 112 Mörchen, Hermann 162, 542, Morat, Daniel 334 Moser, Simon 477 Müller, Max 28, 221, Müller-Lauter, Wolfgang 222, 288, 290, 295, 299, 545 Musil, Robert 29
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Personenregister Nancy, Jean-Luch 386 Natorp, Paul 20, 39, 67, 79 f., 87 ff., 238, 360 Neu, D. 110, 202 Neuer, Werner 323 Nietzsche, Friedrich 21, 146 ff., 148, 205, 214, 261 ff., 272, 279 ff., 291 ff., 304, 320, 337, 340 ff., 368, 375, 376 ff., 393, 405, 407, 411 ff., 493 f., 536, 538, 545, 548 Nirenberg, David 397 Nohl, Herman 39 Nolte, Ernst 482 Novalis 32, 451 f. Ott, Hugo 27 Ottmann, Henning 297, 415 Otto, Stephan 22 Overbeck, Franz 95 Parmenides 132, 157, 206, 255, 273, 280, 307, 345 f., 356 ff., 431, 440, 480 Pauen, Michael 227 Paulus 83, 94 ff., 543 Picasso, Pablo Picht, G. 122, 130 Pindar 412, 415, 448, 480 Planck, Max 55 Platon 20, 58, 72, 86 ff., 100 ff., 113 f., 120 ff., 130 ff., 146 ff., 206 ff., 222, 255, 293, 327, 337, 357, 378, 380, 405 ff., 460 f., 477 ff. Plessner, Helmuth 59 Pöggeler, Otto 212, 217, 338, 517 Polanyi, M. 34, 40 Puntel, Lorenz Bruno 157, 306 Radek, Karl 389 Reich, Klaus 236 f. Rickert, H. 31, 35, 41, 45, 48, 56 f., 69 Ricoeur, Paul 176, 384 Riedel, Manfred 22, 29, 40, 48, 50, 58, 79 ff., 170, 215, 235, 293 f., 299 f., 345, 443 Riedenauer, Markus 158
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Rilke, Rainer Maria 61, 320 f., 408, 446 ff., 534 Rohlfing, Anna Tabea 22 Rombach, Heinrich 456, 508 Rorty, Richard 196, 253 Rosenzweig, Franz 60, 513 ff. Safranski, Rüdiger 27, 168 Sallis, John 294 Sandbothe, Mike 196 Schadewaldt, Wolfgang 478 Schacht, Ulrich 13 Scheler, Max 154, 166, 337 Schelling, Friedrich Wilhelm 236, 260 ff., 292, 392, 545 Scherbel, Martina 508 Schlatter, Adolf 323 Schlegel, Friedrich 32, 193 Schleiermacher, Friedrich Daniel 389 Schmid, Holger 453 Schmidt, Gerhart 482 Schmitt, Carl 203, 392, 403, 415 Schmitz, Hermann 242, 466 Schöpf, Alfred 486 Schorcht, Claudia 365 Schülein, Johann-Georg 215, 346, 513 Schürmann, R. 80 Schulz, Walter 178 Sartre, Jean- Paul 329 ff. Seubert, Harald 86, 129, 147, 193, 221, 228, 256, 261, 278, 286, 411, 440 Seubold, Günter 213 Siebert, Jasmin 2 Sombart, Werner 191 Sokrates 101, 377 Sommer, Manfred 82, 89 Spinoza, Baruch de 390 Stegmaier, Werner 160 Stegmüller, Wolfgang 474 Stein, Edith 164, 374 ff. Steiner, George 56, 364, 395, 507, 520 Steinmann, M. 107, 115, Stekeler-Weithofer, Pirmin 341 Stahl, Michael 29
Personenregister Strauss, Leo 15, 364, 377, 507, 544 Strube, Claudius 57 De Tepla, Johannes 169 Theunissen, Michael 355, 466, 480 Thomä, Dieter 50, 81, 185, 379 f., Tilitzki, Christian 365 Timms, Edard 377 Trakl, Georg 77, 443 ff. Trawny, Peter 14 ff., 369, 390 Trendelenburg, Friedrich Adolf 38, 360 Troeltsch, Ernst 396 f., 402 Tugendhat, Ernst 153, 181, 250, 476 f., 503 Vattimo, Gianni 290 Vigo, A 50, 80, 175
Vossenkuhl, Wilhelm 28 Waldenfels, Bernhard 82, 182 Weber, Max 31 f., 322 Weinrich, Harald 96 Weizsäcker, Carl Friedrich von 436, 461 Werntgen, Cai 331, 339, 441 Wieland, Wolfgang 73, 85 f., 241 Wiener, Norbert 436 f. Windelband, Wilhelm 69 Wittgenstein, Ludwig 9 f., 547 f. Wolff, Georg 366 Wolzogen, Christoph von 253 Zaborowski, Holger 18, 36, 107, 364 Zürcher, Regula 468
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Sachregister
Absolutes 220 ff., 490 f. Ästhetik 292 ff. Anfang 212 ff., 220 f., 228 f. –, Anfang als Physis 212 ff., 328 ff., 340 ff., 363 ff. Antisemitismus 368 ff., 410 ff. Apprehension 241 f. Arbeit –Arbeiter (Jünger) 330 ff. Arche (Grund) 84 f. Aristotelismus (-Aristotelismen) 32 ff. Auseinandersetzung (-Nietzsche) 254 ff. Barock (Gegenreformation 27 f.) Bibel 93 ff. Christlichkeit 94 ff. Dasein (menschliches D.) 153 ff., 159 ff., 170 ff., 217 ff., 464 f., 520 ff. Daseinsanalyse (Medard Boss) 470 ff. Deduktion (transzendentale D.) 239 Destruktion 82 f., 152 ff., 166 f., 172 ff. Dialektik 90 f., 100 ff., 124 ff. Hegelsche D. 271 ff. Platonische D. 100 ff., 104 f., 124 ff., 128 f. Dichten-Denken 284 f., 312 ff., 442 ff. Differenz 132 ff., 271 ff., 490 f.m Ding 340 ff. Egologie 260 f. Einbildungskraft (transzendentale) 240 f. Einfühlung 48 f. Ereignis 66 f., 310 ff. Erkenntnisproblem 66 f.
Erlebnis 67 f. Existenz-Essenz 281 f. Experiment (experiri) 204 ff., 277 f. Freiheit 259 ff., 326 ff. Fuge (Seinsfuge) 185 f., 200 ff., 320 f. Gelassenheit 432 f. Gesamtausgabe 524 f. Geschichte, Geschichtlichkeit 13 ff., 77 f., 176 f., 220 ff. Gestell 436 ff. Geviert 348 f. Gewalt 220 f. Gnosis 514 Gott 201, 220 ff., 370 f., 512 ff. Gottesfrage 438 f., 512 f. Grund (Begründen, Gründen) 210 ff., 422 ff. Grundfrage (der Metaphysik) 302 ff. Hellas-Hesperien 352 f. Hermeneutik (– des Vertrauens und des Verdachts) 18 f., 456 f. Hermeneutik der Faktizität (– als Ontologie) 34 ff., 312 f., 400 ff. Historismus 60 f., 77 ff., 92 f., 396 ff. Humanismus 338 ff. Hypothesis (-Hypothesenbildung) 207 f. Hören (Akroamatik) 442 f. Ideal (Prototypon transcendentale) 114 f. Idealismus (absoluter I.) 268 f.
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Sachregister Identität 132 ff., 343 ff. Ideologie 15 ff., 376 f. In-sein 159 ff. Integralismus (Katholische Kirche) 28 ff. Intersubjektivität 72 ff., 466 ff. Kategoriale Anschauung 46 ff. Kategorien 53 f., 103 ff. Kehre 21 f., 147 f., 434 ff. Kerygmatik 93 ff. Kinesis (Bewegung) 87 f., 200 ff. Kosmologie 508 ff. Konservative Revolution 90 f. Krise 28 ff. Kulturkritik 45 ff., 390 ff., 402 ff. Kulturphilosophie 246 ff. Kunst, Kunstwerk 206 f., 292 ff., 316 ff., 352 f., 420 ff. Leben (Lebensvollzug, Lebensauslegung) 81 ff., 88 ff. Logik 35 f., 44 ff., 73 ff., 99 ff., 113 ff., 452 ff. –, Logik (Phänomenoligisch, als Frage nach der Wahrheit) 99 ff., 121 ff., 272 ff. –, Logische Form 44 ff. Logische Differenz 47 Logos (Logosstruktur) 102 ff., 110 f., 130 ff., 136 ff. Macht (Dynamis) 220 f. Megariker 132 ff. Metaphysik 56 f., 113 ff., 115 ff., 186 ff., 218 ff., 233 ff., 234 f., 256 ff., 269 ff., 328 ff., 420 ff. Metaphysik der Metaphysik (Kant) 233 ff. Letzte Metaphysik (Nietzsche) 302 ff. Metontologie 120, 245 ff. Moderne 29 ff., 58 ff. Monaden 296 ff. Mythologie (Mythopoiese) 214 ff., 284 ff.
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Neomarxismus 542 f. Neukantianismus 29 ff., 45 ff., 59 f., 99 ff. Nichts 220, 226 ff., 267 ff. Nihilismus (Europäischer N.) 216 ff., 267 ff., 283 f., 302, 298 ff. NS-Ideologie 15 ff., 364 ff., 386 ff., 390 ff. Offenbarung 40 ff. Ontologie 21 f., 68 ff., 129 ff., 242 ff. Fundamentalontolgie 35 ff., 113, 12o ff. Ontologie als Hermeneutik der Faktizität 89 ff., 156 ff., 162 ff. Ontologische Differenz 196 f. Onto-Theo-logie 493 f. Perspektivismus 296 ff. Phänomenologie 30 ff., 63 ff., 70 ff., 91 f., 164 ff., 237 ff., 322 ff., 460 f., 456, 526 f. ff., 498 ff., 544 ff. Phänomenologische Fundamentalbetrachtung 106 f. Phänomenologische Interpretation 70 ff. Phänomenologische Logik 71 f., 100 ff. Philosophie (Begriff der Ph.) 68 f. . Phronesis (Klugheit) 84 f. Physik (Physikalismus) 55 ff. Platonismus 186 f., 290 ff. Poietik 442 ff., 482 ff. Politik 372 ff. –, Große P.(Nietzsche) 376 f. Prinzip der Prinzipien (transzendentale Phänomenologie) 75 f. Psychologie (Tiefenpsychologie, Psychosomatik) 462 ff. Rasseideologie 228 ff., 386 ff. Raum (Raumanalyse) 189 f., 206, 212 ff. Rekonstruktion 166 f., 172 ff. Religion 95 ff. Religionsphäomenologie 94 ff. Ressentiment 300 ff.
Sachregister Rhetorik 126 f. Ruinanz 77 f.
Transzendentalien 56 f., 60 ff. Transzendenz 60 ff., 175 f.
Schematismus (Kant) 235 Schrift (Grammé) 128 f. Schmerz 474 f. Sein 63 ff., 84 ff., 112 f., 145 ff., 150 ff., 267 ff., 516 f. –, (Kopula ›ist‹) 112 f. Seinsgeschichte 193, 218 ff., 304 ff., 372 f. Seinsfrage 150 ff. Seinsvergessenheit 220 ff., 330 ff. Seinsverständnis 166 f. Seinsweisen 84 ff., 157 ff., 286 ff. Sinn (des Seins) 180 ff. Situation (der Philosophie) 37 f. Sophisten 128 ff. Sorge 77 f. SPIEGEL-Gespräch 366 ff., 377 f. Sprache 48 f., 442 ff. Sprung 204 ff. Staat (Staatlichkeit) 382 ff. Struktur (Strukturzusammenhänge) 164 ff., 200 ff. Subjektivität 54-57, 68 f., 72 f., 260 ff., 458 ff., 466 ff. Substanz-Subjekt 306 ff., 458 ff., 534 f. Symbolische Formen (Cassirer) 244 ff. System (Phil.S.) 200 ff., 274 ff., 308 f., 334 ff.
Urteil (Urteilen) 45 ff., 52 f., 236 ff. Urteilskraft 248 f., 510 ff. Urteilsformen 236 ff. Urwissenschaft 65 f., 87, 322 ff., 508 f.
Technik 434 ff. Theologie (Christlichkeit der Theologie) 83 ff., 535 ff. Theorie-Praxis-Verhältnis 69 f. Tod (-Sterblichkeit) 169 ff. Transzendentalphilosophie 20 f., 60 ff., 151 ff., 240 ff., 324 f., 522 ff. Transzendentale Grundsätze 245 ff.
Vier Causae-Lehre 86 ff. Vorsokratiker 356 ff. Wahrheit 104 ff., 118 f., 190 ff., 220 ff., 326 ff., 534 Wahrheit des Seins 190 ff. Wahrheit (als aletheia) 118 ff., 122 ff., 125 ff., 138 f., 348 ff., 534 f. –, (als Vollzug: aletheuein) 125 ff. –, Wahrheit als Parousie 107 Welt (Weltbegriff) 117 ff., 130 ff., 154 ff., 175 ff., 188 ff., 258 ff., 296 f., 296 ff., –, In-der-Welt-sein 154 ff. Weltanschauung 30 ff., 62 ff., 258 ff., 320 ff. Welt-Geschichte 176 f., 394 ff. Weltphilosophie 14 f. Wert 64 f. –, (Wertnehmen) 64 ff. Wille zur Macht (Nietzsche) 283 f., 294 ff., 417 f. Wille zum Willen (Nietzsche) 294 ff., 417 f. Wirkungsgeschichte (-Faszinationsgeschichte) 16 ff. Wissensformen (Wissen, dass; Wissen, wie) 34 ff. Zeit (Zeitlichkeit, Temporalität) 42 f., 74 ff., 86 f., 107 ff., 148 ff., 173 ff., 182 f., 198 f. Zerklüftung (des Seins) 208 ff. Zeug (Zeuganalyse) 316 ff.
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